"Hochschule in der Krise"

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Aktuelle Broschüre der Arbeitsgruppe "Kritische Wissenschaft" des Studierendenverbandes "Die Linke.SDS^"

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1. Auflage, April 2012

RedaktionJakob Graf, Ole Guinand, Jan Loheit

Layout Ole Guinand

V.i.S.d.PSascha Collet. Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Berlin

www.linke-sds.org

I m p r e s s u m

Editorial

Analysen

Jan Loheit Hochschule im Hightech-Kapitalismus

Georg Frankl Die unternehmerische Hochschule: was ist das eigentlich?

Evelyn Kauffenstein, Sabine Volk Zum Aufstand des akademischen Prekariats: Problemanalyse und Chancen bildungspolitischen Engagements

Interview mit Wolfgang Fritz Haug

Gegenentwürfe

Jakob GrafFür einen emanzipatorischen Gegenentwurf zur neoliberalen Hochschule

Jonas Holldack, Felix Wiesner, David WendeBildung in Venezuela

Bildungsprotest

Christian, Franziska, StefanTheorie und Praxis studentischer Hochschulpolitik

in Zeiten der unternehmerischen Hochschule

Ates GürpinarÜberlegungen zum Begriff Bildungsstreik

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I n h a l t

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E d i t o r i a l

Diese Broschüre fällt in eine Zeit, in der die spektakulären Exzesse des Finanzkapitals einer immer größer werdenden Staatsschuld gegenüber stehen und in der die Staatsschuld selbst zum bedeutendsten Gegen-stand der Börsenspekulation geworden ist. Mit dem Übergewicht der Ausgaben des Staates über dessen Einnahmen geht die durch den Neoliberalismus vorangetriebene Entstaatlichung einher. Der sagenhaften Größe des Schuldenbergs, der den heiligen Sachzwang einer auf Kapitalismus-verwaltung angelegten Politik be-gründet, entspricht die Höhe des in wenigen Händen seiner Profiteure konzentrierten Privatvermögens. Auf dem höchsten Stand des ge-sellschaftlichen Reichtums regiert der Sparzwang, der längst auch die öffentlich-rechtliche Finanzierung des Bildungssystems erfasst hat, während das Schlagwort von der Ökonomisierung der Hochschulen zum Allgemeinplatz wird.

Mit der Ökonomisierung werden unterschiedliche Veränderungen der Hochschule in den letzten Jahrzenten in Verbindung gebracht. Die Einführung von Studiengebühren, von Bachelor und Master, die Abhängigkeit von Drittmittelförderungen und die Schaffung von Exzellenzinitiativen geben nur einige Beispiele. An diesen Reformen ist seitdem immer wieder Protest entflammt. Dabei setzte sich in vielen Bereichen die Auffassung durch, dass der neoliberale Kurs der Umstrukturierung der Hochschulen für die Studierenden keine Vorteile bringt. Kritische Lehre wird abgebaut, das Studium in enge modularisierte Regelstudienzeiten gezwängt, akademische Beschäfti-gungsverhältnisse werden preka-risiert. Geschmückt werden diese Prozesse mit Begriffen wie Autono-mie und Freiheit, die als Synonyme zu Wettbewerb und Markt ver-

Was immer ihr erforscht einst und erfindetEuch wird nicht nützen, was ihr auch erkennt So es euch nicht zu klugem Kampf verbindet Und euch von allen Menschenfeinden trennt. [ Bertolt Brecht ]

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standen werden sollen. Unzählige Publikationen er-scheinen, die sich mit dem Phänomen der Ökonomisierung beschäftigen und jenen Bereich, der einmal mit herrschaftlichen Privilegien ausgestattet war, gegen das Wüten marktkonformer Nutzenmaximierung verteidigen. Doch nur eine Handvoll von Untersuchungen setzt sich mit den strukturellen Ursachen auseinander. In den wenigsten Fällen wird die Kritik der Ökonomisierung, die sich an den Phänomenen abarbeitet, mit einer Kritik der politischen Ökonomie verbunden, die dazu befähigt, die Funktionalität dieser Entwicklung in den Blick zu be-kommen, um die Grenzen ihrer Veränderbarkeit zu bestimmen und politische Handlungsfähigkeit zu entwickeln. Diesem Mangel wollen wir mit dieser Broschüre begegnen. Sie will dazu beitragen, einen Prozess der praktischen Verständigung über die Formen emanzipatorischen Engage-ments in Gang zu setzen und das theoretische Selbstbewusstsein seiner Akteure zu schärfen. Sie nimmt sich noch einmal den Bildungsstreik 2009 vor, um neue Strategien für eine sozialistische Hegemoniepolitik zu entwickeln. Dabei beschäftigt uns die Frage

nach den Grenzen des Kapital-ismus, auf die eine emanzipa-torische Hochschulpolitik stößt. Wir werfen auch einen Blick auf die Hochschulen in Lateinamerika, wo sich, jene Grenzen überwindend, ein Sozialismus des 21. Jahrhun-derts ankündigt. Wir gehen der Frage nach, wie Studierendenschaft und Lehrpersonal widerstands-fähige Bündnisse schmieden können, wie eine politische und theoretische Kultur entwickelt werden kann, die sich nicht mit Handlungsunfähigkeit schlägt, sondern die emanzipatorischen Kräfte an den Universitäten wech-selwirkend verstärken hilft.

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Redaktion, 20. April 2012

Das europäische Hochschulsystem befindet sich in einem krisen-förmigen – von einander widersprechenden Maßnahmen durchzogenen und umkämpften – Umstrukturierungsprozess. In ihm bündeln sich verschiedene Entwicklungstendenzen einer Produktionsweise, für die das allgemeine gesellschaftliche Wissen zur unmittelbaren Produktivkraft geworden ist. In dem Maße, wie sich der general intellect [1] zur Grundlage der gesellschaftlichen Produktion macht, verbindet sich die Ökonomie mit den Hochschulen. Sie rücken ins Zentrum eines auf hochtechnologischer Produktionsweise gründenden Kapitalismus [2], und die der Produktion eigenen Profitlogik wird zum Regulativ der Hochschulorganisation. Die akade-mischen Bildungsinstitutionen haben sich, aktiv vorangetrieben durch die universitären Eliten, den Bedingungen der hightech-kapitalistischen Wissensproduktion unterworfen. Die Bildung korrespondiert mit den spezifischen Produktionsanforderungen und

Vergesellschaftungsformen des transnationalen Hightech-Kapitalismus, der in den Medien unter populären Etiketten wie Raubtier-, Casino- oder Finanzkapitalismus sein Unwesen treibt. Doch wie die „populäre Empörung über spekulative Exzesse […] nicht Sache einer Kritik der politischen Ökonomie sein kann, die sowohl die Unvermeidlichkeit als auch die Funktionalität jener Phänomene begreift“ (W.F.Haug 2003, 28), so wenig kann eine Kritik des kapitalistischen Hochschulbetriebs davon absehen, die Bedingungen seiner Möglichkeit und Veränderbarkeit zu rekonstruieren, d.h. die Hochschule im Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse zu untersuchen. Nur so können die Grenzen und Möglichkeiten einer von Studierenden und Lehrkräften getragenen Veränderungspraxis an den Hochschulen ausgelotet und politische Handlungsfähigkeit entwickelt werden.

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H o c h s c h u l e i m H i g h t e c h - k a p i t a l i s m u s

Hochschulbildung im Zeichen des kapitalistischen Verwertungsprinzips

Die Hochschule ist einer der wichtigsten Hegemonieapparate der bürgerlichen Gesellschaft. Sie bildet ein Terrain, auf dem verschiedene gesellschaftliche Gruppen ihre Interessen bilden und artikulieren lernen. Bildung gehörte für Antonio Gramsci daher zum ethischen Kern jedes Staates, da dessen vorzüglichste Aktivität darin besteht, „die große Masse der Bevölkerung auf ein bestimmtes Niveau zu heben, ein Niveau, das den Entwicklungsnotwendigkeiten der Produktivkräfte und daher den Interessen der herrschenden Klassen entspricht.“ (Gef, H.8, §179) Dass die Wissensproduktion, heute selbst zur bedeutendsten Produktivkraft geworden, immer weniger eine der Zweckmäßigkeit enthobene Sphäre der Gesellschaft ist, muss auch als Chance für eine mögliche Wissenschaft der Zukunft begriffen werden, deren Praktischwerden für die Schaffung solidarischer Vergesellschaftungsformen unabdingbar sein wird. Wer für eine solidarische Hochschule streitet, wird darum kämpfen müssen, dass die Bildung

nicht, wie dies heute der Fall ist, der reformistischen Reproduktion der gegenwärtigen Produktionsverhältnisse dient, sondern der Freisetzung psychosozialer und kultureller Potenziale, die Voraussetzungen schaffen, in denen die freie Entwicklung eines jeden zur Bedingung der freien Entwicklung aller wird. Die Attraktivität der Hochschulen besteht heute darin, dass sich auch die unteren Klassen in ihnen hinaufarbeiten können. Das war nicht immer so. Erst die Studentenrevolten der 1960er Jahre, die ihren Protest in die Gesellschaft trugen, konnten eine höhere soziale Durchlässigkeit der Universitäten erkämpfen [3]. Die große Ära der europäischen Sozialdemokratie, die nationalstaatliche Solidarkompromisse ermöglicht hatte, öffnete die Hochschulen auch für sozial benachteiligte Gruppen. Plötzlich schien eine Universität möglich, in der Menschen aller Klassen und Schichten zusammenkommen. Eine Blütezeit kritischer Wissenschaften und marxistischer Theorie setzte ein.

Mit dem Zusammenbruch des europäischen Staatssozialismus,

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der einen Beschleunigungsprozess kapitalistischer Globalisierung einleitete, sahen sich jene Wohlfahrtsregime einer Weltmarktkonkurrenz ausgesetzt, die Solidarkompromisse zunehmend erschwerte und in allen Bereichen der Gesellschaft der neoliberalen Umstrukturierung weiter Vorschub leistete. Durch Transformation aller Literatur- und Philosophieverhältnisse nach 1989 verschärfte sich die bereits in den 1970er Jahren entstandene Krise kritischer Theoriearbeit an den Universitäten [4]. Antikapitalistische Widerstände gingen fast vollständig unter. Viele Barrieren wurden niedergerissen. Die Differenz von Produktions- und Lebensweise, die der akademischen Bildung den vitalen Lebenssinn zukommen ließ, dass sich die Menschen in der Vielzahl ihrer Fähigkeiten und Eigenschaften bilden, ihre Persönlichkeit entwickeln, schwindet zugunsten der – unter das Kalkül von Kosten und Nutzen fallenden – Produktion von Expertenwissen. Das Akkumulationsregime des Hightech-Kapitalismus, das einen neuen Modus von Vergesellschaftung entstehen

ließ, hat durch seine globalen informationstechnologischen Synchronisierunsprozesse eine ungeheure Beschleunigung aller Produktionsabläufe bewirkt. Mit dieser neuen Produktionsweise verwandelten sich die Anforderungen an die Hochschulbildung. Unter Einflussnahme eines ganzen Ensembles transnationaler Konzerne, Lobbygruppen, Verbände und privater Stiftungen wird sie den Erfordernissen verwissenschaftlichter Produktion angepasst. So fordert der European Round Table of Industrialists (ERT), dem neben 42 weiteren Industrieunternehmen auch ThyssenKrupp, Siemens, British Patrol und E.ON angehören, seit Jahren eine stärkere Zusammenbindung von Industrie und Bildungseinrichtungen und nimmt entsprechenden Einfluss.

Dieselben Akteure, die auf der ganzen Welt Deregulierungs- und Privatisierungsprozesse in Gang setzen, treiben die ‚Neo-liberalisierung‘ der Hochschulen voran. Auch das Bertelsmann-Unternehmen, das sich schon der Schröder-Regierung mit sozialreformerischen Konzeptpapieren empfahl, übt

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massiven Druck auf die deutsche Bildungspolitik aus, indem es sich den Kultusministerien und Kommunalverwaltungen als Geld- und Ideengeber andient und mit den vom Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) geschaffenen Rankings die bestimmenden Maßgaben für die Hochschulen setzt, die dadurch in eine immer größer werdende Abhängigkeit von Drittmittelförderungen getrieben werden. Wie eine Programmschrift dieser Zustände und gleichsam ernüchternde Kapitalismusanalyse kann ein Papier der Weltbank [5] gelesen werden: „it is clear“, heißt es dort, „that education systems must accord high priority to building up a nation’s capacity to produce, select, adapt, commercialize, and use knowledge. To be competitive internationally, countries must be able to participate effectively in the knowledge-driven supply chains and markets that now dominate the global economy.“ (World Bank 2005, 56)

Die Bolognareform

In der Europäischen Union sind derartige Prozesse durch die Bolognareform eingeleitet worden.

Der unter ihrem Dach im Jahr 1999 in Gang gesetzte Bolognaprozess steuerte in der Folge auf eine radikale Umstrukturierung der europäischen Hochschulen zu, die unter das Reformdiktat des New Public Management fielen. Mit Aufgabe des Subsidiaritätsprinzips sollte der europäische Hochschulbetrieb harmonisiert und normiert werden. Diese Entwicklung mündet in eine marktförmige, konkurenzielle Hochschulorganisation. Die unternehmerische Hochschule tritt auf den Plan. Die Entwicklung der Hochschulbildung gleicht, mit einem Wort Adornos, einem Zustand, in dem „unentrinnbar der Gedanke zur Ware und die Sprache zu deren Anpreisung wird“ (Dialektik der Aufklärung, GS 3, 11f.). Mit dem Bolognaprozess wird der ordinarische, öffentlich-rechtliche Organisationstyp zur Hochschulfinanzierung schrittweise durch ein vom Staat oktroyiertes Konkurrenzprinzip ersetzt, in dem Zuteilungsgelder über einen inszenierten Exzellenz-Wettbewerb verteilt werden. Um einen solchen Wettbewerb zu ermöglichen, mussten spezifische Indikatoren entwickelt werden, die Lehre und Forschung an den Universitäten kommensurabel

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machen. Dazu dienen die Hochschul-Rankings wie jene des CHE, die nach einem bestimmten Maßgabenraster ihre Punkte verteilen: „Nicht mehr zählt wissenschaftliche Arbeit als solche (= ihr Gehalt), sondern ihre (subjektive) Wertschätzung durch andere (die ‚anderen‘ sind sog. peers, die in Konkurrenz zu dem zu Bewertenden stehen), dokumentiert in anfangs qualitativ anmutenden Berichten – was fälschlich ‚Evaluation‘ genannt wird.“ (Ruschig 2007, 509f.) Da die wissenschaftliche Hochschularbeit keine Waren produziert und sie als solche nicht produktiv, d.h. nicht Mehrwert erheischend, also keine Lohnarbeit ist, müssen die produzierten ‚Werte‘ im Ranking-Verfahren vergleichbar gemacht werden: „Eine staatlich-bürokratische Planungsbehörde entwirft Kennziffern zum Kommensurabel-Machen, implantiert der wissenschaftlichen Arbeit und den Produkten ein ‚Wert-Sein‘ und installiert über die ‚Vergeldung‘ wissenschaftlicher Arbeit die Konkurrenz innerhalb der Disziplinen und zwischen den Disziplinen.“ (Ebd., 512) Diesem Konkurrenzprinzip entspricht die Prekarisierung der universitären Beschäftigungsverhältnisse.

Die Hochschulrektorenkonferenz, der Arbeitgeberverband und der Bundesverband für Industrie drängen angesichts 335.000 zusätzlich benötigter Studienplätze regelmäßig darauf, dass mehr Geld in die Hochschulen fließt. Schließlich ist die Industrie der große Profiteur einer Hochschulentwicklung, die sich ganz und gar auf die Produktionsanforderungen einstellt. Die Modularisierung des Hochschulstudiums zeitigt ein in vieler Hinsicht auf bloßes Bewältigungslernen hinauslaufendes Prüfungssystem, das die Hochschule in die Nähe von Ausbildungsbetrieben rückt. Selbständig forschendes Lernen verliert an Möglichkeiten. Das Bachelor-Master-System leitete eine Verschulung des Lehrbetriebs ein, die expansive Lernmöglichkeiten systematisch zersetzt, den Konkurrenzdruck unter Studierenden und Lehrenden, die zunehmenden Existenz- und Zukunftsängsten ausgesetzt sind, erhöht und in einen staatsbürgerlichen Privatismus flüchten lässt. Die sozialpsychologischen Folgeerscheinungen sind verheerend. Einem Gesundheitsbericht der

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Techniker-Krankenkasse zufolge nehmen bei den Studierenden psychische Erkrankungen wie Depressionen, Angst- oder Belas-tungsstörungen immer weiter zu (vgl. Gesundheitsreport 2011, 59ff.). Ein Drittel aller Studierenden leidet demnach an psychischen Problemen. Doch nicht nur die sozialpsychologischen Effekte geben Anlass zur Sorge. Auch muss, begünstigt durch die Verdrängung kritischer Wissenschaften, vom Verschwinden einer gesellschafts-politischen Debattenkultur an den Universitäten gesprochen werden. Fragen gesellschaftlicher Problemlagen werden nun mehr direkt aus den fertigen Phänomenen abgeleitet, um sie systemimmanenten Expertenlösungen zuzuführen [6]. Die Maxime vom Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit, die zum Selbstverständnis des revolutionären Bürgertums gehörte und mit dem Humboldtschen Bildungsideal umschrieben ist, wird durch den Imperativ kapitalistischer Plusmacherei blamiert.

Für eine sozialistische Kohärenzpraxis an der Hochschule

In zerrissenen Lebenszusammen-hängen, in denen sich die Men-schen, wie Gramsci schreibt, zu „Konformisten irgendeines Konformismus“ machen, setzt sich das Bewusstsein auf bizarre Weise zusammen: „Elemente des Höhlenmenschen und Prinzipien der modernsten und fortgeschrit-tensten Wissenschaft“ (Gef 6, H.11, §12) verbinden sich zu zusam-menhanglosen und in sich wider-sprüchlichen Weltauffassungen. Da die europäischen Hochschulen das kritische Wissen in demselben Maße zum Verschwinden bringen, wie sich der Hightech-Kapitalismus den Planeten erobert, nimmt die Schwierigkeit zu, eine kohärente Weltauffassung auszuarbeiten, die zum Kampf um kulturelle Hegemonie verbindet. Doch ein Emanzipationsprojekt, das an der bestimmten Negation des Kapitalis-mus arbeitet, bedarf eines Bildung-sprozesses kritischer Subjekte, die den Nor-mierungsinstanzen kapitalistischer Vergesellschaftung widerstehen und ein kohärentes theoretisches Selbstbewusstsein entwickeln [7]. Die Hochschule ist der Ort, an dem sich eine solche

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Kohärenzpraxis organisiert fin-den kann, um das Erbe kritischer Theorie gegen offizielle Lehrpläne, in denen sie nicht mehr vorkommt, wachzuhalten und weiterzuent-wickeln. Dafür müssen Freiräume erkämpft werden.

Eine emanzipatorische Hoch-schulpolitik, die über bloße Verteidigungskämpfe gegen den Marktkonformismus hinausgeht, wird sich die Aufgabe stellen, die Hochschule zu einem Nervenzentrum der sozialen Bewegungen zu machen, organische Intellektuelle aus-zubilden, die das kritische Wissen über den Kapitalismus für alle Bevölkerungsteile zugänglich machen [8]. In dieser Weise können die Hochschulen an der Schaffung eines historischen Blocks mit-wirken, in dem Intellektuelle und Bevölkerung einen Prozess der politischen Willensbildung in Gang setzen. Das hegemonische Prinzip des organischen Intellektuellen ist es dabei, die verschiedenen Einzelwillen im Ringen um Hegemonie pro-grammatisch zu bündeln, um einen politischen Kollektivwillen zu verwirklichen. Wie für Rosa Luxemburg unter einer politisch organisierten Arbeiterklasse,

deren Mehrheitsverhältnis sie im Parteileben verdreht sah, „nicht etwa ein sieben- oder auch zwölfköpfiger Parteivorstand“ zu verstehen ist, sondern „die aufgeklärte Masse des Proletariats in eigener Person“, die sich in ihrem Emanzipationskampf um eine „wachsende geistige Ver-selbständigung ihrer Masse“, um „ihre wachsende Selbstbetätigung, Selbstbestimmung und Initiative“ (GW 3, 38) bemühen muss, so muss auch die politische Organisation der Studierendenschaft darauf acht geben, dass sich ihre Führung nicht administrativ verselbständigt und sich ihre Politik nicht ins mechanische Verhältnis von Befehl und Ausführung übersetzt. Doch Klassenkämpfe können nicht im Modus basisdemokratischer Konsensualisierung ausgefochten werden. Anders als der auf Zer-streuung angelegte Anti-autoritarismus, der ein reaktives Abspaltungsprodukt jener Verselbständigung darstellt, wird eine um gesellschaftliche Handlungsfähigkeit bemühte Organisation zwischen der „demokratischen Autorität“, die als „spezialisierte technische Funktion“ und „in einer gesellschaftlich […] homogenen Gruppe ausgeübt wird“, und der „Willkür“ eines

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„äußerlichen oder veräußerlichten Befehls“ (Gef 7, H. 14, § 48) unterscheiden, um letztere zu verhindern. Das Spezialistenwissen jedes politischen Amtes muss durchsichtig und verallge-meinerbar gemacht werden.

