Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische...

44
Hochschule für Kirchenmusik der Evangelischen Landeskirche in Baden, Heidelberg Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers Schriftliche Hausarbeit im Rahmen des Diplomstudienganges Kirchenmusik B Verfasser: Andreas Schneidewind März 1997

Transcript of Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische...

Page 1: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

Hochschule für Kirchenmusik der Evangelischen Landeskirche in Baden, Heidelberg

Hugo Distler:

Geistliche Chormusik op. 12

Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers

Schriftliche Hausarbeit im Rahmen des

Diplomstudienganges Kirchenmusik B

Verfasser: Andreas Schneidewind

März 1997

Page 2: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

INHALTSVERZEICHNIS

1 ENTSTEHUNGSGESCHICHTE - ÜBERSICHT DER MOTETTEN 1

2 TYPISCHE STILISTISCHE MERKMALE DER VOKALMUSIK HUGO DISTLERS 4

2.1 Melodik 4 2.1.1 Pentatonik und daraus resultierende Intervall struktur 4 2.1.2 Intervalle als formbildende Elemente 7 2.1.3 Musikali sche Rhetorik 9 2.1.4 Melismen 10

2.2 Satztechnik 11 2.2.1 Satzbeginn 11 2.2.2 Schlußklauseln 12 2.2.3 Besetzung 12 2.2.4 Stimmlagen 13 2.2.5 Homophonie/Polyphonie 14

2.3 Harmonik 16 2.3.1 Melisma-Begleitung 16 2.3.2 Mediantik 17 2.3.3 Besondere Klänge 17 2.3.4 Schlußwendungen 19

2.4 Rhythmik 20 2.4.1 Rhythmische Verschleierung 20 2.4.2 Rhythmik im Melisma 22 2.4.3 Weitere rhythmische Mittel 22

2.5 Form 23

3 DIE BEIDEN SPÄTEN MOTETTEN - ERWEITERUNG DER MITTEL 25

3.1 „Das ist j e gewißli ch wahr “ 25

3.2 „Fürwahr , er trug unsere Krankheit“ 32

3.3 Zusammenfassung 38 ANHANG 39 Anhang 1: Aufstellung der Motive des Totentanzes 39 Anhang 2: Intervall konstellationen bei pentatonischen Skalen 41 LITERATURVERZEICHNIS 42

Page 3: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

1

1 Entstehung sgeschichte - Übersicht der Motetten Für die Entstehung der Motetten der Geistlichen Chormusik lassen sich zwei Zeitabschnitte unterschei-

den: ihr größter Teil , nämlich die ersten sieben1, entstand ab 1934 in Lübeck, wo Distler seit 1. Januar

1931 als Organist, seit April desselben Jahres außerdem als Kantor an der St. Jakobi-Kirche wirkte.

Später komponiert und dem Zyklus als Nr. 8 u. 9 hinzugefügt sind die beiden Motetten „Das ist je ge-

wißlich wahr“ und „Fürwahr, er trug unsere Krankheit“ , beide nach 1937 während seiner Lehrtätigkeit

in Berlin entstanden und 1941 im Druck erschienen.2 Diese beiden Motetten waren ursprünglich als

Rahmenchöre für eine Johannes-Passion bestimmt, deren Komposition Distler aber nicht weiter verfolgt

hat. Die beiden Motetten „ Ich woll t, daß ich daheime wär“ und „ In der Welt habt ihr Angst“ komponier-

te Distler aus persönlichen Anlässen (letztere beim Tod seiner Schwiegermutter).

Die Bedingungen, die Distler in Lübeck vorfand, waren für die Komposition vokaler Kirchenmusik her-

vorragend. Seine Intention, Kirchenmusik mit ausschließlich li turgischer Bestimmung zu schreiben, fiel

sowohl bei Axel Werner Kühl (seit 1928 Pastor an St. Jakobi) als auch bei Bruno Grusnick (Leiter des

„Lübecker Sing- und Spielkreises“ ) auf fruchtbaren Boden. Beide waren als Michaelsbrüder Verfechter

der Liturgischen Erneuerungsbewegung, die sich von der Kirchenmusik der Romantik (autonome

Kunstwerke, gefühlsbetont) distanzierte und für eine Musik im Dienst der Kirche einsetzte. Der Kom-

ponist hatte sich nach den Vorstellungen der Bewegung den Forderungen der Kirche unterzuordnen und

die Musik in den Dienst von Verkündigung und Anbetung zu stellen. „Jede geregelte Kirchenmusik

setzt ... li turgische Ordnung voraus ...“ 3.

Des weiteren ermöglichte der 1929 durch Bruno Grusnick gegründete „Lübecker Sing- und Spielkreis“

Distler die Aufführung seiner Werke unmittelbar nach ihrer Entstehung und somit eine wertvolle Kon-

trollmöglichkeit mit einem Chor als Klangkörper.

So entstand über Jahre hinweg eine erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen Distler als Komponist,

Grusnick als Chorleiter und Kühl als Pastor.4

Entsprechend dem li turgischen Bestimmungsort der Motetten in den Musikalischen Vespern entstanden

zwei unterschiedliche Motettenformen: die Schriftwort-Motette als „Verkündigung und musikalische

Auslegung des Schriftwortes“ 5 (statt einer Lesung) und die Choralmotette (meist nach einer Lesung).

1 Vgl. Übersicht S. 3 2 Ursula Rauchhaupt: Die vokale Kirchenmusik Hugo Distlers, S. 135 3 Ebd. S. 23 4 Grusnick selbst lobt diese Zusammenarbeit in seiner Schrift „Hugo Distler“ , dort S. 8. 5 U. Rauchhaupt: Die vokale Kirchenmusik Hugo Distlers, S. 67

Page 4: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

2

Eine formale Ausnahme stell t hierbei der „Totentanz“ dar, bei dem neben die kurzen Spruchvertonungen

auch gesprochene Dialoge und Flötenvariationen treten.6

Daß Hugo Distler seine Sammlung mit „Geistliche Chormusik“ betitelt, ist deutliches Zeichen dafür,

wie sehr Heinrich Schütz für diese Motetten - letztlich für sein gesamtes geistliches Vokalwerk - Vor-

bildcharakter hat, sicher nicht zuletzt wegen der ausschließlichen Ausrichtung der Musik auf den Got-

tesdienst.

Es folgt eine tabellarische Übersicht, die über Bestimmung, Quelle des Textes, Gattung, Form und Be-

setzung der einzelnen Motetten Auskunft gibt.

6 Eine ausführli che Betrachtung der Zusammenhänge zwischen den liturgischen Ordnungen an St. Jakobi, den aufführungspraktischen Möglichkeiten sowie der Liturgischen Bewegung findet sich ebd. (1. Kapitel).

Page 5: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

T

itel

B

esti

mm

ung

Que

lle d

es T

exte

s G

attu

ng

For

m

Bes

etzu

ng

Nr.

1

Sing

et d

em H

errn

ein

neu

es L

ied

frei

Ps

alm

98

Schr

iftw

ort-

Mot

ette

3t

lg.:

I.

A B

A’

B’

A’’

C

II.

D E

(Fug

e) F

III

. G (h

ier

T. 1

-40)

A’’’

F’

Cho

r a

cap

pell

a, 4

stg.

Nr.

2

Tot

enta

nz

Tot

enso

nnt

ag

gesp

roch

ene

Dia

loge

: L

übec

ker

Tot

enta

nz 1

463

Spru

chve

rton

unge

n:

Ang

elus

Sil

esiu

s:

Che

rubi

nisc

her

Wan

ders

man

n

(167

4)

Spru

chve

rton

unge

n −

14 S

pruc

hver

tonu

ngen

12 F

löte

nvar

iati

onen

übe

r „E

s is

t ein

Sc

hni

tter

hei

ßt d

er T

od“

− 13

ges

proc

hene

Dia

loge

Cho

r a

cap

pell

a, 4

stg.

Fl

öte

Nr.

3

Wac

h a

uf, d

u de

utsc

hes

Rei

ch

Ref

orm

atio

ns-

fest

C

hora

l C

hora

lmot

ette

1.

, 3.,

5. &

7. V

ers:

gle

iche

Ver

tonu

ng

2., 4

. & 6

. Ver

s: f

rei

Cho

r a

cap

pell

a, 4

stg.

2

Sopr

anso

li

Nr.

4

Sing

et f

risc

h u

nd w

ohlg

emut

W

eih

nach

ten

Joha

nn

Gel

etzk

y 14

30

Cho

ralm

otet

te

(Res

onet

in

laud

ibus

)

3tlg

.: I.

ha

upts

ächl

ich

imit

ator

isch

, ab

T.6

2 Fu

ge

II.

2stg

. S/A

, im

itat

oris

ch

III. h

aupt

s. h

omop

hon

Cho

r a

cap

pell

a, 4

stg.

Nr.

5

Ich

wol

lt, d

aß ic

h d

ahei

me

wär

fr

ei (

Ster

ben

u.

Ew

iges

L

eben

)

Hei

nric

h v

on L

aufe

nber

g 14

30

Cho

ralm

otet

te

c.f.

in d

en e

inze

lnen

Str

ophe

n:

1 S

/ 2

A /

3 B

/ 4

S /

5 A

/ 6

T /

7 B

/ 9

T /

10 S

+A

/ 1

2 S

→ 8

. u. 1

1. S

tr. n

icht

ver

tont

Cho

r a

cap

pell

a, 4

stg.

Nr.

6

Wac

het a

uf, r

uft u

ns d

ie S

timm

e T

oten

son

ntag

Ph

ilipp

Nic

olai

159

9 C

hora

lmot

ette

3t

lg.:

(ent

spr.

den

3 S

trop

hen)

: I.

c.

f. v

or a

llem

im B

II

. 2

S-So

li, C

hora

l im

Cho

r III

. c.f

. vor

all

em in

T+

A

Cho

r a

cap

pell

a, 5

stg.

2

Sopr

anso

li

Nr.

7

In d

er W

elt

habt

ihr

Ang

st

Beg

räbn

is

− Jo

h. 1

6, 3

3 −

Nik

olau

s H

erm

ann

156

0 Sc

hrif

twor

t-M

otet

te

mit

Schl

ußch

oral

2t

lg.:

Mot

ette

- C

hora

l C

hor

a c

appe

lla,

4st

g.

Nr.

8

Das

ist j

e ge

wiß

lich

wah

r fr

ei (

Pass

ion)

1. T

imot

h. 1

, 15-

17

− na

ch d

em la

t. „

Lau

s ti

bi“,

Sa

lzbu

rg 1

350

Schr

iftw

ort-

Mot

ette

m

it Sc

hluß

chor

al

2tlg

.: M

otet

te -

Cho

ral

Cho

r a

cap

pell

a, 4

stg.

Nr.

9

Fürw

ahr,

er

trug

uns

ere

Kra

nkhe

it

Pass

ions

zeit

Jesa

ja 5

3, 4

+5

− Pa

ul G

erha

rdt 1

647

Schr

iftw

ort-

Mot

ette

m

it Sc

hluß

chor

al

2tlg

.: M

otet

te -

Cho

ral

Cho

r a

cap

pell

a, 4

stg.

Abb

ildu

ng 1

: T

abel

lari

sche

Übe

rsic

ht d

er M

otet

ten

der

Gei

stli

chen

Cho

rmus

ik H

ugo

Dis

tler

s

Andreas
Schreibmaschinentext
Andreas
Schreibmaschinentext
Andreas
Schreibmaschinentext
Andreas
Schreibmaschinentext
Andreas
Schreibmaschinentext
3
Page 6: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

4

2 Typische stili stische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers

2.1 Melodik

2.1.1 Pentatonik und daraus resultierende Intervallstruktur Für die Motetten der Geistlichen Chormusik, wie für fast alle Vokalmusik Distlers, ist die Pentatonik

stilbildend. Am häufigsten findet sie sich in den ausgedehnten Melismen:7

Bsp. 1: " Singet fr isch..." ; Teil I , T. 128ff . Sopran � � �� � � � � �� � � � � � �� � � � � � � �� � � � � � � � �

Bsp. 2: " Wachet auf..." ; Teil I , T. 74f. Sopran+Alt � � � � � � � � � � � � � � � � � � � �

Am Beispiel der Motette „ Singet dem Herrn ein neues L ied“ wird deutlich, wie wirkungsvoll Distler

die Pentatonik zur Motivgestaltung ausnützt:

Das erstmals im Sopran auftauchende Motiv „Singet dem Herrn“ (T. 4/5; siehe Notenbsp. 6) scheint

durch die Dreiklangstöne f’’ , d’’ und b’ sowie durch das diatonische c’’ eindeutig auf B-Dur hinzudeu-

ten, mit dem g’ in T. 5 läßt sich das Motiv aber genauso pentatonisch definieren (pentatonische Skala

auf b). Damit wird auch die bewußte Vermeidung des Tones es’’ als 4. Stufe in diesem Motiv verständ-

lich (bei dem hieraus abgeleiteten Motiv in Teil II , T. 19ff . findet sich eben diese 4. Stufe, wodurch es

klar in die Dur-Melodik einzuordnen ist). Hier gelingt Distler also die zweifache Einordnungsmöglich-

keit nur eines Motivs. Ähnlich verhält es sich mit dem Anfangsmelisma der Männerstimmen in T. 1/2.

Zunächst besteht eine nach e-Moll tendierende Melodik, durch den Beginn auf g allerdings mit schwe-

bendem Charakter. Vor der enharmonischen Umdeutung in T. 3 wird sie durch das d auch pentatonisch

erklärbar.

