HISTORISCHE UND LITERARISCHE STUDIËN ZUM ......Der Kudrunteil (Str. 563-1705, Av. 9-32): Der Ehe...

272
HISTORISCHE UND LITERARISCHE STUDIËN ZUM DRITTEN TEIL DES KUDRUNEPOS L. PBBTERS

Transcript of HISTORISCHE UND LITERARISCHE STUDIËN ZUM ......Der Kudrunteil (Str. 563-1705, Av. 9-32): Der Ehe...

  • H I S T O R I S C H E U N D L I T E R A R I S C H E S T U D I Ë N Z U M D R I T T E N TEIL

    DES K U D R U N E P O S

    L. PBBTERS

  • PROMOTOR: PROF. DR. J. A. H U I S M A N

  • HISTORISCHE U N D L I T E R A R I S C H E S T U D I Ë N Z U M D R I T T E N TEIL

    DES K U D R U N E P O S

    PROEFSCHRIFT

    TER VERKRIJGING VAN DE GRAAD VAN DOCTOR IN DE LETTEREN

    AAN DE RIJKSUNIVERSITEIT TE UTRECHT, OP GEZAG VAN DE

    RECTOR MAGNIFICUS, PROF. DR. J . LANJOUW, VOLGENS BESLUIT

    VAN DE SENAAT IN HET OPENBAAR TE VERDEDIGEN OP VRIJDAG

    18 OKTOBER 1968 DES NAMIDDAGS TE 3.15 UUR

    DOOR

    LEOPOLD PEETERS

    GEBOREN OP 14 FEBRUARI 1925 TE HEPPEN (BELGIË)

    J. A. BOOM E N ZOON, UITGEVERS TE MEPPEL

  • INHALT

    Vorwort VII

    Einleitung 1

    Erstes Kapitel/Kudrun und die Normandie 13

    Zweites Kapitel/Kudrun und der Nordseeraum . . . . 55

    Drittes Kapitel/Gudruns Leidenszeit 104

    Viertes Kapitel/Die Seefahrt nach Ormanie 129

    Schlusswort 157

    Anmerkungen 175

    Register 241

    Wort- und Sachverzeichnis 241 Autorenverzeichnis 250 Stellenverzeichnis 251

  • VORWORT

    Part de l'authentique; part de l'imaginaire: toute tentative

    d'interprétation qui manquerait a rendre compte, avec u n e

    égale plenitude, de l'un et l'autre é lément serait par \k m ê m e

    condamnée.

    MARC BLOCH, La société féodale. Paris 1939, S. 150: Première Partie, Livre II, Chap, iii, 2: L'épopée.

    Obigem Leitsatz, den ich dem berühmten Werk Marc Blochs entnahm, brauche ich nur wenig hinzuzufügen. Der gleiche Gedankengang hat Anlage und Plan dieser Arbeit bestimmt. Sie stellt sich die Aufgabe, eine durchaus problemreiche epische Dichtung des Mittelalters zu behandeln und sie in ihrer Entstehung und Entfaltung begreiflich zu machen, und im besonderen das eigentümliche Wesen dieser Dichtung aus der Art ihres geschichtlichen und literarischen Werdens zu er-klaren.

    Fiir die Kudrundichtung lasst sich nachweisen, dass sich die Faden zwischen Heldendichtung und Geschichte hin und her spinnen. In diesem Zusammenhang ist es mir eine angenehme Pflicht dem Inhaber des Utrechter Lehrstuhls für mittelalterliche Geschichte, Herrn Profes-sor Dr. F. W. N . Hugenholtz, grössten Dank auszusprechen. Er hat bereitwilligst seine Zeit und Aufmerksamkeit dem Lesen des Manu-skripts gewidmet.

    Weiterhin möchte ich Herrn Professor Dr. T. A. Rompelman danken für die Anregungen und Hinweise, die ich von ihm erhielt, und das Interesse, das er meinen Forschungen zuteil werden liess.

    Ich bin mir bewusst, wie sehr mein Wissen um die germanischen Sprachen und Literaturen von meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. J. A. Huisman, erweitert und vertieft worden ist. Er hat an Ent-stehung und Fortgang meiner Untersuchung regen Anteil genommen; dafür sei ihm an dieser Stelle herzlichst gedankt.

  • Zum Schluss sei mir noch gestattet, den Bibliothekaren und den wis-senschaftlichen Mitarbeitern der Institute und Bibliotheken, die mir mit grosser Liberalitat Zeitschriften und Bücher zur Verfiigung gestellt haben, den nötigen Dank auszusprechen. Es seien hier besonders ge-nannt: das "Instituut voor Germaanse Taal- en Letterkunde" der Rijksuniversiteit Utrecht, die Utrechter und Amsterdamer Universitats-bibliotheken, die "Koninklijke Bibliotheek" im Haag.

    Herrn drs. P. A. Fretz, der das Manuskript gelesen hat, verdanke ich manchen Wink, der der Lesbarkeit meiner Arbeit zugute gekom-men ist.

  • EINLEITUNG

    Die unter dem Namen Kudrun bekannte, dem Mittelalter ange-hórende deutsche Dichtung ist uns nur in einer einzigen, spaten Handschrift erhalten. Sie wird in der Nationalbibliothek in Wien als Hs. 73 aufbewahrt. Nach ihrem früheren Aufbewahrungsorte, dem Schlosse Ambras bei Innsbruck, heisst die Handschrift die "Ambraser Handschrift", auch wohl "Ambraser Heldenbuch". Das Kudrunepos wurde mit anderen Helden- und höfischen Epen von 1502 bis 1515 durch den Zolleinnehmer Hans Ried in Bozen für Kaiser Maximilian abge-schrieben und in die damals iibliche Sprachform umgesetzt. Aus dieser Handschrift des 16. Jahrhunderts ist zuerst im Jahre 1835 von Adolf Ziemann der mittelhochdeutsche Text hergestellt worden. In den fol-genden hundertfünfundzwanzig Jahren ist der Kudruntext wiederholt von verdienten Forschern herausgegeben worden. Neben Ziemann tra-ten Al. J. Vollmer, Karl Bartsch, Ernst Martin und B. Symons als kritische und bedachtsame Betreuer des überkommenen Erbes.

    Auf die Frage wann und wo das Kudrunepos entstanden ist, gibt es keine verbindliche Antwort. Die stilistischen Merkmale, die Geschichte der Kudrunstrophe, die Art der Erzahlung, ja sogar der unverkennbare Einfluss des Nibelungenliedes in seiner jiingsten Fassung, haben die Forscher dazu gezwungen eine förmliche Abhangigkeit der letzten Kudrunbearbeitung vom Nihelungenlied anzunehmen. Der Einfluss des Nibelungenliedes auf die spatere Heldendichtung ist übermach-tig gewesen, besonders auf die Kudrun. Jozef Körner nimmt sogar an, "dass die mündlichen Überlieferungen von Etzel und Dietrich, Hilde und Kudrun, Ortnit und Wolfdietrich erst unter seiner Nachwirkung und nach seinem Vorbild zu den umfanglichen Leseepen des 13. Jahrhunderts ausgestaltet worden sind; vornehmlich die "Kudrun" ist mit massenhaften sachlichen und sprachlichen Entlehnungen aus dem Nihelungenlied durchsetzt".1 Diese Abhangigkeit vom Nibelungen-

  • liede und die gesellschaftlich-politischen Vorstellungen in der Kudrun bilden die guten Gründe, "uns auf die Zeitangabe urn 1240' zu einigen, wobei berücksichtigt sein will, dass eine solche Dichtung nicht in wenigen Wochen entsteht".2

    Die neuere Forschung, und dies im Gegensatz zu der alteren, scheut sich die Kudrun in einem Atemzuge mit dem Nibelungenlied zu nen-nen und sie als dichterische Leistung neben ihr Vorbild zu stellen. Die Kudrun ist ein ausgesprochener Spatling in der Heldendichtung. Das Handschriftenverhaltnis spricht eine beredte Sprache: 35 Handschriften des Nïbélungenliedes stehen nur einer einzigen spaten der Kudrun gegeniiber. Die Sonderstellung und auch ihre besondere Bedeutung gewinnt die Kudrun namentlich dadurch, dass sie uns Völker- und Lebensverhaltnisse darstellt, welche den übrigen deutschen Helden-dichtungen weniger bekannt sind: die Nordsee und die Normandie bilden die wichtigsten geographischen und historischen Hintergriinde der Sagendichtung. Schon der Inhalt der Kudrun, der hier in gedrang-ter Form wiedergegeben sei, macht das deutlich. 3 Die dreiteilige Hand-lung gibt die Schicksale dreier Generationen einer Herrscherfamilie wieder:

    Der Hagenteil (Str. 1-203, Av. 1-4): Als König Sigeband von Irland e in

    grosses Fest an seinem Hof i n Baljan veranstaltet, wird sein Söhnchen Hagen

    von e inem Greif geraubt u n d auf e ine f e m e Insel entführt. Aber dieser

    entkommt glücklicherweise der jungen Brut des Raubvogels, indem i h n e in

    junger Greif aus dem N e s t fallen lasst. I n einer Felsenhöhle am Meer trifft

    er drei schone Königstöchter, die der Greif friiher ebenfalls geraubt hatte.

    D i e Prinzessinnen stammen aus Indien, Portugal u n d Iserland. H a g e n wird

    anfangs von ihnen auferzogen, bis er sich schliesslich der Rüstung u n d der

    W a f f e n eines tot angeschwemmten Schiffbriichigen, eines Kreuzfahrers,

    bemachtigt. Es gelingt ihm die Greifen z u erschlagen. In einem Robinsonade-

    dasein ist er der e igene Erzieher, er wird z u m vollendeten Ritter u n d Helden .

    Indem er das Blut eines erlegten Gabiluns trinkt wird er iibermenschlich

    stark. Er begleitet die Prinzessinnen auf ihren W u n s c h an das Meeresufer,

    w o sie ein Schiff erblicken. Es ist e in Pilgerschiff, dessen Herr der Graf

    von Garadê, der Feind seines Vaters, ist. Er erzwingt, dass der Graf ihn

    u n d die Madchen nach Irland fahrt. Er versöhnt den Grafen mit seinem

    Vater. D i e ehemaligen Feinde bleiben vierzehn Tage i n Baljan. H a g e n

    heiratet Hi lde von Indien, eines der Wildnismadchen, u n d übernimmt die

    Herrschaft des Landes. Sie haben eine Tochter, die auch Hi lde heisst. Im

    zwölften Lebensjahr wird sie von vielen fremden Fiirsten, u.a. e inem aus

  • Wêleis, umworben. Hagen, vdlant aller künige, lasst die Boten der Werber aufhangen und will die Tochter nur einem Mann geben, der starker ist als er.

    Der Hildeteil (Str. 204-562, Av. 5-8): Hetel, König der Hegelingen, herrscht über ein küstennahes Reich, wozu Ortlant (Nortlant), Niflant, Tenelant (Tenemarke, Teneriche), Stürmen, Dietmers, Friesen und Waleis gehöien. Man rühmt dem unverheiraten König die schone Hilde, Hagens Tochter. Er entsendet seine Leute, die ihm verwandt oder lehenspflichtig sind: den alten Wate von Stürmen, den liederkundigen Horant, der in Tenemarke zu Hause ist, und den weisen Frute von Tenemarke. Zu ihnen gesellen sich Morung von Niflant und Irolt von Ortlant. Sie bereiten sich ihrem Herrn die Braut zu gewinnen. Sie fahren als reiche Kaufleute nach Iiland, wahrend in ihren Schiffen sich bewaffnete Krieger unter Deck versteekt halten. Als angebliche Flüchtlinge, die behaupten von König Hetel vertrie-ben zu sein, erregen sie das Mitleid des Königs und der Königin von Bal-jan und die Vertriebenen gewinnen durch kostbare Geschenke deren Gunst. Die junge Hilde wünscht die Gaste zu sehen. Darauf entbietet Hagen die Fremden zum Hofe. Ihr Gebaren, ihre glanzende Kleidung erregen Be-wundering. Man veranstaltet Kampfspiele. Wate stellt sich, als hatte er nie solches Fechten gesehen, doch gegenüber Hagen erweist er sich als Meister. Besonderes Ansehen erlangt Horant mit seinem wunderbaren Sang. Die Vogel verstummen, die Tiere im Walde, die kriechenden Tiere im Gras, die Fische im Wasser lassen von ihren gewohnten Tatigkeiten ab. Den Trauern-den schwindet das Leid, Kranke mussen genesen. Die Königstochter be-scheidet den Sanger heimlich zu sich; er singt ihr die verführerische Weise von Amilê. Er bringt ihr die Werbung seines Herrn vor und versichert, sein Herr habe zwölf Sanger, die weit schoner als er sangen; am schönsten aber singe der König selbst. Als Lohn erbittet er eine Gabe: einen Gürtel für Hetel. Die Hegelingen geben vor, ihr Herr, Hetel, habe nach ihnen gesandt und Sühne geboten und sie rusten zur Abfahrt. Hagen, mit Frau und Tochter, geleitet sie zu den Schiffen, Die junge Hilde geht, wie mit Horant besprochen, mit ihren Jungfrauen auf das Schiff, wo sie Frutes Kram schauen wollen. Plötzlich werden die Anker gelost, die Segel auf-gezogen und die Bewaffneten springen hervor. Hagen und seine Mannen werden ins Wasser geworfen und die Gaste fahren mit der Braut dahin. Sie schicken ihrem Herrn eine Botschaft. Die Hegelingen landen das Schiff in WMeis, doch Hagen ist den Entführern seiner Tochter wutschnaubend nach-gefahren. Bei dem unentschiedenen Kampf wird sowohl Hetel wie auch Hagen verletzt. Schliesslich gelingt es der jungen Hilde mit Hetels Hilfe das kampfende Paar Hagen—Wate zu trennen. Zufrieden mit der Vermah-lung seiner Tochter mit dem Hegelingenkönig kehrt Hagen nach Baljan in Irland zurück.

