Historische Blätter Januar 2015 - ingolstadt.de Blaetter 2015... · Zu einem bekannten...

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Historische Blätter JAHRGANG 5 · AUSGABE NR. 45 · 2015 Von Gerd Treffer n Johann Appenzeller, 1565 in Aichach geboren und über dessen Herkunft und Jugend- zeit nichts bekannt ist, war 1581 zum Studium nach Ingolstadt gekommen. 1584 dem Jesuitenorden beigetre- ten, war er ab 1590 Gramma- tiklehrer in München. Spä- testens 1593 kehrte er nach Ingolstadt zurück und zwar als Professor für Mathe- matik. In der Tat scheinen Mathematik und Astrono- mie seine speziellen Inter- essensgebiete gewesen zu sein. Bereits einen Tag nach seiner Magisterpromotion (am 18. Oktober 1593) wur- de er zum Mathematiklek- tor ernannt. Er versah die Mathematiklektur von 1593 bis 1601 und wird von Chris- toph Schön (Mathematik und Astronomie an der Universi- tät Ingolstadt im 15. und 16. Jahrhundert, Berlin, 1994, S. 454) als der „letzte der jesu- itischen Mathematikektoren im 16. Jahrhundert“ bezeich- net. Das bezieht sich allein auf die Jahreszählung – auch im folgenden Jahrhundert gab es jesuitische Mathe- matikprofessoren wie gleich festzustellen sein wird. Schon vor ihm hatte sein jesuiti- scher Ordensbruder Corneli- us Adriansen aus Antwerpen (1557 oder 1559 – 1602), der 1591/92 als Student der Theo- logie in Ingolstadt bezeugt ist und dort zum Doktor promo- vierte, 1592/93 als Professor für Mathematik und Hebrä- isch unterrichtet. Nachfolger war Scheiner Diese Kombination war im 17. Jahrhundert nicht nur bei den Jesuiten, sondern auch an protestantischen Hoch- schulen häufiger zu beobach- ten. Adriansen gab 1593 beide Vorlesungen ab und über- nahm stattdessen das erste der drei jesuitischen Kursjah- re. 1597 übernahm er zusätz- lich die Hebräisch-Lektur, 1598 auch noch die Dialektik. 1601 übergab Appenzeller die Mathematik-Professur an seinen Ordensbruder Johann Lanz (1563/64 – 1638), der bis 1610 unterrichtete und, auch er, 1606, die Hebräisch-Lek- tur bekam. Sein Nachfolger in der Mathematiklektur war dann der berühmte Christoph Scheiner. Christoph Schön sieht in dieser Fächerverbindung zwar einen „Mangel an Spe- zialisierung“, konstatiert aber, dass dennoch, der Mathe- matikunterricht „der äuße- ren Form nach gründlich und gewissenhaft gegeben wor- den zu sein scheint“ (eben- da). Über die Inhalte lässt sich urteilen, da Vorlesungs- mitschriften über die Veran- staltungen von Adriansen und Appenzeller (und ihrer beider Vorgänger Christoph Silberhorn) vorliegen. Die jesuitischen Mathematikleh- rer verwandten immer die gleichen Konzepte, wie Trac- tatus in arithmeticam, Princi- pia quaedam Euclidis et Capi- tulum Primum Johannis de Sacro Boscho – entsprechend dem in den Ingolstädter Sta- tuten von 1590 verpflich- tenden Stoff für das erste Mathematikjahr. Bekannt ist ferner der Tractatus de globo caelesti et partibus ac struc- tura eius usw. Von den Vor- lesungen Appenzellers gibt es Mitschriften der Veran- staltungen 1599: Tractatus de astronomia, Tractatus de visurandis dolijs, Gnomoni- ca, De Quadrante. Am Ran- de der Mitschriften eines Studenten aus Rain am Lech sind die Daten der Vorlesun- gen notiert – was Hinweise auf die Häufigkeit und das Pensum der einzelnen Veran- staltungen ermöglicht. So las Adriansen in der Regel vier- mal pro Woche (verpflichtet wäre er nur zu zwei wöchent- lichen Auftritten gewesen) und zwar montags, diens- tags, freitags und samstags. In (nur) 28 Stunden hat der Student aus Rain am Lech 58 dicht beschriebene Seiten gefüllt. Christoph Schön (a.a.O.), der die Mitschriften detail- liert untersucht hat, kommt zu dem Schluss: „Die Statu- ten sahen für das Diktat des durchgenommenen Stoffes eine Viertelstunde am Ende jeder Vorlesung vor, der Rest sollte für Übungen und Vor- führungen