Husserl - Formale Und Trans Zen Den Tale Logik

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FORMALE UND TRANSZENDENTALE LOGIK VERSUCH EINER KRITIK DER LOGISCHEN VERNUNFT VON EDMUND HUSSERL SONDERDRUCK AUS: „JAHRBUCH FÜR PHILOSOPHIE UND PHÄNOMENOLOGISCHE FORSCHUNG", BD. X HERAUSGEGEBEN VON E. HUSSERL, FREIBURG L BR. MAX NIEMEYER VERLAG / HALLE (SAALE) 1929

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FORMALEUND TRANSZENDENTALE

LOGIKVERSUCH EINER

KRITIK DER LOGISCHEN VERNUNFT

VON

EDMUND HUSSERL

SONDERDRUCK AUS:„JAHRBUCH FÜR PHILOSOPHIE UND PHÄNOMENOLOGISCHE FORSCHUNG", BD. X

HERAUSGEGEBEN VON E. HUSSERL, FREIBURG L BR.

MAX NIEMEYER VERLAG / HALLE (SAALE)1929

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Alle Rechte,auch das der Übersetzung ui fremde Sprachen, vorbehaltenCopyright by Max Niemeyer Verlag, Halle (Saale), 1929

Printed in Germany

Druck von Karras, Kröber & Nietschmann, Halle (Saale)

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Inhalt.

SeiteEinleitung 1

Vorbereitende Betrachtungen 16

§ 1. Ausgang von den Bedeutungen des Wortes Logos: Reden, Denken,Gedachtes 16

§ 2. Die Idealität des Sprachlichen. Ausschaltung der zugehörigenProbleme 17

§ 3. Sprache als Ausdruck des „Denkens". Denken im weitesten Sinnals sinnkonstituierendes Erlebnis 19

§ 4. Das Problem der Wesensumgrenzung des zur Bedeutungsfunktionbefähigten „Denkens" 22

§ 5. Vorläufige Umgrenzung der Logik als apriorische Wissenschafts-lehre 23

§ 6. Der formale Charakter der Logik. Formales und kontingentesApriori 25

§ 7. Die normative und die praktische Funktion der Logik . . . 27§ 8. Die Doppelseitigkeit der Logik; die subjektive und die objektive

Richtung ihrer Thematik 29§ 9. Die gerade Thematik der „objektiven" oder „positiven" Wissen-

schaften. Die Idee doppelseitiger Wissenschaften 31§ 10. Die historische Psychologie und die subjektiv gerichtete Thematik

der Wissenschaften 33§ 11. Die thematischen Tendenzen der traditionellen Logik 35

a) Die Logik ursprünglich auf -die objektiven theoretischen Denk-gebilde gerichtet 35

b) Die Richtung der Logik auf Wahrheit und die dadurch be-dingte subjektive Reflexion auf Einsicht 37

c) Ergebnis: Die Zwitterhaftigkeit der historischen Logik als theo-retischer und normativ-praktischer Disziplin 39

L Abschnitt.

Die Strukturen und der Umfang der objektiven formalenLogik.

A. Der Weg von der Tradition zur vollen Idee der formalen

Logik 42

1. Kapitel. Die formale Logik als apophantische Analytik 42

§ 12. Die Entdeckung der Idee der reinen Urteilsform 42* e

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IV

Inhalt.

Seite

§ 13. Die reine Formenlehre der Urteile als erste formal-logische Disziplin 43

a) Die Idee der Formenlehre 43b) Die Allgemeinheit der Urteilsform; die Grundformen und ihre

Abwandlungen 44c) Der Begriff der Operation als Leitbegriff der Formenforschung 45

§ 14. Die Konsequenzlogik (Logik der Widerspruchslosigkeit) als zweiteStufe der formalen Logik 46

§ 15. Wahrheitslogik und Konsequenzlogik 49§ 16. Die die Stufenscheidung der Apophantik begründenden Evidenz-

unterschiede. Evidenz der Klarheit und Evidenz der Deutlichkeit 49

a) Die Vollzugsmodi des Urteils. Deutlichkeit und Verworrenheit 49b) Deutlichkeit und Klarheit 53c) Klarheit der Selbsthabe und Klarheit der Antizipation . 54

§ 17. Die Wesensgattung „deutliches 'Urteil" als Thema der „purenAnalytik" 55

§ 18. Die Grundfrage der puren Analytik 56§ 19. Die pure Analytik als Grundlage der formalen Logik der Wahr-

heit. Widerspruchslosigkeit als Bedingung möglicher Wahrheit . 57§ 20. Die logischen Prinzipien und ihre Analoga in der puren Analytik 58§ 21. Die Evidenz in der Deckung „desselben" verworrenen und deut-

lichen Urteils. Der weiteste Urteilsbegriff 60§ 22. Der Gebietsbegriff der apophantischen Formenlehre als rein-

logischer Grammatik ist das Urteil im weitesten Sinne . . . . 62

2. Kapitel. Formale Apophantik, formale Mathematik 63

§ 23. Die innere Einheit der traditionellen Logik und das Problem ihrerStellung zur formalen Mathematik 63

a) Die begriffliche Abgeschlossenheit der traditionellen Logik alsapophantischer Analytik 63

h) Das Auftauchen der Idee einer erweiterten Analytik, Leibniz'„mathesis universalis", und die methodisch-technische Verein-heitlichung der tradi.tionellen Syllogistik und der formalenMathematik 64

24. Das neue Problem einer formalen Ontologie. Charakteristik derüberlieferten formalen Mathematik als formaler Ontologie . . . 66

25. Thematische Unterschiedenheit und doch sachliche Zusammen-gehörigkeit von formaler Apophantik und formaler Ontologie . 68

26. Die historischen Gründe der Verdeckung des Problems der Ein-heit von formaler Apophantik und formaler Mathematik . . . 70

a) Der Mangel des Begriffes der reinen Leerform 70b) Der Mangel der Erkenntnis der Idealität von apophantischen

Gebilden 71c) Weitere Gründe, insbesondere der Mangel an echten Ursprungs-

forschungen 73d) Anmerkung über Bolzanos Stellung zur Idee der formalen

Ontologie 74

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Inhalt-

Seite

27. Die Einführung der Idee der formalen Ontologie in den „LogischenUntersuchungen" 75

a) Die ersten konstitutiven Untersuchungen kategorialer Gegen-ständlichkeiten in der „Philosophie der Arithmetik" . . . 76

b) Der Weg der „Prolegomena" von der formalen Apophantikzur formalen Ontologie 77

3. Kapitel. Theorie der deduktiven Systeme und Mannigfaltigkeitslehre . . 78

§ 28. Die höchste Stufe der formalen Logik: die Theorie der deduk-tiven Systeme, bzw. die Mannigfaltigkeitslehre 78

§ 29. Die formalisierende Reduktion der nomologischen Wissenschaftenund die Mannigfaltigkeitslehre 80

§ 30. Die Mannigfaltigkeitslehre seit Riemann 81

§ 31. Der prägnante Begriff einer Mannigfaltigkeit, bzw. der eines„deduktiven", ,,nomologischen Systems" geklärt durch den Begriffder „Definitheit" 82

§ 32. Die oberste Idee einer Mannigfaltigkeitslehre als einer universalennomologischen Wissenschaft von den Mannigfaltigkeitsformen . 85

§ 33. Wirkliche formale Mathematik und Mathematik der Spielregeln . 86

§ 34, Die vollständige formale Mathematik identisch mit der voll-ständigen logischen Analytik 87

§ 35. Warum in dem Bereich der mathesis universalis als universalerAnalytik nur deduktive Theorienformen thematisch werden können 88

a) Nur deduktive Theorie hat eine rein analytische Systemform 88b) Die Fragestellung: wann ein System von Sätzen eine analytisch

zu charakterisierende Systemform hat 90

§ 36. Rückblick und Vordeutung auf die weiteren Aufgaben . 91

B. Phänomenologische Aufklärung der Doppelseitigkeitder formalen Logik als formaler Apophantik und for-maler Ontologie 93

4. Kapitel. Einstellung auf Gegenstände und Einstellung auf Urteile . . 93

§ 37. Die Frage nach dem Verhältnis von formaler Apophantik undformaler Ontologie; das Ungenügende der bisherigen Klärungen 93

§ 38. Urteilsgegenstände als solche und syntaktische Gebilde . . . . 94

§ 39. Erweiterung des Urteilsbegriffs auf alle Gebilde syntaktischerAktionen 95

§ 40. Formale Analytik als Gedankenspiel und logische Analytik. DieBeziehung auf mögliche Anwendung gehört zum logischen Sinnder formalen Mathesis 96

§ 41. Der Unterschied zwischen apophantischer und ontologischer Ein-stellung und die Aufgabe seiner Klärung 98

§ 42. Die Lösung dieser Aufgabe 98

a) Das Urteilen nicht auf das Urteil sondern auf die thematischeGegenständlichkeit gerichtet 98

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VI

Inhalt.

Seiteb) Die Identität des thematischen Gegenstandes im Wandel der

syntaktischen Operationen 100c) Die Typik der syntaktischen Gegenstandsformen als die der

Modi des Etwas 101d) Die doppelte Funktion der syntaktischen Operationen . . 101e) Zusammenhang des Urteilens in der Einheit der sich be-

stimmenden Substratgegenständlichkeit. Konstitution ihresbestimmenden „Begriffes" 102

f) Die im Bestimmen erwachsenden kategorialen Gebilde alshabitueller und intersubjektiver Besitz 104

g) Dem Denken schon vorgegebene Gegenständlichkeit gegen-über der kategorialen Denkgegenständlichkeit — erläutertan der Natur 105

43. Die Analytik als formale Wissenschaftslehre ist formale Onto-logie und als solche gegenständlich gerichtet 106

44. Wendung von der Analytik als formaler Ontologie zur Analytikals formaler Apophantik 107

a) Thematische Umstellung von den Gegenstandsgebieten auf dieUrteile im Sinne der Logik 107

b) Phänomenologische Aufklärung dieser Umstellung . . . 108

a) Die Einstellung des naiv-geradehin Urteilenden . • . 108ß) In der kritischen Einstellung des erkennen Wollenden

scheiden sich vermeinte Gegenständlichkeit als solcheund wirkliche 108

y) Die Einstellung des Wissenschaftlers; das Vermeinte alssolches Gegenstand seiner Erkenntniskritik 110

§ 45. Das Urteil im Sinne der apophantischen Logik 112§ 46. Wahrheit und Falschheit als Ergebnis der Kritik. Doppelsinn

von Wahrheit und Evidenz 113

5. Kapitel. Apophantik als Sinneslehre und Wahrheitslogik 115

§ 47. Aus der Orientierung der traditionellen Logik an der kritischenHaltung der Wissenschaft folgt ihre apophantische Einstellung . 115

§ 48. Urteile als bloße Vermeintheiten gehören der Region der Sinnean. Phänomenologische Charakteristik der Einstellung auf Sinne 116

§ 49. Der Doppelsinn von Urteil (Satz) 119

§ 50. Die Erweiterung des Begriffes Sinn auf die gesamte positionaleSphäre und die Erweiterung der formalen Logik um eine for-male Axiologie und Praktik 120

§ 51. Die pure Konsequenzlogik als reine Sinneslehre. Die Gliederungin Konsequenzlogik und Wahrheitslogik gilt auch für die Mannig-faltigkeitslehre als oberste Stufe der Logik 121

§ 52. Eigentlich logische und außerlogische „mathesis pure". Die„Mathematik der Mathematiker" 123

§ 53. Erläuterungen am Beispiel der Euklidischen Mannigfaltigkeit 125

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Inhalt

VII

Seite§ 54. Abschließende Feststellung des Verhältnisses zwischen formaler

Logik und formaler Ontologie 127

a) Die Fragestellung 127b) Der korrelative Doppelsinn der formalen Logik 128c) Die Idee der formalen Ontologie abzulösen von der Idee der

Wissenschaftslehre 131

II. Abschnitt.

Von der formalen zur transzendentalen Logik.

1. Kapitel. Psychologismus und transzendentale Grundlegung der Logik . 133

§ 55. Ob mit der Ausbildung der Logik als objektiv-formaler schonder Idee einer auch nur formalen Wissenschaftslehre genug-getan ist 133

§ 56. Der Vorwurf des Psychologismus gegen jede subjektiv gerichteteBetrachtung der logischen Gebilde 135

§ 57. Logischer Psychologismus und logischer Idealismus 137

a) Die Beweggründe für diesen Psychologismus 137b) Die Idealität der logischen Gebilde als irreales Auftreten in

der logisch-psychischen Sphäre 138

§ 58. Die Evidenz der idealen Gegenstände analog der der individuellen 139§ 59. Allgemeines über Evidenz als Selbstgebung 140

§ 60. Die Grundgesetzlichkeit der Intentionalität und die universaleFunktion der Evidenz 142

§ 61. Evidenz überhaupt in der Funktion aller, ob realen oder irrealenGegenstände als synthetischer Einheiten 145

§ 62. Die Idealität aller Arten von Gegenständlichkeiten gegenüberdem konstituierenden Bewußtsein. Die positivistische Miß-deutung der Natur als eine Art Psychologismus 148

§ 63. Ursprünglich erzeugende Aktivität als die Selbstgebung derlogischen Gebilde und der Sinn der Rede von ihrer Erzeugung 149

§ 64. Der Seinsvorzug der realen vor den irrealen Gegenständen . . 150

§ 65. Ein allgemeinerer Begriff von PsychoIogismus 151

§ 66. Psychologistischer und phänomenologischer Idealismus. Analy-tische und transzendentale Kritik der Erkenntnis 151

§ 67. Der Einwand des Psychologismus als Unverständnis der not-wendigen logischen Funktion der transzendentalen Erkenntnis-kritik 153

§ 68. Vorblick auf die weiteren Aufgaben 155

2. Kapitel. Ausgangsfragen der transzendental-logischen Problematik: DieGrundbegriff sprobleme 156

§ 69. Die logischen Gebilde in gerader Evidenz gegeben. Die Aufgabeder reflektiven Thematisierung dieser Evidenz 156

§ 70. Der Sinn der geforderten Klärungen als konstitutiver Ursprungs-forschung 157

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VIII

Inhalt.

Seitea) Verschiebung der intentionalen Abzielungen und Äquivokation 157b) Klärung der zu scheidenden Grundbegriffe der logischen

Disziplinen als Enthüllung der verborgenen subjektivenBildungsmethode und als Kritik derselben 159

§ 71. Grundlagenprobleme der Wissenschaften und konstitutive Ur-sprungsforschung. Die Logik zur Führung berufen 161

§ 72. Die subjektiven Strukturen als ein dem objektiven korrelativesApriori. Übergang zu einer neuen Stufe der Kritik 162

3. Kapitel. Die idealisierenden Voraussetzungen der Logik und ihre kon-stitutive Kritik 162

§ 73. Idealisierende Voraussetzungen der mathematischen Analytik alsThemen konstitutiver Kritik. Die ideale Identität der Urteils-gebilde als konstitutives Problem 163

§ 74. Die Idealitäten des Undsoweiter, der konstruktiven Unendlich-keiten und ihr subjektives Korrelat 167

§ 75. Das analytische Widerspruchsgesetz und seine subjektive Wendung 167§ 76. Übergang zur subjektiven Problematik der Wahrheitslogik . . 169§ 77. Die im Satz vom Widerspruch und vom ausgeschlossenen Dritten

enthaltenen idealisierenden Voraussetzungen 171§ 78. Die Umwendung der Gesetze des „modus ponens und tollens" in

subjektive Evidenzgesetze 173§ 79. Die Voraussetzungen der Wahrheit und Falschheit an sich und

der Entscheidbarkeit aller Urteile 174§ 80. Die Evidenz der Wahrheitsvoraussetzung und die Aufgabe ihrer

Kritik 175§ 81. Formulierung weiterer Probleme 178

4. Kapitel. Rückführung der Evidenzkritik der logischen Prinzipien aufdie Evidenzkritik der Erfahrung 179

§ 82. Die Reduktion der Urteile auf letzte Urteile. Die kategorialenUrabwandlungen des Etwas und das Ursubstrat Individuum . . 179

§ 83. Parallele Reduktion der Wahrheiten. Rückbeziehung aller Wahr-heiten auf eine Welt von Individuen 181

§ 84. Stufenfolge der Evidenzen; die an sich erste die der Erfahrung Der prägnante Begriff der Erfahrung 182

§ 85. Die echten Aufgaben der sogenannten Urteilstheorie. Die Sinnes-genesis der Urteile als Leitfaden zur Aufsuchung der Stufen-ordnung der Evidenzen 183

§ 86. Die Evidenz der vorprädikativen Erfahrung als an sich erstesThema der transzendentalen Urteilstheorie. Das Erfahrungsurteilals das Urteil des Ursprungs 185

§ 87. Übergang zu den höherstufigen Evidenzen. Die Frage nach derRelevanz der Kerne für die Evidenz der sachhaltigen und derformalen Allgemeinheiten 189

§ 88. Die implizierte Voraussetzung des analytischen Widerspruchs-gesetzes; jedes Urteil ist zur Deutlichkeitsevidenz zu bringen . 191

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Inhalt. IxSeite

§ 89. Die Möglichkeit der Deutlichkeitsevidenz 192a) Sinn als Urteil und als „Urteilsinhalt". Ideale Existenz des

Urteils setzt ideale Existenz des Urteilsinhalts voraus . . 192b) Die ideale Existenz des Urteilsinhaltes ist an die Bedingungen

der Einheit möglicher Erfahrungen geknüpft 193§ 90. Anwendung auf die Prinzipien der Wahrheitslogik: sie gelten

nur für inhaltlich sinnvolle Urteile 195§ 91. überleitung zu neuen Fragen 196

5. Kapitel. Die subjektive Begründung der Logik als transzendental-philo-sophisches Problem 197

§ 92. Aufklärung des Sinnes der Positivität der objektiven Logik. 197

a) Die Bezogenheit der historischen Logik auf eine reale Welt 197b) Die naive Voraussetzung einer Welt reiht die Logik in die

positiven Wissenschaften ein 199

§ 93. Das Ungenügen der Versuche der Erfahrungskritik seit Descartes 201

a) Die naive Voraussetzung der Gültigkeit der objektiven Logik 201b) Das Verfehlen des transzendentalen Sinnes der Cartesianischen

Reduktion auf das Ego 202c) Die Begründung der Logik führt in das universale Problem

der transzendentalen Phänomenologie 204

6. Kapitel. Transzendentale Phänomenologie und intentionale Psychologie

Das Problem des transzendentalen Psychologismus 205

§ 94. Alles Seiende konstituiert in der Bewußtseinssubjektivität . 205

§ 95. Notwendigkeit des Ausgangs von der je-eigenen Subjektivität . 208§ 96. Die transzendentale Problematik der Intersubjektivität und der

intersubjektiven Welt 210

a) Intersubjektivität und Welt der reinen Erfahrung 210b) Der Schein des transzendentalen Solipsismus 213c) Höherstufige Probleme der objektiven Welt 214d) Abschließende Betrachtung 215

§ 97. Die Methode der Enthüllung der Bewußtseinskonstitution in ihreruniversalen philosophischen Bedeutung 216

§ 98. Die konstitutiven Untersuchungen als apriorische 217§ 99. Psychologische und transzendentale Subjektivität. Das Problem

des transzendentalen Psychologismus 221§ 100. Historisch-kritische Bemerkungen zur Entwicklung der Transzen-

dentalphilosophie und insbesondere zur transzendentalen Pro-blematik der formalen Logik 225

7. Kapitel. Objektive Logik und Phänomenologie der Vernunft . . . . 235

§ 101. Die subjektive Grundlegung der Logik als transzendentale Phäno-menologie der Vernunft 235

§ 102. Die Weltbezogenheit der überlieferten Logik und die Frage nachdem Charakter der ilkre transzendentale Aufklärung selbst nor-mierenden „letzten" Logik 236

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X Inhalt.

Seite§ 103. Absolute Erkenntnisbegründung ist nur in der universalen

Wissenschaft von der transzendentalen Subjektivität als demeinzigen absolut Seienden möglich 240

§ 104. Die transzendentale Phänomenologie als die Selbstauslegung dertranszendentalen Subjektivität 241

§ 105. Vorbereitungen zum Abschluß der transzendentalen Kritik derLogik. Die üblichen Evidenztheorien mißleitet von der Voraus-setzung absoluter Wahrheit 245

§ 106. Weiteres zur Kritik der Voraussetzung absoluter Wahrheit undder dogmatistischen Theorien der Evidenz 247

§ 107. Vorzeichnung einer transzendentalen Theorie der Evidenz alsintentionaler Leistung 249

a) Die Evidenz der äußeren (sinnlichen) Erfahrung 249b) Die Evidenz der „inneren" Erfahrung 251c) Hyletische Daten und intentionale Funktionen. Die Evidenz

der immanenten Zeitdaten 252d) Evidenz als apriorische Strukturform des Bewußtseins . 255

Schlußwort 256

Beilage I: Syntaktische Formen und syntaktische Stoffe s

Kernformen und Kernstoffe 259

§ 1. Gliederung der prädikativen Urteile 259

§ 2. Die Sachbezüglichkeit in den Urteilen 261

§ 3. Reine Formen und Stoffe 262

§ 4. Niedere und höhere Formen. Ihre Sinnbeziehung aufeinander 263

§ 5. Die abgeschlossene Funktionseinheit der selbständigen Apophansis Scheidung der ganzheitlichen Verbindungsformen in Kopulationund Konjunktion 263

§ 6. Übergang in die weiteste kategoriale Sphäre 264

a) Universalität der unterschiedenen Verbindungsformen . . 264b) Erstreckung der mit der Gliederung zusammenhängenden

Unterscheidungen auf die gesamte kategoriale Sphäre . . 265c) Der erweiterte kategoriale Satzbegriff gegenüber dem der

alten apophantischen Analytik 265

§ 7. Syntaktische Formen, syntaktische Stoffe, Syntaxe 266

§ 8. Syntagma und Glied. Selbständige Urteile als Syntagmen, des-gleichen Urteile im erweiterten Sinn 268

§ 9. „Urteilsinhalt" als syntaktischer Stoff des Urteils als Syntagma 268

§ 10. Stufen syntaktischer Formung 270

§ 11. Nicht-syntaktische Formen und Stoffe — innerhalb der reinensyntaktischen Stoffe aufgewiesen 270

§ 12. Das Kerngebilde mit Kernstoff und Kernform 271

§ 13. Die Bevorzugung der substantivischen Kategorie. Die Substanti-vierung 272

§ 14. Übergang zu den Komplikationen 273

§ 15. Der Begriff des „Terminus" der traditionellen formalen Logik 273

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Inhalt

XI

SeiteBeilage II: Zur phänomenologischen Konstitution des

Urteils. Das ursprünglich-aktive Urteilen und seinesekundären Modifikationen 275

§ 1. Aktives als selbsterzeugendes Urteilen gegenüber seinen sekun-dären Modifikationen 275

§ 2. Aus der allgemeinen Theorie der Intentionalität . . . . 276

a) Ursprüngliches Bewußtsein und intentionale Modifikation Statische intentionale Auslegung. Auslegung der „Meinung"und des Gemeinten „selbst". Die Mannigfaltigkeit möglicherBewußtseinsweisen von Demselben 276

b) Intentionale Auslegung der Genesis. Genetische, so wie sta-tische Ursprünglichkeit der erfahrenden Gegebenheitsweise.„Urstiftung" der „Apperzeption" für jede Gegenstands-kategorie 277

c) Die Zeitform der intentionalen Genesis und ihre Konstitution Retentionale Abwandlung. Sedinientierung im Untergrundder Unabgehobenheit (Unbewußtsein) 279

§ 3. Die nicht-originalen Gegebenheitsweisen des Urteils 280

a) Die retentionale, als an sich erste Form „sekundärer Sinnlich-keit". Die lebendig sich wandelnde Konstitution eines viel-gliedrigen Urteils 280

b) Die passive Wiedererinnerung und deren konstitutive Leistungfür das Urteil als bleibende Einheit 282

c) Das Auftauchen als apperzeptiver Einfall ein Analogon desEinfalls der passiven Wiedererinnerung . . . 283

§ 4. Die Wesensmöglichkeiten der Aktivierung der passiven Gegeben-heitsweisen 283

§ 5. Die Grundgestalten ursprünglich erzeugenden Urteilens und desUrteilens überhaupt 284

§ 6. über das undeutliche sprachliche Urteilen und seine Funktion 286§ 7. Vorzug der retentionalen und wiedererinnerungsmäßigen Ver-

worrenheit gegenüber der apperzeptiven : sekundäre Evidenz inder Verworrenheit 288

Beilage III: Zur Idee einer „Logik bloßer Widerspruchs-losigkeit" oder „Logik bloßer Konsequenz" 289

§ 1. Das Ziel der formalen Widerspruchslosigkeit und der formalenKonsequenz. Weitere und engere Fassung dieser Begriffe . . . 289

§ 2. Rückbeziehung des systematischen und radikalen Aufbaus einerreinen Analytik auf die Lehre von den Syntaxen 292

§ 3. Die Charakteristik der analytischen Urteile als „erkenntnis-erläuternde" und als „Tautologien" 29

§ 4. Bemerkungen über Tautologie im Sinne der Logistik. Von0. Becker. (Zu §§ 14-18 des Haupttextes ) 296

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Formale und transzendentale Logik.Von

Edmund Russen 1 (Freiburg Br.).

