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HUGO CHÁVEZ MEIN ERSTES LEBEN Gespräche mit Ignacio Ramonet Aus dem Spanischen von Harald Neuber

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HUGO CHÁVEZMEIN ERSTES LEBEN

Gespräche mit

Ignacio Ramonet

Aus dem Spanischen

von Harald Neuber

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Für Maximilien Arvelai

Die spanische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel

»Hugo Chávez. Mi primera vida«.

© Ignacio Ramonet, 2013

© Random House Mondadori S. A., 2013

Alle Bilder mit freundlicher Genehmigung von ed. Vadell, Caracas

ISBN 978-3-355-01821-0

© 2014 Verlag Neues Leben, Berlin

Neues Leben Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG

Neue Grünstraße 18, 10179 Berlin

Umschlaggestaltung: Verlag unter Verwendung

eines Motivs von ed. Vadell, Caracas

www.neues-leben.de

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Inhalt

Chávez im Spiegel seiner Zeit 7

Anmerkung des Herausgebers 17

Einleitung 19

Erster TeilKindheit und Jugend (1954–1971)

Kapitel 1: »Die Geschichte wird mich aufnehmen« 67Kapitel 2: Familiengeheimnisse 87Kapitel 3: Das Arbeiterkind 117Kapitel 4: Politik, Religion und eine Enzyklopädie 147Kapitel 5: In der Oberschule in Barinas 177

Zweiter TeilVon Kaserne zu Kaserne (1971–1982)

Kapitel 6: Kadett in Caracas 215Kapitel 7: Junger Offizier 253Kapitel 8: In Cumaná 279Kapitel 9: In Maracay 309Kapitel 10: Konspiration und Rekrutierung 335

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Dritter TeilAuf dem Weg zur Macht (1982–1998)

Kapitel 11: Der Weg zum Aufstand 361Kapitel 12: Der »Caracazo« 381Kapitel 13: Die Rebellion vom 4. Februar 1992 415Kapitel 14: Das fruchtbare Gefängnis 449Kapitel 15: Die siegreiche Kampagne 501

Anhang

Anmerkungen 569

Danksagungen 611

Bibliografie 615

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Chávez im Spiegel seiner Zeit Ein Prolog für die deutsche Ausgabe

Auf dem Weltsozialforum im brasilianischen Porto Alegre machte im Jahr 2002 ein Plakat lokaler Aktivisten von sich reden. »Venezolaner«, stand darauf, »gebt auf Chávez Acht, er gehört nicht mehr nur zu euch.« * Dieser eine Spruch verdeutlichte besser als viele ausführliche Texte und Analysen die Rolle des damaligen venezolanischen Präsidenten (1999–2013). Keine vier Jahre nach seiner Wahl an die Spitze des südamerikanischen Erdölstaates war der einstige Oberstleutnant zur Hoffnung für die sozialen Bewegungen in Lateinamerika und darüber hinaus geworden. Chávez stand für ihren Kampf gegen die post-kolonialen Oligarchien, von denen die Bevölkerungsmehrheit in den Staaten der Region seit der Unabhängigkeit vom spanischen Kolonialismus selbst un-terdrückt wurde. Die Staaten waren seither zwar unabhängig, die Menschen waren aber nicht frei. Mit seinem deutlichen Bezug auf die Unabhängigkeits-kriege und ihre Protagonisten – allen voran Simón Bolívar, den »Befreier« – versprach Chávez, diesen Fehler zu korrigieren. Er plädierte für die Revolution, die nach der Erlangung der Unabhängigkeit in den einen Fällen ausgeblieben war oder in anderen Fällen erstickt wurde.**

Anders als alle anderen politischen Führungspersönlichkeiten Venezue-las vor Hugo Chávez stammte er nicht aus der Oberschicht, die auf Kosten der verarmten Bevölkerungsmehrheit lebte. Auch deswegen schlug ihm von

* Herrera, E. (2013): El gigante de María Gabriela. In: Venezuela de Televisión / Sistema

Bolivariano de Comunicación e Información. (http://tinyurl.com/cugf7ov)

** Von Venezuela ausgehend war daher von der »Zweiten Befreiung« die Rede. Die erste

Befreiung war vor rund 200 Jahren gegen die spanischen Kolonialherren erkämpft worden.

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Beginn seiner politischen Karriere an der Rassen- und Klassenhass der Oli-garchen und ihrer internationalen Verbündeten entgegen. Immer wieder wurde er wegen seiner indigenen und afrikanischen Wurzeln in Karikaturen als Affe dargestellt, also in seiner Präsidentenrolle aggressiv abgelehnt. Schon diese Reaktion – die heute auch sein Nachfolger Nicolás Maduro zu spüren bekommt – zeigte, dass die entmachteten Kleptokraten kein Interesse an der politischen Mitgestaltung einer »Fünften Republik« hatten. Sie wollen – not-falls mit Gewalt – zurück an Macht und Pfründe. Dies hat maßgeblich zur Zuspitzung der Bolivarischen Revolution beigetragen, die zunächst einen eher links sozialdemokratischen Charakter hatte, wie ein Interview des Autoren mit Hugo Chávez im Jahr 2000 belegte.*

Seine sozialen Ursprünge und seine Positionierung an der Seite der Bevöl-kerungsmehrheit wirkten sich unmittelbar auf das Gesellschafts-, Politik- und Demokratieverständnis von Chávez aus. Bestes Bespiel dafür ist der Aufstand 1992. Während der versuchte Sturz des neoliberalen Sozialdemokraten Carlos Andrés Pérez von der Bevölkerungsmehrheit als Befreiungsschlag gefeiert wurde und wird, musste er bei den Attackierten als Verrat gelten. Diese Ana-lyse konnte die Oligarchie über ihre mediale Hegemonie auch international verbreiten, ohne die gleichen Maßstäbe freilich auf die eigenen Leute anzu-wenden. So wird Chávez auch hierzulande mit Blick auf den Aufstand von 1992 von akademischen und politischen Wortführern als »Putschist« bezeich-net, während dieses Label dem Oppositionsführer Henrique Capriles nicht verliehen wird. Der notorische Wahlverlierer Capriles hatte 2002 den Putsch gegen Chávez aber maßgeblich mitorganisiert. Diese analytischen Divergen-zen belegen im besten gramscischen Sinne die (Selbst-)Verortung des Chavis-mus in der Geschichte des Subalternen.

Das Unvermögen und der Unwille, das Phänomen des Chavismus aus dem geschichtlichen und gesellschaftlichen Kontext zu verstehen, mündet in der oft hilflosen Einordnung dieser Strömung als »Populismus« **, was nicht ge-eignet scheint, das Phänomen politisch und akademisch zu erfassen. Auch

* Neuber, H. (2000): »Wir haben die Idee von einer multipolaren Welt«, Gespräch mit Hugo

Chávez. In: Tageszeitung junge Welt, 29. 07. 2000.

** Vgl.: Werz, N.: Populismus und Populismen in Lateinamerika. (http://tinyurl.com/lda36kp)

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Chávez im Spiegel seiner Zeit

hier steht dem Umgang der globalen »Eliten« mit der Person und dem Phä-nomen Hugo Chávez ein quasi intuitiver Umgang der »Verdammten dieser Erde« * mit der Bolivarischen Revolution gegenüber. Chávez’ Tod am 5. März 2013 wurde von mexikanischen Mariachis und kubanischen Liedermachern besungen. Im fernen Palästina wurden Kinder nach dem Hoffnungsträger benannt und in Argentinien gab man einem Stadtteil seinen Namen.

Das Interesse bestimmt die Analyse

Noch einmal konkreter: Hugo Chávez, der die bestehenden Klassenunter-schiede und die damit einhergehende strukturelle Gewalt nicht etwa provo-ziert, sondern lediglich sichtbar gemacht hat, schlug je nach sozialer Sphäre und sozialem Interesse Begeisterung oder Verachtung entgegen. Die veröf-fentlichten Meinungen über seine Person und sein politischen Projekt sag(t)en daher oft mehr über den Kommentator aus als über den Adressaten.