reserviert bleiben. Die Wirklichkeit muss nach dem Befund der Mitschrift anders ausgesehen haben, Adriansen hat seinen Hörern einfach sein Konzept in die Feder diktiert…“ Und Schöner schließt: „Der Stoff war zwar umfassend, der Unterricht aber steril“. Andererseits lobt er Appenzellers Unterricht: „Wie aufgeschlossen andererseits der jesuitische Mathematikunterricht wiede- rum war, wird durch die bei Johannes Appenzeller 1599 angefertigte Vorlesungsmit- schrift illustriert. Am Anfang seines Tractatus de astrono- mia setzte er sich ausführlich mit den Theorien von Coper- nicus auseinander. Sechzehn Seiten davon sind den Fra- gen gewidmet…. Die gründ- liche Behandlung der Fragen dient jedoch nur der Wider- legung von Copernicus‘ Theo- rie; danach geht Appenzeller zur Erklärung des als richtig bewiesenen ptolemäischen Systems über“. 1602 nahm Appenzel- ler, der im Wintersemester 1598/99 Dekan der Philoso- phischen Fakultät gewesen war, Abschied von der Uni- versität. Er ging nach Mün- chen und wurde Prinzener- zieher mit dem Auftrag, den herzoglichen Prinzen Albrecht (1584-1666) in der Mathe- matik zu unterweisen, der ein Sohn Herzog Wilhelm V. (1548-1626), des Frommen und Bruder des Großen Kur- fürsten Maximilian (1573- 1651) war. In der Gelehrtenwelt sei- ner Zeit – insbesondere unter Mathematikern und Astrono- men (wofür Ingolstadt einen ausgezeichneten Ruf besaß, der durch Peter Apian mit dem Astronomicum Caesa- reum in den letzten Gene- rationen begründet worden war und den Christoph Schei- ner und Johann Baptist Cysat in der nächsten Professoren- generation zu neuem Glanz bringen würden) war Appen- zeller eine bekannte und geschätzte Persönlichkeit. Große Gelehrsamkeit Ein Beleg für seine Arri- viertheit im Kreise der sei- nerzeitigen Gelehrsamkeit ist Appenzellers Korrespon- denz über mathematische und astronomische Fragen mit dem bayerischen Staats- mann und Gelehrten Herwart von Hohenburg (1553-1622). Das gibt Gelegenheit dar- auf hinzuweisen, dass auch dieser an herausgehobener politischer Stellung tätige Adelsherr, der zugleich ein Star der Welt der Gelehrsam- keit war, mit Ingolstadt ver- bunden ist – zwar nicht als Professor in Erscheinung trat, sehr wohl aber seine akade- mische Prägung an der Ingol- städter Hohen Schule erfah- ren hat. Hans Georg Herwart von Hohenburg (1553-1622) war in Augsburg zur Welt gekom- men, wo sein Vater, ein baye- rischer Hofratspräsident, leb- te, ehe er 1657 nach Schloss Hohenburg bei Lenggries übersiedelte. 1574 schrieb sich Hans Georg in Ingolstadt zum Studium der Rechte ein. Nach einer Tätigkeit am Reichs- kammergericht von 1587-1590 und 1598-1622 stand er als Landschaftskanzler den Bay- erischen Landständen vor. In den Jahren dazwischen – der schwierigen späten Regie- rungszeit Herzog Wilhelms V. – stand er als Oberstkanz- ler an der Spitze der bayeri- schen Beamtenschaft. In bei- den Funktionen war er mit den zentralen Fragen der Landespolitik befasst, mit den wichtigsten Problemen der damals weit gespannten bayerischen Politik ebenso wie mit den spannungsrei- chen Beziehungen der Land- stände zum Herrscherhaus unter den Rahmenbedinun- gen des Frühabsolutismus. Korrespondenz mit den führenden Gelehrten In seiner verbleibenden Zeit befasste sich Herwart von Hohenburg mit Philoso- phie, Mathematik, Astrono- mie, sozusagen als Privatge- lehrter, erwarb sich dabei den Ruf gediegener Kenntnisse und niemand zweifelte an der Exaktheit der von ihm ange- wandten Methoden. Er korre- spondierte mit den führen- den Gelehrten der Zeit, unter ihnen zum Beispiel Kepler, dessen Aufstieg er gefördert hatte. Der Briefwechsel zwi- schen beiden aus den Jahren 1597-1611 umfasst 64 Briefe von Herwart und 30 von Kep- ler. Darin geht es um Fragen der magnetischen Deklinati- on, die Änderung der Ekliptik- schiefe, die