Die Köchin soll den Staat regieren. Emanzipatorische Hochschulpolitik, die zugleich Gesellschaftspolitik sein muss, wird so zum Lernprojekt für alle. Sie hat ihren Angelpunkt im sozialistischen Feminismus. Denn sollen die der Gesellschaft entfremdeten Kompetenzen der Vergesellschaftung zurückgewonnen werden, stellen sich Fragen der Produktionsverhältnisse zugleich als Geschlechterverhältnisse, da die gesellschaftliche Stellung der Frauen, die sie auf Reproduktionsarbeit festlegt, den stabilisierenden Kern kapitalistischer Produktions-verhältnisse bildet. Ein Projekt sozialistischer Transformation wird deshalb darauf setzen, dass sich Frauen zu Akteuren der sozialen Bewegungen machen, um die Subalternität der Verhältnisse und die Politik selbst umzuwälzen. Bedingung solcher Transformation ist eine Position im Staat, die

Forderungen der sozialen Bewegungen in die Sprache der Parlamentspolitik über-setzen hilft und sich zum organischen Bestandteil der Klassenkämpfe von unten macht. An ihrer Basis müssen konsens- und anschlussfähige Strukturen entwickelt, kurz, Aktivierungsdispositive ge-schaffen werden. Sie müssen sich, übergreifende Bündnisse herstellend, in der Zivilgesellschaft verankern und eigene soziale Kohäsivkräfte ausbilden. Der politische Kampf ist dabei auf allen Ebenen zu führen. Er umfasst „die Verwendung der Sprache, die Einbeziehung der Erfahrungen der Vielen in Verhältnisse, in denen die spontanen Gefühle sich mit den Fesseln verbünden, von denen sich die Menschen befreien müssen. Dieses Müssen ist als eine Notwendigkeit gedacht, die das Überleben der Menschheit bestimmt.“ (F.Haug 1988, 37) Ein solches Projekt kann auf das Lebenselexier einer politischen und theoretischen Kultur nicht verzichten. Es muss neue Protest- und Widerstandsformen entwickeln, die Fragen der Frauenpolitik als allgemeine Menschheitsfragen stellen, Erfahrungen verdichten und das

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kritische Wissen konsolidieren [9].

Um der passiven Revolution bürgerlicher Hegemonie eine antipassive Revolution entgegenzusetzen, muss auf die Atomisierung des Lebens mit zusammenfassenden Handlungen geantwortet werden. Das „Sich-Zusammen-Nehmen zur Handlungsfähigkeit“ (W.F.Haug 2006, 26), in der sich eine sozialistische Hegemoniepolitik artikuliert, kann sich nicht anders als über Kohärenzpraxen vollziehen. Durch sie lassen sich „individuelle und Gruppenprojekte mit einer ‚großen Philosophie‘“ (22) verbinden, die die Menschen in die Lage versetzt, Handlungsfähigkeit über die Verfügung ihrer eigenen Lebensbedingungen zu entwickeln [10]. Die auf Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse drängende Veränderungspraxis, die sich nur über einen experimentellen Prozess finden lässt, geht mit der Selbstveränderung im Sinne eines Nosce te ipsum Hand in Hand. „Der Anfang der kritischen Ausarbeitung“, schreibt Gramsci, „ist das Bewußtsein dessen, was wirklich ist, das heißt ein ‚Erkenne dich selbst‘ als Produkt des bislang abgelaufenen

Geschichtsprozesses, der in einem selbst eine Unendlichkeit von Spuren hinterlassen hat, übernommen ohne Inven-tarvorbehalt. Ein solches Inventar gilt es zu Anfang zu erstellen.“ (Gef 6, H.11, §12) Der Kampf um eine neue Form von Universität, die sich nicht dem kapitalistischen Produktionsapparat unter-stellt, sondern sich zum anti-kapitalistischen und intellektuellen Zentrum der sozialen Bewe-gungen macht, wird Teil von Auseinandersetzungen sein, die derzeit den gesamten Erdball beherrschen und dem Marxismus wieder Aktualität verleihen. Für diese Auseinandersetzungen braucht es konkrete Analysen der je aktuellen Kräfteverhältnisse, denen die Formen des politischen Kampfes anzumessen sind. Auch auf dem Feld emanzipatorischer Hochschulpolitik muss daher revolutionäre Realpolitik betrie-ben werden, insofern in den bestehenden Institutionen um das aktuell Erreichbare zu ringen ist, ohne dem politischen Handeln den Horizont einer konkreten Utopie zu nehmen.

Die Utopie heißt: eine sozialistische Hochschule in einer sozialistischen

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[1] Marx beschreibt in den Grund-rissen eine Entwicklungstendenz kapitalistischer Vergesellschaftung, in der die „Bedingungen des gesellschaftlichen Lebensprozesses selbst unter die Kontrolle des general intellect gekommen und ihm gemäß umgeschaffen sind. Bis zu welchem Grade die gesellschaftlichen Produktivkräfte produziert sind, nicht nur in der Form des Wissens, sondern als unmittelbare Organe der gesellschaftlichen Praxis; des realen Lebensprozesses.“ (MEW 42, 602) Die Wissenschaft, die „allgemeine wissenschaftliche Arbeit“, ist demnach die solideste Form des Reichtums. Die Entwick-lung der Wissenschaft bildet zugleich ideellen und praktischen Reichtum. In ihr erscheint daher die Entwicklung der menschlichen Produktivkräfte.

[2] Die verwandelten Phänomene, die dieser Produktionsweise eignen, fasst Wolfgang Fritz Haug

unter den Begriff des trans-nationalen Hightech-Kapitalismus zusammen. Die neue geschicht-liche Materialität dieser Produktionsweise charakterisiert sich so: „Die Stellung der Arbeit und der Arbeitenden, die Zirkulation von Informationen, die entsprechenden Entwicklungen auf allen Ebenen der Gesellschaft – von der privaten Lebensweise bis zur militärischen Destruktions-weise, von den Geschlechter-verhältnissen und den Individuali-tätsformen bis zu den Gestaltungen des gesellschaftlichen Imaginären –, die Pluralisierung der Normalitätsmuster, endlich die tiefgreifende Veränderung der Kräfteverhältnisse zwischen den öffentlichen und privaten Sektoren, die Grenzverschiebungen zwischen Technologie und Leben, auch menschlichem Leben –, all das wirkt zusammen zu einem Wandel, der an eine anthropologische Mutation denken lässt.“ (W.F.Haug 2003, 37)

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Gesellschaft. Dafür haben wir, mit einem Wort von Marx, „keine Ideale zu verwirklichen“, sondern die im Schoß der alten Gesellschaft vorhandenen „Elemente der neuen

Gesellschaft in Freiheit zu setzen“ (MEW 17, 343).

Jan Loheit

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[3] Heute liegt die soziale Durchlässigkeit des deutschen Bildungssystems im OECD-Vergleich indes weit unter dem Durchschnitt (vgl. OECD 2010, S.40f).

[4] Der Vernichtungsschock, den Lacan und der Poststrukturalismus für die kritische Theorie und den Westlichen Marxismus bedeu-tete, hatte durch die endgültige Desavouierung des im Dienste einer Staatsideologie stehenden Marxismus-Leninismus, dessen kritische Dekonstruktion sich nun zu erübrigen schien, in einer zweiten Welle auch die letzten kritischen Wissenschaftler aus dem deutschen Hochschulbetrieb verdrängt. Die Postmoderne rief das Ende der Geschichte aus. Und eine Weiterführung marxistischer Denktraditionen an deutschen Universitäten war fast vollständig unmöglich gemacht worden. „Die Sieger“, heißt es 1997 im Vorwort des dritten Bandes des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marx-ismus, „verbitten sich die Reflexion des Besiegten, und die Besiegten selber desertieren in Massen ihre Hoffnungen.“ (HKWM 3, Vorwort)

[5] Mit ihrer restriktiven Kredit-vergabepolitik zwang die Weltbank

verschiedene Entwicklungsländer (u.a. Brasilien und Senegal), das Bil-dungssystem zu entstaatlichen und dem Public-Private-Partnership ein-zugliedern, um es auf die Produk-tionserfordernisse des Weltmarkts einzustellen.

[6] Nicht zuletzt wird die Euro-krise, die Griechenland in denRuin getrieben hat, mit Palliativ-mitteln zu lösen versucht, die allein dazu geeignet sind, größere Krisenprozesse vorzubereiten. „Wodurch überwindet die Bour-geoisie die Krisen?“, fragt Marx im Kommunistischen Manifest. „Dadurch, daß sie allseitigere und gewaltigere Krisen vorbereitet und die Mittel, den Krisen vorzu-beugen, vermindert.“ (MEW 4, S. 468) Der aufgezwungene Sparkurs, der auf einer Politik betriebswirtschaftlicher Experten-rechnung gründet, setzt eine Dialektik in Gang, die nun auch dem bürgerlichen Lager der Volkswirtschaftslehre zu dämmern beginnt: „Stärkeres Sparen führt zum Spar-Paradoxon: Es vertieft die Rezession und verschlechtert die Schuldenquote.“ (Nouriel Roubini, Handelsblatt, 15. März 2010) „Karl Marx had it right“, meint Roubini, konservativer Wirtschaftsprofessor an der Stern School of Business,

in einem Interview mit Wall Street Journal: http://online.wsj.com/video/roubini-warns-of-global-recession-risk/C036B113-6D5F-4524-A5AF-DF2F3E2F8735.html?mod=WSJ_hpp_mpvidcar_1

[7] Ein solcher Bildungsprozess kann sich etwa in der Form voll-ziehen, wie sie die Bewegung der Kapitallesekreise geschaffen hat.

[8] Der eklatante Mangel an kriti-schem Wissen über den Kapital-ismus, der bei den gegenwärtigen sozialen, sich ‚antikapitalistisch‘ gebenden Bewegungen zu bekla-gen ist, scheint zu einem hohen Grad an Orientierungslosigkeit zu führen, wenn es darum geht, politische Ziele zu formulieren. Im Moment macht sich ein diffuser Antikapitalismus breit, ohne dass gewusst wird, was Kapitalismus wirklich ist. Kapitalismus wird nicht als Produktionsweise dis-kutiert, sondern als Verschwörung-szusammenhang einer Clique von Berufspolitikern und der hohen Finanz. Es reicht aber durchaus nicht, gegen den Kapitalismus zu sein. Man muss auch wissen, wie die eigenen Erfahrungen als Teil struktureller Zusammenhänge und Widersprüche begriffen und artikuliert werden können. Es geht

darum gehen, die Menschen in ihren Alltagserfahrungen ernst zu nehmen, d.h. Leid und Sorge ihres individuellen Alltags in Fragen struktureller Gewaltsamkeit zu übersetzen.

[9] Wo der Protest auf der Straße stattfindet, lässt sich an den Allt-agserfahrungen der Menschen anschließen, indem man sie z.B. auf Protestwagen zu Wort kommen lässt und ihre Erfahrungen in die gesellschaftlichen Zusammenhänge stellt.

[10] Große Philosophie – d.h. eine Weltauffassung, die das intellek-tuelle und moralische Leben einer ganzen gesellschaftlichen Gruppe repräsentiert, die in Bewegung be-griffen ist, daher nicht nur in ihren aktuellen und unmittelbaren Inter-essen gesehen wird, sondern auch in den künftigen und mittelbaren. Philosophie als Weltauffassung, die zur Lebensnorm geworden ist, also sich lebenspraktisch verwirklicht. Die Menschen sind Philosophen, sofern sie praktisch wirken und in ihrem praktischen Wirken implizit eine Weltauffassung, eine Philoso-phie enthalten ist. Die Positionen und Argumente der politischen Gegner realistisch zu verstehen und zu bewerten, das bedeutet,

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LiteraturAdorno, Theodor W., Dialektik der Aufklärung, Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt/M 1998 (zit. GS)

Gesundheitsreport 2011, Veröffentlichungen zum Betrieblichen Gesundheitsmanagement der TK, http://www.tk.de/centaurus/servlet/contentblob/281898/Datei/55667/Gesundheitsreport-2011.pdf

Gramsci, Antonio, Gefängnishefte, kritische Ausgabe in 10 Bänden, hgg. v. Klaus Bochmann, Wolfgang Fritz Haug u. Peter Jehle, Hamburg 1991ff (zit. Gef)

Haug, Frigga, Rosa Luxemburg und die Politik der Frauen, in: dies. u. Kornelia Hauser (Hg.), „Küche und Staat. Politik der Frauen“, Hamburg 1988

Haug, Wolfgang Fritz, High-Tech-Kapitalismus. Analysen zu Produktionsweise, Arbeit, Sexualität, Krieg und Hegemonie, Hamburg 2003

ders., Philosophieren mit Brecht und Gramsci, Hamburg 2006

Luxemburg, Rosa, Gesammelte Werke, 5.Bde., Berlin 1970-1975 (zit. GW)

Marx, Karl, Marx-Engels-Werke, Bd.1-42, hgg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Berlin/DDR 1957ff (zit. MEW)

tuelle und moralische Leben einer ganzen gesellschaftlichen Gruppe repräsentiert, die in Bewegung begriffen ist, daher nicht nur in ihren aktuellen und unmittelbaren Interessen gesehen wird, sondern auch in den künftigen und mittelbaren. Philosophie als Weltauffassung, die zur Lebensnorm geworden ist, also sich lebenspraktisch verwirklicht. Die Menschen sind Philosophen,

sofern sie praktisch wirken und in ihrem praktischen Wirken implizit eine Weltauffassung, eine Philosophie enthalten ist. Die Positionen und Argumente der politischen Gegner realistisch zu verstehen und zu bewerten, das bedeutet, sich aus dem Gefängnis der Ideologie zu befreien und sich auf einen kritischen Standpunkt zu stellen, dem einzig fruchtbaren in der wissenschaftlichen Forschung.

So chaotisch und dilettantisch die „Reformen“ der letzten Jahre im Hochschulbereich auch erscheinen, sie folgen einem Konzept: dem Leitbild der „Unternehmerischen Hochschule“. Unsere Aufgabe in diesem Kapitel ist es, dieses theo-retisch zu beleuchten, die Versuche seiner praktischen Umsetzung und die resultierenden Konsequenzen aufzuzeigen. Dabei wird aus dem Namen schon deutlich: Im Mittel-punkt der neuen Hochschulen soll unternehmerisches Denken stehen, mit anderen Worten kapitalistische Logik.„Bildung ist keine Ware, sondern ein Menschenrecht!“ Diesen Slogan kennen wir beispielsweise aus den Protesten gegen Studiengebühren oder gegen das GATS [1]. Auch wenn eine breite Mehrheit der Bevölkerung diese Forderung teilen mag, Tatsache ist: Wir leben in einer warenproduzierenden Gesellschaft, deren Hauptantriebs-feder in der Suche nach und Ausbeutung von immer neuen

Profitquellen besteht. Der Bildungsbereich ist dabei jedoch ein besonderer, wie der oben zitierte Slogan zeigt: Zu den Bürger- und Menschenrechten zählen auch das Recht auf Wasser, Nahrung, Wohnung, Bewegungsfreiheit, freie Presse, etc. Dennoch haben all diese Güter – fast selbst-verständlich – längst einen Warencharakter bekommen und werden auf Märkten verhandelt und vermittelt. Leider ist an dieser Stelle kein Platz für eine ausführliche Geschichte des bürgerlichen Bildungsbegriffes und -ideals; fest steht jedoch, dass Bildung wie kaum ein anderes Gut für Universalität, Emanzipation, Mündigkeit, gesellschaftliche Teilhabe und Verbesserung der eigenen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen steht. Markt und unternehmerisches Denken bedeuten hingegen Quantifizierung, Entstehung verschiedener Markt-segmente, Profitstreben, usw. So sind auf dem Arbeitsmarkt

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D i e u n t e r n e h m e r i s c h e H o c h s c h u l e : W a s i s t d a s e i g e n t l i c h ?

nachgefragte Qualifikationen und Kompetenzen („Employability“) längst ins Zentrum des Bildungs-betriebes und der Bildungspolitik gerückt.Die „Unternehmerische Hoch-schule“ richtet sich als Projekt zur marktförmigen Umgestaltung der Hochschullandschaft also dia-metral gegen das bürgerliche Ideal, wonach Bildung keinem unmittel-baren Zweck folgen soll. Derdamalige Bundeswissenschafts-minister Jürgen Rüttgers erklärte bei der Einbringung des Entwurfes zur Novellierung des Hochschul-rahmengesetzes [2] im Oktober 1997 im Bundestag: „Humboldts Universität ist tot!“ und betonte die „Verschwisterung von Wissenschaft und Wirtschaft“ [3]. Die unternehmerische Hochschule ist also nichts anderes als eine Strategie zur marktförmigen Umgestaltung des Forschungs- und Wissenschaftsbetriebes, „mit welchen Bildungsprozesse in Eigentumsoperationen mit Wissen als Ware umgewandelt werden“ (Brunner 2005): ein Privatisierungsprojekt, das dem Kapital im bislang staatlich organisierten Bildungs-bereich neue profitable Investitions-möglichkeiten eröffnen soll. Zugleich gelten Bildung und

Wissenschaft als Quell von profi-tablen Innovationen und Wirt-schaftswachstum und damit als bedeutende Standortfaktoren, weswegen ihnen zusätzliche politisch-ökonomische Priorität eingeräumt wird. Wie konnte die traditions-reiche und über Jahrhunderte gewachsene deutsche Hochschul-landschaft binnen so kurzer Zeit als neuer Markt für das Kapital geöffnet werden? Um diese Frage zu beantworten ist es notwendig, „Reformen“ und Projekte, die unter viel zitierten Schlagworten wie Bologna-Prozess, leistungsbezogene Mittelvergabe, Exzellenzinitiative, Studiengebühren, Vergleichbarkeit, Hochschulautonomie, Evaluation, etc. durchgeführt werden, in eine Gesamtstrategie der unternehmerischen Hochschulreform einzuordnen.

Kostenreduzierung

Um einen so großen Bereich wie das öffentliche Hochschulsystem umfassend umstrukturieren zu können, muss erst einmal das Bedürfnis nach grundlegenden Reformen geschaffen werden, das meist aus offensichtlichen Un-zulänglichkeiten resultiert. Ganz

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ähnlich wurde bei der Renten-reform vorgegangen: Erst durch systematische Kürzung in der gesetzlichen Rentenversicherung konnten Banken und Versicherung-sunternehmen einen großen alternativen Markt für private Altersvorsorge eröffnen. Im Falle der Hochschulen begann die Un-terfinanzierung bereits in den 70er Jahren, als nach der „Bildungsex-pansion“ die öffentlichen Bildung-sausgaben nicht mehr schritthalten konnten mit der wachsenden Zahl an Studierenden. Der fragwürdige Plan, mit einem temporären „Über-lastungsprogramm“ den „Studen-tenberg“ zu „untertunneln“ (Bult-mann 1993, S. 19), scheiterte: Noch immer ist kein nennenswerter Rückgang der Studierendenzahlen in Sicht – der Tunnel ist nie auf der anderen Seite des Berges herausge-kommen. In der Folge sind jedoch die öffentlichen Ausgaben pro Student seit Mitte der 70er Jahre um zwei Drittel gesunken (vgl. Himpele 2007, S. 27). Zahlreiche universitäre Angebote und Einrich-tungen wie Bibliotheken, Institute und ganze Studiengänge mussten in den letzten Jahren aus Kosten-gründen geschlossen werden. Die Verkürzung der durchschnittlichen Studienzeiten – ein Kernanliegen der Bologna-Reform – folgt der

Logik der Kostenreduzierung. Auch die staatliche Förderung bei der Studienfinanzierung wurde stark zurückgefahren: Bekamen in den 70er Jahren 44 Prozent der Studier-enden BAföG, sind es heute gerade noch magere 17 Prozent (vgl. Iost 2011). Die aktuelle Wirtschaft-skrise wird die öffentlichen Haushalte aller Voraussicht nach weiterhin stark belasten und den Vorwand für weitere Kürzungen im Bildungs- und Sozialbereich liefern. Dass die Hochschulen aufgrund der Unterfinanzierung ihre Aufga-ben nicht mehr erfüllen können, liegt auf der Hand.