  • Der Kudrunteil (Str. 563-1705, Av. 9-32): Der Ehe Hetels und Hildes ent-stammen zwei Kinder: Ortwin und seine Schwester Gudrun. Als sie heran-gewachsen ist, wird sie ebenfalls von vielen Freiern umworben. Alle werden abgewiesen, darunter Sivrit von Mórlant, der drohend abzieht. Auch Hart-muot, der Sohn des Königs Ludewic von Ormanie, der besonders auf das Betreiben seiner Mutter Gerhnt um die HegeHngentochter freit, erhalt eine abschlagige Antwort. Er gilt als unebenbürtig, hatte doch sein Vater als er damals in Frideschotten war, ein Lehn ze Garadine von Hagen empfangen. Auch Herwig von Sêlant wirbt um Gudrun, wird aber ebenfalls abgewie-sen. Hartmuot versucht es ein zweites Mal, unerkannt, die Gunst Gudruns zu gewinnen, doch es wird ihm geraten, den Hof unmittelbar zu verlassen. Entschlossen, Gudrun mit Gewalt zu erwerben, kehrt er nach Ormanie zurück. Schliesslich wird sie Herwig von Sêlant, obwohl er sein Uhtez kunne nicht verschweigt, nach einem kecken Kampf anverlobt. Kudrun soil noch ein Jahr bei den Eltern bleiben, bevor die Hochzeit stattfindet.

    Der eifersüchtige Sivrit von Mórlant fallt jetzt in Sêlant ein. Herwig lasst es Gudrun melden, die ihren Vater veranlasst, ihm zu Hilfe zu eilen. Mit Hetels Hilfe werden die Feinde in eine Befestigung an einem grossen Fluss gedrangt, wo sie eine Zeitlang belagert werden. Hartmut und Ludwig nutzen die Abwesenheit Hetels und erscheinen von Ormanie aus vor Hetels Burg Matetóne im Hegelingenland. Sie überfallen das ungeschützte Gebiet, man brennt und raubt. Gudrun samt ihren Jungfrauen, darunter die getreue Hilde-burg, werden von den Normannen übers Meer nach Ormanie entführt. Hildes Boten berichten Hetel und Herwig das Geschehene. Auf Wates Rat beginnt der Kampf mit den Mohren am anderen Morgen, dann bietet man ihnen einen ehrenvollen Frieden an. Sivrit zeigt sich zur Hilfeleistung im Kampf gegen die Normannen bereit.

    Die Hegelingen bemachtigen sich der Schiffe einer Pilgerschar, die gerade am Strande gelagert war. Sie fahren den Raubern nach. Sie erreichen sie auch wirklich auf dem Wülpensande (Wülpenwerte) und greifen sie an. Ein grimmiger Kampf wahrt vom frühen Morgen bis zur einbrechenden Nacht. König Ludwig, der sich Wate entziehen kann, erschlagt Gudruns Vater Hetel. Die Normannen benutzen die Dunkelheit der Nacht, um sich heimlich einzuschiffen. Sie fahren mit den gefangenen Frauen davon. Die Hegelingen hingegen fühlen sich durch die Schlacht so geschwacht, dass sie die Verfolgung aufgeben. Sie grimden auf dem Wülpensande ein Kloster zum Heile der Erschlagenen und fahren heim. Dort warten sie, bis die Knaben herangewachsen und waffentüchtig geworden sind.

    Inzwischen ist Gudrun dazu verurteilt im Normannenlande, von der ehr-geizigen und grausamen Gerhnt, Hartmuts Mutter, gepeinigt, niedrige Magddienste zu verrichten, den Ofen zu heizen, Flachs zu hecheln, Garn zu winden und Wasser zu tragen, da sie sich widerspenstig weigert, Hartmuts Frau zu werden. Als im achten Jahre ein neuer Versuch der Überredung misslingt, wird Gudrun zur Wascherin bestimmt, die am Meere, sogar bei

  • eisiger Winterkalte, mit Hildeburg am Strande die Wasche zu reinigen hat. Dreizehn Jahre nach der Entführung fahren die Hegelingen zu Gudruns

    Befreiung nach der Normandie unter Führung derselben Manner ab, welche ihre Mutter aus Irland raubten. Ihnen schliessen sich an ihr Verlobter Her-wig, Ortwin, ihr Bruder und Sivrit, der König von Mörlant. Der Wülpen-sand mit seinem Kloster ist der Sammelplatz der verschiedenen Kontingente. Nach ihrer Abfahrt von dort werden sie aber von Südwinden Richtung Givers getrieben, wo Magnetsteine im Meer ihre Schiffe festhalten. Obgleich die Hegelingen der Vorsicht wegen Anker aus Glockenspeise mit sich führen, so ist die Anziehungskraft der Magneten so gross, dass sie nicht fortkommen können. Ausserdem halt sie die Windstille für mehrere Tage fest, bis ein überaus starker Wind sie erlöst und sie nach einem lebensgefahrlichen See-gang willkommene Ruhe finden. Waffen und Pferde werden ans Land gebracht. Das milde Klima gestattet ihnen, nachts auf dem Strande auszu-ruhen.

    Am anderen Morgen machen Herwig und Ortwin sich auf, nach Gudrun zu forschen und das Land zu erkunden. Dort treffen die Manner Gudrun und ihre treue Begleiterin Hildeburg barfuss, mit wehenden Haaren und zit-ternd vor Kalte am Strande bei der Wasche. Tiefer Schnee und unbarm-heizige Kalte haben die Madchen zur Verzweiflung gebracht, obwohl ein Vogel als Himmelsbote am Tage vorher die nahe Befreiung prophezeit hatte. Es folgt eine riihrende Erkennungsszene, obwohl Gudrun und Hildeburg anfangs in ihrer erbarmlichen Lage und bei der unpassenden Kleidung am liebsten davon gelaufen waren. Herwig will beide Madchen sogleich mitnehmen, aber Ortwin drangt auf Trennung, weil eine heimhche Entführung ehrenrührig ware. Der Angriff wird für die nachste Frühe ange-kündigt. Voll ingrimmigen Stolzes wirft Gudrun die Wasche ins Meer. Als Gudrun zur Burg zurückkommt, will Gerlint sie mit Domen züchtigen, doch Gudrun erklart in doppeldeutiger Rede, sie wolle dem ihre Hand reichen, den sie dereinst verschmaht habe. Freudig eilt Hartmut herbei, die gefangenen Madchen werden jetzt gut bewirtet. Um die Kampfkracht der Burgleute Ludwigs zu schwachen, rat Gudrun Hartmut, Boten auszusenden, die Gaste zum Hochzeitsfést zu laden. Den geraubten Madchen teilt sie mit, was bevorsteht.

    Wate, der bei den Hegelingen führt, zieht das Heer in der Nacht vor Kassiane, Ludwigs Burg, zusammen. Eines von Gudruns Madchen, erblickt die anrückenden Scharen und weckt Gudrun. Ludwigs Wachter verkündet dem schlafenden Hof wiederholt die Nahe der Feinde, allein Ludwig zeigt sich unüberzeugt und zögernd. Gerlint, seine Frau, rat, man solle es auf eine Belagerung ankommen lassen und keinen Ausfall machen, doch Hartmut will nichts von einem solchen Rat wissen. Wate blast sein Horn und die Schlacht fangt an. Hartmut zeichnet sich aus im Kampf, Ortwin und Horant werden von ihm verwundet. Herwig erschlagt den König Ludwig. Der Kampf Wate—Hartmut vor dem Tore steht in der Waage. Gerlint will Gudrun

  • toten lassen, doch Hartmut vertreibt den Mörder durch drohenden Zuruf. Auf Bitten Ortruns, der Schwester Hartmuts, veranlasst Gudrun ihren Ver-lobten, Wate und Hartmut zu scheiden. Hartmut und achtzig Bitter mit ihm werden gefangen. Wate erstürmt die Burg Kassiane und schont auch die Kinder in der Wiege nicht, damit sie nicht zum Schaden der Hegelingen aufwachsen können. Gerhnt, die sich zu Gudrun flüchtet, reisst er hinweg und schlagt ihr das Haupt ab. So auch wird die junge ungetreue Hergart, die einen Schenken an Ludwigs Hof geheiratet hat, von Wate getötet. Weiter wird das übrige Land verheert und die Burgen gebrochen. Nach der Ver-geltung schiffen sich die Hegelingen wieder mit Gudrun und grosser Beute ein. Hartmut und seine Schwester werden gefangen mitgeführt. Horant und Morunc bleiben in Ormanielant.

    Hilde empfangt die Heimkehrenden. Auf Zureden Kudruns nimmt sie Ortrun, die freundliche Schwester Hartmuts, auf. Auch Hartmut wird schliesslich durch Hilde freigelassen, nachdem Gudrun gemahnt hat, dass niemand Böses mit Hass vergelten solle. Gudrun rat Ortwin, sich mit Ortrun zu vermahlen. Hartmut bekommt Hildeburg zur Frau. Sivrit von Mórlant erklart sich bereit, die Ehe mit Herwigs Schwester zu schliessen. Die Krönung Gudruns durch Herwig wird nebenbei erwahnt. Nach den glanzenden Festen, nehmen Hartmut und Hildeburg Abschied und kehren, von Irolt begleitet, nach Ormanie zurück. Horant verlasst darauf Kassi&ne, um sich nach Danemark zu begeben. Sivrit kehrt mit Herwigs Schwester heim. Auch Gudrun verabschiedet sich von ihrer Mutter. Ortwin und Herwig schliessen ein Schutz- und Trutzbündnis miteinander und Ziehen, jeder mit seiner Frau, in ihr Land. Und damit endet die Kudrun.

    Die Dreigliedrigkeit des Werkes und die genealogisch-sagengeschicht-liche Verknüpfung der Teile betrachtet man als das Bauprinzip des letzten Bearbeiters und Umdichters, wobei man gem auf die Analogie der damaligen Ritterromane von Parzival und Tristan hinweist, wo auch die Schicksale der Voreltern vorangeschickt werden. Der ungleiche dichterische Wert dürfte ein Hinweis sein, dass die drei Teile ursprüng-lich nicht zueinander gehort haben.

    In unserem Epos liegt das Hauptgewicht eindeutig auf Gudruns Entführungsgeschichte. Ihr ist die vorliegende Untersuchung gewid-met. Obgleich Kudrün die schoene von Hegelingelant erst im letzten Teil des Epos erscheint, ist sie die Titelheldin. Zwei Drittel des Epos handeln von ihrem Schicksal. Der Stoff bildet eine ausgesprochene Meersage, deren örtlicher Hintergund dem Oberdeutschen wahrschein-lich nicht bekannt war. Sogar die Thidrekssaga, die auf niederdeutsche Quellen zurückgeht und die das ganze Gebiet der deutschen Helden-

  • sage umfasst, erwahnt die Hilde-Gudrunfabel nicht. Man fragt sich, ob die Kudrun ihre Unbekanntheit und ihre Sonderstellung ihrem Hinter-grund verdankt, den Überfallen der Normannen, den Gefahren des Seekrieges, ihrem Schauplatz und ihren Helden. Andrerseits hat man Zweifel ausgesprochen, ob der Schriftsteller um 1240 überhaupt schon eine Sage von einer standhaften Heldin, die in Feindesland Magd-dienste verrichtet, angetroffen hat, oder ist diese Heldin seine eigene Schöpfung? 4

    Die mittelalterlichen spielmannischen Brautfahrten, zu denen man die Kudrun hat stellen wollen, können ihren eigenartigen Inhalt nicht erklaren, da das Epos nach Stoff und Stimmung zu weit abliegt.5

