HumorKarikatur,ComedyundParodiealskulturellüber-formte, objektbezogene Äußerungen von Humor...

30
Humor

Transcript of HumorKarikatur,ComedyundParodiealskulturellüber-formte, objektbezogene Äußerungen von Humor...

Humor

Kai Rugenstein

HumorDie Ver�üssigung des Subjektsbei Hippokrates, Jean Paul,Kierkegaard und Freud

Wilhelm Fink

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung derGeschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften

in Ingelheim am Rhein

Umschlagabbildung:Hier kam zu guter Letzt mein Glück zu Fall, um niemals mehr sein Haupt zu heben.

Holzstich von Héliodore Pisan nach einer Zeichnung von Gustave Doré zum 66. Kapitel deszweiten Bandes von L’ingénieux hidalgo don Quichotte de la Manche, Paris 1863.

Nach dem Exemplar der Staatsbibliothek zu Berlin, AbteilungHistorische Drucke, Signatur: 50 mc 74-2: r.

Bibliogra�sche Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliogra�e; detaillierte bibliogra�sche Daten sind imInternet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks,der fotomechanischenWiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Dies betri�t auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte,Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf

Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien,soweit es nicht §§ 53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten.

© 2014Wilhelm Fink, PaderbornWilhelm Fink GmbH&Co. Verlags-KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn

Internet: www.�nk.deEinbandgestaltung: Oliver Kandale, Berlin

Printed in GermanyHerstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn

isbn 978-3-7705-5703-5

Humour shews us as we are.Humor zeigt uns, wie wir sind.

William Congreveam 10. Juli 1695 in einem Brief

an John Dennis.

Yo sé quién soy.Ich weiß, wer ich bin.

Don Quijoteim 5. Kapitel des i. Bandes

zu einem Bauern.

InhaltEinleitung 9

erster teilgenealogische perspektive

1 Problemhorizont 17

2 »Das romantische Komische« 332.1 Sancho am Abgrund . . . . . . . . . . . . 342.2 Der unendliche Zwiespalt im Subjekt . . . . 38

3 Die Macht der Verdopplung 493.1 Selbstverortung . . . . . . . . . . . . . . . 533.2 Der Scherhelm . . . . . . . . . . . . . . . . 653.3 Quijotes Humor . . . . . . . . . . . . . . 73

4 Wachsendes Selbstbewusstsein 854.1 Humoralanthropologie . . . . . . . . . . . 854.2 Von der Klinik zur Komödie . . . . . . . . 944.3 VomHumor zumHumoristen . . . . . . . 103

5 Übersetzen 1095.1 Von der Insel aufs Festland . . . . . . . . . 1125.2 Humoristische Subjektivität . . . . . . . . . 122

zweiter teilethische perspektive

6 Problemhorizont 135

7 »Der tiefste Lebens–Ernst« 1397.1 Scherz–Ernst–Dialektik . . . . . . . . . . . 1457.2 Die Kunst der indirektenMitteilung . . . . 152

8 Kierkegaards Verdopplung 1618.1 Das Ethische schreiben . . . . . . . . . . . 1638.2 Selbstau�ebung . . . . . . . . . . . . . . . 1738.3 Statt Rauchen . . . . . . . . . . . . . . . . 182

9 Wachsende Innerlichkeit 1879.1 Konsistente Widersprüchlichkeit . . . . . . 1899.2 Genuss —Wahl—Glaube . . . . . . . . . 1959.3 In Grenzgebieten (Humor und Ironie) . . . 201

10 Humor ist, wenn man trotzdem lebt 21110.1 Die Wirklichkeit des Leidens . . . . . . . . 21310.2 Nach Hause gehen . . . . . . . . . . . . . 224

dritter teiltherapeutische perspektive

11 Problemhorizont 235

12 »Ein Kinderspiel« 24112.1 In Grenzgebieten (Humor und Abwehr) . . 24212.2 Große Kinder, ernste Spiele . . . . . . . . . 251

13 Gefährliche Verdopplung/heilende Verdopplung 26313.1 Narcissus’ Spiegel . . . . . . . . . . . . . . 26413.2 Indirekte Therapeutik . . . . . . . . . . . . 27713.3 Homo humens . . . . . . . . . . . . . . . 297

Literaturverzeichnis 301

Danksagung 327

Autorenregister 329

Sachregister 335

Einleitung

Der Mensch besteht zu zwei Dritteln aus Flüssigkeit.1 Das lateinische Wort fürFlüssigkeit lautet humor. Ohne humor ist der Mensch nicht lebensfähig. Er istauf das Element des Flüssigen als einer notwendigen Voraussetzung des Lebensangewiesen.Humormacht denMenschen zu einemMitglied der Gemeinschaftdes Lebendigen. Darüber hinaus ist Humor aber auch eine spezi�sch mensch-liche Eigentümlichkeit, die den Menschen vereinzelt und von allem anderen le-bendigenSeiendenunterscheidet.DerMensch ist in einemdoppeltenSinne, derihn sowohl in das Reich des Belebten einbindet als auch in seiner Eigenart undEinzigartigkeit aus diesem herausstellt, ein homo humens.Unsere Gegenwartssprache hat sich eine leise Ahnung von diesem rätselhaft

doppelten Sinn desHumors bewahrt:Wennwir vonHumor sprechen, meinenwir damit zum einen die »Fähigkeit u. Bereitschaft, auf bestimmte Dinge hei-ter u. gelassen zu reagieren«2. Dieses für die alltägliche Verwendung desWortesmaßgebliche Verständnis betont, dass es sich beim Humor entgegen der physi-schen Bedeutung des lateinischen humor um ein psychisches Phänomen, eineFähigkeit, eine innere Bereitschaft, eine subjektive Haltung handle. Eine Hal-tung, welche, wie es scheint, von allen Tieren nur der Mensch einzunehmenim Stande ist. Neben der geläu�gen Bedeutung kennt unsere Sprache zum an-deren aber auch noch einen inzwischen veralteten und deutlich seltener anzu-tre�enden physiologisch–materiellen Sinn desWortes Humor: »Körpersaft«3.Wir unterscheiden durch die Betonung auf der letzten bzw. der ersten Silbeden lebenserleichternden komischen Humo

¯r vom lebenserhaltenden �üssigen

Hu¯mor. 1Humo

¯r und 2Hu

¯mor erweckendenEindruck, als hätten sie nichtsmit-

einander gemeinsam.DasselbeWort scheint, in ausgesprochen inkompatibleBe-zugssysteme eingebettet, auf äußerst disparateWirklichkeiten zu verweisen.DieThese dieser Arbeit ist, dass die Gestalt des Menschen am Schnittpunkt dieserWirklichkeiten steht bzw. entsteht und dort in ihrer Widersprüchlichkeit auspsychischer und physischer, aus subjektiver und objektiver Existenz in Erschei-nung tritt.

1 Hierholzer und Fromm (1997, S. 780�.).2 So das aktuelleDuden Universalwörterbuch (2011, S. 889).3Duden Universalwörterbuch (2011, S. 889).

10 Einleitung

Das implizit der Forschungslogik zahlreicher Untersuchungen des Humorszugrunde liegende, sich am alltäglichen Sprachgebrauch orientierendeVerständ-nis begreift Humor als eine Reaktionsweise auf bestimmte äußereObjekte. Hu-mor zu ›haben‹ bedeutet über die Fähigkeit zu verfügen, etwas am Objekt zu�nden und diesen Fund als eine »sprachliche, künstlerische o. ä. Äußerung«mitteilbar zu machen, um dadurch »gute Laune, fröhliche Stimmung«4 zuverbreiten. Scherz, Spaß, Satire, Sarkasmus, Slapstick, Spott und Streiche kön-nen dann ebenso wie Witz, Karikatur, Comedy und Parodie als kulturell über-formte, objektbezogene Äußerungen von Humor verstanden werden. Diesesind selbst wiederum leicht objektivierbar und lassen sich — zum Beispiel inForm historischer Zeugnisse5 — untersuchen. Eine verbreitete Vorgehensweiseder Humorforschung ist es, nach jenen Eigenschaften von Objekten zu fragen,die dafür verantwortlich sind, dass wir auf diese mit einem Lachen reagierenmüssen. In einer Pionierarbeit der experimentellen Humorforschung formu-lierteHans Jürgen Eysenck paradigmatisch die für die akademische Inventarisie-rung des Lachenmachenden leitende Forschungsfrage: »[E]xactly what are thestimuli which cause laughter«6. Im Anschluss an diese Fragestellung lässt sicheine »Taxonomy ofHumor«7 entwickeln, welche eine Taxonomie derObjektedes Humors ist.8

Ausgehend von einer Kritik dieser Forschungslogik (Kapitel 1) fragt dieseArbeit dezidiert nicht nach den Objekten, sondern nach dem Subjekt des Hu-

mors. Mit dieser Fragestellung erö�net sie eine in der gegenwärtigen Forschungstark unterrepräsentierte historisch–anthropologische Dimension des Humor-begri�s. Humor wird in dieser Arbeit als ein ebenso wandlungsreicher wie für

4Duden Universalwörterbuch (2011, S. 889).

