Howard Phillips Lovecraft NECRONOMICON

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Howard Phillips Lovecraft NECRONOMICON Horrorgeschichten Aus dem Amerikanischen von A. F. Fischer

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Howard Phillips Lovecraft

NECRONOMICONHorrorgeschichten

Aus dem Amerikanischen von A. F. Fischer

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1. Auflage November 2007Originalausgabe

© dieser Ausgabe 2007 by Festa Verlag, LeipzigDruck und Bindung: CPI Moravia Books s.r.o., Pohorelice

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-86552-063-0

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INHALT

STADT OHNE NAMENSeite 7

DAS FESTSeite 25

DAS GEMIEDENE HAUSSeite 39

IN DEN MAUERN VON ERYXSeite 77

GEFANGEN BEI DEN PHARAONENSeite 117

BERGE DES WAHNSINNSSeite 155

GESCHICHTE DES NECRONOMICONSSeite 299

KATZEN UND HUNDESeite 303

FÜR KLARKASH-TON, HERR VON AVEROIGNESeite 326

HAZEL HEALD: IN MEMORIAMSeite 329

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STADT OHNE NAMEN

Als ich mich der Stadt ohne Namen näherte, wusste ich, dasssie verflucht ist. Ich reiste im Mondschein durch ein ausge-dörrtes und grässliches Tal, und in der Ferne sah ich die Stadtschaurig aus den Dünen ragen, so, wie Leichenteile aus einemhastig geschaufelten Grab ragen mögen. Die zeitzerfressenenSteine dieser altersbleichen Überlebenden der Sintflut, dieserUr-Urahnin der ältesten der Pyramiden, verhießen Furcht –und eine unsichtbare Aura stieß mich ab und gebot mir, vordiesen uralten und unheildrohenden Geheimnissen zu fliehen,die kein Mensch je erschauen sollte, und die auch kein Menschaußer mir jemals zu erschauen wagte.

Tief im Inneren der Arabischen Wüste liegt die Stadt ohneNamen, verfallen und stumm, ihre niedrigen Mauern beinahversunken im Sand nie gezählter Zeitalter. So muss es bereitsgewesen sein, ehe der Grundstein zu Memphis gelegt wurde,und als die Ziegel Babylons noch nicht gebrannt waren. KeineLegende ist alt genug, um ihr einen Namen zu geben oder eineErinnerung daran zu wahren, dass jemals Leben in ihr herrsch-te; doch wird an Lagerfeuern über sie geflüstert und vongreisen Frauen in den Zelten der Scheichs über sie geraunt,sodass sämtliche Stämme sie meiden, ohne genau zu wissen,weshalb. Dieser Ort war es, von dem Abdul Alhazred, derwahnsinnige Dichter, in den Nächten träumte, ehe er seinenrätselvollen Zweizeiler sang:

Es ist nicht tot, was ewig liegt,Und in fremder Zeit wird selbst der Tod besiegt.

Ich hätte wissen müssen, dass die Araber guten Grund hatten,diesen Ort zu meiden, jene Stadt ohne Namen, von der seltsame

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Geschichten erzählt werden, die aber noch nie ein lebenderMensch gesehen hat, und dennoch setzte ich mich darüberhinweg und zog mit meinem Kamel in die unbetretene Ödehinaus. Nur ich allein habe sie gesehen, und deshalb ist keinanderes Gesicht so abscheulich von Angst gezeichnet wie dasmeine; deshalb zittert kein anderer Mensch so erbärmlich wieich, wenn der Nachtwind an den Fensterläden rüttelt. Als ichsie in der schrecklichen Stille endlosen Schlafes erreichte, sahsie mir kühl unter den Strahlen eines kalten Mondes inmittender Wüstenhitze entgegen. Und als ich ihren Blick erwiderte,vergaß ich meinen Triumph über ihre Entdeckung und stiegvon meinem Kamel ab, um auf die Morgendämmerung zuwarten.

Ich harrte Stunden aus, bis sich der Osten endlich grau färbteund die Sterne verblassten, und das Grau zu einem zartrotenLeuchten wurde, umsäumt von Gold. Ich hörte ein Seufzen undsah, wie ein Sandsturm zwischen den uralten Steinen aufstieg,wenngleich der Himmel klar war und der endlose Wüstenraumruhig. Dann erhob sich unvermittelt der grelle Rand der Sonneüber dem fernen Horizont der Wüste, flirrend hinter demkleinen, davonziehenden Sandsturm, und in meinem fiebrigenZustand glaubte ich, aus irgendeiner unendlichen Tiefe eineMusik metallener Instrumente heraufschallen zu hören, umdie glühende Scheibe zu grüßen, so wie Memnon sie von denUfern des Nils aus begrüßt. Meine Ohren hallten und meineFantasie stand in Flammen, als ich mein Kamel langsam überden Sand zu dem schweigenden Ort führte; jener Stätte, dievon allen lebenden Menschen nur ich allein erblickte.

Ziellos wanderte ich inmitten der formlosen Grundmauernvon Häusern und Plätzen umher, ohne auf ein einziges in Steingemeißeltes Zeugnis oder eine Inschrift zu stoßen, die von denMenschen kündete, die diese Stadt vor so langer Zeit erbautund bewohnt hatten – falls es denn Menschen waren. Dassagenhafte Alter des Ortes war unerträglich, und ich sehntemich danach, ein Schriftzeichen oder ein künstlerisches Werkzu finden, die bewiesen, dass diese Stadt tatsächlich von

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Menschenhand erbaut worden war, denn die Ruinen wiesen ge-wisse Größenverhältnisse und Ausmaße auf, die mir nicht behagten.

Ich trug eine Menge an Gerätschaften mit mir und führtezahlreiche Ausgrabungen in den verwitterten Bauten durch;doch kam ich nur langsam voran und entdeckte nichts vonBelang. Als die Nacht und der Mond wiederkehrten, setzte einkalter Wind ein, der neue Furcht mit sich brachte, sodass ich esnicht wagte, noch länger in der Stadt zu bleiben. Als ich diealten Mauern verließ, um mich schlafen zu legen, entstandhinter mir ein kleiner, seufzender Sandsturm und fegte überdie grauen Steine, obwohl der Mond hell leuchtete und überder Wüste ansonsten alles ruhig lag.

Genau bei Tagesanbruch erwachte ich aus einer Abfolgeschrecklicher Träume und meine Ohren dröhnten wie vondem Schall metallischer Instrumente. Ich sah die Sonne rötlichdurch die letzten Verwehungen eines kleinen Sandsturmsäugen, der über der Stadt ohne Namen hing, während dieübrige Landschaft völlig ruhig schien. Abermals wagte ich michzwischen die brütenden Ruinen, die sich unter den Dünenabhoben wie ein Zyklop unter einem Tuch, und grub wieder-um vergebens nach den Überresten einer verschollenen Rasse.Gegen Mittag legte ich eine Rast ein und am Nachmittagverbrachte ich viel Zeit damit, den Mauern und den ehema-ligen Straßen und den Umrissen der fast entschwundenenGebäude nachzuspüren. Ich erkannte, dass die Stadt in der Tateinst gewaltige Dimensionen aufgewiesen hatte, und fragtemich, woher diese Größe gerührt haben mochte. Ich malte mirdie ganze Pracht einer Epoche aus, die so lange zurücklag, dassdie Chaldäer sich ihrer nicht entsannen, und dachte an die StadtSarnath, die Verdammte, die sich im Lande Mnar erhoben hatte,als die Menschheit noch jung war, und an Ib, die aus grauemStein gehauen worden war, bevor das Menschengeschlechterstand.

Ganz unverhofft stieß ich auf eine Stelle, wo das Grundgesteindurch den Sand brach und einen niederen Felshang bildete;und hier traf mein Blick erfreut auf etwas, das weitere Spuren

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jener vorsintflutlichen Rasse verhieß. Grob in die Vorderflankedes Felsens hineingehauen, boten sich unverkennbar Fassadendiverser kleiner, niedriger Felsenhäuser oder Tempel dar. IhreInnenräume mochten womöglich mannigfache Geheimnisseaus Zeitaltern bewahrt haben, die so weit zurücklagen, dass siesich jeder Datierung entzogen, obgleich Sandstürme längstschon alle Bildhauerarbeiten, die vielleicht einst die Außen-wände bedeckten, getilgt hatten.

Die vielen dunklen Öffnungen in meiner Nähe waren allesehr niedrig und vom Sand verstopft, doch ich schaufelte einedavon mit dem Spaten frei und kroch hindurch, in der Fausteine Fackel, um jedwedes Geheimnis zu erhellen, das sich hiermöglicherweise verbarg. Sobald ich ins Innere vorgedrungenwar, erkannte ich, dass die Höhle wirklich einen Tempeldarstellte und deutliche Spuren jener Rasse aufwies, die hiergelebt und ihre Riten vollzogen hatte, ehe die Wüste eineWüste ward. Primitive Altäre, Säulen und Nischen, alle sonder-bar niedrig angelegt, fehlten nicht; und obwohl ich keineSkulpturen und Fresken sah, gab es doch zahlreiche eigentüm-liche Steine, die mit künstlichen Mitteln zu symbolischenObjekten gestaltet worden waren.

Die geringe Höhe der ausgehauenen Kammer war überausbefremdlich, denn ich konnte kaum aufrecht knien, und dochwar ihre Ausdehnung so groß, dass meine Fackel immer nureinen Teil vor mir enthüllte. In einigen der entlegenerenWinkel überrann mich ein sonderbarer Schauder, denn mancheAltäre und Steine ließen an vergessene Riten furchtbarer,abstoßender und unerklärlicher Art denken und weckten dieÜberlegung in mir, welche Sorte Mensch einen solchen Tempelgeschaffen und benutzt haben könnte. Sobald ich alles gesehenhatte, was der Ort enthielt, kroch ich wieder nach draußen,begierig darauf, herauszufinden, was die übrigen Tempel wohlnoch preiszugeben hatten.

Die Nacht war jetzt nah, und doch vertrieben die greifbarenDinge, die ich gesehen hatte, die Furcht, und meine Neugiersiegte. Deshalb floh ich nicht vor den langen Schatten, die das

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Mondlicht warf und die mich mit Angst erfüllt hatten, als ich dieStadt ohne Namen zum ersten Mal erblickt hatte. Im Zwielichtschaufelte ich die nächste Öffnung frei, kroch mit einer frischenFackel hinein und fand weitere fragwürdige Steine und Sym-bole vor, jedoch nichts von größerer Aussagekraft als im erstenTempel. Der Innenraum war ebenso niedrig, aber viel schmaler,und er endete in einem winzigen Durchgang, der mit rätsel-haften und kryptischen Schreinen verstellt war. Ich schaute mirdiese Schreine gerade genauer an, als das Heulen des Windesund meines Kamels die Stille durchfuhren und mich hinaus-riefen, um zu ergründen, was das Tier so verängstigte.

Der Mond strahlte hell über den urtümlichen Ruinen undbeleuchtete eine dichte Sandwolke, die scheinbar von einemheftigen, aber abflauenden Wind aus irgendeiner Ecke derFelsflanke vor mir aufgewirbelt wurde. Ich wusste, dass es dieserkalte sandkörnige Wind war, der das Kamel aus der Ruhegebracht hatte, und wollte es gerade an eine besser geschützteStelle führen, als ich zufällig aufblickte und sah, dass oberhalbder Felszinnen gar kein Wind blies. Dies verblüffte mich undweckte neue Furcht in mir, doch sogleich entsann ich mich derplötzlich aufspringenden Winde an diesem Ort, die ich bereitsbei Sonnenaufgang und Sonnenuntergang gesehen undgehört hatte, und tat es als natürliche Erscheinung ab. Ich kamzu dem Schluss, dass der Wind aus dem Spalt irgendeinerFelshöhle dringen müsse, und beobachtete den tanzendenSand, um ihn zu seinem Ursprung zurückzuverfolgen; kurzdarauf erkannte ich, dass er der schwarzen Öffnung einesTempels weitab südlich von mir entwich, die aus meinerEntfernung schon fast nicht mehr zu sehen war.