Mondbewegung und die Finsternisbeobach- tung. Es geht auch um die Kopernikanische Lehre – hier hielt Herwart durch kritische Einwände Kepler zu sachli- cher Prüfung an. Von Her- warts umfassendem huma- nistischem Interesse zeugen seine Kataloge der griechi- schen Handschriften in der Heidelberger und der Münch- ner Hofbibliothek. Von seiner astronomi- schen Kennerschaft zeugen seine „Novae, verae et exac- te ad calculum astronomicum revocaete chronologiae capita praecipua“ von 1612, von sei- ner mathematischen Leiden- schaft die „Tabulae arithme- ticae…“, Multiplikationstafeln mit dem weiten Bereich von 999x999. Herwart starb 1622 in München und wurde in der Frauenkirche bestattet. Auch Appenzeller war 1603 in München verstorben. „Von seinen hohen fachlichen Kompetenzen zeugen vor allem seine Manuskripte zur Astronomie“, schreibt F. Neu- mann (im Biographischen Lexikon der Ludwig-Maximi- lians-Universität; München, Berlin, 1998). black cyan magenta yellow Der Stoff war zwar umfassend, der Unterricht aber steril. Von Gerd Treffer n Aus dem Süden Frank- reichs, der Stadt Limoges, hat eine Dame ein Foto eines gestickten Taschentuches übersandt, das ihr Großvater aus seiner Gefangenschaft in Ingolstadt während des Ers- ten Weltkrieges mitgebracht hatte. Er war als „einfacher Soldat“ von 1914 bis 1916 in Ingolstadt. Er hieß Jenest Cle- mençon, war am 1. August 1882 in der Auvergne zur Welt gekommen. Nach den Daten steht zu vermuten, dass er (schwerer) verletzt oder krank war und deshalb frühzeitig – wohl über das Rote Kreuz – aus der Gefangenschaft entlas- sen wurde. Nach Angaben der Enkelin sei er kurz nach dem Krieg verstorben. Das bestickte Taschentuch sei in der Familie seither verehrt worden. Vermutet wird, dass der ehemalige Ingolstädter Gefangene auf einem Bau- ernhof der Umgebung sta- tioniert war und dort eine „nette Dame“ nach seinen (textlichen) Vorgaben das Tuch bestickt habe, denn (so schreibt die Enkelin) „ich habe immer gezweifelt, dass er, ein Arbeiter in einer Fabrik der Schneideindustrie (Her- steller von Messern) es selbst machen konnte“. In das Tuch eingefügt sind zwei Fotografien in Form ova- ler Medaillons – rechts das Foto des Großvaters in Uniform, links das Foto seiner Frau und einer Tochter, die die Mutter der Übersende- rin des Tuch-Fotos ist. Der Text lautet in deutscher Überset- zung: „In Gefangen- schaft habe ich“ (die- se zwei Worte sind umrahmt von drei gestickten Stiefmüt- terchen, die im fran- zösischen „pensée“ heißen – zugleich aber die Bedeutung von „gedacht“ haben – „gedacht an meine Familie. Ingolstadt 1914-1916 Bayern“ Mitbringsel aus dem Kriegsgefangenenlager Ingolstadt 1914-1916 Ein besticktes Taschentuch aus Ingolstadt Die aufgestickten Buchstaben links und rechts der Fotos C und J beziehen sich wohl auf den Familiennamen Clemençon und den Vornamen Jenest. Das Bild rechts zeigt den Soldaten Jenest Clemençon, das Bild links seine Frau und eines seiner Kinder. Foto: oH Aus dem Süden Frankreichs stammt das gestickte Taschentuch, das Jenest Clemençon aus seiner Gefan- genschaft in Ingolstadt während des Ersten Weltkrieges mitgebracht hatte. Foto: oH Zu einem bekannten Ingolstädter Mathematikprofessor: Johann Appenzeller und seinem nicht minder berühmten Korrespondenten Hans Georg Herwart von Hohenburg, der es vom Ingolstädter Jura-Studenten zum höchsten bayerischen Staatsbeamten brachte Ja, wir können Astronomie, Mathematik, Hebräisch und Griechisch Ein Stich zum Geburtsort Aichach (unterer Stich) Foto: oH Von Appenzeller selbst ist kein gedrucktes Werk vorhanden – wohl aber von seinem Vorgänger Peter Apian. Hier ist ein Auszug aus seinem „Kauffmanß Rech- nungen in dreyen Buechern“ , das 1527 in Ingolstadt erschienen ist. (Quelle: Wissenschaftliche Stadtbibliothek Ingolstadt). Foto: oH