7 Auf die Pentatonik in Melismen weißt auch Dirk Lemmermann hin: Studien zum weltl . Vokalwerk H.D., dort S. 116

Page 7: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

5

Die Melismen in Alt und Tenor in den Takten 34/35 ergänzen sich zu den beiden pentatonischen Skalen

auf e (ohne das dis’ im Tenor) und h (ohne das e’ im Alt), gleichzeitig sind beide Stimmen für sich allei-

ne genommen auch als E- bzw. H-Dur zu deuten, da ihre Intervallstruktur dem Sopranmotiv des An-

fangs (s.o.) entspricht. Der Schlußakkord hingegen enthält nun deutlich alle Töne der pentatonischen

Skala auf e, wobei Grundton und Quinte durch ihre Verdopplung diese Zuordnung noch verstärken.

Obwohl die Teile II und III deutlich stärker die Dur-Moll-Melodik betonen, kehren sie an den jeweili gen

Schlüssen (Teil II : T. 45/4-54; Teil III : T. 46/3-55 ein Halbton tiefer) in Sopran und Alt zur Pentatonik

zurück (Skala auf b bzw. a), jeweils nur am Schluß zugunsten eines Dur-Akkordes aufgegeben.

Ein Beispiel für die von Friedrich Neumann so bezeichneten „pentatonischen Parallelen“ 8 findet sich in

Sopran u. Alt in T. 9-11 (Teil I).

Im Totentanz sind in den verschiedenen Spruchvertonungen insgesamt 16 Motive auf einer pentatoni-

schen Skala aufgebaut.9

Betrachtet man die Intervallhäufigkeit in einer pentatonischen Tonleiter10, ergibt sich folgendes Bild:

kl. Sekunde - Quinte 4 x gr. Sekunde 3 x kl. Sexte 1 x kl. Terz 2 x gr. Sexte 2 x gr. Terz 1 x kl. Septime 3 x Quarte 4 x gr. Septime -

Abbildung 2: Intervallhäufigkeit in einer pentatonischen Tonleiter

Am häufigsten finden sich Quinte und Quarte, die Distler nicht nur als Intervalle (so ist z.B. die Quar-

te ein formbildendes Intervall i n der Motette „Singet dem Herrn...“ ), sondern auch melodisch (z.B. Me-

lismen in Quint- bzw. Quartparallelen; s.o.) und harmonisch (Akkorde, die sich aus der Schichtung von

Quinten und Quarten ergeben; vgl. „Singet dem Herrn...“ ; Teil III , T. 1-5) verwendet.

Auffälli g ist die Häufigkeit der kleinen Septime. Dieses Intervall durchzieht auch die Motetten der

Geistlichen Chormusik, wobei es meist durch die Zuordnung zu einer „solistischen“ Stimme11 sehr deut-

lich zur Geltung kommt.

8 Ebd. S. 117 9 Vgl. Anhang 1: Aufstellung der Motive des Totentanzes 10 Vgl. Anhang 2: Intervall konstellationen bei pentatonischen Skalen 11 z.B. Außenstimme oder rhythmisch hervorgehobene Stimme im homophonen Satz

Page 8: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

6

Bsp. 3: Totentanz; 1. Spruch, T. 18/19 Sopran � �� � � � � � � �� � � �� � � � � � � � � �� �� �

Bsp. 4: " Ich woll t, daß ich daheime wär" ; T. 19 Baß

� � � ! ! ! " !

Bsp. 5: " Fürwahr ..." ; T. 6/7 Alt # $ % " & % ' % ' "

Oft findet sich auch der Ambitus einer kleinen Septime für einen größeren motivischen Zusammenhang:

Bsp. 6: " Singet dem Herrn..." ; Teil I ; T. 4/5 Sopran # () * + , + + - +. +. + ,

Bsp. 7: " Wachet auf..." ; Teil III , T. 24/25 Sopran / (0 1 2 3 3 4 35 3 3 3 3 3 4 35

Die kleine Sekunde in ihrer Funktion als Leitton vermeidet Distler (z.B. Totentanz; 3. Spruch, T. 11/12

im Alt: a g a als Kadenz-Oberstimme nach A-Dur). Erst in der Motette „Fürwahr, er trug unsere

Krankheit“ erhält die kleine Sekunde eine leitmotivische Funktion12. Auch die Chromatik als Aneinan-

derreihung von kleinen Sekunden taucht erst in den beiden späten Motetten auf, dort aber dann als wich-

tiges formbildendes Element.

Der Tritonus, ebenfalls nicht in der Pentatonik enthalten, findet sich in den frühen Motetten selten.

Meist tritt er als unbetonte Wechselnote bei einem kleinen Sekundschritt abwärts auf:

12 Siehe S. 8f.

Page 9: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

7

Bsp. 8: Totentanz; 9. Spruch, T. 14/15 Baß

6 77 8 9 : ; < =

Entsprechend findet er sich im 1. Spruch im Sopran T. 12/13.

Anhand dieser Beispiele wird deutlich, wie sehr die Melodiebildung und die Intervallstruktur bei Distler

mit der Pentatonik verknüpft ist. Aber auch die nicht pentatonischen Motive zeigen die sensible und sehr

bewußte Verwendung der Intervalle.

2.1.2 Intervalle als formbildende Elemente Von ihrer Einordnung in die Pentatonik abgesehen spielen bestimmte Intervalle in den Motetten der

Geistlichen Chormusik eine wichtige formbildende Rolle, indem sie quasi leitmotivisch wiederkehren.

Wie bereits oben erwähnt, spielt die Quarte in der Motette „Singet dem Herrn...“ eine wichtige Rolle.

Entwickelt aus dem 1. Motiv, kehrt sie in verschiedenen Zusammenhängen wieder:

Bsp. 9: " Singet dem Herrn..." ; Teil I , T. 5-7 Alt > ?@ A B C D C C B C E C E C A C E C E C E C E C E C E C E C E C E

Bsp. 10: ebd.; Teil II , T. 1/2 Baß

F GG C C C CH C CH C C CH

Bsp. 11: ebd.; Teil II , T. 14-16 Sopran (auch Unterstimmen !)

> GG I C C I C C C C C C

Page 10: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

8

Bsp. 12: ebd.; Teil III , T. 12/13 Baß

J K L M M M M N O M L

Im Totentanz spielt die Terz (meist kleine Terz) eine wichtige Rolle13. Die Sprüche 1, 4, 7, 10, 12 und

14 beginnen unmittelbar oder nach (z.T. mehrmaliger) Wiederholung des Anfangstones mit einer fallen-

den Terz. Die Sprüche 2 und 3 fügen vor die fallende Terz noch einen großen Sekundschritt ein. In den

Sprüchen 5, 6, 8 und 13 findet man einen Terzsprung nach oben. Nur die Sprüche 9 und 11 weichen

vom Terzbeginn ab, in beiden ist aber zu späteren Zeitpunkten ein klar erkennbares Terzmotiv zu finden

(9. Spruch: Sopran T. 2/3; 11. Spruch: Sopran T. 6/7). Die Aufstellung der Motive des Totentanzes14

macht außerdem deutlich, wie die Terz bei weiteren Motiven in den Sprüchen formbildend ist.

Die kleine Sekunde als das Intervall , das in der Pentatonik nicht vorkommt, bestimmt die Motivgestal-

tung der Motette „Fürwahr, er trug unsere Krankheit“ , hier entwickelt aus der Urgestalt zu Beginn:

Bsp. 13: " Fürwahr ..." ; T. 1 Alt (Urgestalt) P QO N R

Bsp. 14: ebd.; T. 19/20 Alt P Q O M M M M S O

Bsp. 15: ebd.; Fugenthema T. 66/67 Sopran P TU M M M N M M V W M OV

13 Vgl. Dirk Lemmermann: Studien zum weltli chen Vokalwerk H.D.; S. 108ff. 14 Vgl. Anhang 1

Page 11: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

9

Bsp. 16: ebd.; T. 23 Sopran X Y Z [ [ \ [ [ ]

Bsp. 17: ebd.; T. 22/23 Baß

^ Y _ ` a b c b d `

Das Anfangsmotiv des Altes wird in den anderen Stimmen wiederholt, so daß in den ersten 6 Takten nur

kleine Sekunden als Intervalle vorkommen. In den Takten 45-48 (und den entsprechenden Parallelstel-

len) sequenzieren Sopran, Alt und Baß dieses Motiv (rhythmisch umgekehrt), nur im Tenor ist zur har-

monischen Vervollständigung der Akkorde ein Terzsprung notwendig. Zuletzt läßt sich auch die Chro-

matik am Schluß des Fugenthemas (Sopran T. 71-73) als Variation dieses Anfangsmotives erklären.15

2.1.3 Musikalische Rhetorik

Wurden die verschiedenen Intervalle bisher nur als musikalisch absolute Gebilde untersucht, so soll nun

anhand einiger Beispiele gezeigt werden, wie Distler melodische Elemente im Sinne musikalischer Rhe-

torik als Mittel zur Textausdeutung einsetzt.

Den in Notenbsp. 5 gezeigten kleinen Septimsprung verwendet Distler auf den Text „ ...er trug unsere

Krankheit“ ; seine rhetorische Wirkung wird in diesem Zusammenhang noch verstärkt durch die 1/4-

Pause in den anderen Stimmen. Noch eindrücklicher ist die verminderte Septime im Fugenthema dersel-

ben Motette auf den Text „Aber um unsere Missetat will en...“ (Sopran T. 66ff .). In der Motette „ In der

Welt habt ihr Angst“ findet sich im Baß zweimal der Tritonus b-e (T. 1 u. 2), gleichzeitig in T. 1 der

Tritonus es’ -a’ im Alt. Beide machen die Angst und Unsicherheit des Menschen in der Welt musikalisch

faßbar. In der barocken Figurenlehre würde man in diesen Fällen von Saltus dur iusculus sprechen.16

15 Eine ausführli che motivisch-thematische Analyse der Motette findet sich im 3. Kapitel dieser Arbeit (siehe S. 32ff.) 16 Inwieweit eine Deutung mit Hil fe der barocken Figurenlehre bei Distler legitimiert ist, sei dahingestellt . Die Termini dienen in diesem Fall als Symbole für typische Wendungen, die sich über die Jahrhunderte erhalten haben.

Page 12: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

10

In der Motette „Fürwahr, er trug unsere Krankheit“ fäll t der häufige Einsatz der Chromatik auf. Im

bereits oben erwähnten Fugenthema T. 66ff . steigt der Sopran ab T. 70 chromatisch (mit Zwischentö-

nen) eine Quarte abwärts, zur Darstellung des Textes „ ...ward er verwundet“ . Rhetorisch ließe sich dies

als Passus dur iusculus beschreiben, gleichzeitig erinnert es durch den chromatisch durchlaufenen Ton-

raum einer Quarte abwärts an die Lamento-Bässe des Barockzeitalters.

Tonwiederholungen über lange Strecken benutzt Distler im letzten Spruch des Totentanzes zur

Darstellung der „Ewigkeit“ (z.B. T. 1-9 Sopran).

Quarten und Quinten haben häufig Signalcharakter, so z.B. am Anfang der Motette „Wachet auf...“

(T. 1-8) oder im 11. Spruch des Totentanzes („Auf, auf!“ ; T. 1-6).

Einige der zahlreichen Melismen könnte man im Sinne der Gregorianik als Jubilus bezeichnen, so z.B.

das Melisma auf den Text „ ...des jauchzen wir“ („Wachet auf“ ; Teil III , T. 36-39 Sopran), das sich

über 4 Takte erstreckt.17

Ebenfalls ein Ausdruck spielerischer Freude sind die geworfenen Intervalle, wie z.B. beim Wort

„wohlauf“ (vgl. Notenbsp. 2) oder bei „singet“ (Motette „Singet dem Herrn...“ ; Teil II , T. 48ff . Sopran

u. Alt; entsprechend an der Parallelstelle in Teil III) .

2.1.4 Melismen

Melismen spielen in der Gestaltung der Melodik bei Distler eine entscheidende Rolle. Meist dienen sie

der Ausdeutung eines Wortes, treten dazu aber in verschiedenen Arten auf:

• einstimmige Melismen („Singet dem Herrn...“ ; Teil II , T. 10-12 Sopran)

• einstimmige Melismen im unisono (ebd. Teil I; T. 1/2 und Parallelstellen in Tenor/Baß)

• zweistimmige Melismen; meist in Quart- oder Quintparallelen (ebd. Teil II , T. 47-55 Sopran/Alt)

• mehrstimmige, parallel laufende Melismen (ebd. Teil III , T. 6-8 in Sopran I/II /Alt)

• mehrstimmige, gegenläufige Melismen (ebd. Teil III , T. 1-4)

An wenigen Stellen gleichen die Melismen mehr einer Oberstimme mit instrumentalem Charakter als

einer Gesangsstimme:

• Totentanz; 1. Spruch, T. 19-21 Sopran über liegender Bordunquinte

• „ Ich woll t, daß ich daheime wär“ ; T. 7-9 Sopran als Oberstimme zum c.f.

Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Vergleich mit den Flötenvariationen 8 und 11 des Toten-

tanzes (Melodiebildung und rhythmische Struktur).

17 Vgl. z.B. auch das enthusiastische 3-stg. Melisma am Ende des Chores „Ehre sei Gott in der Höhe“ in der „Weihnachtsgeschichte“ op. 10.

Page 13: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

11

2.2 Satztechnik

2.2.1 Satzbeginn

Betrachtet man die einzelnen Motetten der Geistlichen Chormusik hinsichtlich ihres Satzbeginnes, bilden

sich typische Einsatzfolgen18 heraus:

1. Sehr häufig ist der einstimmige Beginn, auch wenn es sich oft nur um wenige Töne handelt.

Zählt man die unisono-Einsätze dazu, so beginnen acht der neun Motetten in ihrem jeweils ers-

ten Teil einstimmig. Lediglich die Motette „ Ich woll t, daß ich daheime wär“ beginnt mit einem

Quintintervall .