    Gudruns Entführung leitet eine Leidensgeschichte ein, und Aufgabe des Dichters ist die Schilderung der "Kudrun im Elend".6 Auch wenn man geneigt ist, das Geschehen im Kudrunteil "als im Gegenzug zur Hildegeschichte entworfen"7 zu denken, so ist es doch klar, dass "die Kudrunfabel ein von der Hildefabel im Innersten verschiedenes Gebilde ist".8 Gewiss, "der Gudrunteil ist nicht einfach als Fortführung oder Abwandlung des Hildeteils aufzufassen".9 Doch diese Schlussfolgerung lasst unverzüglich die alte Streitfrage wieder auftauchen, ob es vor dem Kudrunepos eine Gudrunsage bzw. eine Gudrundichtung gegeben hat, oder ob der Gudrunteil "eine Erfindung des hochmittelalterlichen Dichters ist".1 0 Dieses Dilemma kennzeichnet den Stand der sagengeschicht-lichen Forschung, der vornehmlich durch die gegensatzlichen Positionen Schneiders uind Heuslers bestimmt ist. Heusler nimmt an, dass die Sage aus den Niederlanden kam wie die Hildesage und dass die genealogische Verbindung schon dort erfolgt ist. In Sivrit von Mörlant soil sich ein Normannenführer von 882 fortsetzen und sogar eine Herwig-sage ware "etwa als Episode in einem Wikinglebenslaufe fassbar".11

    Schneider vertritt den entgegengesetzten Standpunkt: "Ein altheroisches Kudrunlied aus Völkerwanderungs- oder Wikingszeit ist eine stoff- und stilgeschichtliche Unmöglichkeit." 1 2 In sehr bestimmter Weise urteilt er: "Auf alle Falie ist es nicht am Platz, der Kudrun eine lange dich-terische Vorgeschichte zuzuschreiben — der Heldin und dem Gedichte. Die Versuche, deutliche Spuren des Wikingertums und der alteren Spielmannsdichtung in ihr herauszustellen, sind gescheitert."18

    Die Meiningen beider Forscher mussten zwangslaufig verschieden sein, denn Heusler hatte ausdrücklich die Annahme hervorgehoben,

  • dass "unsere Sage einst einen einfacheren und ernsteren Gang hatte".1 4

    Schneider hingegen betrachtet die Gudrunsage als "junges Gewachs, ausgesprochenes 13. Jahrhundert".15 Die entstehungsgeschichtliche Frage findet, wie er behauptet, ihre Beantwortung durch die stoff-schöpferischen Fahigkeiten des spaten Dichters. Er glaubt nicht daran, dass eine Vorlage einfach ein rauberische Madchenentruhrung in einem wikinghaften Überfall geboren haben kann. Meines Erachtens sind die wikingischen oder sonstigen historischen Grundlagen der Kudrun einer Untersuchung wert. Ich möchte untersuchen, was aus dem Leben historischer Personen und aus anderen Ereignissen nachweislich oder wahrscheinlich in die Heldensage übergegangen ist. Eine ins einzelne gehende Untersuchung erscheint mir geboten. Diese wird noch erspriess-licher sein, wenn sie die Beziehungen auf das Ganze nicht vernach-lassigt. Ohne Frage kann jede Dichtung als Gesamtkomposition aus sich selbst heraus verstanden und gewürdigt werden. 1 6 Das bedeutet jedoch nicht, dass wir uns einen Ausblick auf die Vorgeschichte versagen sollen. Die Vorgeschichte des Stoffes, deren Erforschung der Heldensage zugehört, führt zur Kenntnisnahme der alteren Fundamen-te und Bausteine. Es mangelt nicht an Ausserungen, die gerade bei der Kudrun darauf hinweisen, dass die Möglichkeiten in dieser Hinsicht besonders beschrankt sind. Herkunft und Entstehungsverlauf sind vielen Forschern gleich problematisch,17 und Karl Stackmann, der letzte Herausgeber des Textes, schreibt in seiner Einleitung: "Kaum in einem einzigen andern Fall ist die Lage so verzweifelt wie bei der 'Kudrun'."1 8

    Wenn die Kudrunsage als eine Heldensage zu werten ist, so darf man als Ausgangspunkt für ihre methodische Erforschung die Ge-schichte befragen, denn für das richtige Verstandnis der Heldensage ist man "genötigt einen historischen Urkern anzunehmen". 1 9 Doch man durchmustre die Sekundarliteratur der Kudrun, und man stösst auf sehr entmutigende Ausserungen: "Bestimmte historische Berichte dürfen wir nicht als Quellenmaterial erwarten, auch haben wir in Kudrun selbst schwer einen historischen Namen zu suchen" 2 0; "seine Entstehung liegt völlig im Dunkel und entbehrt jedes greifbaren historischen Anhalts" 2 1; "aus welchen geschichtlichen Ereignissen die Kudrun entstanden sein könnte, hat noch niemand entdeckt, auch kei-ner erraten . . . ' , 2 2 ; "die Kriegsfahrten der Wikingen und Normannen

  • spielten bei der Gestaltung und bei der Beheimatung gewiss eine Rolle, aber bestimmte geschichtliche Tatsachen lassen sich nicht als Quelle nachweisen. Eine Ausnahme bietet vielleicht die Geschichte Sivrits von Mörland" 2 3; Kudrun können wir "nicht auf ein konkretes geschichtliches Ereignis zurückführen".24

    Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Schneidersche These sich auf den angeblichen Mangel an "deutlichen Spuren des Wikingertums", 2 5 auf die Sonderstellung des spaten und einmaligen mittelhochdeutschen Kudruntextes und auf die Ahnlichkeit der Ge-schichten von Hilde und Gudrun stützt: "eine Königstochter wird entführt, ihr Vater setzt ihr nach, auf dem Wülpensande wird ge-kampft, der alte König fallt von der Hand des riesigen Begleiters des Entführers — man sieht, das ist genau die Formel für den Untergang Hettels; diesen Kern und Wendepunkt der Handlung seines Kudrun-teiles fand der Dichter in keiner anderen Quelle als in dem alten Epos." 2 6 Wenn man von der Fabel aus urteilt, ist natürlich die Mög-lichkeit gegeben, die Gudrunerzahlung aus der Entführungsgeschichte der Hilde heraus zu entwickeln, "durch einen Wechsel in der inneren Stellung der Frau zum Entführer".27 Eine Frau, die mit Gewalt ent-führt wird, ist der Erlösung bedürftig, und es wird Aufgabe der Ihren, für ihre Rettung zu sorgen. Doch wenn man das Namengut in Betracht zieht, so fragt man sich, woher Sivrit, Herwig, Ludwig, Gêrlint, Hart-mut, Hergart, Ortwin und Ortrun stammen. Und sind die Schlachten um Mateldne im Lande der Hegelingen und um Kassidne in Ormanie, die Seefahrten hin und her, der Raub und die Befreiung einer Gruppe von Jungfrauen Erfindungen des Dichters oder hat er das gangbare Schema der Verdopplung der Sage 2 8 mit Hilfe historischer Stoffe aus-gebaut und ausgefüllt? Einige Forscher haben tatsachlich die sogenann-te "neue Wendung der Hildesage", "die Geschichte von Hildes Gegen-stück Kudrun" einem "Erfinder", einem Dichter im süddeutschen Raum zugeschrieben.2 9 W. Wilmanns hat vorausgesetzt, dass der Dichter, wel-cher die Kudrunsage zum Gegenstand seiner Bearbeitung gemacht hat, auch der Erfinder der Sage sei . 3 0 H. Schneider kommt zu dem Schluss, dass Inhak und Forschung keine' Fingerzeige zu Alterm bieten. 3 1

    Diesen Aussagen sind andere Forscher mit Gegenbehauptungen ent-gegengetreten. So scheint es Alexander Kolisch wahrscheinlich, dass dem Kudrundichter die Sage vorgelegen habe, und dass sie auf his-

  • torischen Tatsachen beruht haben kann, "so dass man von einer un-glaublichen Erfindung überhaupt nicht sprechen darf". Eine derartige Meinung findet man auch in Stackmanns Einleitung: " . . . man kann den Verlauf der Erzahlung nicht in Bausch und Bogen dem Verfasser des erhaltenen Textes als neue Erfindung zuschreiben. Er hat altere Quellen benutzt, aber wir wissen nicht, wie diese Quellen ausgesehen haben." 3 2 Dabei taucht nicht nur der alte Problemkomplex auf, ob die Gudrunsage aus einer Hildesage entwickelt worden ist oder ur-sprünglich eine selbstandige Sage war, sondern auch, wenn wir von der erstgemeinten Voraussetzung ausgehen würden, oder ob der Dichter, der eine Nebenbuhlergeschichte erzahlen wollte, "die Hildensage für seine Zwecke dienstbar gemacht" ha t 3 3 oder dass die Hildesage die Ausgangshandlung ist und "das nebenbuhlermotiv eingewachsen ist". 3 4

    Die Beantwortung dieser Fragen hangt grossenteils davon ab, ob wir den Grund erfahren können, warum der Dichter die Entführung der Jungfrau nicht mehr mit deren Zustimmung, sondern wider ihren Willen durch gewaltsamen Raub geschehen lasst.

    Die süddeutsche Hypothese erklart nicht genügend, wie die ver-schiedenen geographischen und historischen Einzelheiten aus nieder-frankischer Umgebung zur Kenntnis des Kudrundichters gekommen sein können. 3 5 Dennoch sind für die Beurteilung der Stoffeinschlage in unserer Heldensage die Ortsnamen, soweit sie sich als reale Lander-und Ortsnamen identifizieren lassen, zusammen mit den möglicher-weise wikingischen Zügen, überaus wichtig. Es ist kaum anzunehmen, dass unsere Dichtung von einem Oberdeutschen nach Quellen, die ihm aus niederfrankischem Gebiet zugekommen sind, verfasst worden ist. 3 6

    Vielmehr ist eine dichterische Vorlage, deren Gestalt wir nicht kennen, vorhanden gewesen. 3 7 Sie ist und bleibt vorlaufig eine unbekannte Grosse. Unsicherheit herrscht weiter auch darüber, wie lange gegeben-falls eine Gudrunsage, in selbstandiger Form oder in Anlehnung an eine Hildedichtung, an der Kuste bestanden habe und wann sie ihre Wanderung getrennt oder zusammen mit der Hildesage, nach Deutsch-land angetreten habe.

    Man sieht, "das ratselreichste aller Heldenepen" wirft Fragen über Fragen auf. Man hat davor gewarnt, der Gudrunsage eine grosse Bedeu-tung auf sagengeschichtlichem Gebiete beizulegen. 3 8 Ware es nicht vorsichtiger zu prüfen, ob und wieweit "im Kudrunteil wirklich eine

  • niederfrankische Quelle verwertet ist", ja sogar ob "es eine niederfran-kische Vorform des Kudrunteils gegeben hat", die "die verschiedenen geographischen und historischen Einzelheiten aus niederfrankischer Umgebung" erklaren helfen. 3 9 In dieser Weise liesse es sich vielleicht aufhellen, welches Material der deutsche Dichter kannte.

    Mit einer Gruppe von Forschern nehme ich an, dass es sich in der Kudrun um Sagenstoffe handelt, deren landschaftlicher Hintergrund die Nordsee und ihre Kusten sind, deren geschichtliche Llmwelt die Wikingerziige bilden. Es wird Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein, auf geschichtliche Ereignisse und Personen hinzuweisen, an welche manche Begebenheiten und Figuren in der Sage anklingen ohne dabei die literarischen Gestaltungsmittel, die dem Dichter zur Verfügung gestanden haben konnen, zu iibersehen.

    Von grosser Bedeutung scheint mir auch der Blickwinkel des Dichters zu sein. Hetels Danen stehen in günstigem Licht. Man weiss, in der Wikingerzeit hat sich die Küstenbevölkerung keineswegs immer den Eindringlingen feindlich gegenübergestellt.4 0 Soil man daraus schliessen, dass in diesen Kreisen Sagenstoffe bestanden haben, die von den danischen Wikingern zu den Niederfranken und Friesen gebracht worden sind? 4 1 Andrerseits fallt es auf, dass die Angreifer aus der Normandie stammen, und dass die Normandie als ein unabhangiges Land angeführt wird. Die Forschung lehrt, dass der Name Normandie für die normannischen Gebiete an der Seinemündung erst um das Jahr 1000 gebrauchlicher wird. 4 2 Das ist gerade die Zeit, dass die Gefahr-lichkeit der Wikingerzüge aufhört. 4 3 Beweisen diese Überlegungen, dass "nicht das Zeitalter der normannischen Raubereien (der Dich-tung) das entscheidende Geprage gegeben haben" 4 4 oder dass "von jenen Einfallen nur noch dammernde Kunde gieng, wo man also die früheren scandinavischen Nordmannen und die spateren französischen Normannen wohl verwechseln konnte"? 4 5 Stehen diese Folgerungen nicht im Gegensatz zu dem Ergebnis der Kudrunforscherin Ingeborg Schröbler? Ihre Untersuchung will zeigen, dass Eigenarten der wiking-ischen Kriegführung spatestens in der zweiten Halfte des 11. Jahr-hunderts in eine Gudrundichtung hineingekommen sind. 4 6

    Ein weiterer unsicherer Punkt in der Forschung ist, ob Ludwig von der Normandie, Hartmut, Gerlint und Hildeburg schon in der Quelle eine Rolle gespielt haben — "sie musste dann ein Gudrunlied gewesen

  • sein", meint H. Schneider 4 7 — oder ob die Namen anderswoher stammen. Man hat auf die Namengruppe Ludwig, Hartmut und Hildeburg in einer Herbortfabel hingewiesen, doch der Name Gerlint für die Frau Ludwigs ist dort nicht vorhanden. Und doch ist diese Frau im Kudrun-epos die treibende Kraft. Die Personen tragen offensichtlich französi-sche oder frankische Namen. 4 8 Es verwundert, dass sie als die Herrscher der selbstandigen Normandie, wo doch Wikingernachfahren regierten, auftreten. Hangt das irgendwie zusammen mit der Tatsache, dass sie als die Rauber und die endlich Besiegten im Epos betrachtet werden, wahrend die Hegelingen, die Danen, als die Geschadigten aber letzten Endes als die Sieger dargestellt werden?