EINLEITUNG.Was wir heute in unserem prägnanten Sinne Wissenschaft nennen,

ist nicht Wissenschaft im historisch ältesten Sinne einer naivgeradehin sich vollziehenden Auswirkung der theoretischen Vernunft.Nur noch in einem laxen Sinne nennen wir die Philosophien der vor-platonischen Epoche, nennen wir ähnliche Kulturgestaltungen andererVölker und Zeiten Wissenschaften. Nur als Vorformen, Vorstufender Wissenschaft lassen wir sie gelten. Wissenschaft in einem neuenSinne erwächst zunächst aus der platonischen Begründungder Logik, als einer Stätte der Erforschung der Wesenserforder-nisse „echten" Wissens und „echter" Wissenschaft und damit derHerausstellung von Normen, denen gemäß eine bewußt auf durch-gängige Normgerechtigkeit abzielende Wissenschaft, eine ihre Methodeund Theorie bewußt rechtfertigende aufgebaut werden könne. DerIntention nach ist diese logische Rechtfertigung durchaus eine solcheaus reinen Prinzipien. Wissenschaft im platonischen Sinne will alsonicht mehr bloß naive Betätigung aus rein theoretischem Interesse sein.Jeden Schritt, den sie tut, beansprucht sie auch prinzipiell in seinerEchtheit, in seiner notwendigen Gültigkeit zu rechtfertigen. Also derursprüngliche Sinn ist dabei der, daß prinzipielle logische Einsicht,die aus der reinen Idee möglicher Erkenntnis und Erkenntnismethodeüberhaupt geschöpfte, der faktisch betätigten Methode und faktischenWissenschaftsgestaltung vorangeht und sie praktisch leitet, nicht aber,daß das Faktum einer irgendwie in Naivität erwachsenen Methodeund Wissenschaft sich als Norm ausgeben dürfte, um wissenschaft-liches Leisten rechtmäßig zu gestalten.

Die Logik P1 atons erwuchs aus der Reaktion gegen die uni-verselle Wissenschaftsleugnung der sophistischen Skepsis. Leugnete

Enge erl, Jahrbuch 1. Philosophie. X. 1

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gdostoad Riete

f2

die Skepsis die prinzipielle Möglichkeit von so etwas wie "Philo-sophie", wie Wissenschaft überh upt, so mußte Platon eben dieprinzipielle Möglichkeit von dergleichen erwägen und kritischbegründen. War Wissenschaft überhaupt in Frage gestellt, so konntenatürlich kein Faktum Wissenschaft vorausgesetzt werden. So wurdePlaton auf den Weg der reinen Idee geführt. Seine nicht den fak-tischen Wissenschaften abgelesene, sondern rein ideale, reine Normengestaltende Dialektik, in unserer Rede seine Logik oder Wissen-schaftslehre, hatte den Beruf, nun erst faktische Wiesenschaft möglichzu machen, sie praktisch zu leiten. Und eben in der Erfüllung diesesBerufes half sie wirklich, Wissenschaften im prägnanten Sinne zuschaffen, die bewußt von der Idee logischer Wissenschaft getragenwaren und sie nach Möglichkeit zu verwirklichen suchten: so diestrenge Mathematik und Naturwissenschaft, deren Fortentwicklungenin höheren Stufen unsere neuzeitlichen Wissenschaften sind.

Indessen das ursprüngliche Verhältnis zwischen Logik undWiesenschaft hat sich in der Neuzeit in merkwürdiger Weise um-gekehrt. Die Wissenschaften verselbständigten sich, sie bildeten, ohnedem Geist kritischer Selbstrechtfertigung voll genugtun zu können,höchst differenzierte Methoden aus, deren Fruchtbarkeit zwarpraktisch gewiß, deren Leistung aber nicht letztlich einsichtig wurde.Sie bildeten diese Methoden aus, zwar nicht in der Naivität des All-tagsmenschen, aber doch in einer Naivität höherer Stufe,einer Naivität, die darauf verzichtete, die Methode aus reinen Prim.zipien, unter Rekurs auf die reine Idee, nach letzten apriorischenMöglichkeiten und Notwendigkeiten zu rechtfertigen. Mit anderenWorten: die Logik, die ursprünglich Fackelträgerin der Methode warund den Anspruch erhob, die reine Prinzipienlehre möglicher Er-kenntnis und Wissenschaft zu sein, verlor diesen historischen Berufund blieb in ihrer Entwicklung weit zurück. Noch die großartigeNeugestaltung der Naturwissenschaften des 17. Jahrhunderts wardurch logische Reflexionen bestimmt über Wesen und Erfordernisechter Naturerkenntnis, über ihre prinzipiellen Ziele und Methoden.Diese Reflexionen stellten sich selbst in den Zusammenhang der fürdiese Zeit so charakteristischen Bestrebungen um die Begründungeiner neuen, der wahren Logik. Hierher gehört nicht nur Galilesondern, wie zu betonen ist, auch Deacartes. Bezeichnend ist schonder Titel „Discours sur la Methode", und die "Erste Philosophie"seiner Meditationes ist selben nur Ausdruck für eine völlig radikaleund dabei universale Wissenschaftstheorie. Geht also die Logik nochin diesen neuzeitlichen Anfängen den Wissenschaften voran, so ändert

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Formale und transzendentale Logik. 3

sich dieses wesentliche Verhältnis in der nachfolgenden Epoche, ebenals der Epoche der Verselbständigung der Wissenschaften zu Fach-wissenschaften, die sich um eine Logik nicht mehr kümmern, ja siefast verächtlich beiseite schieben. Aber diese selbst irrt in derneuesten Zeit von ihrem eigenen Sinn und ihrer unveräußerlichenAufgabe ganz und gar ab. Statt die reinen Wesensnormen der Wissen-schaft nach allen ihren Wesensgestaltungen zu verfolgen, um dadurchden Wissenschaften prinzipielle Leitung geben und ihnen Echtheit derMethodengestaltung und der Rechenschaftsabgabe in allen Schrittenermöglichen zu können, gefällt sie sich vielmehr darin, sich von denfaktischen Wissenschaften, insbesondere den vielbewunderten Natur-wissenschaften in ihrem Wissenschaftsideal und ihren Problem-stellungen leiten zu lassen.

Vielleicht bekundet sich darin eine tiefere und folgenreichereTragik der modernen wissenschaftlichen Kultur, als welche man inwissenschaftlichen Kreisen gewöhnlich zu beklagen pflegt: so großsei die Reihe der Fachwissenschaften geworden, daß niemand mehrimstande sein könne, von all diesem Reichtum vollen Nutzen zuziehen, all diese Erkenntnisschätze überschauend zu genießen. DerMangel unserer wissenschaftlichen Lage scheint ein viel wesent-licherer, ein im wörtlichen Sinne radikalerer zu sein. Er betrifftnicht die kollektive Vereinheitlichung und Zueignung, sondern dieprinzipielle Verwurzelung der Wissenschaften und die Ver-einheitlichung derselben aus diesen Wurzeln. Es ist ein Mangel, derbestehen bliebe, selbst wenn eine unerhörte Mnemotechnik und einevon ihr geleitete Pädagogik uns ein enzyklopädisches Wissen des insämtlichen Wissenschaften jeweils theoretisch-objektiv Festgestelltenermöglichte. Die Wissenschaft ist in der spezialwissenschaftlichenForm zu einer Art theoretischer Technik geworden, die, wie dieTechnik im gewöhnlichen Sinne, viel mehr auf einer in der viel-seitigen und vielgeübten praktischen Betätigung selbst erwachsenden„praktischen Erfahrung" beruht (was man in der Praxis auch „In-tuition", praktischen Takt und Blick nennt) als auf Einsicht in dieratio der vollzogenen Leistung.

Damit hat die moderne Wissenschaft das seit Platon in denWissenschaften lebendig wirkende Ideal echter Wissenschaft undpraktisch den Radikalismus wissenschaftlicher Selbstverantwortungpreisgegeben. Also nicht mehr ist jener Radikalismus die innersteTriebkraft, der an sich beständig die Forderung stellt, kein Wissengelten zu lassen, für das nicht Rechenschaft gegeben werden kann

aus ursprünglich ersten und dabei vollkommen einsichtigen Prin-

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4

[4

n keinen Sinn mehr gibt. Die aktuelln dieser Hinsicht sehr unvol&oznmen

s Wesentliche , daß jene radikale Forderung einentsprechendes praktisches Vollkommenheitsstreben leitete, und daß

mit der Logik die große Funktion übertragen blieb, in Wesens-allgemeinheit die möglichen Wege zu den letzten Prinzipien zu er-forschen und so durch Entfaltung des Wesens echter Wissenschaft über.bangt (also seiner reinen Möglichkeit) wirklicher Wissenschaft Normund Leitung zu geben. Nichts lag also ferner ah das Absehen auf eineArt bloß technischer Leistung, deren Naivität im äußersten Kontraststeht zur Leistung einer radikalen Selbstnormierung aus Prinzipien.

Dieses Prinzipielle aber, das haben von Pla ton an alle Großender Vergangenheit gesehen, gewinnt seine volle Kraft, seine Fülleallseitiger Einsichtigkeit aus der Universalität, die alle Wissenschaftenah Zweige einer eapientia universtdis (De ecar te e) untrennbar verknüpft. Den verselbständigten Spezialwissenschaften fehlt das Ver-ständnis für die prinzipielle Einseitigkeit ihrer Leistungen; es fehltihnen das Verständnis dafür, daß sie erst den vollen Seinssinn ihresjeweiligen Gebietes theoretisch umgreifen, wenn sie die methodischeScheuklappe wieder ablegen, die durch die ausschließliche Einstellungauf ihr besonderes Gebiet unvermeidlich wurde; mit anderen Wortenwenn sie ihre Forschungen hineinlenken in die Universalität desSeins und seine prinzipielle Einheit. An dieser Lage ist, wiegesagt, die Logik selbst mitschuldig, weil sie, wie wir hierauch ergänzen können, statt ihren historischen Beruf fest im Augezu behalten und sich als reine und universale Wissenschaftslehreauszuwirken, vielmehr selbst zu einer Spezialwissenschaft ge-worden ist. Ihr eigener Zwecksinn forderte es, daß sie reflektiv auchdiesen Zwecksinn zum Thema radikaler Erwägungen machte und sichder prinzipiell unterschiedenen Schichten wissenschaftstheoretischerProblematik bemächtigte, mit denen die Stufenfolge von logischenDisziplinen vorgezeichnet war, in der allein die Idee einer Wissen-schaftslehre und Wissenschaft selbst sich verwirklichen konnte.Diesem ihr eigenwesentlichen Sinn hat sie aber nicht genug getan.

Die gegenwärtige Lage der europäischen Wissenschaften nötigtzu radikalen Besinnungen. Sie haben im Grunde den großen Glaubenan sich selbst, an ihre absolute Bedeutung verloren. Der moderneMensch von heute sieht nicht wie der "moderne" der Aufklärungs-epoche in der Wissenschaft und der durch sie geformten neuen Kulturdie Selbstobjektivierung der menschlichen Vernunft oder die uni-versale Funktion, die die Menschheit sich geschaffen hat, um sich

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5] Formale und transzendentale Logik. 5

ein wahrhaft befriedigendes Leben, ein individuelles und sozialesLeben aus praktischer Vernunft zu ermöglichen. Dieser große Glaube,dereinst der Ersatz für den religiösen Glauben, der Glaube, daßWissenschaft zur Weisheit führe — zu einer wirklich rationalenSelbsterkenntnis, Welt- und Gotterkenntnis, durch sie hindurch zueinem wie immer vollkommener zu gestaltenden, einem wahrhaftlebenswerten Leben in „Glück", Zufriedenheit, Wohlfahrt usw. —hat jedenfalls in weiten Kreisen seine Kraft verloren. Man lebt soüberhaupt in einer unverständlich gewordenen Welt, in der man ver-geblich nach dem Wozu, dem dereinst so zweifellosen, vom Verstandwie vom Willen anerkannten Sinn fragt.

Wir mögen uns nun zu der historisch gewordenen wissenschaft-lichen Kultur noch so kritisch und skeptisch stellen; ohne weiterespreisgeben können wir sie nicht schon darum, weil wir sie nichtletztlich verstehen und aus solchem Verständnis dirigieren können;mit anderen Worten weil wir unfähig sind, ihren Sinn rational aus-zulegen, seine wahre Tragweite zu bestimmen, innerhalb deren wirihn selbst verantwortlich rechtfertigen und in fortgehender Arbeitverwirklichen können. Genügt uns nicht die Freudigkeit derSchöpfung einer theoretischen Technik, der Erfindung von Theorien,mit denen man so viel Nützliches machen und die Bewunderung derWelt gewinnen kann — können wir echtes Menschentum und Lebenin radikaler Selbstverantwortung nicht trennen und somit auch wissen-schaftliche Selbstverantwortung nicht trennen von dem Ganzen derVerantwortungen des Menschenlebens überhaupt — so müssen wiruns über dieses ganze Leben und diese gesamte Kulturtradition stellenund durch radikale Besinnungen für uns, einzeln und in Gemein-schaft, die letzten Möglichkeiten und Notwendigkeiten suchen, vondenen aus wir zu den Wirklichkeiten urteilend, wertend, handelndStellung nehmen können. Freilich gewinnen wir so nur letztzuver-antwortende Allgemeinheiten, „Prinzipien", wo doch das Leben inEntscheidungen des „Augenblicks" besteht, der für Begründungenin wissenschaftlicher Rationalität nie Zeit hat. Aber wenn Wissen-schaft aus prinzipieller Verantwortlichkeit Entscheidungen getroffenhat, können sie ja dem Leben habituelle Normen als Willens-richtungen einprägen, als vorgezeichnete Formen, innerhalb derendie individuellen Entscheidungen jedenfalls sich halten müssen undsich halten können, soweit sie zu wirklicher Zueignung gekommensind. Für eine Vernunftpraxis kann Theorie a priori nur eine be-grenzende Form sein, sie kann nur Zäune herstellen, deren Über-schreitung Widersinn oder Verirrung besagt. Welche Probleme sich

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6 Edattund ilicusert, (6

da weiter ergeben fair die Selbst- und Menschheitserziehung, das Jeteine Sache für sich und ist übrigens in Allgemeinheit selbst Sacheeiner alle Möglichkeiten und Wahrheiten bedenkenden universalenWissenschaft. Doch darüber haben wir hier nicht weiter zu sprechen,sondern uns nur aus unserer gegenwärtigen Wissenschafts- und Kultur-lage die Notwendigkeit einer radikalen und universalen Besinnungklar zu machen. Diese Besinnungen, auf möglichen Sinn und mög-liche Methode echter Wissenschaft überhaupt gehend, sind natürlichin erster Linie auf das allen möglichen Wissenschaften wesensmäßigGemeinsame gerichtet. In zweiter Linie hätten ihnen entsprechendeBesinnungen für besondere Wissenschaftsgruppen und Einzelwissen-schaften zu folgen.

Wissenschaftstheoretische Probleme sind ein Hauptthema derPhilosophie unserer Epoche, und so liegt der Gedanke nahe, dieBesinnungen in Form einer Kritik der zeitgenössischen philo-sophischen Versuche zu führen. Aber das wäre in der verwirrtenLage unserer Philosophie ein völlig hoffnungsloses Unterneh. , woja die philosophische Literatur ins Ungetnessene angeschwollen ist,aber so sehr der Einheitlichkeit der Methode entbehrt, daß es fastso viele Philosophien gibt als Philosophen. Eine universale Besinnungkann, nachdem die Wissenschaftslage in der Tat derjenigen ähnlichgeworden ist, wie sie Desea rtes in seiner Jugendzeit vorfand, denkühnen Weg der Cartesianischen Meditationen versuchen.In einem nicht mehr zu übersteigenden und gerade darum philo-sophisch vorbildlichen Radikalismus wird die Idee echter Wissenschaftaus absoluter Begründung — die alte platonische Idee — ganz ernst-lich erneuert und nach dem an sich ersten Boden gefragt, den alleErkenntnis, und so die der positiven Wissenschaften schon voraus-setzt. Der erste Versuch solcher radikalsten Wissenschaftsbegründung— der des Descartes selbst — mißlang. Der feste Wille, keineErkenntnis gelten zu lassen, es sei denn aus absoluter Rechfertigung,genügt noch nicht zur Verwirklichung; ein absolut gutes Gewissenund so im besonderen ein absolut gutes intellektuelles Gewissen isteine unendliche Idee. Aber selbst ein bestmögliches Gewissen undeine rationale Methode praktischer Approximation an diese Idee istein Thema viel größerer und schwierigerer Meditationen als wieDesc a r t es gemeint hatte. Unvermerkte Vorurteile dirigieren seineMeditationen, so daß sie, als Ganzes angesehen, schon für die Zeit-genossen der überzeugungskraft entbehrten. So gewaltige Wirkung seinRückgang auf das ego cogito für die ganze . neuzeitliche Philosophieübte, der Stil dieser Meditationen, von der absoluten erkennenden

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7] Formale und transzendentale Logik. 7

Subjektivität her eine absolute Begründung der Wissenschaften inihrer Alleinheit, oder was für ihn dasselbe ist, eine absolute Be-gründung der Philosophie zu unternehmen, ist — bis zur transzenden-talen Phänomenologie hin') — nie wieder aufgenommen worden.

Es sind noch andere Wege auf das Radikale gerichteter Be-sinnungen möglich, und einen, gerade durch die historische Rück-beziehung der Idee echter Wissenschaft auf die Logik als ihre Norm,nahegelegten versucht die vorliegende Schrift wenigstens in Haupt-stücken zu bahnen.

Die Logik, die im Ringen der Platonischen Dialektik ihrenUrsprung nimmt, kristallisiert in sich schon mit der Arist o-t elischen Analytik eine festgeformte systematische Theorie ab, dieden Jahrtausenden fast ebenso trotzt, wie die Geometrie Euklid s.Es braucht hier nicht an das bekannte Urteil Kants erinnert zuwerden, das in der Bewertung der Vollendung dieser Logik viel zuweit geht; aber jeder Blick auf die philosophische Weltliteratur undselbst auf das Durcheinander der modernen logischen Versuche zeigt,daß die „formale Logik" eine unüberwindliche Kraft hat. Selbstdurch so weit voneinander abweichende Darstellungen, ja entstellendeKarrikaturen setzt sie sich mit einem wesentlich identischen Kern-gehalt als ein unverlierbarer Bestand durch. Diese formale Logik,mochte auch der spezifische Sinn des Formalen unabgehoben bleiben,war dem Sinne nach der erste historische Anschlag einer allgemeinenWissenschaftslehre, einer auf die Wesensbedingungen möglicherWissenschaft überhaupt bezogenen Theorie. Freilich hält sie sichin einer naturgemäßen, ja sogar in Wesensgründen wurzelnden Ein-seitigkeit, während ein anderseitiges wissenschaftstheoretisches Aprioriwohl immer berührt wurde, aber nach seinen, dem natürlichen Denkenverborgenen Tiefen jahrtausendelang einer systematisch theoretischenArbeit unzugänglich blieb, ja nicht einmal in ihre Sichtweite tritt.

Halten wir uns aber an das, was eben dank dieser, natürlichmotivierten, Einseitigkeit als feste geistige Gestalt in unsere Erfahrungtritt also an den, in den verschiedenen zeitweiligen Zueignungs-formen und Weisen der Deutung doch immer sichtlich und festbleibenden Kern von Theorien, so können wir den Versuchwagen, seinen wissenschaftstheoretischen Sinn schrittweise auszulegen,indem wir dabei beständig unseren Blick richten auf die Entwürfe

1) Vgl. meine „Ideen", sowie die neue im Herbst erscheinende Schrift„Cartesianisehe Meditationen, eine Einleitung in die transzendentale Phäno-menologie" (Halle a. S., M. Niemeyer).

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alter und neuer positiver Wissenschaften, auf welche dieser Sinn inalten und neuen Zeiten zurückbezogen war und noch ist. Die Wiseen-schaften setzen wir also voraus, wie die Logik selbst, auf Grund dersie vorgebenden „Erfahrung". Insofern scheint unser Vorgehen garnicht radikal zu sein; da doch der echte Sinn von Wissenschaftenüberhaupt — oder was dasselbe, die Wesensmöglichkeit ihres Seinsals echte und nicht bloß vermeintliche Wissenschaften — gerade inFrage ist. Und dasselbe gilt fiir die Logik selbst, die Wissenschaftvon der Wissenschaft überhaupt sein und in ihren Theorien ebendiese Wesenemöglichkeit herausstellen, bzw. als historisch vorliegendeangeblich herausgestellt haben soll. Indessen ob echt oder nicht, wirhaben Erfahrung von Wissenschaften und Logik als uns vorgegebenenKulturgestalten, die in sich ihre Meinung, ihren „Sinn" tragen, dasie ja praktische Gebilde der sie aufbauenden Wissenschaftler undGenerationen von Wissenschaftlern sind. Als das haben sie einenZwecksinn, auf den da beständig hinanagestrebt, hinausgewollt ist.Mit den Wissenschaftlern in Einfühlungsgemeinschaft stehend odertretend, können wir nachverstehen — und uns selbst „besinnen".

Besinnung besagt nichts anderes als Versuch der wirklichenHerstellung des Sinnes „selbst", der in der bloßen Meinung gemeinter,vorausgesetzter ist; oder den Versuch, den „intendierenden Sinn"(wie es in den Logischen Untersuchungen hieß) '), den im unklarenAbzielen „vage vorschwebenden" in den erfüllten Sinn, den klarenüberzuführen, ihm also die Evidenz der klaren Möglichkeit zu ver-schaffen. Eben diese Möglichkeit ist Echtheit des Sinnes, also Zieldes besinnlichen Suchens und Findens. Besinnung, können wir auchsagen, ist radikal verstandene ursprüngliche Sinnes a us-I eg un g, die Sinn im Modus unklarer Meinung in Sinn im Modusder Klarheitsfülle oder Wesensmöglichkeit überführt und zunächstüberzuführen strebt.

Danach können wir uns zu Zwecken radikaler Besinnung vonder einfühlungsmäßigen Erfahrung der Wissenschaften leiten lassen,indem wir sie als Leistungsgebilde nehmen, durch die hindurch Ein-heit einer abzielenden „Meinung" geht. Desgleichen können wir unsleiten lassen von ebensolcher Erfahrung der traditionellen Logik inihrer Beziehung auf die erfahrungsmäßig gegebenen Wissenschaften.Unser Absehen geht dabei in erster Linie auf den echten Sinneiner Logik als Wissenschaftstheorie, deren Aufgabeselbst es sein müßte, den echten Sinn von Wissenschaft überhaupt

1) Log. Unters., 2. Aufl., II. Band, I. Teil, 50 f.