5 Bremmer undRoodenburg (1999b) z. B. legten eineKulturgeschichte des Humors vor, die eineGeschichte dessen ist, worüber von der Antike bis heute gelacht wurde.

6 Eysenck (1942, S. 303). Für einen Überblick über die Forschungsliteratur vgl. unten Anm. 9auf Seite 18f., Anm. 21 auf Seite 239 und darüber hinaus die umfassenden Forschungsbibliogra-phien von Jon Roeckelein (2002), Jason Rutter (1998) und Don Nilsen (1993). Ein repräsenta-tiver Querschnitt durch aktuelle Forschungsfelder derHumor Research �ndet sich bei Raskin(2008).

7 Ruch (1992, S. 33).8 Flugel (1954, S. 709) charakterisierte das Vorgehen der empirischenHumorforschung in einemfrühen Literaturüberblick folgendermaßen: »Experimentation [...] has generally taken theform of the presentation of ›humorous‹ stimuli, auditory or visual, the subject being askedto rank the items in order of funniness or to give them marks in accordance with a predeter-mined scale. Several ›tests‹ of humor have been devised and applied for this purpose«. In derAuswahl der dabei als Testmaterial dienenden Stimuli — in der Regel Cartoons undWitze —zeigt sich die bereits von Goldstein undMcGhee (1972a, S. 266) beobachtete »attitude of ma-ny researchers that a relatively noncomplex stimulus is best suited to studying humor«.

Einleitung 11

die abendländische Geistesgeschichte entscheidender Begri� aufgewiesen: Inder hippokratisch–galenischen Tradition der Vier–Säfte–Lehre ist das lateini-sche humor — bzw. seine griechische Entsprechung χυμός— für mehr als an-derthalb JahrtausendedieBezeichnung für eine elementare, physiologischeOrd-nungsstruktur der Welt, welche den Menschen umfasst und in seinem Soseinbestimmt. Um 1700 zeichnen sich jedoch die Konturen eines vollkommen neu-artigen, psychologischen Humorbegri�s ab, mit welchem nunmehr ein aktivesOrdnen des in doppeltem Sinne zu Selbstbewusstsein gelangten Menschen —des man of humour

9 — bezeichnet wird. Gegenstand dieser Studie sind damitnicht etwa die Phänomene des Lachens und der Heiterkeit, sondern vielmehrWerden und Wandlung der Beziehungen zwischen dem Wort ›Humor‹ undder mit ihm bezeichneten außersprachlichenWirklichkeiten.Neben der historischen Fragestellung,mitwelcher der erste Teil dieses Buches

einsetzt und den Problemhorizont der weiteren Ausarbeitung absteckt, bildetdie These,Humor sei eine genuinmenschlicheGrundmöglichkeit des Sich–zu–sich–Verhaltens, die systematische Leitidee der vorliegenden Untersuchung. Essoll gezeigt werden, inwieweit das Motiv des Verhaltens–zu–sich bereits in derantiken undmittelalterlichenHumoralanthropologie angelegt ist. Das so expo-nierte Motiv wird weiterverfolgt über die als seine Radikalisierung geleseneneinschlägigen Paragraphen von Jean Pauls Vorschule der Ästhetik bis hinein indie Humortheorien Søren Kierkegaards und Sigmund Freuds. Die Studie nä-hert sich jener das Zentrum ihres Erkenntnisinteresses bildenden Struktur, inwelcher Humor und Subjekt aufeinander bezogen sind, in drei verschiedenenBlickbahnen an.Im ersten Teil wird im Ausgang von der Humortheorie Jean Pauls — nach

Kurt Wölfel überhaupt der »erste[n], die diesen Namen verdient«10 — nachden Möglichkeitsbedingungen der Herausbildung des modernen Humorbe-gri�s gefragt. Grundlage der Untersuchung bildet dabei eine Rekonstruktionjenes historischen Prozesses, in welchem der Begri� des Humors von der hu-moralen Welt der physiologischen Säfte und der medizinischen Therapeutikin die humoristische Welt der psychologischen Haltungen, der Komödie und— später — der Psychotherapeutik übertritt. In der Analyse der weitverzweig-ten historischen Bedingungen dieses grundlegenden Wandlungsprozesses wirddie Annahme eines eine Perspektive habenden Subjekts als eine zentrale impli-zite Voraussetzung der Jean Paul’schen Konzeption des Humors aufgewiesen(Kapitel 2). Humor erscheint als ein spezi�sch neuzeitlicher Begri� zur Bezeich-

9 Morris (1744).10 Wölfel (1988, S. 429).

12 Einleitung

nung eines sich mit der Renaissance in einer vollkommen neuartigen Form her-ausbildenden Bedürfnisses des Menschen nach Selbstthematisierung und wirdim Kontext der Struktur des Verhaltens–zu–sich als eine Spielart selbstre�exi-ver Verdopplung verstanden. Es schließt sich daran eine Diskussion an, welcheHumor im Zusammenhangmit dem Spiegel erörtert, insofern dieser sowohl ei-ne wirkungsmächtige technische Apparatur zurGenerierung vonVerdopplungals auch eine ausgezeichneteMetapher des Sich–selbst–Thematischwerdens desMenschen darstellt (Kapitel 3 und 4). Die vorliegende Studie situiert die Ver-bindung vonHumor und Subjekt im Spannungsfeld zwischen dem antik–phy-siologischen und dem modern–psychologischen Humorbegri�, indem sie auf-weist, in welcher Weise der doppelten Bedeutung von Humor ein doppelterSinn dessen entspricht, was es heißt, Subjekt zu sein (Kapitel 5).Aufbauend auf diemit den historisch–genealogischenÜberlegungen des ers-

ten Teils dieses Buches zur Verfügung gestellten Strukturelemente widmet sichder zweite Teil einer der di�erenziertesten und elaboriertesten Humortheori-en überhaupt: Søren Kierkegaard verortet Humor im Bereich des Ethischen, in-dem er die Idee der Subjektivität und den Bezug zur lebendigen Existenz desEinzelnen konsequent ins Zentrum seiner weit verzweigtenÜberlegungen zumHumor rückt. Aufgrund ihrer eigentümlichen literarischen Form stellt Kierke-gaards Humortheorie ihre Interpreten jedoch vor besondere Schwierigkeiten.Dies mag ein Grund dafür sein, dass sie in der gegenwärtigenHumorforschungweitgehend unbeachtet oder missverstanden blieb. Der spezielle Reiz, der gera-de vor dem Hintergrund der Fragestellung dieser Arbeit von Kierkegaards Hu-mortheorie ausgeht, liegt darin begründet, dass der Däne nicht lediglich überHumor als ein zu objektivierendes und inhaltlich zu bestimmendes Phänomenschreibt, sondernHumor ebenfalls als eine Art der Kommunikation praktiziertund im Akt des Schreibens exemplarisch vorführt. Damit verleiht er dem Ele-ment der Subjektivität auf besondere Weise Geltung. Der Akzent der vorlie-genden Auseinandersetzung mit Kierkegaard liegt somit weniger auf dem, waser schreibt, als vielmehr darauf, wie er schreibt (Kapitel 6 und 7). In der wei-teren Analyse wird aufgewiesen, wie Kierkegaard Humor, ganz im Sinne derursprünglichen Bedeutung des lateinischen humor, von einem festzustellenden,objektivierbaren Inhalt ver�üssigt zu einem subjektiven Prozess. Dieser wird an-knüpfend an die Überlegungen zum Spiegel und einen zentralen Begri� Kierke-gaards aufgreifend als eine mitteilungsdialektische Verdopplung bestimmt (Ka-pitel 8). In seiner subjektivenAkzentuierungbezeichnetHumor fürKierkegaardletztendlich eine bestimmteLebenspraxis,mit Foucault könnteman auch sagen:eine Existenztechnik. Diese wird, vor dem Hintergrund der Leitfrage humoris-tischen Verhaltens–zu–sich, als ein Verhalten zum Leiden der eigenen Existenz