Die Haltung der subalternen Schichten in Venezuela wurde während des Putschversuches im April 2002 deutlich, als sie zu Tausenden von den Armen-vierteln an den Hängen um die venezolanische Hauptstadt ins reiche Zen-trum strömten, um die Rückkehr »ihres« Präsidenten zu fordern.** Die schiere Masse der Putsch-Gegner bereitete dem Spuk schnell ein Ende. Nach weniger als 48 Stunden war der Umsturzversuch beendet. Die Gegner der Bolivari-schen Revolution in Venezuela und auf internationaler Ebene legten über das gescheiterte Vorhaben rasch einen Mantel des Schweigens und bekämpften das Reformprojekt der Chávez-Regierung weiterhin mit aller Härte. Nach dem Putschversuch folgte zum Jahreswechsel 2002/2003 eine breit angelegte Sabo-tageaktion gegen die Erdölindustrie. Weitere politische und wirtschaftliche Attacken in den Folgejahren in Einheit mit den kontinuierlichen Niederlagen der rechtsgerichteten Opposition an den Wahlurnen belegten zwei wesentli-

* Fanon, F. (1961): Les damnés de la terre. Maspero, Paris 1961. Auf deutsch: Die Verdamm-

ten dieser Erde. Übersetzt von Traugott König. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2001.

** Chávez wurde am 12. April 2002 von rechtsgerichteten Militärs nach einer provozierten

Eskalation von Gegnern der Regierung entführt und einen Tag später wieder befreit. Die

verfassungstreuen Truppenteile wurden von Massenprotesten unterstützt.

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che Merkmale des regierenden Chavismus: Zum einen den Umstand, dass die Bevölkerungsmehrheit das Reformvorhaben unterstützt. Zum anderen, dass die Oberschicht zu einer Teilung von Macht und Ressourcen aus einer elitären Attitüde heraus nicht bereit ist. Stattdessen wurde der Chavismus unter den Oligarchen Lateinamerikas zum Synonym für einen drohenden Machtverlust. Wo immer eine linke oder auch nur linksliberale Reformkraft auf die politi-sche Bühne trat, wurde sie als »chavistisch« attackiert.

Eines der Hauptprobleme im Umgang mit Hugo Chávez in Deutschland – und darüber hinaus in den industriellen Zentren – ist die weitaus unkritische Übernahme dieser Sicht. Grund dafür sind gewachsene akademische und me-diale Netzwerke, in denen alternative Meinungen kaum Beachtung finden können. Weil Bewohnern der Armenstadtteile der Zugang zu den etablierten Universitäten und den Medien verwehrt blieb, wurden ihre Stimmen auch international nicht vernommen. Wer – wie der Autor dieses Buches – den Versuch unternahm, den Chavismus vorurteilsfrei zu behandeln, sieht sich rasch dem Vorwurf der Apologetik ausgesetzt. Nicht nur im Fall Venezuelas zeigt sich damit, dass in Zeiten zunehmender Transnationalisierung im Me-dienwesen und Wissenschaftsbetrieb die intellektuellen Spielräume de facto enger werden. Dazu beigetragen haben auch vorsätzliche Kampagnen gegen Chávez, dem aufgrund seines Gebrauchs der Termini »Volk« und »Nation« wiederholt eine Nähe zum Rechtsradikalismus unterstellt wurde.

Doch wie in Venezuela drifteten auch auf internationaler Ebene die Meinun-gen massiv auseinander. Je stärker man sich dem Globalen Süden annäherte, desto stärker wurde Venezuela unter Hugo Chávez im Kontext des postkolo-nialen Befreiungskampfes wahrgenommen. Einer der Gründe dafür war sein Engagement für die politische, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit zwischen den Staaten des Südens. Chávez verstärkte angesichts der historischen Verbindungen (über den Sklavenhandel Spaniens und Portugals) die Zusam-menarbeit mit den Staaten Afrikas. Aber auch in die arabische Welt und nach Asien suchte er Kontakte, was ihm auch in der deutschen Linken (etwa im Fall Irans) mitunter harsche Kritik einbrachte, in eurozentristischem Furor wichtige Details aber gerne übersah: Mit Hilfe Irans wurde in Venezuela ein Betonwerk aufgebaut, aus Belarus kamen Minsker Traktoren. Dass aus Russland Waffen bezogen wurden, lag maßgeblich an einem 2006 verhängten US-Embargo.

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Chávez im Spiegel seiner Zeit

Teil der Neuen Linken Lateinamerikas

Neben ihrem antikolonialen Charakter ist die von Hugo Chávez begründete Bolivarische Revolution aus dem Widerstand gegen die neoliberale Miss-wirtschaft entstanden. Dieses alleine auf den Markt, Profitmaximierung und Transnationalisierung orientierte Modell wurde in Lateinamerika nach dem faschistischen Pinochet-Putsch 1973 aus dem Blut tausender Opfer geboren und versank 1989 erneut im Blut der Menschen, die sich im venezolanischen Volksaufstand gegen Präsident Carlos Andrés Perez erhoben und dafür nie-dergeschossen wurden. Die Geschichte in Venezuela verlief damit diametral entgegengesetzt zur Entwicklung in Europa. Während die Menschen in Ve-nezuela Ende Februar 1989 gegen den Neoliberalismus und die »Strukturan-passungsprogramme« von Internationalem Währungsfonds und Weltbank rebellierten *, um den Weg zu einer neuen Sozialismusdebatte zu ebnen, gin-gen in Ost-Berlin, Leipzig und anderen Städten der DDR die Menschen gegen den Staatssozialismus auf die Straßen. Diese Dualität dürfe jeden dialektisch denkenden Menschen, erst recht einen Marxisten, begeistern.

Zumal die Bewegung nicht auf Venezuela beschränkt blieb. Inzwischen haben sich südlich der USA rund ein Dutzend Regierungen etabliert, die eine explizit gegen den Neoliberalismus ausgerichtete Politik betreiben. Die po-litisch entschiedensten dieser Regierungen haben sich in der Bolivarischen Allianz für Amerika (ALBA) zusammengeschlossen – und damit den Grund-stein für eine weitergehende Integration Lateinamerikas gelegt.** Kurz gesagt: Ohne Hugo Chávez und die ALBA würde es heute keine Gemeinschaft der lateinamerikanischen und karibischen Staaten (Celac) geben, immerhin das erste kontinentale Bündnis ohne die USA und Kanada.*** Diese Entwicklung hat mit dem ersten Zusammentreffen von Hugo Chávez und Fidel Castro am 13. Dezember 1994 ihren Anfang genommen. Während die Apologeten des

* Siehe Kapitel 12.

** Zu der Bolivarischen Allianz für die Völker unseres Amerikas – Handelsvertrag der Völ-

ker (ALBA-TCP) gehören neben den Gründungsstaaten Kuba und Venezuela inzwischen

Antigua und Barbuda, Bolivien, Dominica, Ecuador, El Salvador, Nicaragua, Santa Lucia,

San Vicente und die Grenadinen. Honduras ist nach dem Putsch gegen die demokratisch

gewählte Regierung von Manuel Zelaya 2009 ausgeschieden.

*** Die Celac umfasst alle Staaten Lateinamerikas und der Karibik.

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Neoliberalismus im Westen das »Ende der Geschichte« * prognostizierten, begann in Lateinamerika gerade eine neue Geschichte.

Auf zwei Feldern hat die Regierung von Präsident Hugo Chávez signifi-kante Erfolge erreicht. Zum einen hat die von ihr beförderte Integrations-bewegung die militärische Hegemonie der USA zurückgedrängt und damit eine wichtige Voraussetzung für die souveräne Entwicklung in der Region ge-schaffen. Die venezolanische Reformverfassung verbietet ebenso wie die von Ecuador und weiteren linksregierten Staaten die dauerhafte militärische Prä-senz ausländischer Kräfte. Dieser länderübergreifende Konsens richtet sich in erster Linie gegen die Anwesenheit des Südkommandos der US-Armee, das in der Vergangenheit unter dem Deckmantel der Drogenbekämpfung oder ande-rer vorgeblicher Gründe in die politischen Belange der Zielländer interveniert hat. Zuletzt gezeigt hat sich das 2009 beim Putsch gegen den linksliberalen Präsidenten von Honduras, Manuel Zelaya. Nach seiner Verschleppung wurde er über eine Militärbasis der USA gegen seinen Willen außer Landes gebracht.

Das zweite Feld ist die Sozialpolitik. Zwar wurde die Armutsquote in ganz Lateinamerika – also auch in den weiterhin neoliberalen Staaten – in den Jahren 2000 bis 2011 von 44 Prozent auf 30 Prozent gesenkt, wie der Marburger So-ziologe Dieter Boris unter Berufung auf Erhebungen der UN-Wirtschaftskom-mission für Lateinamerika, CEPAL, schreibt.** Doch unter der gemäßigt linken Regierung in Argentinien und in Venezuela war der höchste Abbau der Armut zu verzeichnen: zwischen 2002 und 2009 um mehr als 20 Prozent.*** Der gleichen Quelle zufolge haben Argentinien, Bolivien, Nicaragua und Venezuela die nach dem sogenannten Gini-Index gemessene soziale Ungleichheit zwischen 2002 und 2008 am stärksten senken können. Wer diese Entwicklung auf »assisten-tialistische Sozialprogramme« reduziert und damit abtut, hat entweder keine Ahnung von der Materie oder ist schlichtweg zynisch.