Implementierung vonMarktmechanismen

Die aus den Kürzungen resul-tierenden Defizite im Bereich von Forschung und Lehre werden von den marktradikalen Hochschulreformern als Argumente für ihr wichtigstes ideologisches Projekt benutzt: Mehr Wettbewerb. Die herrschende Politik – ganz von diesem Geist beseelt – reagiert auf die zu Tage tretenden Mängel tatsächlich mit Wettbewerben, z.B. um Fördergelder für „exzellente Lehre“ und mit konkurrenzfördernden Finanzierungsmodellen wie etwa

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leistungsbezogener Mittelvergabe. Die Finanzierung der Forschung wird längst nicht mehr durch eine ausreichende Grundausstattung der Hochschulen gesichert. Vielmehr müssen die Hochschulen und Forscher für einzelne Projekte Drittmittel bei kaum demokratisch kontrollierten Akteuren wie der DFG oder eben direkt in der Privatwirtschaft einwerben. Kamen im Jahr 2000 auf jeden Euro Drittmittel noch 3,96 Euro laufende Grundmittel, waren es im Jahr 2008 nur noch 2,57 Euro [4]. Angefeuert wird die Konkurrenz zudem durch den Föderalismus in Deutschland, in dem sich die für Bildung zuständigen Bundesländer ohnehin in Standortkonkurrenz befinden. Zwar betreiben alle Wissenschaftsministerien im Kern die gleiche Hochschulpolitik, doch bewirken Schuldenbremse und leere Haushalte einen Wettbewerb, wer die meisten Studenten und die besten Forschungsmittel mit möglichst wenig öffentlicher Finanzierung produziert. Hinzu kommen auch öffentlichkeitswirksame Rankings, die etwa das zur Bertelsmann-Stiftung gehörende CHE gemein-sam mit Zeitungen wie dem Spiegel oder der Zeit veranstaltet und in denen Hochschulen, Fachbereiche

und Institute national und sogar international um Prestige kon-kurrieren. Kein Wunder also, dass die Hochschulen sich verstärkt Gedanken um ihre „Corporate Identity“ machen und Geld und Energie in die Erarbeitung individueller Profile und Marketingstrategien zu investieren.

Demokratieabbau und Ersetzung durch Management

Die Hochschulen, oder besser die Hochschulleitungen, müssen in ihrer chronischen Finanznot zunehmend betriebswirtschaftlich denken, also Ausgaben kürzen, alternative Finanzierungsquellen auftun und sich im Wettbewerb mit anderen um Fördergelder und Renommee behaupten. Die Zuwendung zu „Partnern“ für Private-Public-Partnerships, etwa beim Hochschulbau, oder zu privaten Drittmittelgebern für Forschung und Lehre, die Einführung von Studiengebühren, Einsparungen beim Personal, Schließungen von Bibliotheken und Abwicklung ganzer Fachbereiche und Konzentration auf die eigenen „Stärken“ sind logische Konse-quenzen. Eine demokratisch ver-fasste Hochschule wäre zu solchen Einschnitten, die sich meist

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diametral gegen die Interessen der Mehrheit ihrer Mitglieder richten, kaum in der Lage und könnte im Wettbewerb mit Konkurrenten kaum bestehen, die von straffen Managements geführt werden und viel eher fähig sind, schnellere, weitreichendere und unbequemere Entscheidungen zu treffen. Das Bedürfnis der neuen Hochschulmanager nach Abbau von demokratischen Rechten der akademischen Selbstverwaltung und nach allein der Leitung ver-pflichtetem Personal ist vor diesem Hintergrund nur logisch. Das Bedürfnis der Studierenden nach Beteiligung an der Gestaltung ihrer Studiengänge wird indessen ge-schickt umgelenkt: Evaluationen suggerieren Raum für Feedback, Kritik und Verbesserungsvor-schläge, ohne den Betroffenen die Initiative zu überlassen. Die Ergebnisse der Evaluation werden wiederum veröffentlicht und für Rankings und Wettbewerb benutzt.

Wachsender direkter Einflussvon Kapitalinteressen

Die neuen Steuerungsmodelle ähneln den Strukturen großer Unternehmen: Das Präsidium oder Rektorat entspricht dem Vorstand eines Unternehmens, während die

neuen Kuratorien oder Hochschul-räte die Funktion von Aufsichts-räten erfüllen. In diesen Hochschul-räten sitzen zunehmend, teilweise sogar ausschließlich, „Externe“, die keine Mitglieder der Hoch-schulen sind und oft aus der Privatwirtschaft stammen. Ihre Befugnisse sind sehr weitreichend und betreffen auch die Wahl des Rektors oder Präsidenten. Im Hochschulrat der Universität Erlangen-Nürnberg sitzt beispiels-weise die Unternehmerin Marie-Elisabeth Schäffler neben dem Vorstandsvorsitzenden von AUDI. Auch über Sponsoring, Drittmittel und durch die Beteiligung an der Akkreditierung von Studiengängen gewinnen Wirtschaftsvertreter, Unternehmen und Stiftungen zunehmend direkten Einfluss auf die Organisation und Inhalte von Lehre und Forschung. Das Stipendienprogramm der Bundes-regierung ist der Versuch, auch die Studienförderung partikularen Wirtschaftsinteressen zu übergeben und die Lehre so stärker an den Bedürfnissen der finanzierenden Unternehmen auszurichten. Die Autonomie, die von Seiten der neoliberalen Hochschulreformer gepredigt wird, entpuppt sich also mitnichten als mehr Freiheit, sondern als

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Unterwerfung von Bildung und Wissenschaft unter die kapita-listische Verwertungslogik. Der entstehende Bildungsmarkt und die sinkende öffentliche Finanzierung ermöglichen es schließlich auch privaten Anbietern, in Konkurrenz mit öffentlichen Hochschulen zu treten: Die 100 Hochschulen in privater Trägerschaft, die es laut Wikipedia aktuell in Deutschland gibt, sind von wenigen Ausnahmen abgesehen fast alle in den letzten 20 Jahren gegründet worden (vgl. Frank 2010, S. 6).

Selektion und Elitenbildung

Im Ergebnis der neoliberalen Hoch-schulreform steht die Enthomo-genisierung und Differenzierung der Hochschullandschaft in mehrerlei Hinsicht. Da der Arbeitsmarkt und der Markt für Forschungsergebnisse wenige direkte Berührungspunkte haben, vollzieht sich innerhalb und zwischen Hochschulen eine Trennung von Forschung und Lehre: Mit neuen Personal-kategorien wurden billigere Lehrprofessuren mit marginalem oder ohne Forschungsanteil eingeführt. Daher wird nur noch eine Minderheit privilegierter Studierender im Studium noch

unmittelbar an Forschungs- projekten beteiligt. Für die Mehrheit steht entsprechend dem Credo der Employability das Erwerben von prüfbaren „Kompetenzen“ auf dem Programm, die ihnen in vorgefertigten Modulen vermittelt werden sollen und die, in den neuen „Diploma Supplements“ aufgeführt, dem zukünftigen Arbeitgeber die passgenaue Auswahl seines Personals erleichtern sollen. Im Forschungsbereich haben wir es sogar mit der gezielten Förderung einer begrenzten Anzahl an „exzellenten“ Universitäten und Instituten zu tun, die inter- national ausstrahlen sollen – ungleiche Verhältnisse werden hier sogar als Ziel der Politik proklamiert. Die Definition über exzellente Wissenschaft richtet sich dabei nicht nach dem Interesse der Mehrheit der Gesellschaft, schwerpunktmäßig wird vor allem in die scheinbar profitableren Fächer und Forschungsgebiete investiert, also in Technik-, Ingenieurs- und Naturwissenschaften, während Geistes- und Kulturwissenschaften weiter abgebaut werden. Die Profilbildung der einzelnen Hochschulen führt im Bereich der Lehre außerdem zur

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Konstruktion eigener sehr spezieller Studiengänge, die in der jeweiligen Form an keiner anderen Hochschule angeboten werden – das große Versprechen von mehr Mobilität im Studium erweist sich im Nachhinein als blanker Hohn, da es aufgrund mangelnder Kompatibilität und straffer Studienverlaufspläne bei einem Hochschulwechsel oft kaum möglich ist, bereits erbrachte Leistungen und Module anerkennen zu lassen. Aber nicht nur die Hochschullandschaft wird enthomogenisiert, auch die Abschlüsse: Nach den Zielvorgaben der Kultusministerkonferenz soll die Mehrheit der Studierenden bereits als Bachelor in den Arbeitsmarkt eintreten – mit erheblich schlechteren Karriere- und Lohnperspektiven als Master-Absolventen. So hat die Kultusministerkonferenz bereits im Juni 2003 zur Studienstruktur beschlossen: „Als erster berufs-qualifizierenden Abschluss ist der Bachelor der Regelabschluss eines Hochschulstudiums und führt damit für die Mehrzahl der Studierenden zu einer ersten Berufseinmündung. Der Zugang zu den Masterstudiengängen des zweiten Zyklus setzt zwingend einen ersten berufsqualifizierenden

Hochschulabschluss oder einen äquivalenten Abschluss voraus und soll darüber hinaus von weiteren besonderen Zugangs-voraussetzungen abhängig gemacht werden“ (KMK 2003).

Die Aufgaben der hochschulpolitischen Linken

Die marktradikale Deformation der Hochschulen nach dem Leitbild der unternehmerischen Hochschule richtet sich gegen die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung an breitem Zugang zu höherer Bildung und an Wissenschaft in gesellschaftlicher Verantwortung und zum Nutzen der gesamten Gesellschaft. Insbesondere leiden die Mehrheit der Hochschulmitglieder – Studierende, Lehrende, Forschende und sonstiges Personal – an den Kürzungen und der ungleichen Ausstattung. Die Aufgabe der hoch-schulpolitischen sozialistischen Linken in der gegenwärtigen Situation ist es, 1. über die Ur-sachen und Zusammenhänge der Missstände aufzuklären und 2. im Bündnis mit Gewerkschaften, Studierendenorganisationen und anderen Gruppierungen die immer wieder ausbrechenden Abwehrkämpfe zu unterstützen.

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Der Kampf gegen Studiengebühren verläuft bislang erfolgreich und beispielhaft, ist jedoch noch nicht gewonnen – hier sollten wir uns keine Illusionen machen: Die Sparzwänge wachsen weiter und für das marktradikale Verständnis von Studierenden als Kunden sind Gebühren fundamental. Aber auch solchen Themen wie dem Übergang und Zugang zum Master, dem Ausbau des BAföG oder der finanziellen und personellen Ausstattung der Institute und universitären Einrichtungen sollte sich ein sozialistischer Studierendenverband stärker annehmen und versuchen, viele

Studierende hinter konkreten Reformforderungen zu sammeln.Uns ist klar, dass es keine demo-kratische Hochschule in einer undemokratischen Gesellschaft geben kann. Erst wenn die kapita-listische Logik überwunden ist,kann der gesellschaftliche Wissensschatz für alle nutzbar gemacht werden und können Bildungseinrichtungen geschaffen werden, die die Emanzipation der Menschen in den Mittelpunkt stellen statt der Selektion nach den Anforderungen des Arbeitsmarktes.

Georg Frankl

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[1] „General Agreement on Trade in Services“, dt. „Allgemeines Abkommen über den Handel mit Dienstleistungen“: multilaterales Vertragswerk der Welthandels- organisation (WTO), in dem sich die Mitgliedsstaaten zur Liberali-sierung der Dienstleistungsmärkte verpflichten, worunter auch Bildungsangebote fallen. Siehe dazu auch: www.gew.de/gats.html.

[2] Dieser Entwurf für das Hoch-

schulrahmengesetz enthielt im Übrigen bereits Leistungspunkte, Evaluation, leistungsorientierte Mittelvergabe, Zweistufige Studi-engänge, etc.

[3] Rüttgers, Jürgen, Rede im Deutschen Bundestag am 30.10.1997.

[4] Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Bunde-stag vom 10.11.2010.

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LiteraturBrunner, Alexander: Bildung - weder Ware noch Dienstleistung, Essay, Wien 2005, in: Bildung riskiert Dzierzbicka, A. et al. (hrsg.).

Bultmann, Torsten, Zwischen Humboldt und Standort Deutschland - Die Hochschulpolitik am Wendepunkt, Marburg 1993, S. 19.

Frank, Andrea, et al., Rolle und Zukunft privater Hochschulen in Deutschland, Essen 2010, S. 6.

Himpele, Klemens, Bildungsfinanzierung in Deutschland: Probleme und Lösungsansätze, Berlin 2007, S. 27.

Iost, Oliver, Die BAföG-Story, 25.8.2011, http://www.bafoeg-rechner.de/Hintergrund/geschichte.php.

KMK - Ständige Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bun-desrepublik Deutschland, 10 Thesen zur Bachelor- und Masterstruktur in Deutschland, Beschluss vom 12.06.2003.

Die Frage nach der Misere unseres Hochschulsystems und nach Lösungswegen aus dieser zutiefst beunruhigenden Lage ist eine grundlegend dichotome. Zum einen geht es darum, zu wissen, was in der Praxis in den Universitäten und den Lebens-welten der darin lehrenden, forschenden und lernenden Menschen eigentlich schief läuft. Wie auch im gesamtgesellschaft-lichen Kontext spielen hier struktu-relle Faktoren – im Kern die zunehmende Ökonomisierung und Kapitalisierung auf dem Rücken eines wachsenden (akademischen) Prekariats – die entscheidende Rolle: „Bildung als Selbstzweck wird als Auslaufmodell angesehen und arbeitsmarktpolitisch umge-deutet“ (Jann 2010). Positiv formu-liert geht es um die Frage, wie Bildung aussehen soll und in welcher Form und Struktur wir sie institutionalisiert und praktiziert wissen wollen. Zum anderen müssen wir uns

aber auch fragen, inwiefern der in unserer Gesellschaft vorherrschende Bildungsbegriff diese Misere mit verursacht hat. Welche normativen und ideellen Implikationen verbinden wir mit Bildung und, daran anknüpfend, was soll Hochschulbildung in unseren Augen eigentlich leisten? Im Idealfall sollte zunächst eine Verständigung über den Begriff selbst – im Sinne einer Diskussion über den Wert von Bildung – erfolgen, bevor entsprechende Strukturen entwickelt und umgesetzt werden können. Doch hat uns das Engagement im Rahmen unserer im Herbst 2009 gegründeten Lehrenden- und Lernendeninitiative “IntelligenzijaPotsdam” gezeigt, dass für einen ernsthaften öffentlichen Diskurs zunächst noch ein breiteres Problembewusstsein geschaffen werden muss.

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Z u m A u f s t a n d d e s a k a d e m i s c h e n P r e k a r i a t s :

P r o b l e m a n a l y s e u n d c h a n c e n b i l d u n g s p o l i t i s c h e n E n g a g e m e n t s

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Psychosoziale Faktoren

Es gibt verschiedene Ursachen, die eine dringend notwendige, radikale Kehrtwende in der Bildungspolitik und eine umfassende Umgestaltung der Bildungseinrichtungen verhindern. Hierfür sind psychosoziale Faktoren ausschlaggebend: Trotz eklatanter Missstände, die weithin und für alle sichtbar sind, besteht die vorherrschende Reaktion der Menschen verschiedener universitärer Personalkategorien (wie Professor*innen, wissenschaftliche Mitarbeiter*innen, Lehrbeauftragte und Privatdozent*innen) auf die vermeintlich unveränderbaren Strukturen vor allem in einem ebenso vermeintlich unpolitischen „Rückzug ins Private“. Konservativismus nennen wir das Prinzip, nach dem an Bestehendem festgehalten wird, wobei die Bewahrenden gleichzeitig maßgeblich Leidtragende sind. Dieses Prinzip wirkt sich in zwei verschiedene Richtungen lähmend aus: Zum einen handelt es sich um einen „bejahenden Konservativismus“, bei dem trotz der Wahrnehmung der Missstände systemerhaltende „Innovationen“ möglichst unkritisch glorifiziert

und nach außen verstärkt präsentiert werden. Zum anderen haben wir es mit einem „resignativen Konservatismus“ zu tun, bei dem eine zum Teil äußerst stark ausgeprägte kritische Haltung auf als unüberwindbar wahrgenommene äußere Widerstände trifft und in der Folge nicht in systemverändernde, sondern in vielmehr (selbst-)zerstörerische Handlungen überführt wird. Früher oder später münden beide Verhaltensmuster in Isolation und psychischer wie physischer Krankheit, da kaum kreativ-produktiv agiert, sondern nur noch reagiert werden kann, um „Schlimmeres“ abzuwenden.

Präsidialer Feudalismus

Innerhalb der universitären Personalstruktur sollten die sich durch herausragende Fach- und Lehrkompetenz qualifizierenden Professor*innen größte Handlungs- und Entscheidungsbefugnis besitzen. Dem ist aber nicht so. Zum einen wissen wir spätestens seit Pierre Bourdieu, dass insbesondere auch sozioökonomische Herkunft, Beziehungen (soziales Kapital) und Habitus ausschlaggebend für einen erfolgreichen „Karriereweg“

zum/zur Universitätsprofessor*in sind, was wir für dringend veränderungsbedürftig erachten. Verschiedene Studien zeigen ohnehin immer wieder, dass das Bildungssystem in Deutschland insgesamt und auch der Zugang zu den Hochschulen sozial sehr selektiv sind (Bildungsbericht 2010, S. 119). Darüber hinaus ist es so, dass Professor*innen, wenn sie dieses Karriereziel einmal erreicht haben, kaum noch Gestaltungsmöglichkeiten innerhalb des universitären Systems besitzen. Denn „in diesem feudalistischen Modell liegt alle Macht in der Hand eines einzigen Akteurs, der über “strategische” Forschungsrichtungen, über Berufungslisten (selbst gegen das mehrheitliche Votum der Professoren), über aufzunehmende/abzuschaffende Fächer und über Personalfragen von der Besoldung bis hin zur Ernennung von Dekanen entscheiden kann, wobei sich der korrektive Einfluss des Universitätsrates in Grenzen hält.“ (Scholz/Stein 2011) An deutschen Universitäten haben heute die Professor*innen, die wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen und die Studierenden demnach nur sehr geringe Handlungsspielräume

und sehr geringe Chancen, die universitären Strukturen innerhalb des bestehenden Systems mitzugestalten. Die Entscheidungsbefugnis obliegt nahezu ausschließlich dem Präsident/der Präsidentin und dessen/ihren engsten Mitarbeiter*innen. Dieses Herrschaftsprinzip bezeichnen die Wirtschaftswissenschaftler Christian Scholz und Volker Stein als „präsidialen Feudalismus“.

Strukturell bedingter „Überle-benskampf“ als Nährboden für Ausbeutungsmechanismen

Durch diese strukturellen Bedingungen wird die Arbeit an der Universität für viele Mitarbeiter*innen aller benannten Personalkategorien und für viele Studierende zu einem täglichen „Überlebenskampf“. Vor allem die künstlich und absichtlich hergestellte Überlast durch Sachzwänge (insbesondere Verwaltungs- und Betreuungsaufgaben) – allen voran die „Schlacht um Drittmittel“ - hindern die eigentlichen Kompetenzträger*innen oftmals schon daran, ihre schwache Position innerhalb des Systems überhaupt wahrzunehmen

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– geschweige denn dagegen anzugehen. Verschärfend wirken sich hier die chronische Unterfinanzierung der Universitäten bei gleichzeitig unterschiedlicher Ausstattung und Auslastung durch Studierende in den verschiedenen Fachbereichen aus. Besonders kritisch sind die Zustände meist in den sogenannten „Massenstudiengängen“. Hier ist es für viele Professor*innen und Mitarbeiter*innen kaum noch möglich, sich regelmäßig um das Einwerben von Drittmitteln zu kümmern, wenn Sie alleine schon den täglichen Verwaltungs- und Betreuungsverpflichtungen gewissenhaft nachkommen möchten. Zudem wirken sich die zunehmende Abhängigkeit von externen Finanzierungsmöglichkeiten und das gezielte und systematische Hofieren drittmittelstarker Wissenschaftler*innen von Seiten des Präsidiums zerstörend auf das Solidaritätsgefühl zwischen den Professor*innen und allen anderen Mitarbeiter*innen der Universitäten aus. Im täglichen Überlebenskampf sind die in der universitären Struktur Höhergestellten meist darauf angewiesen, möglichst viele Verwaltungsaufgaben

an ihre Mitarbeiter*innen sowie Privatdozent*innen und Lehrbeauftragte abzutreten, damit der Lehr- und Forschungsbetrieb auch nur annähernd aufrecht erhalten werden kann (vgl. Kreckel 2007). Hier nimmt der strukturell verursachte und von den „Hochschulmanager*innen“ kalkulierte und zum Teil sogar bewusst verstärkte Ausbeutungsmechanismus seinen Lauf: Für eine eklatant geringe Aufwandsentschädigung tragen immer mehr prekär Beschäftigte unter enorm hohem Zeit- und Leistungsdruck einen signifikanten Teil der Lehre.Zum Teil sogar ohne jegliches politisches Mitspracherecht, ohne jegliche Sicherheiten eines ordentlichen Vertrages, dafür aber zwangsläufig mit schweren psychosozialen Folgen.