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9) Fiesnale und trimmendentale Logik. 9

klarzulegen und in der Klarheit theoretisch zu explizieren. Was wirvorweg im Erfahrungsblick haben, ist jener „Kern" formaler Logik,und im korrelativen Blick auf die vorgegebenen Wissenschaften, dasan ihnen, was diese Logik — vermeintlich — als Wesensmöglichkeitund Norm faßt. Von da aus geht die Besinnung zunächst in der mitdieser Rückbeziehung und Blickrichtung bedingten Einseitigkeitvor sich, die den spezifischen Sinn der traditionellen Logik alswesentlich „objektiver" bestimmt.

Radikale Besinnung ist eo ipso zugleich Kritik, die ursprüng-licher Klärung dient. Diese Klärung hat hier den Charakter einerneuen Sinngestaltung und nicht den einer bloßen Ausfüllung einervorweg schon bestimmten und gegliederten Vorzeichnung. Eine derartganz bestimmte Sinnesvorzeichnung ist ja überall und wesensmäßignur möglich als eine sekundäre Folge einer schon gewonnenen Klar-heit. Ist deren lebendige Evidenz verflossen, so verbleibt ihre habi-tuelle Leistung, mit der Möglichkeit einer zunächst leeren Restitution,die dann in der Leergestalt die bestimmte Sinnesvorzeichnung ent-hält. Diese führt dann die Gewißheit möglicher klarer Restitutionals Wiederholung der Evidenz mit sich. Ist, wie für uns, dieser Fallnicht in Frage, so bedeutet ursprüngliche Besinnung ineins Näher-bestimmung der bloß vage unbestimmten Vorzeichnung, Abhebungder aus assoziativen Überschiebungen herstammenden Vorurteile, undDurchstreichung der mit der besinnlichen Erfüllung streitenden; alsomit einem Wort Kritik der Echtheit und Unechtheit.

Dies zur allgemeinsten Charakteristik der in dieser Schriftversuchten Zielstellung und befolgten Methode. Es ist also eineintentionale Explikation des eigentlichen Sinnesder formalen Logik. Sie geht aus von den theoretischenGebilden, die uns in der überschau die historische Erfahrung andie Hand gibt, also von dem, was ihren traditionellen objektivenGehalt ausmacht, und versetzt sie zurück in die lebendige In-tention der Logike r, aus der sie als Sinngebilde entsprangen.Und was davon untrennbar ist, sie geht zurück auf die Intentionalitätder Wissenschaftler, aus denen die objektiven Bestände kon-kreter wissenschaftlicher Theorie entsprangen — da ja der Logikersich nach den vorgegebenen Wissenschaften orientiert. Die in jedemwirklichen Nachverstehen sich verlebendigende Intentionalität wirdbefragt, worauf sie eigentlich hinauswill. Die besinnliche Auslegungals kritische Klärung muß die Antwort geben.

In der systematischen Ausführung werden wir ganz primitiv an-fangen und nicht gleich mit der Betrachtung der vorgegebenen Logik;

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vielmehr werden wir die ersten allgemeinen Unterscheidungen an dieWortbedeutungen von Logos anknüpfen und an die Frage, wieferndadurch theoretische Themen bezeichnet sein können. Durch solche"vorbereitende Betrachtungen" gewinnen wir ein Vorverständnisdessen, worauf die historische Logik ihr thematisches Interesserichtet; somit die Blickrichtung für unsere weiteren Sinnesanalysen.

Sie führen im L Abschnitt zunächst auf eine in meinen„Logischen Untersuchungen" noch nicht vollständig erkannteDreischichtung der formal-logischen Grundbegriff-lichkeit und damit der logischen Disziplinen, die nicht nur fürdas wirkliche Verständnis des echten Sinnes der Logik ah einerbesonderen Wissenschaft sondern für die ganze Philosophie vongrößter Bedeutung ist. Die begründenden Untersuchungen ah not-wendig auf die noctische Intentionalität zurückgehende — da ja dielogischen Gebilde aus kategorialer Aktivität entspringen — sindsubjektiv gerichtet. Oh tde ah psychologische anzusprechen und wieimmer sie an charakterisieren sind, das ist bei ihrer zueids« hießdienenden Bedeutung ganz außer Frage.

Im Zusammenhang mit der nachgewiesenen Dreischichtungstehen aber weitere große Probleme. Sie betreffen eine radikaleKlärung des Verhältnisses von formaler Logik undformaler Mathematik und die tiefere (schon in meinenLogischen Untersuchungen in einer ersten Stufe vollzogene) Recht-fertigung aer untrennbaren Einheit beider in der Idee einer f o r -malen muhedu uniuersalis. Hierbei aber ergibt sich als wesentlicherFortschritt die endliche und, wie ich hoffe, endgültige Klärungdes Sinnes der puren formalen Mathematik (die formaleSyllogistik in einer entsprechenden Reinigung eingeschlossen), den siein der herrschenden Intention der Mathematiker hat, nämlich alseiner reinen Analytik der Widerspruchslosigkeit,der der Wahrheitsbegriff außerthematisch bleibt.

Wieder steht im Zusammenhang damit der echte Sinn einerformal en Ontologie, deren Begriff in den Logischen Unter-suchungen eingeführt worden war innerhalb der grundwesentlichenScheidung zwischen formaler und materialer (sachhaltiger) Ontologie,bzw. zwischen den Reichen eines "analytischen" und „synthetischen"(materialen) Apriori.

Es will mir scheinen, daß diese im L Abschnitt durchgeführtenSinnesklärungen den Philosophen von dauerndem Nutzen seinmüßten, wie denn die genannten Probleme mich durch Jahrzehntebeunruhigt und viel beschäftigt haben.

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11] Formale und transzendentale Logik. 11

Für diejenigen, die an meinen diesbezüglichen näheren Dar-stellungen Interessen nehmen, möchte ich noch bemerken, daß meinursprüngliches Leitproblem für die Sinnbestimmung und Abscheidungeiner puren Logik der „Widerspruehslosigkeit" ein Evidenzproblemwar, nämlich das der Evidenz der formal-mathematischenWissenschaften. Es fiel mir auf, daß die Evidenz der formalmathematischen Wahrheiten (auch der syllogistischen) eine ganzandere sei als die sonstiger apriorischer Wahrheiten, nämlich, daß siekeiner konkreten exemplarischen Anschauung von irgendwelchenGegenständen und Sachverhalten bedürfen, auf die sie sich, obschonin leer-formaler Allgemeinheit doch beziehen. Schien es selbst-verständlich, daß eine Wissenschaft, die sich in dieser Allgemeinheitauf alles und jedes, auf alles Mögliche, Erdenkliche bezieht, denNamen einer formalen Ontologie verdiene, so mußte, wenn sie daswirklich sein sollte, die Möglichkeit von Gegenständlichkeitenihres Umfange durch Anschauung begründet sein. Es ist jetzt leichtvon der im I. Abschnitt begründeten Abscheidung einer puren „Logikder Konsequenz" oder „Widerspruchslosigkeit" her diese Frage ent-scheidend zu beantworten, obschon die im Text durchgeführtenUntersuchungen selbst nicht an diese Fragestellung anknüpfen.

Im II. Abschnitt dieser Schrift wird das S n b jek tiv -Lo gi sehezum Hauptthema, und zwar immer im Zusammenhang der fort-gehenden Besinnungen über eine formale Logik als eine Wissenschafts-lehre. Es wird der natürliche Weg von formaler zu transzendentalerLogik gezeichnet. Das Gespenst des Psychologismus taucht gleichanfangs auf, und der besondere Sinn des vielberedeten Kampfes gegenden Psychologismus im I. Band der Logischen Untersuchungen wirdzunächst von neuem und in Verschärfung geklärt, womit zugleich dererst viel später gegebenen Klärung des „transzendentalen Psycho-logismus" wesentlich vorgearbeitet ist. Eine Reihe von Voraus-setz un gen der logischen Erkenntnis, auf die die logische Thematikzurückweist, wird dann enthüllt und dadurch allmählich die Einsichtgeweckt, daß alle subjektiv gerichteten Sinnprobleme,die für Wissenschaft und Logik in Frage sind und in Frage seinmüssen, nicht Probleme der natürlichen menschlichenSubjektivität, also psychologische Probleme sind, sondernProbleme der transzendentalen Subjektivität, und zwarin dem (von mir eingeführten) Sinne der transzendentalenP hä nomenolo gie. In fortgehender Vertiefung eröffnet sich dieEinsicht, daß eine wirklich philosophische Logik, eineWissenschaftslehre, welche die Wesensmöglichkeit echter Wissenschaft

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12 Edmund Finwert

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überhaupt aliseitiger Auslegung bringt, und damit das Werdeneehter Wisse aft leiten katin,aussehließlichim Zusammen-hang einer transzendentalen Phänomenologie er-wachsen k *nm Die historische Logik in ihrer naiven Positivität,in ihrer Weise naiv geradehin evidente Wahrheiten au schöpfen,erweist sich als eine Art philosophischer Kinderei. Eine eigen -s tä ndig ausgebildete Logik der idealen Bedeutungsgebildeist ebenso unphilosophi sch als die positiven Wissenschaftenüberhaupt, sie entbehrt selbst derjenigen Ursprungseehtheit, durchdie sie letzte Seihstverständigung und Selbstrechtfertigung vollziehenkönnte; sie hat also auch keine Normen, um den positiven Wissen-eehaften über ihre Positivität hinauszuhelfen. Das Unph ilo-eophische dieser Po sitivität besteht in nichts anderem alsdarin, daß die Wissenschaften durch Unverständnis ihrer eigenenLeistungen, eh Weher einer ihnen unthematisch bleibenden leistendenIntentionalitit, sind, den echten ihrer Gebiete undder sie fassenden Begriffe zu klären — also im eigen en undletzten Sinne au sagen, welchen Sinn das Seiende hat, von dem siereden, und welche Sinneshorizonte es voraussetzt, von denen sie nichtreden, und die doch den Sinn mitbestimmende sind.

Im Zusammenhang mit der dogmatischen Naivität einer angeb-lich eigenständigen, auf zureichender Evidenz beruhenden formalenLogik steht die Naivität einer äußerlich beigefügten,nachkommenden Erkenntnistheorie, in einer Weise fürsie allgemeine Ursprungs- und Geltungsfragen stellend und angeblichbeantwortend, die an der Absolutheit der Geltung der objektivenLogik nichts mehr ändern könne. Die w a h re Erkenntnis-theorie ist ja die Aufklärung des ”echten - Sinnes der logischen Be-griffe und der Logik selbst — nicht eines vorangehenden und schondaseienden sondern eines durch die Erkenntnistheorie erst zuschaffenden, in den Horizonten seiner Tragweite erst zu durch-forschenden Sinnes; das aber unter Leitung des vordem bloßvermeinten Sinnes. Es ist wie mit den positiven Wissenschaftensonst; sind sie schon historisch da, so sind sie Entwürfe, Ansprücheund als das Leitfäden für transzendentale Forschungen, derenZiel es ist, sie, die Wissenschaften, als echte überhaupt erst zuschaffen.

Durch unsere Untersuchungen wird sich in immer neuen Stufender radikale Mangel der historischen Logik und ins-besondere derjenigen der Neuzeit herausstellen: daß sie den großenAufgaben in keiner Weise genugtun konnte, welche durch die Idee der

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13] Formale und transzendentale Logik. 13

Wissenschaft in subjektive r 11 insicht gestellt sind, nämlich inHinsicht auf das urteilende, erkennende, forschende Denken. DiePsychologie der Erkenntnis seit Locke hat völlig versagt, durchihren widersinnigen Sensualismus — schon als eigentlich psycho-logische Forschung. Aber sie hat, was für eine philosophischeWissenschaftslehre (d. IL eine solche, welche den historisch ursprüng-lichen und allein echten Sinn einer Wissenschaftslehre innehält)von besonderer Wichtigkeit ist, auch aus dein Grunde versagt,weil Lock e und alle späteren psychologisierenden Logiker und Er-kenntnistheoretiker zwischen p sy chologis cher und tra n-sz endentaler Erkenntnisforschung nicht zu scheiden vermochten.Prinzipielle Probleme, die mit der offenbaren Intention auf eineradikale Wissenschaftstheorie, also als spezifisch philosophische auf-traten, wurden auf das Niveau einer anthropologischen Psychologie,und zudem einer empirischen herabgedrückt. Nehmen wir dazu, daßKants transzendentale Erkenntnisforschung in einer Weise nach-wirkte, die aller wirklich und konkret auslegenden Erkenntnisanalysefern blieb, so ergibt sich der gewaltige Mangel der neuzeitlichenobjektiven Wissenschaftslehre, daß sie die tiefste Aufklärung und Be-gründung der Möglichkeit echter Wissenschaften (und damit einer ansich wahren Objektivität selbst) aus der Universalität des in sichselbst objektiven Sinn konstituierenden Bewußtseins nicht einmal alsAufgab e verständlich machen, geschweige denn die Methode derLösung ausbilden und diese selbst in Gang bringen konnte.

Was Wissenschaft als Gebiet vor sich hat, der theoretischenArbeit vorgegeben, ist nach Sinn und Sein Gebiet für die Forschenden(in Einzelheit und Gemeinschaft) aus Quellen ihrer eigenen Bewußt-seinsleistung (wieder der einzelnen und vergemeinschafteten); wasferner als Theorie dieses Gebietes jeweils fertiges Ergebnis gewordenist, ist Ergebnis aus einer ihren ganzen Sinn und auch Wahrheitssinnherstellenden Aktleistung. Eine Theorie kann naiv-geradehin ausEvidenz, aus wiederholter kritischer Bewährung für uns „sein" (eine„wirkliche" Theorie), so gut ein Ding aus Erfahrung und Erfahrungs-bewährung in naiver Selbstverständlichkeit für uns seiende Wirklich-keit ist. Aber darum ist das Für-uns-sein der Theorie nicht transzen-dental verständlich, so wenig als das Für-uns-sein des Dinges in solcherHinsicht verständlich ist — nämlich als aus Quellen der einzelnenSubjektivität und Intersubjektivität konstituiertes, als das, was es füruns, für „jedermann" ist — als das einzige, das für uns Sinn hat.Jeder Sinn, in dem wir Philosophen nach einem Sinn der Welt (derrealen und welcher idealen immer) fragen, setzt die Aufklärung des

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transzendentalen Ursprungs orua und bewegt selbstBoden der transzendentalen Wissenschaft.

Wenn Lo t ze in einem berühmten Worte es als die hüelaste Er-kenntnisaufgabe bezeichnete, den Weltlauf nicht nur zu berechnen,sondern ihn zu verstehen, so mü, n wir uns dieses Wort nustetismutaudis auch für die Logik, für das Reich der logischen Gebildezueignen, nämlich in dem Sinne, daß es damit nicht sein Bewendenhaben kann, daß die Logik in der Weise der positiven Wissenschaftenobjektive Theorien methodisch gestalte, und die Formen miiglieherechter Theorie auf Prinzipien und Normen bringe. Wir müssen unsüber die Selbstvergessenheit des Theoretikers erheben, der imtheoretischen Leisten den Sachen, den Theorien und Methoden hin-gegeben, von der Innerlichkeit seines Leistens nichts weiß, der inihnen lebt, aber dieses leistende Leben seihet nicht im thematischenBlick hat. Nur durch eine prinzipielle Klärung, die in die Tiefen derErkenntnis und Theorie leistenden Innerlichkeit, der trans sen d en-t a le n Innerlichkeit, hinabsteigt, wird, was als echte Theorie undechte Wissenschaft geleistet ist, verständlich. Nur dadurch wird aberauch der wahre Sinn jenes Seins verständlich, den die Wissenschaftals wahres Sein, als wahre Natur, als wahre Geisteswelt in ihrenTheorien herausarbeiten wollte. Also nur eine im phän om en o-logischen Sinne transzendental aufgeklärte und ge-rechtfertigte Wissenschaft kann letzte Wissenschaftsein, nur eine transzendental-phänonzenologiach auf-geklärte Welt kann letztverstandeue Welt sein, nureine transzendentale Logik kann eine letzte Wissen-schaftslehre, eine letzte, tiefste und universalstePrinzipien- und Normenlehre aller Wissenschaftensein.

Fassen wir die Idee der Logik also wieder so groß, so weitherzig,wie sie ihrer ursprünglichen Intention nach gefaßt sein will, undbeseelen wir sie mit dem transzendentalen Geist, dann werden wirsagen müssen: Was den modernen Wissenschaften fehlt, ist die wahreLogik, die alle im weitesten und doch prinzipiell einheitlichen Sinnwissenschaftstheoretischen Probleme und Disziplinen befaßt, eineLogik, die als transzendentale den Wissenschaften mit einer tiefstenSelbsterkenntnis der Erkenntnis voranleuchtet und sie in allem Tunverständlich macht. Diese Logik will also nicht eine bloße reine undformale Logik, weitest gefaßt im Leibniz schen Sinne eine rnathesisuniversalis sein, eine logische Idealwissenechaft und doch nur eine„positive" Wissenschaft. Andererseits will sie erst recht nicht eine

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bloß empirische Technologie sein für eine Sorte praktisch höchstnützlicher Geistesleistungen, die man Wissenschaft nennt, eine Tech-nologie, die man an den praktischen Erfolgen empirisch orientiert.Sondern als höchste Funktion des sich auswirkenden rein theore-tischen Interesses will sie das System der transzendentalen Prinzipienherausstellen, das Wissenschaften den möglichen Sinn als echtenWissenschaften gibt.

Wie sehr den Wissenschaften eine solche Logik nottut, bzw. wiewenig sie befähigt sind, in der naiven Positivität als selbstgenug-sameWissenschaften aufzutreten und in solcher Selbstgenugsamkeit zuverharren, das zeigt der in keiner noch so exakten Wissenschaftfehlende Streit um den wahren Sinn ihrer Grundbegriffe. Er ist einSymptom dafür, daß sie in Wahrheit über ihren eigenen Sinn durchausim Unklaren sind. Aber freilich erst die transzendentale Logik läßtes ganz verstehen, daß die positiven Wissenschaften nur eine relative,einseitige Rationalität zustande bringen können, die eine völlige Irra-tionalität nach notwendigen Gegenseiten übrig läßt, und daß durcheine bloße systematische Verknüpfung aller einzelnen Wissenschafteneine universale Seinserkenntnis im höchsten Sinne niemals erwachsenkann, wie es die alte Philosophie ursprünglich erstrebte.

Soviel über den Sinn der im weiteren zur Darstellung kommendenUntersuchungen. Es liegt in der Natur der Sache, daß die des I. Ab-schnittes eine gewisse Vollständigkeit und Geschlossenheit haben, diedem zweiten, mehr anregenden als letztlich ausführenden Abschnittabgehen mußte. Denn in ihm werden wir in die ungeheuren Weitender intentionaIen Phänomenologie hineingezogen, die auch nach demschon von ihr Vorliegenden keineswegs Gemeingut ist. Zudem bereiteich eine Darstellung einer Reihe sehr umfassender, auf viele Jahrezurückgehender Untersuchungen vor, welche diejenigen der formalenWissenschaftslehre durch die ganz anders gearteten einer materialenzu ergänzen bestimmt sind — wie anderseits von vorzeichnenden undkonkret fundamentierenden Untersuchungen, welche neben demoben geschilderten ersten Weg radikaler Besinnung, sozusagen demCartesianischen, die sonst möglichen Wege systematisch vorzubereitenund durchzuführen versuchen.

Schließlich sei noch an dieser Stelle und mit warmem Danke der werktätigenMithilfe des Herrn Dr. Ludwig Landgrebe gedacht (der für solche Zwecke durchdie Munifizenz der deutschen Notgemeinschaft mit einem Stipendium ausgestattetwurde). Unermüdlich stand er mir hei der literarischen Fertigstellung dieser

Schrift zur Seite.

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EREFFENDE BEFRACHTUNGEN.

§ I. Ausgang von den Bedeutungen des Wortes Logos: Reden,Denken, Gedachtes.

Das Wort Logos, von dein der Name Logik abgeleitet ist, hat einegroße Vielheit von Bedeutungen, die durch wohlverständliche Über-tragungen aus den ursprünglicheren Bedeutungen von ÄlTers ent-sprungen sind, also den Bedeutungen „zusammenlegen", "darlegen",dann mittelst des Wortes, der Rede darlegen.

I. In der entwickelten Sprache heißt .tiroe bald Wort und Redeselbst, bald das, wovon die Rede ist, der in Rede stehende Sack-verhal t, dann aber auch der vom Redenden zu Zwecken der Mit-teilung oder auch für sich selbst erzeugte Satzgedanke, also sozusagender geistige Sinn des sprachlichen Behauptungsatzes, das, was mitdem Ausdruck gemeint ist. Weiter weist Logos in manchen Wen-dungen hin auch auf den geistigen Akt selbst, das Aussagen, Be-haupten, oder sonstige Denken, in dem solch ein Sinngehalt in betreffder jeweiligen Gegenstände oder Sachverhalte erzeugt wird.

2. Alle diese Bedeutungen des Wortes Logos nehmen aber, ins-besondere dort, wo wissenschaftliches Interesse im Spiele ist, einenprägnanten Sinn dadurch an, daß in sie die Idee einer Vernunft-norm eintritt. Logos heißt dann bald Vernunft selbst, als Ver-mögen, dann aber vernünftiges, nämlich einsichtiges oder auf ein-sichtige Wahrheit gerichtetes Denken. Logos heißt auch spezieller dasVermögen, rechtmäßige Begriffe zu bilden, und heißt auch diesevernünftige Begriffsbildung sowie dieser richtige Begriff selbst.

Nehmen wir nun diese Mannigfaltigkeit sichtlich zusammen-gehöriger Bedeutungen des Wortes Logos als Leitung für die Bildungder ersten Vorstellung einer Wissenschaft vom Logos, so eröffnen sichdamit reiche und zusammenhängende Themata für eine theoretischeForschung und normative Verwendung. Dabei ist ein natürlicherForschungsgang leicht zu finden.

Knüpfen wir an die zweite Bedeutungsgruppe an, so führt unsdas Thema der Vernunft als Vermögen richtigen und einsichtig zurechtfertigenden Denkens, und speziell als wissenschaftlichen, über

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17] Formale und transzendentale Logik. 17

die allgemeine Frage, wie die vorübergehenden Akte eines Ich ent-sprechende habituelle Vermögen begründen, alsbald auf die Frage,was für Akte die hier fraglichen "vernünftigen" Denkakte sind. Bevornun aber das Spezifische dieser Vernünftigkeit zur Erwägung kommenkann, muß natürlich das Spezifische des Denkens selbst zum Themawerden, v o r aller Unterscheidung von Vernünftigem und Un-vernünftigem.

Geleitet werden wir durch den Sinn der Rede von Logos vor-wiegend auf behauptendes, im gewöhnlichen Wortsinn urteilendesDenken, bzw. auf Urteile als Gedanken. Das aber umspannt nichtalles „Denken" überhaupt, raindest bei dem weitest zu fassendem Sinndieses Wortes. Also kommen wir auf Denken im weitestenSinne als das vorerst zu Erwägende zurück. Da nun das menschlicheDenken sieh normalerweise sprachlich vollzieht und alle Betätigungender Vernunft so gut wie ganz an die Rede gebunden sind, da alleKritik, aus der das vernünftig Wahre hervorgehen soll, als inter-subjektive Kritik sich der Sprache bedient, im Ergebnis immer zuAussagen führt, so kommen zunächst nicht bloße Denkakte und Ge-danken in Frage, sondern vor allem Aussagen, ausgesagte Gedanken.Wir werden damit auf die erste Gruppe von Bedeutungen des WortesLogos zurückgeführt. Danach betreffen die auszufiihrenden For-schungen drei Titel: Reden, Denken, Gedachte s. Natürlichmüssen dann auch die ihnen -entsprechenden Vermögen thematischwerden, das Vermögen des Redens, mit dem Reden in eins zu denkenund sich denkend auf ein Gedachtes zu beziehen.

§ 2. Die Idealität des Sprachlichen. Ausschaltung der zugehörigenProbleme.