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Historische Blätter J a H r g a n g 5 · au s g a B e n r. 45 · 2015

Von gerd Treffer

n Johann appenzeller, 1565 in aichach geboren und über dessen Herkunft und Jugend-zeit nichts bekannt ist, war 1581 zum studium nach Ingolstadt gekommen. 1584 dem Jesuitenorden beigetre-ten, war er ab 1590 gramma-tiklehrer in München. spä-testens 1593 kehrte er nach Ingolstadt zurück und zwar als Professor für Mathe-matik. In der Tat scheinen Mathematik und astrono-mie seine speziellen Inter-essensgebiete gewesen zu sein. Bereits einen Tag nach seiner Magisterpromotion (am 18. Oktober 1593) wur-de er zum Mathematiklek-tor ernannt. er versah die Mathematiklektur von 1593 bis 1601 und wird von Chris-toph schön (Mathematik und astronomie an der universi-tät Ingolstadt im 15. und 16. Jahrhundert, Berlin, 1994, s. 454) als der „letzte der jesu-itischen Mathematik ektoren im 16. Jahrhundert“ bezeich-net. Das bezieht sich allein auf die Jahreszählung – auch im folgenden Jahrhundert gab es jesuitische Mathe-matikprofessoren wie gleich festzustellen sein wird. schon vor ihm hatte sein jesuiti-scher Ordensbruder Corneli-us adriansen aus antwerpen (1557 oder 1559 – 1602), der 1591/92 als student der Theo-logie in Ingolstadt bezeugt ist und dort zum Doktor promo-vierte, 1592/93 als Professor für Mathematik und Hebrä-isch unterrichtet.