Für die folgenden Einsätze gibt es nach einstimmigem Beginn mehrere Möglichkeiten:

a) imitatorische Einsatzfolge (z.B. „Das ist je...“ ; „Singet frisch...“ ; „Wach auf, du deut-

sches Reich“ , 2. Vers; Totentanz, Spruch 1, 3 & 7)

b) gleichzeitiger Einsatz der übrigen Stimmen (z.B. „Fürwahr...“ ; „ In der Welt...“ ;

Totentanz, Spruch 12 & 14)

c) Spezialfall „ Wachet auf...“ : Echodialog zwischen Alt und 2. Sopran über 10 Takte,

dann erst weitere Einsätze

2. Ein weiterer Fall i st die Umkehrung der Einsatzfolge 1. b): drei Stimmen beginnen, später folgt

eine Stimme (meist imitierend); z.B. „ Ich woll t...“ ; „Wach auf, du deutsches Reich“ , 6. Vers;

Totentanz, Spruch 8 & 11).

3. Vergleichsweise selten kommt der gleichzeitige Beginn aller Stimmen vor (z.B. „Singet dem

Herrn“ , Teil III) , meist handelt es sich dabei um Quint-Quart-Klänge. Sieht man von den Cho-

ralanfängen („Singet frisch...“ , Teil III ; „Das ist je...“ ; „Fürwahr...“ ) ab, findet sich nur ein

Beispiel für einen Dur-Akkord als Einsatz (Totentanz, Spruch 10 → D-Dur), hier aber

wiederum nur dreistimmig.

4. Auffälli g ist, das Distler bei einstimmigem Beginn den Alt als Stimme bevorzugt, so werden

immerhin drei der neun Motetten vom Alt eröffnet.

18 Wäre diese Darstellung für die Geistli che Chormusik allein nicht unbedingt repräsentativ, so zeigen sich die genannten Einsatzfolgen auch in anderen Chorwerken Distlers. Vor allem der einstimmig imitatorische Einsatz findet sich sehr häufig (Weihnachtsgeschichte op. 10, Jahrkreis op. 5). Auch für die Bevorzugung des Altes finden sich zahlreiche weitere Beispiele (Beschluß der Weihnachtsgeschichte; „Die Tochter der Heide“ aus: Mörike-Chorliederbuch op. 19).

Page 14: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

12

2.2.2 Schlußklauseln

In Distlers Werk finden sich Schlußklauseln, die in ihrer Vorhaltsbildung deutlich an die musikalische

Sprache der Niederländischen Schule anknüpfen. Ein Beispiel dafür findet sich in einer zweistimmigen

Passage im 4. Spruch des Totentanzes:

Bsp. 18: Totentanz; 4. Spruch, T. 4/5 Sopran & Alt e f g h i i ij k l k kj6 --- 5 7 ---- (6) 7 - 6 m l k n k k k l k k

Sieht man von der Tonart ab, handelt es sich bei den beiden 7-6-Vorhalten um typische Diskantklauseln,

wie sie in Werken Lassos oder Palestrinas sehr häufig zu finden sind.

Oft verwendet Distler Schlußwendungen ohne (bzw. mit erniedrigtem) Leitton:

Bsp. 19: Totentanz; 6. Spruch, T. 19/20 Tenor & Baß o pp qr qr s qr qr q q q t uo v ww x y x y x y x y z x x x { |

Weitere Beispiele: Totentanz; 7. & 11. Spruch, jeweils T. 15/16 Sopran; „Wach auf, du deutsches

Reich“ ; 2. Vers, T. 4/5 Baß.

Wenn auch solch „stilechte“ Schlüsse selten sind, so finden sich häufig Anlehnungen an Kadenzklau-

seln. So handelt es sich beim 3stg. Schluß des 3. Spruchs (Totentanz) um eine modifizierte Fauxbour-

don-Kadenz mit „ falschem“ e und f im Tenor. Schon allein das Notenbild zeigt in vielen Fällen Ähnlich-

keit mit dem alter Messen und Motetten.19

2.2.3 Besetzung

Mit Ausnahme der Motette „Wachet auf...“ sind die Motetten der Geistlichen Chormusik vierstimmig

SATB. Interessant ist die ähnliche Verwendung zweier Sopransoli in den Motetten „Wach auf, du

deutsches Reich“ (4. Vers) und „Wachet auf...“ (Teil II) . Die beiden Solostimmen beginnen mit einer

Art Vorimitation des jeweili gen Choralthemas, der Chor antwortet im ersten Fall mit einem 4stg.,

hauptsächlich homophonen Satz mit c.f.-Anklängen, im zweiten Fall mit einem 5stg. figuriertem Cho-

19 Zur harmonischen Gestaltung der Schlüsse siehe S. 19f.

Page 15: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

13

ralsatz mit c.f. im Sopran. In beiden Fällen entwickelt sich der Chorsatz dynamisch vom anfänglichen

Begleiten der Solisten bis zur gleichwertigen Stimmgruppe.

Ein beliebtes satztechnisches Mittel ist die Kopplung jeweils zweier oder mehrerer Stimmen zu ei-

nem quasi „mehrchörigen“ Satz:

• Kopplung zweier Stimmen:

„Singet dem Herrn...“ ; Teil II , T. 46ff .: S&A - T&B, entsprechend T. 47ff . in Teil III

Totentanz; 6. Spruch, T. 17ff .: S&A - T&B

„Wach auf, du deutsches Reich“ ; 1. Vers: S&A - T&B

• Kopplung mehrerer Stimmen:20

Totentanz; 4. Spruch: A,T&B - S bzw. S,T&B - A; 5. Spruch: S,A&T - B

„Singet frisch...“ ; Teil I, T. 125ff .: A,T&B - S

„Fürwahr...“ ; T. 1ff . und Parallelstellen: S,T&B - A

Reale Doppelchörigkeit, wie z.B. in der Weihnachtsgeschichte (Choral „Die Hirten zu der Stunde) oder

im Mörike-Chorliederbuch („Lebewohl“ ), kommt in der Geistlichen Chormusik nicht vor.

Unisonomelodik aller Stimmen kommt nur im Schlußchoral der Motette „Das ist je gewißlich wahr“ vor

(Kyrie...). In der Motette „Singet dem Herrn...“ finden sich Tenor u. Baß stellenweise als unisono-

Stimmgruppe (Teil I, Anfang u. Parallelstellen; Teil III , T. 28ff .).

2.2.4 Stimmlagen

Distler nutzt die verschiedenen Stimmgruppen des Chores mit ihrer jeweili gen Charakteristik optimal

aus. Hier dokumentiert sich Distlers großes Wissen über den Chor als Klangkörper, erworben durch die

Erfahrungen mit dem „Lübecker Sing- und Spielkreis“ sowie bei seiner eigenen Chorleitertätigkeit. So

nutzt er z.B. die hohe Lage des Sopranes (g’’) in der Motette „Singet dem Herrn...“ zur Darstellung des

Jubels (Teil II , T. 10ff .). Unmittelbar danach entsteht durch den Baßton G ein Ambitus von drei

Oktaven, der „umfassend“ die ganze Welt darstell t (T. 14ff .).

Im 14. Spruch des Totentanzes bewegen sich die Oberstimmen in extrem tiefer Lage, jede Stimme be-

wegt sich nur im Rahmen einer Quinte (T. 1-8 bzw. 23-26), so daß ein äußerst gedrängter Satz entsteht

(kleinster Abstand zwischen Sopran u. Baß: kleine Sexte e-c’) .

20 Die Kopplung mehrere Stimmen ergibt meist, daß die übriggebliebene Stimme solistische Funktion erhält. Daraus resultiert auch der häufig einstimmige Beginn der Motetten (siehe S. 11).

Page 16: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

14

Auf die Bevorzugung des Altes als solistischer Stimme wurde bereits hingewiesen21. Erwähnenswert ist

hierzu noch, daß Distler gekonnt die Lagen verwendet, in denen die farbliche Charakteristik des Altes

am größten ist (z.B. „Fürwahr...“ ; T. 1-9: a-as’) .

Am Beginn des 2. Verses der Motette „Wach auf, du deutsches Reich“ vertont Distler den Textabschnitt

„ In finstrer Nacht, da schliefen wir“ nur mit den drei Unterstimmen in tiefer Lage.22

Bei Schlußakkorden liegt die Terz häufig in tiefen oder bequemen Lagen (Totentanz: 3., 4., 7., 8., 11.,

13. Spruch; Motette „ Ich woll t, daß ich daheime wär“ usw.), was für eine reine Intonation förderlich ist.

An dieser Stelle sei noch auf eine Passage des Vorwortes der Weihnachtsgeschichte op. 10 hingewiesen,

die gewiß auch für entsprechende Stellen der Geistlichen Chormusik Geltung hat. Distler warnt hier vor

der Umfärbung der Vokale in ausgedehnten Melismen in den verschiedenen Lagen, ein Hinweis, der

unmittelbar der chorleiterischen Praxis entspringt.23

2.2.5 Homophonie/Polyphonie

Unter den Motetten der Geistlichen Chormusik findet sich (mit Ausnahme der Choralsätze) nur in der

Motette „Singet frisch...“ ein größerer zusammenhängender Teil , der (über weite Strecken) homophon

geschrieben ist (Teil III , Choralbearbeitung mit Sopran-c.f.).

Homophone Abschnitte setzt Distler meist in bestimmtem Kontext ein:

• Choralar tige Passagen mit einer Art c.f. sind z.B. die Takte 17ff . des 7. Spruches und die Takte

13ff . des 11. Spruches im Totentanz. Sie erzeugen eine zusammenfassende Schlußwirkung.

• In der Motette „Singet dem Herrn...“ ist der Beginn des Teiles II homophon vertont und unterstützt

damit die markante Rhythmik, die Distler tonmalerisch für den Sieg Gottes einsetzt. Besonders in

den Takten 6ff . bewirkt die ständige Wiederholung des homophonen Rufes „er sieget“ eine Art „Ein-

hämmern“ .

• In den Takten 14ff . der Motette „ In der Welt habt ihr Angst“ nutzt Distler die Homophonie zur ab-

schließenden Raffung einer Aussage. War vorher die Textzeile „ ...die Welt überwunden“ imitato-

risch über die einzelnen Stimmen verteil t, so wird sie nun homophon zusammengefaßt und durch

Wiederholung und Verkürzung intensiviert.

• In das dreimal einstimmig vorgestell te Thema „Heute uns erschienen ist...“ in der Motette „Singet

frisch...“ (Teil I, T. 62ff .) fäll t der Chor jeweils jubelnd mit dem homophonen Ruf „ Immanuel“ ein.

21 Siehe S. 11 22 Vgl. auch: Weihnachtsgeschichte op. 10; „ ...aus diesem Jammertal...“ (Choral „Wir bitten dich von Herzen“)

Page 17: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

15

• Häufig sind vierstimmig ausgesetzte Melismen, so z.B. im 1. Spruch des Totentanzes (T. 5ff .,

T. 14ff .).

• Im 13. Spruch des Totentanzes bewegen sich die Oberstimmen homophon über liegendem Baßton.

Folgende beiden Satzweisen kommen in der Geistlichen Chormusik am häufigsten vor:

• Motettische Polyphonie:

Imitation einzelner kurzer Motive („Soggetti“ ) in allen Stimmen (im Sinne der motettischen Praxis),

ohne daß z.B. ein Fugenprinzip zugrunde liegt: z.B. Beginn der Motette „Singet frisch...“ ; Teil III

der Motette „Wachet auf...“ .

• Mischform Polyphonie/Homophonie:

Drei oder mehr Stimmen sind homophon gekoppelt, eine oder mehrere Stimme bildet dazu einen

Kontrapunkt (oft nur durch deren metrische Verschiebung, z.B. Vorimitation)24: z.B. 8. Spruch des

Totentanzes; 4. Vers der Motette „Wach auf, du deutsches Reich“ : 2 imitatorische Sopransoli mit

homophonem Choralsatz.

Regelrechte Fugen finden sich, außer in den beiden späten Motetten25, noch in der Motette „Singet dem

Herrn...“ (Teil II , T. 19ff .) und in der Motette „Singet frisch...“ (Teil I, T. 62 ff ., dort allerdings eher ein

Fugato).

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß die imitatorische Satzweise in der Geistlichen Chormusik

gegenüber der homophonen deutlich überwiegt und damit deren motettischen Charakter unterstreicht,

während z.B. im Mörike-Chorliederbuch zahlreiche Lieder rein homophon vertont sind (z.B. „Denk’ es,

o Seele“ ).

23 erschienen bei Bärenreiter (BA 690), dort S. 3 24 Vgl. dazu auch die Aufstellungen in 2.2.1 „Satzbeginn“ und 2.2.3 „Besetzung“ (S. 11ff.) 25 Vgl. S. 25ff.

Page 18: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

16

2.3 Harmonik26

2.3.1 Melisma-Begleitung

Neben den ein- oder zweistimmigen Melismen verwendet Distler diese auch in allen Stimmen gleichzei-

tig, indem er die Stimmen z.B. gegenläufig in Parallelen führt. Dadurch ergeben sich besondere harmo-

nische Konstellationen:

Bsp. 20: Totentanz; 1. Spruch, T. 14ff . } ~ � � � � � � � � � � � � � � � �� � � � � � � � � � � �� � � � � � �� � � � � � � � � � � �� � � � � � �� � � � � � � � � � � � � � � � � � �

In diesem Beispiel entstehen, bedingt durch die geschickte Parallelführung der Stimmgruppen mit der

Abweichung h im Sopran, nur die Akkorde C-Dur, d-Moll und die Quinte e-h. In anderen Fällen führt

die streng durchgehaltene Parallelführung der Stimmgruppen dazu, daß Dissonanzen bewußt in Kauf

genommen werden. Im folgenden Beispiel entsteht so der Akkord g-Moll7 sowie die None f-g’’ zwischen

Sopran und Baß:

Bsp. 21: " Singet dem Herrn..." ; Teil III , T. 1ff .