Einleitung 13

unter dem Vorzeichen der Freiheit charakterisiert. Es wird ausführlich erörtert,was in diesem Zusammenhang unter Leiden und Freiheit zu verstehen ist (Ka-pitel 9 und 10).Im dritten Teil dieses Buches schließlich wird gezeigt, wie sich die Spuren

jener von Jean Paul erstmals auf den Begri� gebrachten und von Kierkegaardausbuchstabierten Struktur humoristischer Subjektivität — jenseits einer expli-ziten Rezeptionsgeschichte — bis in die von Sigmund Freud vorgelegte Kon-zeption des Humors weiterverfolgen lassen. Freud arbeitete eine metapsycholo-gisch durchformulierteTheorie desHumors aus, vor derenHintergrund humo-ristisches Verhalten–zu–sich als ein Verhalten im Verhältnis von erwachsenemÜber–Ich und kindlichem Ich des Humoristen verstanden werden kann (Kapi-tel 11 und 12). Das Selbstverhältnis des Humoristen wird dabei als eine narzissti-sche Struktur thematisiert, welche sich wiederumumdieMetapher des Spiegelsund das damit verbundene Phänomen der Verdopplung organisiert. Die prak-tische Relevanz seiner Humortheorie wurde von Freud im Rahmen seiner Er-örterung der psychoanalytischen Behandlungstechnik nur angedeutet. Eine imRahmen dieser Studie unternommene und auf die Ergebnisse der beiden vor-angehenden Teile aufbauende, mitteilungsdialektisch fundierte Neuinterpreta-tion der wirkungsmächtigen Freud’schen Spiegelmetapher bildet den Ansatz-punkt dafür, den therapeutischenAnwendungsbereich vonHumor als einer zuSelbsttätigkeit entbindenden und zu heilsamer Veränderung führenden Kom-munikationsform zu erschließen (Kapitel 13).Indem die Grundtexte der drei Perspektiven— Jean Pauls Vorschule der Äs-

thetik, KierkegaardsAbschließende unwissenschaftliche Nachschrift und FreudsDer Witz und seine Beziehung zum Unbewussten als auch Der Humor — aufdie Kernfrage dieser Arbeit nach demZusammenspiel von Subjekt undHumorhin gelesen werden, gelingt es, die drei erö�neten Perspektiven fruchtbar unter-einander in eine Konstellation zu bringen, in welcher das spannungsreiche Bildeines immer wieder Verschiedenen und doch jedesmal vollkommen zu Rechtmit demWort ›Humor‹Bezeichneten zu entstehen vermag. ImZentrumdiesesBildeswird eineBewegung aufgewiesen,welcheHumorüber dasMotivmensch-lichen Verhaltens–zu–sich in eine wesentliche Verbindung bringt mit dem, wasalltagssprachlich als sein genaues Gegenteil gilt—mit dem Ernst: Innerhalb dermedizinischen Therapeutik des Hippokrates bezeichnet Humor das, was derMensch passiv erleidenmuss—die Säfte und ihreWirkungen. Die Studie zeigt,wie Humor im philosophisch–literarischen Werk Kierkegaards als auch in derpsychologischen Therapeutik Freuds zwar immer noch in Verbindung mit ei-nem— existenziellen oder psychischen—Leiden steht, aber gerade nicht mehrdieses Leiden selbst nennt, sondern eine aktive Art, auf es hinzuweisen — die

14 Einleitung

Praxis indirekterKommunikation bzw. die Psychodynamik desAbwehrvorgan-ges. Das Leiden, auf das imHumor gezeigt wird, ist ernst. DieWeise des Zeigensaber ist scherzend. Humor ermöglicht dem Subjekt, so der Befund dieser Un-tersuchung, durch eineWeise des Selbstbezugs, die Scherz und Ernst dialektischmiteinander vereint, in eine befreiende Distanz zu sich selbst zu treten, ohnesich dabei zu verlieren.Zugleich mit dem Bild desjenigen ›Gegenstandes‹, auf welchen aus drei Per-

spektiven geblickt wird, entsteht dabei ein Bild des perspektivisch Blickendenselbst. Das eine Bild wird im Rahmen dieser Arbeit mit dem Wort ›Humor‹,das anderemit demWort ›Subjekt‹ betitelt.Humor ist Flüssigkeit.Humor lässtsich nicht feststellen. Aber es lassen sich aus verschiedenen Winkeln Blicke aufdas Flüssige, das der Humor ist, werfen. Blicken wir ins Flüssige hinein, dannentsteht, das richtige Licht vorausgesetzt, an seiner Ober�äche eine faszinieren-de imaginäre Erscheinung: eine Spiegelung. Im Flüssigen sehenwir, die Blicken-den, ein Bild von uns selbst. Das Flüssige zeigt uns, wie wir sind.

erster teil

genealogischeperspektive

Es gilt, alles in Stücke zu schlagen, was

dem tröstlichen Spiel des Wiedererken-

nens Vorschub leistet. Wissen bedeutet

selbst auf historischer Ebene nicht »wie-

derfinden« und erst recht nicht »uns

selbst wiederfinden«. Die Historie wird

in dem Maße »wirklich« sein, wie sie

das Diskontinuierliche in unser Sein ein-

führt.

Michel Foucault1

Kapitel 1

Problemhorizont

Als Problem undGegenstand einerWissenschaft wirdHumor gegenwärtig pri-mär im Umfeld des Komischen verortet und aus dieser Perspektive heraus be-fragt. Humor kommt dabei in den Blick als ein Sammelbegri�, der das gesam-te Spektrum des Lachenerzeugenden umfasst, der »jede durch eine Handlung,durch Sprechen, durch Schreiben, durch Bilder oder durch Musik übertrage-ne Botschaft, die darauf abzielt, ein Lächeln oder ein Lachen hervorzurufen«2

benennen kann. Die Konstitution eines derart undi�erenzierten Forschungsge-genstandes knüpft an denAlltagsbegri� desHumors an, der»auf alles gemünztwird, was mit Lachen in Beziehung steht«3, und gewinnt darin ihre verdächti-ge Fraglosigkeit und Selbstverständlichkeit: »Humor ist, wenn man trotzdemlacht«4, so wird immer wieder zitiert. Ausschlaggebend für Humor ist, so lässtes die gegenwärtigeVerwendungdesBegri�s vermuten,mittlerweileweniger dasenigmatische trotzdem, sondern vielmehr eine handfeste Verbindung zum La-chen, zum Lächerlichen, zum Komischen und Spaßigen.Hellsichtig beklagte der grimmige Schopenhauer bereits 1844 den Umstand,

dass der Begri�Humor»jetzt inDeutschland allgemein ohneOpposition«ver-wendet werde, »um jeden Spaß und jede Hanswurstiade damit zu betiteln«und ihn so »abzuplatten und zu pöbelarisieren«5. Schopenhauers Unbehagenklingt nach in der Irritation, welche die Verfasser des Deutschen Wörterbuches

1875 darüber kundgeben, dass das Wort Humor zunehmend auftrete »mit bei-wörtern, die das gute deutsch bisher nur auf spasz oderwitz bezogen hat«6.Die-ter Hörhammer sieht die wissenschaftliche Rati�zierung einer alltagssprachlichlängst vollzogenenGleichsetzung vonHumormit demLustigen und Lachener-

1 Foucault (1971/2002, S. 179f.).2 Bremmer und Roodenburg (1999a, S. 9).3 Preisendanz (1974, Sp. 1232).4 So Otto Julius Bierbaums (1909, Motto, o. S.) zum Sprichwort gewordene De�nition.5 Schopenhauer (1844/1980, S. 135).6 Grimm und Grimm (1852�./1984, Bd. 10, Sp. 1907).

18 Kapitel 1 Problemhorizont

zeugenden in Arthur Koestlers seit 1974 in der Encyclopædia Britannica enthal-tenem Artikel zuHumour and Wit gegeben.7 Dort heißt es, »humour can besimply de�ned as a type of stimulation that tends to elicit the laughter re�ex«8,was in der Tat eine recht schlichte De�nition ist. Der Begri� Humor erscheintin der Folge innerhalb der internationalen Humortheorie des 20. Jahrhundertsals ein konturloser Platzhalter für alles, was lustig ist.9

7 Hörhammer (2001, S. 68).8 Koestler (1997, S. 682).9 Viktor Raskin (1985, S. 8) legt seiner das Fundament der linguistischen Humorforschung bil-dendenArbeit über SemanticMechanisms of Humor einen semantisch vergleichsweise entleer-ten Humorbegri� »in the least restricted sense, interchangeably with ›the funny‹« zugrun-de.WilliamFry (1968, S. 3, Anm.) verwendet in seiner groß angelegten Studie zumHumor denBegri� ganz bewusst »in a generic sense« synonym mit den Begri�en »›comedy‹, ›the lu-dicrous‹, ›wit‹[...] to indicate all phenomena associated with that elusive emotion variouslynamed amusement, amusedpleasure, humor, fun,merriment, joviality etc.«. JerroldLevinson(1998, S. 562) formuliert mit der zentralen Frage seiner Darstellung des Humors: »What is hu-mour? Or alternatively, what makes something funny?« implizit die Gleichsetzung von Hu-mor mit dem Lustigen. Jan Bremmer und Herman Roodenburg benutzen in ihrer historischangelegten Untersuchung zum Humor »den Begri� im allgemeinen und neutralsten Sinne,um eine ganze Vielfalt an Verhaltensweisen abzudecken: Vom Ausspruch zum Versprecher,vom Streich zumWortspiel, von der Farce zur Albernheit« (Bremmer & Roodenburg, 1999a,S. 9). Die Tendenz, Humor als Synonym für alles, was lustig gefunden werden kann, zu ver-wenden, ist insbesondere in der interdisziplinären Humor Research des 20. Jahrhunderts zuverzeichnen. Diese verwendet »for research purposes« den Humorbegri� erklärtermaßen alseinen »umbrella–term« (Ruch, 1998a, S. 5): Humor wird in der von Jon Roeckelein umfas-send dokumentierten Forschungsliteratur derHumor Research verstanden als ein Thema, wel-ches die gesamte Spannweite von »wit, laughter, comedy, satire/irony/sarcasm/farce/parody,riddles/puns/jokes, and caricature/cartoons/comic strips/ slapstick« (Roeckelein, 2002, S. x)umfasst. ›Humor‹, so die pragmatische, einem quantitativ–empirischen Paradigma zugrun-de liegende Forschungslogik, könne gemessen werden als die Einschätzung der »Funniness«(Ruch, 1983, Instructions) oder des »enjoyment« (Mindess, Miller, Turek, Bender & Corbin,1985, S. 7) im Bezug auf eine bestimmte Anzahl von vorgegebenen Witzen und/oder Karika-turen. Willibald Ruch (1998b) gibt eine Übersicht über mehr als 50 verschiedene sogenannteHumor–Tests, an welcher sich gut ablesen lässt, dass es sich bei diesen, je nach Zielvariable,größtenteils umWitzigkeits- oder Lustigkeitstests handelt, welche unter dem Label ›Humor‹rezipiert werden. An anderer Stelle gesteht Ruch (2008, S. 20) freimütig zu, dass »indeed rat-ings of degree of funniness are the most frequently used assessment tool in experimental re-search on humor« (vgl. auch die deskriptive Statistik zu den in der Humorforschung verwen-deten abhängigen Variablen von Goldstein & McGhee, 1972a, S. 266f.). Der Humor der zeit-genössischen empirischen Humorforschung ist Spaß und Scherz. Es wurde vereinzelt daraufhingewiesen, dass gerade diese wenig di�erenzierte Verwendung des Humorbegri�s dafür ver-antwortlich zumachen sei, dass»the evidence from research using the various humormeasure-ment tools [...] has been surprisingly weak and inconsistent« (Martin, 2003, S. 321).