Ich stemmte mich gegen die erstickende Sandwolke undstapfte auf diesen Tempel zu, der beim Näherkommen größeraufragte als die anderen und einen Eingang aufwies, der weitweniger mit verbackenem Sand gefüllt war. Ich wäre hineinge-stiegen, hätte nicht die fürchterliche Macht des eisigen Windesbeinahe meine Fackel zum Erlöschen gebracht. Er braustedämonisch aus der dunklen Pforte heraus und seufzte schaurig,

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als er den Sand verwehte und zwischen den unheimlichenRuinen verteilte. Bald wurde er schwächer und der Sand kammehr und mehr zur Ruhe, bis er sich schließlich wieder gelegthatte; doch etwas Beseeltes schien zwischen den geisterhaftenSteinen der Stadt umzugehen, und als ich den Mond ansah,schien er zu zittern, als spiegelte er sich in bewegten Wassern.Ich empfand mehr Furcht als ich in Worte fassen kann, dochnicht genug, dass es mein Verlangen gedämpft hätte, in denGenuss des Entdeckens zu kommen; und kaum war der Windrestlos erstorben, überschritt ich die Schwelle zu jener dunklenKammer, aus der er gedrungen war.

Wie ich schon von außen vermutet hatte, war dieser Tempelgrößer als die beiden, die ich bereits besucht hatte; und er warvermutlich eine von der Natur geschaffene Höhle, da er Windeaus unterweltlichen Gefilden gebar. Hier in seinem Innernkonnte ich bequem aufrecht stehen, doch wie ich erkannte,waren die Steine und Altäre ebenso niedrig wie die in denanderen Tempeln. An den Wänden und der Decke gewahrteich erstmals einige Spuren der Malkunst der alten Rasse, eigen-tümlich gekrümmte Farbstriche, die nahezu verblichen oderabgeblättert waren; und an zweien der Altäre erblickte ich mitwachsender Erregung eine Reihe kunstvoll ausgeführter,krummliniger Steinmeißelungen. Als ich meine Fackel hob, kames mir vor, als sei die Form der Höhlendecke zu ebenmäßig, umnatürlichen Ursprungs zu sein, und ich fragte mich, was dieprähistorischen Steinmetze wohl zuerst bearbeitet hatten. Ihretechnischen Fähigkeiten mussten immens gewesen sein.

Dann enthüllte mir ein helles Aufflackern der unwirklichenFlamme das, wonach ich gesucht hatte: eine Öffnung zu jenenentlegenen Abgründen, aus denen der plötzliche Wind hervor-gebraust war. Mir wurde schwach, als ich erkannte, dass es sichum eine kleine und fraglos künstlich angelegte Pforte handelte,die in den natürlichen Fels gehauen war.

Ich schob meine Fackel hindurch und erblickte einen schwar-zen Tunnel, dessen Decke sich niedrig über einer unebenenFlucht winziger, zahlreicher und abschüssiger Stufen wölbte.

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Ich werde diese Stufen auf ewig in meinen Träumen sehen, dennich erfuhr bald, was sie bedeuteten. In jenem Augenblick wussteich kaum, ob ich sie als Stufen oder als bloße Felssprossenbezeichnen sollte, die da steil hinabführten. Mein Hirn schwirr-te vor wahnwitzigen Gedanken, und die Worte und Warnungenarabischer Seher schienen über die Wüste hinweg aus denLändern, die der Mensch kennt, bis hin zur Stadt ohne Namen,die kein Mensch zu kennen wagt, zu dringen. Dennoch zögerteich nur einen Moment lang, bevor ich durch das Portal vordrangund vorsichtig den steilen Schacht hinabzuklettern begann,rücklings und mit den Füßen voran, wie auf einer Leiter.

Allenfalls in den furchtbaren Trugbildern des Drogenrauschsoder Fieberwahns vermag irgendein Mensch, einen solchenAbstieg zu erleben wie ich. Der enge Schacht führte endloshinab wie ein beängstigender, verhexter Brunnen, und dieFackel, die ich über den Kopf hielt, erhellte kaum die unbe-kannten Tiefen, denen ich entgegenkroch. Ich verlor jedesZeitgefühl und vergaß, auf meine Uhr zu sehen, obwohl ichAngst verspürte, wenn ich an die Strecke dachte, die ichvermutlich zurücklegte. Richtung und Gefälle meines Abstiegsvariierten; und einmal gelangte ich an einen langen, niedrigen,waagerechten Stollen, über dessen felsigen Untergrund ichmich bäuchlings schlängeln musste, mit den Füßen voran unddie Fackel auf Armeslänge hinter den Kopf haltend. Die Höhereichte nicht aus, um auch nur zu knien. Danach folgtenweitere steile Stufen, und ich krabbelte noch immer endlosnach unten, als meine glimmende Fackel erlosch. Ich glaube,ich bemerkte es zunächst gar nicht, denn als es mir auffiel, hieltich die Fackel nach wie vor über mich, so als brenne sie immernoch. Offenbar war ich arg aus dem seelischen Lot gebrachtdurch meinen Drang zum Außergewöhnlichen und Unbe-kannten, der mich durch die Welt wandern ließ als Jäger ferner,alter, verbotener Stätten.

Im Dunkeln blitzten vor meinem inneren Auge Bruchstückemeines gehüteten Wissens dämonischer Gelehrtheit auf; Zitatevon Alhazred, dem wahnsinnigen Araber, Absätze aus den

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apokryphen Albträumen des Damascius und ruchlose Zeilenaus dem fiebergeborenen Image du Monde von Gauthier de Metz.Ich sagte sonderbare Auszüge auf und wisperte von Afrasiabund den Dämonen, die mit ihm den Oxus hinabtrieben; spätersang ich wieder und wieder einen Satz aus einer der Erzählun-gen Lord Dunsanys vor mich hin – »Die echoleere Schwärze desOrkus«. Einmal, als der Abstieg aberwitzig steil wurde, leierteich etwas aus Thomas Moores Dichtungen herunter, bis dieFurcht mich abhielt, noch mehr davon wiederzugeben:

Ein Pfuhl voll Finsternis, tiefschwarzAls sei’s ein Tiegel, darin Gifte kochenAus Blumen, im Mondlicht von Hexen gebrochen.Ins Dunkel spähend, ob ich fändeDen Weg hinab, bohrte mein BlickSich in den Schlund und fiel direktAuf steile, glitschig glatte WändeWelche mit zähem Schleim bedeckt,Pechfinster, wie auch jener SchlickDer an des Totenozeans Ufern leckt.

Zeit besaß keine Bedeutung mehr für mich, als meine Füßewieder ebenen Boden erspürten und ich mich an einem Ortbefand, der nur wenig höher war als die Räume in den beidenkleineren Tempeln, die nun so unermesslich weit über mirlagen. Stehen konnte ich nicht, aber doch aufrecht knien, undin der Finsternis rutschte und kroch ich aufs Geratewohl malhier-, mal dorthin. Bald wurde mir klar, dass ich mich in einemengen Gang befand, an dessen Wänden sich Holzkästen reihten,die mit Glasfronten versehen waren. Dass ich an diesem paläo-zoischen und unterweltlichen Ort Dinge wie poliertes Holz undGlas ertastete, ließ mich erschaudern angesichts der Andeu-tungen, die darin lagen. Die Kästen standen anscheinend inregelmäßigen Abständen entlang der beiden Seitenwände desGangs, und sie waren länglich gebaut und waagerecht gelagert,wodurch sie nach Form und Größe schauderhaft an Särge

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gemahnten. Als ich zwecks weiterer Untersuchungen probierte,zwei oder drei davon zu verrücken, bemerkte ich, dass sie festverankert waren.

Wie ich erkannte, besaß der Gang eine beträchtliche Länge,und ich kroch auf allen Vieren in geducktem Lauf voran, wasgrauenvoll gewirkt hätte, wäre es in der Schwärze beobachtetworden; dabei wechselte ich ab und an von einer Seite zur ande-ren, um meine Umgebung zu ertasten und mich zu vergewissern,dass die Wände und Kastenreihen sich weiter dahinzogen. DerMensch ist das visuelle Denken so sehr gewöhnt, dass ich dieFinsternis fast vergaß und mir den endlosen Korridor aus Holzund Glas in seiner niedrigen Einförmigkeit so lebhaft vorstellte,als könnten meine Augen ihn sehen. Und dann, in einemAugenblick unbeschreiblicher Erregung, sah ich ihn wirklich.

Wann genau meine Vorstellung zu realem Sehen wurde, kannich nicht sagen; doch von vorne wuchs allmählich ein Glühenheran, und mit einem Mal erkannte ich, dass ich die düsterenUmrisse des Korridors und der Kästen erblickte, enthüllt vonirgendeiner unbekannten unterirdischen Phosphoreszenz.Eine kurze Weile lang sah alles genau so aus, wie ich es mirausgemalt hatte, denn das Glühen war sehr schwach; doch alsich unwillkürlich weiter voran auf das stärkere Licht zurobbte,wurde mir klar, dass meine Vorstellung nur sehr ungenau ge-wesen war. Diese Halle war kein rudimentäres Relikt wie dieTempel der Stadt weit über mir, sondern ein Monument dergroßartigsten und exotischsten Kunst. Üppige, lebendige undkühn-fantastische Ornamente und Bildnisse ergaben einegeschlossene Anordnung von Wandmalereien, deren Linienund Farben nicht zu beschreiben sind. Die Gehäuse der Kästenbestanden aus einem sonderbaren goldfarbenen Holz, ihreVorderseiten hingegen aus erlesenem Glas, und sie enthieltendie mumifizierten Hüllen von Lebewesen, deren Groteskheitdie aberwitzigsten Träume der Menschen überboten.

Irgendeine Vorstellung von diesen Monstrositäten zu vermit-teln ist unmöglich. Sie gehörten der reptilischen Gattung an,wobei ihre Körperformen zuweilen an ein Krokodil, dann

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wieder an einen Seehund erinnerten, häufiger jedoch annichts, wovon der Zoologe wie auch der Paläontologe jemals ge-hört haben. Ihre Größe reichte an die eines kleinen Menschenheran und ihre Vorderbeine liefen in zartgliedrige und offen-kundige Füße aus, die menschlichen Händen und Fingerneigentümlich ähnelten. Doch am sonderbarsten von allemwaren ihre Köpfe, die eine Form aufwiesen, die sämtlichenbekannten biologischen Prinzipien Hohn sprach. Nichts lässtsich etwas Derartigem passend gegenüberstellen – blitzartigschossen mir so verschiedenartige Vergleiche wie zur Katze, zurBulldogge, zum sagenhaften Satyr und zum Menschen durchden Sinn. Sogar Jupiter selbst besaß keine solch mächtige, vor-springende Stirn, zugleich jedoch verwiesen die Hörner, diefehlenden Nasen und die alligatorartigen Kiefer diese Orga-nismen jenseits aller anerkannten Kategorien. Kurzfristigzweifelte ich an der Echtheit der Mumien und hegte fast denVerdacht, es handele sich um künstliche Götzenbilder; aberschon bald entschied ich, dass sie tatsächlich irgendeinerpaläogenen Spezies angehörten, die gelebt hatte, als die Stadtohne Namen noch bevölkert gewesen war. Um ihre Groteskheitzu krönen, waren die meisten von ihnen in prächtige Robenaus den kostbarsten Stoffen gehüllt und verschwenderisch mitSchmuck aus Gold, Juwelen und unbekannten glänzendenMetallen behangen.

Die Bedeutung dieser kriechenden Geschöpfe musste immensgewesen sein, denn sie spielten die Hauptrolle in den furiosenDarstellungen der Wand- und Deckenfresken. Mit unerreichtemKönnen hatte der Künstler sie in ihrer eigenen Welt gemalt, mitStädten und Gärten, die ihren Körpermaßen entsprechendangelegt waren; und ich konnte nicht umhin, zu vermuten,dass ihre in Bildern aufgezeichnete Geschichte allegorischaufzufassen sei und womöglich die Entwicklung jener Rassedarstellte, die ihnen huldigte. Diese Wesen, so sagte ich mir,waren für die Bewohner der Stadt ohne Namen etwa das, wasdie Wölfin für Rom war, oder was irgendein Totemtier füreinen Indianerstamm ist.