Die drei aufgestellten Titel sind aber noch sehr vielfältig, siebedürfen weiterer Unterscheidung und, vermöge der fließenden Un-klarheit der gebrauchten Worte, der Klärung. Fürs Erste bemerkenwir für den Titel Re d e, daß wir hier eine gewisse Unterscheidungnicht übersehen dürfen. Das ausgesprochene Wort, die aktuellgeredete Rede, genommen als ein sinnliches, speziell als ein akustischesPhänomen, unterscheiden wir doch von dem Worte und Aussagesatzeselbst oder der eine größere Rede ausmachenden Satzfolge selbst.Nicht umsonst sprechen wir — im Falle, daß wir nicht verstandenworden sind und wiederholen, — eben von einer Wiederholung d er-selben Worte und Sätze. In einer Abhandlung, in einem Roman istjedes Wort, jeder Satz ein Einmaliges, das sich nicht vervielfältigt

Husserl, Jahrbuch f. Philosophie. X. 2

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Iß u4 fluestel. [Iß

durch ein wiederholtes, erläuterndes oder stilles Dabei kommtes auch nicht darauf au, wer immer da vorliest: wobei jeder seineStimme hat, seine Klangfarben usw. Die Abhandlung selbst (und jetztnur grammatisch nach dem Wort- und Sprachbestand genommen)unterscheiden wir nicht nur von den. Mannigfaltigkeiten dererläuternden Reproduktion, sondern auch ebenso von den Mannig-faltigkeiten der bleibenden Dokumentierungen durch Papier undDruck oder durch Pergament und Tintenschrift usw. Der eine, einzigesprachliche Bestand ist tausendfach reproduziert, etwa in Buchform;wir sprechen geradezu von demselben Buch, mit demselben Roman,derselben Abhandlung, und zwar gilt diese Selbigkeit schon in reinsprachlicher Hinsicht, während sie in anderer Weise wiederumgilt in reiner Herauslösung des Bedeutungsgehaltes, den wir alsbaldin Rechnung ziehen werden.

Die Sprache als ein in einer Volksgemeinschaft erwachsendes,sich umbildendes, in der Weise der Tradition verharrendes Systemvon habituellen Zeichen, mit denen sieh im Gegensatz zu anderenArten von Zeichen ein Ausdrücken von Gedanken vollzieht, bietetüberhaupt ihre eigenen Probleme. Eines davon ist die uns soebenentgegengetretene Idealität der Sprache, die völlig übersehenzu werden pflegt. Wir können sie auch so charakterisieren: dieSprache hat die Objektivität der Gegenständlich-keiten der sogenannten geistigen Welt oder Kultur-welt und nicht die der bloßen physischen Natur. Alsobjektives geistiges Gebilde hat die Sprache dieselben Eigenschaftenwie geistige Gebilde sonst: so scheiden wir ja auch von den tausendenReproduktionen eines Stichs den Stich selbst, und dieser Stich, dasgestochene Bild selbst, wird aus jeder Reproduktion herausgeschautund ist in jeder in gleicher Weise als ein identisches Ideales gegeben.Anderseits nur in der Form der Reproduktion hat er Dasein in derrealen Welt. Ebenso wenn wir von der Kreutzer-Sonate sprechengegenüber ihren beliebigen Reproduktionen. So sehr sie selbst ausTönen besteht, ist sie eine ideale Einheit und ihre Töne sind es nichtminder. Sie sind nicht etwa die physikalischen Töne oder auch dieTöne der sinnlichen akustischen Wahrnehmung, die sinnen-dinglichenTöne, die eben nur in einer wirklichen Reproduktion und ihrem An-schauen real vorhanden sind. Wie die eine Sonate sich in den realenReproduktionen vielfältig reproduziert, so reproduziert sich jedereinzelne Ton der Sonate vielfältig in den entsprechenden Tönen derReproduktion. Wie das Ganze, so ist sein Teil ein Ideales, das nur inder Weise realer Vereinzelung zum Realen hic et raune wird. Ebenso

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verhält es sich nun mit allen sprachlichen Gebilden, und zwar ist dieseIdealität nicht nur eine solche des in ihnen Ausgedrückten — einewie große Rolle dieses auch mitspielen mag. Denn sicherlich betreffenunsere Feststellungen die sprachlichen Gebilde auch als sinnerfüllteReden, als konkrete Einheiten von sprachlichem Leib und aus-gedrücktem Sinn. Aber sie betreffen sie schon hinsichtlich der sprach-lichen Leiblichkeit selbst, die sozusagen eine geistige Leiblich-keit ist. Das Wort selbst, der grammatische Satz selbst ist eine idealeEinheit, die sich mit ihren tausendfältigen Reproduktionen nichtvervielfältigt.

Die prinzipielle Erörterung der großen Probleme, welche dieKlärung des Sinnes und der Konstitution der Objektivitäten derGeisteswelt nach allen ihren Grundgestalten und darunter die Sprachebetreffen, bildet ein Reich für sich. Hier ist nur zu bemerken, daß dieSprache für den Logiker in erster Linie nur in ihrer Idealität, als dasgegenüber den wirklichen oder möglichen Realisierungen identischegrammatische Wort, als identischer grammatischer Satz und Satz-zusammenhang in Frage kommt: ganz ähnlich wie das Thema desÄsthetikers das jeweilige Kunstwerk, die jeweilige Sonate, dasjeweilige Bild nicht als der vorübergehende physische Tonkomplexoder als das physische Bildding ist, sondern eben das Bild selbst,die Sonate selbst — der eigentlich ästhetische Gegenstand, wie imparallelen Falle der eigentlich grammatische.

Diese ganze Problemgruppe werden wir in den weiteren Unter-suchungen außer Betracht lassen, was sich aus ihrem eigenen Inhaltund Zusammenhang hinreichend rechtfertigen wird.

§ 3. Sprache als Ausdruck des „Denkens". Denken im weitestenSinn als sinnkonstituierendes Erlebnis.

Wir betrachten nun den zweiten der genannten Titel: dasDenken, ein Wort, dessen Sinn aus der so oft genannten Verbindung„die Sprache und das Denken" entnommen werden muß. Dann hatdas Wort einen ungeheuer weiten Sinn, der, wie es fast scheinenmöchte, das gesamte Seelenleben des Menschen umspannt: denn manpflegt ja auch zu sagen, „in der Sprache drücke der Mensch seinSeelenleben aus". Doch müssen wir hier vorsichtiger sein. Nichtalles Seelenleben „drückt" der Mensch wirklich in der Sprache ausund kann er je durch sie ausdrücken. Wenn die häufige Rede anderslautet, so kommt dies von der Vieldeutigkeit der Rede vom „Aus-drücken" und der mangelhaften Klärung der hier bestehenden Ver-

2*

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20 Ednaund Husserl, [20

hiltnisse. Vorweg können wir diese Rede vom „Ausdrücken" dadurchbegrenzen, daß wir darauf achten, daß mit jedem Worte und mit jederzur Einheit einer Rede zusammengeordneten Wortverbindung etwasgemeint ist. Genauer gesagt, wo die Rede in natürlicher Funktionverläuft, wirklich als Rede, in der „das und das ausgesprochen ist",da ist die praktische Intention des Sprechenden offenbar nicht letztlichauf die bloßen Worte gerichtet, sondern „durch" die Worte auf derenBedeutung; die Worte tragen signitive Intentionen, sie dienen alsBrücken, um zu den Bedeutungen, zu dem „mit" ihnen Gemeintenüberzuleiten. Das gilt, wo immer die Rede normal fungierende undüberhaupt wirkliche Rede ist. Ein Papagei redet in Wahrheit natür-lich nicht. Wir schließen jetzt auch die lügende Rede aus., die anderesmeint, als was sie sagt. Der Einheit der Rede entspricht eineEinheit der Meinung, und den sprachlichen Gliederungen undFormen der Rede entsprechen Gliederungen und Formungen derMeinung. Diese aber liegt nicht äußerlich neben den Worten; sondernredend vollziehend wir fortlaufend ein inneres, sich mit Worten ver-schmelzendes, sie gleichsam beseelendes Meinen. Der Erfolg dieserBeseelung ist, daß die Worte und die ganzen Reden in sich eineMeinung gleichsam verleibliehen und verleiblicht in sich alsSinn tragen 1)

Wir brauchen nicht weiter zu gehen und können als vorläufigenersten und weitesten Begriff von Denken den begrenzen,der alle die seelischen Erlebnisse umspannen soll, in denen diesesMeinen besteht; dieses Meinen, worin für das redende Subjekt(bzw. parallel für das hörend verstehende Subjekt) eben dieMeinung, also die Bedeutung, der Sinn, konstituiert ist, der sichin der Rede ausdrückt. Sprechen wir z. B. ein Urteil aus, BO habenwir in eins mit den Worten der behauptenden Aussage eben Einheitdes Urteilens, des innerlich „denkenden" Behauptens vollzogen.Welche psychischen Leistungen immer und sonst noch vollzogen seinmögen, damit die Worte selbst zustande kommen, und welche ihreRolle spielen mögen für die den „Ausdruck" erzeugende Ver-schmelzung; wir achten nur auf das Angeschmolzene, auf die Aktedes Urteilens, die als sinngebende fungieren, also die in sich dieUrteilsmeinung tragen, die in dem Behauptungssatz ihren Ausdruckfindet. Außer Betracht bleiben die zu den Worten, wie zu allenZeichen gehörigen Hinweistendenzen, die Phänomene des von

1) Vgl. dazu und zum Folgenden Logische Untersuchungen, UR, Abschnitt I,Ausdruck und Bedeutung.

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von sich weg und in die Meinung Hineindeutens. Außer Betrachtbleiben auch andere sich mitverflechtende psychische Erlebnisse, wiez. B. diejenigen, in denen wir uns an den Mitunterredner wenden, ihmunser Urteil bekunden wollen usw. Aber natürlich nur soweit in derRede nicht selbst der Charakter der Anrede ausgedrückt ist, z. B. inder Form „ich sage Dir. ...".

Was wir am Beispiel der behauptenden Aussage gelernt haben,gilt allgemein. Sprechen wir einen Wunsch aus, wie „Gott stehe mirbei!" so haben wir mit dem gegliederten Erzeugen der Worte ineinsein gewisses, in eben der Wortgliederung sich ausdrückendes Wün-schen, das seinerseits einen parallel gegliederten Gehalt hat. Ebenso,wenn wir einen Befehl, eine Frage aussprechen usw. Soweit gefaßtheißt Denken jedes in dieser Art zur Hauptfunktion des Ausdrucks(eben der, etwas auszudrücken) gehörige Erlebnis während desSprechens, also jedes Erlebnis, in dem sich bewußtseinsmäßig derSinn konstituiert, der zum ausgedrückten werden soll, und wenn eres wird, die Bedeutung des Ausdrucks, insbesondere der jeweiligenRede heißt. Es heißt Denken, möge es ein Urteilen sein oder einWünschen, Wollen, Fragen, Vermuten.

Es ist hier aber nicht die Einstellungsänderung zu übersehen, diees jederzeit ermöglicht, Wünschen und Wunsch, Fragen und Frage usw.statt unmittelbar vielmehr urteilsmäßig-mittelbar zum Ausdruck zubringen, also dadurch, daß eine Urteilssetzung vermittelt, durch diesich z. B. der direkte Wunsch wandelt in eine Urteilsaussage überdiesen Wunsch. Dieser ist nun in dem modifizierten Ausdruck, derdie Vermittlung andeutet, Moment in einem Urteilsausdruck, wiewenn wir statt S möge p sein sagen: ich wünsche, daß S p sein möge.Wichtig wird diese Modifikation, welche die Rede vorn Wunschaus-druck oft zweideutig macht, dadurch, daß das Reich der Urteils-bedeutungen in dieser Vermittlung alle anderen Bedeutungsarten insich aufnimmt, und daß in weiterer Folge die Urteilslogik die Logikaller anderen Bedeutungen in gewisser Weise in sich einzubeziehenvermag. Aber für uns hier ist nicht zu verkennen, daß jene Ein-stellungsänderungen Aussagen ergeben, die nicht mehr im ersten undeigentlichen Sinn die Wünsche, die Fragen, die Vermutungen usw.zum Ausdruck bringen, sondern immer nur Urteile. Aus schlichtenund eigentlichen Wunschaussagen, fragenden Aussagen usw. sindUrteilsaussagen besonderen Sinnes geworden. Mit Rücksicht daraufbleibt es also bei der Vielfältigkeit der Akte, die im eigentlichenSinne zur Ausdrucksfunktion befähigt sind und bei dem nach derAllgemeinheit dieser Funktion orientierten Begriff des „Denkens".

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Edmund Hemd, [22

Damit halten war zugleich die Universalität der Deckung vonSprache und Denken fest, Das bezeichnet jetzt also für uns zwei paralleleReiche, einander entsprechend als Reich möglicher sprachlicher Aus-drücke (Reden) und Reich möglicher Sinne, möglicherweise ausdrück-barer Meinungen. Sie ergeben in ihrer intentional verflochtenenEinheit das zweiseitige Reich der aktuellen und konkreten, der sinn-erfüllten Reden. So ist ja jede Behauptung ineins Rede und aktuelleMeinung, näher Urteilsmeinung, jeder ausgesagte Wunsch ineinsWunschrede und aktueller Wunsch selbst, aktuelle Wunschmeinungusw. Es ist aber bei genauerer Betrachtung sichtbar, daß es sich ummehr als um eine Doppelheit handelt. Es muß zwischen Meinen undMeinung, Urteilen und Urteil, Wünschen und Wunsch usw. scharfunterschieden werden, so daß eigentlich eine Dreirailtigkeit resultiert,worauf auch schon die Unterscheidung von Denken und Gedachtem(Gedanke) hinwies.

§ 4. Das Problem der Weaensumgrenzung des zur Bedeutung.-funktion befähigten „Denkens".

Der weiteste Begriff von Denken hat nicht seine zufällige Um-grenzung als empirischer Umfang von Bewußtseinserlebnissen, die inden Sprachen in eine Bedeutungsfunktion eintreten können. Auchnicht die schon wesentliche, aber noch viel zu weite Umgrenzung, diedarin liegt, daß selbstverständlich nur Psychisches, nur Bewußtseins-erlebnisse sinngebend sein können. Denn nicht alle haben dieseFähigkeit. Erlebnisse ursprünglicher Passivität, fungierende Asso-ziationen, die Bewußtseinserlebnisse, in denen sich das ursprünglicheZeitbewußtsein, die Konstitution der immanenten Zeitlichkeit ab-spielt und dgl., sind dazu unfähig. Es eröffnet sich hier also dasbedeutsame und schwierige Problem einer wesensmäßigenUmgrenzung dieses allgemeinsten „Denkens", einerUmgrenzung, die aus exemplarischen Anschauungen unter Wesens-verallgemeinerung gewonnen eine Wesensgattung ergeben soll, undzwar mit der Einsicht, daß generell für alle Besonderungen dieses„Denkens" Ausdrücke zu bilden sind, für welche sie bedeutungs-gebend wären.

Welchen allgemeinen Wesenstypus, so ist die Frage, muß einBewußtseinserlebnis haben, um in Bedeutungsfunktion eintreten zukönnen? Muß es nicht den Typus Ichakt im spezifischen Sinne haben(stellungnehmender Akt) oder einen zu all solchen Akten gehörigenAbwandlungsmodus (sekundäre Passivität, etwa passiv auftauchende.

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23] Formale und transzendentale Logik. 23

Urteil als „Einfall")? Und des weiteren, wie differenziert sich wesens-mäßig der hierbei herauszustellende Wesensbegriff des „Denkens" inseine Artungen? Auf ihre untersuchende Beantwortung können wirhier nicht eingehen. Wir begnügen uns mit dem Hinweis auf die inexemplarischer überschau merkliche Einheit und nehmen denweitesten Begriff von Denken als den Rahmen, in dem sich dasspezifisch Logische abscheiden muß.

§ 5. Vorläufige Umgrenzung der Logik als apriorische Wissen-schaftsIehre.

Wir versuchen eine erste Umgrenzung des Gebietes zu zeichnen,das der Logik zufallen soll, indem wir uns an das Allgemeinste ihresursprünglichen historischen Sinnes halten, der im Ganzen bis inunsere Zeit hinein der leitende war. Es sind sichtlich verschieden-artige Klassen von Bedeutungen und bedeutunggebenden Akten zuunterscheiden, nach denen die konkreten „sinnvollen" Reden sichgruppieren: Aussagen (im speziellen Sinne von behauptenden) alsAusdrücke von Urteilen und ihren Modalitäten, Ausdrücke vonGemütsakten, wie die Wünsche, von Willensakten (wie Befehle).Offenbar hängt mit diesen verschiedenartigen Akten die Unter-scheidung von Vernunftarten zusammen: urteilende (darunter diespezifisch theoretische) Vernunft, wertende und praktische Vernunft.

Wenn wir der inhaltsreichsten und sozusagen potenzierten Be-deutung des Wortes Logos folgen, der der Vernunft und zudem inBevorzugung der wissenschaftlichen Vernunft, so ist damitzugleich ein ausgezeichneter Akt- und Bedeutungskreis umgrenzt alsein solcher, auf den eben die Wissenschaft als Vernunftbetätigungbesonders bezogen ist. Das wissenschaftliche Denken, die beständigeBetätigung des Wissenschaftlers ist urteilendes Denken; nichturteilendes überhaupt, sondern ein in gewissen Weisen geformtes,geordnetes, verknüpftes, und zwar nach Zweckideen der Vernunft.Die dabei erzeugten Gebilde, in der Wissenschaft sprachlich aus-gedrückte und bleibend dukuraentierte Gebilde, haben im spezifischtheoretischen Vernunftsinn „logischen" Zusammenhang, den derTheorie und in höherer Stufe des „Systems". Sie bauen sich in be-stimmten Formen auf, aus Grundsätzen, Lehrsätzen, Schlüssen, Be-weisen usw., sprachlich in vielgliedrigen Reden, die in einer Wissen-schaft alle zusammengehören zur Einheit einer Rede, die innerlichverknüpft ist durch den Vernunftsinn aller Bedeutungen. Vermögeder objektiven Dokumentierung dieser Bedeutungseinheit und ihrer

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24 Edmund Russ [24

Nacherzeugbarkeit für jedermann werden sie zu einem Gemeingut derMenschheit. Eine jede Wissenschaft hat es in ihrer theoretischenArbeit ausschließlich auf "logische" Gebilde abgesehen, Gebilde destheoretischen Logos. In diesem Sinne ist sie selbst eine "Logik".Aber Logik im üblichen Sinne ist die Wissenschaft vorn Logischenüberhaupt, zunächst ini Sinne derartiger Gebilde der urteilenden Ver-nunft überhaupt — anderseits aber auch der Wissenschaft von dieserselbst, also von der urteilenden Subjektivität überhaupt, als solcheGebilde erzeugender.

Die Sprache kommt hier sekundär in Betracht, insofern als mitden primären Zwecken der theoretischen Vernunft, die auf der Be-deutungsseite, in der Erzielung von Wahrheiten liegen, sich in derWissenschaft ein erkenntnis-teelinischer Zweck verbindet, nämlich derder Förderung der Urteilsrerheit durch rine geeignete wissenschaftlicheSprache. Dazu gehört auch eine möglichst haltbare Dokurnentierungder Ergebnisse in der objektiven Kulturwelt.

In unseren weiteren Betrachtungen zur systematischen Klärungder Idee der Logik werden wir uns ausschließlich der Bedeutungsseiteder wissenschaftlichen Reden, also rein der urteilenden Vernunftselbst und ihren Gebilden zuwenden. Daß in dieser das primäre undeigentliche Absehen des Erkennenden liegt, zeigt sich darin, daß zwarals erstes im Bewußtseinsfeld und seinen Abgehobenheiten (imsogenannten Blickfeld der Aufmerksamkeit) die Aussagegebilde auf-treten, daß aber der thematische Blick immerzu nicht auf die Redenals sinnliche Phänomene sondern „durch sie hindurch" auf das Ge-meinte geht. Sie sind nicht thematische Enden sondern thematischeZeiger, hinüberweisend zu den eigentlichen logischen Themen.

Den Begriff der Logik haben wir, ihrer historischen Traditionfolgend, als Wissenschaft vom Logos in einein prägnanten Sinnegefaßt: als Wissenschaft vom Logos in Form der Wissenschaft, oderals Wissenschaft von den Wesensstücken, die echte Wissenschaft alssolche ausmachen. Wir hätten aber den Begriff einer Wissenschaftvom Logos von vornherein in der weiteren Allgemeinheit belassen,bzw. ihn fassen können als Wissenschaft, die in prinzipieller All-gemeinheit das urteilende Denken überhaupt und dessen Gebildeerforscht; darin also beschlossen: das vernünftig urteilende Denkenund dessen Vernunftgebilde (darunter also auch diejenigen der unter-wissenschaftlichen Stufe). Indessen da die w issenseha f tlichurteilende Vernunft in der Weise einer höchsten Stufe alle unterenStufen von Denkleistungen voraussetzt und in konkreter Thematikin sich schließt, so liegt in der Beziehung auf die Wissenschaft, also

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25] Formale und transzendentale Logik. 25

in der Fassung der Logik als Wissenschaftslehre, keine Be-schränkung sondern nur der Vorzug der Hinrichtung des Blickes aufdie oberste Zweckidee der urteilenden Vernunft.

Als prinzipielle Wissenschaftslehre will die Logik „reine",„apriorische" Allgemeinheiten herausstellen. Sie will, wieschon in der Einleitung gesagt wurde, nicht den vorgegebenensogenannten Wissenschaften, den faktisch gewordenen Kulturgestaltendieses Namens, empirisch nachgehen und an ihnen empirische Typenabstrahieren; sondern frei von aller Bindung an die Faktizität, die fürsie nur die Ausgangspunkte exemplarischer Kritik liefert, will sie diein aller Auswirkung eines rein theoretischen Interesses dunkel vor-schwebenden Zweckideen zu vollendeter Klarheit bringen. Immerfortden reinen Möglichkeiten eines erkennenden Lebens überhaupt und inihm erzieIter Erkenntnisgebilde überhaupt nachgehend, will sie dieWesensformen der echten Erkenntnis und Wissenschaft in allen ihrenGrundgestalten zutage bringen und die Wesensvoraussetzungen, an diesie gebunden sind, die Wesensformen der rechten Methoden, die zuihnen hinleiten.

Wir sprachen von echter Erkenntnis, echter Wissenschaft,echter Methode. Die logischen Ideen sind durchaus Ideen der„Echtheit". Das Echte ist das, worauf die Vernunft letztlich hinauswill, selbst in ihrem Verfallsmodus der Unvernunft. Es ist das, was inder Unklarheit und Verworrenheit „verfehlt" wird, während es inder Ziel- und Wegklarheit und den ihr zugehörigen Wesensformenerzielt wird.

§ 6. Der formale Charakter der Logik. Formales und kontingentesApriori.

Die prinzipielle Allgemeinheit der Logik ist nicht nur überhauptapriorische oder Wesensallgemeinheit, sondern f ormal e. Nicht nurdie enge und unklar umsteckte Disziplin, die gewöhnlich formaleLogik heißt, und die an einen besonderen Begriff des Formalen ge-bunden ist — mit dem wir uns viel werden beschäftigen müssen —sondern die Logik überhaupt in ihrem universalen und erst dannphilosophischen Sinne ist, und in allen ihren Disziplinen, „formal".Wir könnten ebensogut sagen: Vernunft selbst und im besonderenauch theoretische Vernunft ist ein Formbegriff.

Zur Kennzeichnung dieses allgemeinsten und höchst wichtigenBegriffes von Form sei folgendes ausgeführt. In gewissem Sinne istjede Wesenserkenntnis ein Gebilde „reiner" Vernunft — rein vonaller Empirie (was von anderer Seite auch das Wort apriori an-

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Edmund Hassart [26

zeigt); aber nicht jede ist in einem zweiten Sinne, dem derprinzipiellen Form, rein. Ein apriorischer Satz über Töneüberhaupt, also in „reiner' Allgemeinheit gedachte, ist nur rein imersten Sinne, er ist., wie wir es aus gewissen Gründen nennen können,ein "kontingentes Apriori. Er hat in dem Eidos Ton einensachhaltigen Kern, der das Reich der im radikaleten Sinne "prin-zipiellee Allgemeinheiten überschreitet und den Satz an das „kon-tingente" Gebiet der ideal möglichen Töne bindet. Die "reine"Vernunft ist nicht nur über alles empirisch Faktischesondern auch über alle hyletisch-sachhaltigen Wesens-sphären erhabe n. Sie ist der Titel für das in sieh geschlosseneSystem reiner Prinzipien, die noch vor allem hyletisch-eachhaltigenApriori und allen damit beschäftigten Wissenschaften vorangehenund anderseits doch sie selbst als Vernunftgebilde — das ist der Formnach — beherrschen.