Für Erhard Schüttpelz (1998, Sp. 96) scheint es am Ende des 20. Jahrhunderts »das Schick-sal des internationalen H[umor]–Begri�s zu werden, trotz seiner proteischen und exzentri-schenVorgeschichte vor allem die Theorie des Lächerlichen fortzuführen« und so seine Eigen-

Kapitel 1 Problemhorizont 19

Erst diese semantische Entdi�erenzierung des Begri�s erlaubt es, historischeUntersuchungen zum Humor bis auf die Antike auszudehnen und die Ge-schichte der Deutungen des Humors als eine in der antiken Philosophie ih-renAnfangspunkt habende, bruchloseTraditionslinie zu konstruieren. Es heißt,Humor sei traditionell, von den Ursprüngen der westlichen Philosophie bis indie Gegenwart, als ein philosophisches Problem vor dem Hintergrund des Ko-mischenunddesLächerlichen verstandenundbefragtworden.10 Es heißt,wie soviele Fragestellungen habe auch das Problem desHumors zuerst Platon beschäf-tigt und sei dann bis in die Gegenwart hinein Gegenstand des philosophischenInteresses geblieben.11 Es heißt, Aristoteles habe eben jene Au�assung des Hu-

ständigkeit einzubüßen. Harald Hø�ding (1916/1918, S. 47) unterschied aus psychologischerPerspektive den »großen Humor, der eine Lebensanschauung ist oder richtiger eine Sinnes-art gegenüber demLeben«, vom»kleinenHumor«, der »eins ist mit demmehr odermindergutmütigen Scherz«, und versäumte es anlässlich dieser Unterscheidung nicht, noch auf einedritte Möglichkeit hinzuweisen: »Der Sprachgebrauch gestattet jedoch auch, von Humor zureden, als einer Fähigkeit, Lachen zu erzeugen, ganz abgesehen von demGemütszustande, derzugrunde liegt. Das ist der ganz kleine Humor.« Ohne hier die etwas ambitionierte Termino-logie Hø�dings übernehmen zu wollen, wird deutlich, dass der Gegenstand eines großen Tei-les derHumor Research o�enbar irgendwo zwischen dem»kleinen« und dem»ganz kleinenHumor« anzusiedeln ist.

10 Sehr pointiert ausgesprochen �ndet sich diese gängige und vielen Argumentationen implizitzugrunde liegendehistorischeKonstruktion z. B. beiMichaelClark (1987, S. 139,Hervorhebun-gen K. R.): »The question ›What is humor?‹ has exercised in varying degrees such philoso-phers as Aristotle, Hobbes, Hume, Kant, Schopenhauer, and Bergson and has traditionallybeen regarded as a philosophical question«. John Lippitt (2000, S. 2) behauptet sogar, »mostmajor philosophers from Plato onward have written on this topic [i.e. humor]«. Amy Carrell(2008, S. 310, Hervorhebung K. R.) unterstreicht die sich in der Antike begründende Konti-nuität, in welcher »theories of humor date back to the Ancients, including, as we have seen,Plato and Aristotle, and have been positioned, examined, and developed throughout the inter-vening centuries«. Arthur Berger (1987, S. 6) ist überzeugt von der Kontinuität der Fragestel-lung, wenngleich nicht von deren Resultaten: »Aristotle, Hobbes, Kant, Bergson, Freud, andBateson— the list could be extended endlessly— all grappledwith humor, trying to explain it,with questionable results.«Auch die empirisch–psychologischeHumorforschung beruft sichin ihren Bemühungen immer wieder auf eine ungebrochene und in der antiken Philosophiesich gründende Traditionslinie, in welcherHumor, Lachen und das Komische zu einer seman-tischen Einheit verschwimmen: »A great many theories of humor, laughter, and comedy havebeen advanced by philosophers and theorists over the centuries, ranging from Plato and Aris-totle to Hobbes, Descartes and Kant, and, more recently, Freud and Bergson« (Martin, 1998,S. 16). Ausführliche Konstruktionsanleitungen für eine derartige Traditionslinie geben JohnMorreall (1987c, S. 9–126) und JonRoeckelein (2002, S. 94–191). Selbst eine explizit die histori-sche Dimension re�ektierende Untersuchung des Humors wie der systemtheoretische AnsatzJörg Räwels (2005, S. 203) lässt sich nicht davon abhalten, »erste ›Humortheorien‹ (die sichals komprimierte zeitgenössische Au�assungen zum Humor verstehen lassen) in der Antikezu �nden (Platon, Aristoteles)«.

11 Morreall (1987b, S. 10) konstatiert: »As with so many topics, Western thought about humor

20 Kapitel 1 Problemhorizont

mors als Inkongruenzphänomen begründet12, welche in der gegenwärtigenDis-kussion die prominenteste Theorie darstellt.13 Wir wollen diese, vielen Unter-suchungen oft nur implizit zugrunde liegende historische und inhaltliche Kon-struktion alsKontinuitätshypothese bezeichnen. Indem sie postuliert wird, wirdHumor eingereiht in einenbekanntenund vertrautenUrsprungsmythos abend-ländischerGeistes- und Ideengeschichte. Darüber hinaus wirdHumormit demPostulat derKontinuität als etwas immer schon in gleicherWeiseVertrautes undin gleicherWeise Problematisches gesetzt. Eine solche Konstruktion verschüttetdie Brüche, Diskontinuitäten und Sprünge lebendiger, ›wirklicher‹ Historie.Vor allem aber erleichtert sie das Wiedererkennen, weil der Anfang bereits inseltsamer Zeitlosigkeit der Gegenwart ähnelt.14

and laughter begins with Plato«, um dann seine Textsammlung zum Humor konsequenter-weise auch mit Auszügen aus Platons Philebos beginnen zu lassen. Arthur Berger (1995, S. 47)kommt zu dem Schluss: »Philosophers have been interested in humor throughout history,from Plato andAristotle to the present day.« Israel Knox’ (1951, S. 541) BemühungenTowardsa Philosophy of Humor nehmen ihren Ausgang von der Feststellung, »[f]rom Plato to Berg-son philosophers have re�ected upon themeaning and the function of humor«.Max Eastman(1921)widmet in seinem frühenund schulemachenden systematischenÜberblick derTheoriendesHumors denHumortheorien der griechischenPhilosophen ein ganzesKapitel, inwelchemer die Geburt einer »science of humor« (Eastman, 1921, S. 123) auf Platon zurückführt. Aris-toteles habe dann die Ideen Platons zumHumor aufgenommen»just as he and the rest of theworld have always borrowed ideas fromPlato« (Eastman, 1921, S. 124). Für Frank J.MacHovec(1988, S. 30) �ndet sich in den überlieferten Texten Platons »the oldest known theory of hu-mor«.

12 So z. B. bei Mark Taylor (1980, S. 221), der die Geradenziehung bis in die Gegenwart gleichbündig anschließt: »Aristotle initiated this line of interpretation [i.e. Incongruity Theories]in his Poetics by arguing that the heart of humor is contradiction. [...] Since the time of Aris-totle, this view of humor has enjoyed widespread support«. »Aristotle anticipated the later›incongruity theory‹ (e.g. humor theories byKant and Schopenhauer)«, heißt es auch bei JonRoeckelein (2002, S. 98) und ganz ähnlich bei JohnMorreall (1987b, S. 130). Inkongruenztheo-rienberufen sich immerwieder aufKants Feststellung,»dasLachen«—nicht derHumor,wiemitunter (z. B. von Monro, 1967, S. 91) zitiert — sei »ein A�ekt aus der plötzlichen Verwand-lung einer gespannten Erwartung in nichts« (Kant, 1790/1983, S. 437, KdU A222, Hervorhe-bung K. R.). Ihre zeitgemäße Formulierung und zugleich ihre unau�ebbare Verbindung miteinem am Lachen orientierten Humorbegri� fand die Inkongruenztheorie wiederum bei Ar-thur Koestler, der postulierte: »Wenn zwei voneinander unabhängige Wahrnehmungs- oderDenksysteme aufeinandertre�en, so ist das Resultat [...] ein Zusammenstoß, der im Lachenendet« (Koestler, 1964/1966, S. 36).