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Von dieser Sichtweise ausgehend, vermochte ich im Grobenein wunderbares Epos der Stadt ohne Namen nachzuvollziehen;die Geschichte einer mächtigen Küstenmetropole, die über dieWelt herrschte, bevor Afrika aus den Wogen stieg, und ihresÜberlebenskampfs, als das Meer zurückwich und die Wüste sichin das fruchtbare Tal ausbreitete, das die Stadt umschloss. Ichsah ihre Kriege und Siege, ihre Aufstände und Niederlagen,und schließlich ihren furchtbaren Kampf gegen die Wüste, alsTausende ihrer Bewohner – hier allegorisch verkörpert von dengrotesken Reptilwesen – gezwungen waren, sich auf wunderbareWeise ihren Weg durch den Fels hinabzuwühlen in eine andereWelt, von der ihre Propheten ihnen geweissagt hatten. All daswar eindrucksvoll unheimlich und realistisch, und die Ähnlich-keit mit dem grauenvollen Abstieg, den ich bewältigt hatte, warunübersehbar. Ich erkannte sogar einzelne Gänge wieder.

Als ich durch den Korridor weiter dem helleren Licht entge-genkroch, sah ich die späteren Stadien des gemalten Epos – dasAbschiednehmen der Rasse, die die Stadt ohne Namen und dassie umgebende Tal mehr als zehn Millionen Jahre langbewohnt hatte; der Rasse, deren Seelen nicht scheiden wolltenvon den Schauplätzen, an denen ihre Körper so lange verweilthatten, wo sie, als die Erde noch jung war, als Nomaden sesshaftgeworden waren und jene urtümlichen Schreine in den jung-fräulichen Fels schlugen, die anzubeten sie nie aufhörten.

Nun, im besseren Licht, betrachtete ich die Bilder genauer,und eingedenk dessen, dass die seltsamen Reptilien stellvertre-tend für die unbekannten Menschen stehen mussten, grübelteich über die Bräuche der Stadt ohne Namen. Viele Dingewaren außergewöhnlich und unerklärlich. Die Zivilisation, dieüber eine Schriftsprache verfügte, hatte offenbar eine höhereStufe erklommen als jene unermesslich jüngeren Kulturen derÄgypter und Chaldäer, und doch gab es sonderbare Lücken.Zum Beispiel konnte ich keinerlei Darstellungen über den Tododer über Bestattungsbräuche finden, außer solchen, die mitKrieg, Gewalt oder Seuchen zusammenhingen; und ich wun-derte mich über die Scheu, die sie vor Abbildungen mit Bezug

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auf den natürlichen Tod zeigten. Es war, als habe man einUnsterblichkeitsideal als eine schöne Illusion gepflegt.

Noch näher am Ende des Ganges waren Szenen von äußersterPittoreskheit und Übertreibung an die Wände gepinselt;gegensätzliche Ansichten der Stadt ohne Namen: einerseits inihrer Verlassenheit und ihrem Verfall, andererseits als dasfremdartige neue Paradies, zu dem hinab die Rasse sich ihrenWeg durch den Stein gehämmert hatte. In diesen Ansichtenwaren die Stadt und das Wüstental stets bei Mondlicht abgebil-det, ein goldener Schein schwebte über den eingefallenenMauern und entschleierte nur halb ihre herrliche Vollkommen-heit in früheren Zeiten, vom Künstler geisterhaft und vage insBild gesetzt. Diese paradiesischen Szenen – sie zeigten eineverborgene Welt ewig währenden Tages voller herrlicher Städteund überirdischer Hügel und Täler – waren fast zu überzogen,um glaubwürdig zu sein.

Ganz zum Schluss vermeinte ich Anzeichen eines künstleri-schen Rückschritts auszumachen. Die Malereien waren wenigerkunstfertig und weitaus bizarrer als sogar die abenteuerlichstender früheren Szenen. Sie schienen einen langsamen Nieder-gang des alten Geschlechtes widerzuspiegeln, gepaart mit einerzunehmenden Grausamkeit gegenüber der Außenwelt, aus derdie Wüste es verdrängt hatte. Die Gestalten der Menschen – stetsstellvertretend verkörpert von den heiligen Reptilien – schienenschleichend zu verkümmern, obwohl ihr Geist, der im Monden-schein über den Ruinen schwebte, im gleichen Verhältnis anGröße gewann. Abgezehrte Priester, dargestellt als Reptilwesenin reich verzierten Roben, verfluchten die Luft der Oberweltund alle, die sie atmeten; und eine schreckliche Abschlussszenezeigte einen primitiv aussehenden Mann, vielleicht einenPionier des vorzeitlichen Irem, der Stadt der Säulen, wie er vonAngehörigen der älteren Rasse in Stücke gerissen wird. Ichweiß, wie sehr die Araber die Stadt ohne Namen fürchten, undwar froh, dass die grauen Wände und die Decke nach dieserStelle unbemalt waren.

Während ich den Prunk dieser geschichtlichen Wandgemälde

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betrachtete, näherte ich mich dem Ende der niedrigen Halleund gewahrte ein Tor, durch das all die phosphoreszierendeHelligkeit hereinströmte. Als ich zu ihm emporkroch, entfuhrmir ein Ausruf höchsten Staunens angesichts dessen, wasdahinter lag – denn statt weiterer und hellerer Räume dehntesich dort eine endlose Leere gleichförmigen strahlendenGlanzes, wie man es vielleicht sieht, wenn man vom Gipfel desMount Everest auf ein Meer sonnenbestrahlten Nebels hin-abblickt. Hinter mir befand sich ein Gang, der so niedrig war,dass ich darin nicht einmal aufrecht stehen konnte, und vor mirerstreckte sich eine Unendlichkeit unterirdischen Leuchtens.

Vom Gang führte eine steile Treppe in den Abgrund hinab –kleine zahlreiche Stufen, wie in den dunklen Schlünden, die ichdurchwandert hatte –, doch schon nach wenigen Metern wurdealles von den leuchtenden Schwaden verhüllt. An der linkenWand des Ganges lehnte weit aufgestoßen eine Tür aus massi-vem Messing, unglaublich dick und verziert mit fantastischenBasreliefs, die, falls man sie schloss, die gesamte unterirdischeWelt aus Licht von den Gewölben und Felsgängen abschneidenkonnte. Ich schaute zu den Stufen, wagte es aber nicht, sie zubetreten, und berührte die offen stehende Messingtür, vermoch-te jedoch nicht sie zu bewegen. Dann sank ich ausgestreckt aufden Steinboden nieder, mein Verstand entflammt von einzig-artigen Überlegungen, die selbst meine todesähnlicheErschöpfung nicht zu bannen vermochte.

Als ich ruhig mit geschlossenen Augen dalag, frei meinenGedanken nachhängend, drängten zahlreiche Dinge, die ichan den Fresken nur beiläufig bemerkt hatte, voll neuer undschrecklicher Bedeutung in mein Bewusstsein zurück – Szenen,die die Stadt ohne Namen in ihrer Glanzzeit zeigten, dieVegetation des umliegenden Tales und die fernen Länder, mitdenen ihre Kaufleute Handel trieben. Die Allegorie derkriechenden Wesen verwirrte mich in ihrer Hartnäckigkeit,und ich wunderte mich, dass sie in einer geschichtlichen Über-lieferung von solch enormer Bedeutung derart unbeirrtdurchgehalten wurde.

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Die Fresken hatten die Stadt ohne Namen in Größenverhält-nissen gezeigt, die zu den Reptilien passten. Ich fragte mich, wiegroß und prächtig ihre Bauten wirklich gewesen sein mochten,und verweilte in Gedanken einen Moment lang bei denSeltsamkeiten, die mir an den Ruinen aufgefallen waren. Sozerbrach ich mir den Kopf darüber, weshalb der urtümlicheTempel und der unterirdische Gang so niedrig waren. Zweifel-los waren sie aus Ehrerbietung gegenüber den reptilischenGottheiten, denen dort gehuldigt wurde, so aus dem Felsgeschlagen worden, obgleich dies die Huldiger notgedrungenzum Kriechen niederzwang. Vielleicht verlangten die Riten, diehier begangen wurden, ein Kriechen in Nachahmung derverehrten Geschöpfe. Keine religiöse Theorie hingegen ver-mochte zu erklären, warum die ebenen Gänge jenes furcht-baren Abstiegs ebenso niedrig sein mussten wie die Tempel –niedriger sogar, da man darin noch nicht einmal knien konnte.Als ich an die kriechenden Wesen dachte, deren schrecklichemumifizierte Körper mir so nahe waren, spürte ich erneut dasPochen der Angst. Gedankenverknüpfungen sind zuweilensonderbar, und ich schauderte angesichts der Vorstellung, dass– abgesehen von dem bedauernswerten primitiven Mann, derauf dem letzten Bild zerfleischt wurde – inmitten dieser zahllo-sen Relikte und Symbole uranfänglichen Lebens ich allein einemenschliche Gestalt besaß.

Doch wie bisher stets in meinem eigenartigen Wanderlebenvertrieb bald Neugier die Furcht; denn der leuchtendeAbgrund und was er enthalten mochte stellten ein Rätsel dar,würdig des größten Entdeckers. Dass am Ende jener langenAbwärtsflucht befremdlich kleiner Stufen eine unheimlicheWelt der Geheimnisse wartete, bezweifelte ich nicht und hofftedort unten jene menschlichen Spuren zu finden, die die Male-reien des Korridors vermissen ließen. Die Fresken hattenunglaubliche Städte und Täler dieser Unterwelt offenbart, undmeine Fantasie schwelgte in den gewaltigen und prächtigenRuinen, die auf mich warteten.

Meine Ängste galten eher der Vergangenheit als der Zukunft.

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Selbst der körperliche Schrecken meiner Lage in diesemklaustrophobischen Gang voller toter Reptilwesen und vorsint-flutlicher Fresken, Kilometer unterhalb der mir bekanntenWelt und eine weitere Welt schaurig leuchtenden Nebels ver-heißend, konnte es nicht mit der tödlichen Furcht aufnehmen,die ich vor dem abgrundtiefen Alter des Ortes und seiner Seeleempfand. Ein Alter, so unermesslich, dass Maßstäbe nichtsmehr galten, schien von den Steinen und Felsentempeln derStadt ohne Namen herabzuschielen, während die jüngsten derstaunenswerten Landkarten auf den Fresken Meere und Konti-nente zeigten, die der Mensch vergessen hat und die nur hieund da einen vage vertrauten Umriss aufwiesen. Was sich imLauf jener Erdalter ereignet haben mochte seitdem die Male-reien aufhörten und die den Tod verabscheuende Rasse sichunwillig dem Niedergang ergab, weiß kein Mensch. Einst hattendiese Höhlen und das darunter liegende lichterfüllte Reich vorLeben gewimmelt; nun jedoch war ich allein mit den viel-sagenden Relikten und ich zitterte beim Gedanken an dieungezählten Zeitalter, in deren Verlauf sie stumm und einsamWacht gehalten hatten.

Plötzlich überkam mich erneut jene heftige Angst, die michin Abständen immer wieder befallen hatte, seit ich das schreck-liche Tal und die Stadt ohne Namen im Licht des kaltenMondes zum ersten Mal gesehen hatte. Trotz meiner Erschöp-fung sprang ich wie gepeitscht in eine sitzende Haltung undstarrte durch den schwarzen Korridor zurück in Richtung derSchächte, die zur Außenwelt hinaufstrebten. Meine Empfin-dungen glichen denen, die mich die Stadt ohne Namen beiNacht hatten meiden lassen, und sie waren ebenso unerklärlichwie ausgeprägt.

Im nächsten Augenblick jedoch ereilte mich ein noch hefti-gerer Schock, und zwar in Form eines deutlichen Geräuschs –des ersten, das die vollkommene Stille dieser Grabestiefendurchbrach. Es handelte sich um ein tiefes, schwaches Stöhnen,wie von einer fernen Horde verdammter Seelen. Es rührte ausder Richtung, in die ich starrte. Die Lautstärke schwoll rapide

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an, bis es bald fürchterlich durch den niederen Gang wider-hallte, und zugleich bemerkte ich einen zunehmenden, kaltenLuftzug, der aus den Schächten und ebenso aus der Stadtherblies. Die Berührung dieser Luft schien mich wieder zurBesinnung zu bringen, denn augenblicklich erinnerte ich michan die Windstöße, die sich jedes Mal bei Sonnenuntergang undSonnenaufgang um die Mündung des Abgrundes erhobenhatten und von denen mir einer die verborgenen Schächteoffenbart hatte. Ich blickte auf die Uhr und erkannte, dass derSonnenaufgang bevorstand, also riss ich mich zusammen, umdem Sturmwind zu trotzen, der nun in seine Höhlenheimathinabfegte wie er am Abend zuvor daraus hervorgefegt war.Meine Furcht ließ wieder nach, da ein natürliches Phänomendazu neigt, Grübeleien über das Unbekannte zu vertreiben.