nachfolger war scheiner

Diese Kombination war im 17. Jahrhundert nicht nur bei den Jesuiten, sondern auch an protestantischen Hoch-schulen häufiger zu beobach-ten. adriansen gab 1593 beide Vorlesungen ab und über-nahm stattdessen das erste der drei jesuitischen Kursjah-re. 1597 übernahm er zusätz-lich die Hebräisch-Lektur, 1598 auch noch die Dialektik. 1601 übergab appenzeller die Mathematik-Professur an

seinen Ordensbruder Johann Lanz (1563/64 – 1638), der bis 1610 unterrichtete und, auch er, 1606, die Hebräisch-Lek-tur bekam. sein nachfolger in der Mathematiklektur war dann der berühmte Christoph scheiner.

Christoph schön sieht in dieser Fächerverbindung zwar einen „Mangel an spe-zialisierung“, konstatiert aber, dass dennoch, der Mathe-matikunterricht „der äuße-ren Form nach gründlich und gewissenhaft gegeben wor-den zu sein scheint“ (eben-da). Über die Inhalte lässt sich urteilen, da Vorlesungs-mitschriften über die Veran-staltungen von adriansen und appenzeller (und ihrer beider Vorgänger Christoph silberhorn) vorliegen. Die jesuitischen Mathematikleh-rer verwandten immer die gleichen Konzepte, wie Trac-tatus in arithmeticam, Princi-pia quaedam euclidis et Capi-tulum Primum Johannis de sacro Boscho – entsprechend dem in den Ingolstädter sta-tuten von 1590 verpflich-tenden stoff für das erste Mathematikjahr. Bekannt ist ferner der Tractatus de globo caelesti et partibus ac struc-tura eius usw. Von den Vor-lesungen appenzellers gibt es Mitschriften der Veran-staltungen 1599: Tractatus

de astronomia, Tractatus de visurandis dolijs, gnomoni-ca, De Quadrante. am ran-de der Mitschriften eines studenten aus rain am Lech sind die Daten der Vorlesun-gen notiert – was Hinweise auf die Häufigkeit und das Pensum der einzelnen Veran-staltungen ermöglicht. so las adriansen in der regel vier-mal pro Woche (verpflichtet wäre er nur zu zwei wöchent-lichen auftritten gewesen) und zwar montags, diens-tags, freitags und samstags. In (nur) 28 stunden hat der

student aus rain am Lech 58 dicht beschriebene seiten gefüllt.

Christoph schön (a.a.O.), der die Mitschriften detail-liert untersucht hat, kommt zu dem schluss: „Die statu-ten sahen für das Diktat des durchgenommenen stoffes eine Viertelstunde am ende jeder Vorlesung vor, der rest sollte für Übungen und Vor-

führungen reserviert bleiben. Die Wirklichkeit muss nach dem Befund der Mitschrift anders ausgesehen haben, adriansen hat seinen Hörern einfach sein Konzept in die Feder diktiert…“ und schöner schließt: „Der stoff war zwar umfassend, der unterricht aber steril“.

andererseits lobt er appenzellers unterricht:

„Wie aufgeschlossen andererseits der jesuitische Mathematikunterricht wiede-rum war, wird durch die bei Johannes appenzeller 1599

angefertigte Vorlesungsmit-schrift illustriert. am anfang seines Tractatus de astrono-mia setzte er sich ausführlich mit den Theorien von Coper-nicus auseinander. sechzehn seiten davon sind den Fra-gen gewidmet…. Die gründ-liche Behandlung der Fragen dient jedoch nur der Wider-legung von Copernicus‘ Theo-rie; danach geht appenzeller

zur erklärung des als richtig bewiesenen ptolemäischen systems über“.

1602 nahm appenzel-ler, der im Wintersemester 1598/99 Dekan der Philoso-phischen Fakultät gewesen war, abschied von der uni-versität. er ging nach Mün-chen und wurde Prinzener-zieher mit dem auftrag, den herzoglichen Prinzen albrecht (1584-1666) in der Mathe-matik zu unterweisen, der ein sohn Herzog Wilhelm V. (1548-1626), des Frommen und Bruder des großen Kur-fürsten Maximilian (1573-1651) war.