    Es ist meine Absicht, zumindest einen Teil der verschlungenen Faden zu entwirren. Ich will die historischen und die literarischen Traditionen befragen, die zur Zeit der Wikinger und Normannen in den von ihnen beherrschten Gegenden an der Nordsee und am Armel-kanal lebten. Ich habe dabei die Worte Karl Goedekes vor Augen, der zur Kudrun schrieb: "Nur neue Quellen werden über die Geschichte des Gedichtes sichern Aufschluss geben." 4 9 Sie wurden im vergangenen Jahrhundert geschrieben, sie haben jedoch ihre Gültigkeit nicht verloren.

    Die vorliegende Untersuchung wird nach den unterschiedlichen Pro-blemkreisen in vier Abschnitte gegliedert. Zwei Kapitel befassen sich mit bestimmten geschichtlichen Ereignissen und Persönlichkeiten, und zwar beziehungsweise in der Normandie und in dem Nordseeraum. Diese werden in Zusammenhang mit dem Gudrunteil gebracht. Die zwei abschliessenden Kapitel behandeln in der Hauptsache die literarischen Überlieferungen, die Wates gefahrliche Seefahrt nach Ormanie und die Leiden der Hauptheldin in diesem Lande beleuchten.

  • ERSTES KAPITEL

    K U D R U N U N D DIE N O R M A N D I E

    Bruno Boesch hat in seiner Einfiihrung zur Kudrun, die er der dritten und der vierten Auflage des Epos vorangeschickt hat, darauf hingewie-sen, dass der Dichter des Gudrunteils "dringend auf stoffliche Anleihen angewiesen war, um dem handlungsarmen Gerippe Fleisch und Blut zuzuführen". 5 0 Es sei das erste Anliegen des spielmannischen Dichters gewesen, "die Kudrungeschichte mit unterhaltendem Stoff anzu-reichern".5 1 Es ist daher die Grundlage vorhanden, die Aventiuren als "Leseabschnitte und damit (als) zufallige Schnitte einer epischen Kon-zeption" zu bewerten. Boesch nimmt an, dass eine Reihe von Szenen, wie z.B. "die Wascherinnen am Strand und die Engelserscheinung, das Erwachen Ludwigs auf der Burg mit der Schilderung der kampfenden Schilde, Kudrun, die auf den Zinnen den Kampfauftritten folgt, Wates fürchterliches Gericht auf der Burg", darauf warten "im lebendigen Auf-tritt dramatisch neu zu erscheinen".5 1

    Will man die Probleme, die sich in diesem Zusammenhang darbieten, lösen, so wird man auf die Frage, was vor der Dichtung gelegen haben konne, Antwort geben mussen. In erster Linie wird zu untersuchen sein, was der Anlass zur Gestaltung des Gudrunstoffes zu einer Ge-schichte des Leidens und des Friedenswillens gewesen sei. Weiter waren die "normannischen" Hintergründe aufzudecken, denn in Ludwigs Land, Ormanie, wird Gudrun gefangen gehalten, hier leidet sie, und wird sie von Wate und seinen Danen befreit. Hat der Dichter diese Züge als Lesefrüchte aus seinen Quellen gesammelt, um sie als Leseabschnitte in seinem Epos zu verwenden? Die Forschung ist bisher die Antwort schuldig geblieben. Es bleibt ungewiss, ob der Dichter einer hypothetischen früheren Gudrundichtung, etwa aus dem 10. Jahr-hundert, 5 2 normannische oder wikingische Stoffe für wesentliche Teile der Dichtung verwendet hat.

    Der Zweck des vorliegenden Kapitels ist zum ersten Mal ausführ-

  • lich auf eine historische Quelle hinzuweisen, die das geschichtliche und sachliche Verstandnis der Kudrun vertiefen kann. Es ist das Geschichts-werk des Mónches Dudo von St. Quentin, De Moribus et Actis frimo-rum Normanniae Ducum, das im Jahre 1000 begonnen und wohl erst nach 1015 vollendet worden ist. Diese Normannengeschichte schildert die Ansiedlung und die Herrschaft des Wikingers Rollo und seiner Nachsassen Wilhelm Langschwert und Richard I. Das Werk ist eine geschichtliche Quelle, die nicht nur Historisches, sondern auch viel Fabelhaftes und Novellistisches enthalt, das, wie man annimmt, aus den Volksliedern der Normannen stammt. 5 3

    Leider gilt auch heute noch das Wort des Forschers Deutschbein, dass die lateinischen Autoren der Normandie von den Sagen- und Literatur-forschern allzu sehr vernachlassigt worden sind und dass hier fur die Sagenforschung noch manche Frucht zu pflücken bleibt. 5 4 Der His-toriker Ernst Dümmler sieht in Dudos Werk eine Erzahlung mit dem epischen Inhak der "normannischen Volksgeschichte". Darin wollte und konnte Dudo nur wiedergeben, was die normannischen Fürsten seiner Zeit sich von ihren Vorfahren erzahlten. Die am Hofe von Rouen fortgepflanzte "Haussage" war seine einzige Quelle. Dudos De Mori-bus hat also den Charakter einer nationalen Sage. Öfters begnügt er sich, zusammenziehen, was über weitere Raume zerstreut war, auf ein-zelne Namen zu haufen, was von sehr verschiedenen Führern ausging, die Tatsachen im Einzelnen auszuschmücken und sie so aufzufassen, wie es der Nationaleitelkeit am besten entsprach.5 5

    Von grösster Bedeutung ist die Geschichte Richards I., des Enkel-kindes des Begründers der Normandie, Rollo. Die Ruhmredigkeit Dudos tritt darin besonders hervor. Es lasst sich über die ausführliche Erzahlung der Gefahren, welche Richards Kindheit von seiten Ludwigs bedrohen, und von dem klaglichen Scheitern der Plane Ludwigs, die Normandie in die Hande zu bekommen, nur schwer ein sicheres Urteil gewinnen, weil die Nachrichten anderer Zeitgenossen Dudos nur einen dürftigen Umriss der Begebenheiten ermöglichen. Ich glaube aber in diesem Teil der Geschichte Dudos aufschlussreiche Tatsachen für die Sagengestaltung der Kudrun nachweisen zu können. Dabei ist zu be-achten, dass die Suche nach historischen Beziehungen nicht bloss eine entfernte Ahnlichkeit mit unserer Sage erbringt. Es handelt sich hier um ein unmittelbares Zeugnis, dass bestimmte Ereignisse aus der Ge-

  • schichte der Normannen und aus der Sage identisch sind. Ich bin der Ansicht, dass die mannigfachen Kampfe Richards I.

    gegen die letzten Karolinger, Ludwig IV. und seinen Sohn Lothar, wo-bei Ludwigs Gemahlin, Gerberga, eine grosse Rolle spielte, die historischen Begebenheiten sind, die dem Kudrundichter in irgendeiner Weise bekannt gewesen sein mussen. Die Forschung nimmt an, dass manches in der Kudrun historischen Ursprungs sei, dass aber bestimmte historische Berichte nicht als Quellenmaterial nachzuweisen seien. 5 6 Martini schreibt dazu: "Es scheint unmöglich, einen historischen Anhaltspunkt für die von der Sage berichteten Vorgange zu finden: allerdings ist auch unsere Kenntnis der frühen Geschichte dieser Gebiete (der Nord- und Ostsee) bei dem Mangel an Uberlieferungen denkbar gering." 5 7 Die Worte Friedrich von der Leyens klingen hoffnungsvoller: Die "Namen und Orte weisen, soweit sie sicher sind, auf die Danen des neunten und zehnten Jahrhunderts und ihre Kampfe mit germanischen Vólkern, mit den Friesen und den Normannen und ausserdem mit den Iren. Die noch unsicheren Namen widersprechen diesen Zeugnissen nicht." 6 8

    Er wertet die Kudrun als "ein Geschenk der nördlichen germanischen Lander", das uns "die seelischen und dichterischen Werte der dani-schen Heldendichtung" übermittelt hat. 5 9 Fr. von der Leyen vermutet, dass eine genauere Kenntnis und eine eindringende Untersuchung der danischen Heldendichtung noch manches Licht bringen könnte, so dass wir das Material, das der deutsche Dichter kannte, abgrenzen könn-ten. 8 0 In diesem Sinne möchte ich die Ereignisse aus Dudos Geschichte der "Danen" in der Normandie, bei denen trotz der Ausschmückung ein historischer Kern anzunehmen ist, heranziehen. In Dudos Werk hat "die geschichtliche Uberlieferung Schritte auf die Heldensage ge-tan, eh der Dichter kam", wie man das auch anderwarts beobachtet hat. 6 1 Wenn jetzt noch "ein eigentlich heroisches Konfliktthema um-wandelnd" hinzutritt, 6 2 so kann man mit einer Mischung aus Helden-und Zeitgedicht rechnen. 8 3 Daraus ergibt sich, dass ebenso wie die Nibelungenforschung die Kudrunforschung sich "von neuem auf eine Auseinandersetzung mit den geschichtlichen Grundlagen ihres Stoffes verwiesen" sieht. 6 4 Das ist besonders für unser Epos notwendig, denn "zu wenig Fühlung mit der allgemeinen Geschichte", sei es, dass man diese nicht bekommen kann oder sie verliert, "führt zu Unsicherheit in der Epenforschung".6 5

  • Um übrigens ein einigermassen klares Bild der geschichtlichen Vor-gange zu gewinnen, ware es angebracht die geschichtlichen Teile von den fabel- und sagenhaften in De Moribus Dudos zu trennen. In man-cher Hinsicht ist dies eine fast unmögliche Aufgabe, 8 6 die in bezug auf eine Vergleichung des Fabelhaften und Sagenhaften in der Kudrun nicht unbedingt gelost werden muss. Es wird sich namlich herausstel-len, dass die Befreiung Gudruns in der Normandie sowohl an Geschicht-liches als auch an Sagenhaftes in Dudos Normannengeschichte an-knüpft. Es geniigt, dass bestimmte Ereignisse und vor allem bestimmte geschichtliche Persönlichkeiten sich ungesucht darbieten",67 um eine Sage als in ihrem Kerne historisch zu erweisen.

    Die Vorgeschichte der Kudrun, besonders des Gudrunteils, bleibt "auch heute noch weitgehend im Dunkel". 6 8 Kein Wunder, dass das Kudrunepos "eines der wissenschaftlich umstrittensten Werke der mit-telhochdeutschen Literatur" genannt wird. 6 8 Dem Epos "fehlt der wich-tigste Ausgangspunkt der Untersuchung: die Parallelfassungen".70 Weder für die Vorgeschichte des Gudrunteils noch für das Nachleben gibt es eindwandfreie Zeugnisse. 7 1 Die grosse Unklarheit, die über das Zustandekommen der Kudrun herrscht,7 2 hat wiederholt zu Versuchen ge-führt, die Entwicklung besonders ihres Hauptteils nachzuzeichnen, ohne dass die in dieser Weise gewonnene hypothetische Vorlage sich der Zustimmung der Mehrzahl der Forscher erfreuen kann. 7 3 Wieder-holt hat man auch die sparlichen Kenntnisse der Finnsburgsage heran-gezogen, um die Lage, in der Gudrun sich befindet, und ihre Befreiung zu erklaren.7 4 Symons halt die Zusammenstellung der beiden Sagen für irrig. Es handle sich in der Finnsburgepisode nicht um die Rück-eroberung einer Frau. Der plötzliche Überfall der Feinde in dem an-gelsachsischen Bruchstück findet in der Nacht statt, nicht "beim ersten Aufleuchten des Morgens" (Kudrun: Str. 1355 ff.) . 7 5 Ich glaube, hier kann die Normannengeschichte Dudos mit einer Parallele aushelfen. Auch können an Hand von Dudos Werk, wie weiter unten im Einzel-nen belegt werden wird, weitere Schwierigkeiten in der Kudrun er-lautert werden. Man hat sie aus Quellen verschiedener Herkunft deu-ten wollen. So ist I. Schröbler der Meinung, dass u.a. das plötzliche Kommen der Hegelingen und das Wecken der schlafenden Normannen nicht einer Vorstufe des Epos angehört hat. 7 6 Die Verzögerung des Kampfes durch das Wecken der Schlafenden scheint Droege wunder-

  • lich gesucht. 7 7 Doch meines Erachtens gibt auch hier Dudo die Lösung. Bei der Landung stossen die Hegelingen auf frische kalte brunnen (Kudrun; Str. 1143,3). Panzer, der den Einfluss der Salomosage auf das Kudrunepos sehr betont hat, hebt hervor, dass die rauschenden Wasser in keiner Version zu finden sind und dass sie aus einer anderen Quelle stammen mussen. 7 8 I. Schröbler weist mit grösster Vorsicht auf aquae dulces in Aeneis I, 159 ff. hin, wahrend Droege anführt, dass frische Quellen im Itinerar der Kreuzfahrer erwahnt werden. 7 9 Wieder kann Dudo mit einem zusammenhangenden Text herangezogen werden. Schliesslich wird Meissner gegen andere Forscher recht haben. Er schreibt, dass man nicht zu viel sagt, "wenn man behauptet, dass die Schilderung des Angriffes auf die Normannenburg noch charakte-ristische Züge der Wikingerzeit enthalte".8 0 Dieser Kampf führt uns tatsachlich wieder auf Dudos De Moribus zurück. Diese Punkte sind nur eine Auswahl von Einzelzügen, die aus einer anderen einzigen Quelle anscheinend nicht belegbar sind. In Dudos Geschichtswerk finden sie sich eng zusammen. Sie werden unten in einem breiteren Rah-men erörtert. Wenn es sich weiter herausstellt, dass noch mehr geschichtliche Einzelheiten und Namen aus Dudos Werk ihre Wiedergabe in der Kudrun finden, so wird es sich lohnen, die beiden Werke ver-gleichend nebeneinanderzuhalten.