Immer und immer wahnsinniger regnete der kreischende,heulende Nachtwind in die Tiefen des Erdschoßes hinab. Ichlegte mich wieder flach auf den Boden und verkrallte michvergeblich in den Fels, aus Angst, mit Haut und Haar durchdas offene Tor in den phosphoreszierenden Schlund hinunter-gefegt zu werden. Eine solches Wüten hatte ich nicht erwartet,und als ich bemerkte, dass mein Körper wirklich auf denAbgrund zurutschte, befielen mich Tausende neue schrecklicheAhnungen.

Die Bösartigkeit des Sturmwinds weckte unnennbare Wahn-vorstellungen in mir; nicht zum ersten Mal verglich ich micherschaudernd mit dem Bildnis des einzigen Menschen in jenemgrässlichen Korridor, mit dem Mann, der von der namenlosenRasse in Stücke gerissen wurde, denn im teuflischen Zerren dertosenden Luftstrudel schien ein rachgieriger Zorn umso wüten-der zu walten, als er nahezu machtlos war. Ich glaube, zumSchluss schrie ich wie irrsinnig – ich verlor fast den Verstand –ins Heulen der Windgeister. Ich versuchte, gegen den mörde-rischen, unsichtbaren Luftstrom anzukriechen, doch konnteich mich noch nicht einmal auf der Stelle halten und wurdelangsam und unerbittlich in Richtung der unbekannten Weltgepresst. Schließlich muss ich völlig durchgedreht sein, denn

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ich faselte wieder und wieder jenen unergründlichen Zwei-zeiler des wahnsinnigen Arabers Abdul Alhazred, der von derStadt ohne Namen träumte:

Es ist nicht tot, was ewig liegt,Und in fremder Zeit wird selbst der Tod besiegt.

Nur die grimmen, brütenden Wüstengötter wissen, was wirk-lich geschah – wie unbeschreiblich ich mich in der Finsterniswehrte und mich wälzte und welcher Engel der Hölle mich insLeben zurückführte, sodass ich mich immer erinnern werdeund im Nachtwind schaudern muss, bis einmal das Vergessen –oder Schlimmeres – mich umfängt. Monströs, unnatürlich,gigantisch war die Begegnung – zu weit jenseits aller menschli-chen Begriffe, um geglaubt zu werden, außer in den verfluchtenfrühen Morgenstunden, wenn der Schlaf nicht kommt.

Ich sagte, dass die Wut des dahinfauchenden Sturms inferna-lisch war – kakodämonisch – und dass seine Stimmen grässlichwaren, voll der aufgestauten Rachgier trostloser Ewigkeiten.Plötzlich schienen diese Stimmen, die offenbar noch immerchaotisch klangen, in der Wahrnehmung meines hämmerndenHirns immer mehr sprachlichen Lauten zu ähneln; und tief imGrab ungezählter, seit Äonen versunkener Altertümer, klaftertiefunterhalb der morgendämmernden Menschenwelt, vernahmich das schaurige Geifern und Knurren fremdzüngiger Bestien.

Als ich mich umdrehte, sah ich klar abgezeichnet gegen denleuchtenden Dunst des Abgrunds, was vor dem düsterenHintergrund der Korridors nicht sichtbar gewesen war – eineAlbtraumhorde heranspringender Teufel; hassverzerrte, groteskherausgeputzte, halb durchsichtige Teufel einer Rasse, die keinMensch verwechseln kann – die kriechenden Reptilwesen derStadt ohne Namen.

Und als der Wind erstarb, wurden die Eingeweide der Erdeum mich herum in ghoulische Finsternis getaucht; denn hinterder letzten der Kreaturen schlug die mächtige Messingtür miteinem ohrenbetäubenden Donnern metallischer Musik zu und

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ihr schallendes Echo dröhnte hinaus in die ferne Welt, um dieaufgehende Morgensonne zu grüßen, so wie Memnon sie vonden Ufern des Nils aus begrüßt.

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DAS FEST

Efficut Daemones, ut quae non sunt, sic tamen quasi sint, conspicienda hominibus exhibeant.

– Lactantius

Fern weilte ich von zu Hause, und das Meer des Ostens hattemich in seinen Bann gezogen. In der Dämmerung hörte ich esgegen die Klippen branden und ich wusste, dass es unmittelbarhinter der Anhöhe lag, wo die krummen Weiden sich vor demklaren Himmel und den ersten Abendsternen bogen. Und weilmeine Ahnen mich zu der alten Stadt an der Meeresküstegerufen hatten, eilte ich durch den dünnen, frisch gefallenenSchnee auf der Straße voran, die einsam den Hügelkammerklomm, wo zwischen den Bäumen Aldebaran blinzelte; jeneruralten Stadt entgegen, die ich nie gesehen, doch von der ichso häufig geträumt hatte.

Es war die Zeit des Julfestes, das die Menschen Weihnachtennennen, wenngleich sie tief in ihren Herzen wissen, dass esälter ist als Bethlehem und Babylon, älter als Memphis und dieganze Menschheit. Es war die Zeit des Julfestes und ich warendlich in die alte Küstenstadt gekommen, wo die Meinen ehe-dem gelebt und das Fest begangen hatten, als das Fest verbotengewesen war; wo sie auch ihre Söhne bestimmt hatten, das Festeinmal in jedem Jahrhundert zu feiern, auf dass die Erinnerungan uralte Geheimnisse nicht in Vergessenheit gerate. MeineVorfahren waren ein altes Geschlecht, das bereits alt gewesenwar, als dieses Land vor dreihundert Jahren besiedelt wurde.Und sie waren wunderlich, denn sie waren als ein dunkler,verstohlener Menschenschlag aus berauschend duftendenOrchideengärten des Südens gekommen und hatten eine frem-de Sprache gesprochen, ehe sie die Sprache der blauäugigen

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Fischer erlernten. Und jetzt lebten sie weit versprengt undteilten nur noch die geheimnisvollen Riten miteinander, diekein Lebender zu verstehen vermag. Ich war der Einzige, derwährend jener Nacht in die alte Hafenstadt zurückkehrte, wiees die Legende gebot, denn nur die Armen und die Einsamenbewahren die Erinnerung.

Dann erblickte ich jenseits der Hügelkuppe Kingsport frost-kalt hingebreitet in der Dämmerung, das verschneite Kingsportmit seinen alten Wetterfahnen und Kirchturmspitzen, First-balken und Kaminkronen, Hafenmolen und schmalen Brücken,Trauerweiden und Friedhöfen; mit seinen endlosen Irrgärtenaus steilen, engen, krummen Gassen und seinem schwindel-erregend aus der Ortsmitte ragenden Kirchhügel, den die Zeitnicht anzutasten wagte; mit seinen unendlichen Labyrinthenaus Häusern der Kolonialzeit, die kreuz und quer, untereinanderund übereinander hingewürfelt schienen gleich den verstreutenBauklötzen eines Kindes; mit seiner Aura des Alters, die aufgrauen Schwingen über winterlich weißen Giebeln und Walm-dächern schwebte; mit seinen fächerförmigen Oberlichtenüber den Hauseingängen und den kleinformatigen Fenster-scheiben in den Häusermauern, die eins nach dem andern inden kalten Nachtbeginn hinausleuchteten, um sich Orion undden äonenalten Sternen beizugesellen. Und gegen diemorschen Molen brandete das Meer; das geheimnisvolle,unvordenkliche Meer, aus dem meine Ahnen in alter Zeitemporgestiegen sind.

Neben dem Scheitelpunkt der Straße ragte ein noch höhererBergzacken auf, trist und windumtost, und ich sah, dass es einTotenacker war, wo schwarze Grabsteine ghoulisch aus demSchnee stachen wie die verfaulten Fingernägel eines riesigenLeichnams. Die fährtenlose Straße war sehr einsam undzuweilen meinte ich, von fern das schreckliche Knarren einesGalgens im Wind zu vernehmen. Im Jahre 1692 waren viermeiner Ahnen wegen Hexerei gehängt worden, aber wo genau,das wusste ich nicht.

Sobald sich die Straße die meerwärts gelegene Hügelflanke

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hinabschlängelte, lauschte ich nach den fröhlichen Klänge einerabendlichen Gemeinde, doch ich hörte keine. Dann gedachteich der Jahreszeit und sagte mir, dass dieses alte Puritanervolksehr wohl Weihnachtsbräuche pflegen mochte, die mir fremdwaren, erfüllt von stummen Gebeten am heimischen Herd.Daher lauschte ich nicht länger nach Frohsinn und hielt keineAusschau nach Wanderern, sondern schritt weiter bergab,vorbei an den stumm erhellten Bauernhäusern und schattigenSteinmauern, an denen die Schilder altertümlicher Kauflädenund Fischerkneipen in der salzgetränkten Meeresbrise knarrtenund die grotesken Klopfer säulengeschmückter Hauseingängeim Lichtschein kleiner, verhängter Fenster aufglänzten, die diemenschenleeren, ungepflasterten Gassen beiderseits säumten.

Ich hatte Straßenpläne der Stadt gesehen und wusste, wo dasHaus meiner Angehörigen zu finden war. Man hatte mirversichert, dass man mich erkennen und willkommen heißenwürde, denn Dorflegenden sind zählebig. Daher eilte ichdurch die Back Street zum Circle Court und über den frischenSchnee auf dem einzigen durchgehenden Stück Straßen-pflaster des Ortes zur Einmündung der Green Lane hinter demMarket House. Die alten Stadtpläne stimmten noch und ichfand mich leicht zurecht; allerdings mussten sie in Arkhamgelogen haben mit ihrer Behauptung, die Straßenbahn fahrebis hierher, denn ich sah nicht eine einzige Oberleitung.Ohnehin wären die Schienen unter dem Schnee verborgengewesen. Ich war froh, mich für den Fußweg entschieden zuhaben, denn die schneeweiße Stadt hatte vom Bergrücken auseinen wunderschönen Anblick geboten; und nun konnte ich eskaum erwarten, an die Tür meiner Verwandten zu pochen, amsiebten Haus auf der linken Seite der Green Lane mit seinemaltertümlichen Spitzdach und vorspringenden zweiten Stock,samt und sonders noch vor 1650 erbaut.

Das Haus war von innen erhellt, als ich näher kam, und anden rautenförmig unterteilten Scheiben erkannte ich, dassman es fast in seinem urtümlichen Zustand belassen habenmusste. Der obere Teil überragte die schmale grasbewachsene

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Straße und berührte beinah das vorspringende Stockwerk desgegenüberliegenden Gebäudes, sodass ich mich geradezu ineinem Tunnel befand und die niedrige steinerne Türschwellevon Schnee völlig frei war. Einen Gehsteig gab es nicht, dochbesaßen viele Häuser hochgelegene Eingänge, die überDoppeltreppen mit Eisengeländern erreichbar waren. Es wareine eigentümliche Szenerie, und weil ich Neuengland nichtkannte, hatte ich dergleichen nie zuvor gesehen. Obschon esmir gefiel, wäre mir wohler dabei gewesen, hätte es Fußspurenim Schnee und Passanten in den Straßen gegeben und ein paarFenster ohne zugezogene Vorhänge.

Als ich den uralten eisernen Türklopfer benutzte, fürchteteich mich ein wenig. Eine unbestimmte Angst war in mir aufge-stiegen, vielleicht wegen meiner fremdartigen Abstammungund der Tristesse des Abends und der wunderlichen Stille indieser alten Stadt sonderbaren Brauchtums. Und als man aufmein Klopfen reagierte, fürchtete ich mich erst recht, denn ichhatte keinerlei Schritte gehört, ehe die Tür knarrend auf-schwang. Doch währte meine Furcht nicht lange, denn der alteMann, der in Schlafrock und Pantoffeln im Türrahmen stand,besaß ein gütiges Gesicht, das meine Befürchtungen besänftigte;und obwohl er mit Gesten zu verstehen gab, dass er stumm war,schrieb er mir doch mit Hilfe des Griffels und der Wachstafel,die er bei sich trug, einen geschraubten und altväterlichenWillkommensgruß auf.