* Fukuyama, F.: The End of History and the Last Man, Free Press, 1992.

** Boris, D. (2014): Bolívars Erben. Linksregierungen in Lateinamerika, Papyrossa, Köln.

*** Cepal (2011). Panorama social de América Latina, Santiago de Chile.

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Chávez im Spiegel seiner Zeit

Medien transportieren die Vision der Oberschicht

Die Unkenntnis über sozialpolitische Erfolge und Innovationen des bolivari-schen Projektes ist zu einem hohen Maße auf die Diskursdominanz der venezo-lanischen Medienkonzerne zurückzuführen, deren Interesse in einem starken Maße konträr zur Regierungspolitik stehen und die transnational vernetzt sind. Dennoch waren und sind diese Privatmedien die Hauptinformationsquelle europäischer und damit auch deutscher Medien, die deren Diskurse weitge-hend unkritisch transportieren. Dabei ist die Problematik der venezolanischen Medien nicht erst seit ihrer Unterstützung für den Putschversuch gegen Chávez im April 2002 bekannt. Dieter Boris konstatiert: »Durch vielfältige Prozesse ho-rizontaler Konzentration und vertikaler Verflechtung, die in den letzten 20 bis 30 Jahren besonders forciert wurden, stellen diese fast monopolartigen Medi-enkomplexe per se eine ökonomische Macht dar.« * Auf die Verbindungen und Verflechtungen mit anderen Branchen weisen Martín Becerra und Guillermo Mastrini in ihrem medienkritischen Aufsatz »Los dueños de la palabra« (Die Herren des Wortes) hin.** Die Verstrickung der Medien mit anderen Branchen, ihre Interessenlage und zunehmende Rolle als unmittelbare politische Akteure sorgten von Beginn an für Konflikte mit der Chávez-Regierung. Im Jahr 2008 stellte selbst die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung fest: »Dagegen sind in den letzten beiden Jahrzehnten private, monopolartige Medienkonzerne entstan-den, die mit ihrem Interesse an größtmöglichen Gewinnen aus Werbung, Sport und Unterhaltung die Situation in großen Teilen des Kontinents beherrschen. Sie sind zu politischen Akteuren geworden und bestimmen in einigen der la-teinamerikanischen Länder die Agenda entscheidend mit.«***

Natürlich lag es nicht im Interesse dieser von einem Klasseninteresse ge-leiteten Konzerne im Mediengeschäft, das Wesen des venezolanischen Re-formprozesses als heterogene Massenbewegung anzuerkennen. Die massive

* Boris, 2014, Seite 111.

** Becerra, M. / Mastrini, G. (2009): Los dueños de la palabra. Acceso, estructura y concen-

tración de los medios en América Latina del Siglo XXI, Buenos Aires.

*** Friedrich-Ebert-Stiftung (2008): Newsletter Lateinamerika, 1. Halbjahr 2008. (http://

tinyurl.com/nv8b5xk)

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Unterstützung für Chávez wurde in einem solchen Maße ignoriert, dass nicht wenige Vertreter der Oberschichtsmedien und ihre Plagiatoren in Europa auf-richtig überrasch gewesen sein dürften, als im April 2002 hunderttausende Menschen die Rückkehr »ihres« Präsidenten aus der Geiselhaft der Putschis-ten forderten. Aus dem gleichen Grund wurden die Massenmobilisierungen, zu denen Chávez bis zuletzt fähig war, konsequent ignoriert, während opposi-tionelle Proteste über transnationales »Agenda Setting« hervorgehoben wur-den. Nur wenige Journalisten im etablierten Medienbetrieb durchschauten dieses Spiel. Zu ihnen gehörte Manfred Bleskin (1949–2014) vom Nachrich-tensender n-tv, mit dem der Autor dieses Essays Mitte Dezember 2012 Vene-zuela bereiste.* Aus dem gleichen Grund heraus ist 2007 das deutschsprachige Lateinamerika-Portal amerika21.de entstanden.**

Hugo Chávez selbst gelang es, gegen diese Widerstände eigene Netzwerke aufzubauen. Eines der wichtigsten Instrumente in der Kommunikation mit der Bevölkerung war seine wöchentliche Radio- und Fernsehsendung Aló Presidente. Im Westen und von der Oligarchie belächelt, gelang es Chávez mit diesem oft stundenlangen Programm, eine direkte Verbindung zu den Menschen aufzubauen. Aló Presidente war eine Form von Unterhaltungspro-gramm, in das politische Inhalte gegossen wurden. Es war ein wöchentlicher Rechenschaftsbericht des Präsidenten. In der Sendung wurden Probleme of-fenbart und Funktionäre benannt oder entlassen. Was die Oligarchenmedien als Anmaßung betrachteten, war in gewisser Weise nichts andres als die mo-derne, mediale Umsetzung des sandinistisch-revolutionären Regierungskon-zeptes »de cara al pueblo«: regieren mit dem Gesicht zum Volk gewandt.

* Bleskin konstatierte am 16. 12. 2012 in einem Kommentar über die Wahlen in Venezuela:

»Die Umfragen sind parteipolitisch geprägt: Die mehrheitlich oppositionelle Presse sagt

der vereinten bürgerlichen und rechten Opposition den Sieg des bei den Präsidentenwah-

len unterlegenen Henrique Capriles Radonski voraus«. In: Venezuela am Scheideweg, in:

n-tv.de. (http://tinyurl.com/mvk8j2s)

** Das Nachrichtenportal amerika21.de wurde 2007 gegründet, um »den kommunikativen

Austausch zwischen globalem Süden und Norden zu erleichtern, indem es die Informa-

tions kluft zu überwinden versucht. Deshalb werden im Internet Informationen aus Latein-

amerika auf Deutsch und in professioneller Aufbereitung zur Verfügung gestellt – offen

zugänglich und kostenlos.«

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Chávez im Spiegel seiner Zeit

Das Buch von Ignacio Ramonet im Kontext der Debatte

Der Konformitätsdruck in der medialen und akademischen Debatte über Hugo Chávez und die Bolivarische Revolution war von Beginn an enorm. In Deutschland trug dazu ein Phänomen bei, das auch in anderen europäischen Staaten, vor allem in Spanien, zu beobachten ist: die Diskursdominanz staats- und parteinaher Organisationen und Stiftungen, die in einem staatlich-poli-tischen Konglomerat als Wortführer etabliert werden. Im deutschen Fall sind das vor allem von der Regierung finanzierte Institutionen wie die Stiftung für Wissenschaft und Politik sowie die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung, die ein Büro in Caracas unterhält. Unabhängige Journalisten geraten angesichts dieser Allianz ins Hintertreffen, unabhängige Akademiker wählen in der Re-gel den Weg ins Ausland, etwa der Soziologe und Venezuela-Kenner Dario Azzellini. Eine wohltuende Ausnahme im etablierten Wissenschaftsbetrieb ist der Kölner Historiker Michael Zeuske.*

Auf internationaler Ebene – vor allem in den US-venezolanischen Bezie-hungen – gab es eine Strömung von Intellektuellen und Kulturschaffenden, die bewusst den Kontakt zum chavistischen Venezuela gesucht haben. Zu ih-nen gehört neben den Schauspielern Danny Glover und Sean Penn der Filme-macher Oliver Stone, der im Jahr 2009 in seinem »politischen Roadmovie« (Tariq Alí) »South of the Border« ** mit dem antiintellektuellen Fundamenta-lismus in Teilen der Republikanischen Partei der USA abrechnete.

Ignacio Ramonets Buch steht in diesem Kontext. Nach seiner Interview-Biografie von Fidel Castro *** liefert er mit dem vorliegenden Band erneut einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der laufenden Emanzipationsprozesse in Lateinamerika. Und auch wenn er kritische Fragen stellt, wird natürlich der Vorwurf der Einseitigkeit und Apologetik kommen. Dies sagt aber weniger über den Autoren aus als über die Einengung der politischen Spielräume, die trotz einer technischen Diversifizierung der Medienlandschaft zu einem

* Zeuske, M. (2008): Von Bolívar zu Chávez. Die Geschichte Venezuelas. Rotpunktverlag,

Zürich.