In der gelehrtenwelt sei-ner Zeit – insbesondere unter Mathematikern und astrono-men (wofür Ingolstadt einen ausgezeichneten ruf besaß, der durch Peter apian mit dem astronomicum Caesa-reum in den letzten gene-rationen begründet worden war und den Christoph schei-ner und Johann Baptist Cysat in der nächsten Professoren-generation zu neuem glanz bringen würden) war appen-zeller eine bekannte und geschätzte Persönlichkeit.

große gelehrsamkeit

ein Beleg für seine arri-viertheit im Kreise der sei-nerzeitigen gelehrsamkeit ist appenzellers Korrespon-denz über mathematische und astronomische Fragen mit dem bayerischen staats-mann und gelehrten Herwart von Hohenburg (1553-1622).

Das gibt gelegenheit dar-auf hinzuweisen, dass auch dieser an herausgehobener politischer stellung tätige adelsherr, der zugleich ein star der Welt der gelehrsam-keit war, mit Ingolstadt ver-bunden ist – zwar nicht als Professor in erscheinung trat, sehr wohl aber seine akade-mische Prägung an der Ingol-städter Hohen schule erfah-ren hat.

Hans georg Herwart von Hohenburg (1553-1622) war in augsburg zur Welt gekom-men, wo sein Vater, ein baye-rischer Hofratspräsident, leb-

te, ehe er 1657 nach schloss Hohenburg bei Lenggries übersiedelte. 1574 schrieb sich Hans georg in Ingolstadt zum studium der rechte ein. nach einer Tätigkeit am reichs-kammergericht von 1587-1590 und 1598-1622 stand er als Landschaftskanzler den Bay-erischen Landständen vor. In den Jahren dazwischen – der schwierigen späten regie-rungszeit Herzog Wilhelms V. – stand er als Oberstkanz-ler an der spitze der bayeri-schen Beamtenschaft. In bei-den Funktionen war er mit den zentralen Fragen der Landespolitik befasst, mit den wichtigsten Problemen der damals weit gespannten bayerischen Politik ebenso wie mit den spannungsrei-chen Beziehungen der Land-stände zum Herrscherhaus unter den rahmenbedinun-gen des Frühabsolutismus.

Korrespondenz mit den führenden gelehrten

In seiner verbleibenden Zeit befasste sich Herwart von Hohenburg mit Philoso-phie, Mathematik, astrono-mie, sozusagen als Privatge-lehrter, erwarb sich dabei den ruf gediegener Kenntnisse und niemand zweifelte an der exaktheit der von ihm ange-wandten Methoden. er korre-spondierte mit den führen-den gelehrten der Zeit, unter

ihnen zum Beispiel Kepler, dessen aufstieg er gefördert hatte. Der Briefwechsel zwi-schen beiden aus den Jahren 1597-1611 umfasst 64 Briefe von Herwart und 30 von Kep-ler. Darin geht es um Fragen der magnetischen Deklinati-on, die Änderung der ekliptik-schiefe, die Mondbewegung und die Finsternisbeobach-tung. es geht auch um die Kopernikanische Lehre – hier hielt Herwart durch kritische einwände Kepler zu sachli-cher Prüfung an. Von Her-warts umfassendem huma-nistischem Interesse zeugen seine Kataloge der griechi-schen Handschriften in der Heidelberger und der Münch-ner Hofbibliothek.