Er winkte mich in einen niedrigen, von Kerzen erhelltenRaum mit mächtigen, freiliegenden Deckenbalken und wenigendunklen, strengen Möbeln aus dem siebzehnten Jahrhundert.Hier war die Vergangenheit lebendig, denn nicht ein Merkmalfehlte. Es gab einen grottenartigen Kamin und ein Spinnrad,an dem eine gebeugte alte Frau in einem weiten Überwurf undeiner tiefgezogenen Schutenhaube mit dem Rücken zu mir saßund trotz des Festtags stumm die Spindel schnurren ließ. Eineundefinierbare Feuchtigkeit schien im Hause zu herrschenund ich wunderte mich, dass im Kamin kein Feuer brannte. Diehochlehnige Zimmerbank stand gegenüber der Reihe verhäng-

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ter Fenster zur Linken und sie schien besetzt zu sein, dochsicher war ich mir dessen nicht. Mir gefiel nicht alles, was ichum mich herum sah, und wieder beschlich mich die Angst. Siewurde durch eben das verstärkt, was sie zuvor gemildert hatte,denn je länger ich das freundliche Gesicht des alten Mannesbetrachtete, desto mehr versetzte gerade diese Freundlichkeitmich in Schrecken. Die Augen bewegten sich nicht und dieHaut war allzu wächsern. Schließlich glaubte ich fest, dass esüberhaupt kein Gesicht war, sondern eine teuflisch schlaueMaske. Doch die schlaffen, seltsam behandschuhten Händeschrieben freundlich auf die Wachstafel und ließen michwissen, dass ich mich eine Zeit lang gedulden müsse, ehe ichzum Festplatz geführt werden könne.

Indem er auf einen Stuhl, einen Tisch und einen StapelBücher deutete, verließ der alte Mann jetzt das Zimmer; undals ich mich zum Lesen niedersetzte, sah ich, dass die Büchervon Alter grau und schimmlig waren und dass sich unter ihnendes alten Morryster gewagte Marvells of Science befanden, dasschreckliche Saducismus Triumphatus von Joseph Glanvil, veröf-fentlicht 1681, die schockierende Daemonolatreia des Remigius,gedruckt 1595 zu Lyon, und, schlimmer noch, das unnennbareNecronomicon des wahnsinnigen Arabers Abdul Alhazred inOlaus Wormius’ verbotener lateinischer Übersetzung; einWerk, das ich nie zuvor gesehen hatte, über das jedochmonströse Dinge geflüstert wurden.

Niemand redete mit mir, doch drang von draußen das Knar-ren von Schildern im Wind an mein Ohr und das Schnurrendes Spinnrades, während die alte Frau mit der Haube wortlosweiter spann und spann. Ich fand das Zimmer und die Bücherund die Leute höchst morbide und beunruhigend, doch weileine alte Überlieferung meiner Vorväter mich zu sonderbarenFestlichkeiten gerufen hatte, fügte ich mich der Erwartungwundersamer Dinge. Ich versuchte zu lesen und fand michbald furchtvoll von etwas in den Bann gezogen, auf das ich injenem fluchwürdigen Necronomicon stieß, ein Gedanke und eineLegende, zu grässlich für einen gesunden Verstand oder das

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Bewusstsein; und es wollte mir nicht behagen, als ich zu hörenglaubte, dass eines der Fenster geschlossen wurde, die derSitzbank gegenüberlagen, so als sei es zuvor heimlich geöffnetworden. Dem Anschein nach war dem Geräusch ein Schwirrenvorausgegangen, das nicht vom Spinnrad der alten Frauherrührte. Dies musste jedoch nicht viel bedeuten, denn dieAlte spann überaus emsig und soeben hatte die alte Pendeluhrgeschlagen.

Nun verließ mich das Gefühl, dass Leute auf der Bank saßen,und schaudernd vertiefte ich mich in meine Lektüre, als deralte Mann zurückkehrte, in Stiefeln und in ein weites altmo-disches Gewand gekleidet, und auf der Sitzbank Platz nahm,sodass ich ihn nicht mehr zu sehen vermochte. Es folgte einefraglos nervenzerrende Warterei, und das blasphemische Buchin meinen Händen verschlimmerte es noch. Als jedoch dieelfte Stunde schlug, stand der alte Mann auf, glitt zu einerwuchtigen beschnitzten Truhe in einer Ecke und entnahm ihrzwei Kapuzenumhänge; in einen schlüpfte er selbst, den ande-ren legte er der alten Frau um, die ihr monotones Spinneneingestellt hatte. Dann gingen beide zur Haustür; die alte Fraulahm dahinschlurfend und der alte Mann eben jenes Buchergreifend, worin ich gelesen hatte. Er winkte mir, ihnen zufolgen, und streifte die Kapuze über seine reglose Miene oderMaske.

Wir traten hinaus in das mondlose und verschlungeneGassennetz jener unvorstellbar alten Stadt; traten hinaus, alsdie Lichter hinter den verhängten Fenstern eins nach demandern erloschen und der Hundsstern auf das Gewühl derkuttenumwallten, kapuzenverhüllten Gestalten herabglotzte,die lautlos aus jedem Hauseingang strömten und in unge-heuren Prozessionen Straße um Straße hinaufzogen, vorbei anden knarrenden Schildern und vorsintflutlichen Giebeln, denstrohgedeckten Dächern und rautenförmigen Fensterschei-ben; sie schlängelten sich durch steile Gassen, wo baufälligeHäuser aneinanderlehnten und ineinandersanken, glittenüber offene Plätze und Kirchhöfe, und die schwankenden

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Laternen in ihren Händen reihten sich zu gespenstisch trun-kenen Spalieren.

Inmitten dieses schweigenden Gewimmels blieb ich hintermeinen stummen Führern; getrieben von Ellbogen, die wider-natürlich weich anmuteten, und bedrängt von Oberkörpernund Bäuchen, die unnatürlich schwammig erschienen; dochohne auch nur ein einziges Gesicht zu erblicken oder ein ein-ziges Wort zu vernehmen. Empor, empor, empor krochen diegespenstischen Kolonnen, und ich beobachtete, dass diePilgerschar zusammenrückte, als sie einer Art Knotenpunkt auswindschiefen Gassen entgegenströmte, die den Scheitel eineshohen Hügels im Stadtzentrum erklommen, auf dem eine großeweiße Kirche kauerte. Ich hatte sie von der Straßenkuppe ausgesehen, als ich im frühen Abendzwielicht auf Kingsporthinunterblickte, und ein Schauder durchrieselte mich, weileinen Augenblick lang Aldebaran den Anschein erweckte, alsbalancierte er auf der geisterhaften Kirchturmspitze.

Ein Freiraum umgab die Kirche; er war zum Teil ein Kirchhofmit gespenstischen Totensteinen, zum Teil ein halb gepflasterterPlatz, vom Wind beinahe schneefrei gefegt und gesäumt vonungesunden altertümlichen Häusern mit spitzen Dächern undüberhängenden Giebeln. Totenlichter tanzten auf den Gräbernund schufen schaurige Bilder, obwohl sie keinerlei Schattenwarfen. Jenseits des Kirchhofs, wo keine Häuser standen, konnteich über den Hügelrücken hinausblicken und das Funkeln derSterne im Hafenbecken betrachten, wenn auch die Stadt selbstunsichtbar in der Dunkelheit lag. Hie und da schwankte eineLaterne schaurig durch die gewundenen Gassen, um zur Mengeaufzuschließen, die jetzt wortlos in die Kirche schlüpfte. Ichwartete, bis sämtliche Gestalten durch das Portal geströmt undauch die Nachzügler in seinem schwarzen Schlund verschwun-den waren. Der alte Mann zog mich am Ärmel, aber ich war festentschlossen, als Letzter zu gehen.

Als ich über die Schwelle in den wimmelnden Tempelunerahnbarer Finsternis eintrat, wandte ich ein letztes Mal denKopf, um einen Blick auf die Außenwelt zu werfen, wo der

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Kirchhof im Flackerschein der Totenlichter ein kränklichesGlühen über das Pflaster der Hügelkuppe goss. Ich erschauder-te, denn obwohl der Wind nur wenig Schnee zurückgelassenhatte, waren ein paar Stellen auf dem Weg neben demKirchenportal liegen geblieben; und während jenes flüchtigenBlicks über die Schulter kam es meinen entgeisterten Augenvor, als wiesen die Schneeflecken keinerlei Fußspuren auf,selbst meine eigenen fehlten.

Das Kircheninnere war kaum erhellt von all den Laternen,die hereingefunden hatten, denn der größte Teil der Mengewar bereits verschwunden. Sie waren den Mittelgang zwischenden hohen Kirchenbänken zur Falltür der Grabgewölbe hinauf-geströmt, die direkt vor der Kanzel widerlich gähnend offenstand, und schlängelten sich nun lautlos hinein. Stumm folgteich ihnen über die ausgetretenen Stufen in die dunkle stickigeKrypta. Das Ende dieser dahinkriechenden Schlange vonNachtpilgern kam mir ganz entsetzlich vor, und als ich sah, dasssie in eine altehrwürdige Grabkammer hineinglitten, erschienensie noch furchtbarer.

Dann gewahrte ich, dass der Boden der Grabkammer eineÖffnung aufwies, durch die die Schar nun in die Tiefe zog, undim nächsten Augenblick stiegen wir alle einen beklemmendenTreppenschacht aus roh behauenen Steinen hinab; einenengen, gewendelten Treppenschacht, feucht und von einemunsäglichen Geruch erfüllt, der sich endlos in die Eingeweidedes Hügels hinabschraubte, durch immergleiche Wände austropfenden Steinquadern und bröckelndem Mörtel. Es war einstiller schockierender Abstieg und nach einer schrecklichenZeitspanne bemerkte ich, dass die Wände und Stufen ihreBeschaffenheit änderten, so, als seien sie aus dem gewachsenenFels geschlagen. Was mich am meisten besorgte, war, dass dieMyriaden von Schritten keinerlei Geräusche verursachten undkeinerlei Echos hervorriefen.

Nach weiteren Äonen des Abstiegs sah ich einige Seitengän-ge oder Tunnel aus unbekannten Kavernen der Finsternis indiesen Schacht nächtlicher Geheimnisse münden. Bald wurden

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es unglaublich viele, gleich gottlosen Katakomben namenloserBedrohungen; und ihr beißender Verwesungsgestank wurdenahezu unerträglich. Ich wusste, wir mussten quer durch denganzen Berg bis unter die Erde von Kingsport selbst hinabge-stiegen sein, und es jagte mir einen Schauder über denRücken, dass eine Stadt dermaßen alt sein konnte und maden-zerfressen vom bodenlos Bösen.

Dann sah ich ein geisterhaftes Glimmen fahlen Lichtes undhörte das tückische Platschen sonnenloser Wasser. Abermalsüberkroch mich ein Schauder, denn mir gefielen die Dingenicht, die die Nacht gebracht hatte, und ich wünschte bitterlich,keiner meiner Vorfahren hätte mich zu diesem uralten Ritualgerufen. Als die Stufen und der Schacht breiter wurden, ver-nahm ich ein neues Geräusch, das dünne, spöttische Winselneiner leisen Flöte; und plötzlich erstreckte sich vor meinenAugen das grenzenlose Panorama einer unterirdischen Welt –ein weites, pilzbefallenes Ufer, erhellt von einer speiendenSäule kränklich grünen Feuers und durchschwappt von einembreiten öligen Fluss, der aus furchtbaren und unerahntenAbgründen hervorquoll, um sich mit den schwärzesten Tiefeneines unvordenklichen Ozeans zu vermählen.

Einer Ohnmacht nahe und nach Luft ringend, blickte ich aufden unheiligen Erebus titanischer Giftpilze, leprösen Feuersund schleimigen Wassers, und sah zu, wie die kapuzenverhüllteMenge einen Halbkreis um die flammende Säule bildete. Eswar der Julbrauch, älter als der Mensch und bestimmt, ihn zuüberdauern; der uranfängliche Brauch der Sonnenwende undder Verheißung des Frühlings nach der Zeit des Schnees; derBrauch von Feuer und Immergrün, von Licht und Musik. Undin jener stygischen Grotte sah ich sie den Brauch begehen; sahsie zu der ungesunden Flammensäule beten; sah sie Hände vollder ausgerupften, klebrigen Vegetation ins Wasser werfen, dieim fahlen Feuerschein grünlich schimmerte.