Begründung der Intelligenzija Potsdam: Zum Aufstand des akademischen Prekariats

Unsere von eben solchen Lehrbeauftragten begründete Initiative IntelligenzijaPotsdam weist seit gut zwei Jahren öffentlich darauf hin, dass die ohnehin fragwürdige „Exzellenz in der Lehre“ auf ausbeuterischen

Verhältnissen in der Bezahlung von Lehrkräften basiert. Lehrbeauftragte sind gemeinsam mit den Privatdozent*innen auf der untersten „Stufe“ des akademischen Prekariats anzu-siedeln. Gemeinsam ist diesen beiden Gruppen, dass sie beide für eklatant geringe oder meist gar keine Bezahlung den Lehrbetrieb aufrecht erhalten, ohne dabei Mitglieder der Universität sein zu dürfen. Das heißt, ohne jegliche Chance ihre Interessen vertreten zu können. Das Bewusstsein einiger Lehrbeauftragter, in diesem zunehmend hermetischen und vor allem über persönliche Beziehungen funktionierenden System nichts mehr verlieren, aber auch nichts mehr gewinnen zu können, gab die Initialzündung zur Begründung des (hochschul-)politischen Engagements der IntelligenzijaPotsdam. Wobei sich gerade auch bei der Mehrheit der Lehrbeauftragten und Privatdozent*innen der Irrglaube zu halten scheint, dass Durch- und Stillhalten eines Tages doch noch belohnt würden. Aber die Entscheidung für eine wissenschaftliche Karriere an der Universität ist heutzutage eine Entscheidung für eine Arbeit in dauerhaft prekären

Beschäftigungsverhältnissen. Unsichere Arbeitsverhältnisse sind auf allen Ebenen die Regel – nicht nur in Bezug auf den offiziell ausgeblendeten aber strukturell sehr realen Missbrauch des Lehrauftrags. Auch sogenannte Mitarbeiter*innenstellen sind in Anbetracht der Tatsache, dass über 90 Prozent der Verträge zeitlich befristet sind, faktisch prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Die ständig vorherrschende Angst, keinen Anschlussvertrag zu bekommen und die unmittelbare Abhängigkeit von den Lehr-stuhlinhaber*innen sowie die daran gekoppelte Überlastung durch Verwaltungs- und Betreuungsaufgaben macht vielen Angestellten im Mittelbau – wenn sie dafür überhaupt noch Kapazitäten übrig haben – lediglich ein geringfügiges Engage-ment innerhalb der Gewerkschaf-ten möglich. Die gewerkschaftliche Arbeit konzentriert sich dann wiederum strukturell bedingt darauf, reaktiv auf die zunehmende Verschlechterung der Angestelltenverhältnisse im Mittelbau zu antworten und diese abzuwenden, was sich insgesamt mehr strukturerhaltend, denn strukturverändernd auswirkt. Die tagtägliche Ausbeutung

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der Lehrbeauftragten und Privatdozent*innen bleibt dabei weitestgehend unbeachtet. Dabei ist hinlänglich bekannt, dass die gesetzlich definierte Funktion des Lehrauftrags nicht nur längst überholt ist, sondern systematisch dazu missbraucht wird, das Lehrangebot möglichst kostengünstig zu sichern. Dieser Ausbeutungsmechanismus funktioniert deshalb nahezu reibungslos, weil sich Nachwuchswissenschaftler*innen ohne Stelle durch die Übernahme eines Lehrauftrags die Chance auf eine wissenschaftliche Karriere erhoffen. Hinsichtlich der Privatdozent*innen verhält es sich ähnlich: Sie werden dazu gezwungen, sich über kostenlose Lehre ihre Chance auf eine Professur zu erhalten.

Ein Ende der Ausbeutung: Was ist zu tun?

Die zentrale Forderung unserer Initiative lautet, dass jede Lehrtätigkeit an Universitäten und in allen weiteren Bildungseinrichtungen wertgeschätzt und adäquat entlohnt werden muss. Ein Streik aller prekär Beschäftigten ließe den Lehrbetrieb

sämtlicher Universitäten sofort zusammenbrechen, was mit Sicherheit das effektivste Mittel wäre, um die hierfür dringend notwendige Kehrtwende in der Bildungspolitik und umfassende Veränderungen in den universitätsinternen Strukturen herbeizuführen. Das beschriebene Ursachengeflecht, in welchem psychosoziale und strukturelle Faktoren gleichsam inein-ander verwoben und sich gegenseitig bedingend und verstärkend wirksam sind, verhindert allerdings aktuell eine Mobilisierung der Betroffenen. Dazu kommt, dass die Öffent-lichkeit für die beschriebenen Missstände an den Universitäten noch viel zu wenig sensibilisiert ist. Deshalb konzentrieren wir uns mit unserem Engagement aktuell darauf, die entsprechenden Inhalte möglichst breit aufgestellt – in Kooperation mit studentischen (AStA, fzs) oder studentisch-gewerkschaftlichen (GEW-Studis) Organisationen – über Offene Briefe, Podiumsdiskussionen, etc. in die mediale und universitäts-interne Öffentlichkeit zu tragen und in regelmäßigen Abständen zusätzlich über die Neuen Medien (Facebook, E-Mail-Verteiler) präsent zu halten

und zu aktualisieren. Zudem pflegen wir unsere persönlichen Kontakte zu engagierten Studierenden und Lehrenden aller Personalkategorien. Darüber hinaus kooperieren wir mit anderen hochschulpolitischen Initiativen, die zunehmend außerhalb der bereits etablierten Parteien und Organisationen entstehen. Denn es müssen sich zunächst Studierende und Lehrende aller Personalkategorien in den verschiedenen Fachbereichen, Instituten, Fakultäten und Universitäten solidarisieren, um sich anschließend gemeinsam effektiv für eine bessere Situation in Lehre und Studium einsetzen zu können. Schließlich muss ausreichend Druck auf die regierenden Politiker*innen in den einzelnen Bundesländern und die Verantwortlichen innerhalb der Hochschulen ausgeübt werden, damit die nötigen gesetzlichen

Weichen gestellt werden, um die adäquate Entlohnung und soziale Absicherung einer ausreichenden Anzahl von Lehrenden und Forschenden sicher zu stellen. Nach einer hochschulinternen Umverteilung der Gelder, welche die Diversität der Fachbereiche berücksichtigt und bei der sich die Gleichgewichtung von Forschung und Lehre auch monetär ausdrückt, müssen dafür die nötigen Gelder zur Ausfinanzierung der Universitäten vom Bund und den Ländern gemeinsam zur Verfügung gestellt und gezielt eingesetzt werden. Die daraus folgende Verbesserung der Arbeitsbedingungen an deutschen Universitäten käme nicht nur in erster Linie den zahlreichen Studierenden und vielen Lehrenden zugute, sondern der Gesellschaft insgesamt.

Evelyn Kauffenstein, Sabine Volk

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LiteraturAutorengruppe Bildungsberichterstattung im Auftrag der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (2010): Bildungsbericht 2010, nachzulesen unter: http://www.bildungsbericht.de/daten2010/bb_2010.pdf

Jann, Olaf  (2010): Fatale Mobilmachung. Die neue Wissenspolitik und die Universitäten, nachzulesen unter: http://www.forschung-und-lehre.de/wordpress/?p=4304 [18.10.2011], abgedruckt in Forschung und Lehre: April 2010. 

Kreckel, Reinhard (2007): akademische Juniorposition zwischen Beharrung und Reformdruck: Deutschland im Strukturvergleich mit Frankreich, Großbritannien und USA sowie Schweiz und Österreich. Vortrag im Wissenschaftlichen Beirat für den Bundesbericht zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses (BuWiN), Berlin, 20.4.2007, nachzulesen unter: http://www.soziologie.uni-halle.de/kreckel/docs/kre-junpos-q.pdf [19.10.2011]

Scholz, Christian/Stein, Volker (2011): Überlebenskritische Fragen zur Struktur von Universitäten, nachzulesen unter: http://www.academics.de/wissenschaft/ueberlebenskritische_fragen_zur_struktur_von_universitaeten_43766.html [17.10.2011] Abegdruckt in Forschung und Lehre: Januar 2011. Eine Langfassung unter dem Titel “Bilder von Universitäten - Ein transaktionsanalytischagenturtheoretischer Ansatz” ist erschienen in: Betriebswirtschaftliche Forschung und Praxis 62 (2/2010), 129-149.

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(1) Wolfgang, Du hast in Mont- pellier und in Perugia studiert, promoviertest in den 1960er Jahren, als auf aller Welt ein Aufruhr durch die Universitäten ging, der die ganze Gesellschaft erfassen sollte, und warst schließlich als jemand, der in der Denktradition des Marxismus steht, von 1979-2001 Professor für Philosophie an der Freien Univer-sität Berlin. Wie hat sich in der Zeit Deiner Lehrtätigkeit die Stellung der kritischen Wissenschaften an den Universitäten verändert?

Es ist nicht übertrieben, die Formen, Wirkungen und Folgen der Studentenbewegung als „Kulturrevolution“ zu bezeichnen. Als von der Männerdominiertheit im SDS sich abstoßende Kraft ist vielleicht die Zweite Frauenbewegung eine der wichtigsten ihrer weiterwirkenden Folgen. Mit der

Studentenbewegung als Rammbock machte die Universitätsreform von 1969 der alten Ordinarienuniversität ein Ende. Unter Nachhilfe der studentischen Kritischen Universität und im Bündnis mit den aufgeschlossenen Teilen des „Mittelbaus“, von denen viele im Zuge der Reform zu Professoren ernannt worden waren, kam erstmals kritische Wissenschaft in nennenswertem Umfang an die Universität. An den ersten Sonderbänden der damals noch konkurrenzlosen Zeitschrift Das Argument lässt sich ablesen, wie kritische Wissenschaft innerhalb weniger Jahre aus allen Nähten platzte: nicht nur die Sozialwissenschaften i.e.S., sondern Geschichtswissenschaft, Erzieh-ungswissenschaften, ja Medizin. Die gesellschaftliche Relevanz offenzulegen und mit den Fragen einer antagonistischen Sozial-struktur in Beziehung zu setzen,

Prof. Dr. Wolfgang Fritz Haug lehrte bis 2001 Philosophie an der Freien Universität Berlin. Er ist wissenschaftlicher Leiter des Instituts für kritische Theorie, Herausgeber des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus und der Zeitschrift Das Argument, deren ersten 100 Ausgaben neuerdings online zugänglich sind

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I n t e r v i e w m i t W o l f g a n g F r i t z H a u g

war selbstverständlich geworden. Doch Fehler und Spaltungen der Linken, ausgenützt von einem strategischen Aufgebot und einer ideologischen Offensive der Rechten, wendeten das Blatt. Die parallel zur Entspannungspolitik unter Willy Brandt in Gang gesetzten Berufsverbote hatten das Ihre getan. Die Linke verlor die Initiative, büßte die „kulturelle Hegemonie“ in den wenigen universitären Bereichen ein, wo sie diese gewonnen hatte, denn das waren immer nur notorische Aus-nahmeerscheinungen gewesen. Die neue Generation von Studenten wollten Nietzsche und Heidegger, allenfalls Foucault. Kurz, es war nicht nur administrativer Druck, sondern ein wirklicher Hegemonie-wechsel.

(2) Wie steht es heute um die kritischen Wissenschaften?

Die Erfahrungen mit neoliberalem Sozialabbau und schließlich die Große Krise haben dem Verlangen nach kritischer Wissenschaft wieder Nachdruck verliehen. Doch die aufgrund der 1969er Reform an die Universität gekommenen Professoren sind emeritiert oder tot, und „unternehmerisierte“ Universität und „modularisierte“

Studienordnung haben den Mög-lichkeiten kritischer Bildung in vielen Bereichen den Rest gegeben. Ausgerechnet die sogenannte Wissensgesellschaft scheint alles daran zu setzen, ihren Nachwuchs dumm zu machen, was das Wissen über ihre Grundlagen angeht. Und man muss es unumwunden aussprechen, dass die Grundlage, die immer unmittelbarer auf alle Lebensbereiche durchschlägt, der Kapitalismus und ohne Kapitalis-mustheorie keine gesellschaftlich-politische Handlungsfähigkeit zu haben ist. Desto wichtiger sind alle Formen, in denen Studierende ihre kritische Bildung in die eigenen Hände nehmen.

(3) Was hat die Umstrukturierung der europäischen Hochschulen mit der Entwicklung des Kapitalismus zu tun? Was hat sich verändert?

Hier überlagern sich verschiedene Motive und Interessen, deren Unterscheidung praktisch-politisch überaus wichtig ist. Da ist zum einen die epochale Bedeutungs-steigerung der Techno-Wissen-schaften im Zuge der durch den Computer geprägten wissen-schaftlich-technischen Revolution. Hinzu kommt die marktfunda-mentalistische Trinität aus

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Privatisierung, Deregulierung und Individualisierung, die die Ein-zelnen zu Unternehmern ihrer selbst gemacht, die öffentlichen Güter zunehmend unter den Ham-mer gebracht und die sozialen Verhältnisse immer direkter dem Weltmarkt unterstellt und der universalisierten Konkurrenz ausgesetzt hat. Vom marxistischen Standpunkt kommt es darauf an, die Widersprüchlichkeit dieses Prozesses, die Verschränkung von geschichtlicher Produktivität und Destruktivität zu analysieren und Kapitalismuskritik als be-stimmte Negation anzusetzen. Der Produktionsbezug von Wissen-schaft kann nicht als solcher ver-worfen werden. Zu verwerfen ist seine Beschlagnahme durch die Profitlogik. Und zu bekämpfen ist die Gleichschaltung der Universität mit dem kapitalistischen Markt. Letztere ist sogar aus immanenten Gründen zu bekämpfen, weil sie die Quellen der Produktivität zu verschütten droht.

(4) An vielen deutschen Universitäten wird die Einführung von Studiengebühren diskutiert. Argumentiert wird mit der Finanznot der Bundesländer, die sich solchen Luxus nicht mehr leisten wollen. Warum

sollten Studierende nicht selbst für die Kosten ihres Studiums aufkommen?

Für ihre Lebenshaltungskosten, die ja auch Kosten ihres Studi-ums sind, müssen sie ja sowieso aufkommen. Großbritannien macht vor, worauf die Wiedereinführung der Studiengebühren hinausläuft: Mit tausend Pfund fing es an unter Blair, und nun strebt die Gebühr auf das Zehnfache zu oder schon darüber hinaus. Damit werden Bildungsfragen wieder zu Klassen-fragen. Für ausgesuchte Individuen aus den Volksklassen wird dann eine Art akademischer Freitisch angeboten. Es ist dies nur einer von vielen Schritten der Enteignung der Gesellschaft in Form der Priva-tisierung ihrer öffentlichen Güter. Muss man daran erinnern, dass der Wortsinn von lat. privare „berau-ben“ ist?

(5) Die Lehrenden sind von einer zunehmenden Prekarisierung ihrer Beschäftigungsverhältnisse an den Universitäten betroffen. Kann von ihnen heute noch als von einer privilegierten gesellschaftlichen Gruppe gesprochen werden?

Nicht pauschal. Im Lehrkörper scheint sich die Klassenstruktur

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der Gesellschaft zu wiederholen. Bei der Elite ein fließender Über-gang ins Kapitalistendasein, da-zwischen ein zusammenschmel-zender Block verbeamteter Geistesarbeiter, die mit dem Rücken zur Gesellschaft ihrer mehr oder weniger soliden Tätigkeit nachgehen, darunter eine breite Palette von gering bezahlten Leuten, die sich teils in der Lehre erschöpfen, teils in prekärer Stelle von Projektantrag zu Projektantrag hetzen. Viel zu wenig Möglichkeit, Substanz zu akkumulieren.

(6) Du bist Herausgeber des His-torisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus, dessen zehnter Band im Laufe des nächsten Jahres erscheinen wird. Wie ist es um die Zukunft des Marxismus bestellt, wenn er an den Hochschulen keine Rolle mehr spielt? Und was bedeu-tet das für sozialistische Gesells-chaftspolitik?

Das Historisch-kritische Wörter-buch des Marxismus tut etwas, das sich bei allen Unterschieden mit der Bedeutung der Enzyklopädie Diderots vergleichen lässt. Es stellt eine nach vorn gewandte, die Geschichte der Emanzipations-bewegungen, zumal der Arbeit-erbewegung nacharbeitende und

an den Krisen und Kämpfen der Gegenwart sich erprobende Wis-senswelt bereit, die viele mögliche Anschlüsse bietet. Sie beansprucht, die bürgerliche Bildungswelt kritisch aufzuheben. Sie unter-baut den möglichen Anspruch der Linken auf kulturelle Hegemonie. Sie tut das nicht zuletzt mit einem gerüttelten Maß historischer Selbstkritik. Jetzt kommt es darauf an, dass dieses geistig-politische Universum von der linken auch tatsächlich in Besitz genommen wird. Ein diffuser Antikapitalis-mus, der die Zusammenhänge der kapitalistischen Produktionsweise nicht kennt, fliegt auf die Mythen von den gierigen Bankern. Auf sie kann man dann das Problem des Kapitalismus projizieren, person-alisieren und moralisieren und so den vermeintlich gesunden real-wirtschaftlichen Kapitalismus rein-waschen. Das Grundproblem liegt aber im Prinzip dieser Produktion-sweise selbst, dem Profitprinzip. Dieses setzt eine Dynamik in Gang, die periodisch zur Überproduktion von Kapital führt und in Kapital-vernichtung umschlägt, die unzäh-lige Lebensperspektiven beiläufig mit vernichtet. Darum zielt sozial-istische Politik nicht nur über den Finanzkapitalismus, sondern über den Kapitalismus hinaus.

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(7) Der Bolognaprozess hat gewaltige Proteste ausgelöst. Selbst die FAZ hat sich zu einem großen Kritiker der Hochschulreformen aufgeschwungen. Sie spricht im Namen des Humboldtschen Bildungsideals. Was ist dran an diesem Ideal? Und welche Art Hochschule würdest Du Dir wünschen?

An der Hochschule, von der ich träume, wird nicht gepaukt, sondern forschend gelernt. Dies alte Bildungsideal dürfen wir nicht preisgeben. Wir verändern es und geben ihm neue Inhalte, wenn wir es aus seinem elitären Klassen-dasein und seiner patriarchalen Beschränktheit ins Allgemeine ho-len. Das klassisch bürgerliche Ideal war ja nicht in dem, was es sagte, falsch, sondern in dem, worüber es schwieg. In Humboldts Perspek-tive behandeln Menschen sich als Selbstzweck. Ungesagt bleibt, dass sie das unter Bedingungen tun, in denen ganze Heerscharen anderer Menschen die Mittel dafür schaffen müssen. Heute zehrt die Wirtschaft mehr denn je von den Kenntnissen und Fähigkeiten, die an den Hoch-schulen entwickelt und erworben werden. Aber es muss die

„Wirtschaft des ganzen Hauses sein“ (Negt). Die Hochschule, die ich mir wünsche, ist eine Ein-richtung der Gesellschaft für die Gesellschaft. Sie reduziert sich nicht auf einen Ort privater Investition in die je eigene Kar-riere. In ihr und den anderen öffentlichen Forschungs-einrichtungen laufen die Erkenntnis- und Selbsterkennt-nisprozesse der Gesellschaft und ihrer Naturverhältnisse zusammen. Sie ist öffentliches Gut, gesellschaftliche Investition in die Heranbildung der „Kinder des wissenschaftlichen Zeitalters“. Was sie hervorbringt, ist als persönliche und sachliche Produktivkraft von grundlegender wirtschaftlicher, politischer und kultureller Bedeutung. Aber deshalb unterm Mantel „öffentlich-privater Partnerschaft“ mehr und mehr Regierungsmacht über die Hochschulen der Privatwirtschaft zu überlassen und damit der Profitlogik von Banken und Konzernen auszuliefern, ist Gift für Wissenschaft und Bildung.

(8) Als Gründer des Argument-Klubs warst Du selbst lange Zeit in die Studierendenbewegung der 1960er Jahre involviert. Was kannst Du dem heutigen SDS, der

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sich seinen Namen vom 1970 auf-gelösten Studentenbund der dama-ligen Neuen Linken nur geliehen hat, in Bezug auf eine sozialistische Hegemoniepolitik an den Hochs-chulen mit auf den Weg geben?

Er wird es nur zu etwas bringen, wenn er, anders als der alte SDS, dem sozialistischen Feminis-mus eine Heimat bietet und Geschlechterverhältnisse als Produktionsverhältnisse begreift. Zu wünschen ist ihm, dass er die Balance zwischen politischem Kampf und theoretischer Kultur halten kann, ja dass er es schafft, selbst ein Stück alternativer Uni-versität zu verwirklichen. Er muss aufpassen, seine Leute nicht „politizistisch“ zu verheizen. Er wird dringend gebraucht als kollektiver Intellektueller der Kämpfe um das öffentliche Gut Wissenschaft. Werden sie als solche geführt und nicht nur um studentische Gruppeninteressen,

verbinden sie sich mit den Kämpfen der Arbeiterbewegung und der anderen radikal-demokratischen und sozialen Bewegungen. Allerdings gilt bei dieser Ausweitung ins Allgemeingesellschaftliche, die den sozialistischen Charakter ausmacht, auch für uns, was der sechsundzwanzigjährige Karl Marx 1844 im Pariser Vorwärts seinen Genossen ins Stammbuch schrieb: Kritische Intellektuelle, wie er selber einer war, sollten eine soziale Bewegung zuerst studieren, bevor sie glauben, sie belehren zu können. „Dazu gehört allerdings einige wissenschaftliche Einsicht und einige Menschenliebe“ (MEW 1, 406). Ohne Menschenliebe wird alles sinnlos, doch Menschenliebe ohne wissenschaftliche Einsicht in die gesellschaftlichen Zusammenhänge ist blind.