� �� � � � � � � �� � � � � � � � � �� � ���  � ¡ ¢ � � � £� � � � � � � � �� � � ¤¥

¦ §¨ © ª « « « ¬¨ « « « « « « ­ « ®¨ « «¯¥¦ §¨ © ª « « « ¬¨ « « « « « « « ®¨ « « °

Beim Melisma auf dem Wort „Harfen“ benutzt Distler in dieser Motette einen Quart-Sext-Akkord, den

er verschiebt (ebd. Teil III , T. 6ff .), wodurch reizvolle mediantische Wendungen (E/C-Dur; D/B-Dur)

entstehen.

26 Zur Frage, inwieweit Distlers Harmonik auf der funktionellen Harmonielehre aufbaut, verweise ich auf die Darstellungen Dirk Lemmermanns in „Studien zum weltli chen Vokalwerk H.D.“, S. 118ff.

Page 19: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

17

2.3.2 Mediantik

Mediantische Wendungen verwendet Distler meist zur formalen Gliederung. Beispiele hierfür finden

sich im 1. Spruch des Totentanzes (T. 5 bzw. 14), wo die Wendung E→C den imitatorischen vom nach-

folgenden homophon-melismatischen Abschnitt trennt, oder auch in der Motette „Das ist je gewißlich

wahr“ (T. 137/38) beim Übergang zweier Formteile (H→G).

Im 13. Spruch des Totentanzes entstehen durch die Wendung F→D zwei Tonartenebenen, während

gleichzeitig die Einheit des Stückes durch Motivik und Satztechnik gewahrt bleibt.

In der Motette „Singet dem Herrn...“ (Teil II , T. 6ff .) findet sich folgende harmonische Fortschreitung:

T. 6 T. 7 T. 8 T. 9

Fis→→A E→→G→→h* D** →→A→→C G Die Wendung E→G wird entschärft durch das für ein

Achtel erklingende e-Moll , dadurch Querstand gis’ -g in Alt/Tenor. *h-Moll zunächst noch mit cis im Tenor

** D-Dur zunächst noch mit cis im Tenor.

Abbildung 3: Harmonischer Verlauf der Takte 6 - 9

Hier finden sich die mediantischen Wendungen Fis→A, E→G und A→C sequenzartig in einem größe-

ren harmonischen Zusammenhang.

Extreme harmonische Rückungen sind in den frühen Motetten der Geistlichen Chormusik selten anzu-

treffen. Im letzten Spruch des Totentanzes findet sich eine Rückung um 5 Quinten (cis→F, T. 32), in

ihrer Wirkung noch verstärkt durch die Halbtonführung in Sopran, Alt und Baß.27

2.3.3 Besondere Klänge

Verläßt Distler den Bereich der Dur-Moll-Akkorde, so bevorzugt er Klänge mit weichem Charakter

(hoher Verschmelzungsgrad der enthaltenen Töne). Sie entstehen z.B. durch

• Pentatonische Klangflächen:

In den ersten 4 Takten des 9. Spruchs (Totentanz) kommen in allen Stimmen nur Töne der pentatoni-

schen Reihe auf g vor (Ausnahme ist das fis’ im Alt). Dadurch entsteht eine weiche Klangfläche

g a h d e, wobei die Baßführung noch den Eindruck einer Kadenzführung vermittelt (V-I-Schluß).

• Quintschichtung:

Der Schlußklang des 12. Spruchs (Totentanz) schichtet von A aus vier Quinten übereinander (cis’ im

27 Zum harmonischen Verlauf der Takte 196-220 der Motette „Das ist je gewißli ch wahr“ sowie verschiedener Stellen der Motette „Fürwahr...“ siehe S. 30ff.

Page 20: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

18

Alt allerdings eine Oktave tiefer). Da so nur die große Sekunde/None als Dissonanz entsteht, besitzt

dieser Klang keine Schärfe. Ähnlich verhält es sich mit dem Schlußklang des Teiles I in der Motette

„Singet dem Herrn...“ .

• Hinzufügung harmoniefremder Töne:

Der zweite Teil der Motette „Wachet auf...“ endet im Chorsatz mit einer Kadenz nach C-Dur, wobei

die Quinte fehlt. In den beiden Solostimmen werden die Töne fis’ und h’ etabliert. Durch die sehr

bewußt gewählte Lage der einzelnen Töne entschärft Distler die Dissonanz h-c zu einer großen Sep-

time, „aufgefüll t“ mit großer Terz und Tritonus (c’ e’ f is’ h’ e’’) , wodurch ein Klang von ganz eige-

nem Charakter entsteht.

Häufig verfremdet Distler die Dominante in Kadenzen. Im folgenden Beispiel handelt es sich um eine

Dominant-Tonika-Beziehung in ais (Einordnung Dur/Moll durch fehlende Terz nicht möglich). Die

Dominante eis erscheint als Moll-Septakkord (kleine Septime dis’’) , statt der Quinte verwendet Distler

die kleine Sexte cis’’ . Klanglich entsteht ein halbverminderter Akkord mit dominantischer Funktion:

Bsp. 22: " Singet dem Herrn..." ; Teil III , T. 26/4 & 27/1 ± ² ³² ³² ³ ² ³² ³² ³´ ² ³ ² ³

Ein ähnliches Beispiel ist zu finden bei der bereits in 2.2.1 erwähnten Tritonuswendung im Baß28: Moll-

Dominante mit kleiner Septime und Quarte statt Quinte im Tenor:

Bsp. 23: Totentanz; 9. Spruch, T. 14/4 & 15/1 µ ³³ ³³´ ³³ ³³

Seltener als z.B. im Mörike-Chorliederbuch29 sind in der Geistlichen Chormusik harte dissonante

K länge zu finden. Im 10. Spruch findet sich auf dem Wort „Dornen“ (T. 11/3) der Akkord A h f’ e’’ , er

28 Siehe S. 6f. 29 Vgl. Dirk Lemmermann: Studien zum weltli chen Vokalwerk H.D.; S. 131ff.

Page 21: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

19

beinhaltet also die kleine None, den Tritonus und die große Septime und „sticht“ damit wörtlich aus dem

harmonischen Umfeld heraus.

2.3.4 Schlußwendungen

Distler vermeidet bei Schlüssen meist die klassische Kadenzharmonik bzw. ersetzt sie durch kirchento-

nale/modale Wendungen. So findet sich in der Motette „Fürwahr...“ in den Takten 8, 34 und 63/64 eine

S-T-Kadenz, die also auch (Da-capo-Form) die Motette beschließt. Erst der Schlußchoral bringt dann

die „vollwertige“ S-D-T-Kadenz. Den Abschluß von „Wachet auf...“ stell t ebenfalls eine

S-T-Kadenz dar, wobei auf der letzten Zählzeit in T. 41 durch den 7-6-Durchgang des Altes sogar ein

S6 entsteht. Subdominantische Schlußkandenzen (z.T. modifiziert, aber durch die Quartführung im Baß

klar erkennbar) finden sich außerdem am Schluß des II . und III . Teils von „Singet dem Herrn...“ und

dem 1. und 6. Vers von „Wach auf, du deutsches Reich“ (im 1. Vers hauptsächlich als Höreindruck auf

den betonten Zählzeiten).

Interessant ist die Untersuchung der unterschiedlichen Schlüsse im Totentanz. Immerhin acht von vier-

zehn Sprüchen enden mit einem Dur-Akkord, drei in einer leeren Quinte (ohne Terz)30, zwei im Einklang

und Spruch 12 mit dem o.g. Quintklang.31 Bei den Dur-Auflösungen findet sich in zwei Fällen eine Art

phrygische Wendung (Moll-Sextakkord→Dur-Grundstellung):

Bsp. 24: Totentanz; 8. Spruch, T. 9-11, Unterstimmen ¶ ·· ¸ ¹ º ¸ ¸ »¼ ½½ » ¾ ¿ ¾ ¿ »¼ ½½ » ¿ ¿ ¿ À Á

Entsprechend ist der Schluß des 5. Spruches.

Im 3. Spruch findet sich diese Wendung mit einem Dur-Sextakkord (G→A), also mit der Parallele der

Moll-Dominante (G-Dur als Moll-Dominant-Parallele von a/A). Auch hierfür findet sich in den Takten

15/16 des 7. Spruches ein weiteres Beispiel.

In anderen Fällen benutzt Distler diese Moll-Dominant-Parallele in Grundstellung, so im 6. Spruch

(T. 9/10) und als Abschluß des 7. Spruchs.

30 Vgl. dazu auch die Aufstellung über die Schlüsse der Stücke des Mörike-Chorliederbuches ebd., S. 133f. 31 Siehe S. 17f.

Page 22: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

20

Besonders überraschend wirkt die Schlußwendung des 1. Spruchs: a→C über den Durchgangston d’’ im

1. Sopran.

An dieser Stelle sei noch auf die häufig vorkommende Verzögerung eines Schlußklanges durch

Weiterlaufen einer oder mehrerer Stimmen (zumeist Mittelstimmen) hingewiesen. Dies kann in der Form

geschehen, daß der Schlußklang mehrmals erreicht und wieder verlassen/umspielt wird („Singet dem

Herrn“ ; Teil I, T. 34-36) oder, wie z.B. in der Motette „Das ist je gewißlich wahr“ , indem durch Disso-

nanz und Vorhaltsbildung bis zum Schlußakkord ein Spannungsbogen aufgebaut wird (z.B. T. 49-52).

Vergleichbare Beispiele sind die Schlüsse des 9. und 13. Spruches des Totentanzes, der Verse 2, 4 und 6

der Motette „Wach auf, du deutsches Reich“ , der 3 Teile der Motette „Singet frisch...“ usw.

Nicht selten läßt Distler auch nur eine Stimme (meist den Sopran) den Schlußton früher erreichen, wäh-

rend die übrigen Stimmen die Schlußkadenz harmonisch unabhängig zu Ende bringen (z.B. Motette

„Wach auf, du deutsches Reich“ ; 1. Vers, T. 14/15).

2.4 Rhythmik

2.4.1 Rhythmische Verschleierung

Wichtigstes Merkmal der Rhythmik im Werk Hugo Distlers ist die Unabhängigkeit von Taktschwer-

punkten und die damit einhergehende Verschleierung der rhythmischen Gebilde. Diese kann in verschie-

denen Formen auftreten:

• Überlagerung verschiedener Rhythmen

Während Distler in anderen Werken (z.B. Jahrkreis, Weihnachtsgeschichte) spezifisch jede Stimme

in ihrem eigenen Takt notiert und damit die Überlagerung der verschiedenen Rhythmen auch im

Schriftbild dokumentiert, finden sich in der Geistlichen Chormusik polyrhythmische Gebilde nur in-

nerhalb des gleichbleibenden Taktschemas. Ein eindrucksvolles Beispiel hierfür sind die Takte 196-

220 der Motette „Das ist je gewißlich wahr“ . Während Sopran und Alt (entwickelt aus der Themen-

struktur der Takte 174-179: Ende des Themas im Sopran, synkopischer Kontrapunkt im Alt) einen 3/2-Rhythmus mit gleichem Schwerpunkt haben (Beginn auf der Eins des Taktes 196), in den sich der

Tenor in T. 197 einklinkt, befindet sich der Schwerpunkt des 3/2-Rhythmus des Basses jeweils einen

Takt später. Gleichzeitig sind aber alle Stimmen im 3/4-Takt notiert. So ist für den Hörer keine

rhythmische Orientierung mehr möglich.32

32 Ähnlich verhält es sich in der Fuge „Aber um unserer Missetat will en...“ (Motette „Fürwahr...“ ; T. 66ff.). Siehe dazu S. 32ff.

Page 23: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

21

• Hemiolen

Die Motetten der Geistlichen Chormusik stehen über weite Strecken in geraden Takten. So sind He-

miolen seltener anzutreffen als z.B. im Mörike-Chorliederbuch.33 Sie finden sich z.B. als auskompo-

nierte Verzögerungen am Ende eines Abschnitts (Motette „Fürwahr...“ : T. 131-133; Totentanz,

9. Spruch: T. 2/3; Motette „Das ist je gewißlich wahr“ : Schluß des Fugenthemas T. 171ff .), aber

auch über längere Strecken, wo sie einen Taktwechsel assoziieren können, der in Wirklichkeit nicht

stattfindet. Das Fugenthema „Aber um unserer Missetat will en...“ (siehe Fußnote 29) beginnt als 3/4-Takt, um schon im 2. Takt in einen 3/2-Rhythmus zu wechseln, der über 8 Takte beibehalten wird

und in den sogar noch der Beginn des Kontrapunktes „und um...“ (T. 74) eingepaßt ist. Erst der Ein-

tritt des Comes im Alt läßt diesen Hemiolenrhythmus wieder unklarer werden.

• Synkopierung

Die Motette „Singet dem Herrn...“ beginnt mit einem punktierten Viertel, das synkopisch bis zum

nächsten Takt weitergeführt wird. Zusammen mit dem 5/4-Takt, dem Triolenrhythmus im zweiten

Takt und dem freien Zeitmaß kann erst im dritten Takt überhaupt metrische Orientierung entstehen.