Um uns den Begriff des kontingenten Apriori niiherzubringen,wird es im Rahmen unserer jetzigen bloß vordentenden Betrachtungengenügen folgendes auszuführen: eine Subjektivität überhaupt (ein-zelne oder kommunikative) ist nur denkbar in einer Wesensform, diewir in ihren sehr vielfältigen Gehalten in fortschreitender Evidenzgewinnen, indem wir unsere eigene konkrete Subjektivität anschaulichenthüllen, und durch freie Abwandlung ihrer Wirklichkeit in Möglich-keiten einer konkreten Subjektivität überhaupt, unseren Blick auf dasdabei erschaubare Invariable, also das Wesensnotwendige richten.Halten wir bei dieser freien Abwandlung von vornherein fest, daß dieSubjektivität immerzu "vernünftige", insbesondere immerzu urteilend-erkennende soll sein und bleiben können, so stoßen wir auf bindendeWesenestrukturen, die unter dem Titel reiner Vernunft stehen und imbesonderen reiner urteilender Vernunft, Zu ihr gehört als Voraus-setzung auch eine beständige und wesensnotwendige Bezogenheit aufirgendwelche hyletischen Bestände, nämlich als apperzeptive Grund-lagen der für das Urteilen notwendig vorauszusetzenden möglichenErfahrungen 1). Bestimmen wir also den Begriff der prinzipiellenForm durch die wesensnotwendigen Bestände einer vernünftigenSubjektivität überhaupt, so ist der Begriff Hyle (durch jedes „Emp-findungsdatum" exemplifiziert) ein Formbegriff, und nicht, was seinKontrast sein soll, ein kontingenter Begriff. Anderseits ist es für eineurteilend-erkennende Subjektivität (und 80 ähnlich für eine ver-

1) Zur Bezogenheit alles Urteilens au! Erfahrung It. unten II. Abschnitt,4. Kapitel, ¢§ 83-87. Zum Begriff der Hyle rgL auch meine „Ideen" S.171 ff.

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27] Formale und transzendentale Logik. 27

nünftige überhaupt) keine Wesensforderung, daß sie gerade Farbenoder Töne, daß sie sinnliche Gefühle gerade der und der Differenzund dgl. muß empfinden können — obschon auch solche Begriffe alsapriorische (von allem Empirisch-faktischen befreite) zu bilden sind.Auch sie haben also ihr Apriori, das aber kontingent und kein Apriorider reinen Vernunft ist, oder wie wir auch durch Hereinziehung einesalten Wortes, das dunkel in dieselbe Richtung hinstrebt, sagen können:kein „eingeborenes" Apriori.

Beschränken wir 11118 auf die urteilende Vernunft, so bezeichnetsie als reine Vernunft, als vollständiges System dieses im prin-zipiellsten Sinne formalen Apriori zugleich das denkbarhöchste und weiteste Thema der Logik, der „Wissenschaftslehre". DieLogik, können wir danach sagen, ist die Selbstauslegung derreinen Vernunf t selbst, oder, ideal gesprochen, die Wissenschaft,in der die reine theoretische Vernunft vollkommene Selbstbesinnungdurchführt und sich in einem Prinzipiensystem vollkommen objekti-viert. Darin ist die reine Vernunft, bzw. die Logik auf sich selbstzurückbezogen, die Selbstauslegung der reinen Vernunft ist selbstrein-vernünftige Betätigung und steht eben unter den Prinzipien, diedabei zur Auslegung kommen.

§ '7. Die normative und die praktische Funktion der Logik.

Selbstverständlich ist die ausgezeichnete normative Funktion derLogik. Jede apriorische Wissenschaft ist zu normativen Funktionenberufen, nämlich in Hinsicht auf die unter ihr stehenden Tatsachen-wissenschaften. Aber universale Norm im höchsten Sinne und in denk-bar größter Universalität ist allein die Logik. Sie normiert aus denPrinzipien der reinen Vernunft selbst und normiert die Vernünftigkeitals solche. An ihren formalen Erkenntnissen ist zu messen, inwieweitprätendierte Wissenschaft der Idee der echten Wissenschaft gemäßist, inwieweit ihre Einzelerkenntnisse echte Erkenntnisse, dieMethoden echte Methoden sind, also Methoden, die ihrer prinzipiellenForm nach den formal allgemeinen Normen der reinen Vernunftgenug tun.

Ineins damit, daß die Logik normative Funktionen übernimmt,tritt sie auch ein in Funktionen praktischer Wissenschaftsgestaltungund ist dann auch einbeziehbar in eine logisch-praktische Technologie,sich ev. mit Empirisch-Anthropologischem verflechtend. Dabei ist siewie als Wissenschaft so auch normativ auf sich selbst zurückbezogen.Das erste, weil sie, wie schon gesagt worden, apriorische Wiesenschaft

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28 und [28

von der Wissenschaft überhaupt ist und zugleich selbst Wissenschaft;das andere, weil sie in ihrer fortschreitenden praktischen Arbeit dieschon gewonnenen Ergebnisse als Nonnen verwerten muß, ev.normativ zurückgehend auf das schon in naiver Evidenz Gestaltete.

Die Logik wird normativ, wird praktisch, sie kann in ent-sprechender Änderung der Einstellung in eine nennativ-technologischeDisziplin umgewendet werden. Aber sie selbst ist an sich nichtnormative Disziplin, sondern eben Wissenschaft im prägnanten Sinne,in dem sich auswirkender rein theoretischer Vernunft — wie alleWissenschaften sonst. Apriorische Wissenschaften, sagten wir, f u n -gieren eo ipso beständig normativ-technologisch, aber sie sinddarum Wissenschaften und nicht Technologien. Die Einstellung de»Technologen (nicht des Technikers, sondern des eine TechnologieEntwerfenden) ist eine wesentlich andere als die des Wissenschaftlers.Sie ist, selbst wenn er auf wissenschaftliche Probleme dabei stößt undsie in technologischem Interesse löst, eine praktische und nicht einetheoretische. Sein Theoretisieren ist hier Mittel für eine (außer.theoretische)Praxis. Es macht keinen wesentlichen Unterschied, daßhier nicht eine individuelle Einzelpraxis in Frage ist, sondern eineallgemeine Art Praxis, die in praktischer Vernunft allgemein er-wogen, geregelt und gefördert werden soll. Ebenso verhält es sich,wenn wir das bloße Normieren, noch vor den Fragen einer ent-sprechenden Neugestaltung der Praxis, für sich nehmen. Das Ziel ist,sich oder anderen in gewisser Weise "praktisch zu nützen und nichtrein theoretische Interessen zu befriedigen.

Freilich ist der Unterschied insofern doch wieder ein relativer,als auch die rein theoretische Betätigung eben Betätigung, also beinaturgemäßer Weite des Begriffes eine Praxis ist, und als solche imuniversalen Zusammenhang praktischer Betätigungen überhaupt unterformalen Regeln der universalen praktischen Vernunft (den ethischenPrinzipien) steht, Regeln mit denen eine science pour seience kaumverträglich sein wird. Aber es bleibt dann der wesentliche Unter-schied bestehen, daß alle Wissenschaften unter der Idee eines insUnendliche sich auswirkenden Interesses der theoretischen Vernunftstehen. Diese Idee ist dabei bezogen gedacht auf die Idee einer insUnendliche fortarbeitenden Forschergemeinschaft, vergemeinschaftetin Hinsicht auf Betätigungen und Habitualitäten der theoretischenVernunft. Es sei hier nur erinnert an das füreinander und miteinanderArbeiten der Forscher unter wechselseitiger Kritik der Ergebnisse,wobei die der einen in der Übernahme Vorarbeiten für die anderensind usw. Ein Leben der Einzelnen und Vielen gemäß dieser Idee

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verträgt sich aber z. B. mit der Oberzeugung, daß alle so in Gemein-schaft gewonnenen theoretischen Ergebnisse, und die unendlicheWissenschaft selbst, übertheoretische Menschheitsfunktion haben; sowie sich auch für den Einzelnen der bleibende wissenschaftlicheBeruf, in der immer nur zeitweiligen Berufsübung verträgt mit seinensonstigen außertheoretischen Zwecken als Familienvater, als Bürgerusw., und sieh ethisch einordnen muß in die oberste praktische Ideeeines universalen ethischen Lebens, des individuell eigenen und dessender offenen Menschengemeinschaft.

§ 8. Die Doppelseitigkeit der Logik; die subjektive und dieobjektive Richtung ihrer Thematik.

Die Logik als Wissenschaft vom Logischen überhaupt und in derobersten, alle anderen Formen des Logischen umspannenden Gestalt,als Wissenschaft von der Wissenschaft überhaupt, ist zweiseitiggerichtet. überall handelt es sich um Vernunftleistungen, und zwarin dem doppelten Sinne der leistenden Tätigkeiten undHa bit ua li täten, anderseits der dadurch geleisteten und hinfortverharrenden Ergebnisse.

In der letzteren Hinsicht sind also das Thema der Logik diemannigfaltigen Formen von Urteils- und Erkenntnisgebilden, die denErkennenden während des Vollzuges ihrer Denktätigkeiten erwachsen,und zwar in der besonderen Weise des „Themas". Die jeweiligen Ge-bilde sind eben das, worauf der Denkende als zu einem bleibendenErwerbe hinaus will, und das ihm zugleich als Mittel dienen soll, umneue solche Erwerbe zu gewinnen. Es ist jeweils nicht nur überhauptetwas geworden, sondern geworden als Abgezieltes der Denkhandlung;in besonderer Weise ist der Denkende darauf „geri cht e t", erhat es "objektiv" vor sich. In ihren höher gebauten Formen über-schreiten diese Gebilde allerdings die jeweilige Sphäre der Bewußt-seinspräsenz. Sie bleiben dabei aber doch Bestandstücke eines sichforterstreckenden, thematisch umspannten „Feldes", eines eigenenReiches praktischer Erzeugnisse, auf die man immer wieder „zurück-kommen", mittels deren man immer wieder neue Gebilde erzeugenkann, Begriffe, Urteile, Schlüsse, Beweise, Theorien. In der Einheiteine r Wissenschaft sind alle solche Gebilde und ist das gesamteFeld der Erzeugnisse, die in der Einheit eines theoretischen Interessesentsprungen sind, alleinheitlich verbunden zu einer uni-versalenTh eo rie, deren systematisch ins Unendliche fortlaufendeAusgestaltung das Gemeinschaftsziel der in offener Gemeinschaft mit-

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einander und füreinander arbeitenden Wissenschaftler ist. Durch siesoll das jeweilige Wissensehafts"gebiet" zur systematischen Erk ennt-nis gebracht werden in einer Alleinheit von Erkenntnisgebilden,genannt theoretische Wahrheiten, die sich aufeinander bauen zurEinheitsform eines Wahrheitssystems.

AU dieses Objektive hat nicht nur das flüchtige Dasein des imthematischen Feld als aktuelle Bildung Auftretenden und Ver-gehenden. Es hat auch den Seinssinn bleibender Fortgeltung, ja sogarden objektiver Gültigkeit in besonderem Sinn, über die aktuellerkennende Subjektivität und ihre Akte hinausreichend. Es bleibtIdentisches in der Wiederholung, wird in der Weise eines bleibendSeienden wieder erkannt; es hat in der dokumentierten Form objek-tives Dasein, ebenso wie die sonstigen Gegenständlieltkeiten der Kultur-welt: es ist so in einer objektiven Dauer für jedermann vorfindlich,in selbem Sinne nachverstehbar, interaubjektiv identifizierbar, da-seiend, auch wenn niemand es denkt.

Die Gegenrichtung logischer Thematik ist die au bjek t iv e.Sie geht auf die tief verborgenen subjektiven Formen, in denen dietheoretische „Vernunft" ihre Leistungen zustande bringt. Zunächstist hier die Frage die Vernunft in der Aktualität, nämlichdie in lebendigem Vollzug verlaufende Intentionalität, in der jeneobjektiven Gebilde ihren "Ursprung" haben. Mit anderen Worten, esist deren Leistung, daß im thematischen Felde des vollziehenden Sub-jektes die jeweiligen Gebilde, die jeweiligen Urteils- und Erkenntnis-gegenständlichkeiten im Charakter von Erzeugnissen „objektiv" auf-treten. Während die entsprechende Intentionalität in Vollzug ist,während sie als in dieser Art objektivierend leistendes Leben verläuft,ist sie „unbewußt", d. h. sie macht thematisch, aber ist eben darumund wesensmäßig nicht selbst thematisch. Sie ist verborgen, solangesie nicht durch eine Reflexion enthüllt und damit selbst zum Themageworden ist, und zum theoretischen Thema in der subjektiv ge-richteten logischen Forschung. Der geradehin Urteilende und inwelcher Weise immer Denkende (z. B. begriffliche Gestalten beliebigerKomplexion Erzeugende) hat „bewußt", hat thematisch vor sich aus-schließlich die jeweiligen Gebilde. Jedes in diesem Sinne objektivLogische für sich hat sein „subjektives" Korrelat in seinen kon-stituierenden Intentionalitäten, und wesensnaäßig entspricht jederForm der Gebilde ein als subjektive Form anzusprechendes Systemleistender Intentionalität. Doch kommt auch mit in Frage dieweitere subjektive Leistung, vermöge deren das aktuellKonstituierte für die Erkennenden aus Quellen ihrer Habitualität

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mehr ist als dieses momentan Thematische der aktuellen Gegenwart.Diese Leistung macht es, daß das Konstituierte wirklich als Objek-tives bewußt werden kann, als der Subjektivität bleibend Geltendes,und daß es in der Erkenntnisgemeinschaft, bzw. für sie, den Sinneiner „an sic h" seienden idealen Objektivität annimmt.

Die Doppelseitigkeit alles Logischen bietet für die Auslegung desrechten Sinnes und der rechten Gestaltung der ihr gemäß sichscheidenden und wieder verflechtenden Problemgruppen ganzaußerordentliche Schwierigkeiten. Man kann sagen, an ihnen liegt es,daß die Logik nach Jahrtausenden noch nicht auf die feste Bahneiner wahrhaft rationalen Entwicklung gekommen ist, daß sie nicht,was doch ihr eigentümlicher Beruf unbedingt forderte, zu einerWissenschaft geworden ist, die zum klaren Bewußtsein ihrer Zielevorgedrungen wäre und diese in sicherem Fortschreiten von Stufe zuStufe verwirklicht hätte. Nahezu alles, was den Grundsinn der Logik,ihrer Problematik, ihrer Methode betrifft, ist aus dieser trübenQuelle, aus der unverständlich gebliebenen und nie in rechter Weisebefragten Objektivität aus subjektiver Leistung, mit Unverständlich-keiten behaftet. Alles ist daher umstritten und doch nie im Streitegeklärt. Selbst die ideale Objektivität der logischen Gebilde und derapriorische Charakter der auf sie speziell bezüglichen logischenDoktrinen und dann auch der Sinn dieses Apriori ist von eben dieserUnklarheit betroffen, da ja das Ideale in die subjektive Sphäre hinein-gestellt erscheint, aus ihr als Gebilde entspringt.

Was wir bisher über die Logik gesagt haben, ist also in einervorläufigen überschau und in einer Einsicht gesprochen, die sich erstdurch konkretere Auslegungen und, soweit es uns nützlich erscheint,durch Verständigung mit den historischen Motivationen und den ausihnen entsprungenen Interpretationen der Logik zu bewähren hat.

§ 9. Die gerade Thematik der „objektiven" oder „positiven'Wissenschaften. Die Idee doppelseitiger Wissenschaften.

Die Zweiseitigkeit, die zu allem Logischen gehört, besagt, wieschon aus unseren ersten Erläuterungen hervorgeht, nicht eineGleichordnung der beiden Seiten, der objektiven und dersubjektiven. In schlichter Hingabe an die Sachen denken heißt einzusammenhängendes thematisches Feld schaffen, in dem ausschließlichdie jeweiligen Denkgebilde liegen. Auf sie geht das Absehen derDenkenden; sie sind Denkergebnisse und zugleich Unterstufen fürneue Denkhandlungen. Das Denken selbst, konkret verstanden als

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die, unbekannt wie, beschaffene Intentionalität, in deren „Synthesis"sich die Denkgebilde als "Sinneseinheiten" konstituieren, bedarf erstder Enthüllung, was in einem neuen Denken statthaben würde.

Das Denken der Wissenschaftler ist aktuell und habituell,einzelsubjektiv und intersubjektiv zusammenhängendes Denken.Es hat Zusammenhang durch die Einheit eines theoretischen Interesses,bzw. durch die Einheit des Wissenschaftsgebietes, das konsequentdurchforscht und erkannt werden soll. Was an Urteils- und Erkennt-nisergebnissen für dieses Gebiet im wissenschaftlichen Denkenerwächst, bildet ein offen endlos t Lerne tisches Feld f ii r sieh,die sich fortbauende Einheit der Wissenschaft a Is Theorie,eine Mannigfaltigkeit zusammengehöriger, miteinander thematischverflochtener Themen.

Dieses thematische Feld wird durch subjektiv gewandte Re-flexionen übe rs ehritt en. Im allgemeinen wird also der Wissen-schaftler in der Ausschließlichkeit seines theoretischen Interesses fürsein besonderes Gebiet keine subjektive Thematik in die Forschungeinbeziehen. So wird z. B. der Geometer nicht daran denken, nebender Erforschung der geometrischen Gestalten auch das geometrischeDenken zu erforschen. Es mag sein, daß Übergänge in die subjektiveEinstellung für das eigentliche Absehen auf die Theorie des Gebietesgelegentlich dienlich ja notwendig sind; wie bei sonstigen weit aus-schauenden Handlungen kann auch bei den theoretischen das Be-dürfnis erwachsen, in reflektiver Besinnung zu fragen ,,welcheMethode schlage ich nun ein, welche Prämissen können mir dienen?"Aber das Subjektive, das dabei in den Blick tritt, gehört nicht selbstzu dem, worauf die Wissenschaft hinaus will, zu ihrem eigentlichenThema, das als universale Theorie alle Sonderthemen in sich faßt.Ebenso steht es mit dem sonstigen Hineinziehen der Subjekte undihrer Akte in die wissenschaftliche Rede; das Subjektive des Denkensund der denkenden Subjekte selbst wird damit nicht selbst ins Thema:in das jeweilige wissenschaftliche Gebiet und seine Theorie, ein-bezogen. So in allen "objektiven" oder „positiven"Wisse nscha f teil an die in der Regel allein gedacht wird, wennschlechthin von Wissenschaften die Rede ist. Das liegt daran, daß dieIdee von Wissenschaften einer konsequent doppel-seitigen Thematik, einer die Theorie des wissenschaftlichenGebietes konsequent mit einer Theorie der Erkenntnis dieser Theorieverbindenden, erst in der Neuzeit, und zudem so unklar durch-gebrochen ist, daß sie erst um ihren eigentümlichen Sinn und ihrRecht zu ringen hat.

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Die positiven Wissenschaften wirken sich ausschließlich in derEbene der Theorie, der geradehin in thematischer Richtung aufdas Erkenntnisgebiet zu gestaltenden aus, also in der fortlaufendenkategorialen Ausgestaltung der in das bestimmende Denken auf-genommenen Erfahrungsgegenständlichkeiten des Gebietes, und in dersystematischen Verknüpfung der dabei gewonnenen Gestalten zuimmer höherstufigen Erkeiuunisgebilden, zum offen endlosen unddoch systematisch einheitlichen Bau der wissenschaftlichen Theoriedes Gebietes.

Diese theoretische Ebene schließt die wissenschaftliche Thematikab, und so sehr, daß die positiven Wissenschaften bewußt bestrebtsind, den Begriff der theoretischen Objektivität noch strenger zufassen, nämlich 80, daß sie vieles von dem, was der vorwissenschaftlichErfahrende und Denkende als objektives Thema vorfindet, noch alsbloß subjektiv ausschalten, wie der Naturforscher die „sinnlichenQualitäten". Das erfahrende Einzelsubjekt findet die Naturobjekteals sinnlich Qualifiziertes vor, aber als Objekt, als an und für sichseiend, in diesem Sein nicht durch die reflektiv zu fassenden Akte desErfahrens und Erfahrungsdenkens betroffen, nicht durch deren Ge-halte bestimmt und zu bestimmen. Jedoch in der intersubjektiven Ver-gemeinschaftung des Erfahrens und Denkens zeigt sich eine Abhängig-keit der Gehalte sinnlich erfahrener Objektivität und der ihnen sichanmessenden deskriptiven Begriffe von den erfahrenden Subjekten,während doch die Identität der jeweiligen Objekte intersubjektiverkennbar und bestimmbar bleibt. Eine rein objektive Wissenschaftwill die Objekte statt in solchen subjektiv-relativen Bestimmungen,wie sie aus direkter sinnlicher Erfahrung zu schöpfen sind, vielmehrin streng und rein objektiven Bestimmungen theoretisch erkennen,Bestimmungen, die für jedermann und jederzeit gelten, bzw. in denentheoretische Wahrheiten nach einer von jedermann zu übendenMethode erwachsen, die den Charakter von „Wahrheiten an sich"haben — im Kontrast zu den bloß subjektiv-relativen Wahrheiten.

§ 10. Die historische Psychologie und die subjektiv gerichteteThematik der Wissenschaften.

Schließen sich danach die positiven Wissenschaften gegen allesab, was zum bloß Subjektiven des Erfahrens und Denkens der Sachengehört, um der Idee des reinen Objektes als ausschließlichen Themasgenugzutun, so tritt doch in ihrem Kreis eine eigene positive Wissen-schaft von den Subjekten auf, die Wissenschaft von den Menschen

Flusser', Jahrbuch f. Philosophie. X. 3

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und Tieren, bzw. die Ps ychologie, die an diesen du Psychische,das spezifisch Subjektive zum Hauptthema macht. Wäre diese Psycho-logie in der Tat die Wissenschaft von allem Subjektiven, so würde siezu allen Wissenschaften in einem merkwürdigen Korrelationsverhältnisstehen. Alle sind subjektive Gebilde, alle haben ihre objektiveThematik aus verborgenen Leistungen her. Schon ihre Gegenstands-gebiete sind vortheoretisch für die Forschenden da aus subjektivenQuellen, aus denen der vorgebenden einstimmigen Erfahrung; alsErfahrenheiten und Erfahrbarkeiten bewegen sie das theoretischeInteresse und nehmen sie kategoriale Gestalten an, darunter die derwissenschaftlichen Wahrheit in wissenschaftlicher Evidenz. Dieuniversale Wissenschaft vom Subjektiven würde danach alles erdenk-liche Seiende eben als Erfahrbares und theoretisch Wahres befassen.Sie wäre Wissenschaft von der universalen Subjektiviritt, in der alles,was Wahrheit ist, aus einem wirklichen und möglichen Leben her, mitden in ihm selbst sich vorzeichnenden Möglichkeiten der Erfahrungund Theorie, den Sinn wahren Seins empfangen würde. Für eine jedeWissenschaft als gewordene und fortwerdende Leistung würde sie diekorrelative Wissenschaft von eben dieser Leistung sein. Da diesePsychologie selbst Wissenschaft wäre, würde sie auf sich selbst reflek-tiv zuriickbezogen sein; als Wissenschaft von allem Subjektiven wäresie auch Wissenschaft von demjenigen Subjektiven, aus dessen Quellensie ihre Leistungen vollbringt. Das wiederholte sich bei ihr in einerUnendlichkeit von Stufen.