Das Interview führte Jan Loheit

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Universitäre Missstände und Protest

Immer wieder bewegt sich etwasan den Hochschulen. In bestimm-ten Situationen werden Missstände offensichtlich: die Ankündigung von Studiengebühren oder ein überfüllter Hörsaal – und es geht los. Irgendwo in der maroden Universitätslandschaft fängt es an, und es verbreitet sich rasend. Besetzungen, Demonstrationen und freche Aktionen. Plötzlich und ganz spontan. Die Medien schalten sich ein und bringen die schönsten Bilder ins Fernsehen. Zeitungen berichten und wägen vorsichtig die Probleme unserer Zeit gegen die Kosten ab. Bald nähert sich das Ende des Semesters, und mit den Prüfungsterminen drängt sich den Widerspenstigen ihr Studienalltag wieder auf. Wie auch nach den Bildungsstreiks von 2009 bleibt dann oft nicht viel mehr von den Protesten übrig als einige Gruppen von Studierenden, die sich dann mit allgemeineren politischen Fragen beschäftigen oder in den universitären Gremien für einzelne

Verbesserungen streiten. Hochschulen im Kapitalismus müs- sen sich, statt selbstbestimmt ver- schiedenste Ideen zu entwickeln, mehr und mehr den Anforder-ungen der Wirtschaft beugen. Einerseits ist Grundlagenforschung, die dem nationalen Wirtschafts-wachstum und der politischen Stabilität des Gemeinwesens dienen soll, ein wesentlicher Bereich, für den Universitäten Drittmittel erhalten, ohne die sie sich kaum mehr finanzieren könnten [1]. Anderseits hat die Hochschule die Funktion, Fachkräfte auszubilden und die hoch qualifizierten Arbeitskräfte der Zukunft aus der konkur-rierenden Masse von Studier-willigen heraus zu selektieren. Das deutsche Bildungswesen ist hoch-selektiv, und das nicht ohne Grund (Autorengruppe Bildungsbericht-erstattung 2010, S. 119). Die Arbeitsteilung innerhalb unserer heutigen Wirtschaft braucht eine bestimmte Anzahl an Fachkräften für unterschiedliche Berufe. Ein universelles Bildungsinteresse und die Ausbildung eines kritischen

F ü r e i n e n e m a n z i p a t o r i s c h e n g e g e n e n t w u r f

z u r n e o l i b e r a l e n h o c h s c h u l e

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Geistes gelten dieser Sichtweise als Geldverschwendung. Universität bleibt also eingezwängt in die Anforderungen unserer heutigen Gesellschaft. Die Grenzen, die die kapitalistische Gesellschaft setzt, bedeuten jedoch nicht, dass wir an diesen Grenzen, sie ausdehnend, nicht schon für eine andere Universität kämpfen können. In Österreich zum Beispiel gibt es für kaum ein Fach einen Numerus Clausus [2]. In dieser Hinsicht gibt es viele Beispiele. Es ist völlig klar: eine andere Universität ist möglich!

Universitäre Missstände und studentische Forderungen

Das meist unorganisierte und spon- tane Ausbrechen von Studieren-denbewegungen drückt sich auch in den dann auftauchenden Forderungen aus. Meistens sind konkrete Missstände die Ursache der Proteste und Streiks. Umstände, die den Studierenden ihr Studium zusätzlich erschweren oder gar einfach unmöglich machen. Die Ziele, die dann innerhalb der Auseinandersetzungen gesetzt werden, sind vielseitig und reichen von der Abschaffung von Anwesenheitslisten, Verlängerung der Regelstudienzeit oder Wiederholbarkeit von Prüfungen,

über freien Masterzugang bis zur Forderung nach einem Ende von Zulassungsbeschränkungen. Den Studierenden, die sich in der Protestbewegung zusammenfinden, wird dann der Vorwurf gemacht, ihre Forderungen wären wider-sprüchlich, unreflektiert oder ab- solut utopisch. Die Universitäts-leitungen sehen die vielen Reform-forderungen als schwer umsetzbar und können dafür sämtliche Para- graphen und Regelungen aus ver- schiedenen Satzungen als Zeugen laden. Natürlich kennen Studieren- de diese komplizierten Universi- tätsregelungen meist noch wenig, da sie gerade erst beginnen, sich mit den komplexen Universitäts-strukturen auseinander zu setzen. Landesregierungen wehren sich gegen Forderungen nach freiem Zu- gang zu Hochschulen oder der Aus- finanzierung von Studienplätzen und halten diese für völlig unrea-listisch oder kontraproduktiv. Annette Schavan fand die Forder-ungen des Bildungsstreik 2009 sogar „zum Teil gestrig“ (FR 2009). Dabei hat sie nicht ganz Unrecht. Durchaus orientieren sich viele Forderungen an den weniger straffen und modularisierten alten Diplom- und Magisterstudiengäng-en, die dem „modernen“ Bachelor als ein „früher war alles besser“

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gegenüberstehen. Hier wird aber deutlich, die neoliberale Umstruk-turierung der Hochschulen richtet sich gegen uns Studierende. Um die verschiedenen und vielschichtigen Forderungen zu reflektieren, die sich aus den alltäglichen, aber auch den grundsätzlichen Problemen des Studiums und der Gesellschaft als ganzer ergeben, müssen zu-nächst die verschiedenen Ebenen der Forderungen unterschieden werden.

Unter den Bedingungen von Bachelor und Master wird die Universitätslandschaft gespalten. Viele Studierende sollen für die Wirtschaft als qualifizierte Arbeits-kräfte zur Verfügung stehen. Diese können nach dem Bachelor die Universitäten verlassen. Andere sollen eine wissenschaftliche Karriere machen und das Master-studium aufnehmen. Die Qualifi-ziertesten unter ihnen gehen in die Forschung. Universität ist heute mehr denn je ausgerichtet an und abhängig von den Profit-interessen der Wirtschaft. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Hochschulen untereinander um Drittmittel von Staat und Wirt-schaft konkurrieren müssen. Außerdem zielt die neoliberale Idee der Hochschule auf die künstliche

Erzeugung einer universitären Marktlogik. Einerseits bedeutet dies Konkurrenz zwischen den Universitäten, andererseits soll den Studierenden Bildung künftig wie eine Ware angeboten werden. Damit wäre die Universität vollständig zum Unternehmen geworden und die Studierenden zu bloßen Kunden. Die Problematik von Studiengebühren besteht natürlich einerseits in den finanziellen Schwierigkeiten für Studierende. [3] Andererseits stehen der Idee einer unternehmerischen Hochschule auch generell studentische Vorstellungen einer Hochschule als gemeinsamer Arbeitsraum selbstbestimmter Bildung entgegen. Die meisten Studierenden müssen das Studium unter dem Druck von Eltern, BaföG, Regelstudienzeit und drohender Zwangsexmatrikula-tion schnell durchstudieren. Auf der einen Seite steht eine immer schlechter ausgestattete Lehre, die weniger Interesse erzeugt, als vielmehr die Studierenden wie am Fließband abfertigt. Das neoliberale Projekt einer unternehmerischen Hochschule wird daher von den Studierendenbewegungen zu Recht als Hauptzerstörer von Bildung angesehen. Auf der anderen Seite stehen viele Bachelor-Studierende,

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die sich widerstandslos darauf ein-lassen, das Studium als Ausbildung zu absolvieren. Diese Herangehens-weise ist auch eine Folge dessen, dass heute kaum mehr nach Inter-esse studiert werden kann. Protest bricht daher meistens aus, wenn diese Ausbildung selbst nicht mehr funktioniert oder Studierende in arge Umsetzungsschwierigkeiten kommen.Das Ziel der Verbesserung von universitärer Ausbildung geht aus den jeweiligen Ursachen hervor, die die Studierenden an einem machbaren Studium hindern. Die Probleme bestehen dabei zum Bei-spiel in einer immensen Arbeits-belastung [4]. Daraus folgen Forder-ungen wie: weniger Prüfungen, keine Anwesenheitskontrollen etc., also grundsätzlich eine Reduk-tion der Arbeitsbelastung. Ursach-en können aber auch in der Ein-führung von Studiengebühren oder der Unterfinanzierung von Studienplätzen liegen. Meist sind es Gründe wie diese, die zu Studierendenprotesten führen. Diese Art von Forderungen befin- det sich also auf einer ausbildungs-reformerischen Ebene, die viel-seitig und in sich durchaus wider-sprüchlich sein kann.Neben diesen Forderungen nach Reformen der Ausbildungsbeding-

ungen gibt es aber immer auch eine zweite Art von Forderungen. Sie richtet sich gegen die Unter-ordnung der Bildung unter Sach-zwänge und Marktlogik. Die Ursachen für viele Studierende, sich an den Protesten zu beteiligen, reichen vom gefühlten Mangel an Mitbestimmungsmöglichkeiten, von Vereinzelung innerhalb der universitären Konkurrenz bis zum Infragestellen der einseitigen fachspezifischen Inhalte. Die Forderungen zielen dann etwa auf ein selbstbestimmtes Studium, auf kritische Inhalte (z.B. „Bildung statt Ausbildung“) und auf vollständig offene Hochschulen (z.B. keine Zulassungsbeschränkungen) etc. Die erste Ebene der ausbildungs-reformerischen Forderungen lässt sich nicht einfach trennen von der zweiten Ebene von Forderungen, sondern geht vielmehr fließend in diese über. Dabei radikalisieren sich viele Studierende oftmals im Prozess der Studierendenbewegung. Jedoch können sich Forderungen durchaus widersprechen (zum Beispiel nach Verschlankung des Studiums auf der einen Seite, während der zweite Ansatz eine Ausdehnung des Stoffes um kritische Inhalte fordern kann etc.). Auf der zweiten Ebene der Kritik an den

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Hochschulbedingungen werden dann Themen wie Demokratie und Mitbestimmung wichtig, die klar vor dem Hintergrund stehen, dass Universität nicht als eine Art quasi-privates Unternehmen gesehen werden darf, in dem die Studieren-den die Rolle von Kunden einnehmen, sondern Universität soll Teil der Gesellschaft, gemein-samer Lebensraum sein. In dieser Entwicklung der Diskussionen, die in Studierendenbewegungen auftauchen, kann sich eine völlig konträre Sicht zur neoliberalen unternehmerischen Universität herausbilden.Die zweite Art von Forderungen kann von einem dritten Ansatz unterschieden werden, der beginnt, gesellschaftskritische Fragen in die Diskussion mit einzubeziehen. Universität wird dann diskutiert als ein Bereich innerhalb der gesellschaftlichen Anforderungen und Hintergründe. Dem neoliberalen Projekt einer unternehmerischen Hochschule soll aus dieser Sicht das Gegen-modell einer kritischen Universität entgegengesetzt werden, das an die beiden zuvor dargestellten Ebenen von Forderungen anknüpfen kann. Damit kann das Engagement der Studierenden über die Abwehr-haltung gegen das neoliberale

Reformprojekt hinausgehen und ein Schritt nach vorn zu einer gesellschaftskritischen Alternative gegangen werden.

Eine neue Sicht auf Universität

Im Streben für eine kritische Universität müssen die oben ge- nannten Forderungen aufgegrif-fen und aus ihnen ein Gegen- konzept entwickelt werden. Dieses muss im Sinne der ausbildungs-reformerischen Interessen auch die einzelnen Probleme des univer-sitären Alltags aufgreifen. Im Sinne der zweiten Art von Forderungen nach einem selbstbestimmten und freien Studium muss das Gegen-modell jedoch auch eine neue Sichtweise auf Universität ein-nehmen, die sich gegen das Projekt der unternehmerischen Hochschule richtet. Da jedoch, wie oben diskutiert, die Veränderung hin zu einer emanzipatorischen Hochschule auch im Zusammen-hang mit gesamtgesellschaftlichen Veränderungen stehen, geht die Entwicklung dieses Gegenmodells über in die erwähnte dritte gesell-schaftskritische Perspektive.

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1. Kritische Bildung und Forschung statt Profitorien-tierung

Für diese dritte Perspektive ist die Erkenntnis wesentlich, dass inner-halb der von der Profitlogik be-stimmten Gesellschaft das Engage-ment für eine andere Universität auch ein Streiten für eine andere Gesellschaft sein muss. Daher muss auch die Universität darauf ausge-richtet werden, in gesellschaftliche Auseinandersetzungen zu inter-venieren und ihren Schein der Neutralität abzulegen. Anstatt sich den äußeren Anforderungen einfach zu unterwerfen, sollten Universitäten sich einmischen und alles dafür geben, dass eine Welt ohne Krieg und Hunger möglich wird. Vor dem Hintergrund, dass auch heute noch Lehre in Koopera-tion mit Rüstungsfirmen und Militärforschung an den Hochschu-len stattfindet [5], darf universitäre Forschung nicht mehr unberück-sichtigt lassen, was mit ihren Ergebnissen geschieht. Diese kritische Auffassung begreift Universität also als Teil der Gesell-schaft, der die Produktion von Wis-sen an den Interessen der Mehrheit ausrichten sollte. Hochschulen müssen sich also in gesellschaft-liche Prozesse einmischen und

diese ständig kritisch reflektieren. Dieser Teilbereich, den die Hoch-schule in der Gesellschaft bildet, ist gleichzeitig der wesentliche Bereich, an dem Wissenschaft und damit ein allgemeines Verständnis von der Welt, in der wir leben, ausgearbeitet wird. Daher dürfen die Hochschulen keinesfalls darauf beschränkt werden, einzelne Verwertungsbedingungen zu opti-mieren oder Lösungen für diverse politische Probleme zu finden. Gerade weil die Universitäten Kernbereich für die Erarbeitung gesellschaftlichen Wissens sind, muss hier auch grundsätzliche theoretische Arbeit stattfinden. Der Universität muss aus dieser Sicht also die Aufgabe zukommen, darüber zu reflektieren, wie die heutige Gesellschaft funktioniert und gegebenenfalls verändert werden kann. Nicht nach Ergebnis-sen für eine möglichst finanzstarke KonsumentInnengruppe sollte geforscht werden, sondern nach Abhilfen für die grundsätzlichen Probleme unserer Zeit. Wo, wenn nicht an den Universitäten, sollte zum Beispiel die Frage diskutiert werden, ob die Art, wie unsere heutige Gesellschaft funktioniert, wirklich die einzig mögliche ist? Universität hört dann sofort auf, einfach nur „wertneutral“ der

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Wirtschaft zuzuarbeiten, sondern fragt sich: wem nützt das? ProfessorInnen und Studierende beginnen, bewusst für gesellschaft-liche Verbesserungen zu arbeiten.

2. Hochschule ist gemeinsamer Lebens- und Arbeitsraum

Die Hochschule bietet in der kapi-talistischen Gesellschaft den Raum, in dem Studierende, Forschende und Dozierende in einem gemein-samen Prozess Wissen erarbeiten. An diesem nehmen Dozierende, Forschende und Studierende gleichermaßen, wenn auch in un-terschiedlicher Funktion, teil. Die Betrachtung von Dozierenden und Forschenden als Dienstleistende und von Studierenden als Kunden erweist sich als problematisch, insofern sie die Studierenden als Kunden in einen passiven Status versetzt und dem Dienstleister en-tgegensetzt. Vielmehr muss betont werden, dass auch das Studium eine Form von Arbeit ist. Bildung wird nicht einseitig zur Verfügung gestellt, sondern in einem gemein-samen Prozess erarbeitet. Anstatt wie Kunden behandelt zu werden, sollten Studierende daher vielmehr – wie alle Arbeitenden – für ihr tun angemessen entlohnt werden (Studienhonorar). Den gegenteili-

gen Versuch, die Universität zum unternehmerischen Dienstleis-ter zu machen, formuliert Detlef Müller-Böling wie folgt:„Als Alternative zur inzwischen schon etwas angestaubten Gruppenhochschule als 68-Errungenschaft führen einige inzwischen die Hochschule als Dienstleistungsbetrieb ins Feld. Hier ist die Hochschule Produzent von Dienstleistungen im Bereich von Forschung und Lehre, von Transfer, Wirtschaftsförderung oder Kultur.“ (Müller-Böling 2000, S. 24) An der Universität arbeiten verschiedene Gruppen zusammen, um einerseits die Bedingungen für die Bildung und Forschung bereitzustellen oder andererseits in Lehre oder Forschung selbst zu arbeiten. Dabei sind Studierende wie Mittelbau und Professoren gemeinsam sowohl an Forschung wie an der universitären Lehre beteiligt. Studierende sind keine passiven Kunden, die sich ein Paket Ausbildung kaufen könnten. Studierende bilden sich vielmehr in einem aktiven Verhältnis mit Lehrkräften und anderen Studie-renden. Ziel der Universität muss es sein, diesen gemeinsamen Arbeitsraum und möglichst gute Bedingungen für diesen bereit-

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zustellen. In dieser Form der Hoch-schule als Arbeitsraum kann Bil-dung und Forschung wieder dem humanistischen Ideal einer Bildung als vielseitige Auseinandersetzung und kritischem Denken entgegen kommen. Bildungs- und Wissens-produktion wird dann nicht ein-gezwängt in Effizienzvorgaben und Kostenerwägungen der Wirtschaft-lichkeit. Die Universität muss einen Raum der Selbstverwirklichung für die verschiedenen Tätigkeiten bieten. Studierende, Dozierende, Forschende und andere Beschäf-tigte tragen zum Gelingen des gemeinsamen Projekts der Bildung und Forschung bei. Nur so können auch Studierende reflektiert und kritisch mit Wissen umgehen lernen. Dabei darf nicht vergessen werden, dass der Aspekt der Ausbildung für spätere Berufe auch hier noch seinen Platz finden muss. Solange Studierende nach der Universität auf den Arbeits-markt geworfen werden, muss Studium auch die Ausbildung für eine spätere außeruniversitäre Tätigkeit einbeziehen. Studium darf aber nicht auf diesen Aus-bildungsaspekt reduziert werden. Vielseitige, reflektierte Bildung muss auch im Sinne des humanis-tischen Ansatzes von Bildung dem Schmalspurstudium entgegen-

gesetzt werden. Forschung wird dann nicht mehr als getrennt von der als Lehre bezeichneten Ausbil-dungsfunktion der Hochschule gesehen. Jeder Mensch ist Forscher oder Forscherin. Forschung bedeu- tet nicht nur die gesellschaftliche Institution, die politisch oder öko-nomisch verwertbares Wissen erzeugt. Forschung findet vielmehr in jedem Prozess selbstbestimmten Denkens statt und damit in jedem Seminar und in jeder interessierten Diskussion. Bildung ist Forschung. Die Forderung nach emanzipa-torischer Bildung ist damit auch eine Forderung nach Verwirklich-ung aller Bedingungen für die Einheit von Forschung und Lehre. Bildung ist Teil einer emanzipa-torischen Entwicklung, die für eine sich als demokratisch bezeichnende Gesellschaft selbst-verständlich sein sollte. Der Anteil an gesellschaftskritischer und interdisziplinärer Bildung darf also in keinem Studiengang fehlen. Menschen müssen in einem emanzipatorischen Bildungsansatz ihre eigene Stellung und Ver-ant- wortung in der Gesellschaft verstehen. Diese Selbstverortung und damit ein grundsätzliches Ver-ständnis der heutigen Gesellschaft darf keinem Bildungsbegriff äußer-lich bleiben.

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3. Hochschulen müssen demokratisch sein

Die neoliberale Vision des Managements von Hochschule im internationalen Wettbewerb beschreibt Detlef Müller-Böling wie folgt: „Die Gremien sind im Selbstverständnis dieses Modells zu verringern und Entscheidungs-prozesse zu verkürzen, damit auf die Anforderungen des ‘Marktes’ (Arbeitsmarkt, Forschungsmarkt) möglichst rasch reagiert werden kann.“ (Müller-Böling 2000, S. 24) Dieses Ziel haben sich sämtliche Hochschulen auf die Fahnen geschrieben, so preist sich die Technische Universität München auf ihrer Homepage wie folgt an: „Die TU München stellt sich dem internationalen Wettbewerb um Wissen und Innovation und hat sich dazu das Leitbild der unternehmerischen Universität auf die Fahnen geschrieben. […] In einem kontinuierlichen Reformprozess entwickelt sich die TU München seit 1998 Schritt für Schritt hin zur unternehmerischen Universität.“ (TUM 2011)Soll die Hochschule wie ein wirtschaftliches Unternehmen or-ganisiert werden, hat das Folgen für die inneruniversitäre Mitbe- stimmung. Gremien werden um-

gangen und in einem schlei- chenden Prozess entmachtet. Das neue Ziel sind Management- strukturen. Gerechtfertigt wird dies damit, dass die moderne Hochschule in ständigem Wett- bewerb steht und schnelle und flexible Entscheidungsprozesse brauche (vgl. Müller-Böling 2000, 42ff; 61ff). Da aus dieser Perspektive Hochschule als Dienst- leister und Studierende als Kunden gesehen werden, scheint die Argumentation, Demokratie sei keine Priorität für Hochschulen, konsequent. Warum sollten in einer Gesellschaft, in der nicht einmal die Arbeitenden in ihren Unternehmen Demokratie einfor-dern können, die Studierenden als Kunden das tun? Ähnlich argumentiert auch Detlef Müller-Böling, wenn er sagt: „So wichtig und grundlegend demokratische Prinzipien für ein Staatswesen und eine Gesellschaft auch sind – sie können nicht den primären Zweck einer Hochschule darstellen. Demokratie ist allenfalls ein abgeleitetes Ziel […].“ (Müller-Böling 2000, S. 61) Betrachtet man Hochschulen jedoch als einen Teil der Gesellschaft, der einen gemeinsamen Arbeitsraum für Bildung und Forschung bietet und der die Studierenden nicht nur

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als Kunden anerkennt, stellt sich die Forderung nach Demokratie in den Hochschulen neu. Studierende sollen – wie oben beschrieben – an den Hochschulen mehr als nur eine Ausbildung erwerben. Das impliziert jedoch Engagement und Interesse von Seiten der Studierenden. Dieses kann sich erst entwickeln, wenn die Hochschule den Studierenden nicht mehr als autoritär gesetzter Raum entgegentritt, sondern vielmehr ein gemeinsam gestaltetes Miteinander ermöglicht. Bildung kann nie von Außen eingetrichtert werden, sondern besteht als gemeinsamer Akt, der daher auch gemeinsam gestaltet werden muss. Somit folgt allein aus dieser Perspektive der emanzipatorischen Bildung, dass die Umstände der Bildung von den Beteiligten gemeinsam gestaltet werden müssen. Demokratie sollte aber nicht nur im Zusammenhang von Fachbereichen und Seminaren stattfinden. Werden Hochschulen über einen künstlich erzeugten Markt – durch Rankings und Exzellenzinitiative – in Konkurrenz zueinander gestellt, fördert dass die unternehmerische und damit anti-demokratische Ausrichtung der Hochschulen. Demokratie und Kooperation muss daher auch zwischen den Hochschulen

stattfinden. Erst durch eine solche Gegenperspektive zum neoliberalen Modell der unternehmerischen Hochschule, die diese nicht als quasi-private Dienstleistungseinrichtungen sieht, wird die Forderung nach Demokratie an den Hochschulen wieder plausibel.