Häufig wendet Distler Synkopen in den Melismen an, so zum Beispiel im 1. Spruch des Totentanzes

(T. 5/6 und Parallelstelle), oft mit dem zusätzlichen Hinweis auf das frei zu nehmende Zeitmaß.

• Wiederholung von Motiven, die nicht dem Taktschema entsprechen

In den Takten 113-116 der Motette „Singet frisch und wohlgemut“ (Teil I) wird das aus vier Achteln

bestehende Motiv „der Herre Christ“ (Sopran u. Alt) zunächst auf drei, dann auf zwei Achtel ver-

kürzt, so daß es im notierten 3/8-Takt jeweils eigene Taktschwerpunkte entwickelt. Ähnlich verhält es

sich in der Motette „ In der Welt habt ihr Angst“ :

Bsp. 25: " In der Welt habt ihr Angst" ; T. 4-6 Sopran  ÃÄ Å Æ Æ Ç ÆÈ Æ Æ Ç ÆÈ Æ Æ Ç ÄÄ Æ Æ É Æ ÆDem notierten 3/4-Takt setzt der Sopran einen 2/4-Rhythmus entgegen, der sich dreimal wiederholt

und dadurch eine eigene metrische Quali tät erhält.

33 Vgl. Dirk Lemmermann: Studien zum weltli chen Vokalwerk H.D.; S. 93ff.

Page 24: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

22

2.4.2 Rhythmik im Melisma

Wie oben schon angedeutet, ist die rhythmische Gestaltung in Melismen meist freier als innerhalb nor-

maler Motivgestalten. Oft findet innerhalb eines Melisma eine Beschleunigung bzw. Verlangsamung

(oder beides) durch schrittweise Veränderung der Notenwerte statt:

Bsp. 26: Totentanz; 4. Spruch, T. 7-9 Alt Ê ËË Ì Í Î Î Î ÏË Í Î Î Î Î Î Î Î Î Í Î Î Î ÐÑ Ñ

In vielen Fällen ist der Spitzenton eines Melisma durch Punktierung verlängert, so daß folgende rhyth-

mische Gruppe entsteht:

Bsp. 27: " Singet dem Herrn..." ; Teil I , T. 1 Tenor & Baß Ê ÒÓ Ô Õ Ô Ô Ö Ô Ô Õ Ô Ô

Weitere Beispiele für diese Gruppierung finden sich u.a. im 1. Spruch des Totentanzes (T. 6 bzw. 16)

oder in der Motette „Wach auf, du deutsches Reich“ (2. Vers, T. 3/4 im Alt).

2.4.3 Weitere rhythmische Mittel

In zwei Fällen setzt Distler die Augmentation eines Motives ein, um damit eine zusammenfassende

Schlußwirkung zu erreichen. In der Motette „Singet dem Herrn...“ wird das „Singet“ -Motiv in T. 13-15

(Teil I) rhythmisch vergrößert, wodurch ein auskomponiertes Ritardando entsteht. Anders wirkt die

Themenvergrößerung des Tenors in der Motette „Fürwahr...“ (T. 118-124): da im Alt gleichzeitig das

Thema in seiner ursprünglichen rhythmischen Gestalt auftritt, wird ein Spannungsbogen zu T. 125 hin

erzeugt.

Nur einmal, nämlich in den Takten 17ff . des 7. Spruchs des Totentanzes, benutzt Distler bewußt eine

alte Notierungsart in Ganzen, wobei gleichzeitig ein Taktwechsel zur 3er-Proportion stattfindet. Bedenkt

man den auffälli gen Madrigalcharakter dieses Spruches (Einsatzfolge), so ist diese Notierung am Ende

wohl als eine Art Reminiszenz zu verstehen, die gleichzeitig im Notenbild die „ew’ge Ruh“ sichtbar

darstell t.

Page 25: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

23

2.5 Form

In den Motetten der Geistlichen Chormusik fallen Parallelen im formalen Großaufbau der einzelnen

Motetten auf: die Motetten „Singet dem Herrn...“ , „Singet frisch...“ und „Wachet auf...“ sind dreiteili g

angelegt (wobei sich diese Dreiteili gkeit bei den letzten beiden durch die Strophen ergibt), die beiden

Choralmotetten „Wach auf, du deutsches Reich“ und „ Ich woll t, daß ich daheime wär“ führen mehrere

Strophen durch, die letzten drei Motetten der Sammlung sind zweiteili g Motette - Choral34. Formale

Ausnahme bildet der Totentanz mit dem Wechsel zwischen Spruchvertonungen, gesprochenen Dialogen

und Flötenvariationen.

Die Motette „ Singet dem Herrn...“ vereint mehrere formale Aspekte. Innerhalb der Dreiteili gkeit fin-

den sich thematische Bezüge: der erste Teil i st in Rondoform aufgebaut, die Takte 1-4 (Männer-

stimmen) kehren, jeweils einen Ganzton höher, als Refrain wieder und lassen damit auch im Kleinen

eine Dreiteili gkeit entstehen: A B / A’ B’ / A’’ C. Im Mittelpunkt des zweiten Teils steht ein fugierter

Teil (E), der abschließende Teil F (T. 46-54) findet sich, zusammen mit dem Refrain A, am Ende des

dritten Teils als Da capo wieder (ebenfalls transponiert). Durch diese Synthese im letzten Teil erreicht

Distler eine formale Einheit der Motette. Gleichzeitig sind hier bereits formale Elemente angelegt, die in

den beiden späten Motetten zu einer Vollendung gebracht werden.

Die formale Einheit des Totentanzes wird, obwohl keiner der Sprüche gleich vertont ist, durch sensible

motivische Bezüge gewährleistet35.

Die Verse 1, 3, 5 & 7 der Motette „W ach auf, du deutsches Reich“ sind gleich vertont (Choralsatz

mit Sopran-c.f.), während die übrigen Strophen stärker am Text entlang komponiert sind (Vers 2 u. 6:

motettische Reihungsform, Vers 4: Chorchoral mit zwei vorimitierenden Sopransoli). Dieser Wechsel

läßt wiederum eine Art Rondoform entstehen.

In der Motette „ Ich woll t, daß ich daheime wär“ (Reihungsform) fäll t das Prinzip der Stimmreduzie-

rung bzw. -erweiterung auf, mit dem Distler (neben dem der Durchführung des c.f. in verschiedenen

Stimmen) Abwechslung schaff t: die 2., 3. und 9. Strophe sind nur zweistimmig in verschiedenen

Stimmkombinationen vertont, jeweils umgeben von vierstimmigen Strophen. Die Rahmenstrophen sind

nahezu gleich vertont (Da capo). Die Reduzierung auf zwei Stimmen findet sich auch im zweiten Teil

der Motette „ Singet fr isch und wohlgemut“ .

34 Vgl. Abb. 1, S. 3 35 Vgl. S. 8 u. Anhang 1: Aufstellung der Motive des Totentanzes

Page 26: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

24

Auf den formalen Aufbau der beiden letzten Motetten der Sammlung wird im folgenden genauer einge-

gangen, interessant ist der Vorgriff der Zweiteili gkeit Motette-Choral in „ In der Welt...“ , hier allerdings

in äußert gedrängter Form (es handelt sich um die kürzeste Motette der Sammlung, Motette und Choral

sind nahezu gleich lang)36.

36 Eine kurze Analyse dieser Motette findet sich bei Wolfgang Thein in seinem Artikel „Funktion, Deutung, Verkündigung - Zu Hugo Distlers Orgel- und geistli chen Chorkompositionen“ (in: Komponisten in Bayern, Bd. 20: Hugo Distler; S. 62ff.)

Page 27: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

25

3 Die beiden späten Motetten - Erweiterung d er Mittel Schon im vorigen Kapitel ist deutlich geworden, daß sich in den beiden späten Motetten „Das ist je ge-

wißlich wahr“ und „Fürwahr, er trug unsere Krankheit“ die kompositorischen Mittel teilweise gewandelt

haben, dies betriff t vor allem auch den formalen Aufbau. Im folgenden werden die beiden Motetten ein-

zeln analysiert und auf ihre Besonderheiten hin untersucht.

3.1 „ Das ist je gewißlich wahr“

Betrachtet man den formalen Aufbau der Motette, so erkennt man für die ersten 137 Takte eine Rondo-

form mit Wiederholung der Anfangsgruppe ABA am Ende. In Takt 138 setzt eine Art Überleitungsteil

ein, der dann in die Fuge mündet. Den Abschluß der Motette bildet der Choral „Ehre sei dir, Christe“ .

T. 1-9 9-16 16-24 24-44 44-52 53-98 98-113 113-121 121-128 128-137

A B A C A D C’ A B A

138-170 170-245 „ Gott , dem ewigen Könige“ Fuge Choral

Abbildung 4: Formaler Aufbau der Motette " Das ist je gewißli ch wahr"

Formteil A setzt sich aus nur zwei Motiven zusammen, die beide mit zwei Achteln Auftakt beginnen:

• 1. Motiv: Sopran T. 1/2, markant, rhythmisch-deklamatorisch, Tonrepetitionen, Ganztonschritt ab-

und aufwärts ersetzt Leitton, Betonung auf „ je“ und „wahr“ , Ambitus: gr. Sekunde

• 2. Motiv: Tenor T. 1-3, immanente Zweistimmigkeit durch Sprünge (kl. Sexte, Quarte bzw. Trito-

nus, Quintsprung am Schluß erzeugt D-T-Wirkung), zerbrechlicher Charakter durch Tritonus und

rhythmische Verschiebung (eingeschobener 3/2-Takt), Betonung auf „ je“ und „ -lich“ , Ambitus: kl.

Sexte

Diese beiden Motive werden unterschiedlich imitiert und gekoppelt: Baß imitiert Tenor im Oktavab-

stand, Alt imitiert Sopran eine Quarte tiefer, T. 4/5: Kopplung Alt/Tenor, T. 6: Kopplung Sopran/Alt.

Lediglich der Sopran sequenziert zweimal den abgespaltenen Schluß des 1. Motivs. So entsteht ein dich-

ter polyphoner Satz von schütterem, zerbrechlichem Charakter. Nicht Glaubenssicherheit (wie z.B. mit

den homophonen Akkordsäulen der gleichnamigen Schütz-Motette) wird hier dargestell t, sondern ein

zaghaftes Hoffen.

Page 28: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

26

Harmonisch wird in den ersten 4 Takten zunächst die Tonartebene a durch eine stark modifizierte I-IV-

V-I-Kadenz bestätigt (T. 2: Wechsel auf die d-Ebene, T. 3/3: e-moll mit Quartvorhalt), zugleich verun-

sichert der fehlende Leitton sowie die Septime im Tenor (T. 4/1). Die Wiederholung der Motive in Sop-

ran und Tenor einen Halbton höher leitet eine Modulation in die h-Ebene ein, die durch den Quintsprung

fis-H im Baß dann bestätigt wird. Durch das Auftreten der beiden Motive im Baß zeigt sich deren har-

monische Quali tät: das zweite Motiv wirkt durch eben diesen Quintsprung tonartbestätigend, während

das erste Motiv Orgelpunktfunktion hat.

Im Gegensatz zu den Stellen T. 49ff . und 134ff . endet das Melisma des Altes nicht im H-Dur-Drei-

klang, sondern in einer Art Trugschluß D-Dur, womit der unsichere Charakter dieses Formteiles noch-

mals untermauert wird.

Einen motivischen Bezug zwischen Formteil A und Formteil B stell t der Sopran dar. T. 9/10 ist, mit

Ausnahme der nicht punktierten Halben, eine Vergrößerung des Kopfes von Motiv 1. Erst mit dem c’’

in T. 11 wird dieses Motiv anders weitergeführt. In den drei Phrasen (T. 9-11, 11-13, 13-16) erweitert

der Sopran seinen Ambitus entlang des a-Moll7- Akkordes bis zur kleinen Septime37. Obwohl die Sop-

ranlinie größtenteils auf Dreiklangsmelodik aufgebaut ist, werden gleichzeitig nur die Töne der pentato-

nischen Skala auf C verwendet, dies wird untermauert durch die ebenfalls rein pentatonische Führung

von Tenor und Baß. Nur der Alt schert mit dem f’ ( allerdings auf unbetonter Zählzeit) aus dem pentato-

nischen Feld aus. So entsteht harmonisch ein a-Moll-Bereich, der nur in der Pause des Basses (T. 13)

kurzzeitig in den d-Bereich wechselt.

Während der Baß die erste Motivgestalt des Sopranes wörtlich imitiert, findet sich im Alt eine variierte

Form (Betonung auf „ -tes“ ) eine Quarte tiefer. Der Tenor stell t eine Art Spiegelung des Altes dar (Inter-

vallstruktur), gleichzeitig entsteht durch das punktierte Viertel d’ im ersten Fall ein Quartvorhalt nach a-

Moll . In diesem Formteil l assen sich somit letztlich alle Stimmen motivisch auf den Sopran beziehen.

Die Unterstimmen wiederholen ihr jeweili ges Motiv einmal vollständig, dann in verkürzter Form, dies

führt unmittelbar in die Wiederholung des A-Teiles zurück (in Sopran und Alt durch Verkürzung des

Motivanfangs auf drei Achtel). Rhythmisch stell t dieser B-Teil durch die Verdopplung der Notenwerte

einen Ruhepunkt zwischen den beiden nervös wirkenden A-Teilen dar.