13 Arthur Berger (1987, S. 8) resümiert, »that incongruity theories, in one or another of their ma-nifestations, are themost generally accepted theories of humor«.AmyCarrell (2008, S. 311) un-terstreicht diese Beobachtung, wenn sie feststellt: »Incongruity–based theories [...] virtuallydominate contemporary psychological research into humor«. JohnMorreall (1983, S. 61) gehtso weit »to use the term ›humor‹ to mean the humor of incongruity«.

14 »Nearly all the factors which appear to be important in humor are to be found in the works ofsuch early theorists as Plato, Aristotle, Socrates, Demetrius, Plutarch, and Cicero«, erkennen

Kapitel 1 Problemhorizont 21

Es ist eine der großen LeistungenMichel Foucaults, die Konstruktion histori-scherKontinuität entlarvt zuhaben alsmotiviert durchdenWillen zumWieder-erkennen des ohnehin schon Bekannten als des Zeitlosen,Wahren, Beständigenund Identischen. In seinemProjekt einer kritischenGenealogie strebte Foucaultim Anschluss an Nietzsche gerade die Au�ösung Beständigkeit suggerierender,ahistorischer Konstanten an. Es geht darum, das Konstante, Wahre und Unver-änderliche »wieder dem Werden«15 zuzuführen und in seiner Historisierungdie verstreuten Herkünfte seiner Genese hervortreten zu lassen. Im ersten Teildieses Buches soll ausgehend von einer Kritik der Kontinuitätshypothese Hu-mor vom Standpunkt der Genealogie aus in den Blick genommen werden. Diesprunghafte Bewegung der Konstitution von Humor als eines Gegenstandesforschenden Fragens und begründeten Wissens soll nachgezeichnet und auf ih-re Voraussetzungen hin befragt werden. Es geht dabei dezidiert und nicht oh-ne Bezug zum lateinischen, noch ganz und gar nicht komischenWortsinne vonhumor, um eine Ver�üssigung der Geschichte des Humors. Hierzu wollen wirprobehalber dem zerstörerischen, dem ersten Teil dieses Buches vorangestelltenRat Foucaults folgen und die Konstruktion der Kontinuität in Stücke schlagen,um hinter ihr das Diskontinuierliche entdecken zu können.Humor ist die lateinische Übersetzung des griechischen chymós (χυμός). Der

Begri� chymós �ndet sich in der Tat bei Platon und Aristoteles. Allerdings, unddas ist wesentlich, in einem vollkommen anderen Kontext, als es die Kontinui-tätshypothese nahelegt. Weder Platon noch Aristoteles verwenden den Begri�chymós im Umkreis ihrer von den Verfechtern der Kontinuitätshypothese im-mer wieder als »antike Humortheorien«16 angeführten einschlägigen Erörte-rungen des Lächerlichen (γελοῖον)17, des Lachens (γέλως) und des Komischen(κωμικός)18.

z. B. Schmidt undWilliams (1971, S. 99) unserenHumor inderVergangenheit bruchloswieder.15 Foucault (1971/2002, S. 179).16 Roeckelein (2002, S. 95–98), Morreall (1987c, S. 10–16), Schmidt undWilliams (1971, S. 99).17 In der substantivierten Form erstmals bei Platon in der Politeia, wo es nicht ohne Folgen mitdem »Unverständigen und Schlechten« (Plat. rep. 452d–e, übers. Eigler, 1971, Bd. 4, S. 377;vgl. auchPhil. 47d–50b) verbunden und vomGuten und Ernsten abgegrenzt wird. Aristoteleskann diese Andeutung Platons aufgreifen, wenn er das Lächerliche bestimmt als einen »mitHäßlichkeit verbundene[n] Fehler, der indes keinen Schmerz und kein Verderben verursacht«(Aristot. poet. 1449a, übers. Fuhrmann, 1994, S. 17).

18 Das Lachen ist ein E�ekt derKomödie, derenGegenstand nachAristoteles (poet. 1449a) das Lä-cherliche bildet. In der Zusammengehörigkeit dieser drei Begri�e — Lächerliches, Komödie,Lachen— liegt die immense Versuchung, eben auch denHumor— in unserem heutigen Ver-ständnis — in einem vorschnellen Ähnlichkeitsschluss als einen Unterbegri� des Komischenzu erklären, »weil der Humor Lächeln oder Lachen bewirken kann und weil das Lachen beidenAlten einzig und allein durch dieMittel derKomik erregtwurde« (Mauthner, 1924, Bd. II,

22 Kapitel 1 Problemhorizont

Chymós wird nach Platon »die ganze Art [des Wassers], die durchgeseiht istdurch der Erde entsprossene Gewächse [...] genannt«19. Chymós ist, so auchAristoteles, die Flüssigkeit die in P�anzen enthalten ist und die, so die P�anzenals Nahrung für denMenschen dienen, als »schmeckbarer Saft [χυμός]«20 für»das Süße und das Bittere, [...] das Fettige [...] das Salzige [...] das Scharfe, Her-be, Saure und Stechende«21 ihres Geschmacks verantwortlich ist. Als der in denSpeisen enthaltene Saft nennt chymós dann ebenfalls den Saft und die Feuchtig-keit des menschlichen, sich durch Aufnahme von saftiger Nahrung am Lebenerhaltenden Körpers. Als Bestandteil des menschlichen Körpers sind die Säfte(chymoí) und ihre geschmacklichenQualitätenUrsache fürWohl- undUnwohl-sein des lebendigen, beseeltenMenschen:

»Beiwemnämlichdie Säfte [χυμοί] der saurenund salzigenSchlei-me sowie alle bitteren und galligen im Körper herumirren undkein Luftloch nach außen �nden, sondern im Inneren eingeschlos-sen sindund ihreAusdünstungderBewegungder Seele beimischenundmit ihr vermengtwerden, da erzeugen siemannigfaltigeKrank-heiten der Seele in größerem und geringeremUmfang und von ge-ringerer oder größerer Zahl.«22

An denwenigen Stellen, an denenwir chymós bzw. den gebräuchlicheren Pluralchymoí bei Platon �nden23, wird das Bedeutungsspektrum des Begri�s aus derdamaligen Gemeinsprache gut abgebildet: Saft—P�anzensaft— Saft der Nah-rung (Geschmack)—Saft desmenschlichenKörpers. In seiner vorwissenschaft-

S. 104). Fritz Mauthner weist in seinem Wörterbuchartikel zum Humor explizit darauf hin,dass die »pedantische Anknüpfung an den Begri� des Komischen [...] darum so falsch [ist],weil der Humor dem Pathos, demGegensatze der Komik, gerade so nahe steht wie der Komikselbst.« (Mauthner, 1924, Bd. II, S. 105). Ein ähnlicher Gedanke �ndet sich bereits bei MoritzLazarus, der in Abgrenzung zur gängigen Konstruktion der Ästhetik des 19. Jahrhunderts be-hauptete, »daß derHumor nicht bloß eine besondereWeise des Komischen ist, so daß das Ko-mische der allgemeine Gattungs- und der Humor ein untergeordneter Artbegri� wäre, [son-dern] daß er vielmehr eine eigene dritte Gattung ist, neben denen des Erhabenen und des Ko-mischen, nämlich die Vereinigung beider« (Lazarus, 1856, S. 203). Noch näher heran ans Tra-gische rückt Julius Bahnsen denHumor in einem Büchlein mit dem schönen TitelDas Tragi-

sche als Weltgesetz und der Humor als ästhetische Gestalt des Metaphysischen, in welchem erpostuliert: »Im Kern [...] sind Tragik und Humor identisch, aber in Au�assung und Gestal-tung so entgegengesetzt, wie sto�schwereMaterie und die drucklose Elasticität des rein Expan-siven.« (Bahnsen, 1877, S. 102).

19 Plat. Tim. 59e, übers. Eigler (1971, Bd. 7, S. 117).20 Aristot. an. 414b, übers. Seidel (1995, S. 75).21 Aristot. an. 422b, übers. Seidel (1995, S. 123).22 Plat. Tim. 86e–87a, übers. Eigler (1971, Bd. 7, S. 194f.).23 Eine Übersicht der entsprechenden Stellen �ndet sich z. B. bei Ast (1836�., Bd. 3, S. 562).