Aus linker Perspektive muss Hoch-schule wieder ein Ort werden, der als Teil der Gesellschaft begriffen wird, daher demokratisch und solidarisch verfasst sein muss und seinen Zweck in dem Streben nach Verbesserung der Gesellschaft fin-det. Damit wird die Studierenden-bewegung auch nicht mehr isoliert von anderen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen betrachtet. Hochschule als Ort der Produktion von Wissen muss sich bewusst einmischen und Stellung beziehen. Damit können die Studierenden-proteste gleichzeitig ihren Betrag dafür leisten, für eine von Profit-zwang und Konkurrenz befreite Gesellschaft zu kämpfen.

Jakob Graf

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[1] Auf der Homepage der Hoch-schulrektorenkonferenz ist zum Beispiel in folgendem Artikel aus dem Jahre 2004 zu lesen: „Die Verknappung der Mittel hat zu einer Veränderung der Hochschulfi-nanzierung insgesamt geführt. Die Verhältnisse von Grundausstat-tung, Verwaltungseinnahmen und Drittmittel haben sich in den letzten zwanzig Jahren verschoben. Vor allen Dingen hat eine gewisse Verlagerung von den Grund- zu den Drittmitteln stattgefunden. Der gesamte Umfang der Drittmit-tel belief sich im Jahre 2001 auf 3,1 Milliarden Euro. […] Seit 1997 wuchsen sie insgesamt um 682,3 Millionen Euro [bis 2001]. Dies entspricht einer Steigerungsrate von 28,5 Prozent. Mit den 2001 erzielten Drittmitteln konnten 12,1 Prozent der laufenden Hochschu-lausgaben gedeckt werden, an den Universitäten sogar 17,8 Prozent. Größter Drittmittelgeber der Uni-versitäten ist die DFG (33 Prozent), gefolgt vom Bund (24,5 Prozent) und der Industrie (22,8 Prozent).“ (HRK 2004)

[2] Angeblich existiert ein un-bewältigbarer Ansturm auf die österreichischen Universitäten, daher wird mittlerweile auch über

die Einführung eines NC diskutiert (vgl. der Standard 2011).

[3] Das CHE selbst in der Studie Aktivierende Hochschul-Finan-zierung (AktiHF). Ein Konzept zur Beseitigung der Unterfinanzierung der deutschen Hochschulen: „Daraus resultiert zum einen die Frage nach dem Eigenanteil an den Ausbildungskosten und wie dieser aufgebracht werden soll – und zum anderen die Frage nach Art und Umfang einer Unterstützung durch staatliche Stellen. Die Einnahmen und damit auch Ausgaben eines Studierenden belaufen sich im Durchschnitt auf 767 € monatlich (17. Sozialerhebung des DSW, Stand 2003, S. 152). Davon kommen 13% aus Bafög-Bezügen, 51% aus dem elterlichen Haushalt, 27% aus Nebenjobs und 9% aus sonstigen Quellen.“ (Berthold u.a. 2007, S. 30)

[4] So heißt es im 11. Studierenden- survey des Bundesministeriums für Bildung und Forschung: „Die Arbeitsintensität hat an beiden Hochschularten [Universitäten und Fachhochschulen] deutlich zuge- nommen (um 15 bzw. 12 Prozent-punkte). Eine ähnliche Zunahme ist für die Leistungsnachweise zu beobachten. Zusammen mit den

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in der letzten Dekade erhöhten Leistungsanforderungen sehen sich die Studierenden deutlich höheren Ansprüchen gegen über, welche die Studierbarkeit erschweren.“ (BMBF 2010. S. 14)

[5] Aktualisierte Versionen dieser Kooperation in der Lehre finden sich unter www.stattweb.de/files/DokuKITcivil.pdf

LiteraturAutorengruppe Bildungsberichterstattung 2010: Bildung in Deutschland 2010. http://www.bildungsbericht.de/daten2010/bb_2010.pdf (Zugriff 22.10.2011).

Berthold, Christian/ Gabriel, Gösta/ Ziegele, Frank 2007: Aktivierende Hochschul-Finanzierung (AktiHF). Ein Konzept zur Beseitigung der Un-terfinanzierung der deutschen Hochschulen. www.che.de/downloads/Aktihf_AP96.pdf (Zugriff 28.09.2011).

BMBF - Bundesministerium für Bildung und Forschung 2010: Studien-situation und studentische Orientierungen. 11. Studierendensurvey an Universitäten und Fachhochschulen. Berlin 2010. http://www.bmbf.de/de/15967.php (Zugriff 28.09.2011).

Der Standard 2011: Experten gegen Numerus Clausus in Österreich. http://derstandard.at/1313024819867/Uni-Zugang-Experten-gegen-Numer-us-Clausus-in-Oesterreich (Zugriff 22.10.2011)

FR – Frankfurter Rundschau 17.06.2009: Studentenproteste ‘zum Teil gestrig’. http://www.fr-online.de/bologna-reform/schavan-studentenpro-teste--zum-teil-gestrig-,1473246,2776356.html (Zugriff: 28.09.2011).

HRK – Hochschulrektorenkonferenz 02.09.2004: Im Brennpunkt: Die Hochschulfinanzierung. http://www.hrk.de/de/brennpunk-te/112.php (Zugriff: 28.09.2011).

Müller-Böling, Detlef 2000: Die entfesselte Hochschule. Gürersloh. Verlag Bertelsmann Stiftung.

TUM – Technische Universität München 11.10.2011: Auf dem Weg zur unternehmerischen Univesität. http://portal.mytum.de/tum/unternehmerische_universitaet/index_html (Zugriff 11.10.2011)

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In einem Land, das erst vor sechs Jahren von der UNO als analpha-betenfrei erklärt wurde (Geceta 2005), gibt es heute mehr Abi-turienten, als die Hochschulen aufnehmen können. In demselben Zeitraum hat sich die Anzahl der Studierenden nahezu verdreifacht (vgl. Ministerio 2010, S. 11). Im Transformationsprozess hin zum Sozialismus des 21. Jahrhunderts ist Bildung zu einem der Schwer-punktthemen in Venezuela ge-worden. Von 1976 bis 1998 wuchs der Anteil der an privaten Hochs-chulen eingeschriebenen Student-en von 9% auf 39% (vgl. Ministerio 2010, S. 18) und manifestierte damit nicht nur die ökonomische Spaltung der Gesellschaft, sondern stellte das gesamte Konzept von kostenloser öffentlicher Bildung in Frage. Innerhalb des alten Hochschulapparates existieren seit Jahrzehnten elitäre Struk-turen, denen Korruption und eine klientelistische Privilegienpolitik vorgeworfen wird. Jede der fünf Universidades autónomas (auto-nome Universitäten [1]) Venezuelas hat in ihren internen Statuten, dass die Kinder von langjährig festang-estellten Professoren automatisch

einen Studienplatz zugesichert bekommen (vgl. Manual Control Interno). Die sonstigen Mitarbeiter der Hochschule verfügen nicht über dieses Recht. Versuche, solche Mechanismen aufzulösen, werden mit der Unantastbarkeit der Hoch-schulautonomie abgeschmettert. So kommt es dazu, dass sich auch unter der Präsidentschaft von Hugo Chavez die politische Situ-ation an den Autonomen Univer-sitäten kaum verändert hat. Hier dominiert nach wie vor die obere Mittelschicht. Das Wirtschafts- und Gesellschaftsverständnis, welches von den Professoren vermittelt wird, folgt dem Washington Consens und dem seit 1969 kaum veränderten Hochschulgesetz.

Mit der Verabschiedung des Bil-dungsgesetzes 2009 wurden die Universitäten gezwungen, ein neues Wahlsystem für die Wahlen zum Rektorat, Dekanat und für die Studentische Vertretung einzufüh-ren. Hierbei gelten die Grundsätze „gleich“, „geheim“, „frei“, „allge-mein“ und „direkt“ (vgl. Ley Organica 2009, Artikel 34.3). Dementsprechend gilt die Stimme eines Studenten ebensoviel wie die

B i l d u n g i n V e n e z u e l a

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eines Professors oder eines Mitar-beiters. Die verschiedenen Ämter werden direkt gewählt. Die Um-setzung des Wahlrechts ist jedoch aufgrund der Hochschulautonomie exklusiv den Universitäten über-lassen, die bis heute nicht den Auftrag des Gesetzgebers erfüllt haben. So klagen Studenten gegen ihre eigene Uni. Die Universitätslei-tung erklärt die Einmischung des Staats in interne Angelegenheiten zum Politikum. Um diesen fragwürdigen Um-ständen entgegenzuwirken, sind in den letzten Jahren eine Vielzahl von staatlichen Bildungseinrich-tungen entstanden, denen die oben beschriebene statistische Verbesse-rung im Bildungswesen zu ver-danken ist. Mit Hilfe verschiedener staatlicher Armutsbekämpfung-sprogramme (Misiónes) ist der Analphabetismus bekämpft worden (Venezuela ist nach Kuba das zweite Land Lateinamerikas, das von der UNO im Jahr 2005 als analphabetenfrei anerkannt wurde). Man kann seine Grund-schulbildung nachholen, die Sekundarstufe besuchen und schließlich auch einen Hochschu-labschluss erreichen. Bezeichnend ist, dass die große Mehrheit der in den Misiónes angestellten Lehrer

aus Kuba und an zweiter Stelle aus Venezuela kommen. Das resultiert mitunter aus der sozialen Kluft im Land. Da kaum ein Studienabsol-vent in die Armenviertel geht, um dort zu unterrichten. Um dieser Form von Spaltung der Gesellschaft zu begegnen, ist seit neuestem jede Abiturientin, jeder Abiturient und jeder Studierende verpflichtet, eine gewisse Stundenanzahl Sozialarbeit zu leisten. Das neue Bildungsgesetz sieht ebenfalls vor, dass die Studierenden nach Beendigung ihres Studiums zur internen En-twicklung des Landes beitragen sollen, also zuerst im eigenen Land arbeiten sollen (vgl. Ley Organica 2009, Artikel 13).

Im Rahmen dieser staatlichen Bil-dungsprogramme ist 2003 auch die Bolivarianische Universität Venezuelas (UBV) gegründet worden. Diese Universität be-steht bislang aus mehr als acht Standorten [2] im ganzen Land und bietet großen, ehemals ausge-schlossenen Bevölkerungsteilen Zugang zum Hochschulstudium. Dabei sollen konservative Lehrmethoden durch moder-nere und experimentelle ersetzt werden. Zudem wird versucht, zukünftigen Generation von Lehrenden und Fachkräften eine

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berufliche Perspektive im eigenen Land zu ermöglichen. Insbeson-dere in naturwissenschaftlichen und technischen Ausbildungen ist sowohl an privaten als auch autonomen Universitäten eine starke Fachkräfteflucht und -abw-erbung zu beobachten. Daher verpflichtet sich jeder Student der UBV, nach Abschluss seines Studi-ums eine gewisse Zeit (3 Jahre) im eigenen Land zu arbeiten. Es gibt allerdings keine Sanktionen bei Nichterfüllung dieser Auflage. Auf der anderen Seite wird den Studierenden jedoch direkt ein Jobangebot gemacht, das neben einer relativ hohen Bezahlung zum Beispiel auch den vergünstigten Erwerb in Venezuela produzierter Autos einschließt. Diese Politik steht im Kontext des Kampfes um die nationale und internationale Anerkennung der Abschlüsse, die der private Sektor der UBV bislang nahezu verweigert.

Im Jahre 2009 ist die Misión Alma Mater ins Leben gerufen worden. Deren 25 universitäre Institute und vier Schulen mit über 185.000 Studenten basieren, wie die UBV, auf einer „solidarischen Koopera-tion“ (vgl. Ministerio 2009, S. 3). Ziel dieses Konzeptes ist es, durch Vergesellschaftung des Wissens

den politischen und gesellschaftli-chen Transformationsprozess Ven-ezuelas zu unterstützen (vgl. eben-da). An diesen Einrichtungen erhält man nach zwei Jahren einen ersten Abschluss (TSU – Técnico Superior Universitario), nach vier Jahren eine Spezialisierung (Licenciatura oder Ingenería). Des Weiteren verfügt die Misión über zwei Uni-versitäten. 25 weitere sind im Bau bzw. in Planung. Damit möchte die Regierung die räumliche Konzen-tration universitärer Bildung auf den Raum Caracas durchbrechen und im Landesinneren verstärkt Universitäten verschiedenster Pro-file aufbauen.

Ein wichtiges Beispielprojekt der Misión, welches auch die historischen Widersprüche und Schwierigkeiten beim Aufbau eines neuen Bildungssystems ver-deutlicht, ist die Universidad Na-cional Experimental de la Seguri-dad (UNES – Experimentelle Na-tionale Universität für Sicherheit). In der UNES werden Polizeikräfte aus- bzw. weitergebildet. Aus den ersten Absolvent_innen ist die neue Policia Nacional Bolivariana (Nationale Bolivarianische Polizei) hervorgegangen. Damit stellte man dem von Korruption und Krimi-nalität durchsetzten Polizeiappa-

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rat eine Bildungseinrichtung gegenüber, die dessen interne Widersprüche offen attackiert. Die bisherige polizeiliche Ausbildung in Venezuela dauerte drei Monate und beinhaltete keinerlei berufse-thische Schulung. Rechtschaffende Motivationen von Neueinsteigern wurden durch die dem Apparat innewohnende Delinquenz erstickt. So kommt es, dass an jeder fünften Straftat ein Polizist beteiligt ist. In einer ersten Maßnahme wur-den allein in Caracas über 4000 Polizisten entlassen (die Hälfte der Policia Metropolitana), gegen die Anzeigen oder laufende Verfahren vorlagen. Nichtsdestotrotz ist die Dunkelziffer der durch Polizisten begangenen Straftaten wahrschein-lich höher, da es nur selten zur Anzeige kommt. Die Ausbildenden und Lehrenden an der UNES sind zum Teil Personen, die in den 80er und 90er Jahren als Studierende von der Polizei gefoltert worden sind.

Die Misión Alma Mater sowie die Misión Sucre (ebenfalls ein Hoch-schulbildungsprogramm) haben die Universitäten sprichwörtlich näher an die Bevölkerung gebracht, da es im gesamten Landesgebiet nun die Möglichkeit gibt, ein Studium zu beginnen. In den Abendstunden

wird Unterricht für alle Altersklas-sen angeboten. So ist es alltäglich geworden, dass Jugendliche neben Erwachsenen und Rentnern in einer Klasse sitzen. Die An-forderungen an die Ausbildenden und deren Lehrmethoden [3] überfordern jedoch dieses junge Bildungssystem, das nur auf den Kapazitäten des alten Systems auf-bauen kann. Die Unzulänglichkeit der Ausbildung von Lehrkräften ist wie auch im Fall der alten Polizei gravierend. Englischlehrende, die das Englische nicht fließend spre-chen können, und ausschließlich theoretischer Unterricht in natur-wissenschaftlichen Fächern ohne experimentelle Veranschaulichun-gen bestimmen den Schulalltag. Oftmals fehlt es den Misiones an moderner Ausstattung, Büchern und sonstigen Lehrmaterialien.

Demzufolge besteht eine perma-nente politische Auseinander-setzung zwischen Staat und au-tonomen Universitäten um die Mittelvergabe aus dem staatlichen Bildungsetat. Das Budget für die Hochschulbildung wird wie folgt aufgeteilt: 41% erhalten die fünf autonomen Universitäten und 59% fällt auf die UBV, die Mision Alma Mater, die Mision Sucre und alle sonstigen staatlichen Institute.

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Den größten Anteil erhält wegen der größten Studierendenzahl (ca. 60.000 Studierende [4]) und aus Gründen der Tradition und Repu-tation die Universidad Central de Venezuela (UCV - Zentrale Univer-sität Venezuelas), die gleichzeitig der wichtigste Gegenspieler zur staatlichen Bildungspolitik ist und sich gegen die Umstrukturierung des Bildungssystems stellt. Im Zuge dieser Auseinandersetzung ist mehrfach sowohl von bestimm-ten staatlichen Akteuren als auch von studentischer Seite gefordert worden, die Hochschulautonomie abzuschaffen. Die Debatte um die Erhöhung des Budgets dreht sich dementsprechend vielmehr um Fragen der Kontrolle und Verwal-tung der finanziellen Mittel als um einen Mangel an staatlichen Geldern, die der Bildung zur Ver-fügung gestellt werden könnten.

In Venezuela ist in den letzten Jahren ein Prozess initiiert worden, den man auch in Kuba und Nicaragua, aber auch in der DDR beobachten konnte. Das Bestreben nach nationaler Unabhängigkeit von Importen und ausländischem Know-how sowie die internationale Isolation und die entsprechend limitierte Möglichkeit, interna-tionale Partnerschaften zu knüp-

fen, macht ein eigenes starkes Bildungssystem erforderlich. In diesem Sinne wird versucht, auf allen wissenschaftlichen Ebenen, eigene Fachkräfte auszubilden (im Erdölsektor ist Venezuela in dieser Hinsicht sehr gut positio-niert) und ihnen im eigenen Land eine vielversprechende Zukunft zu ermöglichen.

Bezeichnenderweise sind die ein-zigen analphabetenfreien Länder Lateinamerikas Kuba, Venezuela und voraussichtlich bald Bolivien – allesamt Länder mit linken, sozialistischen Regierungen. Diese Länder, wie auch alle anderen in der Region, verfügen kaum über gut ausgebildete Fachkräfte, was die Ausbildung neuer Genera-tionen erschwert. Es ist jedoch zu erkennen, dass teilweise systema-tisch versucht wird, die Bildungser-folge dieser Länder durch das Abwerben von ausgebildeten Kräften abzuschwächen. Nichtsdes-totrotz ist es z.B. Kuba gelungen, eines der besten Gesundheitssys-teme der Welt aufzubauen. Kuba-nische Ärzte operieren derzeit in 72 Ländern. Venezuela hat hier einen ähnlichen Weg eingeschla-gen. Um seinem eigenen Ärzte-mangel entgegenzuwirken, holte es sich zehntausende kubanische

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Ärzte ins Land, um die Bevölker-ung medizinisch zu versorgen und einheimisches Fachpersonal auszubilden. Da ein Arztstudium in der Regel jedoch sieben bis zehn Jahre dauert, wählen viele Medizinstudierende den Weg einer sog. Schnellausbildung, bei der man sich auf regional vorkom-mende Krankheiten konzentriert und sie so den Gemeinden schnell zur Verfügung stehen. Neben der Arbeit bilden sich dann viele noch weiter fort. Außerdem beteiligt sich Venezuela am Projekt der Escuela Latinoamericana de Medicina (ELAM – Lateinamerikanische Schule für Medizin). Die Schule vereint Studenten nahezu aller Staaten und bietet ein kostenfreies Medizinstudium an. Einer der Hauptsitze der ELAM befindet sich in der Nähe von Caracas.

Trotz all jener Bestrebungen bleibt der Prozess von starken und of-fenen Widersprüchen bestimmt, die sich in einer langen Tradition sozialen Ausschlusses, Margi-nalisierung und US-Amerika-nischer Hinterhof-Ideologie begründen. Der oft formulierte Aufruf, die korrupten Beamten zu ersetzen, geht an der gesell-schaflichen Realität vorbei. Die Frage ist einfach: Durch wen? Frei

nach Brecht kann die Regierung ihr Volk nicht selbst bestimmen. Eine konstruktive Kritik muss die historischen und politischen Hintergründe des Landes berück-sichtigen. In Anbetracht der Widersprüche, die sich hier offen-baren, ist der politische Prozess Venezuelas vor allem erst einmal ein großer Schritt in Richtung einer gerechteren Gesellschaft. Nicht nur in Bildungsfragen. Die zahlreichen Basisinitiativen, die durch den Chavismus möglich geworden sind, formulieren diese Kritik mitunter als erste. Sie selbst klagen die Inkompetenz staatlicher Institu-tionen an, deren hauptsächlicher Mangel eben in diesen Fachkräften besteht.