Zu Beginn des folgenden Formteiles C zeigt sich ein Kompositionsprinzip, das Distler in den früheren

Motetten nicht in solch ausgeprägtem Maße eingesetzt hat: auf kurzem Weg (4 Takte) findet extreme

harmonische Bewegung durch motivische Engführung statt. Das kurze prägnante Motiv des Soprans

(T. 24/25) ist geprägt durch den synkopischen Rhythmus (Beschleunigung punktierte Viertel → Viertel

→ Achtel), den Oktavsprung und den Ambitus der kleinen Terz, durch den es große Modulationsfähig-

37 siehe auch S. 5f.

Page 29: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

27

keit erhält. Melodischer und rhythmischer Höhepunkt ist das Wort „Christus“ . Die Einsatzfolge von

Sopran, Tenor und Alt ergibt in T. 24/25 einen F-Dur-Dreiklang, in T. 26/27 einen H-Dur-Dreiklang

(es’’ im Sopran enharmonisch nach dis’’ umgedeutet). Im Baß findet sich ein chromatisches Sequenz-

motiv mit geglätteter rhythmischer Struktur, das im Kleinterzabstand aufsteigt. So ergibt sich folgende

harmonische Struktur:

241 2 3 4 251 2 3 4 261 2 3 4 271 2 3 4 281

(h) (a) D 5

D7

5 f 3

- c4 5

c4 As 3

- H6 H5 Fis 3

H 3

H7 3

- D

Abbildung 5: Harmonischer Ablauf der Takte 24-28

Bemerkenswert ist, daß, trotz Sequenzierung aller Stimmen, durch die rhythmische Verschiebung zwi-

schen Oberstimmen und Baß keine harmonische Sequenz entsteht.

Auch in den folgenden Takten 28-36 wird nur ein Motiv durch alle Stimmen geführt und jeweils auf-

bzw. absteigend sequenziert. Durch Tonrepetition und punktierte Viertel zeigt es wiederum Bezüge zum

1. Motiv des Formteiles A. Oberstimmen und Baß bewegen sich gegenläufig (Jesus kommt in die Welt,

die Tore öffnen sich), die Harmonik zielt über h-Moll-Sextakkord (T. 29), C-Dur (T. 31) und g-Moll-

Sextakkord (T. 33) zur Ausgangstonart a-Moll hin, an die sich die Wiederholung von Teil A anschlie-

ßen kann.

Beginnend mit der Reminiszenz des „daß Jesus Christus“ löst sich der Alt ab T. 36 aus dem liegenden

Quintklang der übrigen Stimmen und stell t damit Jesu Wirken in der Welt symbolisch dar. Ist in T. 40

dann vom Einzelnen (dem Sünder) die Rede, verstummen die Reststimmen, der Alt kann nach zweimali-

gem „ ich“ in den A-Teil überleiten. Innerhalb der Linie des Altes stell t Distler einen interessanten Bezug

her, indem er den Worten „selig“ und „ ich“ (T. 38 bzw. 41) das gleiche Melisma (Gruppe aus drei Ach-

teln38, synkopisches Viertel und nachfolgendes Achtel) unterlegt: ich, der Sünder, kann durch Jesu Wir-

ken selig werden.

Formteil D beginnt mit dem ersten hauptsächlich homophonen Abschnitt der Motette, der (mit Aus-

nahme des Tenor ab T. 60), bis T. 76 führt. Durch die sequenzierende Wiederholung und Abspaltung

(dadurch entsteht die rhythmische Verschiebung innerhalb des Dreiertaktes) steigert sich der Satz zu-

nächst bis T. 60, dabei finden sich auf den Halben jeweils zwei Moll-Sextakkorde, der erste davon mit

hinzugefügter Sekunde (z.B. T. 54: d→a). In T. 60 setzen Sopran, Alt und Baß mit einem neuen, tänze-

rischen Motiv ein, im Tenor wird gleichzeitig die Soprangestalt vergrößert. Während der Sopran das

Motiv zweimal identisch wiederholt, steigen Alt und Baß beim zweiten Mal an (Halbton/Ganzton), so

38 Diese Achtelgruppe kommt ebenfall s vor in den Schlußmelismen des Altes (z.B. T. 8).

Page 30: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

28

daß in T. 68 g-Moll erreicht ist. Die pendelnde Bewegung ab T. 60 sowie die homophone Zusammen-

führung in T. 68 führen zum Höhepunkt des Abschnittes, dem Es-Dur7+-Akkord in T. 69. Dieses Wort

„mir“ wird nicht nur durch den Spitzenton g’’ im Sopran, sondern auch durch den plötzlich Tempoum-

schwung (Ganze nach Viertel) deutlich hervorgehoben39.

Über c-Moll moduliert Distler in die Mediante G-Dur (mit Quartvorhalt im Tenor). Das nachfolgende

„Jesus Christus“ ist wiederum metrisch stark gedehnt, eine Praxis, die an alte Messen (z.B. Palestrina,

Lasso) erinnert: im Credo werden die Worte „Jesu Christi“ meist in mindestens doppelten Notenwerten

vertont (im Verhältnis zur unmittelbaren Umgebung). Gleichzeitig symbolisiert die extrem tiefe Lage

aller Stimmen Jesu Geburt als Hinabsteigen in die Welt.

Mit dem in T. 77 beginnenden imitatorischen Abschnitt wird der zweimal begonnene Satz „auf das an

mir...“ erstmals zu Ende geführt - eine wirkungsvolle rhetorische Steigerung. Der Beginn des Sopran-

motives stell t eine Intervallspiegelung von T. 60ff . dar, außerdem findet sich in beiden Fällen das glei-

che rhythmische Motiv40, erstmals aufgetreten im 1. Motiv des A-Teils (T. 1/2 im Sopran) und später

noch mehrmals zu finden (z.B. T. 93f., Alt; T. 95f., Baß; T. 140 & 144ff ., Tenor; Schlußchoral: T. 2 &

4, Alt). Es handelt sich offensichtlich, wie auch beim Auftaktmotiv des Anfangs, um ein rhythmisches

„Leitmotiv“ , das sich durch die gesamte Motette zieht. Interessant ist die rhythmische Parallele zum

„Kyrie“ des Schlußchorals (v.a. T. 22), in dem dieses Motiv seinen Ursprung haben könnte.

Das Sopranmotiv wird kontrapunktiert vom Alt, der nach gleichem Beginn in T. 80 durch die steigende

Sequenz wiederum den Text „an mir“ hervorhebt. Hieraus entsteht dann in T. 83ff die Motivgestalt für

den letzten Abschnitt des Teils D: Tonleiter abwärts von der Quinte zum Grundton mit Terz-Auftakt.

Auch dieses Motiv wird sequenzierend durch die verschiedenen Stimmen geführt, über die harmonischen

Stationen d-Moll (T. 83ff .), G-Dur (T. 87f.) und e-Moll (T. 89f.) wird ab T. 91 wieder die Tonartebene

a-Moll erreicht (im Anschluß daran noch eine VI-V-I-Kadenz).

Die sich an D anschließende Wiederholung des C-Teils mit anderem Text stell t eine Neuerung dar: in

den früheren Motetten finden sich zwar ebenfalls Abschnittswiederholungen, sie haben aber im allge-

meinen (der motettischen Praxis folgend) gleichen Text (ausgenommen sind natürlich die wiederholten

Stollen der Choralmotetten)41. Aufgrund des unterschiedlichen Textes wird das ausgedehnte Altsolo der

Takte 36-45 in diesem Teil auf 2 Takte verkürzt.

Den Abschluß des rondoförmigen Teiles dieser Motette bildet, wie oben bereits erwähnt, die wörtliche

Wiederholung der Formteile ABA.

Einen deutlichen Gegenpol zum zerbrechlichen, schütteren Beginn der Motette stell t der Übergangsteil

zur Fuge dar (T. 138-170). Sopran, Alt und Baß wiederholen unerschütterlich das Wort „Gott“ auf

39 Vgl. T. 40/41, Betonung des Wortes „ ich“ → ich bin Sünder, mir wird vergeben. 40 Punktierte Viertel, Achtel, Viertel 41 Auf diese Besonderheit weißt auch Ursula von Rauchhaupt hin: Die vokale Kirchenmusik H.D.; S. 158

Page 31: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

29

langen, klaren Akkorden (punktierte Ganze !) und bringen damit eine Glaubenssicherheit zum Ausdruck,

wie sie in den vorausgehenden Teilen nicht zu spüren war.

Der Tenor entwickelt dazu ein neues Thema, das später zweimal im Baß wiederholt wird: ähnlich wie-

der dem 1. Motiv des A-Teils, findet zunächst durch die Tonrepetition eine klare Festlegung des Tones h

statt, die Ausweichung nach g steht jeweils auftaktig auf schwacher Zählzeit. Motivisch wiederholen

sich die Takte 139/40 in 141/42, außerdem tritt das rhythmische Leitmotiv (siehe Fußnote 39) wieder

auf. Das Thema macht einen beständigen, „unvergänglichen“ Eindruck. Beim Wort „Unsichtbaren“

findet rhythmisch ein Wechsel zur Hemiole statt (die, unsicht- und unhörbar, eigentlich schon in T. 142

begonnen hat), der Oktavsprung e’→e weißt bereits auf den Tonartwechsel am Ende des Themas hin42.

Gleichzeitig bringen die Quart-Quint-Oktavsprünge eine klare tonartliche Geschlossenheit. In T. 146

wird der Tonartwechsel nach e eingeleitet (e’ auf betonter Taktzeit). Distler nutzt die doppelte Einord-

nungsmöglichkeit des Themas (e-Moll /G-Dur) auch bei den folgenden Baßdurchführungen: das in e-

Moll zunächst harmoniefremde c (T. 149) wird mit dem Einsatz der Oberstimmen (C-Dur) erklärt, in T.

154 findet dann wiederum der Wechsel nach a-Moll statt. Im letzten Fall (T. 160ff .) wird a-Moll als

Moll-Dominante zu D-Dur gefestigt (das f des Basses wird nicht zu F-Dur), der Übergangsteil mündet

schließlich in D-Dur. Innerhalb der Akkorde der Außenstimmen (T. 138ff .) steigt der Alt stufenweise

eine große Sexte an (d’→h’) , dadurch entstehen Harmonien von unterschiedlicher Färbung. In T. 150ff .

nehmen die Oberstimmen den Hemiolenrhythmus des Tenors auf und führen ihn organisch bis T. 170

weiter. Während Alt und Tenor immer größere rhythmische Eigendynamik entwickeln, verbindet die

Themenvergrößerung im Sopran die beiden Baßdurchführungen und sorgt, zusammen mit der harmoni-

schen Führung und dem Spitzenton a’’ , für einen Spannungsbogen zum Höhepunkt in T. 170 hin.

Den nun folgenden Teil als Fuge zu bezeichnen, macht es notwendig, ihn auf seine Übereinstimmung

mit dem Fugenprinzip zu untersuchen. Im Alt wird das Fugenthema vorgestell t (T. 170ff .): in D-Dur

beginnend, moduliert es bei den drei Halben nach A-Dur (bestätigt durch den Einsatz des Comes im

Sopran). Wie beim Thema des Übergangsteils erscheint zunächst ein regulärer 3/4-Takt, der in T. 172/73

hemiolisch weitergeführt wird:

Bsp. 28: " Das ist j e gewißli ch wahr" ; Fugenthema T. 170ff . Alt

� �� � � � � � � � � � � � � �Hemiole

42 Das Thema steht, isoliert betrachtet, die ganze Zeit in e-Moll . Durch das harmonische Umfeld (G-Dur) ge-winnt man allerdings den Eindruck eines Tonartwechsels, denn erst in T. 148 erscheint e’ als tiefster Ton (und damit ein Klang auf e). Da es sich um einen Wechsel in die Paralleltonart handelt, spreche ich hier nicht von einer Modulation.

Page 32: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

30

Der Comes moduliert ebenfalls in die Oberquinte, so daß an seinem Ende bereits e erreicht ist. An dieser

Stelle müßte nun, nach der klassischen Fugenlehre, die Rückmodulation nach D-Dur erfolgen. Distler

wiederholt den Themenschluß in A-Dur, der synkopische Kontrapunkt des Altes bildet dazu zwei Vor-

halte (9-8 bzw. 4-3), so daß die zweistimmige Schlußklausel43 in a’ mündet. Als dritter Einsatz folgt im

Baß also wieder ein Comes, der Tenor folgt entsprechend in E-Dur.

Beginnend mit dem metrisch „ falschen“ Sopraneinsatz in T. 181 folgt eine aufsteigende imitatorische

Sequenz des Themenkopfes (womit der Themeneinsatz des Tenors (T. 182) nicht vollständig zu Ende

geführt wird). Sopran und Tenor steigen in ihrer Einsatzfolge entlang einer a-Moll-Tonleiter aufwärts

(vgl. Einsatztöne), jeweils unter Beibehaltung des für die Themengestaltung charakteristischen Dur-

Akkordes (so erklärt sich z.B. der Querstand fis-f’ in T. 183). Der letzte Einsatz innerhalb der Sequenz

(eigentlich a’ im Tenor) wird um eine Oktave nach unten versetzt und dem Baß zugeordnet, womit ei-

gentlich erst hier die zweite Dux-Comes-Gruppe einsetzt (wörtliche Wiederholung der Takte 170ff . in

den Männerstimmen).

An diese Exposition schließt sich ein Durchführungsteil von unglaublicher Dichte und Kompaktheit an.