** Stone, O. (2009): South of the Border.

*** Ramonet, I. (2008): Fidel Castro. Mein Leben, Rotbuch Verlag, Berlin.

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zunehmenden Problem werden. Das heißt konkret: Wir nutzen heute mehr Informationsdienste, sind länger online und haben mehr Hardware. Zugleich verfügen wir über weniger Zugänge zu Informationen, um uns eine Meinung zu bestimmten Abläufen zu bilden. Dieses Phänomen tritt vor allem dann zu-tage, wenn geopolitische und damit wirtschaftliche Interessen der unter dem Begriff des »Westens« subsumierten Industriestaaten berührt sind.

Die These der verkleinerten diskursiven Räume mag auf Widerstand sto-ßen, lässt sich aber verifizieren. Zur Zeit der antikolonialen Befreiungskämpfe der fünfziger und sechziger Jahre hatten die Akteure prominente Fürsprecher in den globalen Zentren. Der US-Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger (1954) Ernest Hemingway gehörte ebenso dazu wie der Brite Graham Greene. Hemingway befürwortete während seiner Kuba-Zeit den Sturz der US-prote-gierten Batista-Diktatur * und Greene befasste sich in mehreren Werken mit progressiven Akteuren Lateinamerikas und porträtierte sie literarisch.**

Ignacio Ramonets Buch steht in dieser Tradition und liefert damit einen unabdingbaren Beitrag zur Debatte, weil es sich – mehr noch, als dies in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts nötig gewesen wäre – gegen den Zeitgeist stemmt und die von den Massen getragenen Re-form- und Emanzipationsprozesse in Lateinamerika zu verstehen hilft.

Harald NeuberBerlin, im Mai 2014

* Mellow, J. (1992): Hemingway: A Life Without Consequences, Houghton Mifflin, Boston.

** Neben dem im Kapitel 7 erwähnten Buch von Greene über Torrijos zählt dazu auch das

Buch »The Comedians« über die Duvalier-Diktatur in Haiti aus dem Jahr 1966. Auf Deutsch:

Die Stunde der Komödianten. Übersetzt von Hilde Spiel. Zsolnay, Wien, 1966.

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Anmerkung des Herausgebers

Dieses Buch ist das Ergebnis jahrelanger Arbeit und war letztlich nur auf-grund der Anstrengungen und des Talents von Ignacio Ramonet sowie der großzügigen Bereitschaft von Präsident Chávez und seines Teams möglich. Vom Verlag aus ist es uns darüber hinaus ein Anliegen, die Rolle von Teresa Aquino de Vadell und Manuel Vadell hervorzuheben und ihnen sowie ihren Mitarbeitern für die Zusammenarbeit und die Hilfe des Vadell-Verlags in Ca-racas zu danken. Ihre Beteiligung und Professionalität waren unabdingbar, um dieses Projekt zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen.

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Einleitung Hundert Stunden mit Chávez

Wir waren am Vorabend angekommen. Den Namen des Ortes im Zentrum der unendlichen venezolanischen Llanos, dem Flachland, kannte ich nicht. Es war neun Uhr morgens, und bereits jetzt herrschte glühende Hitze. Das ein-fache, rustikale Haus, in dem wir untergebracht waren, wurde uns von einem Freund zur Verfügung gestellt. Es war im Llanero-Stil erbaut: eine Etage und ein Ziegeldach. Vor dem Haus befand sich eine offene Veranda mit niedri-gen schmiedeeisernen Tischen, Schaukelstühlen aus Korbgeflecht und dut-zenden grünen Blumentöpfen. Auf dem rissigen und verhärteten Boden um uns herum wuchsen bunte Büsche, prachtvolle und mächtige Bäume, Obst-bäume standen in Blüte. Der stetige Wind wirbelte goldbraunen Staub auf und trug den Duft der Sträucher mit sich. Von den heißen Windstößen gepeinigt, machte die umliegende Vegetation sonst einen erschöpften und entkräfteten Eindruck.

Im Schatten des Gartens hatte man uns einen Tisch mit Büchern und Do-kumenten für das Interview aufgestellt. Während ich auf Hugo Chávez wartete, setzte ich mich auf den Zaun, der das Anwesen umgab, den »hato«, wie man dort sagt. Die Stille wurde bisweilen von Vogelgezwitscher durchbrochen, von dem Krähen eines Hahns und dem entfernten Surren eines Stromaggregats. Im Umkreis war weder ein Gebäude zu entdecken noch Verkehrslärm zu verneh-men. Ein idealer Rückzugsort. Es gab auch kein W-LAN, nicht einmal Handy-empfang. Hier funktionierten nur – über militärische Kanäle – einige Satelli-tentelefone, die vom Begleitschutz und dem Präsidenten selbst benutzt wurden.

Am Nachmittag des Vortags waren wir an Bord eines Falcon-Flugzeugs auf dem kleinen Flughafen von Barinas gelandet. Bevor wir unsere Gespräche für

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dieses Buch begannen, wollte mir Chávez die Gegend seiner Kindheit und die Wurzeln seines späteren Schicksals zeigen. »Die Bühne meiner Lebensum-stände«, wie er sagte.

Um das Protokoll und Zeremonien zu vermeiden, kam er fast inkognito an. Einfach gekleidet: Sportschuhe, schwarze Jeans, weißes Hemd und eine leichte, militärisch anmutende Jacke. Ihn begleitete nur einer seiner engsten Ratgeber: Maximilien Arvelaiz, ein junger und brillanter Berater für interna-tionale Angelegenheiten. Hinzu kamen einige Personenschützer in olivgrüner Uniform. Unter dem Flugzeug herrschte eine Hitze wie in der Sahara, es war-teten zwei schwarze Geländewagen. Chávez setzte sich ans Steuer des ersten Autos. Maximilien und ich stiegen bei ihm ein. Die Personenschützer nahmen den zweiten Wagen hinter uns. Die Dämmerung brach ein. Wir machten uns umgehend auf den Weg ins historische Zentrum.

Die horizontal angelegte und flache Stadt Barinas bot zu jenem Moment fast die Atmosphäre einer Grenzstadt. Es gab zuhauf altersschwache Klein-busse mit Ladeflächen neben glänzenden Allradwagen der Neureichen. Es waren Männer zu sehen mit Llanero-Hüten und Halbstiefeln. Die Llanos sind klassisches Cowboy-Land, vom Schmuggel beherrscht, ein Ort der Helden-taten und unendlicher Weiten. Hier gibt es Corridos und Joropos, Lieder der Llaneros, lokale »Country-Musik«. Von Caracas aus betrachtet ist all das der wahre Wilde Westen und der Kern der venezolanischen Identität.

Die Hauptstadt des gleichnamigen Staates war in den Jahren zuvor exzessiv angewachsen. Überall herrschte emsige Aktivität. Gebäude befanden sich im Bau, es gab Kräne, Straßenbaustellen, zähfließenden Verkehr. Wie auch an-dernorts hatten architektonische Verirrungen in den verwahrlosten Vororten schreckliche Bausünden hinterlassen. Je näher wir aber dem alten Stadtkern kamen, desto mehr stellte sich die harmonische Kolonialgeometrie ein, herr-schaftliche Häuser waren zu sehen.

Mit seiner ruhigen und angenehmen Bariton-Stimme schilderte mir Chá-vez die Geschichte dieser Stadt. Er zeigte mir, wo der Befreier Simón Bolívar gewesen war, wo die Llaneros im Gefolge des »Zentauren« Páez 1 entlanggerit-ten waren, wo sich Ezequiel Zamora 2, der »General der freien Männer«, auf-gehalten hatte, als er Barinas befreite, die Förderation ausrief und am 10. De-zember 1859 zur entscheidenden Schlacht von Santa Inés aufbrach.3

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Einleitung

Chávez war nicht nur ein intimer Kenner der venezolanischen Geschichte, sondern er erzählte und lebte sie mit großem Enthusiasmus, schmückte sie mit tausenden Anekdoten, Erinnerungen, Gedichten und Liedern aus. »Ich liebe mein Vaterland innig«, bekräftigte er mir gegenüber: »Denn wie Alí Pri-mera 4 sagt: ›Das Vaterland ist der Mensch.‹ Wir müssen die Gegenwart mit der Vergangenheit verbinden. Unsere Geschichte ist unsere Identität. Wer das ignoriert, weiß nicht mehr, wer er ist. Nur die Geschichte verleiht einem Volk ein umfassendes Verständnis seiner selbst.«

Plötzlich klingelte das Telefon. Es war eine Textnachricht von Fidel Cas-tro, der ihm zu seiner Rede am Nachmittag gratulierte. Er zeigte sie mir: »21:30 Uhr: Ich habe dir zugehört. Es schien mir sehr gut. Ich beglückwünsche dich. Du bist ein harter Spieler. Es war phänomenal. Du bist brillant.« Er kom-mentierte es nicht, aber ich merkte, dass er glücklich war. Mit Fidel verband ihn eine tiefe Zuneigung.