Dies sah ich, und ich sah etwas konturlos Missgeformtes, dasweit vom Licht entfernt dahockte und ekelhaft auf einer Flöteblies; und während das Ding spielte, glaubte ich, gedämpftes

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widerliches Geflatter in der stinkenden Finsternis zu hören, inder ich nichts sehen konnte. Doch was mich am meisten inFurcht versetzte, war jene flammende Säule, die lavagleich ausabgründigen unlotbaren Tiefen heraufschoss und das salpetrigeGestein mit einem üblen giftigen Grünspan übergoss – dabeiwarf sie keine Schatten wie eine gesunde Flamme. In dieserganzen kochenden Feurigkeit lag auch keine Wärme, sonderneinzig und allein die Feuchtigkeit von Tod und Fäulnis.

Der Mann, der mich hergebracht hatte, drängte jetzt zu einerStelle unmittelbar neben der grässlichen Flamme und vollführtesteife zeremonielle Gesten vor dem Halbkreis, dem ergegenüberstand. Bestimmte Stadien des Rituals begleitete dieMenge mit unterwürfigen Huldigungen, besonders wenn erdas grauenerweckende Necronomicon über den Kopf hielt, daser mitgebracht hatte; und ich fiel in sämtliche der Huldigungenein, da ich schriftlich von meinen Ahnen zu diesem Festberufen worden war. Anschließend gab der alte Mann demschattenverhüllten Flötenspieler in der Dunkelheit ein Zeichen,woraufhin der Spieler sein schwaches Jaulen zu einem etwaslauteren Gejaule in einer tieferen Tonart steigerte. DiesesVorgehen beschwor ein unvorstellbares, ungeahntes Grauenherauf, das mich beinahe auf den moosbedeckten Bodensinken ließ, erstarrt in einer Furcht, die nicht von dieser Weltnoch von irgendeiner anderen kam, sondern einzig und alleinaus der verrückten Leere zwischen den Sternen.

Aus der unvorstellbaren Schwärze jenseits des brennendenStrahlens jener kalten Flamme, aus den Tartarusklüften, durchdie sich die öligen Fluten unheimlich, tonlos und unbeschreib-lich dahinwälzten, flatterte rhythmisch eine Horde zahmer,abgerichteter, schwingenschlagender Mischwesen heran, diekein gesundes Auge je gänzlich erfassen, kein gesundes Hirn jegänzlich erinnern könnte. Sie waren weder Krähen nochMaulwürfe, noch Bussarde, noch Insekten, noch Vampirfleder-mäuse oder verweste Menschenleiber; sondern etwas, das ichmir weder in Erinnerung rufen kann noch darf. Sie flattertenlahm einher, teils mittels ihrer Schwimmfüße und teils mittels

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ihrer häutigen Schwingen; und als sie die Menge der Zele-branten erreichten, hielten die kapuzenverhüllten Gestaltensie fest, saßen auf und ritten eine nach der anderen über jenemlichtlosen Flusslauf entlang, hinein in Schlünde und Durch-brüche des Grauens, wo giftige Quellen entsetzliche undunauffindbare Wasserfälle speisen.

Die alte Spinnerin war mit der Menge auf und davon, undauch der alte Mann blieb nur zurück, weil ich mich geweigerthatte, auf sein Winken hin eines der Tiere zu ergreifen undden andern nachzufliegen. Als ich mich wieder auf die Füßekämpfte, sah ich, dass der formlose Flötenbläser außer Sichtgekrochen war, dass aber noch immer zwei der Kreaturengeduldig auf uns warteten. Ich sträubte mich weiter, da zückteder alte Mann Griffel und Tafel und schrieb, dass er wirklichder ermächtigte Sendbote meiner Ahnen sei, welche die Jul-verehrung an diesem uralten Ort begründet hatten, dass meineRückkehr befohlen worden sei und dass die geheimsten derMysterien noch nicht vollzogen seien. Er schrieb dies in einerüberaus altertümlichen Handschrift, und als ich noch immerzögerte, brachte er aus seiner weiten Robe einen Siegelringund eine Uhr zum Vorschein, beide mit dem Wappen meinerFamilie geschmückt, um sich als derjenige auszuweisen, fürden er sich ausgab. Doch es war ein scheußlicher Beweis, dennich wusste aus alten Schriften, dass diese Uhr anno 1698 meinemUr-Ur-Ur-Urgroßvater mit ins Grab gelegt worden war.

Daraufhin strich der alte Mann seine Kapuze zurück unddeutete auf die Familienähnlichkeit in seinen Gesichtszügen,doch mich packte nur ein Schauder, denn ich hegte keinenZweifel, dass dieses Gesicht lediglich eine teuflische Wachs-maske war. Die flatternden Tiere scharrten jetzt ungeduldig aufdem bemoosten Boden und ich erkannte, dass der alte Mannfast ebenso ungeduldig war. Als eines der Viecher loswatschelteund Anstalten machte, sich davonzustehlen, fuhr er raschherum, um es aufzuhalten.

Doch durch die Plötzlichkeit der Bewegung verrutschte seineMaske – und legte das frei, was sein Kopf hätte sein sollen. Ich

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jedoch, da dieser entblößte Albtraum den Weg zum Treppen-schacht versperrte, über den wir herabgelangt waren, warfmich in den öligen Unterweltfluss, der auf unergründlichenPfaden den Grotten des Meeres entgegengurgelte; warf michin die ranzige Brühe unterirdischer Schrecken, bevor derWahnsinn meiner Schreie all die Leichenhaus-Legionen aufmich herabriefen, die in diesen Pesthöhlen lauern mochten.

Im Krankenhaus erzählte man mir, ich sei beim Morgen-grauen halb erfroren aus dem Hafen von Kingsport gefischtworden, an eine dahintreibende Spiere geklammert, die derZufall zu meiner Rettung gesandt hatte. Man erzählte mir, ichhätte am Abend zuvor die verkehrte Gabelung der Hügelstraßegenommen und sei bei Orange Point über die Klippengestürzt; eine Schlussfolgerung, die man aus im Schneegefundenen Fußspuren gezogen hatte.

Darauf wusste ich nichts zu erwidern, da einfach nichts mehrstimmte. Nichts stimmte überein mit den hohen, breiten Fen-stern, die den Blick auf ein Meer von Dächern gewährten, vondenen nur etwa jedes fünfte wirklich alt war, und mit dem Lärmder Straßenbahnen und der Motoren in den Straßen darunter.Meine Betreuer beharrten darauf, dass dies Kingsport sei, undich konnte es nicht abstreiten.

Als ich einen Nervenzusammenbruch erlitt, weil ich hörte,das Krankenhaus stehe in der Nähe des alten Friedhofs aufdem Central Hill, verlegte man mich ins St. Mary’s Hospitalvon Arkham, wo ein Fall wie der meine besser behandeltwerden konnte. Mir gefiel es dort, denn die Ärzte waren aufge-schlossen und ließen sogar ihren Einfluss spielen, um mir dassorgsam gehütete Exemplar von Alhazreds verfluchtem Necro-nomicon aus der Arkhamer Universitätsbibliothek auszuleihen.Sie sprachen von einer »Psychose« und stimmten mir zu, dasses besser sei, wenn ich mein Gehirn von jedweden quälendenZwangsvorstellungen befreite.

So las ich also jenes verabscheuenswerte Kapitel und ver-spürte einen doppelten Schauder, denn es war mir in der Tatnicht neu. Ich hatte es bereits gelesen, da mögen irgendwelche

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Fußspuren sonst was bekunden; doch wo ich es gelesen habe,soll lieber vergessen sein. Es gab niemanden, der mich inmeinen wachen Stunden daran erinnern konnte, doch meineTräume sind erfüllt von Schrecken, wegen der Sätze, die ichnicht zu zitieren wage. Ich wage nur einen einzigen Absatzwiederzugeben, den ich so gut ins Englische übertrage, wie iches aus dem holprigen Latein vermag.

»Die allertiefsten Höhlen«, schrieb der wahnsinnige Araber,»sind der Auslotung durch schauende Augen entrückt; dennihre Wunder sind befremdlich und furchtbar. Verflucht ist derBoden, wo tote Gedanken neuerlich Fleisch werden in groteskerGestalt, und verdorben der Geist, der keinen Kopf bewohnt.Weisheit spricht aus Ibn Schacabaos Wort, dass glücklich jenesGrab, in dem nie ein Zauberer geruht, und glücklich die Stadtbei Nacht, deren Zauberer allesamt Asche sind. Denn es heißtseit alters her, die Seele, die des Teufels Lohn, dürstet nimmernach der Lösung von dem Leib des Toten, sondern füttert undlehrt jenen einen Wurm, der nagt; denn die Fäulnis gebiert gräu-liches Leben, und die trägen Aasfresser des Erdreichs wachsentückisch, es zu quälen, und wuchern grässlich, es zu schinden.Gewaltige Löcher werden insgeheim gegraben, wo die Porender Erde genügen sollten, und Dinge haben zu gehen gelernt,denen zu kriechen gebührt.«

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DAS GEMIEDENE HAUS

I

Selbst das größte Grauen entbehrt selten der Ironie. Manchmalmischt sie sich unmittelbar in den Gang der Ereignisse,manchmal aber auch entspringt sie lediglich den Verbindun-gen, die zwischen Menschen und Orten geknüpft werden. AlsParadebeispiel für die letztere Spielart mag ein Fall aus deralten Stadt Providence dienen, wo in den späten vierziger Jahrendes neunzehnten Jahrhunderts Edgar Allan Poe während seinervergeblichen Werbung um die begabte Dichterin Mrs Whitmanhäufig Aufenthalt nahm. Für gewöhnlich stieg Poe im MansionHouse an der Benefit Street ab – dem früheren Golden BallInn, unter dessen Dach Washington, Jefferson und Lafayettegeweilt haben – und sein Lieblingsspaziergang führte überebendiese Straße in nördliche Richtung zu Mrs Whitmans Hausund dem benachbart am Hügel ruhenden St. John’s Friedhof,dessen versteckt gelegene Ansammlung von Grabsteinen ausdem achtzehnten Jahrhundert eine eigentümliche Anziehungs-kraft auf ihn ausübte.

Folgendes ist nun die Ironie dabei. Auf diesem Spazierweg,den er so oft zurücklegte, war der weltgrößte Meister desGrauenvollen und Bizarren genötigt, an einem bestimmtenHaus an der Ostseite der Straße vorüberzugehen; einem her-untergekommenen altertümlichen Bauwerk, das auf dem steilansteigenden Seitenhügel kauerte, mit einem weitläufigen unge-pflegten Hof aus Tagen, als diese Gegend zum Teil noch freiesFeld gewesen war. Es hat nicht den Anschein, als habe er jemalsdavon gesprochen oder darüber geschrieben, kein Anhaltspunktspricht dafür, dass er überhaupt davon Notiz nahm. Für diebeiden Menschen, die gewisse Informationen besitzen, erreicht

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oder überbietet dieses Haus an Grauenhaftigkeit dennoch diekühnsten Fantasien dieses Genies, das so häufig unwissentlichdaran vorbeispazierte – und düster lauernd steht es als einSinnbild all dessen, das unsagbar schrecklich ist.

Dem Haus haftete – und haftet übrigens noch immer – etwasan, das bei Neugierigen Interesse weckt. Ursprünglich ein Bau-ernhof oder ein teilweise landwirtschaftlich genutztes Gebäude,spiegelte es die durchschnittliche koloniale Architektur Neu-Englands aus der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wider –ein stattlicher Bau mit Spitzdach, zwei Stockwerken und gauben-loser Mansarde, mit dem georgianischen Hauseingang und derhölzernen Innentäfelung, die der geschmackliche Fortschrittjener Zeit verlangte. Es blickte mit einem Giebel nach Norden,wobei es bis zu den unteren Fenstern im östlich aufragendenHügel begraben war, während die andere Giebelseite frei biszum Fundament zur Straße hin lag. Man hatte es errichtet,nachdem die Straße in jener Gegend planiert und begradigtworden war, denn die Benefit Street – die zunächst noch BackStreet geheißen hatte – war einst als Feldweg angelegt worden,der sich zwischen den Begräbnisplätzen der ersten Siedler hin-durchgeschlängelt hatte und dessen Begradigung erst erfolgte,als die Umbettung der Toten in den Nordfriedhof es ohneVerletzung der Pietät gestattete, eine Schneise durch die altenFamiliengrabstätten zu legen.