Es ist offenbar, daß keine der historisch gewordenen Psychologienalter und neuer Zeit je dieser Universalität genug getan, ja sie auchnur als Problem ernstlich durchdacht hat. Unbestritten ist, daß eineAnthropologie und Zoologie, darin beschlossen eine Psychologie undPsychophysik der Menschen und Tiere einen guten Sinn hat. Wiefernsie aber zu jenen universalen Korrelationsaufgaben hinsichtlich allerWissenschaften und alles für uns je Seienden befähigt sei, das kannman als das große Rätsel der Neuzeit bezeichnen, mit den ihr eigen-tümlichen und in immer neuen Anhieben versuchten Transzendental-philosophien, Erkenntniskritiken, Erkenntnistheorien. Verstandes-und Vernunftlehren, oder wie immer die gewählten Titel lautenmochten. Darüber werden wir selbst von unseren Strukturforschungenzur Idee der Logik aus genauere Erwägungen anstellen müssen 1).Hier an dieser Stelle kommt es nur auf die scharfe Beleuchtung desKontrastes an: zwischen der ngeraden" Thematik der positiven

1) Vgl. II. Abschnitt, § 79.

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35] Formale und transzendentale Logik. 35

Wissenschaften, die bestimmt ist durch ein jeweiliges, durch (inter-subjektive) Erfahrung vorgegebenes Gegenstandsgebiet, dem sie sichin ausschließlichem Interesse hingibt, imd anderseits der eben dadurchausgeschlossenen, aber nun offen möglichen Reflexionsthematik,nämlich in Hinsicht auf die erfahrend-erkennend-leistende Sub-jektivität.

§ II. Die thematischen Tendenzen der traditionellen Logik.

a) Die Logik ursprünglich auf die objektiven theoretischenDenkgebilde gerichtet.

Von der Betrachtung der Wissenschaften gehen wir nun über zurL ogik, die ja als Wissenschaftslehre an den Wissenschaften sichexemplarisch orientierte, und fragen, wie sick die beschriebenenWesensverhältnisse von Objektivem und Subjektivem in ihrer histo-rischen Ausbildung auswirken.

Selbstverständlich hatte sie von Anfang an und eigentlich auchbis in unsere Zeit hinein keine anderen als objektive, „positive"Wissenschaften, obschon in sehr verschiedener Entwicklungsstufe,vor Augen und als ihre Leitung. Demgemäß konnte sie als ihr erstesuniversales Thema nichts anderes finden als das Reich derthem atis eben Gebilde des wissenschaftlichen Denkens in bezugauf irgendwelche, wie immer vorgegebenen objektiven Gebiete — alsoUrteile mit den in ihnen auftretenden „Begriffen", Schlüsse, Beweise,geschlossene Theorien, mit den zugehörigen Modalitäten und dennormativen Unterschieden der Wahrheit und Falschheit. Alle diesewirklichen und prätendierten Wissensgebilde nach ihrer Formtypikund den mit dieser verflochtenen Bedingungen möglicher Wahrheitzu erforschen, war die zunächst sich darbietende Aufgabe.

Allerdings, das in natürlicher Weise vorwiegend erkenntnis-praktische Interesse der Logiker, das Absehen auf eine vernünftigeLeistung der Erkenntnisstrebungen und Erkenntnishandlungen diri-giert den Blick eben auf diese. Aber dabei kam es keineswegs aufeine enthüllende Versenkung in die konstitutive Intentionalität an, diesich in den erkennend Strebenden und Handelnden verborgen ab-spielt, sondern nur auf das, was hier wie bei jeder wollenden Ab-zielung und Handlung ineins mit der Zielstellung und dem reali-sierenden Werden der Ergebnisse im Bewußtseinsfeld selbst sozusagensichtlich und abgehoben vorgeht unter dem Titel „ich erstrebe dasund das, ich erzeuge es, es wird willentlich von meinem Ich her".Daran sind wie überall die Gebilde in ihren vielgestaltigen Gehalten

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Ettautut4 Hassen, [36

und Gliederungen und in den Stufen von Zwischengebilden daseigentlich zu Beschreibende, gegenüber dem einförmigen und immergleichen „ich ziele darauf und realisiere Glied für Glied".

Wir werden diesen wichtigen Punkt noch näher erörtern. Hierweisen wir zunächst auf folgenden wesentlichen Unterschied hin. Dietheoretischen Gebilde bieten sich nicht wie die Ichakte als vorüber-gehende und nur zu wiederholende dar, sondern wie Objekte, unddas heißt als sozusagen greifbare, der Betrachtung standhaltende,immer wieder identifizierbare und als der wiederholenden Betrach-tung, Analyse, Beschreibung zugängliche Gegenständlichkeiten —nicht viel anders als die der äußeren Erfahrung. Nur daß sie nichtwie diese passive Vorgegebenheiten, sondern als kategoriale erst durchdie theoretische Aktion gegeben sind'). Aber dann sind sie eben auchda, zunächst vorgangsmäßig sich aufbauend und dann in Wieder-holung der Tätigkeit eben identifizierbar. So sind sie aus jedemeigenen Urteilen als Ergebnis zu entnehmen, in allen Stufen derKomplikation, bzw. aus jedem nachvollzogenen fremden Urteil, wirk-lichem oder gedachtem, und dann je nachdem als die wirklich „ge-fällten" Urteile oder als mögliche Urteile. So wie in einem sonstigenErfahren die Erfahrungsgegenstände, so sind also hier in der „kate-gorialen Erfahrung" die kategorialen Gebilde (der Ausdruck hierrecht weit gefaßt) ursprünglich anschaulich, evident gegeben. Wirwerden allerdings noch hören, daß hier bei verschiedener Blickstellungverschiedene Gegenständlichkeiten identifizierbar, in entsprechendenEvidenzen erfahrbar werden können und für den Logiker werdenmüssen.

So hatte der Logiker also standhaltende Gegenstände als exem-plarische Substrate für „Ideationen"; es ergab sich die Möglichkeitfür jene „reinen Formalisierungen", durch die die Begriffe deranalytisch-logischen „Formen" erwachsen. Diese Formen waren dannihrerseits erst recht ein derart Festes und Standhaltendes, das nachseinen elementaren Formelementen beschrieben, aber auch unteroperativen Gesichtspunkten betrachtet werden konnte. Es warenWeisen konstruktiver Formenabwandlung, Formenverknüpfung initerativer Wiederholbarkeit als offene Möglichkeiten gegeben, durchdie man aus vorgegebenen immer neue Formen erzeugen konnte; wiebei der kombinatorischen Bildung von komplexen Urteilsformen auseinfacheren oder der freien Bildung von Schlußformen aus Urteils-formen. In der formalen Allgemeinheit wurden so im voraus die

I) Vgl. da» II. Abeeknitt, 46.

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erdenklichen Möglichkeiten entworfen für die in allen erdenklichenErkenntnisgebieten konkret zu vollziehenden Formen von Urteilenund Erkenntnissen.

In verständlicher Weise war also schon die anfangende Logik inihren Besinnungen über Wissen und Wissenschaft vorwiegend von denobjektiven theoretischen Gestalten gefesselt, obschon man zunächstund noch langehin nicht daran dachte, das Thema vollbewußt undausdrücklich auf die puren Urteils- und Erkenntnisgebilde ein-zuschränken, die doch das eigentliche Feld logischer Arbeit waren.Hatte diese einmal so angefangen, so trieb die innere Konsequenz derSachen von selbst weiter. Es ist ja im wesentlichen nicht anders, wiein den Forschungsgebieten aus jeder Art der Erfahrung. Ist dastheoretische Interesse einmal auf ihre Gegebenheiten in irgendeinerSphäre fixiert, so lebt es sich in Konsequenz aus. Die logischenGegebenheiten waren eben, wie wir wiederholt betonen, in ihrer Artauch Erfahrungsgegebenheiten, identifizierbare und betrachtbareGegenstände, mochte es hier üblich sein von Erfahrung zu sprechenoder nicht, ja mochte man auch nie der Wesensanalogie ihrerursprünglichen Gegebenheitsweise mit der der allgemeinen Erfahrunginne geworden sein. Und diese „Erfahrung" (mit ihren Abwandlungenals Erinnerung, als „mögliche" Erfahrung usw.) fungiert wie jedeandere als Grundlage für die Bildung deskriptiver Begriffe und denVollzug von deskriptiven Erkenntnissen, darunter insbesondereWesenserkenntnissen.

b) Die Richtung der Logik auf Wahrheit und die dadurchbedingte subjektive Reflexion auf Einsicht.

Die Einstellung der Logik war nun nicht die auf Urteile über-haupt, auf vermeintes Wissen, sondern letztlich auf echtes Wissenund seine typischen Gestalten. Das ergab zunächst unvermeidlich soetwas wie eine subjektive Wendung. Man sagte sich etwa,echtes Wissen, Wahrheit, wird in den Betätigungen der „V e r -nunf t", in der Einsicht erfaßt, die, einmal geübt, wiederholbar

und auch von jedem anderen Vernünftigen wiederholbar ist und alsgeistiger Besitz verbleibt. Sätze, die unmittelbar einsichtig sind,führen in einsichtigen Elementarschlüssen zu Sätzen, die dabei alsFolgewahrheiten einsichtig werden. Eine deduktive Theorie, eineechte, ist ein Zusammenhang von Elementarschritten, aus lauterSchritten der Einsicht aufgebaut und so eine Einheit der Wahrheitherstellend. Ebenso für die „konkreten" Schlüsse aus uneinsichtigenPrämissen, mit ihrem hypothetischen Erkenntniswert. Es ist dabei ja

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38 Edmund Husserl,

einsichtig das Als-Folge-Beschlossensein der Schlußurteile in denPrämissen und zugleich einsichtig, daß die Folgen zu Wahrheitenwerden müßten, wenn sich die Prämissen in der Einsicht als Wahr-heiten herausstellen würden. So tritt also in der echten Wissenschaftauf objektiver Seite nichts an Sätzen und Satzzusammenhängen auf,das nicht aus Einsich tu seinen „Erkenntniswert", seinen Geltungs-charakter der Wahrheit, der hypothetischen Folge LIBW. erworbenhätte.

In solchen Reflexionen, die offenbar als anfangende Logikursprünglich bestimmen, ist also unvermeidlich von Subjektive in,vor allem von Vernunft und Einsicht beständig die Rede: unterwelchem Wort sprachüblich übrigens mitgemeint ist auch die bleibendeEinsehbarkeit, obschon ursprünglich erworben durch das aktuelltätige Einsehen. Aber wie sehr diese subjektive Rede eine Blick-wendung auf das Psychische voraussetzt, so ist doch alles, was inder Wissenschaft als Ergebnis zur Feststellung kommt, rein aufobjektiver Seite gelegen, und so ist auch das, was der Logiker injenen Reflexionen thematisch herausstellen und als Theorie derTheorie behandeln will, nur objektiv Logisches.

Es ist hier besonders zu beachten, daß das in d er Einsichterworbene „Wahre", „Erfolgende", „Widerspruchs-lose" als Charakter und Prädikat an den Urteils-gebilden selbst, also auf der objektiven Seite auftritt und somitin den von einer reinen Logik der Bedeutungen zu behandelndenformalen Theorien Thema ist. Alles im prägnanten Sinne „Logische",das „Vernünftige", hat diese Charaktere als objektive an sich, unddie Logik muß sie ausdrücklich nennen und nach den Bedingungenihres rechtmäßigen Zugehörens erforschen. Wahrheit ist die objektiveRede, Einsicht, Vernunft die subjektive und dabei korrelative. So fürjeden besonderen Modus von Gültigkeitsprädikaten. Jede einheitlichabgeschlossene und schlechthin aufgestellte wissenschaftliche Aussagehat oder prätendiert zu haben dieses aus Einsicht geschöpfte Prädikatder Wahrheit. In den Wissenschaften wird es als unnütze Selbst-verständlichkeit und als lästig in der Wiederholung nicht aus-gesprochen, außer etwa in bezug auf vorangegangenen Zweifel undStreit. In der Logik aber ist es in seiner Beziehung zu den bloßenUrteilsformen eben das thematisch Hauptsächliche.

Im: übrigen ist die häufige Reflexion auf das subjektive Tun denWissenschaften gemein mit den sonstigen Gebieten kunstmäßignHandelns. Im Sinne der Denkgebilde selbst, als aus Denkhandlungenentsprungener, liegt die Anweisung auf die Zugehörigen Akte in, ihrer

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39] Formale und transzendentale Logik. 39

Ordnung und Verknüpfung. So kann man die Gebilde auch vomHandelnden und seinem Tun her beschreiben. Statt z. B. zu sagena —b a, kann man auch sagen, man subtrahiere von a b undaddiere dann wieder b usw., oder statt zu sagen, aus den Prämissen Mund N folgt Q, sagt man, aus den Urteilen M und N ist zu schließen Q.Aber man hat damit nichts Wesentliches gewonnen; es ist zwar aufden mehr oder minder komplexen Rhythmus der Ichakte (derSchritte des ego cogito) verwiesen, aber für diese Akte selbst isteigentlich keine Deskription geleistet. Zählen ist Zahlen erzeugen,subtrahieren ist Differenzen erzeugen, multiplizieren Produkte usw.,ebenso ist Schließen aus Urteilen Urteilskonsequenzen erzeugen. Manhat die Erzeugnisse im Blick, das worauf man hinstrebt und das manerzeugt, und hier liegt das Kernhafte und Faßbare, während das leereIch-zähle, Ich-schließe nichts weiter besagt als das strebende Hinzielenund die Erzeugnisse in ihrem Werden ablaufen lassen. Das soll natür-lich nicht sagen, daß es keine subjektiven Analysen und Deskrip-tionen gibt, sondern nur, daß über die Erzeugnisse hinaus und ihrsubjektives Ablaufen im Modus schrittweiser Verwirklichung, eineintentionale Subjektivität zu erforschen ist, in der die werdenden undgewordenen Erzeugnisse als synthetische Einheiten sich konstituieren— eine, Subjektivität, die durch solche bloße Wendung auf das „Ichdenke" noch gar nicht erschlossen wird.

c) Ergebnis: Die Zwitterha ftigkeit der historischen Logikals theoretischer und normativ-praktischer Disziplin.

Nach all dem verstehen wir, warum die Logik in ihrer ganzenEntwicklung bis in die neueste Zeit hinein (solange transzendental-philosophische Motive auf sie nicht radikal wirksam wurden) ihrewesentliche thematische Sphäre im Felde der Theorie, in demder mannigfaltigen Urteils- und Erkenntnisgebilde haben mußte,und warum die äußerlich stark hervortretende Thematik der subjek-tiven Denkhandlungen doch nur einen völlig sekundären Charakterhatte.

Doch wir dürfen auch folgendes nicht übersehen. Indem wir diethematischen Tendenzen der traditionellen Logik beschrieben, wie sievon der Leitung durch die positiven Wissenschaften motiviert waren,mußten wir in eigenen Reflexionen die intentionalen Zusammenhängein einer Bewußtheit und Schärfe zergliedern, die der Logik selbst,bzw. den sie behandelnden Logikern noch fremd war. Worauf wirvorzüglich den Blick gerichtet hatten, die Objektivität der theore-tischen Gebilde als Gegebenheiten einer eigenen „Erfahrung' (der

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Etihrsund Htupsert

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"kategorialen", wie wir sie nannten) das ist durchaus nicht in derTradition zur Geltung gekommen und muß auch heute noch sein Rechterkämpfen. len wird sich der unentbehrlichen Erweiterung desObjektbegriffes nicht entziehen dürfen, wonach nicht nur reale,sondern auch irreale ("ideale") Objekte ihm unterstehen; dem ent-spricht die Erweiterung des Begriffes der Erfahrung, der in dieserErweiterung gerade das Wesentliche der Selbsterfassung (Selbsthabe,Selbstgebung) festhält').

Die natürlicherweise bevorzugte normative und erkenntnis-technische Einstellung der Logiker rückte, sagten wir oben, für sie dasDenken als geistiges Tun in den Vordergrund und damit das realePsychische, in dem das Irreale, das ideale Denkgebilde jeweils auftritt.Dieses Tun, bzw. das psychische Subjekt als denkend tätiges, solltegeregelt werden. Das sich vordrängende normative Interesse tendiertebegreiflicherweise dahin, die ideale Objektivität der Gebildeselbst zu verdecken und desgleichen eine bewußt und reinauf sie bezügliche theoretische Thematik nicht aufkommen zu lassen.Das aber, obschon die Arbeit des Logikers es, wie wir oben sahen,doch beständig mit diesen idealen Gebilden zu tun hatte, sie iden-tifizierte, auf Formbegriffe brachte usw. Sie blieben darum doch vomSubjektiven nicht thematisch gelöst. Hier liegen — wir werden nochdavon zu sprechen haben — auch sachliche Schwierigkeiten, da essich nicht um äußere Erzeugnisse, sondern innerhalb der psychischenSphäre selbst Erzeugtes handelt.

Jetzt kommt es aber für uns nur darauf an, durch Entfaltung derursprünglichsten für die Logik sinnbestimmenden Intentionalität denwesentlichen Charakter der historischen Logik zu verstehen. Kurzzusammengefaßt, galt es also zunächst sie in ihrer Zwitterhaftigkeit alstheoretischer und normativ-praktischer Disziplin zu verstehen und inder damit gegebenen Zwitterhaftigkeit der Thematik, einerseits alsder idealen Bedeutungen (der kategorialen Gebilde) und anderseitsals Thematik der Denkhandlungen und ihrer normativen Regelung.Weiter aber galt es zu verstehen, daß das theoretisch Greifbare undKernhafte in dieser Zwitterhaftigkeit, das was in den historischensyllogistischen Theorien vorlag, im Wesen nichts anderes war, obschonnicht in Reinheit erfaßt, als Theorie der Theorie, Theorie alsoder Urteils- und Erkenntnisgebilde des ideal-objektivenFeldes. Was darüber hinausging in subjektiv gerichteten Reden und

1) Vgl. dazu unten 11. Absoluzitt, 1. Kap., §§ 57-59 auch die Einfiihrang desBegriffs der kategorialen Anschauung Log. Unters. H, S. 142 ff.

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Gedanken brachte, so zeigten wir, keine wesentlich neuen Gehalte,sondern nur selbstverständliche subjektive Wendungen. Daranschlossen sich erst sehr spät — mit Einsetzen der psychologistischenoder antipsychologistischen Transzendentalphilosophie — wirklichneue und gehaltreiche subjektive Forschungen, über denen freilichkein guter Stern waltete und die jedenfalls noch um ihren rechtenSinn zu kämpfen haben. Sie ließen und lassen wir vorläufig nochaußer Betracht, um, geleitet von unserer selbsterworbenen Einsichtüber die rein objektive Thematik der Logik und zunächst in An-knüpfung an die ursprüngliche logische Apophantik, die wesens-mäßigen Strukturen einer objektiven, apophan-tischen Logik, einer „analytischen", „formalen" zu erforschenund dann die Probleme ihrer wesensmäßigen Umgrenzung zubehandeln. In letzterer Hinsicht unter Anknüpfung an die neuzeit-lichen ebenfalls als „analytisch" und „formal" zu bezeichnendenmathematischen Disziplinen, und in der Blickrichtung auf die dunklenFragen des Verhältnisses dieser „analytischen" Mathematik zur tradi-tionellen formalen Logik, und in weiterer Folge des Verhältnisses derIdeen formale Ontologie und formale Apophantik.

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I. Abschnitt.

DIE STRUKTUREN UND DER UMFANG DER OB -TIVEN FORMALEN LOGIK.

A. Der Weg von der Tradition zur vollen Ideeder formalen Logik.

1. Kapitel.Die formale Logik als apopha nalytik.

§ 12. Die Entdeckung der Idee der reinen Urteilsform.

Nach unseren allgemeinen Ausführungen ist es vorweg verständ-lich, daß als historisch erstes Stück einer systematisch ausgeführtenLogik die Aristotelische Analytik erwuchs, ein erster Anhieb einerLogik theoretischer Gebilde. Es war innerhalb dieser thematischenEinstellung eine „formale" Logik in einem besonderenSinn e, obschon als solche doch nicht zur wesensmäßig vollen Rein-heit und Weite sich spannend. In der 'Überschau über die jeweils

- sachlich bestimmten Urteile des Lebens und der Wissenschaft tratsofort die allgemeinste Urteiletypik hervor, die Formgleichheitenselbst heterogenen Gebieten angehöriger Urteile. Aristoteleszuerst stellte diejenige Formidee heraus, welche dazu berufen war,den Grundsinn einer „formalen Logik" zu bestimmen, so wie wir siein der Gegenwart verstehen und wie sie schon Leibniz in seinerSynthese von formaler Logik (als apophantischer) und formalerAnalysis zur Einheit einer mathesis uni versalis verstanden hat.Aristoteles zuerst, können wir sagen, vollzog in der apopha n-tischen Sphäre — der der behauptenden Aussagen („Urteile" imtraditionell logischen Sinn) — jene „Formalisierung" oder Algebrai-sierung, welche in der neuzeitlichen Algebra mit Vieta auftritt undwelche die seitherige formale „Analysis" von allen materialenmathematischen Disziplinen (Geometrie, Mechanik usw.) unter-scheidet. Er ersetzte in den exemplarischen, sachhaltig bestimmtenAussagen die Worte (Termini), in denen sich das Sachliche bekundet,das, wovon in den Aussagen die Rede ist, das, was die Urteile als die

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43] Formale und transzendentale Logik. 43

auf die oder ich° Sachgebiete oder Einzelsachen bezüglichen bestimmt,durch algebraische Buchstaben. Für den Sinn besagte das, er ersetztein den Urteilen jeden sachhaltigen ‚Kern durch das Moment ‚beliebigesEtwas', wobei die übrigen Urteilsmomente festgehalten blieben alsMomente der Form, als solche, die im beliebigen Wechsel der Sach-bezüglichkeit, bzw. von Urteilen verschiedener Sachsphären, in Gleich-heit verharren. In eins mit dieser Fassung der sachhaltigen Kerne alsunbestimmter Beliebigkeiten, sprachlich als unbestimmter Termini,S, p, und dgl. verwandelt sich das exemplarisch bestimmte Urteil indie allgemeine und reine Formidee, in den reinen Begriff eines Urteilsüberhaupt, und zwar je nachdem der bestimmten Urteilsform „S ist p",oder der Form „wenn S p ist, so ist Q r" und dgl. 1).

Allerdings völlig frei ist bei Aristoteles die Variabilität derTermini und damit die Reinheit der Idee der Form insofern nicht, alser seine Analytik von vornherein auf die reale Welt bezieht und somitnoch nicht die Kategorien der Realität von ihr ausschließt. Für dieNeueren hat erst der Durchbruch der Algebra den Fortschritt zu einerrein formalen Logik ermöglicht, doch scheint schon das Mittelalterin der dem Duns Scotus zugeschriebenen Schrift „de modis signi-

ficandi" die Konzeption des rein Formalen erreicht zu haben 2), ohnemit dieser Einsicht freilich durchzudringen.

§ 13. Die reine Formenlehre der Urteile als erste formal-logischeDisziplin.

a) Die Idee der Formenlehre.

Die Möglichkeit alle Urteile unter reine Begriffe der Gestalt oderForm zu bringen, legte sofort den Gedanken einer deskriptivenKlassenscheidung der Urteile ausschließlich unter diesem Gesichts-punkt der Form nahe, also abgesehen von allen sonstigen Unter-scheidungen und Fragestellungen, wie der nach Wahrheit oder Wider-spruchslosigkeit. Man unterschied so der Form nach einfache und

1) Vgl. dazu Beilage I, S....2) Vgl. M. Heidegge r, Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns

Scotus, in bes. S. 34. Dazu ferner: M. Grabman n, Die Entwicklung der mittel-alterlichen Sprachlogik (Tractatus de modia significandi). Philosophisches Jahrbuchder Görresgesellschaft 1922, S. 121 ff., 199 ff. — Dasselbe erweitert und neubear-heftet in: Mittelalterliches Geistesleben. Abhandlung zur Geschichte der Scholastikund Mystik. Miinchen 1926, S. 104-146; über die bisher dem Duns Scotus zu-geschriebene Grammatica speculativa als ein Werk des Thom as von Er f urtvgl. bes. S. 118-125.