So kamen wir im alten Stadtkern an. Es war Nacht geworden, und die Stadt war nicht sehr gut beleuchtet. Wir zogen am eindrucksvollen Palast des Mar-quis vorbei und am überproportionierten alten Gefängnis. Wir lernten seinen persönlichen Blick auf Barinas kennen: Er zeigte mir die O’Leary-Oberschule 5, wo er die weiterführenden Klassen besucht hatte, und die Kunstakademie, in der er Malerei zu studieren begann. Wir liefen an seiner alten Jugendwoh-nung im Stadtteil Rodríguez Domínguez vorbei, dem Haus seiner Freunde aus der Familie Ruiz Guevara, dem Haus seiner ersten Freundin, dem Baseball-Platz der Nachbarschaft: »Durch diese Straße bin ich mit Nancy Colmenares (seiner ersten Frau) gelaufen«, sagte er: »Diese Bar nannten wir damals ›Die Fakultät‹«, und: »In diesem Gebäude befand sich Radio Barinas, dort hatte ich meine ersten Radiosendungen.«

Durch die Dunkelheit der Nacht und die getönten Scheiben des Autos konnte ich fast nichts erkennen. Außerdem vermischte Chávez auf seiner his-torischen Pilgerreise die Erinnerungen von zwei verschiedenen Zeitabschnit-ten, in denen er hier gelebt hatte: die Jahre seines Abiturs (1966–1971) und seine erste Stationierung als Unterleutnant, kurz nach Eintritt in die Militär-akademie (1975–1977). Ich fühlte mich etwas verloren im Labyrinth seiner Erlebnisse. Er merkte das und entschuldigte sich in seiner bescheidenen Art: »Entschuldigen Sie, die Erinnerungen haben mich plötzlich übermannt. Sie

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wissen, dass sie einem an jeder Ecke auflauern können.« Geduldig erklärte er mir nun alles getreu der Chronologie.

Als Lehrerkind hatte Chávez schier unglaubliche pädagogische Fähigkei-ten. Er konnte sich instinktiv auf seine Zuhörer einstellen. Er war dabei nie überheblich. Es war ihm zuwider, sein Publikum zu langweilen. Zur Freude seiner Zuhörer redete er klar und unterhaltsam. Er wollte, dass man ihn ver-steht, und gab sich dafür Mühe. Fast immer trug er ein Bündel Farbstifte und Papierblätter bei sich, auf denen er mit der linken Hand – er war Linkshän-der – Grafiken zeichnete, Figuren malte, Statistiken darstellte und Konzepte, Ideen und Ziffern aufschrieb. Er versuchte, das Abstrakte sichtbar zu machen. So stellte er mitunter recht verzwickte Probleme einfach dar.

Diese Begeisterung für die Lehrtätigkeit habe er früh entdeckt, sagte er mir: »Das ging sogar so weit, dass ich meine Mutter begleitete. Sie war Land-lehrerin in einer Gegend, die Encharaya heißt. Ich mochte den Klassenraum sehr, und es gefiel mir, meiner Mutter beim Unterricht zuzuhören, beim Leh-ren. In gewisser Weise habe ich ihr geholfen. Bildung hat mir immer Freude bereitet, auch das Studium.«

Als Schüler, Student und Kadett war Chávez immer ein Streber, ein »taco«, wie es in Venezuela heißt, der Klassenbeste, der von den Abschlussarbeiten am Ende des Kurses befreit wurde, weil seine Noten über das Jahr hinweg so gut waren. Vor allem auf wissenschaftlichem Gebiet. Von seinen Lehrern und Professoren wurde er geachtet. Begierig auf das Wissen und das Lernen, auf alles neugierig. Immer vom Wunsch bestimmt, die Ziele zu erfüllen, zu gefal-len, beliebt zu sein, zu beeindrucken, geliebt zu werden.

In seinem intellektuellen Werdegang kamen zwei Arten der Bildung zur Geltung. Die akademische Ausbildung, in der er immer hervorragend war, und die von ihm bevorzugte Autodidaktik, die es ihm erlaubte, sich parallel auf eine Weise weiterzubilden, die sich zum Teil in seinem einzigartigen Tem-perament begründete. Als hochbegabtes Kind mit einem überdurchschnittli-chen Intelligenzquotienten gelang es ihm von klein auf, aus seinem Lesestoff den größtmöglichen Nutzen zu ziehen. Dies war bei Kinderpublikationen wie der Zeitschrift Tricolor ebenso der Fall wie bei Enzyklopädien wie der Quillet-Ausgabe, die er fast vollständig auswendig lernte. Chávez nutzte sein außer-gewöhnliches Erinnerungsvermögen und prägte sich alles ein, was er las, er

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Einleitung

saugte es auf, analysierte es, verinnerlichte und verarbeitete es und reicherte seinen Intellekt damit an.

Er war ein ständiger Leser. Er hatte stets zwei oder drei Bücher bei sich, mehr Essays als Romane, die er parallel las und in denen er Anmerkungen notierte, Zeilen unterstrich und Kommentare in die Seitenspalte schrieb. Als Intellektueller beherrschte er das »produktive Lesen«, indem er aus dem Lesestoff Konzepte, Analysen, Geschichten und Beispiele zog, die er seinem ungeheuren Gedächtnis einverleibte, um sie später vor großem Publikum in seinen stürmischen Reden und Ansprachen vorzutragen. Seine Lieblingsbü-cher veränderten sich. Zu einer Zeit war es »Oráculo del guerrero«, aus dem er hunderte Male zitierte, bis fast ganz Venezuela es gelesen hatte. Später war es unter anderem »Die offenen Adern Lateinamerikas« von Eduardo Galeano und »Hegemony or Survival« von Noam Chomsky, die zum Standardreper-toire jedes guten Bolivariano wurden. In jüngerer Zeit kam Victor Hugos »Les Misérables« hinzu: »Ein wunderbares Buch, das ich empfehle und das von je-nen handelt, die zeitlebens im Elend gelebt haben. Das muss man lesen.« Die Macht seiner Empfehlung war beeindruckend. Fast immer wurde ein solches Werk zum Verkaufsschlager im Land – und manchmal auch international.

Eine andere Charakteristik: seine Fähigkeit, praktische Aufgaben zu meis-tern. Er konnte fast alles von Hand bewältigen, sei es das Aussäen und die Zucht von Mais, die Reparatur eines Panzers, die Führung eines belorussi-schen Traktors oder das Malen eines Ölgemäldes. Diese Vielseitigkeit hatte er – neben vielen anderen Dingen – seiner verstorbenen Großmutter Rosa Inés zu verdanken, einer intelligenten, einfachen und sehr fleißigen Frau mit großen pädagogischen Fähigkeiten und außergewöhnlicher Lebensklugheit. Sie zog ihn auf und gab ihm von Kindesbeinen an eine Lebensphilosophie mit auf den Weg. Sie erzählte ihm die Geschichte der Menschen des Landes, sie gab ihm Beispiele der Solidarität mit auf den Weg, erklärte ihm die Ge-heimnisse der Landwirtschaft, lehrte ihn, im kleinen Familiengarten zu arbei-ten, zu ernten, die Tiere zu hüten, zu kochen und das einfache Häuschen mit Palmdach und Erdboden, in dem er und sein Bruder Adán aufwuchsen, zu putzen und ordentlich zu halten.

Hugo Chávez war ein sehr armes Kind. Doch die Armut wurde durch die wunderbare Liebe seiner Großmutter gelindert, seiner »alten Mama«, wie er sie

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nannte. »Ich würde meine Kindheit gegen keine andere tauschen wollen«, sagte er mir. »Ich war das glücklichste Kind der Welt.« Im Alter von sechs oder sieben Jahren verkaufte er in den Straßen seiner Stadt Araña-Konfekt, das seine Groß-mutter aus den Früchten des heimischen Gartens herstellte. Die Einnahmen aus diesem Straßenverkauf waren fast die einzigen Einkünfte des Haushalts. Der kleine Huguito bastelte zudem hübsche Drachen oder »Papagayos« aus Schilf-rohr und Papier, deren Verkauf für etwas zusätzliches Geld sorgte.