    Dudo ist als normannischer Geschichtsschreiber parteilich, aber nir-gends entstellt er die Ereignisse so weit, dass man nicht in der Lage ware, die Verhaltnisse einigermassen richtig zu sehen. Nach dem Bericht von der Ermordung Wilhelms Langschwert spricht er ausführlich über die Jugend Richards L. Dieser war der Sohn Wilhelms und Erbe des Normannenreiches. Nur Dudo verdanken wir den umstandlichen Bericht, der im wesentlichen als glaubwürdig gelten darf, über den Aufenthalt Richards am Hofe Ludwigs IV.. Angeblich hat Ludwig IV. (Ludovicus Ultramarinus, Louis d'Outremer) den jungen Danen — er lernte die Sprache seines Geschlechts, das Danische, in der Küsten-gegend von Bayeux — zur Erziehung an seinen Hof geholt, in Wirk-lichkeit beabsichtigt er ihn unschadlich zu machen. Ludwig hatte vor, die Normandie wieder dem Besitz der Karolinger einzuverleiben. Die Normannen durchschauen das Rankespiel des Karolingers; sie erheben sich. Schliesslich kann Richard sich in listiger Weise von Ludwig und seiner Gemahlin Gerberga, die ihm nach dem Leben trachten, be-

  • freien. Dabei ist es sicher, dass die heidnischen Wikinger, die von

    aussen durch die in Frankreich angesiedelten Normannen zu Hilfe

    gerufen waren, die Entscheidung zugunsten der Normannen — und

    damit des jungen Richard — gegen Ludwig IV. herbeigefuhrt haben. 8 1

    Aus diesem geschichtlichen Überblick erhellt, dass das Volk der

    Danen und der Wikinger sich fest entschlossen zeigt, seine bedrangte

    Lage in der Normandie zu verbessern. Es kommt zum Kampf gegen

    Ludwig und Gerberga. Die entfernten und die unmittelbaren Vorbe-

    reitungen, der Verlauf und der Ausgang dieses Kriegsgeschehens sind

    in ihren Entwicklungstufen bei Dudo und in der Kudrun, wo der

    Kampf der Danen gegen Ludwig und Gêrünt erzahlt wird, so ahnlich,

    dass man kaum von der Verwendung zufallig gleicher Schemen und

    Schabionen sprechen kann. Es kommt noch hinzu, dass der Sohn der

    zu vergleichenden Ehepaare, bzw. Lothar in Dudos Geschichtswerk,

    Hartmut in der Kudrun, eine unverkennbar gleiche Rolle spielen.

    Betrachten wir zunachst die Vorbereitungen und den Kampf der

    Hegelingen und ihrer Verblinderen gegen Ludwig von Ormanie.

    (a) Die entfernten Vorbereitungen — Es sprechen Wate und Hilde (Str. 945-946):

    "von ieclichem lande heizet ir iu vierzic koeken gewinnen"

    Si sprach: "só sal ich würken heizen bi der fluot zweinzic veste kiele, stare unde guot, und wil die heizen rusten, — des Mn ich guot gedinge —, daz si mine friunde mit staten zuo den vienden bringen".

    Der Umfang der Arbeiten und Vorbereitungen wird ausführlicher in

    Str. 1072-1074 geschildert:

    Si héte heizen würken bl des meres fluot starker kiele sibene veste und guot, zwêne und zweinzic (koeken) niuwe unde riche. swaz die haben solten, des wiren si berihter vlizicliche.

    Vierzic galeide hêt si uf dem mer; daz was ir ougenweide. si warte einem her, daz si senden solte. dem héte si (riche) splse erworben sw& si kunde. si lónte ir helden . . . wol ze prise.

  • Ez nahent zuo den ziten, daz si zuo dem sê niht lenger wolten blten nach jenen, den vil wê was in fremeden landen mit staiken arbeiten. dó hiez diu schoene Hilde mit kleidern ir boten wol bereken.

    Nachdem die Truppen aufgeboten sind und das Heer eine gefahrliche Seefahrt hinter sich hat, wird in Ormanie gelandet (Str. 1142-1143):

    Si f uoren vor dem berge an den selben wait. mit listen muosten werben dö die recken bait. ir anker si dó schuzzen zuo des meres grunde. si légen in der wilde, daz niemen merken (niht en) kunde.

    Durch gemach si fuoren von schiffen uf den sant. guoter dinge genuoge hei waz man der da vant! frische kalte brunnen die fluzzen in (dem) tanne nider von dem berge. des freuten sich die wazzermüeden manne.

    Man vergleiche dazu Dudo, De Moribus (Migne, Patrologia Latina

    Tomus 141, 705): Die herbeigerufenen Danen gehen unter Haigrolds

    Führung in der Normandie an Land:

    Haigroldus vero rex Daciae magnanimus ob amorem Richardi sui propinqui, legatos Northmannorum honorifice suscepit; constructisque navibus, hisque cibariis et militibus repletis, ad littora salinae Corbonis, qua Diva rapido meatu procelloso mari se infundit, cum incredibili tironum multitudine, citius quam quivit venit.

    Die beiden Quellen (Kudrun und Dudo, De Moribus) haben Folgen-des gemeinsam: Die Feinde Ludwigs sehen sich veranlasst, neue Schiffe zu bauen, um in der Normandie Krieg zu fiihren. Die Schiffe werden mit Nahrung und Kriegern versehen. Die Flotte fahrt siidwarts und landet in einer wasserreichen, hügeligen Gegend. 8 2 Haigrolds Führer-rolle stimmt mit dieser Wates überein.

    (b) Die unmittelbaren Vorbereitungen —

    Die zugezogenen Truppen nahern sich der Burg Ludwigs (Str. 1354-1358):

    Dó legten sich die müeden üf den wert ze tal. si waren da vil nahen vor Ludewiges sal. (swie) ez bl der naht waere, dan sêhen si doch alle. die stolzen helde maere lagen dè mit wênigem schalie.

  • Nu was der morgensterne höhe uf gegan. dö kom ein maget schoene in ein venster stan. si spehete, wanne ez waere daz ez tagen solte, di mite si gróze miete an froun Küdrunen dienen wolte.

    Dó kös diu maget edele ein teil des morgens schin, und gên des wazzers brehene, als ez solte sin, sach si liuhten belme und vil der liehten schilde. diu burc was besezzen; von gewaefen lühte al daz gevilde.

    Dó gienc si hin widere da si ir frouwen vant. "wachet, maget edele, allez ditze lant und disiu burc veste mit vinden ist besezzen. unser friunt da heime habent unser armen niht vergezzen."

    Kudrun diu hêre fiz dem bette spranc. gach was ir in daz venster. si sagete der meide danc dirre botschefte maere; da von wart si riche. von ir grózen swaere si goumte nSch ir friunden vlizicliche.

    Langsam und zögernd wird Ludwig sich der Gefahr inne (Str. 1360-

    1364):

    Dó si daz geredete, daz liut noch meisteil slief. Ludwiges wahtaere krefticlichen rief: "wol üf, ir stolzen recken! wafen, herre, wlfen! ir küenen von Ormanie, jê waene ich ir ze lange habet geslêfen."

    Ditze erhórte Gêrlint, (daz) Ludewiges wip. dó hez si ligen slafen das alten küniges lip. dó gahte si harte balde selbe in eine zinne. dl sach si vil der geste. unmazen leit was dó der tiuvelinne.

    Si ilte hin widere da si den künic vant. "wachê, herre Ludewic! din burg und ouch din lant daz ist umbemüret von gesten ungehiure. daz lachen Küdrunen koufent dine recken hiute tiure."

    "Swiget", sprach dó Ludewic, "ich wil si selbe sehen. wir müezens alles erbiten, swaz uns nu mac geschehen." dö gieng er harte snelle in sin palas schouwen, er héte des tages geste, der er übele mohte getrouwen.

    Dó sach er vanen breite vor slner bürge wagen. dó sprach der künic Ludwic: "jè sul wir ez sagen minem sune Hartmuote. ez sint lihte pilgerine und Ugent hie durch koufen vor der stat und vor der bürge mine."

  • Dudo, De Moribus (Migne, Patrologia Latina 141, 706) hat:

    Constantinenses atque Bajocacenses cum rege Haigroldo ultra Divae fluenta fixere tentoria. Betnardus primo mane consurgens, venit ad regem Ludovicum dicens: "Domine rex, velocius surge, et quid agendum sit, secretius cum tuis rimare. Alterius moris est gens haec quam Francigena, argumentosae calli-ditatis nimis plena". Tunc quidam recubans intrinsecus, respondit Bernardo, rege adnuente stanti forinsecus: "Pete dormitum citius, quia non curamus de talibus". Bernardus vero hujuscemodi verbis exasperatus repetiit castra Rothomagensia velocius. Aestuante vero sole hora diei tertia, coeperunt Divae alveum Constantinensium Bajocacensiumque transire agmina. Bernardus autem intuens, regem iterum expetiit, dicens: "Supra satis rex doimitare adhuc stude, quia gens Dacigena transgressa Divae flumen stat equestris in littore, nescio cujus animositatis intentione . . .

    Convocansque Bernardum dixit ad eum: "Nescio quid meus praesagit animus, placida non mihi est quiete contentus. Aut pugnam, aut aliquid navum exagitat mihi invadere sollicitus".

    Wie in der Kudrun schlafen die Danen {gens Dacigena: vgl. Kudrun: die von Tenemarke, Tenelant, Teneriche) nach der Landung auf dem Strande. Beim ersten Aufleuchten des Morgens brechen sie zum Kampf auf. 8 3 In der Kudrun und in De Moribus werden die Leute Ludwigs und Ludwig wiederholt aufgefordert aufzustehen. 8 4 Die Schrecklich-keit der Feinde und die Unschliissigkeit Ludwigs werden betont. Nur allmahlich wird der König sich der Danengefahr bewusst. Dudo und der Kudrundichter bringen die falsche Treue des Bernardus (se fidelem simulans Francorum), bzw. der Gudrun (Str. 1362), zum Ausdruck. Bemerkenswert ist, dass der Dane Bernardus, der vorgibt Ludwig die Treue zu halten, sehr geschickt die Heeresmacht Ludwigs schwacht, indem er die Verblinderen Ludwigs gegeneinander aufwiegelt. Bernardus hat heimliche Beziehungen zu den einfallenden Danen, und als erster meldet er das "plótzliche" Herannahen der fremden Krieger. In ahnlicher Weise wissen Gudrun und die Ihrigen, dass ihre Befreier in der Nahe sind (Str. 1331 ff.). Inzwischen hatte die hinterlistige Gudrun die Mannschaft Ludwigs geschwacht, indem sie hundert oder mere (boten) aussenden liess: deste minner was der vinde, do die Hegelinge suochten Hartmuoten (Str. 1314). Noch bevor die iibrigen Burgbewohner erwachten, war Kudrun (wie auch Bernardus, der die Sache Richards vertritt) eifrig dabei nach ihren Befreiern Ausschau zu halten (Str. 1358).

  • (c) Der Kampf —

    Gerlint rat vergeblich, man solle sich in der Burg verschanzen (Str. 1381-1386). Dieses Gesprach zwischen Gerlint und Hartmut fangt an wie folgt:

    Dö sprach diu tiuvehnne: "da mite diente ich dir, daz ich si wande twingen. nu solt du volgen mir. din burg ist só veste, heiz diniu tor besliezen; só mügen dise geste ir reise harte wênic her geniezen.