Im Baß wiederholt Distler eine Vergrößerung des Kopfmotivs des Themas, der Tenor imitiert dies je-

weils eine Quarte höher. Setzt man einen 3/2-Takt als Grundmetrum voraus (dieser ergibt sich aus der

oben gezeigten Hemiole des Themas ab T. 196), so läuft der Baß durchweg gegen den Takt, der um ein

Viertel verschobene Tenor fügt sich hingegen in das 3/2-Schema ein. Sopran und Alt wechseln sich mit

Themenschluß und Kontrapunkt ab, so daß sich die Takte 175-79 der Exposition mit ihrer synkopierten

Vorhaltsbildung hier, auf verschiedenen Tonstufen, ständig wiederholen. Mit diesem motivischen Mate-

rial legt Distler nun eine große harmonische Sequenz an:

196 1

2

3

197 1

2

3

198 1

2

3

199 1

2

3

200 1

2

3

201 1

2

3

202 1

2

3

203 1

2

3

a

fs

H7

3

E 5

cs6

7

-----

5

fs h

E7 3

A 5

fs6

7 -----

5

204 1

2

3

205 1

2

3

206 1

2

3

207 1

2

3

208 1

2

3

209 1

2

3

210 1

2

3

211 1

2

3

h

G

g

C7 3

F 5

d6

7

-----

5 g

c

F7 3

B 5

g6

7 -----

5

212 1

2

3

213 1

2

3

214 1

2

3

215 1

2

3

216 1

2

3

217 1

2

3

218 1

2

3

219 1

2

3

c

Gs

gs

Cs7

3

Fs5

ds6

7

-----

5

gs

cs

Fs7 3

H 5

gs6

7 -----

5

Abbildung 6: Harmonischer Ablauf der Takte 196-220

43 Vgl. S. 12

Page 33: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

31

Jeweils acht Takte bilden eine Einheit, sie werden dann wörtlich einen Halbton höher wiederholt:

T. 196/2-204/1; T. 204/2-212/1; T. 212/2-220/1 (Auflösung cis-Moll).

Diese acht Takte sind in sich nochmals zweigeteil t: nach vier Takten wiederholt sich das harmonische

Schema eine Quarte höher. Durch den Motivtausch in Sopran und Alt kommen diese beiden Stimmen

nach acht Takten bereits einen Halbton höher aus und bilden somit eine Basis für die harmonische Um-

deutung, die jeweils an den Nahtstellen stattfindet: in T. 204/1 ist als Auflösung der Vorhaltskadenz h-

Moll erreicht, das aber durch das einsetzende g des Basses nach G-Dur umgedeutet wird. Mit dem b’

des Soprans ist dann g-Moll und damit der Halbton höher (gegenüber T. 196/3 fis-Moll) erreicht, die

Sequenz beginnt von neuem. Entsprechend verhält es sich an der Parallelstelle T. 212, hier findet zu-

sätzlich noch die enharmonische Umdeutung statt (T. 212/2: Gis-Dur statt As-Dur).

Mit der sich anschließenden Reprise folgt Distler dem Prinzip, auf eine motivisch, harmonisch und

rhythmisch äußert komplexe Passage einen leichter verständlichen Teil folgen zu lassen: Zwar entspricht

der Baßeinsatz in T. 220 noch denen innerhalb der Sequenz (Einsatzton wieder ein Halbton höher), da

aber nun die Ausgangstonart der Fuge (D-Dur) wieder erreicht ist, setzt der Baß erneut mit dem Fugen-

thema ein. Nach Wiederholung der Dux-Comes-Gruppe in Baß und Tenor wird die nachfolgende Grup-

pe bereits um den 4. Einsatz verkürzt: Comes im Sopran, dazugehöriger Kontrapunkt im Alt. Hiervon

wird nun der letzte Teil (Kadenz nach a) abgespalten und im Wechsel zwischen Männer- und Frauen-

stimmen „ in Ewigkeit“ (viermal) wiederholt, womit eine klare tonartliche Festlegung auf a einhergeht.

Das kurze „Amen“ bringt eine angereicherte Kadenz nach A-Dur, wobei die Punktierung im Baß eine

Reminiszenz an das rhythmische Leitmotiv darstellen könnte.

Der Schlußchoral ist schlicht gehalten, Sopran und Baß laufen durchweg in gleichen Notenwerten.

Rhythmische Eigenständigkeit innerhalb des Satzes entwickelt vor allem der Alt, so z.B. in den Schluß-

klängen in T. 4 und 8. Die Harmonik ist hauptsächlich durch Vorhalte geprägt. Im Sinne eines Passus

duriusculus ist die Baßführung in T. 5/6 zu verstehen: Chromatik im Rahmen einer verminderten Terz

(f-dis) zur Darstellung des Kreuzes. Nach der Zusammenführung aller Stimmen im Einklang d

(T. 16) bildet das „Kyrie“ im unisono einen beeindruckenden Abschluß.

Page 34: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

32

3.2 „ Fürwahr, er trug un sere Krankheit“

War in der Motette „Das ist je gewißlich wahr“ die Rondoform bestimmend, so zeigt sich in dieser Mo-

tette eine Da-capo-Form, abgeschlossen wieder durch einen Schlußchoral:

T. 1-9 9-18 19-26 26-35 35-45 45-51 51-57 57-65

A A’ B A’’ A’’’ C C’ C’’ →B →gis →c →Cis →H E→B B→E E→B→F

T. 66-133

Fuge T. 66-100 101-124 125-133 Exposition Durchführung Coda

T. 1-9 9-18 19-26 26-35 35-45 45-51 51-57 57-65

A A’ B A’’ A’’’ C C’ C’’ →B →gis →c →Cis →H E→B B→E E→B→F

Abbildung 7: Formaler Aufbau der Motette " Fürwahr, er trug unsere Krankheit"

Die Dreiteili gkeit der Da-capo-Form findet sich außerdem im kleinen Aufbau wieder:

AA-B-AA, C-C’-C’’ , dreiteili ge Fuge.

Das hauptsächlich formbildende Element für den Da-capo-Teil ist die Harmonik. Sie ist für die Takte

1-45 gekennzeichnet von zwei Hauptprinzipien: dem Nebeneinanderstellen weit voneinander entfernter

Tonarten und der extrem verzögerten Auflösung in den Kadenzen.

In den ersten sechs Takten, in denen das harmonische Schema dreimal wiederholt wird, wird ein Ton-

raum ohne wirklichen Orientierungspunkt geschaffen. Die kleine Sekunde als formbildendes Intervall44

(Alt/Sopran) wird im Tenor eine Quinte tiefer imitiert, im Baß umgekehrt, so daß ein ständiger harmoni-

scher Wechsel zwischen g7 und (Baß enharmonisch umgedeutet) es-Moll-Sextakkord stattfindet. Im

weiteren Verlauf stell t sich aber auch der erste Eindruck, den der Alt vermittelt (Tonart B-Dur mit Leit-

ton a), als richtig heraus, denn B-Dur wird in T. 9 erreicht. In T. 6 löst sich zunächst der Alt vom An-

fangsmotiv, um mit einem Septimsprung den Quartvorhalt as’ von es-Moll zu erreichen45, was als Moll-

Subdominante von B-Dur in T. 7 erreicht wird. Die Auflösung nach B-Dur allerdings wird sowohl

rhythmisch verzerrt (Tenor/Baß zunächst eine Viertel zu früh, Silbenwechsel auf unbetonter zweiter

Zählzeit; Sopran nachschlagend) als auch durch Dissonanzen und Vorhalte herausgezögert (7-6-7-5 im

44 Zur Motivgestaltung dieser Motette siehe S. 8f.

Page 35: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

33

Sopran; 4-3 im Alt, vorbereitet durch den Tenor). Daß die Dur-Terz als Auflösung des Quartvorhaltes

gleichzeitig wieder den Auftakt des kl. Sekunde-Motives (und damit den Leitton zu es’) darstell t, ver-

stärkt den unsicheren, zerbrechlichen Charakter dieses Schlußakkordes.

Bei der Wiederholung dieses Formteiles als A’ erreicht der Alt nach dem Septimsprung keinen Vorhalt,

sondern den Grundton cis’’ von cis9 (ohne Terz), die Auflösung mündet an dieser Stelle in gis-Moll

(T. 18/2), das allerdings durch die Weiterführung der aufsteigenden Linie im Alt gleich wieder in Frage

gestell t wird. Auffälli g ist die große Septime a-gis’ zwischen Baß und Sopran beim Wort „Schmerzen“

(T. 17/2).

So spiegelt sich in diesen beiden Teilen das Prinzip der weit entfernten Tonarten (B/gis), wie es schon

die erste Akkordverbindung gezeigt hat (g/es).

Die Teile A’’ und A’’’ zeigen den gleichen harmonischen Ablauf wie A und A’ , allerdings um eine klei-

ne Terz nach oben transponiert, außerdem endet A’’’ in H-Dur (das nicht durch Weiterführung verzerrt

wird). So waren für die einzelnen A-Teile bereits B-Dur, gis-Moll , Cis- bzw. Des-Dur und H-Dur Ziel-

tonarten.

Im Zentrum der Takte 1-45 steht Teil B, der von einem kurzen Solo des Altes eröffnet wird, wobei die

Wiederholung des Wortes „ ihn“ (Tritonussprung) auffäll t46. Im Anschluß daran geht Distler einen äu-

ßerst kühnen harmonischen Weg, um das Geplagt- und Geschlagenwerden tonmalerisch darzustellen.

Grundlage dieser Entwicklung bildet der chromatisch um die Quart d-a ansteigende Baß, jeweils unter-

brochen durch die verminderte Septime beim Wort „geplagt“ . Darüber imitieren sich Alt und Sopran

mit einem Seufzermotiv im Abstand einer kleinen Terz (B-A-C-H untransponiert im Sopran T. 23/24),

das sich dadurch treppenartig aufwärts schraubt. Bemerkenswert ist hierbei, daß nur das Alt-Motiv

tatsächlich als Vorhalt genutzt und korrekt aufgelöst wird, während die Vorhaltswirkung im Sopran

zugunsten einer harmonischen Rückung um neun (!) Quinten aufwärts (z.B. es-Moll→fis-Moll i n T. 23)

aufgehoben wird. Zwar besteht zwischen h, fis, cis und gis eine Quintverwandschaft, aber die Akkorde

es-Moll und f-Moll fallen in beide Richtungen vollständig aus dem Rahmen:

223 4 231 2 3 4 241 2 3 4 251 2 3 4 261 2 3 4 h6 3

5 es fis cis6

3

5 f gis H /h 5

g7 ais (b)

Cis/cis

5

A7 a7 c (dis statt es)

Abbildung 8: Harmonischer Ablauf der Takte 22-26

45 Siehe Notenbeispiel 5, S. 6 46 Vgl. entsprechende Wdh. des Wortes „ ich“ in der Motette „Das ist je gewißli ch wahr“; T. 41/42.

Page 36: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

34

Nach einmaliger Wiederholung ändert sich die Motivik für das Wort „geschlagen“ zu repetierenden

Achteln. Auch harmonisch verläßt Distler die kurze Sequenz und geht über h und g nach b (bzw. ais).

Abgeschlossen wird dieser Teil durch die wiederum überraschende Wendung nach c-moll , wobei auch

dies durch den weitergeführten Alt sofort in Frage gestell t wird.

Den Übergang zwischen Teil A’’’ und Teil C gestaltet Distler als einfache Dominant-Tonika-Beziehung

(T. 45: H-Dur→E-Dur). Hier schließt sich eine harmonische Sequenz an, die sich in dieser Form auch

am Beginn des Madrigals „Moro lasso“ von Carlo Gesualdo findet47: chromatisch absteigender Baß, in

den Oberstimmen abwechselnd ein Dur-Akkord und ein Moll-Sextakkord.

Bsp. 29: " Fürwahr , er trug unsere Krankheit" ; T. 45-48

� � �� �� � �� �� � �� � �� �� �� � �� � �� �� � �� �� � �� �

Das melodisches Material dieser Passage ist fast ausschließlich wieder die kleine Sekunde: im Sopran in

der Urgestalt aufwärts, in Alt und Baß in der Umkehrung (als chromatische Linie). Nur der Tenor stell t

mit dem Terzsprung die harmonische Füllstimme dar48. Lamentobaß und Chromatik als Passus durius-

culus sind die rhetorischen Mittel. Bemerkenswert ist der Tritonusabstand zwischen e und B im Baß, der

sich auch in den Tonarten widerspiegelt. Dabei wird B-Dur durch eine hemiolische Vorhaltskadenz (T.

48/2-51/1) herausgezögert. Die gleiche Sequenz wird mit Stimmtausch dreimal wiederholt, sie führt

zunächst nochmals nach E-Dur zurück, beim dritten Mal bleibt B-Dur nicht als Schlußtonart stehen,

sondern wird durch eine Art Coda als Subdominante nach F-Dur aufgelöst (T. 63-65).

An dieser Stelle sei nochmals auf Abb. 7 verwiesen: betrachtet man den harmonischen Aufbau im ge-

samten Da-capo-Teil , so ist es bei der Menge der erreichten Tonarten nicht möglich, eine endgültige

tonartliche Einordnung zu finden. Zwar weisen Anfang und Schluß eine Art Subdominant-Tonika-

Verhältnis auf (B→F), diese wird aber durch die Tonarten im hohen Kreuzbereich äußerst verzerrt.

Letztlich kann erst im Schlußchoral die tonartliche Zuordnung nach F-Dur bestätigt werden.