Der junge Chávez prägte sich auf diese Weise drei Arten des Lernens ein, die er stets bewahren sollte: die Schul- oder theoretische Bildung, die auto-didaktische Bildung und die praktische Lehre. Das Schöpfen aus diesen drei Wissensquellen – von denen er keine den anderen vorzog – ist einer der Schlüsselaspekte, um seine einzigartige Persönlichkeit zu verstehen.

Zugleich wurde seine Gedankenwelt von anderen Eigenschaften bestimmt. Erstens durch seine unglaubliche Gewandtheit in zwischenmenschlichen Be-ziehungen und der Kommunikation. Die Fähigkeit, sein eigenes Bild zu kon-trollieren und zu verändern. Sein bewundernswert leichter Umgang mit der Sprache, den er sich ohne Zweifel in seinen Jahren als junger Straßenverkäufer angeeignet hatte, als er mit potenziellen Kunden am Ausgang des Kinos, der Geschäfte, am Ende des Ballspiels oder der Hahnenkämpfe plauderte und mit ihnen feilschte. Er konnte sich außergewöhnlich gut mit anderen Menschen unterhalten, er war darin seit den Zeiten als Oberschüler geübt und trainiert. Als Kadett moderierte er Feiern und war ein Zeremonienmeister in der Mili-tärakademie, spezialisiert auf die Wahl von Schönheitsköniginnen.

Die Ansprachen dieses Ausnahmeredners waren unterhaltsam und um-gangssprachlich gehalten, mit Anekdoten untermalt, mit humoristischem An-strich und mitunter sogar mit Liedern. Doch auch wenn sie nicht so schienen, waren seine Reden zugleich ausgefeilte und sehr strukturierte didaktische Kompositionen, die mit konkreten Zielstellungen ernsthaft und professionell vorbereitet wurden. Es ging gemeinhin darum, eine zentrale Idee zu vermit-teln, die sich wie ein roter Faden durch seine Rede zog.

Aber um seine Zuhörer nicht zu langweilen und anzustrengen, verließ Chávez diesen Hauptweg mitunter, um, sagen wir, Exkursionen in Nebenge-biete zu unternehmen (Erinnerungen, Anekdoten, Witze, Gedichte, Volkslie-der), die nichts mit seinem Hauptanliegen tun zu haben schienen. Dennoch

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Einleitung

gab es immer eine Verbindung. Nachdem er sein Hauptthema anscheinend für längere Zeit verlassen hatte, erlaubte ihm diese Methode, dieses Thema an exakt dem Punkt wieder aufzunehmen, an dem er es verlassen hatte. Auf sub-tile und wundersame Weise beförderte dies die Bewunderung seiner Zuhörer.

Derartige rhetorische Techniken erlaubten es ihm, lang andauernde Reden zu halten. Einmal frage er mich: »Wie lange dauern gewöhnlich die Reden führender Politiker in Frankreich?« Ich antwortete ihm, dass sie in wenigen Fällen, etwa im Wahlkampf, eine Stunde betragen. Er hielt inne und gestand mir dann: »Ich brauche schon vier Stunden, um warmzulaufen.«

Zweite Eigenschaft: sein Wettkampf-Charakter. Er war ein geborener Ge-winner. Von klein auf war er ein leidenschaftlicher Sportler, ein fast profes-sioneller Baseball-Spieler und ein schlechter Verlierer, der für sein Bestreben bekannt war, mit der gebotenen Sportlichkeit alles für den Sieg zu geben. »Ich war ein ziemlich guter Pitcher«, erinnerte er sich: »Das Baseball-Spiel war meine Obsession. Es lehrte mich Kraft, Hartnäckigkeit, Leidensfähigkeit und Charakter. Baseball ist die beliebteste Sportart des Landes. In Venezuela leben rund 30 Millionen Baseball-›Experten‹.«

Drittens: sein spielerisches Faible für unterschiedliche Ausdrucksformen der Volkskultur – ellenlange Llanero-Romanzen und -Gedichte, die er feh-lerfrei rezitieren konnte, Joropo-Lieder der Llanos, mexikanische Rancheras, Lieder des talentierten Sängers Alí Primera, Zitate aus unvergessenen Kas-senschlagern des mexikanischen Volkskinos der Jahre 1950 bis 1960 oder der Klassiker des Straßenfilms aus Hollywood, in denen bekannte und volksnahe Charaktere wie Charles Bronson oder Clint Eastwood mitspielten.

Er war zudem ein regelmäßiger und gut informierter Zuschauer der Pro-gramme und Entertainer der venezolanischen Fernsehsender. All diese sym-bolischen Bezugspunkte der Massenkultur, die das breite Publikum im Land erreichte, erlaubten es ihm, unmittelbaren Zugang zu den Bürgern zu finden.

Viertens: seine volksnahe Religiosität. »Ich bin mehr Christ als Katholik«, gab er zu. Und mehr als einen »Christen« könnten wir ihn »christolatrisch« nennen, einen begeisterten Anhänger der Lehren Jesus Christus’, wie sie in den Evangelien überliefert sind. Er sah in Jesus den »ersten Revolutionär«. Of-fensichtlich ging er weder jeden Sonntag zur Messe noch empfand er, bis auf einige Ausnahmen, besonderen Respekt für die hohe Kirchenhierarchie. Aber

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er glaubte an Wunder und die wundertätige Wirkung der Heiligen – ob kano-nisiert oder nicht – und pflegte, ebenso wie seine Großmutter, einen ganz spe-ziellen, frommen Glauben an die Jungfrau von Rosario, die Schutzheilige von Sabaneta. Sein volkstümlicher Glaube, der sich auch auf andere Religionen wie die indigenen, afrokaribischen, evangelischen und weitere Ausdrucks-formen stützte, war ehrlich. Auch auf dieser Basis kommunizierte er mit der allergrößten Mehrheit der Venezolaner.

Fünftens: seine militärischen Führungsqualitäten. In der Akademie hatte er gelernt, andere zu leiten und sich durchzusetzen. Man brachte ihm bei, sich als Vorgesetzter und Anführer zu verhalten. Das vergaß er nie. Und wehe, jemand ignorierte das: Derjenige musste mit massiver Zurechtweisung rech-nen. Er war ein Mann von anerkannter Liebenswürdigkeit, aber auch seine Verärgerung und sein Zorn waren legendär. Er war der beste Kadett seines Jahrgangs gewesen, mit einer in Theorie und Praxis anspruchsvollen Aus-bildung, deren Härte sich in der preußischen Tradition der venezolanischen Armee begründet. Die militärische Dimension machte den Kern seiner Aus-bildung aus. Denn in dieser harten Schule entwickelte er eine entscheidende Eigenschaft: das strategische Denken. Sich daran zu gewöhnen, weit voraus-zuschauen, sich ambitionierte Ziele zu setzen und Wege zu finden, sie umzu-setzen. Er selbst bekräftigte: »Vom ersten Moment an gefiel mir das Dasein als Militär. In der Akademie lernte ich, was Napoleon den ›Zeitpfeil‹ nannte. Wenn ein Stratege einen Kampf plant, muss er von vornherein den ›histori-schen Moment‹ im Kopf haben, ebenso die ›strategische Stunde‹ und die ›tak-tische Minute‹, um schließlich zur ›Sekunde des Sieges‹ zu gelangen. Dieses Denkschema habe ich nie vergessen.«

Sechstens: seine Gabe, unterschätzt zu werden. Seine Gegner und sogar einige seiner Freunde tendierten stets dazu, ihn unterzubewerten. Vielleicht, weil er viel redete oder Witze zum Besten gab, oder wegen seiner Genügsam-keit, seinem Erscheinungsbild, oder aus anderen Gründen. Tatsache ist, dass viele ihn in seinem Tun falsch einschätzten. Ein schwerer Fehler. Wer ihn be-ging, sollte dies bitter bereuen und am Ende in den Staub beißen.