Die Betrachtung Venezuelas kann uns helfen zu verstehen, dass die Universität nicht losgelöst von der Gesellschaft denkbar ist. Die Frage lautet daher immer: Welche gesellschaftlichen Ziele verfolgt eine bestimmte Bildungspolitik und in welchem ökonomischen Zusammenhang sind diese zu sehen? Oder im Umkehrschluss: Welche Gesellschaft wollen wir im Allgemeinem haben und wie könnte diese durch eine eigene Bildungspolitik erreicht werden?

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[1] Das Modell der autonomen Universität, bei denen der Staat nahezu ausschließlich Geldgeber ist, entstand 1969 nach dem sog. Allanamiento, als das Militär eine Studentenbewegung auf dem Cam-pus der UCV mit Panzern und Hub-schraubern massakrierte. Heute existieren diese autonomen Univer-sitäten, private Universitäten und vollständig staatliche Hochschulen nebeneinander.

[2] http://www.ubv.edu.ve/index.php?option=com_content&view=article&id=113:sedes&catid=51:fotografica&Itemid=1

[3] Es wurde das Instituto Latinoamericano de Agroecología „Paulo Freire“ (IALA – Lateinameri-kanisches Institut für Agrarökolo-gie) gegründet in gemeinsamer Kooperation mit der Bewegung der Landlosen (MST) aus Brasilien. In den Lehrmethoden wird beson-deres Augenmerk auf die Theorien Paulo Freires als alternative Bil-dung gelegt.)

[4] http://www.ucv.ve/sobre-la-ucv/resena-historica.html

LiteraturGaceta Oficial de la República Bolivariana de Venezuela, Nummer 38.302, 28. Oktober 2005.

Ley Organica de Educación. 2009.

Manual Control Interno, UCV: Artikel 2.8.2, Clausula No.26 del Acta Convenio.

Ministerio del Poder Popular para la educación: La revolución boli-variana en la educaciónuniversitaria. 1999-2009, 2010.

Ministerio del Poder Popular para la Educación Superior: Misión Alma Mater. Educación Universitaria Bolivariana y Socialista. 2009.

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T h e o r i e u n d P r a x i s s t u d e n t i s c h e r H o c h s c h u l p o l i t i k i n Z e i t e n d e s M o d e l s “ u n t e r n e h m e n H o c h s c h u l e ”

„Bologna bürokratisiert und ökono-misiert nicht nur die Universitäten, sondern auch das Wissen, das dort hoch und frei gehalten werden sollte“ (Finke 2010: 43). Zu dieser Auffassung kommen zwölf Jahre nach Beginn des Bologna-Prozesses (1999) viele. Allgemein lässt sich feststellen, dass Kritik an der Bologna-Reform nicht nur gern geübt wird, sondern in vielen Me-dien gut ankommt. Was jedoch als Kritik daherkommt, ist meist nicht mehr als ein Kratzen an der Ober-fläche. Eine tiefergehende Analyse der Bedeutung dieser „Reform“ erfolgt nur selten. Was bei dieser Form der Kritik vor allem fehlt, ist zum einen der demokratietheore-tische Aspekt, den „Bologna“ für die Hochschule mit sich gebracht hat, und zum anderen die hoch-schulpolitische Komponente der akademischen und vor allem der studentischen Selbstverwaltung.

Die neoliberal-kapitalistische Wende

Der Soziologe Richard Münch beschäftigt sich seit einigen Jahren mit der Umstrukturierung der Hochschulen und stellt in einer seiner jüngsten Publikationen fest: „Die angestrebte transnationale Integration der Bildungssysteme wird von einer nationalen Desintegration begleitet“ (2010: 47). Das Ziel, einen gemeinsamen europäischen Hochschulraum nach dem Vorbild USA zu schaffen, scheint demzufolge nicht aufzu-gehen. Vielmehr kann man anhand des Bologna-Prozesses nachvollziehen, wie europäische Politik funktioniert: intransparent und undemokratisch. Die europäische Öffentlichkeit wurde vor vollendete Tatsachen gestellt. Eine Einbeziehung der Hochschul-lehrer_innen oder gar der Studie-

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renden erfolgte nicht. „Der Bologna-Prozess“, resümiert Katrin Toens, „bildet somit ein Beispiel par excel-lence für die Umgehung der forma- len Prinzipien des demokratischen Verfassungsstaates“ (2009: 22). Dies hat zum einen mit dem Bildungs- föderalismus der Bundesrepublik zu tun, zum anderen aber auch damit, dass die Hochschulen zuneh- mend einem Standortwettbewerb ausgesetzt sind, wie sie sonst nur Unternehmen kennen. Das heißt jedoch nicht, dass die Hochschulen passive Akteure in dem großen Zahnrad „Bildungspolitik“ sind, sondern die Hochschulen spielen bewusst mit, um vermeintlich exzellente Forschung betreiben zu können. Welche irrsinnigen Formen dies annehmen kann, machte Bodo Zeuner in seiner Abschiedsvorlesung vom Berliner Otto-Suhr-Institut für Politik- wissenschaft klar: „Das Modell “Unternehmen Hochschule” koppelt […] die Produktion von Wissenschaft und Studierenden- ausbildung direkt an Markterfolge und erlegt den Universitäten auch die Binnenstruktur eines markt- orientierten Unternehmens auf. Darin hat professionelle Autonomie nur noch in dem Maße Platz, wie sie dem Geschäftsinteresse dient. Innerhalb der unternehmerischen

Universität geht es um die opti-male Verbindung von Hierarchie und Konkurrenz. Das bedeutet auf jeden Fall die Aufhebung, min-destens aber das Leerlaufenlassen aller Formen von Demokratie und Mitbestimmung“ (2007: 333).Die Hochschule soll ihre hochschul-politische Autonomie gegen einen Status des „autonomen Dienstleis-tungsunternehmen“ (Bultmann/Schöller 2003: 338) tauschen: „Zu diesem Zweck werden die ehemals politischen Selbstverwaltungs- und Steuerungsmechanismen durch Verfahren ökonomischer Selbstreg-ulierung ersetzt“ (ebd.).Die Bildungsreformen müssen jedoch im gesamtgesellschaftli-chen Kontext betrachtet werden, denn dann wird klar, dass hinter diesen Reformen ein komplettes Gesellschaftskonzept zu sehen ist (ebd.: 351). Wenn wir demnach die Entdemokratisierung und Ökonomisierung der Hochschulen kritisieren, heißt das nicht, dass diese Prozesse auf diesen Bereich beschränkt sind. Nur zu gut ließe sich dies im Bereich der Schulbil-dung oder der Arbeitnehmer_in-nen-Vertretung aufzeigen. Gerade der erstgenannte Prozess der Entdemokratisierung wird, wenn es um „Bildungspolitik“ oder gar „Bildungsgerechtigkeit“ geht, gern

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umgangen. Nicht einmal die internen antidemokratischen Tendenzen werden erwähnt, geschweige denn kritisiert, um schließlich Lösungsvorschläge zu bringen (vgl. die Schwerpunkte in Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 2010 und Perspektiven demokratischer Sozialismus 2009).Die akademischen Gremien erh-alten eine beratende und kontrol-lierende Funktion, während die Exekutive (Rektor_in/Präsident_in) massiv gestärkt wird. Ziel ist es, Entscheidungen schnell und ohne großen Widerstand zu treffen. Bodo Zeuner spricht deshalb von einer „innerbetrieblichen Diktatur des Managements“ (ebd.: 334). „Gremien, die nur noch beratend und kontrollierend tätig sind, aber keine originären Entscheidungs-befugnisse haben, verdienen nicht mehr den Namen ‚Selbstverwal-tung‘“ (2007: 333).Die Autonomie der Hochschule soll nun vom Staat bzw. den Bun-desländern gefordert werden, um vor allem eine finanzielle Autono-mie zu schaffen. Die Hochschulen werden zu Quasi-Unternehmen, die sich auf dem Markt beweisen müssen; Kürzungen, Stellenabbau, Streichung ganzer Institute und Studiengänge oder gar universitäre Insolvenz nicht ausgeschlossen.

Demokratische Hochschule – mehr Schein als Sein?

Die politische Hochschulordnung gliedert sich meist in drei bis vier Ebenen. Der Studierendenrat (StuRa) bzw. Allgemeine Studier-endenausschuss (AstA) gilt als oberste studentische Vertretung. In den meisten westdeutschen Hoch-schulen wird der AstA durch das Studierendenparlament (StuPa) gewählt. In den ostdeutschen Hochschulen entfällt diese Ebene meist, was zur Folge hat, dass der StuRa direkt von den Studier-enden gewählt wird. Dann beste-hen studentische Gremien auf Fakultäts- bzw. Fachbereichsebene. Schließlich organisieren sich die Studierenden auch noch auf Insti-tutsebene. Neben diesen originär studen-tischen Gremien gibt es auch noch Hochschulgremien, die aus Professor_innen, wissenschaftli-chen Mitarbeiter_innen, sonstigen Beschäftigten und studentischen Vertreter_innen bestehen (z. B. der akademische Senat als ober-stes Gremium an der Hochschule). Dass diese nicht viertelparitätisch besetzt sind, ist durch den fest-geschriebenen Grundsatz der Pro-fessor_innenmehrheit im Senat seit jeher ein Grund für studentische

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Interventionen. Wer bei Protesten, wie Michael Greven meint, mehr Mitbestimmung fordere, sollte nicht davon ausgehen, dass dies automatisch mehr Demokratie bedeute. Mitbestimmung werde meist für die spezifische Mitglied-ergruppe (z. B. für Studierende) gefordert während demokratische Prinzipien alle betreffen sollten (2009, S. 17, Fn. 26).Aus dieser groben Organisations-skizze kann geschlussfolgert werden, dass Gremien auf Instituts- und Fachbereichsebene relativ “basisnah” agieren, während in StuRa und AstA Themen behandelt werden, die eher verwaltungstech-nischer Art sind. Jedoch sind die Möglichkeiten, wenn ein solidari-scher Umgang miteinander und ein gemeinsames Ziel bestehen, weitaus größer und können dahin-gehend sehr ertragreich sein. Das heißt aber nicht, dass in den Gre-mien die Revolution zu machen ist, welche sich dann flächendeckend ausbreitet. Das mag ein Grund sein, weshalb die Gremienarbeit für linke Aktivist_innen nicht interes-sant genug ist. Doch warum sollten sonst linke Studierende an Hoch-schulgremien partizipieren? Die Antwort ist so leicht wie vielfältig: Es gibt viel zu tun!

Erstens: Die Möglichkeiten, sich vor Ort zu vernetzen und an hoch-schulpolitischen Entscheidungen mitzuwirken, sind vielfältig. Über die Gremien als anerkannte Organe der Hochschule bekommt man Zugänge zu Gesprächen über zu bauende Universitätsgebäude oder trifft sich mit dem Dekan, um die Probleme am Fachbereich oder der Fakultät zu diskutieren. Chancen also, die linke Hochschulgruppen eher selten geboten bekommen.

Zweitens: Politik machen (und nichts anderes ist Hochschulpoli-tik) erfordert nicht nur, sich selbst klar zu werden, was man will und was nicht, sondern auch mit anderen Akteuren zusammenzuar-beiten, weil für Entscheidungen Mehrheiten vonnöten sind, die durch Kooperationen hergestellt werden müssen. Es muss geschafft werden, sich treu zu bleiben und trotzdem Verhandlungsspielraum zu haben, um nicht schon nach der zweiten Gremiumssitzung in Grabenkämpfe zu verfallen.

Drittens: Den Gremien stehen finanzielle Mittel zu, die bis zu einem gewissen Grad (abhängig von der jeweiligen Finanzordnung des Gremiums) zur freien Verfü-gung stehen. Diese Mittel über-

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steigen bei weitem das Budget einzelner Hochschulgruppen. Das heißt nicht, dass man im AstA oder StuRa mit Geld um sich werfen kann. Es sind jedoch wertvolle Gelder, um alternative, emanzipa-torische Projekte zu unterstützen. Nur müssen dazu nicht nur die zukünftigen Finanzantragsstel-ler_innen wissen, dass sie Gelder beantragen können, sondern sie müssen auch eine reelle Chance haben, ein Antirassismus-Seminar oder eine Queer-Veranstaltungsrei-he finanziert zu bekommen. Über diese gremientechnischen und zwischenmenschlichen Kontakte, die man dabei aufbaut, lassen sich gute Kooperationen entwickeln, die man ggf. für die eigene Hoch-schulgruppe nutzen sollte. Wieso zwei kleine linke Projekte machen, wenn gemeinsam ein großes möglich ist? Durch die gegenseit-ige Unterstützung und Vernetzung linker Initiativen kann es zu einem veränderten Klima an der Hochs-chule kommen.

Studis! Geht wählen! Lasst euch wählen!

Ein immens wichtiger Aspekt des „Unternehmen Hochschule“ ist die allgemeine und anhaltende Entpolitisierung der Hochschul-

politik durch das BA-MA-System. Da die Gremien als entscheidungs-verzögernd, wenn nicht gar en-tscheidungsunwillig betrachtet werden, sollen sie möglichst eine marginalisierte Rolle einnehmen. Wozu eine studentische Vertretung, wenn man nur für drei Jahre an einer Hochschule (BA) und noch-mal zwei Jahre an einer anderen Hochschule (MA) ist? Dies schlägt sich nicht nur in der mangelnden Bereitschaft nieder, sich auf In-stitutsebene in Institutsgruppen zu organisieren, sondern auch in der geringen Anzahl an Kandi-dierenden für Gremien. Teilweise gibt es für ganze Gremien oder Fachbereiche/Fakultäten keinerlei Kandidierende. Ebenso ernst ist die Lage bei der Wahlbeteiligung. Viele Studierende sehen keinen Sinn da-rin, zur Hochschulwahl zu gehen. Zu recht, wenn man bedenkt, dass manche Gremien in Marathon-Sitzungen verfallen, nur um am Ende zu entscheiden, dass der zu besprechende Tagesordnungspunkt verschoben wird. Ganz zu schwei-gen von der Öffentlichkeitsarbeit einiger studentischer Selbstverwal-tungen. Oder wenn man das Gefühl hat, dass die studentischen Gelder hauptsächlich für große kom-merzielle Partys genutzt werden oder ein „Kuschelkurs“ mit der

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Uni-Leitung gefahren wird. Welche Legitimation hat man, wenn nur zehn oder 15 Prozent der Studier-enden wählen gehen? Hier heißt es, die Arbeit und deren Entschei-dungen transparent zu machen, offen für Interessierte zu sein und durch eigene inhaltliche Initiativen zu versuchen, die Lage der Stud-ierenden zu verbessern. So können auch wieder junge Studierende mo-tiviert werden, sich zu engagieren, um ihre Hochschule zu verändern!

Auswirkungen auf die Hochschulgruppe

Die Gremienarbeit kann als er-weiterte Schulung, aber auch zur Reflexion für die eigene Gruppe-narbeit genutzt werden. Man lernt, Verantwortung zu übernehmen, aber auch das nötige Durchset-zungsvermögen. Es soll nicht darum gehen, wer am lautesten Argumente vorträgt oder am läng-sten sitzen kann, sondern es kann besonders für größere politische Bündnisse wie Bildungs- und Kürzungsproteste, aber auch für Veranstaltungsreihen mit an-deren Akteuren (Gewerkschaften, Friedensbewegung, feministische Gruppen etc.) wichtig sein, nicht gleich bei der ersten Meinungsver-schiedenheit alles hinzuschmeißen.

Durch dieses konsensorientierte und vertrauensbasierte Arbeiten kann der Ablauf von Gruppentref-fen vereinfacht und die interne Organisation reflektiert und verändert werden.Ohne die Arbeit von Mitgliedern der Hochschulgruppen in Gremien laufen hochschulpolitische Ge-schehnisse schnell an einem selbst und der Gruppe vorbei. Dies liegt vor allem an den be-grenzten Informations- und Kom-munikationskanälen zwischen verfasster Studierendenschaft, den hochschulpolitischen Gruppen und den Studierenden selbst. Durch die zunehmende Vernetzung kann die Gruppe als Akteur schneller in die Hochschulpolitik intervenieren und ggf. eine Gegenöffentlichkeit erzeugen. Außerdem sollten nicht immer wieder die selben Gruppen-mitglieder in Hochschulgremien gehen, sondern eine möglichst breite und variable Anzahl von Leuten aktiv in Gremien partizip-ieren. Umso mehr Menschen wis-sen, wie die Hochschule abseits des Studiums funktioniert, umso besser und konkreter können Missstände angesprochen werden.

Eines sollte jedoch klar sein: Die Gremienarbeit führt eher nicht dazu, „neue Leute für die Sache“

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zu gewinnen, sondern dazu, sich selbst und die Gruppe mit eigenen Inhalten in der hochschulpoli-tischen Landschaft zu verankern. Gerade durch die Dominanz oder auch Abwesenheit etablierter hoch-schulpolitischer Akteure ist es un-erlässlich, diesen politischen Raum zu erobern. Vor allem für zukün-ftige Partner_innen und Bünd-nisse ist es unerlässlich, um eine zielführende und gewinnbringende Zusammenarbeit zu ermöglichen. Über das eigene Wirken können vernachlässigte Themenbereiche wie Ökologie, Gentrifizierung, Antifaschismus oder alternative Subkultur in die Gremien getragen und somit auch auf dieser Ebene sozialistische Politik betreiben.

Schließlich geht es in gewisser Hin-sicht darum zuerst die gegenwär-tige Hegemonie des bürgerlichen Lagers anzutasten, um sie zweitens selbst einzunehmen, um nicht nur die hochschulpolitischen, sondern auch gesellschaftlichen Diskurse anzustoßen und zu beeinflussen. Aus dem Zusammenwirken von linken Gruppen und hochschul-politischen Gremien lassen sich „Synergieeffekte“ erzielen, die z. B. im Bereich der Öffentlichkeitsarbe-it oder Veranstaltungsorganisation genutzt werden können.

Gremien und Protestbewegung – ein Ding der (Un-)Möglichkeit?!

In den kommenden Monaten könnte aufgrund zahlreicher Fak-toren ein Protest an den Hochschu-len entstehen. Die Bedeutung der Forderung nach „Mehr Demokra-tie“ an der Hochschule sollte dabei nicht vernachlässigt werden und nicht gegen Forderungen nach mehr Geld, mehr Dozierenden und mehr Studienplätzen ausgespielt werden, auch weil dies eine zentrale Blockierung der studen-tischen Proteste seit den „68ern“ bedeutet:„Bereits damals [beim Protest von 1988] machte sich […] eine Spal-tungslinie innerhalb der Studieren-denschaft bemerkbar. Die Forder-ung nach besserer Ausstattung, nach mehr Geld für die Univer-sitäten in ihrer bisherigen Form stand in offenem Widerspruch zu den weitergehenden politisch-emanzipatorischen Vorstellungen. Es wurde für bessere Studien-bedingungen und bessere Ausbil-dung, demonstriert - andererseits sollten gerade diese gesellschaftli-chen Anforderungen nach verwert-barer, berufs- und arbeitsmarkt-orientierter Wissenschaft kritisiert werden“ (Hoffrogge 2004: 151).Hier gilt es von Seiten der Hoch-

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schulgruppe und der Gremien, die Problemlage zu erfassen und zu analysieren. Die Gremien sind Vertretungen der Studierenden, also sollten sie auch studentische Interessen vertreten. Dazu ist es aber nötig, mit den Studierenden in Kontakt zu treten und nicht über ihre Köpfe hinweg Forder-ungen zu formulieren. Worte wie „Bildungsstreik“ und „Anti-kapitalismus“ müssen inhaltlich gefüllt werden, um sie nicht zu Phrasen verkommen zu lassen. In der Vereinigung von Zielen stu-dentischer Gruppierungen und Hochschulgremien muss sich eine antikapitalistische Hochschulpo-litik konstituieren, die einerseits lokal kritisiert und mit Aktionen interveniert. Andererseits sollte der Bildungsbereich als Ort gesells-chaftlicher Auseinandersetzungen um Demokratie, Selbstbestimmung und Ökonomisierung dargestellt werden. Ebenso muss der Begriff des „Bildungsstreikes“ von beiden Seiten betrachtet werden. Von welcher „Bildung“ reden wir und hat diese Vorstrukturierung des Studiums und Formalisierung

dessen Inhalts Auswirkungen auf die Arbeit in Gremien? Wird Gremienarbeit nicht immer mehr zu einem Punkt im „tadellosen Lebenslauf“ einer_s Studierenden und das Ideal der_s hochschul-politischen Aktiven, die_der die Hochschule verändern will, gerät ins Hintertreffen? Hier gilt es als Gremium Position zu beziehen und die universitäre Exekutive in Diskussionen und Aushandlung-sprozesse mit allen Gruppierungen an der Hochschule zu bringen. Gleichzeitig muss diese Position von Hochschulgruppen und stu-dentischen Initiativen unterstützt werden, um ein breite Zusam-menarbeit zu ermöglichen und den Willen zur Veränderung zu zeigen. Beide Akteursgruppen, könnten dabei mitwirken, die Hochschule wieder zu einem politischen Raum zu machen, der eine soziale und solidarische Hochschule beinhaltet und zu öffentlicher und kritischer Wissenschaft beiträgt.