Anfangs hatte sich die westliche Hausmauer gut sechs Metervon der Straße entfernt auf einer abschüssigen Rasenflächeerhoben; doch eine Verbreiterung der Straße, etwa zur Zeit derRevolution, hatte den größten Teil des trennenden Zwi-schenraums abgeschnitten und die Fundamente bloßgelegt,sodass eine Grundmauer aus Backstein hochgezogen werdenmusste, die dem tiefen Keller eine Straßenfront mit einer Türund zwei Fenstern oberhalb des Bodenniveaus verlieh, dicht ander neuen Streckenführung des öffentlichen Verkehrs. Als vorhundert Jahren der Gehsteig angefügt wurde, fielen auch dieletzten trennenden Meter weg; und Poe muss auf seinen Spa-ziergängen nichts als eine bloße Auftürmung öden grauen Zie-

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gelwerks erblickt haben, direkt an den Gehsteig stoßend und indrei Metern Höhe überragt von der uralten, schindelbedeck-ten Masse des eigentlichen Hauses.

Das farmähnliche Anwesen reichte rückwärtig weit den Hanghinauf bis fast zur Wheaton Street. Das Gelände südlich desHauses, das an die Benefit Street grenzte, lag natürlich deutlichoberhalb des Bürgersteigniveaus und bildete eine Terrasse, dievon einer hohen Stützmauer aus feuchten, moosgrünen Steinenbefestigt wurde, durch die sich eine steile Flucht schmalerStufen ihren Weg bahnte und zwischen schluchtartigenBegrenzungsflächen einwärts zum oberen Bezirk mit welkemRasen, schiefen Backsteinmauern und ungepflegten Gärtenführte. Mit den umgestoßenen Zementvasen, rostzerfressenenKesseln, die von ihren Dreifüßen aus Knotenstöcken herunter-gefallen waren, und ähnlichem Plunder bildete dies einepassende Kulisse für die verwitterte Eingangstür mit dem zer-splitterten Fächerfenster, den bröckelnden ionischen Säulenund dem wurmzernagten dreieckigen Ziergiebel.

Was ich in meiner Jugend über das gemiedene Haus hörte,war lediglich, dass darin Menschen in erschreckend großerZahl starben. Dies, so erfuhr ich, sei der Grund gewesen,warum die Erbauer und Erstbesitzer des Anwesens gut zwanzigJahre nach seiner Fertigstellung ausgezogen waren. Es wareinfach ungesund, vielleicht wegen der Feuchtigkeit und desSchwammbefalls im Keller, des durchdringenden üblen Geruchs,des Luftzugs in den Gängen und Fluren oder der Ungenieß-barkeit des Wassers aus dem Pumpbrunnen. Diese Dinge warenschlimm genug, und sie waren alles, was bei meinen BekanntenGlauben fand. Erst die Notizbücher meines Onkels, des Alter-tumsforschers Dr. Elihu Whipple, enthüllten mir in extenso diedunkleren, vageren Vermutungen, die einen verstohlenenStrom volkstümlicher Überlieferungen unter den Dienstbotenund dem einfachen Volk früherer Tage bildeten, Vermutungen,die niemals weit kursierten und die größtenteils schon vergessenwaren, als Providence zu einer Metropole mit hektischen,modernen Einwohnern anwuchs.

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Unumstößliche Tatsache ist, dass das Gebäude von dengediegeneren Gesellschaftskreisen niemals wirklich als›Spukhaus‹ angesehen wurde. Geschwätz über rasselndeKetten, eisige Luftzüge, ausgeblasene Lichter oder Gesichteran den Fenstern kursierte nicht. Zum Extrem neigendeMenschen behaupteten manchmal, das Haus sei »vom Unglückheimgesucht«, aber mehr sagten sogar sie nicht. Was tatsächlichaußer Frage stand, ist, dass eine beängstigende Anzahl vonMenschen dort starb; oder genauer gesagt: gestorben war, dennseit einigen seltsamen Vorkommnissen vor über sechzig Jahrenstand das Gebäude leer, weil es sich einfach nicht mehrvermieten ließ. Alle diese Menschen waren dem Leben nichtplötzlich durch irgendeine akute Todesursache entrissen wor-den. Vielmehr hatte es den Anschein, als litten sie unter einemschleichenden Entzug der Lebensenergie, sodass jeder vonihnen früher als vorherbestimmt an irgendeiner scheinbarnatürlichen Krankheit verschied. Und jene, die nicht starben,offenbarten mehr oder weniger stark eine Art Blutarmut oderSchwindsucht und manchmal auch einen Verfall der geistigenKräfte, was nicht gerade für die Bekömmlichkeit des Gebäudessprach. Es muss hinzugefügt werden, dass die Häuser in derNachbarschaft vollkommen frei von solchen abträglichenEigenschaften waren.

So viel war mir bekannt, ehe meine beharrlichen Fragen mei-nen Onkel dazu brachten, mir die Notizbücher zu zeigen, dieuns beide schließlich zu unserer schrecklichen Nachforschungveranlassten. In meiner Kindheit war das gemiedene Hausunbewohnt gewesen, mit kahlen, knorrigen und grässlich altenBäumen, unnatürlich bleichem Gras und albtraumhaft missge-formtem Unkraut auf dem hochgelegenen Terrassengarten, wosich niemals Vögel niederließen. Wir Jungen trieben uns häufigdort herum, und ich erinnere mich noch gut meines kindlichenSchreckens nicht nur angesichts der morbiden Fremdartigkeitder unheimlichen Vegetation, sondern auch wegen der schau-rigen Atmosphäre und dem Geruch des baufälligen Hauses,durch dessen unverschlossene Eingangstür wir uns häufig

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vorwagten, um uns zu gruseln. Die Scheiben der kleinen Fensterwaren zum größten Teil zerbrochen, und eine unbeschreiblicheAura der Verlassenheit lastete auf den rissigen Wandvertäfe-lungen, den wackligen Rollläden, der sich abschälenden Tapete,dem bröckelnden Verputz, den morschen Treppen und denÜberresten der kaputten Möbel, die noch vorhanden waren.Staub und Spinnweben verstärkten die gespenstische Stimmung;und als wirklich mutig galt der Junge, der freiwillig die Leiterzum Speicher erklomm, einem riesigen, von Dachsparrengerippten Schlauch, erhellt nur durch winzige blinzelndeFenster an den Giebelenden und angefüllt mit einem Haufenzertrümmerter Truhen, Stühle und Spinnräder, die unter denStaub- und Schmutzschichten endloser Jahre der Lagerungmonströse und höllische Formen angenommen hatten.

Doch im Grunde war der Dachspeicher gar nicht mal dergruseligste Teil des Hauses. Der dumpfe, feuchte Keller war amschaurigsten. Auf unbestimmte Art weckte er den allerstärkstenAbscheu in uns, obwohl er zur Straße hin ganz offen lag, miteiner von Fenstern durchbrochenen Ziegelmauer und einerdünnen Tür, die ihn vom belebten Gehsteig abgrenzte. Wirwussten nicht recht, ob wir ihn um des unheimlichen Kitzelswillen aufsuchen oder unseren Seelen und unserer geistigenGesundheit zuliebe meiden sollten. Zum einen war der übleGeruch des Hauses dort am stärksten; und zum anderengefielen uns die weißen Pilzgewächse nicht, die zuweilen beiregnerischem Sommerwetter aus dem festgestampften erdenenKellerboden sprossen. Diese Gewächse, ebenso grotesk wie diePflanzenwelt des Außenhofs, waren wirklich widerwärtig anzu-schauen: ekelhafte Parodien von Fliegenpilz und Fichtenspargel,wir hatten dergleichen nie zuvor gesehen. Sie verfaulten schnellund begannen, ab einem bestimmten Entwicklungsstadiumschwach zu phosphoreszieren, deshalb sprachen nächtlichePassanten manchmal von Irrlichtern, die hinter den zerbroche-nen Scheiben der Gestank verströmenden Fenster glommen.

Niemals – auch nicht in unserer übermütigsten Halloween-laune – gingen wir bei Nacht in diesen Keller, doch konnten

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wir während einiger unserer Besuche bei Tageslicht dieerwähnte Phosphoreszenz beobachten, vor allem an trüben undnassen Tagen. Es gab auch ein weniger fassliches Phänomen,das wir oftmals zu beobachten meinten – es handelte sich in derTat um eine überaus seltsame, uneindeutige Sache. Ich meineein verschwommenes weißes Muster auf dem schmutzigenBoden, eine sich bewegende Ablagerung von Schimmel oderSalpeter, deren Ursprung wir manchmal zwischen den spär-lichen Pilzgewächsen nahe der großen Feuerstelle des Keller-geschosses vage auszumachen glaubten. Zeitweilig erinnerte unsdieser Fleck in unheimlicher Weise an eine zusammengekrümm-te menschliche Gestalt, obwohl eigentlich keine derartigeÄhnlichkeit existierte, und oftmals gab es überhaupt keineweißliche Ablagerung.

An einem regnerischen Nachmittag, als dieses Trugbilderstaunlich deutlich auftrat, und als ich darüber hinaus glaubte,den Anblick einer dünnen, gelblichen, schimmernden Ausdüns-tung erhascht zu haben, die von dem Salpetermuster in dengähnenden Kamin aufstieg, sprach ich meinen Onkel auf dieSache an. Er lächelte über diese sonderbare Einbildung, dochschien er sich mit diesem Lächeln auch an etwas zu erinnern.Später hörte ich, dass eine vergleichbare Beobachtung Eingangin einige der überspannten alten Geschichten des einfachenVolkes gefunden hatte – eine Beobachtung, die in entsprechen-der Weise auf ghoulische, wölfische Formen anspielte, die imRauch aus dem großen Schornstein erkennbar sein sollten, undauf absonderliche Umrisse, die der verschlungene Wuchs einigerBaumwurzeln anzudeuten schien, die sich durch die losen Stei-ne des Fundaments einen Weg in den Keller gesucht hatten.

II

Erst als ich erwachsen war, machte mein Onkel mir dieAufzeichnungen und Unterlagen zugänglich, die er über dasgemiedene Haus gesammelt hatte. Dr. Whipple war ein sachlich

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denkender, konservativer Arzt der alten Schule, und trotzseines Interesses an diesem Ort strebte er nicht danach, dieGedanken eines jungen Menschen auf das Anormale zu lenken.Seine eigene Ansicht, die einfach von einem Gebäude undGrundstück mit auffällig ungesunden Eigenschaften ausging,hatte nichts mit dem Anormalen zu tun; und doch erkannte er,dass der romantische Aspekt des Ganzen, der sein eigenesInteresse geweckt hatte, die rege Fantasie eines jungen Manneszu allerlei schauerlichen Gedankenverknüpfungen anstiftenwürde.

Der Doktor war Junggeselle; ein weißhaariger, glatt rasierter,altmodischer Gentleman und ein Lokalhistoriker von Ruf, deroftmals eine Lanze mit solch streitbaren Hütern der Traditionwie Sidney S. Rider und Thomas W. Bicknell gebrochen hatte.Er und sein einziger Diener bewohnten ein georgianischesHeim mit Türklopfer und eisernen Treppengeländern, das amsteilen Gefälle der North Street beunruhigend um Gleichge-wicht rang, direkt neben dem alten Gerichts- und Verwaltungs-gebäude, in dem sein Großvater – ein Cousin jenes gefeiertenKaperfahrers Captain Whipple, der 1772 Seiner Majestätbewaffneten Schoner Gaspee in Brand setzte – bei der gesetzge-benden Versammlung vom 4. Mai 1776 für die Unabhängigkeitder Kolonie Rhode Island gestimmt hatte. In der klammenBibliothek mit der niedrigen Decke, den modrigen weißenPaneelen, dem schweren, geschnitzen Kaminaufsatz und denkleinen, von Weinlaub beschatteten Fenstern umgaben ihn dieErinnerungsstücke und schriftlichen Zeugnisse seiner alteinge-sessenen Familie, darunter zahlreiche Andeutungen bezüglichdes gemiedenen Hauses in der Benefit Street. Dieser verseuchteOrt liegt nicht weit von dort entfernt – denn die Benefit Streetverläuft wie ein Gesims direkt oberhalb des Gerichtsgebäudesentlang der steilen Hügelflanke, an der die erste Ansiedlungemporwuchs.