Siebtens: seine Hingabe und sein Fleiß. Er war ein unermüdlicher, zielbe-wusster und ausdauernder Arbeiter. Rastlos, ein Nachtmensch. Auszeiten am Wochenende waren ihm ebenso unbekannt wie Sonntagsruhe oder Urlaub. Er

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Einleitung

war ausnahmslos jeden Tag tätig, bis tief in die Nacht. Er schlief gerade ein-mal vier Stunden und stand um sechs Uhr morgens auf. »Das ist kein Opfer«, sagte er mir einmal. »Es ist nur so, dass die Zeit für alle anstehenden Aufga-ben nicht ausreicht. Das Volk erwartet viel von uns, und wir dürfen es nicht enttäuschen. Es hat Jahrhunderte gewartet.« Er hatte keine Bedenken, seine Minister und Mitarbeiter seinem Rhythmus zu unterwerfen. Sie alle wussten, dass sie zu jeder Tages- oder Nachtzeit bereitstehen mussten. Und wenn sie in einer Sache gescheitert waren, mussten sie mit einer schrecklichen und rück-sichtslosen Standpauke rechnen. Der jeweilige Minister des Präsidialamtes, der das Kabinett leitete und somit in der ersten Reihe stand, war ohne Zweifel die gestressteste Person in ganz Venezuela. Der Verschleiß auf diesem Posten war groß, es war der Regierungsposten mit den meisten Neubesetzungen.

Und schließlich: Seine Solidarität mit den Armen, der sozialen Gruppe, mit der er sich identifizierte. Er sagte mir immer wieder: »Ich habe einen Satz des italienischen Marxisten Gramsci stets präsent: ›Mal soll nicht zum Volk gehen, sondern das Volk sein.‹« Er hatte seine Kindheit und seine Jugend un-ter Armen verbracht, und seine »alte Mama« hatte ihm für immer den Re-spekt für die einfachen Menschen eingebläut. »Durch sie«, bekannte er mir gegenüber, »habe ich die Werte der Vergessenen gelernt, derer, die nie etwas besaßen und doch die Seele Venezuelas sind. An ihrer Seite konnte ich die Ungerechtigkeiten dieser Welt und den Schmerz erkennen, manchmal noch nicht einmal etwas zu essen zu haben. Sie lehrte mich die Solidarität und das Wenige, das die Familie besaß, mit denen zu teilen, die noch weniger hatten. An ihre Lehren werde ich mich immer erinnern. Nie werde ich meine Ur-sprünge vergessen.«

Wir verließen Barinas und fuhren in Richtung Sabaneta 6, seinem Geburts-ort, der rund 60 Kilometer entfernt lag. Es war schon nach zehn Uhr abends, wir fuhren in völliger Dunkelheit. Während er lenkte, bat der Präsident ab und an um eine Tasse schwarzen Kaffee. Chávez war ein passionierter Kaf-feefreund, manchmal trank er bis zu 30 kleine Tassen pro Tag. Im Privaten habe ich ihn auch schon einmal eine Zigarette rauchen sehen, aber nie in der Öffentlichkeit.

Auf halber Strecke gerieten wir überraschend in eine Straßenkontrolle. Eine Militärpatrouille hatte den Weg gesperrt, um die Kofferräume der Autos

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und die Papiere der Fahrer zu kontrollieren. Sie waren auf der Suche nach Drogen und geschmuggelten Waffen, die man dort, nahe der Grenze zu Ko-lumbien, häufig findet. Die Soldaten hatten über den Asphalt der Straße eine Art Metallband mit Stahlzacken gelegt. Der Geländewagen des Begleitschut-zes fuhr im Straßengraben an der Reihe wartender Autos vorbei. Sie sprachen mit dem Offizier. Sofort befiel die Soldaten eine hektische Betriebsamkeit. Aber Chávez wollte keine Vorzugsbehandlung. Er wartete, bis er an der Reihe war. Die Kontrolle der drei oder vier Autos vor uns beschleunigte sich. Wir fuhren zum Verantwortlichen vor. Er nahm Haltung an. Zwei Personenschüt-zer näherten sich. Chávez fuhr das Autofenster runter und grüßte den Offizier mit aufrichtiger Zuneigung. Dann löcherte er ihn mit Fragen: wie er hieße, woher er stamme, zu welchen Regiment er gehöre, wer sein Vorgesetzter sei, ob er verheiratet sei, über die Kinder, die Ehefrau, die Familie etc. Nach die-sem fast freundschaftlichen Protokollteil befragte er ihn in militärischerem Ton zu seinem Einsatz: worum es gehe, über den Grund des Einsatzes, was die Ziele und die Ergebnisse seien. Als wir weiterfuhren, sagte er zu mir: »Sie ha-ben Gruppen bewaffneter Männer ausgemacht, die in das Land eingedrungen sind. Gemeinhin sind das Paramilitärs und gedungene Mörder. Sie treiben hier ihr Unwesen mit einem sehr klaren politischen Ziel: zu destabilisieren und die Vorstellung zu stärken, dass im bolivarischen Venezuela Unsicherheit und Rechtlosigkeit herrschen. Einigen ist es sogar gelungen, bis nach Caracas vorzudringen, wo sie in gewaltgeplagten Vierteln den Drogenhandel kontrol-lieren. Andere haben eine sehr präzise Mission: mich zu ermorden. Wir haben einmal ein Kommando von 150 Männern mit Waffen und in Uniformen der venezolanischen Armee festgesetzt.7 Sie bedrohen weiterhin mein Leben, aber inzwischen funktioniert unser Militärgeheimdienst. Das ist der Unterschied zum Jahr 2002. Wenn sie einen weiteren Staatsstreich wie damals, am 11. Ap-ril 2002, versuchen, werden sie es bereuen. Denn wir werden die Revolution weiter vertiefen.«

Wir erreichten Sabaneta. Bevor wir in den Ort kamen, fuhr Chávez von der asphaltierten Straße ab und nahm einen steinigen Weg voller Schlaglö-cher und Kurven. Plötzlich umgab uns dichte Vegetation. Um uns herum war es stockdunkel. Die Geländewagen tasteten sich langsam im Lichtkegel der Scheinwerfer vor. Chávez wollte mir die Furt im Río Boconó zeigen, um

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Einleitung

die herum Sabaneta gegründet worden war. »Der Paso Baronero, wie diese Furt heißt«, erklärte er mir, »war der einzige Weg für alle, die aus den Llanos nach Zentralvenezuela reisen wollten. Alle Straßen führten zu diesem Punkt. Im Umkreis wurden Raststätten und Herbergen gebaut. Und so entstand Sa-baneta. Die Stadt wurde eben auf einer ›Sabaneta‹ gegründet, einer weiten Hochebene am Fuß der Berge am rechten Ufer des Boconó.«

Wir erreichten einen kleinen Platz. Hier parkten wir und stiegen aus den Autos. Im Licht der Taschenlampen näherten wir uns mit großer Vorsicht dem waldigen Ufer des Flusses. Das schwarze Wasser floss ruhig und machte ein Geräusch, gleich dem eines sterbenden Raubtiers. Dieser Ort wirkte auf mich beunruhigend und finster. Aber Chávez war glücklich, entspannt und gut gelaunt. Er bewegte sich, ohne auf den Schein einer Taschenlampe ange-wiesen zu sein. Aus voller Lunge atmete er die Luft mit ihren nächtlichen Aro-men ein. »Hier fühle ich mich wie ein Fisch im Wasser. Zu diesem Ort bin ich tausende Male gekommen, um mit meinen Brüdern und meinen Freunden zu spielen, um zu baden, mit meinem Vater zu fischen, um diese Oase der Natur zu genießen, diesen erfrischenden Zufluchtsort in der Gluthitze des Sommers in den Llanos.«

Dann stiegen wir wieder ein und kehrten zur Straße zurück. Während der ganzen Fahrt empfing er ständig Anrufe. Von Mauricio Funes 8, der damals gerade zum Präsidenten von El Salvador gewählt worden war, vom Bildungs-minister in einer Angelegenheit, die die Universität der Streitkräfte betraf, vom Gesundheitsminister (»Es gibt keinen Fall von Schweinegrippe«), von verschiedenen Gouverneuren.