Christian, Franzi, Stefan

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LiteraturBultmann, Torsten/Schöller, Oliver 2003. Die Zukunft des Bildungssys-tems: Lernen auf Abruf - eigenverantwortlich und lebenslänglich! Oder: die langfristige Entwicklung und politische Implementierung eines postindustriellen Bildungsparadigmas. In: Prokla 131, Jg. 33, Nr. 2, S. 331-354.

Finke, Peter. 2010. Die süße Täuschung der Oberflächlichkeit. Über die Verdrängung unserer kulturellen Krise. In: Blätter für deutsche und internationale Politik Jg. 55, Nr. 1, S. 39-46.

Greven, Michael Th. . Bildung und Demokratie – zwischen Utopie und Praxis. In: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik Jg. 48, Nr. 4, S. 4-18.

Hoffrogge, Ralf 2004. Emanzipation oder Bildungslobby? Die studentisch-en Proteste im Wintersemester 2003/2004. In: Prokla 134 Jg. 34, Nr. 1, S. 149-156.

Münch, Richard. 2010. Bologna oder Die Kapitalisierung der Bildung. In: Blätter für deutsche und internationale Politik Jg. 55, Nr. 1, S. 47-54.

Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 2010. Schwerpunkt: Bil-dungsgerechtigkeit Jg. 57, Nr. 3.

Perspektiven demokratischer Sozialismus 2009. Schwerpunkt:

Bildungspolitik Jg. 26, Nr. 1.

Toens, Katrin 2009. Universität, Staat und Demokratie im Bologna-Prozess. Ein komplexes Wirkungsverhältnis unter Stress. In: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik Jg. 48, Nr. 4, S. 19-32.

Zeuner, Bodo 2007. Die Freie Universität Berlin vor dem Börsengang? Be-merkungen zur Ökonomisierung der Wissenschaft. Abschiedsvorlesung, gehalten am 11. Juli 2007 im Otto Suhr Institut. In: Prokla 148, Jg. 37, Nr. 3, S. 325-350.

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2009 sollen die bundesweit größten Studierendenproteste seit vierzig Jahren stattgefunden haben. In teilweise über 80 Universitäten allein in Deutschland wurde das ‚Audimax‘ oder eine vergleichbar große Räumlichkeit besetzt, um auf schlechte Studienbedingungen hinzuweisen. Begleitet wurden diese Aktionen von Protesten an Schulen. Unter dem Namen Bildungsstreik formierte sich die Bewegung, wobei sich zunächst keiner fragte, was dieser Begriff eigentlich bedeutet. In mehr oder weniger spontanen Aktionen wurden Räumlichkeiten besetzt, um Forderungen zu for-mulieren, zu diskutieren und ein Zeichen des Protests zu setzen. Einen griffigen Namen braucht so etwas sicherlich, auch scheint Bildungsstreik auf etwas Kämpfer-isches hinzuweisen, im Englischen bedeutet strike sowohl Streik als auch Schlag. Problematisch erscheint die Wortwahl, wenn man sich auf die deutsche Wortbedeutung bezieht: sie entspricht gleich in mehrfacher Hinsicht nicht den tatsächlichen Ereignissen. Der Begriff ist keine Neuschöp-

fung. Schon Ende der 1980er Jahre haben „Bildungsstreiks“ stattgefunden. Laut der deutschen Version von Wikipedia hat 1989 in der Tschechoslowakei durch einen Studentenstreik die Samtene Revo-lution begonnen. In Griechenland sei die Besetzung der Technischen Universität Athen durch Studierende und das Errichten eines Radiosenders, in welchem zum Kampf aufgerufen wurde, einer der Gründe für die Dis-kreditierung der griechischen Diktatur 1973 gewesen, die diese Besetzung jedoch noch auflöste. Der nach Wikipedia so bezeich-nete Streik in der ehemaligen Tschechoslowakei sprang schnell auf die gesamte Gesellschaft über. Allerdings irrt das Lexikon: Diese Studentenbewegung – und das ist ein entscheidender Unterschied – demonstrierte (demonstrovat) bzw. protestierte (protestovat). Auch in der Übersetzung des griechischen Wortes Καταληψη (Einnahme; Eroberung) zeigt sich, wo in den jeweiligen Ländern der eigentliche Sinn lag. ‚Gestreikt‘ wurde anscheinend nur in der deutschen Übersetzung. Während in der Tschechoslowakei nämlich

Ü b e r l e g u n g e n z u m B e g r i f f B i l d u n g s s t r e i k

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auf das Zeigen und Hinweisen auf Missstände die Betonung liegt, verweist das Griech-ische auf die Schaffung eines ‚freien Gebietes‘, von dem aus dann weitergearbeitet werden kann. In beiden Staaten ging es nicht um das Streiken, wie sich in der Wortwahl in der jeweili-gen Sprache zeigt.

Streik als ökonomischer Streik

Was ist die Problematik bei der deutschen Wortwahl? Ein Streik hat das Ziel, durch Arbeitsniederle-gung einen Teil der Arbeitsproduk-tion lahm zu legen. Dies kann mit einer Besetzung der Produktions-stätten einhergehen, was dem Betrieb im Kleinen schadet. In Form des Generalstreiks kann die Wirtschaft eines gesamten Staates ins Wanken gebracht werden. Aus einem Streik gibt es folgende Aus-wegmöglichkeiten:

(1) Der Bestreikte (im Normalfall der Arbeitgeber) sieht die durch den Streik entstehenden Einbußen als relevant an, lenkt daher ein oder sieht sich dazu gezwungen, seine Haltung aufzugeben.

(2) Die Streikenden halten ihren zumeist aufwändigen Streik nicht durch und beginnen wieder zu

arbeiten. Der Streik wird ohne Einlösung der Forderungen auf-gegeben.

(3) Beide Positionen bleiben hart-näckig: Hierbei kommen Staat – beim Generalstreik – oder Betrieb langsam in ernsthafte ökonomische Schwierigkeiten. Der Ausweg wäre dann ein radikalerer, es werden – möglich ist dies von beiden Seiten – andere Wege gewählt; sowohl Arbeitgeber als auch -nehmer könnten z.B. zu Gewaltmaßnahmen aufrufen; der Streik als solcher ist (zunächst) vorbei.

Produktion von Wissen, Bildung und Ausbildung

Bildung wiederum bezeichnet – verkürzt – den Prozess eines nicht-instrumentellen Werdens, das einem Ideal zustrebt, im Gegen-satz zur ‚Ausbildung‘, die immer die Frage beinhaltet, was genau ausgebildet wird, wodurch das eigentliche Ziel schon geprägt ist: die Schaffung einer gewünschten Anzahl unterschiedlich qualifiziert-er Arbeitskräfte. Zumeist steht der Begriff der Bildung mit Reflexions-fähigkeit in Verbindung. Bildung als Begriff zeigt schon eine große Vielseitigkeit und damit auch eine gewisse Problematik auf. Der Sinn

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einer Universität ist – eigentlich – die Bildung der Studierenden. Auch wenn sie zunächst etwas “Individuelles” ist, wird Bildung als Indikator gesellschaftlicher En-twicklung verstanden. Hier schon erscheint die Übertra-gung des Streikbegriffs verkürzt. Die Universität ist eben keine Produktionsstätte, weil auch Bil-dung nicht einfach so produziert werden kann und niemand exis-tiert, der in diesem Bereich alleine produziert. Dennoch versucht ein Bildungsstreik, im Sinne eines ökonomischen Streiks, Produktion von Bildung zu verhindern. Das zu „Erwirtschaftende“ wird bestreikt.Auf der Grundlage der oben genannten drei Möglichkeiten eines Auswegs, kann die Frage gestellt werden, welcher Punkt sich im Falle eines Bildungsstreiks am Ende wahrscheinlich erfüllt.

(1) Während die Folgen üblicher Streiks zumeist schon nach einigen Tagen aufgrund der zu verzeich-nenden Einbußen spürbar sind, zeigen sich Folgen einer schwachen Bildung erst nach mehreren Jahren. Ein Einlenken seitens der Bestreikten, um ökonomische Schäden abzuwenden, ist also recht unwahrscheinlich.(2) Die Bildungsstreiks, die ja -

wenn überhaupt - nur kollek-tiv funktionieren können, sind zumeist nur von kurzer Dauer, da es unwahrscheinlich ist, dass die Menschen tatsächlich ihre Zukunftschancen aufgeben, indem sie auf ihre Bildung dauerhaft ver-zichteten. Somit wächst der Druck auf die wenigen oder weniger werdenden Streikenden. (3) Die Bildungsstreiks, sollten sie radikalere Formen annehmen, stoßen auf Abneigung durch die Bevölkerung, da Gewaltbe-reitschaft sowohl von Studier-enden als auch Nichtstudierenden mehrheitlich abgelehnt wird. Dies verhält sich allerdings ähnlich bei einer gewaltsamen Auflösung eines Streiks; hier bedarf es daher immer einer weiteren Begründung, die härtere Maßnahmen legitimiert. Ein Streik im Sinne eines ökono-mischen Streiks, der die Produk-tion von Wissen und Ausbildung verhindert, scheint also, wenn er auf diesen Aspekt beschränkt bleibt, keine Aussicht auf Erfolg zu haben.

Bildungsstreik als politischer Streik

Allerdings: Ein Bildungsstreik – im Sinne eines ökonomischen Streiks – hat nicht stattgefunden. Im

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Gegenteil, es sollte natürlich eine Verbesserung der Bildung erreicht werden. Durch die Aktionen sollte ein Zeichen gesetzt werden – die Studierenden hielten den größten Hörsaal der Universität besetzt – es sollten aktive und interessi-erte Menschen gefunden, eine gewisse Präsenz und Ausdauer gezeigt und weitere Aktionen koordiniert werden. Die Stärke dieser Aktionenen bestand jedoch nicht in der Einschränkung von Produktion, sondern in ihrer Kritik und in ihren Botschaften, die sie durch bunte Aktionen, Demonstra-tionen und Hörsaalbesetzungen in die Öffentlichkeit trugen. Auch richteten sich Kritik und Forder-ungen nicht an einen Arbeitgeber, sondern an ganz unterschiedliche staatliche Instanzen.

Insofern kann der Streik anstelle eines ökonomischen Streiks als ein politischer Streik bezeichnet werden.

Die Audimaxbesetzung führte zu einem weiteren positiven Ef-fekt: die Erzeugung eines selbst organisierten Raumes, welcher Diskussionen entstehen lässt. Außerdem hat eine Besetzung auch eines: Eventcharakter. Die tausend Menschen, die sich teilweise in

den Räumen befanden, waren neugierig, wollten schauen, wie Mitsprache funktioniert. Nur die wenigsten wussten einigermaßen, was zu tun war, oder waren von Anfang an auf einen klaren For-derungskatalog aus.

Events haben hier zwei wichtige Charakteristika: positiv ist, dass viele zusammenkommen, negativ, dass dies nicht dauerhaft so bleibt. Es bildet sich eine neue Gruppe, die davor weder politisch aktiv noch wirklich interessiert war. Ziel muss sein, dass diese Menschen über die Zeit des Events hinaus politisch interessiert bleiben. Nur so kann ein Druck in der Öffentli-chkeit aufgebaut werden, wenn der negative Aspekt des Eventcharak-ters zugunsten einer dauerhaften Etablierung politischen Denkens und Handelns überwunden werden kann. Natürlich ist an einem Be-griff selbst nie das Scheitern einer Bewegung festzumachen. Wäre jedoch den Menschen bewusst gewesen, was in der Art der nicht radikalen, dafür aber viele Men-schen umfassenden Bewegung möglich und was nicht möglich gewesen wäre, dann wäre der Start bei ‚Null‘, der 2011 ansteht, viel-leicht nicht notwendig gewesen.

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Notwendigkeiten für sinnvolle Studierendenproteste

Es ist klar, dass sich der Ent-schluss zum Protest für jeden Einzelnen aus einer Vielzahl von Motivationen entwickeln kann. Ein Großteil der zum ersten Mal demonstrierenden Men-schen möchte nicht das System verändern, sie wollen etwas für sich verbessern. Genau diese Motivation entsteht bei Massenbe-wegungen in aller Welt und genau dies ist eines der Grundprobleme. Widerstand darf dort anfangen, keinesfalls darf er dort aufhören. Um die Gesellschaft überzeugen zu können, darf es nicht um ein „wir wollen für uns“, sondern muss es um ein „das ist für die Gesellschaft besser“ gehen. Wir müssen argu-mentieren, dass unsere Forderun-gen für die gesamte Gesellschaft sinnvoll und positiv sind.Jedem, der sich kürzere Zeit mit Machtverhältnissen auseinander-gesetzt hat, ist klar, dass sich innerhalb von sechs Wochen keine großen Veränderungen ‚herbei-demonstrieren‘ lassen. Wird einem aber nicht die ‚kleine Veränder-ung für sich selbst‘, sondern die Veränderung für die Gesellschaft als mögliches Ziel bewusst, wenn also erkannt wird, dass es sich

nicht um eine persönliche Sache handelt und handeln sollte, sondern insgesamt um eine tiefer-greifende Veränderung, dann wird auch verständlich, dass Protest und Einsatz dauerhaft sein müssen.

Überzeugung der Nichtüberzeugten

Das Beispiel einer falschen Wahl der Streikmittel soll verdeut-lichen, wohin es nicht gehen soll: Eine Autobahnblockade zur Feier-abendzeit, die 2009 stattfand, schafft es weder, irgendjemanden, der nicht schon vorher positiv von der Sache eingenommen war, zu überzeugen, noch kostet sie die relevanten Personen/Unternehmen/Staaten soviel Geld, dass sie genügend Schaden für ein Einlenken verursachte. Wenn so et-was wie eine Blockade stattfinden soll, muss der Nutzen für die Sache ersichtlich sein. Anders hätte es eventuell funktioniert: Hätten sich die Studierenden aufraffen können, sich morgens vor Arbeitsbeginn auf die Straße zu stellen, so wäre es durch die Blockade einer wichtigen Zufahrt zu einer Zeitverzögerung um eventuell eine Stunde – dies ist bei einem Vollstau schnell pas-siert – und somit zu einem recht hohen Betrag an wirtschaftlichem

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Schaden gekommen, welcher nicht den Vater/die Mutter getroffen hätte, der/die vor dem Heimweg noch schnell einkaufen wollte. Die Unternehmen wären betroffen gewesen. Das ist selbstverständlich keine Aufforderung zu einer Autobahnblockade, sondern soll vielmehr ein Beispiel sein, dass jede Aktion umfassend überlegt sein will. Eine Aktion nützt dann etwas, wenn sie möglichst viele

Leute von unserer Sache überzeugt oder wirtschaftlichen Schaden bei den Verursachern von Missständen bzw. Einflusshabenden verursacht. Im Zentrum kann nur die Über-zeugung der Gesellschaft stehen, sonst ist jeder Einsatz zwecklos. Es müssen Mehrheiten gefunden werden, andere Gruppen müssen sich anschließen.

Ates Gürpinar

Wer wir sind und was wir machen

DIE LINKE.SDS ist ein Verband von bundesweit rund 50 Hochschulgruppen mit dem Ziel, eine starke linke Bewegung an den Universitäten und Fachhochs-chulen aufzubauen. Das Kürzel „SDS“ steht für Sozialistisch-Demokratischer-Studierendenverband und ist angelehnt an die Geschichte des historischen SDS, des Sozialistischen-Deutschen-Studentenbun-des. Durch die bei uns veränderte Be-deutung des Kürzels drücken wir unsere politische Position aus: Ohne Sozialismus keine Demokratie, ohne Demokratie kein Sozialismus! Diese Auffassung erwächst aus der Ansi-cht, dass eine Gesellschaft nicht demok-ratisch im Sinne einer „Volksherrschaft“ sein kann, wenn die oberste Maxime des ökonomischen und politischen Systems der Profit für wenige statt Wohlstand für alle ist. Die geschichtliche Entwicklung hat aber auch gezeigt, dass ein alterna-tives Gesellschaftsmodell der ökonomis-chen Gleichheit nie die persönliche Frei-heit angreifen darf. Die Mitglieder des SDS streiten für eine solidarische Gesellschaft. Wir sehen die Vorgänge an der Hochs-chule in unmittelbarem Zusammenhang mit den allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklungen. Die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte betrifft Studierende wie die gesamte Bevölkerung. Da nur eine bre-ite Bewegung dieser Politik etwas entge-gensetzten kann, arbeiten die SDSler_in-nen nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb der Universität in Bündnissen,

Projekten und Kampagnen mit.Die SDS-Hochschulgruppen transportieren linke Inhalte in die Universität und die Fachhochschule, indem sie Infostände, Vorträge und Podiumsdiskussionen or-ganisieren. Ziel ist es, eine kritische Öffen-tlichkeit herzustellen und eine kritische Wissenschaft zu re-etablieren. Unsere Hochschulen sind mittlerweile geprägt von einer vorgeblich unpolitischen oder offen regierungsfreundlichen Professo-renschaft. Dieser neoliberalen Hegemonie soll eine offene und kritische Debatte entgegengesetzt werden. Öffentliche Veranstaltung sind aber nur ein Arbeits-bereich unserer Hochschulgruppen. Viele bringen sich in die akademische und studentische Selbstverwaltung ein. Die Studierendenräte (StuRa) und Studiere-ndenparlamente (StuPa) sowie allgemeine Studierendenausschüsse (AStA) bieten als gewählte Interessenvertretungen der Studierenden eine Plattform um linke Positionen an der Hochschule voranzu-bringen. Trotz gewisser Einschränkungen gibt es in der studentischen Selbstverwal-tung also einigen Gestaltungsspielraum. Dazu zählt beispielsweise die Einrichtung von Referaten für kritische Wissenschaft, Geschelchterverhältnisse und politische Bildung oder die Verankerung von Friedens- und Zivilklauseln in der Grun-dordnung der Hochschule.

Die Linke.SDS in der Zivilgesellschaft Da neoliberale Umgestaltung ein gesamt-gesellschaftliches Projekt ist, muss die Au-seinandersetzung mit dieser Politik ebenso breit aufgestellt sein. Dazu bietet sich für uns vor allem die Arbeit in Bündnissen wie Dresden Nazifrei, Castor Schottern, Bildungsstreik oder Wir zahlen nicht für eure Krise an. Diese ermöglicht auch Ein-zelaktivistInnen das Mitwirken und führt unterschiedliche Organisationen zusam-men. Zu unseren PartnerInnen zählen beispielsweise die DGB-Gewerkschaften, die Interventionistische Linke, Attac und die Partei DIE LINKE.Unser Ziel ist es, Menschen zu politisieren und sie zu ermutigen sich für ihre Interes-sen einzusetzen. In sozialen Bewegungen organisieren sich Menschen; hier entsteht Selbstbewusstsein und die Einsicht in politische und gesellschaftliche Zusam-menhänge.

Wie wir arbeiten Mit unserer Arbeit wollen wir viele Men-schen erreichen. Wir geben eine Zeitung mit dem Namen critica heraus, die einmal im Semester erscheint. Die Zeitung wird vor Ort auf dem Campus und in Stud-ierendenwohnheimen verteilt. Darüber hinaus verteilen wir Flyer und kleben Plakate oder Aufkleber. Wir unterstützen soziale Bewegungen und versuchen sie mit unserer politische Erfahrung zu bereichern. So haben wir beispielsweise ein Bildungsstreik-Handbuch heraus-gegeben, vor Ort Streikbündnisse mit aufgebaut und im bundesweiten Bündnis aktiv mitgearbeitet. Die Abschaffung der Studiengebühren in vielen Ländern bildet den Erfolg dieser Bewegung ab! Ferner

greifen wir gezielt aktuelle Themen auf. In den Jahren 2010 und 2011 haben wir eine Kampagne gegen antimuslimischen Rassismus durchgeführt. Kulturalisierter Rassismus im Gewand von vermeintlicher Islamkritik durch zahlreiche Pro-Bewe-gungen, aber auch Teile der gesellschaftli-chen Elite wie Thilo Sarrazin mussten als solcher enttarnt und dem inhaltlich etwas entgegengesetzt werden.Die theoretische Auseinandersetzung mit verscheidenen Themen findet vor allem in unseren Arbeitskreisen statt sowie auf unserer jährlichen Herbstakademie. Hier können sich viele Menschen über mehrere Tage hinweg weiterbilden mit Literaturworkshops, Vorträgen und Podi-umsdiskussionen. Darüber hinaus finden regelmäßig thematische Fortbildungssem-inare des Fördererkreises demokratischer Volks- und Hochschulbildung statt, beispielsweise über revolutionäre Realpo-litik, Feminismus, Ökologie oder kritische Wissenschaft. Auch im Mitgliedermagazin des SDS werden durch Artikel, die unsere Mitglieder selbst schreiben, inhaltliche Debatten geführt.Wir versuchen Selbstbeschäftigung und politisches Engagement, Theorie und Praxis in ein gutes Verhältnis zu brin-gen. Die Linke.SDS ist ein wachsender Verband, der mit jedem neuen Mitglied neue Ansichten gewinnt. Unsere Gruppen sind offen für InteressentInnen und auch unsere Arbeitskreise freuen sich über alle Neuzugänge.

Für weitere Infos kontaktiere uns oder besuche einfach deine lokale Gruppe! Wer deine AnsprechpartnerInnen sind, erfährst du auf unserer Homepage www.linke-sds.org oder bei unseren bei-den GruppenbetreuerInnen.