Kapitel 1 Problemhorizont 23

lichen Bedeutung nenntHumor zunächst in einer noch vollkommen unideolo-gisch aufgeladenen, alltagspraktischen Weise allerlei Arten von Flüssigkeit: denTau, das Meer, den Speichel, den Wein, ein Süppchen, Tränen oder das Nasseiner silberglänzenden Quelle.24 Ausschlaggebend für die weitere Entwicklungzu einem fachsprachlichen Begri� ist jedoch jene Bedeutung, in welcher chymoí

zunächst in einemnoch sehr unspezi�schen und keineswegs einheitlichen Sinnedie �üssigen Bestandteile des Körpers des Menschen bezeichnet.Der Begri� chymoí ist weder für Platon noch für Aristoteles ein verbindli-

cher philosophischer terminus technicus, noch bezeichnet er ein abgrenzbaresphilosophisches Problem, welches es zu erörtern gilt.25 Auf jeden Fall haben diechymoí nichtsmit demBedeutungsumfeld des Lächerlichen undKomischen zutun.Die Kontinuität, in welcher unsere Gegenwart wurzeln soll, ist an diesem

Punkt zugunsten von »Unstimmigkeit und Unterschiedlichkeit«26 aufgebro-chen. Folgen wir den Rissen, die dieser initiale Bruch nach sich zieht, so müssenwir erstaunt entdecken, dass auch die nachfolgende, klassischerweise unter dieGeschichte des Humors subsumierte27 lateinischsprachige Literatur der römi-schen Rhetorik nirgends über humor handelt: Cicero widmet einen bemerkens-wert umfänglichenTeil seines rhetorischenHauptwerkesÜber den Redner (De

oratore) demThema»Scherz undWitz«28.Dabei bedient er sich eines reichhal-tigen Arsenals von Begri�en — iocus, facetiae, lepos, sal, ridiculum—, welcheallesamt das Feld des Lächerlichen und desWitzes abstecken.Humor �ndet sichunter diesen nicht. Im Gegensatz zu Cicero, welcher mit den verschiedenen Be-gri�en zur Bezeichnung des Lächerlichen eher undi�erenziert operiert, kommt

24 Vgl. Passow (1841�./1983, Bd. II, S. 2539f.).25 Das unter dem Namen des Aristoteles überlieferte, wie Hellmut Flashar (1966, S. 61�.)nachweist aber mit aller Wahrscheinlichkeit von dessen Schüler Theophrast stammendeProblem xxx, 1 (griechisch/deutsch abgedruckt bei Klibansky, Panofsky & Saxl, 1990, S. 59–76) bildet als eine in ihrer Di�erenziertheit selten erreichte peripatetische »›Monographie derschwarzen Galle‹« (Klibansky et al., 1990, S. 76) eine erwähnenswerte Ausnahme: Das The-ma des Problems wird explizit benannt als der χυμὸς μελαγχολικὸς, der »melancholischeSaft« (Aristot. probl. 954a, übers. Klibansky et al., 1990, S. 66). Der chymós erscheint hier be-reits eingefügt in ein umfassenderes Lehrgebäude, welches zur methodischen Beantwortungder Frage, warum alle hervorragendenMänner o�enbar Melancholiker gewesen sind (Aristot.probl. 953a), herangezogen werden kann.

26 Foucault (1971/2002, S. 169).27 Vgl. Morreall (1987c, S. 17f.), Roeckelein (2002, S. 98f.), Raskin (1985, S. 36), Keith-Spiegel(1972, S. 7).

28 Cic.de orat. II, 216, übers.Nüßlein (2007, S. 233). Cicero behandelt dieAnwendung desWitzesin der Rede in den Paragraphen 216 bis 290, was nahezu ein Zehntel des Gesamtumfanges vonDe oratore ausmacht.

24 Kapitel 1 Problemhorizont

es Quintilian in seinerAusbildung des Redners (Institutio oratoria) auch auf ei-nenuancierte inhaltlicheAbgrenzungder einzelnenBegri�e an,welche»wir fürden gleichen Vorgang (daß wir nämlich lachen müssen) ohne Unterschied«29

verwenden. Er erläutert die Di�erenzen von urbanitas, venustus, salsus, facetus,iocus und dicacitas.30 Auch in der ausgearbeiteten rhetorischen TerminologieQuintilians suchen wir humor vergebens.Zu einem dezidiert wissenschaftlichen Terminus wird Humor dennoch be-

reits in der griechisch–römischen Antike, nur eben gerade nicht innerhalb desvon der Kontinuitätshypothese postulierten fachlichen Kontextes. Als die lan-ge in ihrer Zahl undArt noch unbestimmten chymoí desmenschlichenKörpersvon Galen im zweiten Jahrhundert unter Bezug auf hippokratische Lehren zuden vier kardinalen Körpersäften, den Quattuor Humores kanonisiert werden,wird χυμοί und daran anschließend seine lateinische Übersetzung humores —»Säfte«— der bis ins 18. Jahrhundert hinein verbindliche Oberbegri� für Blut(αἷμα), gelbe Galle (χολὴ ξανθή), schwarze Galle (χολὴ μέλαινα) und Schleim(φλέγμα).31 Diese vier Säftewerdenbereits inhippokratischenSchriften verbun-denmit den vierQualitäten des Kalten,Warmen, Feuchten undTrockenen undbilden die Basis eines sich bis insMittelalter immer umfangreicher ausgestalten-den Viererschemas.32 Wurde in der Antike und imMittelalter wissenschaftlichnach Humor gefragt, dann wurde nicht nach einer philosophischen oder psy-chologischen Begründung dessen gefragt, was denMenschen lachenmacht. Ge-fragt wurde vielmehr nach den konstitutiven physiologischen Bestandteilen desMenschenundnach derAbhängigkeit vonKrankheit undGesundheit desMen-schen von eben diesen Bestandteilen. Der Begri� der Säfte als ein wissenschaft-lich relevanter Terminus entwickelt sich aus der empirischen Medizin.33Dasmedizinisch–physiologischeVerständnis vonHumorbildet nicht lediglich

eine Anekdote in oder vor der Historie des Humors. Durch Galen »zum allge-meinen Bildungsgut, das nur selten [...] in Frage gestellt wurde«34, avanciert,bestimmt das Verständnis von Humor als einem der vier kardinalen Körpersäf-te bis ins 17. Jahrhundert hinein maßgeblich, was mit Humor gemeint ist undwie es sich mit ihm als eines wissenschaftlichen Problems auseinanderzusetzen29 Quint. inst.VI, 3, 17, übers. Rahn (1995, S. 721). Das gesamte dritte Kapitel des sechsten Buchesder Instututio ist der Frage nach dem Lachen gewidmet.

30 Quint. inst.VI, 3, 17–21, ed. Rahn (1995).31 Fredrich (1899, S. 33–48). Galen gründet seine Konzeption einer Vier–Säfte–Lehre vor allemauf der hippokratischen SchriftDe natura hominis, welche er kommentiert und interpretiert.Ausführlicher dazu in Kapitel 4.1.

32 Schöner (1964).33 Vgl. Klibansky et al. (1990, S. 47).34 Gundert (2005a, Sp. 440).

Kapitel 1 Problemhorizont 25

galt: sezierend, diagnostizierend, diätetisch und therapeutisch. Das Postulat ei-ner grundlegenden Kontinuität innerhalb der Geschichte des Humors verlangtes nun, dieses für zweitausend Jahre lang verbindliche Verständnis von Humorentweder vollkommen zu ignorieren35 oder doch zumindest stark zu relativie-ren und das Wort Humor lediglich bis auf die »spätmittelalterliche Tempera-mentenlehre zurück«36 gehen zu lassen oder aber — bei allem Verzicht auf dieKonstruktion einer antiken philosophischen Humortheorie — die ersten zweiJahrtausende der Geschichte desWortes Humor zu einer bloßen »Vorgeschich-te des Wortes«37 zu erklären, dessen eigentliche Geschichte erst zum Ende des17. Jahrhundert beginne.Um 1700herum setzt sich jedochweder eine bruchlose, in antikenphilosophi-

schen Humortheorien bereits vorgegebene Entwicklung fort38, noch beginntnun die eigentliche, von der »Vorgeschichte« zu trennende Historie des Hu-mors. Das historische Datum ist jedoch insofern von Bedeutung als um 1700eine entscheidende Veränderung, ein entscheidender Bruch sichtbar zu werdenbeginnt.1709 �ndet sich Humor erstmals als titelgebendes Thema einer dezidiert phi-

losophischen Abhandlung in Shaftesburys Essay on the Freedom of Wit and

Humour39. Der Titel des Essays etabliert mit der Verbindung wit and humour

eine für das England des 18. Jahrhunderts und darüber hinaus charakteristischesprachliche Floskel.40 Wenngleich Shaftesbury humour noch vereinzelt im Sin-ne von ›Saft‹ verwendet41, so ist der Humor, der das Problem seines Essays bil-

35 Roeckelein (2002) und Morreall (1987c) übergehen die medizinisch–physiologische Bedeu-tung des Humors in ihren umfangreichen chronologischen Überblicken ebenso so komplettwie kommentarlos.

36 Preisendanz (1974, Sp. 1232).37 So Dieter Hörhammer (2001, S. 69) und Karl–Otto Schütz (1963, S. 200) über den Zeitraumbis 1700. Erhard Schüttpelz (1998, Sp. 86) dehnt die »Vorgeschichte des Wortes [Humor] bis1800« aus.