Von seiner astronomi-schen Kennerschaft zeugen seine „novae, verae et exac-te ad calculum astronomicum revocaete chronologiae capita praecipua“ von 1612, von sei-ner mathematischen Leiden-schaft die „Tabulae arithme-ticae…“, Multiplikationstafeln mit dem weiten Bereich von 999x999. Herwart starb 1622 in München und wurde in der Frauenkirche bestattet.

auch appenzeller war 1603 in München verstorben. „Von seinen hohen fachlichen Kompetenzen zeugen vor allem seine Manuskripte zur astronomie“, schreibt F. neu-mann (im Biographischen Lexikon der Ludwig-Maximi-lians-universität; München, Berlin, 1998).

black cyan magenta yellowIZa seite 18

Der stoff war zwar umfassend, der unterricht aber steril.

Von gerd Treffer

n aus dem süden Frank-reichs, der stadt Limoges, hat eine Dame ein Foto eines gestickten Taschentuches übersandt, das ihr großvater aus seiner gefangenschaft in Ingolstadt während des ers-ten Weltkrieges mitgebracht hatte. er war als „einfacher soldat“ von 1914 bis 1916 in Ingolstadt. er hieß Jenest Cle-mençon, war am 1. august 1882 in der auvergne zur Welt gekommen.

nach den Daten steht zu vermuten, dass er (schwerer) verletzt oder krank war und deshalb frühzeitig – wohl

über das rote Kreuz – aus der gefangenschaft entlas-

sen wurde. nach angaben der enkelin sei er kurz nach

dem Krieg verstorben. Das bestickte Taschentuch sei in der Familie seither verehrt worden. Vermutet wird, dass der ehemalige Ingolstädter gefangene auf einem Bau-ernhof der umgebung sta-tioniert war und dort eine „nette Dame“ nach seinen (textlichen) Vorgaben das Tuch bestickt habe, denn (so schreibt die enkelin) „ich habe immer gezweifelt, dass er, ein arbeiter in einer Fabrik der schneideindustrie (Her-steller von Messern) es selbst machen konnte“.

In das Tuch eingefügt sind zwei Fotografien in Form ova-ler Medaillons – rechts das

Foto des großvaters in uniform, links das Foto seiner Frau und einer Tochter, die die Mutter der Übersende-rin des Tuch-Fotos ist.

Der Text lautet in deutscher Überset-zung: „In gefangen-schaft habe ich“ (die-se zwei Worte sind umrahmt von drei gestickten stiefmüt-terchen, die im fran-zösischen „pensée“ heißen – zugleich aber die Bedeutung von „gedacht“ haben – „gedacht an meine Familie. Ingolstadt 1914-1916 Bayern“

Mitbringsel aus dem Kriegsgefangenenlager Ingolstadt 1914-1916

ein besticktes Taschentuch aus Ingolstadt

Die aufgestickten Buchstaben links und rechts der Fotos C und J beziehen sich wohl auf den Familiennamen Clemençon und den Vornamen Jenest. Das Bild rechts zeigt den soldaten Jenest Clemençon, das Bild links seine Frau und eines seiner Kinder. Foto: oH aus dem süden Frankreichs stammt das gestickte

Taschentuch, das Jenest Clemençon aus seiner gefan-genschaft in Ingolstadt während des ersten Weltkrieges mitgebracht hatte. Foto: oH

Zu einem bekannten Ingolstädter Mathematikprofessor: Johann appenzeller und seinem nicht minder berühmten Korrespondenten Hans georg Herwart von Hohenburg, der es vom Ingolstädter Jura-studenten zum höchsten bayerischen staatsbeamten brachte

Ja, wir können astronomie, Mathematik, Hebräisch und griechisch

ein stich zum geburtsort aichach (unterer stich) Foto: oH

Von appenzeller selbst ist kein gedrucktes Werk vorhanden – wohl aber von seinem Vorgänger Peter apian. Hier ist ein auszug aus seinem „Kauffmanß rech-nungen in dreyen Buechern“ , das 1527 in Ingolstadt erschienen ist. (Quelle: Wissenschaftliche stadtbibliothek Ingolstadt). Foto: oH