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zusammengesetzte Urteile, unter den einfachen die des singulären,partikulären, universellen Urteils, ging zu den komplexen Gestaltendes konjunktiven, disjunktiven, hypothetischen und kausalen Urteilsüber, wohin auch Urteilskomplexe gehörten, die Schlüsse genanntwerden. Man zog weiter auch die Modalisierungen der Urteile alsGewißheiten in Betracht und die daraus erwachsenden Urteilsformen.

Bei systematisch konsequenter und reinlicher Durchführungsolcher Deskription hätte sich eine eigene Disziplin scharf abscheidenlassen, die zuerst in den „Logischen Untersuchungen" definiert undals reine Formenlehre der Bedeutungen (oder rein10 gis ehe Grammatik) bezeichnet wurde. Diese reine Formen-lehre der Urteile ist die an sich erste formal-logische Disziplin, keim-haft in der alten Analytik angelegt, doch noch nicht zur Auswirkunggekommen. Sie betrifft nach unseren Ausführungen die bloßeMöglichkeit von Urteilen als Urteilen, ohne Frage, ob siewahr oder falsch, ob sie auch nur bloß als Urteile verträglich oderwiderspruchsvoll sind 1).

b) Die Allgemeinheit der Urteileform; die Grundformenund ihre Abwandlungen.

Um die Idee dieser reinen Formenlehre zu erfassen, hätte mansich klar machen müssen, daß im Absehen auf eine Klassifikationmöglicher Urteile überhaupt hinsichtlich ihrer Form "Grundformen"hervorgehen, bzw. ein geschlossenes System von Grundformen, ausdenen vermöge einer eigenen Wesensgesetzlichkeit immer neue, immerreicher differenzierte Formen und schließlich das System aller erdenk-lichen Urteilsformen überhaupt in der Unendlichkeit ihrer differen-zierten und sich immer wieder differenzierenden Gestalten konstruktiverzeugt werden können. Merkwürdigerweise hat man das und damitauch die hierin liegende logische Fundamentalaufgabe nie gesehen.

Genauer gesprochen hätte man sich zunächst klar machen müssen,daß eine jede, wie immer gewonnene Urteilsform eine Gattungs-allgemeinheit ist, nicht nur hinsichtlich möglicher bestimmter Urteile,sondern auch hinsichtlich ihr unterzuordnender reiner Formen. Soist z. B. der Form S ist p untergeordnet die Form Sp ist q und dieserwieder die Form (Sp)q ist r. Aber jede Urteilsform trägt auch eineAllgemeinheit eines ganz anderen Sinnes in sich, nämlich sofern sie

1) Für die eingehende Begründung der Idee dieser „rein-logischen Gram-matik" in Log. Untere. U, Abschn. IV.

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eine Mannigfaltigkeit möglicher Formen als ihre „Modifikationen" insich birgt, z. B. die Form S ist p die Modifikationen „wenn S p ist",„also ist S p" usw., die dann als Bestandstücke ganzer Urteilsformenauftreten können. Dergleichen gilt für alle und jede Formen. Manhätte ausdrücklich darauf achten müssen, daß die in dieser Art alsDifferenzen unter einer allgemeinen Form stehenden Formen ausdieser durch Konstruktion abzuleiten sind. Ferner daß nicht jedeForm als solche konstruktive Differenzierung anderer Formen an-zusehen ist, sondern daß wir überall auf Ur f ormen zurückkommenSo ist die Form des bestimmenden Urteils S ist p (wo p eine Be-schaffenheit und S ihr Substrat bezeichnet) eine Urform, von deraus Besonderungen und Modifikationen abzuleiten sind. Sie istUrform, genauer besehen ist sie es innerhalb der obersten Gattung„Apophaust?' der apophantischen Logik, wenn diese Gattung aus-schließlich auf prädikative Urteilsgewißheiten bezogen wird, währenddie Urteilsmodalitäten, die an sich nicht unter diese Gattung fallen,dadurch in sie einbezogen werden, daß sie eine Umwandlung erfahrenin Urteilsgewißheiten geänderten Inhaltes: in Gewißheiten über Mög-lichkeiten, Wahrscheinlichkeiten usw.

Man kann natürlich die Gattung Apophansis, in ihrer nach be-sonderen Formen undifferenziert belassenen Allgemeinheit, ebenfallsals Form bezeichnen und in dieser Allgemeinheit in Formbildungeneinbeziehen. So können wir, wenn die Buchstabenzeichen ab-geschlossene behauptende Aussagen bezeichnen, etwa bilden A und A'(als Bildung eines konjunktiven Urteils, also in forma als Typus ent-sprechender Formenerzeugung); ebenso wenn A, so A' usw. Die un-bestimmten Formen A und A' können wir dann etwa zunächst durchUrformen von Besonderungen näher bestimmen und von diesen nachirgendwelchen Prinzipien der Formbildung fortschreiten zu immerneuen Formen, Derartige allgemeine Bildungsformen wie die kon-junktive und hypothetische sind dann ebenfalls Grundformen zunennen, sofern sie Grundarten von „Operationen" be-zeichnen, die wir mit zwei beliebigen Urteilen vornehmen können,bzw. auch mit zwei beliebigen Urteilsformen.

c) Der Begriff der Operation als Leitbegriff der Formen.forschung.

Sind wir auf den Gesichtspunkt der „Operation" (mitOperationsgesetzen, in denen mathematisch gesprochen„ExistenziaIsätze" liegen) aufmerksam geworden, so werden wir

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Rd and Efeetuerl,[46

naturgemäß diesen Begriff als Leitbegriff der Formenforschungwählen; wir werden diese Forschung in der Weise einer A u f-w eisang der Grundoperationen und ihrer Gesetze, sowie derideellen Konstruktion der Unendlichkeit der Formendiesen gemäß durchführen müssen. Die Grundformen werden dannnicht nebeneinander stehen, sondern auch aufeinander gestuft sein.So ist z. B. die Form S ist p ursprünglicher als die Form Sp ist q, dieschon eine operative Umgestaltung der ersteren ist, nämlich durch dieOperation der Verwandlung eines Prädikates in ein Attribut. Aberdiese Form Sp ist q tritt in der Definition dieser Operation auf,sogleich ein neues Prinzip für Formenbildungen in sich tragend.

Schließlich wird man dazu übergehen können, den Gesichtspunktder Operation so weit zu fassen, daß er schon die Grundform S ist pals eine Operation ansieht, die der Bestimmung eines Beitixurnuage-substrates S; ebenso jede Modalisierung als eine formbildende undzwar in gewisser Weise sinnennwandelnde Operation, derart daß hin-sichtlich der Reihe der Modalitäten aus wesentlichen Gründen dieForm der Apophansis (im ursprünglichen Sinn behauptende Gewiß-heit) als Urform charakterisiert ist und die anderen Formen als ihreAbwandlungen. Man sieht dabei freilich sogleich, daß Operation, indem Sinne einer freititig an jedem Urteil zu erzeugenden Wandlungin ein anderes Urteil, einen engeren Begriff abgibt, sofern ja Modali-sierung nicht Sache der willkürlichen Umwandlung ist

Ausdrücklich ist nun noch folgendes hervorzuheben: jedeoperative Gestaltung einer Form aus Formen hat ihrGesetz, und dieses ist bei den eigentlichen Operationen von einerArt, daß das Erzeugte abermals derselben Operation unterzogenwerden kann. Jedes Operationsgesetz trägt also in sichein Gesetz der Iteration. Diese Gesetzmäßigkeit iterier-barer Operation geht durch das ganze Urteilsgebiet hindurch undermöglicht es, mittels aufzustellender Grundformen und Grund-operationen iterativ die Unendlichkeit der möglichen Urteilsformenzu konstruieren.

§ 14. Die Konsequenzlogik (Logik der Widerspruchslosigkeit)als zweite Stufe der formalen Logik.

Von der reinen Formenlehre der Urteile unterscheidet sich alseine höhere Stufe der formalen Urteilslogik die Wissenschaft von denmöglichen Formen wahrer Urteile. Sie ist, wenn auch nichtin solchem systematischen Zusammenhang und in Reinheit, historisch

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47] Formale und transzendentale Logik. 47

mindestens als ein Stück entwickelt worden. In der Tat lag es nahe,die bloßen Urteilsformen daraufhin zu betrachten, wiefern sie, einzelnoder zu komplexen Formen ausgestaltet, in Wesensallgemeinheit Be-dingungen der möglichen Wahrheit und Falschheit für alle erdenk-lichen Urteile entsprechender Formen in sich bergen. Insbesonderebei den Schlußformen (komplexen Satzformen, in denen sich richtigeund falsche Schlüsse bewegen) war es evident, daß nicht beliebigeSatzformen zu Formen von echten Schlüssen verbindbar sind, vonwirklich „konsequenten". Es ist einsehbar, daß gewisseSchlul3formen zugleich den Wert von formalen Wesensgesetzenhaben, nämlich als generelle Wahrheiten über Ur teilsk ons e-qu e n.z: über das („analytische") Beschlossensein vonUrteilen der und der Form in Prämissenurteilen entsprechenderForm. Ebenso: daß andere Schlußformen den Wert vonWesensgesetzen analytischer Widerfolgen, analytischer„Widersprüch e" haben, daß sie nicht eigentlich Formen von„Schlüssen", sondern sozusagen von „Ausschlüssen" sind.

Bei tieferer Erwägung des Sinnes dieses analytischen Beschlossen-und Ausgeschlossenseins hätte die logische Forschung zur Erkenntniskommen können, daß die traditionelle formale Logik keinereine „Logik der Widerspruchslosigkeit" sei, und daßmit der Herausstellung dieser Reinheit sich eine höchst bedeutsameinnere Scheidung in der Problematik und Theorie derLogik vollziehen müßte.

Es ist ein eigenes Proble m, systematisch die Wesensgesetzeaufzusuchen, welche rein das analytische Beschlossenseinund Ausgeschlossensein, rein die innere und äußere analy-tische WiderspruchsIosigkeit von Urteilen, den einzelnenoder in Verbindung tretenden, beherrschen. Die Rede ist dann nochnicht von der Wahrheit derUrteile, sondern bloß davon, obdie in der Einheit eines ganzen, ob einfachen oder noch so komplexenUrteils beschlossenen Urteilsglieder sich miteinander „vertrage n"oder einander widersprechen, und damit das betreffendeUrteil selbst zu einem widersprechenden, zu einem „eigentlich" nichtvollziehbaren machen. Dementsprechend ist die Rede von logischenGesetzen, die auf Grund der Form die bloße Widerspruchs-losigkeit der Urteile regeln, zu verstehen. Es ist eine wichtigeEinsicht, daß Fragen der Konsequenz und Inkonsequenz sich an Ur-teile in forma stellen lassen, ohne dabei im mindesten nach Wahrheitund Falschheit zu fragen, also ohne diese Begriffe und ihre Derivateje in das Thema zu ziehen. Demgemäß nennen wir diese Stufe der

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48 Edmund Russen, [48

formalen Logik auch Konsequenzlogik oder Logik derWiderspruchslosigkeit.

Das Problem der Widerspruchslosigkeit befaßt natürlich auch dieKompossibilität ganz beliebig hergestellter Urteilskollektionen, soferndamit normalerweise mitgedacht ist die Verknüpfung der Urteile zurEinheit eine s kollektiven Urteils — das also von ein ein urteilendenSubjekt in ein em urteilenden Meinen gemeint ist. Ebenso betrifft esdie widerspruchslose Vereinbarkeit der Urteile in sonstigen Urteils-zusammensetzungen, wie z. B. der Urteile, die als Urteilsglieder inirgendeiner prätendierten Theorie Einheit haben, als welche ja Ein-heit eines einzigen, nur sehr kompliziert fundierten Urteils höhererStufenordnung ist. Das gleiche gilt, wenn wir von den komplexen zuden einfachen Urteilen in dem gewöhnlichen Sinne herabsteigen.Als ein einfaches Urteil gilt dann jede für sich abgeschlossene Apo-phansis, die sich nicht mehr in Urteile gliedert, welche selbst einesolche apophantische Abgeschlossenheit haben. Aber Glieder, dienoch als urteilsmäßige, obschon unselbständige Einheiten an-zusprechen sind, hat in diesem Sinne auch eine einfache Apophansis,und so erstreckt sich der Unterschied widerspruchsloser Vereinbarkeitund des Widerspruchs auch auf sie und desgleichen erstreckt sichdarauf die formale analytische Gesetzmäßigkeit.

Das macht also einen prägnanten, in sich abgeschlossenen Begriffeiner „puren apophantischen Analytik" aus, in die demwesentlichen Gehalt nach die ganze Syllogistik, aber auch, wie wirzeigen werden, viele andere Disziplinen, die der formal-mathe-matischen „Analysis", hineingehören. Doch wird sich, wie sogleichbetont werden mag, auch der ursprüngliche Begriff der Analytik alsAnalytik im weiteren Sinne nicht entbehren und sich inseinem eigentümlichen Sinne gerade auf Grund des engeren Begriffesim Fortgang unserer Untersuchung zu strenger Bestimmtheit bringenlassen.

Zu den Grundbegriffen der prägnant gefaßten puren Analytikgehören als Grundbegriffe der Geltung (als Normbegriffe)ausschließlich analytische Konsequenz und Widerspruch;dagegen kommen, -wie schon gesagt, nicht vor Wahrheit undF alschheit nebst deren Modalitäten. Das ist recht zu verstehen:als zur them a tis c he n Sphäre gehörige Grundbegriffe kommen sienicht vor. Sie spielen also in dieser puren Analytik nur die Rolle, diesie in allen Wissenschaften spielen, sofern alle Wissenschaften nachWahrheiten streben, also auch von Wahrheit und Falschheit sprechen:das sagt aber nicht, daß Wahrheit und Falschheit zu ihren "Grund-

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49] Formale und transzendentale Logik. 49

begriffen" gehören, d. i. Begriffen, die dem jeweiligen Wissenschafts-gebiet eigenwesentlich sind.

§ 15. Wahrheitslogik und Konsequenzlogik.

Eine höherstufige logische Frage wäre also nach Abscheidungder puren Analytik, die nach formalen Gesetzen möglicher Wahrheitund ihrer Modalitäten. Welche Mittel hat eine sich an bloße Be-deutungsformen der Aussagen, also an die Urteilsformen bindendeLogik, zu einer eigentlichen Logik der Wahrheit zu werden? Es istsofort sichtlich, daß Wi derspruchslosi gk ei t eine Wesens-bedingung möglicher Wahrheit ist, daß aber erst durch einenwesensgesetzlichen und in einer Logik eigens zu f ormu-lier enden Zusammenhang dieser an sich zu unterscheidendenBegriffe sich die bloße Analytik in eine f ormale Wahrheits-logik verwandelt. Darüber später mehr. Zunächst halten wir unsnoch an den Bereich der puren apophantischen Analytik.

§ 16. Die die Stufenscheidung der Apophantik begründendenEvidenzunterschiede. Evidenz der Klarheit und Evidenz der

Deutlichkeit.

a) Die Vollzugsmodi des Urteils. Deutlichkeit und Ver.worrenheit.

Bei der bloßen Vorzeichnung der in einer formalen Logik not-wendig vorzunehmenden Scheidungen, mit der die letzten Paragraphenbeschäftigt waren, kann es nicht sein Bewenden haben. Es bedarftiefer dringender, die entsprechend unterschiedenen Evidenzen aus-legender Begründungen, mit denen auch erst eine wirkliche Einsichtin die Notwendigkeit und Tragweite dieser Scheidungen sich er-öffnen kann.

Ein Urteil kann als dasselbe Urteil evident gegeben sein in sehrverschiedenen subjektiven Gegebenheitsweisen. Es kann auftreten alsein völlig vager Einfall, oder auch als völlig vage Bedeutung einesgelesenen, verstandenen und gläubig übernommenen Aussagesatzes.Dabei braucht nicht das mindeste von einem expliziten Vollzugder urteilenden Spontaneität, von einem expliziten Subjekt-setzen, als Prädikat Daraufhinsetzen, beziehend zu einem anderen,für sich gesetzten Objekt übergehen usw. statthaben. Schließt sichan das „vage", „verworren" urteilende Meinen eines Ein-falls ein solcher Prozeß expliziten Urteilens an, so sagen wir

iillaserl, Jahrbuch f. Philosophie. X. 4

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50 Edmund tiusaerl, [50

auf Grund der Synthesis erfüllender Identifikation, die nun eintritt,die verworrene Meinung „v erdeutlich e" sich, jetzt erst sei„eigentlich geurteilt" und das Urteil eigentlich undselbst gegeben, das vorher nur vorgerneint war.

Ebenso in dem Falle des Lesens oder Hören s. Hier habenwir zwar eine sinnliche Einheit und Zusammengehörigkeit dergesehenen oder gehörten Wortzeichen in ihrer sinnlichenKonfiguration gegeben; aber im gewöhnlichen Lesen keines-wegs ineins damit eine mitgehende Artikulation deswirklichen Denkens, in synthetischer AktivitätGlied für Glied vom Ich her erzeugt. Vielmehr ist dieserGang eigentlichen Denkens durch die passiv verlaufende Synthesisder sinnlichen Wortlaute nur indiziert als zu vollziehender.

Bringen wir uns hier die Sachlage etwas näher.Die Wortlaute haben ihre Indikationen, die in sich unselbständig

aufeinander verweisen und aufeinander gebaut sind. Sie schließensich zusammen zur Einheit eines Wortgebildes, das wieder aus relativabgeschlossenen Gebilden besteht; jedes ist Träger einer Einheit derIndikation und das Ganze ist eine abgeschlossene Einheit, die noetischden phänomenologischen Charakter der assoziativen Abgeschlossen-heit und parallel (noematisch) der Abgeschlossenheit einer indiziertenund entsprechend aus indizierten Gebilden gebauten „Bedeutungs"-einheit hat.

Nun können auf der Bedeutungsseite die indizierten Gebilde,die Urteile selbst, auftreten in der „Evidenz" fort-laufender Erfüllung der indizierenden Intentionen,also in der Weise eigentlicher, in ursprünglicher Aktivitätmiterzeugter Urteile; oder sie können wie im passiven Lesenin leerer Weise indizierte sein.

Es handelt sich hier um einen Sonderfall einer ganz allgemeinenGesetzmäßigkeit. In jeder Art Leerbewußtsein kann dieserUnterschied des Leervorschwebens auftreten, es kann einerseits ineiner innerlich ungeschiedenen, nicht in besondere Leermeinungengegliederten Weise verlaufen, und demgegenüber in der Weise einesgegliederten, gegliedert betätigten Leerbewußtseins. Wie wenn icheinmal in unanschaulicher Weise „verworren-ineins" die Straße vormeinem Haus vorstellig habe und sogar auf sie gerichtet bin, oderaber, und ev. darauf folgend, im expliziten Durchlaufen und arti-kulierend die Straßenwindungen, die gepflanzten Bäume, Häuser, dieihr zugehören — immer aber unanschaulich, ev. mit einigen Punktenmomentan durchstoßender Anschaulichkeiten. So kann ein im-

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gegliedertes Leerbewußtsein übergeführt werden in ein „ent-sprechendes" gegliedertes, wobei der verworren gemeinte Sinngehalt(unter identifizierender Deckung von der Art der „Explikation") sich„auseinanderlegt" als das ExpIikat, als die eigentliche Meinungdes vordem verworrenen einheitlichen Gehaltes.

Das gleiche gilt im besonderen Falle von indizierten Urteils-bedeutungen, seien es Bedeutungen von wirklich gegebenen eigenenoder fremden Urteilen, oder von in der Phantasie als möglich vor-stelligen. Dazu ist zu bemerken: die fremden verstehe ich „nach", unddieser Modus des Nachverstehens (und evtl. Mit urteilens) ist sorgsamzu unterscheiden vom ursprünglich eigenen Urteilen und seinen ver-schiedenen Modis — dem jetzt aktuell betätigten Urteilen und wiederdem eigenen vergangenen, aber verworren „wiedererweckten" undnur „noch geltenden" Urteilen usw.

Danach haben wir durch diese Unterschiede in gewisser Weisehindurchgehend zu unterscheiden ein nicht-explizites Urteil,indiziert durch einen explizit auftretenden sprachlichen Satz, undein entsprechendes explizites, bzw. eine nachträgliche Aus-einanderlegung unter Identifikation des Gemeinten.

Bei der Verdeutlichung haben wir aber zwei Fälle zu unter-scheiden, neben dem bisher allein beachteten der schlicht-identifizier-baren, der widerspruchslosen Verdeutlichung auch dender widersprechenden. Im Erleben der widerspruchslosenDeckung sehe ich, daß das Explizierte dasselbe ist wie das Unexpli-zierte, oder daß bloß verdeutlicht ist, was vom Urteilenden in jenerverworrenen Meinung gemeint war. Im Gegenfalle des Widerspruchsist die Einheit der verworrenen Gesamtmeinung als einheitlicherGlaube vorausgesetzt. Im Fortschreiten der Explikation kannnun dieser oder jener neu auftretende Sonderglaube durch denvorher explizit betätigten und in fester Geltung verbleibenden Durch-streichung, Aufhebung erfahren. Damit ineins nimmt alsbald undnotwendig der zugrundeliegende Gesamtglaube, der in Explikationbegriffene, den Nichtigkeitscharakter an. Wie steht es jetzt mit derIdentitätsdeckung von Gesamtexplikanden und Gesamtexplikat? Wirmüssen offenbar sagen: in der Durchstreichung ist der Glaube, derdiese Modifikation der Durchstreichung über sich ergehen ließ, ingewisser Weise noch da als Glaube dieses Sinnes, allerdings nicht mehrvom Ich her aktuell betätigt oder in ihm als seine fortgeltende über-zeugung verwurzelt, aber ihm noch bewußt als sein frühererGlaube, mit dem ganzen Sinn in seinen Sinnesgliederungen und

zugehörigen Glaubensthesen.4*

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Edmund Husserl, [52

Handelt es sich um das Urteilen eines Anderen, 80 habe ich, wennich nicht mitglaube, die "bloße Vorstellung" vom Glauben desAnderen, des und des Inhaltes, eine Vergegenwärtigung analog einerErinnerung an einen eigenen vergangenen Glauben, den ich jetzt„nicht mehr mitmache", aber doch jetzt als meinen früher betätigtenGlauben in Erinnerungsgeltung habe. Mein Urteil — das ich soebengefällt hatte, aber in der Explikation verwerfen muß, das also vondem Moment an nicht mehr mein jetziges Urteil sondern mein soebengewesenes ist — hat jetzt gemäß der Explikation den und den expli-ziten Sinn, ebenso mein f rüber vergangenes Urteil und in ähnlicherWeise das appräsentierte Urteil des Anderen. Dabei ist zu beachten,daß durch die Wandlung der Durchstreichung hindurch eine Iden-titätsdeckung geht, die die bloße Urteils-„materie" betrifft. DieDurchstreichung ändert nichts an dem retentional, oder wieder-erinnerungsmäßig oder in der Weise der Einfühlung vergegenwärtigtenUrteil; und expliziere ich was darin liegt, so deckt sich dieses so Ver-gegenwärtigte mit dem Explikat, mag ich auch, explizierend, meineDurchstreichung vollziehen. Natürlich sagt das nicht, daß der Andereim voraus weiß oder ich früher wußte, was die Explikation als deut-lichen Satz ergeben würde, sonst könnte ja niemand Widersprücheübersehen, unmittelbare und mittelbare.

Nach diesen Klärungen verstehen wir den wesentlichen Unter-schied der vagen oder „verworrenen" Urteilsweisengegenüber den „deutlichen", wobei es von vornherein sichtlichist, daß hier nicht in Frage kommt, ob Urteile h insichtlichihrer Sachverhalte Evidenz (Anschaulichkeit) haben odernicht. Auf der einen Seite trat uns der in bezug auf das sprachlicheDenken so wichtige Unterschied innerhalb der Vagheitselbst hervor: nämlich vage kann schon die Sinnlichkeit der Wort-laute und ihrer Gliederungen sein; es kann aber auch in dieserHinsicht scharfe Artikulation statthaben und ineins damit eineArtikulation der Indikationen. Aber es fehlt dann dochdie so wichtige Deutlichkeit der urteilenden Meinungenselbst, bei denen zwar geglaubt und insofern geurteilt und doch„eigentlich" nicht geurteilt ist.