Als mein ständiges Drängen zu guter Letzt meinem Onkel diesorgsam gehüteten Informationen entlockt hatte, die ich habenwollte, lag eine wirklich sonderbare Chronik vor mir. Umständ-

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lich, statistisch und ermüdend genealogisch wie manches vonden Dokumenten war, durchzog sie doch ein roter Faden vonbeharrlich brütendem Grauen und unnatürlicher Bosheit, diemich noch mehr als den guten Doktor beeindruckte. EinzelneVorfälle standen auf einmal in einem unheimlichen Zusammen-hang und vermeintlich unbedeutende Einzelheiten bargeneinen Fundus abscheulicher Möglichkeiten.

Eine neue und brennende Neugier erwachte in mir, ver-glichen mit der meine jungenhafte Neugierde vergangenerTage matt und einfältig anmutete. Die ersten Enthüllungenführten zu einer erschöpfenden Recherche und letzten Endeszu der grauengetränkten Nachforschung, die sich als so ver-hängnisvoll für mich und die meinen erwies. Denn mein Onkelbestand darauf, an der Untersuchung mitzuwirken, die ich inAngriff genommen hatte, und nach einer gewissen Nacht injenem Haus verließ er es nicht mehr mit mir. Ich bin einsamohne diese gütige Seele, deren lange Lebensjahre nur vonAnstand, Tugend, Taktgefühl, Wohlwollen und Gelehrsamkeitbestimmt gewesen waren. Ich habe zu seinem Gedenken eineMarmor-Urne für den St. John’s Friedhof gestiftet – den Ort,den Poe liebte – jenen verborgenen Hain gewaltiger Weiden ander Hügelseite, wo Gräber und Grabsteine sich still unter deraltersgrauen Steinmasse der Kirche und der Häuser und derStützmauern der Benefit Street drängen.

Die Geschichte des Hauses, die mit einem Durcheinander anDaten beginnt, offenbarte keine Spur des Unheilvollen, wederin Bezug auf seine Errichtung noch bezüglich der wohlhaben-den und ehrbaren Familie, die es erbaute. Und doch zeigte sichvon Beginn an ein Anflug des Verhängnisvollen, der schnelleine unheilvolle Kraft gewann. Die gewissenhaft zusammen-gestellten Aufzeichnungen meines Onkels begannen mit derGrundsteinlegung im Jahre 1763 und verfolgten das Themaungewöhnlich detailreich. Das gemiedene Haus, so scheint es,wurde zuerst von William Harris und seiner Frau Rhoby Dexterbewohnt sowie deren Kindern Elkanah, geboren 1755, Abigail,geboren 1757, William jr., geboren 1759, und Ruth, geboren

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1761. Harris war ein achtbarer Kaufmann und Seefahrer imWestindienhandel und geschäftlich verbunden mit der Firmavon Obadiah Brown und Neffen. Nach Browns Tod im Jahre1761 ernannte ihn die neue Firma von Nicholas Brown & Co.zum Kapitän der 120-Tonnen-Brigg Prudence, die aus einerWerft in Providence stammte, was ihm ermöglichte, den neuenFamilienwohnsitz zu bauen, von dem er seit seiner Heirat stetsgeträumt hatte.

Die von ihm erwählte Lage – ein vor Kurzem begradigterAbschnitt der neuen und vornehmen Back Street, die entlangder Hügelflanke oberhalb der dichtbesiedelten Cheapsideverlief – konnte wünschenswerter nicht sein, und das fertigeBauwerk wurde dem Standort gerecht. Es war das Beste, wassich mit seinen bescheidenen Mitteln erreichen ließ, und Harrisbeeilte sich einzuziehen, ehe seine Frau das von der ganzenFamilie erwartete fünfte Kind zur Welt brachte. Dieses Kind,ein Knabe, wurde im Dezember geboren; er war tot – ganzeanderthalb Jahrhunderte lang sollte in diesem Haus keineinziges Kind lebend entbunden werden.

Im folgenden April erkrankten die Kinder und noch vorMonatsende starben Abigail und Ruth. Dr. Job Ives’ Diagnoselautete Kindfieber, obwohl andere behaupteten, es habe sicheher um schlichtes körperliches Siechtum oder Dahinschwindengehandelt. Die Sache schien auf jeden Fall ansteckend; dennHannah Bowen, eine von zwei Bediensteten, starb im folgendenJuni auf die gleiche Weise. Eli Lideason, der andere Dienstbote,klagte ständig, dass er erschöpft sei – und er wäre auf die Farmseines Vaters in Rehoboth zurückgekehrt, hätte er nicht unver-hofft eine zärtliche Neigung zu Mehitabel Pierce gefasst, die alsHannahs Nachfolgerin eingestellt worden war. Er starb im Jahrdarauf: wahrlich ein trauriges Jahr, denn es brachte auch denTod von William Harris, dessen Konstitution im Klima vonMartinique angegriffen worden war, wo berufliche Pflichtenihn während der zurückliegenden Dekade über längereZeiträume festgehalten hatten.

Die verwitwete Rhoby Harris erholte sich nie von dem Schock,

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den sie durch den Verlust ihres Mannes erlitten hatte, und alsihr Erstgeborener Elkanah zwei Jahre später starb, versetztedies ihrem Verstand den Todesstoß. Anno 1768 fiel sie einermilden Form des Wahnsinns anheim, worauf man sie in denoberen Teil des Hauses verbannte.

Inzwischen war ihre ältere, unverheiratete Schwester, MercyDexter, eingezogen, um die Familie zu versorgen. Mercy wareine einfache, grobknochige Frau und sehr kräftig – und dochverschlechterte sich ihre Gesundheit seit dem Tag ihrer Ankunftsichtlich. Sie hing sehr an ihrer unglücklichen Schwester undhegte zu ihrem einzigen überlebenden Neffen William eine be-sondere Neigung, der sich von einem kräftigen Kind in einenkränkelnden, spindeldürren Knaben verwandelt hatte. In diesemJahr starb die Dienstmagd Mehitabel, und der zweite Diener,Preserved Smith, kündigte ohne vernünftige Erklärung – ererzählte allerdings einige wüste Geschichten und beschwertesich über den Geruch des Hauses, den er nicht gut vertrage.

Es dauerte einige Zeit, bis Mercy endlich neue Dienstbotenfand, denn die sieben Todesfälle und der eine Fall vonWahnsinn, die alle innerhalb eines Zeitraums von fünf Jahreneingetreten waren, hatten die Welle von Klatschgeschichtenausgelöst, die später so bizarre Formen annahmen. Schließlichjedoch warb sie Personal von außerhalb der Stadt an; AnnWhite, eine mürrische Frau aus jenem Teil North Kingstowns,der nun den Amtsbezirk Exeter bildet, sowie einen tüchtigenMann aus Boston namens Zenas Low.

Es war Ann White, mit der das düstere Getratsche erstmalsgreifbare Züge gewann. Mercy hätte es besser wissen sollen, alsjemanden aus der Gegend um Nooseneck Hill in Dienst zunehmen, denn jener abgelegene, rückständige Landesteil wardamals, wie auch heute, die Brutstätte des unerfreulichstenAberglaubens. Noch im Jahre 1892 exhumierte eine Gemeindein Exeter einen Leichnam und verbrannte feierlich das Herz,um vermeintliche, der öffentlichen Gesundheit und dem allge-meinen Frieden abträgliche Heimsuchungen zu unterbinden,und man kann sich unschwer die vorherrschende Geisteshaltung

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jenes Landstrichs im Jahre 1768 ausmalen. Anns Zunge war inunheilvoller Bewegung, und nach wenigen Monaten setzteMercy sie vor die Tür und vergab ihre Stelle an eine treue undliebenswerte Amazone aus Newport, Maria Robbins.

Inzwischen verlieh die bedauernswerte Rhoby Harris inihrem Wahnsinn Träumen und Trugbildern der scheußlichstenSorte hörbaren Ausdruck. Zuweilen waren ihre Schreie unerträg-lich und lange Zeit formten ihre Stimmbänder kreischendeSchrecken, die ihren Sohn manchmal zwangen, bei seinemCousin Peleg Harris in der Presbyterian Lane nahe dem neuenUniversitätsgebäude Unterkunft zu suchen. Nach diesenGastaufenthalten schien der Junge immer sichtlich gekräftigt,und wäre Mercy so klug gewesen, wie sie wohlmeinend war,hätte sie ihn dauerhaft bei Peleg einquartiert.

Was genau Mrs Harris während ihrer Tobsuchtsanfällehinausschrie, hält die Überlieferung vornehm zurück – oderverbreitet vielmehr derart übertriebene Darstellungen, dass siesich dank ihrer schieren Absurdität von selbst erledigen. Eskann ja nur absurd klingen, wenn man hört, dass eine Frau, dienur bruchstückhafte Kenntnisse des Französischen besitzt,oftmals stundenlang in einem vulgären Dialekt dieser Sprachebrüllte, oder dass dieselbe Person, allein im Zimmer, aber unterBeobachtung, heftig über ein Etwas klagte, das sie anstarre, siebeiße und an ihr kaue.

Im Jahre 1772 starb der Diener Zenas, und als Mrs Harrisdavon hörte, lachte sie mit einer schockierenden Begeisterung,die überhaupt nicht zu ihr passte. Im folgenden Jahr starb sieselbst und wurde auf dem North Burial Ground neben ihremGatten beerdigt.

Als 1775 der Krieg gegen Großbritannien ausbrach, gelang esWilliam Harris trotz seiner jungen sechzehn Jahre undschwachen körperlichen Verfassung, in die Erkundungstruppenunter General Greene einzutreten; und von da an erfreute ersich stets zunehmender Gesundheit und wachsenden Ansehens.Anno 1780, er war Hauptmann der Rhode-Island-Truppenunter Colonel Angell, heiratete er Phebe Hetfield aus Elisabeth-

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town, die er nach seiner ehrenhaften Entlassung im folgendenJahr nach Providence brachte.

Die Heimkehr des jungen Soldaten war kein Ereignis vonungetrübter Freude. Das Haus, zugegeben, war noch immer ingutem Zustand; und die Straße war verbreitert und von BackStreet in Benefit Street umbenannt worden. Doch MercyDexters ehedem robuste Natur hatte einen schmerzlichen undunerklärlichen Verfall durchlaufen, sodass sie nunmehr einegebeugte und traurige Frau mit tonloser Stimme underschreckend blass war – Symptome, die in unnatürlichemAusmaß auch die einzige verbliebene Dienerin Maria aufwies.Im Herbst 1782 gebar Phebe Harris ein totes Mädchen und amfünfzehnten Mai des folgenden Jahres schied Mercy Dexter auseinem hilfsbereiten, anspruchslosen und rechtschaffenenLeben.

William Harris, nun endlich überzeugt von der durch unddurch gesundheitsschädlichen Natur seines Heims, bereitetesich auf den Auszug vor und wollte das Haus für immer auf-geben. Während er mit seiner Frau ein Ausweichquartier imjüngst eröffneten Golden Ball Inn bezog, gab er den Bau einesneuen und schöneren Hauses in der Westminster Street inAuftrag, die zum wachsenden Teil der Stadt am anderen Endeder Great Bridge gehörte. Dort wurde 1785 sein Sohn Duteegeboren; und dort wohnte die Familie, bis der vordringendeHandel sie wieder über den Fluss und den Hügel zurück in dieAngell Street trieb, ins neuere Wohnviertel der East Side, woder verstorbene Archer Harris 1876 seine teure, abergeschmacklose Mansardendach-Villa errichtete. William undPhebe erlagen beide der Gelbfieber-Epidemie von 1797, Duteewurde indessen von seinem Cousin Rathbone Harris, PelegsSohn, aufgezogen.

Rathbone war ein praktisch veranlagter Mann und vermietetedas Haus in der Benefit Street, entgegen Williams Wunsch, esleer stehen zu lassen. Er betrachtete es als Verpflichtung seinemMündel gegenüber, aus dem Besitztum des Jungen das Besteherauszuholen, und er kümmerte sich wenig um die Todes- und

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