38 Sodie Interpretation JohnMorrealls, der die Zeitspanne zwischen der griechischenAntike unddem ausgehenden 17. Jahrhundert einfach als das unangetastete Vorherrschen jener Überlegen-heitstheorie des Humors deutet, als dessen herausragende Vertreter er Platon und Aristotelesnennt: »[T]he so–called Superiority Theory, held by Plato and Aristotle [...] had held the�eld for over two thousand years« (Morreall, 1987c, S. 3f.).

39 Shaftesbury (1709/1992). Das Thema von ThomasHobbes’—mit seinemKonzept der »sud-den glory« (Hobbes, 1651/1848, S. 46) viel zitierter Vater der »Überlegenheitstheorie des Hu-mors« (z. B. so bei Morreall, 1987b; Roeckelein, 2002; Monro, 1967; Levinson, 1998; Schmidt& Williams, 1971; Keith-Spiegel, 1972) — einschlägigen Ausführungen in Human Nature istnicht Humor, sondern das Lachen.

40 Vgl. Cazamian (1952, S. 405).41 Hierauf wies bereits Wolfgang Schmidt-Hidding (1963, S. 111) hin.

26 Kapitel 1 Problemhorizont

det, eindeutig imWortfeld vonWitz (wit) und spottendem Scherz (raillery) ver-ortet und wird auf weite Strecken als austauschbar mit diesen gehandhabt.JosephAddison,mitunter zum»Begründer derTradition desmodernenHu-

mors«42 erklärt, unternimmt bereits kurz nachdemHumor durch Shaftesburyals einphilosophischesProblemetabliertwurdedenoriginellenVersuch, die Fra-ge nach dem, wasHumor sei, genealogisch zu beantworten. Die Genealogie Ad-disons verfolgt dabei im Gegensatz zu dem später von Nietzsche und Foucaultentworfenen Projekt einer kritischen Genealogie freilich nicht das Ziel, Identitä-ten durch denAufweis ihrer disparatenHerkünfte zu zerstören. Sie ist vielmehreine naive Genealogie, der es darum geht, Familienbande aufzuzeigen und da-mit Identität zu stiften. In der Ausgabe des Spectator vom 10. April 1711 stelltAddison Humor als das jüngste Mitglied einer erlauchten Ahnenreihe vor undbestimmt ihn »according to the following genealogy«:

»Truth was the founder of the family and the father of GoodSense. Good Sense was the father of Wit, who married a lady ofa collateral line calledMirth, by whom he had issueHumour. Hu-mour therefore, being the youngest of this illustrious family, anddescended from parents of such di�erent dispositions, is very vari-ous and unequal in his temper; sometimes you see him putting ongrave locks and a solemn habit, sometimes airy in his behaviourand fantastic in his dress; insomuch that at di�erent times he ap-pears as serious as a judge, and as jocular as a Merry–Andrew. Butas he has a great deal of the mother in his constitution, whatevermood he is in, he never fails to make his company laugh.«43

Humor wird hier vorgestellt als der wechselhafte, launische und unausgegliche-ne Sohn vonWitz (wit) undHeiterkeit, welcher sowohl mit richterlicher Ernst-haftigkeit als auch mit scherzender Hanswursterei auftreten könne. Bei allerUnbestimmbarkeit und Unfasslichkeit des Humors steht mit der von Addisonverwendeten Allegorie jedoch o�enbar bereits implizit fest, was Arthur Koest-ler im 20. Jahrhundert wissenschaftlich rati�zieren wird: Egal, in welcher FormHumor auftritt, er erzeugt als Sohn der Heiterkeit immer Lachen. Das Lachenwird zum gebräuchlichen Orientierungspunkt innerhalb der sonst so vielfälti-42 Schmidt-Hidding (1963, S. 116), eine ähnliche Au�assung vertritt Louis Cazamian (1952,S. 404f.).

43 Addison (1711/1837, S. 65). Thomas Davies formuliert inA Genuine Narrative of the Life and

Theatrical Transactions of Mr. John Henderson 66 Jahre nach Addison eine etwas knappereGenealogie des Humors: »Commerce, and her companion Freedom, ushered into the worldtheir genuine o�spring, True Humour« (zit. n. Tave, 1960, S. 96).

Kapitel 1 Problemhorizont 27

gen und teils gegensätzlichen Bestimmungen des Humors.44 Der zaghafte Ver-weis Addisons auf einen möglichen Ernst im Humor wird durch die Zweckbe-stimmung des Humors als des in jedem Falle Lachenerzeugenden verdeckt. Ne-ben der für unser heutiges Humorverständnis o�enbar charakteristischen Bin-dung an das Lachen wird Humor in Addisons Genealogie zurückgeführt aufdie Verbindung von Wahrheit und gesundem Menschenverstand. Humor istdamit zum einen ein Kind des Geistes und zum anderen der geistigen FähigkeitdesWitzes innerhalb der patriarchalen Strukturen einer Familie des 18. Jahrhun-derts untergeordnet.Es wird deutlich, dass um 1700Humor insbesondere in der formelhaften Ver-

bindungmitwit zweifellos vomBereichphysischerKonstituentendesMenschenin jenen geistiger Eigenschaften übergewechselt ist. An der Schwelle zum 18. Jahr-hundert scheint sichmit einemWechsel derHumor problematisierendenDiszi-plin zugleich der Forschungsgegenstand Humor vollkommen neu zu konstitu-ieren und seine für uns wiedererkennbare, moderne Form anzunehmen.Nehmen wir die Herkunft des Humorbegri�s aus der antikenMedizin ernst,

degradieren diese also nicht zu einer ahistorischen und bedeutungslosen Vorge-schichte des Wortes Humor und verschütten sie ebenso wenig hinter der Kon-struktion einer antiken philosophischen Humortheorie im Kontext des Komi-schen, so scheinen wir um 1700 Zeugen dessen zu werden, was Foucault geradeals den Gegenstand der ›wirklichen Historie‹ bestimmte:

»[...] die Umkehrung eines Kräfteverhältnisses; der Verlust derMacht; die Übernahme eines Wortschatzes, der nun gegen seinebisherigen Benutzer gewendet wird; die Schwächung einer Herr-schaft, die sich selbst vergiftet, während eine andere noch verdecktauf den Plan tritt«45.

Wie genau geht diese Übernahme des Wortes Humor vom Wortschatz der an-tiken Physiologie undMedizin in den der modernen Philosophie und Ästhetikvonstatten? Unter welchen Voraussetzungen wird es möglich, dass Humor ein44 Arthur Koestler (1964/1966, S. 22) sah im Humor einen Vorgang, bei welchem »ein höchstkomplexer Reiz einen massiven, genau de�nierten physiologischen Re�ex hervorruft«: denLachre�ex. Aus dieser Verknüpfung von Lachen und Humor zieht Koestler dann eine grund-legende und die Forschungslogik der Humor Research des 20. Jahrhunderts implizit bestim-mende methodische Konsequenz. Er postulierte — mit nicht wirklich überzeugender Logik—, dass es die Verbindung von Stimulus (Humor) und Reaktion (Lachen) ermögliche, »dieReaktion als Beweismittel für das Vorhandensein jener schwer faßbaren Eigenart des Komi-schen zu benutzen, die wir zu de�nieren suchen — so wie das vielsagende Ticken des Geiger-zählers auf das Vorhandensein von Radioaktivität hinweist« (Koestler, 1964/1966, S. 22).

45 Foucault (1971/2002, S. 180).

28 Kapitel 1 Problemhorizont

ästhetisches Problem und ein Teil des Komischen wird? Welche Kräfte bestim-men diese Entwicklung mit und welche herrschenden Paradigmen der Selbst-und Weltauslegung gehen damit einher? Kurz:Was sind die Bedingungen der

Möglichkeit des Auftauchens eines spezifisch gewandelten Begri�s von Humor

um 1700? Dies sind die leitenden Fragen des ersten Teiles dieses Buches.Mit Foucault kann es als dieAufgabedesGenealogen angesehenwerden,»die

Bewegung der Konstitution wissenschaftlicher Gegenstände nachträglich zu re-konstruieren«46. Humor — in einem für uns wiedererkennbaren Sinn — alsGegenstand der Philosophie und insbesondere der Ästhetik konstituiert sichum 1700 und erreicht den Status einer verbindlichen terminologischen Fixie-rung zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Damit diese statt�nden konnte, mussteder Begri� vom England des 17. Jahrhunderts einen nicht unproblematischenWeg von der Insel aufs europäische Festland zurücklegen. Erst dann tre�en wirauf eine Theorie desHumors, die sowohl denNamenTheorie verdient als auchexplizit vomHumor handelt (und nicht ausschließlich vom Lächerlichen, vomLachenoder vomKomischen). Erst JeanPaul, als praktizierenderHumoristundre�ektierender Philosoph o�enbar dazu prädestiniert, legte im VII., »Über diehumoristische Poesie« überschriebenen Programm seiner 1804 erschienenenVorschule der Ästhetik die erste elaborierte und für alle folgenden Auseinan-dersetzungen mit dem Thema wegweisende Theorie des Humors vor und lie-ferte nach demUrteil KäteHamburgers jene »Humorde�nition [...], die heutenoch als die wesentlichste und tre�endste gelten kann«47. Auch diese Theorie