Chávez führte diese Telefonate während der Autofahrt mit großer Ernst-haftigkeit. Er war knapp und konkret, hörte zu und entschied dann. Eine plötzlich eintreffende Nachricht des Vize-Präsidenten 9 (einem Premierminis-ter ähnlich) beunruhigte ihn. Er zeigte sie mir: »Gruppe mit schweren Waf-fen FAL ausgemacht. Fünf mit Teleskopsichtgeräten. 2 Pistolen, 6 Revolver, 3 Gewehre. Ausländer. Dominikaner.« Er antwortete und bekam umgehend eine Reaktion: »Halbes Kilo C4-Sprengstoff. 20 000 Patronen. Sechs Militär-uni formen. Symbole. Westen. Autokennzeichen. Ersatzmunition. 9 Pulver-dosen. Radiostation. 3 Walkie-Talkies. 3 Dominikaner. 2 Männer, 1 Frau. Jung. Frau 28 Jahre, Männer 36. In Wohnung eines Europäers.« Später sollten wir

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die Namen der Dominikaner erfahren (Luini Omar Compusano de la Cruz, Edgar Floirán Sánchez und Diomedis Campusano Pérez). Bei dem Europäer handelte es sich um einen Franzosen, Frédéric Laurent Bouquet. Der Fall, der zunächst mehr mit Drogenhandel und Waffenschmuggel tun zu haben schien, wurde auf einmal politisch, denn es schien um versuchten Präsidentenmord zu gehen.10

Es war schon sehr spät am Tage. Wir kamen nun nach Sabaneta und fuhren zum ältesten Teil der Stadt. »Sie ist sehr gewachsen. In meiner Kindheit war dieser Ort ein Weiler mit vier Erdwegen. Im Winter war alles so schlammig, dass keine Autos mehr durchkamen. Dennoch war es meine eigene Welt. Wie ein Brennglas für alle Wirrungen dieses Planeten.« Er zeigte mir auf dem Ca-moruco-Platz einen jahrhundertealten Baum: »Unter diesem Baum hat sich Bolívar ausgeruht. Es gibt dafür zwar keinen historischen Beleg, aber die Erin-nerung des Volkes hat dieses Andenken von Generation zu Generation weiter-gegeben.« Danach gingen wir zur Kirche, einen modernernen, gewöhnlichen Sakralbau. »Das ist die Kirche meiner Kindheit, in der ich Messdiener war. Damals war sie einfacher und aus Holz, authentischer und ansprechender. Aber sie brannte ab, und dann haben sie dieses Gebäude errichtet.«

Zu dieser Uhrzeit waren die sauberen und gut beleuchteten Straßen fast leer. Sie verliefen im rechten Winkel zueinander, so dass quadratische Häu-serblöcke mit einer Seitenfläche von je rund 100 Metern entstanden. Sabaneta war ein Ort mit ländlicher Atmosphäre, bescheiden und einfach, mit meist eingeschossigen Häusern.11 Auch jetzt in der Nacht herrschte noch eine erdrü-ckende Hitze. Man sah immer wieder geöffnete Fenster. Vom Auto aus konn-ten wir einige der Familien im Licht ihrer Wohnzimmer vor dem Fernseher erkennen. Andere hatten Stühle vor die Türen gestellt, um sich an der frischen Luft in gemütlicher Runde zu unterhalten. Mehrere Kinder spielten mit ihren Fahrrädern. Wie in den Dörfern des spanischen Kastiliens sah man bisweilen Frauen in Gruppen auf kleinen Stühlen mit dem Rücken zur Straße sitzen und sich unterhalten.

Unsere Autos waren zu dieser Stunde die einzigen auf der Straße. Während sie mit der flachen Hand nach den Moskitos schlugen, schauten uns die Leute misstrauisch nach. »Ich kenne fast alle diese Leute«, sagte mir Chávez, »aber wenn wir nun anhalten, um ihnen einen Besuch abzustatten, strömt der ganze

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Einleitung

Ort zusammen, um uns zu begrüßen, und dann kommen wir hier bis zum Morgengrauen nicht weg.«

Dann zeigte er mir einige aussagekräftige Orte seiner Kindheit. »Hier war das Kino; dort die Eisdiele, an die wir das Obst aus dem Garten meiner Großmutter verkauften; in diesem Kiosk kauften mein Bruder Adán und ich die Heftchen und ›Beilagen‹ (Comics) vom Mann mit der silbernen Maske, Charrito de Oro und anderer Helden meiner Kindheit; in allen diesen Straßen verkaufte ich mein Araña-Konfekt; an dieser Ecke gab es Chicha 12 bei Timo-león Escalona; dort wohnten die Italiener; dort die Russen; etwas weiter die Araber; dort die Einwanderer von den Kanaren; das ist die Calle Real, wo ich gestürzt bin und mir fast die Nase gebrochen habe. Das war meine Schule, da-mals die einzige im Ort. Ich glaube, ich war ein ganz guter Schüler und wurde von meinen Lehrerinnen ziemlich verwöhnt.«

Wir stiegen zum alten Haus seiner Großmutter hoch, in dem er geboren wurde und aufwuchs. Er blieb nicht stehen. Als ob er seine glücklichen Er-innerungen nicht entschwinden lassen wollte: »Wir waren sehr arm, wirk-lich die Ärmsten der Armen. Das Haus wurde inzwischen abgerissen; es ist nichts übriggeblieben, ebenso wenig der große Garten, etwa ein Viertelhektar. Vielleicht sind noch einige der Mangobäume von damals hier, von vor über 50 Jahren. Alles andere hat die Zeit fortgetragen. Aber es bleibt für immer in meinem Gedächtnis bewahrt.«

Wir verließen Sabaneta, das Macondo [Handlungsort des Romans »Hun-dert Jahre Einsamkeit« von Gabriel García Márquez; d. Ü.] seiner Seele, und tauchten wieder in die Hitze dieser Nacht in den Llanos ein. Der Präsident fuhr schweigsam und mit sicherem Blick auf die Straße, aber in sich gekehrt, tief in seine Erinnerungen versunken. So verging eine Weile, bis er sagte: »Eines der wichtigsten Dinge ist, nie das Bewusstsein für seine Herkunft zu verlieren.«

Ich hatte Hugo Chávez 1999 kennengelernt. Zum ersten Mal sprach ich mit ihm in Caracas, einige Monate nach der Übernahme des Präsidentenamtes. Er hatte damals den Ruf eines Militärputschisten. Also das denkbar Schlimmste in Lateinamerika, wo die Bürger über Jahrzehnte von der Brutalität der »Go-rillas«, der Diktatoren, gepeinigt wurden.

Venezuela war mir nicht unbekannt. Zunächst aus beruflichen Gründen: An der Universität Paris VII war ich zwischen 1970 und 1980 am Lehrstuhl

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Mein Erstes Leben

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für »Soziologie Lateinamerikas« tätig. Bei der Zeitung Le Monde diplomatique leitete ich mehrere Jahre die Sparte »Geopolitik Lateinamerikas«, was mir ermöglichte, in Paris – neben anderen venezolanischen Persönlichkeiten – den Guerilla-Veteranen Douglas Bravo und seine damalige Lebensgefährtin Argelia Melet zu langen Gesprächen zu treffen.

Venezuela war sogar eines der Länder Südamerikas, die ich am meisten be-sucht hatte. Das lag auch an den Wegen, die meine Biografie genommen hat. In den 80er Jahren verband mich eine enge Freundschaft mit Mariana Otero, der Tochter des großen venezolanischen Schriftstellers und Intellektuellen Miguel Otero Silva und der progressiven Aktivistin María Teresa Castillo. Und Schwester von Miguel Henrique Otero, dem aktuellen Herausgeber der Tages-zeitung El Nacional.

Dank ihnen und ihrer warmherzigen Gastfreundschaft in ihrem Som-merapartment in Macuto und dem unvergessenen Haus »Macondo« in Caracas, voll mit edlen Kunstwerken und Erinnerungen an all die Persön-lichkeiten, die sich dort aufgehalten hatten (Alejo Carpentier, Pablo Neruda, Gabriel García Marquez, François Mitterand, Lacan u. a.), konnte ich einige der führenden venezolanischen Journalisten, Schriftsteller, Künstler und In-tellektuellen kennenlernen. Von der innig geliebten Margot Benacerraf bis hin zu dem gutherzigen Schriftsteller Arturo Uslar Pietri, aber auch José Vi-cente Rangel, Moisés Naím, Teodoro Petkoff, Oswaldo Barreto, Tomás Borge, Tulio Hernández, Antonio Pasquali, Isaac Chocrón, Ignacio Quintana, Juan Barreto, Ibsen Martínez, José Ignacio Cabrujas, Haydée Chavero und viele, viele andere.

Ich hatte zudem das Glück, mich in Venezuela just zu einigen der Schlüs-selmomente seiner jüngsten Geschichte aufzuhalten. So kehrte ich unmittel-bar nach dem »Caracazo« [Volksaufstand in Caracas und anderen Städten, d. Ü.] am 27. Februar 1989 in das Land zurück, weil ich zu einigen Vorträgen eingeladen war. Ich erinnere mich, damals ein traumatisiertes Land vorge-funden zu haben, dem der Schreck angesichts solcher Gewalt noch in den Gliedern steckte. Ich wurde Zeuge, wie sich ein Teil der Bourgeoisie unter dem Schock der Vorkommnisse bewaffnete, um sich verteidigen zu können. Ich nahm sogar an Gruppenkursen teil, in denen wir im Umgang mit Waffen trainiert wurden.

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