    Hartmut antwortet ihr (Str. 1386):

    Dö sprach in zorne Hartmuot: "frouwe, nu get hin. waz miiget ir mir geraten? zwiu solte mir min sin? ê man mich beslozzen in dirre bürge vinde, ê wolte ich ersterben da üzen bi (dem) Hilden ingesinde".

    Der Kampf tobt dann in voller Heftigkeit (Str. 1419):

    Do wart ein michel dringen; gemischet wart der strit. si sluogen durch die ringe vil manige wunden wit. dö sach man mit den swerten geneiget maniges houbet. der Tot tet dem geliche, daz er diu liute guoter friunde beroubet.

    Ludwig wird erschlagen (Str. 1444-1445):

    Si sprungen zuo einander durch strit in daz wal, dS herte wider herte in dem sturm ergal. waz da liute ersturbe, wer kunde des wizzen aht? des verlos den sige Ludewic, dó er mit Herwlge vaht.

    Der Küdrunen friedel under helme (über) rant erreichte Ludewigen mit ellenthafter hant. er wundet in só sêre, daz er niht mohte gestriten. da von muoste Ludewic des grimmen tödes dk vor im erbiten.

    Keiner der Feinde wird geschont (Str. 1501):

    In der bürge niemen deheiner freude gezam. daz volc von dem lande grózen schaden nam. dó sluoc man dar inne man unde wip. der kindel in den wiegen verlos dê manigez sinen lip.

  • Dudo, De Moribus (Patrologia halma 141, Sp. 707) erzahlt Ludwigs Niederlage folgendermassen:

    Francigenae . . . insurgunt super eos intrepidi... Sic mortifero per praelium impulsu congressi, bis novem comités nobilissimi praeoccupantur morte, sae-viente Marte dilapsi, ex parte regis Ludovici, nee erat ulla spes vitae, vel fugae residuis . . . Ipse (Haigroldus) vero capto rege congratulans, ad praelii campum concitus remeavit, et adbuc armis Francos se tuentes ad inter-necionem usque prostravit, atque Franciae genus laceros plagis Oreo detrusit.

    Folgende Züge sind beiden Quellen gemeinsam: Das Draufgangerische der Belagerten, viele ihrer vornehmen Krieger fallen, Ludwig wird ge-schlagen. In De Moribus wird er gefangen genommen, obwohl nec erat ulla spes vitae, vel fugae; in der Kudrun wird er getötet. 8 5 Die aussichts-lose Lage der Besiegten in die der Danenführer Wate, bzw. Haigroldus, sie gebracht hat, wird jedesmal hervorgehoben.

    Der Tor, persönlich gefasst, wie es bei mhd. Dichtern nicht selten vorkommt, und dó sach man mit den swerten geneiget manege houbet können saeviente Marte und ad internecionem usque prostravit zur Seite gestellt werden. 8 0

    (d) Der Ausgang des Kampjes — Im Kudrunepos werden Ludwig und Gerlint getötet. Gerlint versucht sich noch das Leben zu retten, indem sie Gudrun um Vermittlung an-geht. Ludwig wird nach dem Bericht in De Moribus gefangen. Seine Frau Gerberga wendet sich schliesslich an Bernardus und setzt sich für ihre und die Sache ihres Gemahls und ihres Sohnes ein. Die Kudrun und De Moribus stimmen insofern überein, dass Ludwig besiegt wird und dass in beiden Fallen die Ehefrau Gerlint/Gerberga gerade die-jenigen Personen um Hilfe angeht, die auf der Burg den Sturz Ludwigs herbeigeführt haben. In der Kudrun ist diese Person Gudrun selber, die mit der tatkraftigen Hilfe des Heerführers der Danen und Hegelingen, Wate, ihr Ziel erreicht. In De Moribus erfüllt der listige Bernardus diese Rolle. Er und der Wikingerführer Haigroldus haben die Befreiung Richards sorgfaltig geplant. Mit Hilfe der beiden Heer-führer wird Richard als Herrscher über die Normannen eingesetzt.

    Im Epos haben die Danen schon in Str. 1530 erreicht, was sie ge-wollt haben: "die rache ist erfüllt, die burg genommen, Kudrun befreit,

  • die treuen vermahlten vereinigt: die handlung ist zu ende , . . . " schreibt

    Müllenhoff und er fiigt hinzu: "hier endigen die echten theile des

    gedichtes".8 7 Man hat sogar behauptet: "Was nun folgt, ist überflüssig

    und zum grossen Teile wertlos." 8 8 Gerade in den letzten Strophen der

    sogenannten echten Teile kommt der Versöhnungsgedanke Gudruns

    wiederholt zum Ausdruck (Str. 1482, 1485, 1488, 1490, 1506). Wate

    und die Danen widersetzen sich aber den Bestrebungen der Haupt-

    heldin. Die Rachegesinnung der zugezogenen Danen gefahrdet den

    Friedenswillen Gudruns. 8 9 Kudrun, Str. 1491 lautet:

    Wate sprach mit zorne: "her Herwic, nu get hin! soke ich nu frouwen volgen, war taete ich minen sin? solte ich spam die vinde, daz taete ich uf mich selben. des volge ich iu nimmer. Hartmuot muoz siner frevele engelden".

    Rücksichtslos wird gemordet: daz vole von dem lande ..., man unde

    wif ... kindel in den wiegen werden nicht geschont (Str. 1501). Man

    leistet griindliche Arbeit nach Wikingerart (Str. 1503) 9 0 :

    Dö sprach Wate der alte: "du hast kindes muot. die in der wiegen weinent, diuhte dich daz guot, daz ich si leben lieze? solten die erwahsen, só woke ich in niht mere getrouwen danne einem wilden Sahsen".

    Wahrend des Kampfes vergisst man das Beutemachen nicht: dó sp-ach Wate der grimme: "wa sint nu die knechte mit den sechen?" (Str. 1498, 4), genuoge sluogen wunden, die andern wurben vaste nach dem guote (Str. 1499, 4). Was man zusammenbringt wird auf Schiffe verladen, wie Kudrun Str. 1500 besagt:

    Si fuorten uz der bürge, só wir hoeren sagen, daz ez zwêne kiele kunden niht getragen, von phelle und ouch von siden, von silber und von golde, der üf tiefer flüete siniu schef da (mite) laden wolde.

    Wenn auch für eine Entführungs- und Rückentführungsgeschichte die Vereinigung der lang getrennten Geliebten ein deutlicher Abschluss ist, in der Kudrun wird weiter gekampft. Das kann die Behauptung bestatigen, dass "die Liebenden als solche nicht im Mittelpunkt stehen", 9 1 sondern dass der Kudrundichter besonderes Interesse für den

  • Machtkampf in der Normandie zeigt. Seine Schilderungen entsprechen

    auch in diesen Teilen weitgehend den Verhandlungen und den Kriegs-

    handlungen, wie sie in De Moribus zu lesen sind.

    Die weiteren Kampfe und Raubfahrten sind das Ergebnis einer Be-

    ratung der Kriegsführer und ihrer Mannen: Dó wurden ze rate die her-

    ren und ir man (Str. 1535, 1). Wate und Fruote tragen zunachst eine

    Meinungsverschiedenheit aus, und stimmen schliesslich darin iiberein:

    das Hartmuotes erbe sul wir baz mit herverte schouwen (Str. 1537,4).

    Man wirft die Leichen der Gefallenen ins Wasser (Str. 1538-1539).

    Dorfer und Stadte werden verbrannt (Str. 1545):

    Dö schihtens ir reise mit drizic tüsent man. daz fiur allenthalben hiez man werfen an. dö begunde ir erbe an manigen enden brinnen. dem edelen Hartmuote wart êrste leit von alien sinen sinnen.

    Eine grosse Anzahl von Burgen wird zerstort (Str. 1547,1-2):

    E daz die Hilden friunde ir reise kêrten wider, sehs und zweinzic bürge brachen si d& nider.

    Wieder wird geraubt (Str. 1546, 1553, 1560, 1562, 1567), und die Beute ist überreich: si namen roup den meisten, den iemen mohte brin-gen (Str. 1546,3); des wir da. hdn geroubet, das bringen wir so vil (Str. 1567,1).

    Diese Schreckenszeit für Hartmuts Land dauert ein Jahr (Str. 1751, 1-2):

    Dö si nun komen waren — daz saget man uns für war —, dö héte ir herverten geweret wol ein jar.

    Ein Teil der Danen und Hegelingen bleibt in der Normandie (Str. 1551-1552), wahrend die anderen Krieger mit der Beute und den Gefangenen davonfahren. Hartmut und die Seinen werden gefesselt mitgeführt: dó wart Hartmuot üf ir schif gefüeret und beslozzen sêre (Str. 1495,2-3). In Ketten kommen sie nach Hegelingenland (Str. 1598):

    Sie weinten algemeine daz er gevangen saz in vil starken banden. ir ougen wurden naz umbe Hartmuoten, den künic von Ormandine. die vil grózen boien lagen an im und an den sinen.

  • Der genaue Zeitpunkt des Gefangenentransports wird in Str. 1571,3 genannt: ez was in einem meien, dó si ir gisel brdhten.

    In dieser Weise enden die Kriegshandlungen der Hegelingen und Danen gegen Ludwig, Gerlint und Hartmut. Die Strafe war hart. Es war Gudrun nicht gelungen, sofort nach ihrer Befreiung die Streitenden miteinander auszusöhnen.

    Es herrscht fast eine communis opinio, den Versöhnungsgedanken und den Friedenswillen Gudruns als höfisch-christliches Ethos deuten zu mussen. 9 2 M. Weege schreibt z.B.: "Dem Kudrundichter liegt daran, das Zerstörerische der altheldischen Geisteshaltung deutlich zu machen und ihr gegenüber die Notwendigkeit zu christlich-ethischem Handeln zu zeigen." 9 3 Das Altheldische ware dann im Nihelungenlied verkör-pert. L. Wolff moge hier stellvertretend für mehrere Forscher zitiert werden: "Der Schluss (der Kudrun) zeigt sich geradezu als Gegenbild zum Nihelungenlied, in dem das Gesetz der Rache alles andere zum Schweigen bringt. Es ist höchst reizvoll, wie der Dichter verschiedene Zeiten gegeneinander stellt. Er will in seinem Werk darstellen, wie die Denkweise, die vormals herrschte, von der neuen, jüngeren Haltung des christlich gesinnten Menschen überwunden werden soil, und wir werden glauben dürfen, dass schmerzliche Erfahrungen, die sich noch in seinen eigenen Zeiten boten, inneren Anteil daran hatten." 9 4 Man hat sogar schwerwiegende Schlussfolgerungen gezogen, die sich auf die Entstehungszeit und die Entwicklung der Kudrun beziehen: "1st aber ein wesentlicher Zug der Heldin, der tief in die innere Form der Dichtung eingreift, in der gegensatzlichen Haltung zum Nihelungenlied (nicht etwa zur Vorstufe, dem alteren Burgunderepos) begründet, so gewinnt die von vornherein fragwürdige Annahme eines Kudrunepos vom Ende des 12. Jahrhunderts nicht an Wahrscheinlichkeit."9 5

    Rosenfeld jedoch nimmt an, dass der süddeutsche Kudrundichter im Jahre 1233 "niederfrankische Gunther-Gudrunlieder" gekannt habe. Es soli darunter "ein Guntherlied" gewesen sein, "wo Gunthers Schwester noch die unschuldig leidende, noch nicht die Gattenracherin war". Die Gudrun aus der Kudrun ware dann die leidende Gegenheldin aus einem solchen Lied. 9 6

    Es ist nicht meine Absicht, den höfischen Einfluss in der Kudrun zu leugnen oder ein vom Dichter gewolltes "Gegenbild zum Nihelungenlied" anzuzweifeln. Die Meinungen der Forscher über das Ent-

  • stehen der Kudrun — man lese die guten Übersichten bei Schönbach, Symons, Hoffmann, Stackmann — sind und bleiben jedoch notwen-digerweise sehr hypothetischer Art (siehe auch meine Einleitung), da eine Vorlage oder eine Parallelfassung der Kudrun nicht greifbar wird. Es fragt sich, ob der Autor nicht umgestaltend nach einer historisch anmutenden Vorlage gearbeitet hat. I. Schröbler hat m.E. mit Recht auf altere Bestandteile in Kudrun Str. 1545-1547 hingewiesen: "Einen Wikingerzug kleineren Formats schildern ganz klar str. 1545-1547" und an anderer Stelle: "Das ist ein typisch wikingischer Raubzug und muss ein Überbleibsel der vorspielmannischen Stufe sein". 9 7

    Die nachstfolgenden Parallelen in der Normannengeschichte Dudos und in der Kudrun zeigen, dass Schröbler beizupflichten ist und dass namentlich die Forschung, die annimmt, dass die Schlussteile der Kudrun jüngerer Herkunft sind, kaum recht haben kann. Vielmehr lasst Dudos Text einen gleichen Ursprung erkennen als für den vorher-gehenden Verlauf der Kudrunhandlung, der aus derselben Quelle her-geleitet werden kann. Dudos Erzahlung bietet namlich im Anschluss an die schon aufgezeigten Parallelen eine Reihe von Überein-stimmungen, die in ihrem Zusammenhang eine sonst kaum zu er-wartende Ahnlichkeit mit der Kudrun aufweisen. Es wird sich dabei ergeben, dass auch der viel besprochene Friedens- und Versöhnungs-wille in der Kudrun seinem Ursprung nach in eben derselben Quelle in vollem Umfang und mit allem Nachdruck geschildert wird. Hieran wird wieder klar, dass das Wissen um die Tradition, in der das Epos steht, nicht nur die Erklarung etwaiger dunkier Stellen fördert, son-dern auch scharfes Licht zu werfen vermag auf die Eigenleistung des Dichters und die Gestaltung des überkommenen Stoffes.