47 Ob Distler dieses Madrigal kannte und bewußt zitierte, sei dahingestellt . Wolfgang Thein weist in seinem Artikel „Funktion, Deutung, Verkündigung - Zu Hugo Distlers Orgel- und geistli chen Chorkompositionen“ auf die an Gesualdo erinnernde Klanglichkeit dieser Motette hin (in: Komponisten in Bayern; Bd. 20: Hugo Distler; S. 66ff.) 48 Vgl. S. 8/9

Page 37: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

35

Das Thema der Fuge wird vorgestell t im Sopran (T. 66-73). Zunächst wird der zentrale Ton a’ vom

oberen und unteren Leitton umspielt (b’ /gis), das Wort „Missetat“ wird durch den verminderten Septim-

sprung tonmalerisch dargestell t. Harmonisch ergibt sich eine Tonika-Dominant-Beziehung zwischen

a(-moll) und E-Dur (als verminderter Septakkord mit tiefalterierter Quinte b’) , das zweite gis ist enhar-

monisch nach as umgedeutet und weist damit bereits auf die nachfolgende Chromatik hin. Ähnlich dem

Lamento-Abstieg des Basses im vorausgehenden Teil steigt nun der Sopran chromatisch eine Quarte

abwärts und moduliert damit in den e-Bereich. Durch den rhythmischen Aufbau (ein 3/4-Takt, dann vier 3/2-Takte) und die Wiederholung des „ward er verwundet“ , findet sich auf den Schwerpunkten dreimal

hintereinander der besonders lautmalerische Konsonant „w“ . Auch in diesem Fugenthema ist die kleine

Sekunde als motivische Kernzelle anzutreffen, sowohl am Themenbeginn als auch in der Chromatik am

Ende.

In der Fugenexposition (T. 66-100) schraubt sich das Thema in Quarten abwärts, es findet also nach

dem ersten Einsatzpaar keine Rückmodulation statt. Harmonisch findet damit ein Anstieg a-e-h-fis statt.

Ein Vergleich zur Motette „Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen“ von Johannes Brahms

(op. 74 Nr. 1) scheint hier angebracht: in beiden Fällen könnte die Fuge aufgrund der immer neuen Ton-

art der Einsätze unendlich weitergehen, es entsteht nicht der Eindruck eines formal abgeschlossenen

Teils. Während Brahms diese kreisende Bewegung durch eine Generalpause abrupt abbrechen läßt,

führt Distler die Fuge durch den erneuten Baßeinsatz in T. 101 (enharmonische Umdeutung eis→f) mit

Kontrapunkt im Tenor zweistimmig weiter.

Mit dem Einsatz des Comes im Alt in T. 74 beginnt eine rhythmische Verzerrung: während sich das

Thema in den 3/2-Rhythmus einfügt, wechselt der Kontrapunkt des Sopranes in T. 75 in den 3/4-Takt, um

in T. 80 ebenfalls in einer Hemiole zu enden, allerdings taktverschoben zum Alt. Diese rhythmische

Verzerrung wird im weiteren Verlauf so weit geführt, daß letztlich keinerlei rhythmische Orientierung

mehr möglich ist. Dies soll anhand der folgenden Takte verdeutlicht werden:

82 1

2

3

83 1

2

3

84 1

2

3

85 1

2

3

86 1

2

3

87 1

2

3

88 1

2

3

89 1

2

3

90 1

2

3

Abbildung 9: Rhythmischer Verlauf der Takte 82-90

Die Abbildung zeigt mit den Pfeilen die Schwerpunkte der einzelnen Stimmen (Sopran, Alt, Tenor) an. Die durchgezoge-

nen Gruppen bezeichnen eine Hemiole.

Page 38: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

36

Motivisch liegen dieser Passage die drei Elemente der Fuge zugrunde: Fugenthema (größtenteils hemio-

lisch, s.o.), Kontrapunkt (größtenteils 3/4-Takt) und das Motiv „zerschlagen“ , das erstmals am Ende des

Kontrapunktes im Sopran (T. 82) auftritt. Dieses Motiv ist ebenfalls hemiolisch angelegt, es erhält

durch die Tonrepetition und die mehrmalige Wiederholung einen unerbittlichen Charakter. Beim jeweils

letzten Auftreten wird die Tonrepetition zugunsten eines Quintsprunges aufgegeben, womit das Motiv

zum Anfangston der nächsten Stimme (Kontrapunkt) führt (z.B. T. 89/90: Sopran→Tenor).

Obwohl der rhythmische Kern damit eigentlich nur im Wechsel zwischen 3/4-Takt und Hemio-

lenrhythmus besteht, kombiniert Distler diese Elemente so gekonnt, daß letztlich keinerlei Metrum mehr

erkennbar ist:

Nimmt man jeweils das „_ zer-schla-gen“ als Hemiolengruppe an (die erste Hemiole im Sopran ist noch

vom vorhergehenden Kontrapunkt her zu verstehen, ebenso die letzte im Alt), so fäll t deren rhythmische

Verschiebung durch die eingefügten Schläge (in Halben) in T. 86/1 und 88/3 auf, die dieses ostinatoähn-

liche Motiv seiner rhythmischen Deutlichkeit und Gliederungsfähigkeit beraubt. Die 3/2-Takte in Sopran

und Tenor laufen um ein Viertel versetzt, während der Alt zunächst im ganztaktigen Schema verbleibt.

So erklärt sich, daß von T. 84-87 jede Zählzeit des notierten 3/4-Taktes in irgendeiner Stimme den

Schwerpunkt bildet. Ab T. 88 gibt auch der Alt den 3/4-Takt auf, so daß nun drei Hemiolen-Gruppen

rhythmisch verschoben ineinandergreifen. Obwohl sich Sopran und Alt in T. 90/1 metrisch treffen, ent-

steht auch hier, durch die Tenorweiterführung und den Baßeinsatz, keine rhythmische Orientierung.

Distler erweitert hier sein Prinzip, im polyphonen Satz jeder einzelnen Stimme rhythmische Freiheit zu

lassen, in stärkstem Maße. Die Stimmen sind im Verlauf der Fuge so eindrucksvoll kombiniert, das über

50 Takte (vom Beginn des Alteinsatzes T. 74) kein eindeutiger rhythmischer Schwerpunkt entsteht.

Gleichzeitig bleibt die ganze Zeit das 3/4-Takt-Schema für alle Stimmen gleich49.

Am Beginn der Durchführung findet, mit der enharmonischen Verwechslung eis→f im Baß eine Rü-

ckung vom Kreuzbereich (fis/Cis) in den b-Bereich statt. Aufgrund der starken Vorhaltsbildung und der

rhythmischen Verschiebung in der Zweistimmigkeit ist es kaum möglich, für die folgenden Takte eine

Tonart zu festzulegen, ab T. 109 konstituieren sich dann aber drei deutlichere Tonartbereiche: f-Moll

bis T. 117, von dort an c-Moll (teilweise mit vermindertem Septakkord, z.B. T. 122/1), schließlich sub-

dominantische Wendung nach g-Moll (T. 124/25). In T. 117ff . findet sich, zusammen mit der Original-

gestalt des Themas im Alt, eine Augmentation im Tenor50, wodurch ein großer Spannungsaufbau zur

Coda hin stattfindet. Was sich in der Exposition durch den jeweili gen Neueinsatz in der Unterquarte

49 Vgl. S. 20 50 Vgl. S. 22

Page 39: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

37

bereits angedeutet hatte, wird im weiteren Verlauf der Fuge als großangelegtes harmonisches Prinzip

erkennbar, nämlich die ausschließliche Bevorzugung subdominantischer Wendungen51:

T. 66-73 74-82 83-90 91-98 99/100 101-108 109-117 118-125

a→→e E e→→H H→→Fis fis/cis F f→→c c→→g

Abbildung 10: Harmonische Bereiche innerhalb der Fuge

Obwohl der formale Aufbau einer Fuge mit Exposition, Durchführung und Coda erkennbar ist, hat diese

Fuge nichts mit klassischen Modellen zu tun. Sie verdeutlicht musikalisch die Haltlosigkeit und Zer-

brechlichkeit des verwundeten Jesu, die Verstrickung des Menschen in der Missetat, sie stell t die Frage

nach der Schuld.

Die abschließende Coda nimmt motivische Elemente des A-Teils wieder auf: Tonwiederholung und

Rhythmus (punktierte Viertel, Achtel) erinnern an die Gestaltung der Textzeile „er trug unsere Krank-

heit“ (z.B. T. 7ff ., Sopran). Auch der Abstieg des Altes (Melisma auf „hätten“ T. 130ff .) ähnelt dem

jeweili gen Melisma auf „Krankheit“ bzw. „Schmerzen“ . So schlägt Distler hier eine Brücke zum Da-

capo-Teil . Harmonisch wird A-Dur erreicht, die Weiterführung des Altes wirkt somit als eine Art Trug-

schluß. Auch findet sich hier das einzige größere Melisma dieser Motette in Sopran, Alt und Tenor.

Ein musikalisches Kleinod stell t auch hier der Schußchoral dar: nach der so bewegenden und expressi-

ven Klangwelt der Motette setzt er den notwendigen Ruhepunkt. Stärker als im Schlußchoral der Motet-

te „Das ist je gewißlich wahr“ gewinnen die Unterstimmen Freiheit, den Text musikalisch auszudeuten:

der Tonleiter-„Gang“ (T. 1/3-3/2) und das „Freuden“ -Melisma (T. 10) des Basses, die chromatische

Führung des Altes (T. 5), die Synkopierung der Unterstimmen bei „Schmach, Hohn und Spott“

(T. 12ff .), die Sekundreibung bei „Striemen“ in Tenor und Baß (T. 15) und nicht zuletzt der weit ausla-

dende Spannungsbogen der letzten vier Takte, unterstützt durch die Kanonführung (Tenor, Sopran,

Baß), wobei sich im Tenor noch einmal eine Art Reminiszenz an den Beginn der Choralmelodie findet

(T. 19/20, Weiterführung im Baß 1). Ein Choralsatz im ursprünglichen Sinne der Verkündigung, ganz

im Dienst des Wortes, beschließt diese letzte Motette der Geistlichen Chormusik.

51 Vgl. S. 19

Page 40: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

38

3.3 Zusammenfassung

In besonderem Maße unterscheiden sich diese beiden späten Motetten von den vorigen durch ihre

formale Geschlossenheit. Distler gelang hier der Weg zur musikalischen Großform, die sich durch

Leitmotivik und Abschnittswiederholung auch im Kleinen widerspiegelt. Dies ist für das Gesamtwerk

Distlers von wesentlicher Bedeutung, hat er doch kein „großes“ kirchenmusikalisches Werk (z.B. ein

großbesetztes Oratorium) hinterlassen. Zwar waren diese beiden Motetten als Rahmenchöre einer

Johannes-Passion vorgesehen, diese wurde aber nie zu Ende geführt. Bei der Weihnachtsgeschichte

und der Choralpassion handelt es sich um größer angelegte Vertonungen, sie sind aber durch die klei-

ne Besetzung (Chor a cappella und Vorsänger) und die spezifisch liturgische Bestimmung keine Ora-

torien im eigentlichen Sinne (im Schütz’schen Sinne wären sie eher als Historien zu bezeichnen).

Auf die erstmals in der Motette „Das ist je gewißlich wahr“ auftauchende Wiederholung eines Ab-

schnittes auf verschiedenem Text (was dem eigentlichen Wesen der Motette nicht entspricht) wurde

bereits hingewiesen52

.

Vor allem in der Motette „Fürwahr, er trug unsere Krankheit“ wendet sich Distler von der modal-

kirchentonal geprägten Harmonik der frühen Motetten ab und kehrt zur Dur-Moll-Tonalität zurück.

Dies zeigt sich insbesondere in den chromatischen Teilen (so finden sich z.B. in den C-Teilen

taktelang nur Dur- bzw. Mollakkorde). Gleiches gilt für die melodische Gestaltung: war bisher die

Pentatonik für den größten Teil der Motive formbestimmend, so sind z.B. beide Fugenthemen deutlich

Dur-Moll-tonal geprägt (vgl. z.B. Dreiklangsbrechung bei „sei Ehre und Preis...“).

Waren in den frühen Motetten meist nur kurze imitatorische Abschnitte zu finden (Ausnahme: „Singet

dem Herrn...“ und „Singet frisch und wohlgemut“), findet sich den beiden späten Motetten jeweils

ausgedehnte Fugenarbeit.

Zuletzt fällt der starke Rückgang melismatischer Gebilde auf: die kurzen Melismen (z.B. bei „Das ist

je gewißlich wahr“ oder „Fürwahr, er trug unsere Krankheit

“) sind nicht zu vergleichen mit den aus-

gedehnten Melismen, wie sie in den frühen Motetten bestimmend waren.

52 Vgl. S. 28

Page 41: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

39

Page 42: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

40

Page 43: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

41

Page 44: Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 · Hugo Distler: Geistliche Chormusik op. 12 Stilistische Merkmale der Vokalmusik Hugo Distlers ... 6 E ine ausfü h rli cB etg d r Z mm

42

Literaturverzeichnis

Distler, Hugo Funktionelle Harmonielehre Bärenreiter-Ausgabe 1680

Grusnick, Bruno Hugo Distler Sonderdruck aus: 800 Jahre Musik in Lübeck, 1982

Herrmann, Ursula Hugo Distler Rufer und Mahner

Evangelische Verlagsanstalt Berlin

Honders, Casper In der Welt habt ihr Angst Über Leben und Werk Hugo Distlers

in: Der Kirchenmusiker Heft 1/1993; S. 1-13

Jennrich, Wolfgang Hugo Distler Union Verlag Berlin 1970 Reihe Christ in der Welt Heft 25

Lemmermann, Dirk Studien zum weltlichen Vokalwerk Hugo Distlers

Verlag Peter Lang 1996 Reihe Europäische Hochschulschriften Band 159

Rauchhaupt, Ursula von Die vokale Kirchenmusik Hugo Distlers

Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1963

Suder, Alexander L. (Hrsg.) Hugo Distler Verlag Hans Schneider, Tutzing 1990 Reihe Komponisten in Bayern Band 20