46 Ebeling (2008, S. 220).47 Hamburger (1959, S. 202). Als weitere Referenten für die zentrale Position, welche Jean Paulin der Entwicklung des Humorbegri�s einnimmt, seien hier, auch um seine Wahl als Aus-gangspunkt der Untersuchung einsichtig zu machen, noch einige Autoren angeführt: EduardBerend (1909, S. 230) weist in seiner grundlegenden Untersuchung zu Jean Pauls Ästhetik da-rauf hin, dass »Jean Paul demWorte Humor [...] einen ganz neuen Sinn gegeben« habe unddass die»allmähliche stetigeVeredlung, die der Begri� seit seiner Entstehung erfahren hat, [...]durchniemandenmehr gefördertworden [ist] als durch JeanPaul«.DieterHörhammer (1984,S. 192) stellt zusammenfassend fest, dass die »Überlegungen Jean Pauls [...] zeitlich und rang-mäßig an erster Stelle unter den Theorien des Humors« stehen und betont später, dass JeanPauls Vorschule »trotz begri�icher Inkonsistenzen epochalen Stellenwert« (Hörhammer,2001, S. 72) für die Theoriebildung habe. Karl–Otto Schütz (1963, S. 208) unterstreicht, dass»es Jean Pauls Verdienst ist, die im Ansatz schon vorhandenenWesenselemente in die Faßlich-keit eines Begri�s [des Humors] eingeschmolzen zu haben«. An anderer Stelle führt er die-sen Gedanken aus: »Jean Paul hat für eine Geschichte des Humorbegri�s [...] zentrale Bedeu-tung als er die für einen jeden Ansatzpunkt der Betrachtung gültigen Grundgedanken undCharakteristika des Humors nicht nur in Form versprengter einzelner Bemerkungen, sondernfast schon systematisch entwickelte und zusammenstellte« (Schütz, 1957, S. 229). In einer his-torisch nicht ganz korrekten Feststellung JosefMüllers (1896, S. 3)—»Jean Paul [...] war auchder erste, der sich theoretisch mit der Kunsterscheinung des Humors befaßte«— lässt sich so-

Kapitel 1 Problemhorizont 29

trägt die Spuren ihrer Zeit. Humor, heißt es dort, sei das »romantische Komi-sche«48. Über eine — im Folgenden noch genauer zu klärende — inhaltlicheBestimmung des Humorbegri�s hinaus bekommt das Phänomen Humor mitJean PaulsVorschule implizit auch seinen für die meisten der folgenden philoso-phischen und psychologischen Ausarbeitungen maßgeblichen systematischenOrt innerhalb derÄsthetik zugewiesen, jawird zu»themodern aesthetic catego-ry«49 erhoben. Eine Setzung, welche sich im Laufe des 19. Jahrhunderts etablie-ren wird.50 Man kann so mit Recht von einer zunächst philosophischen, späterauch psychologischen »Humorästhetik«51 sprechen.Der Begri� der Ästhetik hat sich ebenso wie jener des Humors im Laufe sei-

ner Entwicklung freilich so weit entdi�erenziert, dass man ihn schwerlich in un-erläuterter Selbstverständlichkeit verwenden kann. Ästhetik wird hier und imFolgenden zunächst im Sinne jener sich im Laufe des 19. Jahrhunderts institu-tionalisierenden philosophischen Disziplin verstanden, deren Gegenstand dieProblematik des Schönen, der Kunst und des Kunstwerkes und damit einher-gehend der Vorgang der künstlerischen Produktion, Rezeption und Wirkungist. Dieser Begri� der Ästhetik fokussiert also weder die für den Begründer derphilosophischenÄsthetik noch ausschlaggebende ursprüngliche Bedeutung desgriechischen aísthesis (αἴσθησις) in ihrer Allgemeinheit als ›sinnliches Emp�n-den‹—AlexanderGottliebBaumgartende�nierte dieÄsthetik als die»Wissen-schaft der sinnlichen Erkenntnis undDarstellung«52 —, noch berücksichtigt erjüngere Entwicklungen,welche zu einemdeutlichweiteren Begri� vonÄsthetikgeführt haben.

wohl die zentrale Stellung Jean Pauls als auch seine Nachwirkung in der Weise erkennen, dassHumormit und seit Jean Paul zweifellos als Kunsterscheinung, als ästhetisches Phänomen, zurSprache gebracht und befragt wird. Die Bedeutung für eine Theorie des Humors, welche JeanPaul hier in einer seltenen Einigkeit zugeschrieben wird, kontrastiert in au�allenderWeise mitseiner tendenziellen Nichtbeachtung innerhalb der zeitgenössischen englischsprachigen Lite-ratur zumHumor (vgl. z. B. Morreall, 1987c; Cohen, 2001; Monro, 1967; Levinson, 1998; Car-rell, 2008).

48 Jean Paul (1804/1962, S. 125).49 Fleming (2006, S. 19).50 Z. B. bei Solger (1829/1980), Hegel (1835/1976), Vischer (1846) oder Volkelt (1906).51 Pro�tlich (1971, S. 83). Theodor Lipps’ (1898) Schrift Komik und Humor. Eine psychologisch–

ästhetische Untersuchung markiert dabei jenen Punkt, an welchem aus Humor als philoso-phisch–ästhetischemProblem ein Problemder sich gerade konstituierenden universitären Psy-chologie wird. Im Rahmen der empirischen Psychologie wird Humor in den frühesten Stu-dien, welche ihn zum Untersuchungsgegenstand haben, explizit als ein Problem der »experi-mental aesthetics« (Perl, 1933, S. 762) begri�en. Auch in der aktuellen Diskussion wird nachHumor—oftmals implizit, seltener explizit— als »a kind of aesthetic experience« (Morreall,1983, S. 89) gefragt.

52 Baumgarten (1739/1983, S. 17; § 533).

30 Kapitel 1 Problemhorizont

Die Setzung von Humor als ästhetischem Phänomen, welche wir bei JeanPaul antre�en, blieb relativ lange unwidersprochen. 1856 wird sie jedoch vonMoritz Lazarus nachhaltig in Frage gestellt. Sein Versuch, den Humor in »kei-ner bloß ästhetischenAbhandlung«—ein klarer Verweis auf Jean Paul und diesich ihm anschließende Tradition— zu behandeln, blieb jedoch weitestgehendwirkungslos.53Zusammenfassend ergibt sich nach diesem ersten kurzenÜberblick folgendes

Bild:

a) Humor ist — im Gegensatz zum Lächerlichen und Komischen — keinProblem der antiken Philosophie.

b) Der Terminus ›Humor‹, bzw. seine griechische Entsprechung chymós,entstammt der antiken Medizin. Der medizinisch–physiologische Hu-morbegri� ist eine Figur, die unserem heutigen Humorbegri� fremd ge-genübersteht.

c) Der in derTraditionslinie derHumoralmedizin durchGalen fest etablier-te und für mehr als eineinhalbtausend Jahre kanonisch festgeschriebeneTerminus derhumores alsOberbegri� für die vierKörpersäfte scheint um1700 einem radikalen Bedeutungswandel unterworfen gewesen zu sein,welcher mit einem Wechsel der Humor problematisierenden und befra-genden Disziplinen einhergeht. Die Herausbildung eines für uns in gro-ben Zügen wiedererkennbarenHumorbegri�s, welche um 1700 einsetzt,kann verstanden werden alsWirkung einer radikalen Veränderung, einesgrundlegendenUmbruches imDenkenund imSelbst- undWeltverständ-nis des Menschen.

d) Der in seinenKinderjahren imEngland des 17. und 18. Jahrhunderts nochsehr elastische moderne Begri� des Humors wird auch unter dem Zu-gri� des ordnenden kontinentalenGeistes nicht wirklich festgeschrieben.Er wird jedoch als ein ästhetisches, d. h. als ein dem spezi�schen Fragebe-reich der als philosophischerDisziplin verstandenenÄsthetik zugehören-des Phänomen eingegrenzt.

Die Kontinuisierung der Geschichte des Humors verdeckt nicht nur den radi-

53 Lazarus (1856, S. 184). Lazarus setzt der ästhetischen Konzeption des Humors jene vom Hu-mor als»eigene[r]Weltanschauung« entgegenundwundert sich:»Mit der Behauptung, dassderHumor eine eigeneWeltanschauung sey, entsteht zugleich die Frage, woher es komme, daßman dieß bisher nie behauptet und eingesehen?« (Lazarus, 1856, S. 184f.). Lazarus’ Idee vomHumor als Weltanschauung erlebte eine Renaissance zum Beginn des 20. Jahrhunderts (z. B.Backhaus, 1894), insbesondere imRahmen einer ausschweifenden, spekulativen Charakterolo-gie (Goebel, 1923; Hø�ding, 1916/1918; Kadner, 1930; Lersch, 1946; Roetschi, 1915).