    In dem Kudrunepos ist die fortlaufende Reihe der Ereignisse wie folgt: Der Versöhnungsgedanke Gudruns steht in krassem Gegensatz zu den Kriegshandlungen der Danen und Hegelingen. Man kampft weiter und tötet Erwachsene und Kinder. Ein Teil der Bevölkerung der Normandie wird gefangen, die erbeuteten Schatze werden auf die Schiffe gebracht. Gudrun hat jetzt über ihre Feinde gesiegt, doch der Kampf lodert wieder auf. Die Heerführer entschliessen sich in einer Besprechung, nach einigem Hin und Her, das ganze Land zu ver-wüsten. Es wird wieder getötet, die Leichen werden ins Wasser gewor-fen. Die Wohnstatten werden eingeaschert, eine grosse Anzahl von

  • Burgen wird zerstört. Der Raub wird auf Schiffe verladen. Die Krieger-bande fahrt mit den gefesselten Gefangenen und der Beute ab, nach-dem sie ein Jahr ihr Wesen in der Normandie getrieben hat. Das ist im Monat Mai. Einige Krieger bleiben in der Normandie.

    In der Normannengeschichte Dudos wird der letzte Abschnitt des Kampfes zwischen Lothar und Richard mit dem Bündnis zwischen dem Karolingergeschlecht, Gerberga und Lothar, und Thetbald von Blois, der mit Leutgarde, der Tochter des Herbert von Vermandois, verheiratet ist, eingeleitet. Thetbald fallt, wahrscheinlich im Auftrag Lothars, in die Normandie ein und bedrangt Rouen. 9 8 Die Geschichte erzahlt auch noch, dass Leutgarde, die die Gemahlin des Normannen-herzogs Wilhelm gewesen war, ihr Stiefkind Richard nicht leiden mochte. Sie soil ihren zweiten Gemahl, Thetbald von Blois, gegen Richard aufgestachelt haben. Das französische Königshaus, das schon von Anfang an die Normannen hasste, findet in Thetbald und Leutgarde die willkommenen Bundesgenossen. 9 9

    Die Geschichtsschreiber haben den Kampf des franzözischen Königs Ludwig IV. gegen Richard und den Kampf seines Sohnes Lothar gegen Richard nicht scharf getrennt gehalten. 1 0 0 Jedesmal leisten Wikinger, mit Haigrold an der Spitze, dem bedrangten Normannenhaus Hilfe. Die Konsolidierung der Normannenherrschaft in der Normandie durch den Wikingerführer Haigrold um die Mitte des 10. Jahrhunderts steht im Mittelpunkt der Ausführungen Dudos. Den Kampf Lothars gegen Richard schliesst er mit einer langen Rede Richards, die die christlich-friedliche Gesinnung des Redners zeigt, ab. Damit sind wir zu den ver-gleichbaren Einzelzügen gekommen, die in der Kudrun episiert worden s i n d 1 0 1 und die ich schon hervorgehoben habe.

    — Der Versöhnungsgedanke Richards (De Moribus, Sp. 733):

    Judicia justi examinis libramine rectius trutinabat, rixas litesque atque dis-cordias compescens, plebem moderatius regebat.

    Weiter heisst es in De Moribus, Sp. 738:

    Richardus autem praepotentissimus recognoscens nullum tam Deo acceptabile holocaustum et sacrificium quam pacis incrementum, diligensque ut vivere, pacificare Francicum et Northmannicum regnum, . . .

  • — Die Wikinger im Lande morden, brennen, verheeren, rauben und

    bringen die Beute zu den Schiffen (De Moribus, Sp. 737):

    Villis rusticorum omnibus devastatis, suburbana incendebant, atque castella plurima humo tenus prostemebant. Obstantes sibi crudeliter occidebant, caeteramque manum flebiliter ad naves vexabant. Desolatur regis et Tet-boldi comitis omnis terra talibus hostibus nequiter afflicta...

    Praesules igitur totius Franciae Northmannorum paganorum saevitiam per-pessi convocaverunt sanctam synodum, quid agerent scrutaturi, quia casibus innumeris quampluribusque incendiis, rapinisque et depraedationibus per-maximis vexati, agitabantur Christicolae subjecti periculis . . .

    Wilhelm von Jumièges schildert mit grossem Anschauungsvermögen in

    knappen Zügen — er fasst Dudos ausgeschmückten Bericht zusam-

    m e n 1 0 2 —, was sich zugetragen hat: 1 0 3

    Et ecce repentino tumultu e navibus proruunt, totamque in circuitu patriam exitialiter comburunt. Dehinc viri cum mulieribus concatenati distrahuntur, vici depraedantur, urbes desolantur, castella subvertuntur et terra in solitu-dinem redigitur. Fit luctus omnium in commune, nullo cane per comitatum Thebaldi latrante.

    — Richard schlagt einen dauerhaften Frieden vor (De Moribus, Sp. 739):

    Continuae pacis felicitatem habebis, nemo meorum tibi et tuis ultra injurius et nocuus erit. Ego vero abhinc tuus, sicut tu meus, mutuoque communis auxilii interventu, fiducialiter vicissim, solemur. Fiat pax opulenta,...

    — Doch die Krieger, die Richard von den Gefahren, die ihm durch Lothar und Thetbald drohten, befreit haben, weigern sich, den Frieden zu bewahren, sie wollen den Widerstand der Franzosen brechen (De Moribus, Sp. 742):

    Tunc Northmanni, qui et Daci, unanimes intulerunt Richardo duci, dicentes: "Nequaquam pax continua, neque intercapedine temporum discreta concede-tur; verum omnis Francia, exterminatis aut occisis principibus, vi et potestate tibi acquiretur. Heu! Heu! quid facient, vel quid dicent caeteri Dacigenae et Northvegigenae, qui, praeparatis et oneratis navibus hujus rei juvamine, aggredientur nobiscum immani hostilitate?

  • — Richard beschwört die heidnischen Wikinger in einer langen predigt-haften Ansprache, das Kriegswerk einzustellen und sich mit der christ-lichen Lehre, die Frieden und Versohnung predigt, zu beschaftigen. Er betont mit allem Nachdruck den Wert der christlichen Bestattung der Gefallenen, die in scharfem Gegensatz zu den Schlachtgebrauchen der Heiden steht (De Moribus, Sp. 744-745):

    Propterea sepulcris impenditur a Christicolis maxima cura, illisque credun-tur corporea non penitus mortua sed summo (leg., somno) data: quia venient olim saecula in quibus socius ammae calor visitabit ossa, vivoque sanguine animata gestabit pristina habitacula, videlicet cadavera tumulis putrefacta, volucresque rapientur in auras priores quas habuerunt animas comitata, quia interitus hujus mortis reparatio est vitae melioris . . .

    Richard hatte in der vorhergehenden grossen Schlacht in dieser Hin-sicht seine Pflicht eingehalten (De Moribus, Sp. 736):

    Diluculo autem consurgens, campum praelii aggrediens, sexcentos quadra-ginta mortuos reperiens, funere tantorum pietate condoluit, sepeliri eos jus-sit, vivos adhuc feretro leniter ad Rotomum deportari et sanari fecit. Praeterea lucos paludesque exquirere fecit multosque mortuos et plagatos reperit, quibus eadem pietate obsequium praestitit.

    Allenthalben hatte man die Toten gefunden: in den Wiesengriinden und auf den Ackerfeldern, in den Waldern und in den Gewassern: 1 0 4

    Fervere caede nova silvas camposque patentes, Corpora functorum pariter, lacerosque jacere, Rustica gens quos induviis fera dispoliabat. Atque rubere sacro spumantes sanguine rivos: Fingere quemque sibi varii discrimina lethi. Atque super gramen tepidum fumare cruorem,

    Den Heiden sind solche Lehren und Taten fremd, sie sind auf Raub versessen (De Moribus, Sp. 745):

    Quae audientes Daci obstupuerunt, imoque trahentes vocem ex pectore dixerunt: 'Heu nobis omnium bonorum ignaris, scripturasque nescientibus, neque virtutem Dei, quia nihil differimus belluis, neque avibus coeli! Illae quo ad praesens vivant quaeritant, nihilque adquisitionis sibi conservant. Nos vero quo similiter vivamus, rapinando incessanter quaerimus, sed in eo

  • ab illis distamus, quia quod cibo potuique exuberat, in posterum thesaurizando reservamus.

    — In einer Besprechung der Lage am nachsten Tage, werden die Vor-schlage Richards scharf abgelehnt. Die Krieger drangen auf völlige Ver-nichtung der Franzosen (De Moribus, Sp. 746):

    Pax et concordia, cui non acquiescere superflue satagis, inter nos et Francos nusquam et nunquam erit. Exterminabuntur autem, perimentur, et omnis natio illorum penitus delebitur . . .

    — Nach einem neuen Aufruf Richards: Sinite illos adinvicem feriter rixari, ... entschliessen sich die kriegerischen und raubsüchtigen Wikinger Frankreich zu verlassen "volenter nolenter". Die letzten Worte ihrer Rede schildern wieder einmal ihre Kampfe und Zer-stórungen:

    Alioquin se agente, Franciam, quam invasimus, contritam bellis incendioque et rapinis appbcabimus severius nobis.

    Ein Teil der Heiden lasst sich taufen und bleibt in Frankreich. 1 0 5 Die-jenigen, die Heiden bleiben wollen (De Moribus, Sp. 747: qui oberrare cwpiebant •paganis ritibus) verlassen das Land. Dudo berichtet, dass sie nach Spanien fahren, wo sie noch mehr Beute machen. Dieser Einzel-zug erscheint nicht in der Kudrun, da die Danen und Hegelingen im Epos die befreite Gudrun nach Hegelingenland bringen wollen. 1 0 6

    — Der Zeitraum des Aufenthalts der Hegelingen in der Normandie stimmt wieder zu den historischen Tatsachen bei Dudo. Nach Kudrun (Str. 1571) verbringen die Befreier ein Jahr in der Normandie und fahren im Monat Mai wieder ab. Den Aventiuren 27-29 ist zu ent-nehmen, dass die Befreiung Gudruns sehr bald nach dem Einlaufen der Flotte stattfindet. Die Raub- und Kriegszüge, die von Str. 1535 an geschildert werden, mussen ungefahr ein Jahr gedauert haben. Ein Zeitraum von einem Jahr ist auch in Dudos Normannengeschichte zwischen dem Friedensvertrag Richards mit Lothar und dem Abzug der Wikinger anzusetzen. Richard kann im Monat Juni 965 das Frie-densabkommen mit dem französischen Feind treffen, der ihn einmal gefangen gehalten und seine und des Normannenlandes Existenz be-droht hatte. Jetzt ist er aus dieser unangenehmen Lage befreit. Die raub-

  • gierigen Wikinger sind aber noch bis Mai 966 in der Normandie geblie-ben, denn im Monat Juni 966 erscheinen sie nach ihrer Abfahrt aus Frankreich in Spanien. 1 0 7

    In der Kudrun wird nach der Heimfahrt ins Hegelingenland eine vierfache Heirat veranstaltet, die im Zeichen der Versöhnung steht (31. Aventiure). Der Krieg wird durch Friedensverhandlungen be-endet; "zur Garantie des Friedens heiratet der eine Partner die Tochter des anderen". 1 0 8 Hartmut heiratet Hildeburg, Ortwin vermahlt sich mit Ortrun. Sivrit erklart sich bereit, die Ehe mit Herwigs Schwester ein-zugehen. Schliesslich können auch Gudrun und Herwig heiraten. Gudrun tut den entscheidenden Schritt, die Feindschaft durch die Bande der Liebe und Ehe zu überwinden. Sie beschwichtigt ihre Mutter Hilde, daz niemen sol mit übele deheines hazzes lonen (Str. 1595, 3). Dieser Gedanken setzt zich durch: Man sol den haz versüenen, den wir hdn getragen (Str. 1624,1). 1 0 9 Gudrun ist Friedensstifterin und hat dementsprechend die Züge der Güte und "mitleidender christlicher Caritas". 1 1 0 Auch in dieser Hinsicht passt sie zu ihrem mannlichen Vorbild aus dem 10. Jahrhundert, dem Normannenherzog Richard I., dessen tragisches Leben und dessen Kampfe gegen Ludwig und seine Sippe einen Gudrundichter zur Bearbeitung angeregt haben. Allem Anschein nach ist seine epische Gestaltung des Stoffes mit den drama-tis personis, die ein wichtiges Stück der normannischen Geschichte darstellen, der Anfang einer Gudrun-erzahlung, so wie wir diese aus dem mittelhochdeutschen Epos Kudrun kennen. Wir bleiben vorlaufig im ungewissen, ob es vorher schon eine Gudrungeschichte gegeben hat, die dem Benutzer von Dudos Geschichtswerk zur Verfügung ge-standen hatte. Unbekannt bleibt auch noch, ob es nur eine Vorstufe oder mehrere Vorstufen des Epos gegeben hat.

    Das vorlaufige Ergebnis dieser LTntersuchung lasst sich noch weiter

    konkretisieren und erharten. Es ist kaum zu verkennen, dass Hartmuts

    Vater, Ludewic von Ormanie, und seine Frau Gêrlint mit dem histori-

    schen Königspaar Ludwig IV. und siner Frau Gerberga verglichen

    werden können. Das gilt für die Namen, das gilt besonders für ihre

    Rollen. Ludwig IV., der einzige namhafte französische König Ludwig,

    wusste sich nach der Eroberung der Normandie durch Wikinger in

    Rouen, der Hauptstadt der Normandie, als König durchzusetzen. 1 1 1

  • Der Name Ludewic von Ormanie für Ludwig IV. wird also nicht be-fremden. 1 1 2 Gerberga, die Frau Ludwigs, war "die Seele der Politik ihres Gemahls". 1 1 3 Sie entspricht der Gerlint in der Kudrun, "der über-legenen Frau des bösen Gegenspielers", die "die Klügere und Einsich-tigere" ist . 1 1 4 Gerberga, "deren Persönlichkeit den Gang der Gescheh-nisse in Westfrankreich massgebend beeinfiusste", 1 1 5 muss für die normannischen und die danischen Wikinger im Kampf gegen die Karo-linger eine sehr verhasste Person gewesen sein. In der Gestalt der Gerberga hat der Kudrundichter wohl die "Wölfin" Gerlint, die "in jeder Hinsicht die treibende Macht" 1 1 6 ist, geschildert. Ich halte es für durchaus möglich, dass sie einem vorhöfischen Epos angehört hat . 1 1 7

    Man darf dem Kudrundichter, einem ausgezeichneten Kenner der Überlieferung, die eigene Erfindung dieser Gestalt nicht ohne weiteres zusprechen. 1 1 8

    Man vergleiche die Rollen der Gerberga und der Gerlint. Es besteht eine auffallende Übereinstimmung zwischen dem Verhalten der Gerberga, ihrem Sohn Lothar gegenüber, und dem der Gerlint, ihrem Kinde Hartmut gegenüber. Hartmut ist unselbstandig gedacht. Die Mutter leitet ihn ganz. Seine Abhangigkeit ist vielen Forschern aufgefallen. 1 1 9

    Gerlint will für ihren Sohn die fürstlichste und die schönste Frau, die Danentochter Gudrun. Sie rat zur Werbung und zur Heirat und sie weiss sich sogar gegen ihren vorsichtigen Ehegatten zu behaupten. Die Liebe zum Sohn und der gekrankte Familienstolz lassen sie zur Teufelin werden, die mit allen Mitteln versucht, Gudrun willfahrig zu machen. Von dem Jawort der Gudrun hangt sozusagen Hartmuts Erhebung zum König a b . 1 2 0 Gudrun erweist sich stets als widerstrebend. Gerlint sieht darin nur den angestammten Hochmut ihres Grossvaters Hagen. — Gerbergas überwaltigender Einfluss auf ihren Sohn Lothar fallt ebensosehr in die Augen. 1 2 1 Sie möchte ihrem Kind die Erhebung zum König sicherstellen. 1 2 2 Für Dudo, der die Normannenherzöge in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt, handelt es sich besonders um den Kampf zwischen dem Normannensprössling Richard und Lothar, dem Sohn Gerbergas. 1 2 3 Nach Waces Roman de Rou II, v. 2271-2272 zieht sich Richard den Hass der missgünstigen Mutter Lothars

    La reine de France pur ses fils le haeit, Pur ceo qu'il est plus bels et plus gentilz pareit.

  • Es ist keine Frage, dass hier wirklich Geschichte zugrunde liegt; das historische Geschehen hat nur scheinbar eine Entpolitisierung erfah-ren. Es ist fast ein rein privater Vorgang, der mehr im Persönlichen als im Politischen seine treibende Kraft findet. 1 2 8

    Weitere Übereinstimmungen ergeben sich aus einem Vergleich zwi-schen Ludwig—Hartmut und Ludwig—Lothar. In der Kudrun wird Gudrun von Ludwig und Hartmut geraubt, Bei der Befreiung sind wiederum Vater und Sohn zusammen die Angegriffenen. Die For-schung hat die "selbstandige Stellung des Normannenkönigs Hartmut neben seinem Vater Ludwig" für einen spaten Zug der Sage gehal-t en . 1 2 6 Historiker jedoch haben darauf hingewiesen, dass Ludwig IV. und Lothar zu gleicher Zeit als Könige in Neustrien lebten. So schreibt Richer, ein frankischer Geschichtschreiber des 10. Jahrhunderts, über Ludwig und Lothar: Patre regnante coronam et sceptrum regenturus accepit (Lotharius). 1 2 7 Historisch mag das für Lothar nicht der Wirk-lichkeit entsprochen haben, doch es genügt darauf hinzuweisen, dass die Sage diese Vorstellung festgehalten hat. Es kommt noch hinzu, dass Wilhelm von Jumièges die Kampfe der Karolinger gegen die Nor-mannen und Danen aus dem Jahren 944 und 962 zusammengefügt hat . 1 2 8 Im Jahre 944 war Ludwig IV. der Herrscher, im Jahre 962 war es sein Sohn Lothar. Die Verwirrung ermöglicht die Annahme, dass Ludwig und Lothar zusammen ins Feld gezogen s ind. 1 2 9

    Die Tüchtigkeit Lothars im Kampf, seine hervorragenden persön-lichen Tugenden können denen Hartmuts zur Seite gestellt werden. Der Dichter bemüht sich, seine imponierende Erscheinung hervorzu-heben. "Hartmut ist voll inneren Adels und seelischer Feinheit, wohl kraftig und zielbewusst, wo es aussere Hindernisse zu überwinden gilt, aber taktvoll, schüchtern fast, wo das Gefühl spricht." 1 3 0 Fr. Hilgers betont "seine mutige Entschlossenheit", "seine Einsatzbereitschaft und furchtlose Selbstbehauptung" die ihn als einen ehrgeizigen und leiden-schaftlich empfindenden Ritter charakterisieren.131 Obwohl Hartmut der Rauber Gudruns ist, erscheint er im günstigen Licht. Der Dichter lasst ihm in jeder Lage einen gewissen Glanz. — Blieken wir jetzt zu Lothar, "dem unternehmenden und tatkraftigen König". 1 3 2 Dudo, der normannische Geschichtschreiber, zeigt diesem französischen König gegenüber keine feindliche Haltung. Im Gegenteil, Dudo schildert Lothar als einen milden, frommen und gerechten Herrscher. Er schrieb

  • für ihn eigens ein Lobgedicht (De Moribus, Pair. Lat. Tom. 141, Sp. 731):

    Lothari, rex clemens, pius, Justus, sanctus, Probus, modestus, nobilis, lux alma orbis. 1 3 3

    Raoul Glaber I, cap. 3 (11. Jahrhundert) nennt Lothar: Agilis corpore

    et validus sensu integer. Adalberon von Reims ist voller Lob: glorio-

    sissimus rex Lotharius, Francorum clarissimum sidus. Schliesslich ken-

    nen wir noch einen langeren Text eines Chronisten aus dem 11. Jahr-

    hundert: . . . inter hos sane maprum suorum haud inferior Lotharius

    enituit, fïlius Ludovici, vir -plane pollens nobilitate simul et próbitate

    morum, gloriae avidus, industria admodum sagax, qui féliciter annis

    non parvis regnum Francorum gubemavit?^ Wir finden in den latein-

    ischen Texten jeden von Schneider und Hilgers aufgezeichneten Zug

    Hartmuts wieder, allein der wirkliche Name von Ludwigs Sohn war

    Lothar. Das schönste Bild malt Kudrun Str. 1403:

    Dö sach man Hartmuoten riten vor der schar. ob er ein keiser waere, só kunde er nimmer gar vliziclicher werden. ez lühte gên der sunnen allez sin gewaete. im was noch hóhes muotes unzerunnen.

    In Str. 1011,3-4 zeigt sich nach Martin der heroische Zustand:

    unze daz her Hartmuot üz drin herreisen was komen heim ze lande.

    Offenbar herrscht die Vorstellung in der Kudrun, "dass der König seine Fahigkeiten als Krieger unter Beweis zu stellen hatte, wenn er sich seines Amtes würdig erweisen sollte", "der König (geht) aus dem Kampf gegen die Feinde (hervor)". 1 3 5 "Der Gedanke an eine mögliche Bedrohung des Landes", der in Kudrun Str. 1050, 4 auftaucht, erscheint "ziemlich unmotiviert". 1 3 6 "Er unterbricht die auf das schicksal der Kudrun gerichtete erzahlung." 1 3 7 Der Text lautet: man hazzet mich só sêre, daz ich an dem schaden ïht voerde erfunden. Dieser Vers passt jedoch zu Str. 1011, 3-4 und 1023,1, wo Hartmut kom geriten üz strite. Der Zusammenhang zwischen erwiesener Tüchtigkeit des Fürsten, Ver-mahlung und Besitzergreifung des vaterlichen Reiches wird aus Str. 1022-1023 deutlich:

  • Dö ez dem niunden jare nahen began — Hartmuot der was wise —, der helt sich versan, daz im und sinen friunden waere gar eine schande, daz er niht króne trüege und doch herre hieze ob küniges lande.

    Er kom geriten üz strite, er und sine man. mit vil höhem ellen pris er gewan. dö wande er (Küdrunen) die schoenen minnen solte, die er vor allen meiden ze einem liebe (gerne) haben wolte.

    Solche und ahnliche Züge kann man zu den "politischen" Aspekten rechnen, die Hugo Kuhn in der Kudrunhandlung mehrfach hervor-hebt . 1 3 8 Wenn Hartmuts Liebe zu Gudrun sagengemass durch ihren Ruf entsteht, so muss es wundernehmen, dass nachher andere Motive auftauchen (Kudrun, Str. 588, 1): daz riet im sin muoter (siehe oben und Anm. 120). Derselbe Aspekt ist nicht zu verkennen.

    Je nach dem Standpunkt der Parteien kann man Richard {Roman de Rou) oder Ludwigs Sohn (Kudrun) als den am meisten gehassten Mann in der Normandie betrachten. Die Mutter Lothars/Hartmuts spielt da-bei eine überaus grosse Rolle. Das schon oben erwahnte Wort, das unvermittelt in Str. 1050 erscheint: mann hazzet mich só sêre muss aus dieser Sicht erklart werden. Im Grunde handelt es sich um einen Macht-kampf in der Normandie. In der Sage jedoch wird dieser als eine Befreiung der gefangenen Landesherrin dargestellt. Sie wird damit "eine Angelegenheit von höchster Bedeutung für die Allgemeinheit". 1 3 9

    Dabei ist die Vorstellung der Befreiung einer geraubten Verlobten und ihre Heimkehr die Ausarbeitung des Dichters, der in den Heim-kehrsagen der Spielmannsepen seine Vorbilder gefunden haben mag. Der Kern der politischen Ereignisse ist das nicht, es ist nur die Enklei-dung, die Kudrun zum literarischen Werk macht.

    Der Verlobte Herwig, König von Seeland, der sich selbst als lihtez kunne Gudrun gegenüber fühlt, scheint nur einer Wikingergeschichte entnommen zu sein, um den Widerstand der Geraubten tiefer zu begründen. 1 4 0

    Die Forscher haben wiederholt auf Herwigs Tatenlosigkeit und seine untergeordnete Rolle hingewiesen. 1 4 1 Gudrun steht im Mittelpunkt der Handlung, doch bei der Schilderung ihrer Schicksale fehlt die Fahrt nach einer Landesherrin nicht. Das ist eine anscheinend real-politische

  • Einkleidung des Stoffes. 1 4 2 Die Leiden und die Kampfe in der Nor-

    mandie bilden den Hauptgegenstand des Gudrunteils. Gudrun ver-

    steift sich in zunehmendem Masse darauf, Hartmut und seine Eltern

    als zukünftige Verwandte abzulehnen. Die Worte Gerlints besagen

    das deutlich (Kudrun, Str. 1015, 3-4):

    ich kunde nie gewinnen, gebiten noch verbieten, daz si dich und dinen vater, dar zuo din mage niht bescholten hiete"

    Die Unebenbürtigkeit der Geschlechter und das geschehene Unrecht

    werden von Gudrun immer wieder hervorgehoben. 1 4 3 Hartmut i