Im sprachlichen Urteilen heißt ein mit dem Indikationen mit-gehender expliziter Vollzug des Urteilens mit gutem Grund "wirklichund eigentlich Urteilen"; denn er allein hat den Wesens-charakter der Ursprünglichkeit, in der das Urteil originaliter, als esselbst, gegeben ist, indem es, was hier dasselbe, in wirklicher undeigentlicher Aktion des Urteilenden „syntaktisch" aufgebaut wird.

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Nur ein anderer Ausdruck ist: das explizite, das „deutliche"Urteilen ist die Evidenz für das „deutliche Urteil",als die ideale Gegenständlichkeit, die sich in solchersynthetischen Aktion eben ursprünglich konstituiert und in derenWiederholung identifiziert.

Diese Evidenz ist ursprüngliches Auftreten als es selbst, abernoch nicht ein evident erfahrendes Erfassen und thematischBetrachten des Urteils: was sich in ihr als einer polythetischenAktion konstituiert hat, wird hinterher in einem erfassenden Strahl„monothetisch" erfaßbar, das poIythetische Gebilde wird zu einemGegenstand 1)

Natürlich können sich Verworrenheit und Deutlichkeit des Ur-teilens miteinander mischen, wie wenn wir lesend einige Urteilsschritteund Strecken wirklich und eigentlich vollziehen und dann unsstreckenweise von den bloßen Indikationen der Wortgebilde tragenlassen, die, wie gesagt, auch wieder ihre ganz andersartige Deutlichkeitoder Undeutlichkeit haben können 2)

h) Deutlichkeit und Klarheit.

Es kommt aber noch eine andersartige Mischung und sonach beientsprechender Reinigung ein anderer wichtiger Kontrast für uns inBetracht, nämlich die Mischung bzw. der rein gefaßte Unterschiedzwischen „Deutlichkeit" und „Klarheit".

Es scheiden sich hier zwei Evidenzen, diejenige, in der dasUrteil selbs t, als Urteil zur Selbstgegebenheit kommt, dasdann auch deutliches Urteil, aus dem wirklichen und eigentlichenUrteilsvollzug entnommenes heißt. Fürs Zweite diejenigeEvidenz, in der d a s zur Selbstgegebenheit kommt, worauf derUrteilende "durch" sein Urteil hindurch will, nämlichals erkennen Wollender -- so wie ihn die Logik sich immer denkt.

Explizit urteilen ist noch nicht in „Klarhei t" urteilen, alswelches in dem Vollzug der Urteilsschritte zugleich Klarheit derSachen und im ganzen Urteil Klarheit des Sachverhalteshat. Unklares Urteilen und öklares können ein und dasselbe Urteilurteilen, die Evidenz der Selbigkeit des Urteils kann so durch wesent-lich verschiedene Gegebenheitsmodi hindurchgehen; aber nur einUrteilen in der Fülle der Klarheit kann aktuelleErkenntnis sein und ist dann die neue Evidenz einer Selbst-

I) Vgl. dazu Ideen, S. 247 E.2) Vgl. zu diesen ganzen Ansführungen auch Beilage II.

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gegebenheit der Sachen selbst, des Sachverhaltes selbst, worauf in demauf Erkenntnis hinstrebenden Urteilen hingezielt ist, auch dort, wodas Urteilen noch völlig unklar, anschaulich unerfüllt war.

c)Klarheit der Selbsthabe und Klarheit der Antizipation.

Doch hier verzweigen sich noch die Unterschiede, insofern als die„Klarheit" bezeichnen kann das Urteilen in dem Modus des seinenvermeinten Sachverhalt s elb s t gebenden, also das, was man gewöhn-lich als evidentes Urteilen im Auge hat, und wieder das Urteilenim Modus eines sich den vermeinten Sachverhalt vor-verbild-li chenden, anschaulich machenden Urteilens. Im letzteren Fall istnicht der Sachverhalt selbst gegeben, sondern eben ein Vor-bild, eineans chauliche Antizipation, die sich erst zu bestätigen hat in derSelbsthabe. Vollkommene Klarheit besagt einmal Klarheit des„Sehens", des „Erfassens" im wirklichen und eigentlichen Sinn, indem der Sachverhalt und die in ihm eingehenden Sachen, sie selbst,erfaßt sind; das andere Mal vollkommen verbildlichende Klarheit des— erst zu verwirklichenden — Zieles, auf das urteilend hingestrebtist. Das Erkenntnisstreben geht hier von der „Verworrenheit"zur Deutlichkeit, und ergibt diese ein noch unvollkommenanschauliches oder gar völlig anschauungsleeres, obschon explizitkonstituiertes Urteil, so geht sie durch dieses hindurch, e v t I.zunächst nur zu einer Vorverbildlichung des Erkenntnis-zieles. Das Übergangsphänomen synthetischer Deckung heißt dann imgewöhnlichen Wortsinn Klärung des Urteils als Meinung (sich seineMeinung klar machen). Das Erkenntnisstreben ist dadurch aber nichtans Ziel gekommen, es geht weiter zu jener anderen Klarheit,zur Evidenz der Selbsthabe des Vermeinten, des Endzieles.

Diese beiden Modi der Klarheit haben ihre Gradualitäten derVollkommenheit mit den zugehörigen Ideen vollkommener Unklarheitund vollkommener Klarheit'). Zudem scheiden sich im Übergang zur

1) Die Rede von einem „Gran z punk t," statt von einer Idee der Klarheit,die hier zunächst sich bietet, wäre nicht immer passend. Nicht immer ist an soetwas wie einen Limes zu denken. So ist vollkommene Evidenz der äußerenErfahrung eine regulative Idee im Kantischen Sinne. Äußere Erfahrung ist apriorinie vollkommen selbstgebend, sie trägt aber, solange sie in konsequenter Ein-stimmigkeit verläuft, in sich als intentionale Implikation die Idee eines unend-lichen, in sich geschlossenen Systems möglicher Erfahrungen, die wir von derfaktischen Erfahrung aus hätten durchlaufen können oder jetzt oder in Zukunftdurchlaufen könnten, derart daß sie als einstimmige Fortführungen der faktischenErfahrung gezeigt hätten- oder zeigen würden, wie das Ding über daa. was sieh von

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Klarheit, also in den „Klärungen", die Fälle ab, wo nur einzelneStücke des zur Setzung Gekommenen Klarheit gewinnen und gewinnenkönnen, sofern sie sich zwar zu einem klaren Bilde oder einem evidentgegebenen Sachverhalt „seihst" zusammenschließen, aber so, daß diesanschaulich Gewordene nicht die urteilende Intention erfüllt, sondernsie aufhebt — in der Weise der evident werdenden Unmöglichkeitund im anderen Falle der evident werdenden „Unwahrheit".

§ 17. Die Wesensgattung „deutliches Urteil" als Thema der„puren Analytik".

Die pure apophantische Analytik in unserem prägnanten Sinnehat als den ihr Gebiet bestimmenden Oberbegriff den des Urteils:des eigentlichen, das seinen Seinssinn aus der expliziten Eigent-lichkeit des Urteilsvollzuges ursprünglich schöpft, und nur aus ihr.Das Erkenntnisstreben, das durch solch ein Urteilen öfters hindurchgeht, und das der Logiker in seinem Interesse für wissenschaftlichesUrteilen, bzw. wissenschaftliche Urteile, als auf Wahrheit als Erkennt-nis gerichtete, vorzüglich im Auge hat, bleibt in der Sphäre der purenAnalytik ganz außer Frage; es wird davon abstrahiert. Dasselbe Urteil— ob geklärt und überhaupt zu klären, ob in Erkenntnis überzuführenoder nicht, nur wirklich aus der Evidenz der Deutlichkeitgeschöpft und zu schöpfen — das ist das Thema.

Wie die Logik überhaupt als apriorische Wissenschaft, so hat esdie pure Analytik nicht mit wirklichen Urteilen, also irgendwann undwo wirklich gefällten, sondern mit apriorischen Möglichkeiten zu tun,Möglichkeiten, denen sich alle entsprechenden Wirklichkeiten inleicht verständlichem Sinne unterordnen. Wenn der Logiker derpuren Analytik, um die Wesensallgmeinheit zu gewinnen, vonExempeln ausgehen muß, an ihnen die Wesensschau zu üben, so kanner eigene wirkliche Urteile nehmen, er kann auch Urteile Anderernehmen, die er vielleicht ganz ablehnt, aber nachverstehend und inder Weise eines eigentlichen Quasivollzuges doch als mögliche Urteileevident erfaßt; er kann sich aber auch in eine Phantasiewelt hinein-leben und in ein darin Urteilen (eigenes oder fremdes) — nur daß er

ihm schon zeigte, hinaus „an und für sich selbst" ist. Als Korrelat dieser phäno-menologisch aufzuklärenden unendlichen Antizipation (die als solche eine eigeneEvidenz hat) ist das an sich seiende Ding seinerseits eine Idee, die das natur-wissenschaftliche Denken rechtmäßig leitet und ihm ein Fortschreiten in Appro-ximationsstufen ermöglicht mit zugehörigen relativen Evidenzen. Für unsereZwecke können wir uns mit einer ersten rohen Umschreibung der „Klarheit" be-gniigen. (Zum Begriff des Dinges als Idee im Kantischen Sinne vgl. Ideen, S. 309 ff.)

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Fdmand /iniserl, [56

die Abwandlung der Evidenz der Deutlichkeit herstellt, die die Be-deutung der Evidenz möglicher Urteile als solcher hat. So hat derrein analytische Logiker die Wesensgattung deutlichesUrteil mit ihrem Umfang möglicher Urteile als sein Gebie t.

§ 18. Die Grundfrage der puren Analytik.

Die Frage ist nun, was kann man, rein innerhalb dieses Ge-bietes verbleibend, von Urteilen (dieses Sinnes) irr forma aussagen,nachdem die vorangegangene logische Disziplin, die reine Formen-lehre — die jedenfalls zugleich die Formen deutlicher Urteile enthält— die Mannigfaltigkeit möglicher Formen konstruiert und für unsverfügbar gemacht bat?

Gebunden an das Eigenwesentliche der Urteile, das ist an diekonstitutiven Eigenschaften, die sie als Urteile haben, können wir,über das Eigenwesentliche hinaus, das die Formenlehre entfaltet, nurauf Relationen gefaßt sein, die durch das Eigenwesentliche der Urteileapriori fundiert sind. Und in der Tat stoßen wir hier auf bekannte,rein zu den deutlichen Urteilen als solchen apriori gehörige Rela-tionen: auf Konsequenz (Beschlossensein), auf Inkonsequenz(analytischen Widerspruch, Ausgeschlossensein) und auf das terrium,die Urteilsverträglichkeit, die weder das eine noch das andere ist, dieleere Wi d er sp ruchs I o sigk ei t als Vereinbarkeit von Urteilen,die „miteinander nichts zu tun haben".

Genau besehen betrifft das Gesagte schon die Urteilsgliederder apophantischen Ganzheiten -- nämlich als in Deutlichkeit gesetzteund zu setzende. Sie sind, wie wir vorweg schon angedeutet habenim weiteren Sinne auch „Urteile", nur unselbständige,sofern sie in der Erkenntniseinstellung dazu bestimmt sind, zuUrteilsgliedern apophantischer Ganzheiten (der Urteile im präg-nanten Sinne) zu werden, und nur so Erkenntnisbedeutung gewinnen.Auch diese Urteile des gegenüber dem üblichen er-weiterten Sinnes— ein Urteilsbegriff, den wir hinfort festhaltenwerden — stehen in den oben bezeichneten analytischen Grund-verhältnissen, sie können sich in Konsequenz fordern oder aus-schließen und im letzteren Falle in der Einheit eines ganzen Urteilsunverträglich sein.

Da alle puren analytischen Verhältnisse, näher überlegt, Ver-hältnisse sind, in denen, ausschließlich bezogen auf den Begriff des

1) Vgl. oben § 14.

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57f Foralaie und transzendentale Logik. 57

deutlichen oder eigentlichen Urteils, verschiedene Urteile zur Einheiteines Urteils zusammengehen oder in der Einheit eines Urteils unmög-lich sind, so kann man die pure analytische Grundfrage auchfolgendermaßen fassen:

Wann sind beliebige Urteile als solche, und derbloßen Form nach, in der Einheit eines Urteils mög-lich, und in welchen Beziehungen sind sie möglich?

Sie sind es natürlich nur in Konsequenz oder in Beziehungs-losigkeit hinsichtlich einer möglichen Konsequenz.

Die "Widerspruchslosigkeit" besagt also von der Seitedes Urteilenden die Möglichkeit deutliche Urteile in der Einheiteines in Deutlichkeit zu vollziehenden Urteils urteilen zu können.Dabei ist wohl zu beachten, daß das bloße Zusammenurteilenschon eine Urteilseinheit, Einheit der Zusammengeltung besagt.

In der formalen und puren Analytik betrifft die Frage dieUrteils formen: welche Formen sind überhaupt als Vollzugs-formen deutlichen Urteilens zu erkennen und welche nicht, und zwarapriori; darin beschlossen: welche Formen von Urteilskomplexionenbeliebiger Stufe sind apriori Formen von einheitlichen Urteilen, dieals eigentlich vollziehbare die Evidenz der Deutlichkeit haben?

§ 19. Die pure Analytik als Grundlage der formalen Logikder Wahrheit. Widerspruchslosigkeit als Bedingung möglicher

Wahrheit.

In diesen Forschungen hat man also nie über das Eigenwesen derUrteile, bzw. der Urteilsformen hinauszugehen, nie die Evidenz derDeutlichkeit zu überschreiten. Sofort überschreiten wir aber dieseapriorische Sphäre, wenn wir Fragen der Wahrheit, bzw. fürdie zunächst nur als deutliche Urteile gefaßten Gegenstände Fragenihrer Adäquation an die Sachen selbst stellen, sowie wir also denWahrheitsbegriff ins Thema mit hereinziehen. Das Prädikat Wahrheitist zwar auf Urteile und nur auf Urteile bezogen, ob wir den obenbezeichneten engeren Urteilsbegriff (Apophansis) oder den weiterenzugrunde legen. Aber solange wir uns an die bloße Evidenz der Deut-lickeit binden und das in ihr unter dem Titel Urteil Identifizierbare,bleibt zwar jeder Widerspruch ausgeschlossen (jeder analytischeWidersinn), dafür aber jeder sachliche Widersinn und jedesonstige Unwahrheit offen. Von aller Leistung der Klärung, des Rück-gangs zu der sachlichen Möglichkeit und Wahrheit ist ja abstrahiert,oder mit anderen Worten von allen Fragen der Bewährung.

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58 Edmund Husserl,

Was liegt nun darin: in formaler Allgemeinheit über möglicheUrteilswahrheit Wesenseinsicht zu suchen? Es heißt offenbar sichmögliche Urteile in möglicher Bewährung denken, in möglicher Adä-quation an die entsprechenden, die vermeinten Sachen selbstgebendenUrteile. Jetzt sind von vornherein die Urteile nicht als bloße Urteilegedacht, sondern als von einem Erkenntnisstreben durch-herrschte, als Meinungen, die sich zu erfüllen haben, die nichtGegenstände für sich sind im Sinne der Gegebenheiten aus bloßerDeutlichkeit, sondern Durchgang zu den erzielenden "Wahrheiten"selbst.

Vertauscht man in dieser Weise die theoretische Einstellung aufdie bloßen Urteile mit der Erkenntniseinstellung, der Ein-stellung auf die urteilend zu erkennenden Sachverhalte, bzw. aufbewährende Adäquation, so erfaßt man sofort als Wesenseinsieht, daß,was in der Einheit eines deutlichen Urteils unverträglich ist, auchunverträglich ist in der Wahrheit, oder daß ein Widerspruch in denbloßen Urteilen die Möglichkeit der Adliquation selbstverständlichausschließt. Wahrheit und Falschheit sind Prädikate, die nureinem deutlichen, bzw. zu verdeutlichenden, einem wirk-lich und eigentlich vollziehbaren Urteil zukommenkönnen. Die Logik hat sich nie klar gemacht.. daß dieser Urteils-begriff dem alten Satz zugrunde liegt, Wahrheit und Falschheit (imursprünglichen Sinne) seien Prädikate von Urteilen. So vermitteltist also eine pure Analytik wesensmäßig zugleich ein Grund-stück einer formalen Logik der Wahrheit. Die auf dasUniversum der Urteilsformen bezogene Scheidung in diejenigen,welche Gesetzesformen der Konsequenz, diejenigen, welche Gesetzes-formen der Inkonsequenz und diejenigen, die als außerhalb stehendim „trivialen" Sinne (wie es der Mathematiker ausdrücken würde)widerspruchslos sind, gewinnt für die Möglichkeit der Adäquationoder Wahrheit unmittelbare Bedeutung. Jede Urteilskonsequenzwird, wenn sie in Anschaulichkeit zu vollziehen ist, zu einer K o n -se quenz der Wahrheiten bzw. der sachlichen Möglichkeiten.Jeder Widerspruch aber schließt von vornherein Fragen der Adä-quation aus, er ist a linzine eine Falschheit.

§ 20. Die logischen Prinzipien und ihre Analoga in der purenAnalytik.

Die Abscheidung einer puren Konsequenzlogik von der Wahr-heitslogik bedingt auch hinsichtlich der sogenannten Prinzipien der

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Formale und tramzendentale Logik. 59

traditionellen Logik, das ist der die Begriffe Wahrheit und Falschheitauslegenden Prinzipien, eine Doppelseitigkeit.

Das Doppelprinzip vom Widerspruch und vom aus-geschlossenen Dritten als Prinzip der Wahrheitslogik besagtfolgendes:

„Ist ein Urteil wahr, so ist sein kontradiktorisches Gegenteilfalsch" und „von zwei kontradiktorischen Urteilen ist notwendig eineswahr"; beides ineins genommen: „jedes Urteil ist eines von beiden,wahr oder falsch".

Das Anal ogon dieser Sätze in der Konsequenzlogik ist einPrinzip, das zum Wesen der eigentlichen (in der Evidenz der Deut-lichkeit selbstgegebenen) Urteile gehört. Es lautet:

Von zwei kontradiktorischen Urteilen sind nicht beide als eigent-liche Urteile möglich, nicht beide zur Evidenz der Deutlichkeit zubringen, es haben nicht beide ideale „mathematische Existenz".Jedoch eines von beiden hat sie, ist zur Evidenz der Deutlichkeitzu bringen.

Zu den obersten Wahrheitsprinzipien der apophantischen Logikmüssen ferner auch die Prinzipien gerechnet werden, die Wahr-heit und Konsequenz ursprünglich verbinden. Dietraditionelle Logik bringt diese Prinzipien in der unreinen Gestaltdes modus ponens und tollens. Auch hier haben wir dieselbe Ana-logie. Es gibt schon in der Sphäre der bloßen analytischen Kon-sequenz einen rtiodits ponens und tollens, der natürlich thematischnichts von Wahrheit und Falschheit besagt, sondern bloß zum Wesender eigentlichen Urteile und zu ihren eigentümlichen Verhältnissenanalytischer Konsequenz gehört als ein besonderes Konsequenz-gesetz. Allein in dieser Form ist er ein echtes logisches Prinzip.Dieses lautet:

Aus zwei Urteilen der Form, „wenn M so N" und „M" folgtanalytisch „N". Ebenso aus zwei Urteilen der Form „wenn M so N"und „non N" folgt „non M".

Das entsprechende Wahrheitsprinzip lautet dann:Besteht zwischen zwei beliebigen Urteilen M und N ein unmittel-

bares Verhältnis von totalem analytischem Grund und totaler analy-tischer Folge, so zieht die Wahrheit des Grundes die Wahrheit derFolge und die Falschheit der Folge die Falschheit des Grundesnach sich.

Wir haben die Worte totaler Grund und totale Folge eingeführt,um auf die Unmit telba rk ei t des Verhältnisses hinzuweisen. Wirverstehen unter diesen Worten nichts anderes als die wirklichen, wie

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60 Edmund Husserl,

immer nachher teilbaren Glieder eines Verbältnises unniiile lbarerKonsequenz. Die partialen Prämissen und Folgen bedingen dann nurals Teile der Totalgründe und -folgen Konsequenzverhältnisse, diealso schon mittelbare sind. Wenn in einem der Folgekomplexe(der nur als voller Komplex Totalfolge ist) eine Einzelfolge falsch ist,bedingt sie unmittelbar die Falschheit der Totalfolge, und 80 erst dieFalschheit der Totalprämisse.

Das von uns aufgestellte Prinzip ergibt unmittelbar in An-wendung auf den obigen modus ponens und tollerzs — als Prinzipunmittelbarer purer Konsequenz verstanden — die richtigen Modider Wahrheitslogik:

Ist der Vordersatz eines hypothetischen Urteils wahr, so ist derNachsatz wahr, ist der Nachsatz falsch, so auch der Vordersatz. Oderformelhaft gefaßt:

Ist zugleich wahr „wenn M so N" und "M ("gehen" siezugleich), so ist „N" wahr. Ist zugleich wahr „wenn M so N" und„non N", so ist „non M" wahr (oder in Äquivalenz „NI" falsch).

Was die Mitt elb arkeit en analytischer Folge anlangt, so istes zunächst ein pures Gesetz analytischer Konsequenz (also zu denbloßen aber deutlichen Urteilen gehörig und vor allen Fragen nachihrer möglichen Wahrheit), daß eine unmittelbare analy-tische Folge einer unmittelbaren analytischen Folgeselbst wieder eine analytische Folge des jeweiligenGran des ist, woraus sich selbst als Konsequenz ergibt, daß eineFolge beliebiger Mittelbarkeit selbst auch Folge dieses Grundes ist.Verbinden wir dieses Gesetz mit unserem Wahrheitsprinzip fürunmittelbare analytische Konsequenz, so ergibt sich daraus — undzwar in bloßer analytischer Konsequenz — daß dieses Prinziperweitert auch Gültigkeit behält für analytische Konsequenzen vonbeliebiger Mittelbarkeit.

§ 21. Die Evidenz in der Deckung „desselben" verworrenen unddeutlichen Urteils. Der weiteste Urteilsbegriff.

Werfen wir nun noch einen Blick zurück auf die „v e r-worr enen" Urteile, die wir den Urteilen im prägnanten Sinneder Analytik als deutlichen gegenübergestellt haben, so liegt in derIdentifizierung derselben mit je entsprechenden deutlichen offenbarnoch eine dritte Evidenz verborgen, durch die ein dritterUrteilsbegriff Seinssinn erhält. Im Übergang, in dem Sich-deutlichmachen dessen, was man im vagen urteilenden Meinen eigent-

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61] Formale und transzendentale Logik. 61

lich meinte, was man oder der Andere eigentlich sagte, was im vagenEinfall eigentlich gedacht war — in diesem Übergang gibt sich dasdeutliche Urteil als evidente bloße Auslegung der wahrenMeinun g. Es vollzieht sich eine Identitätsdeckung ursprünglicheigener Gestalt, die eine Grundgestalt der „Evidenz" be-zeichnet, wie jede Evidenz (jede im weitesten Sinne zu fassende „Er-fahrung") hat sie ihre Vollkommenheitsgrade und ihre Idee, ja hiereinen idealen Limes der Vollkommenheit, in dem die synthetischeDeckung in der Tat eine schlechthin vollkommene wäre.

Diese beiden Urteilsweisen und ihre Korrelate das verworreneund deutliche Urteil selbst., haben offenbar ein ähnlichesVerhältnis, wie das deutliche aber leere (oder unvoll-kommen anschauliche) und das deutliche aber einsichtige— einsichtig selbstgebend für mögliches oder wahres Sein der Sachen,auf die im erkennenden Urteilen abgezielt ist. Das verworrene Ur-teilen trägt, nicht immer, aber, wie oben schon gesagt, im Zusammen-hang eines theoretischen Interesses, in sich eine Ab zielun g, dieauf das deutliche Urteil gerichtet ist, und wo es dazu kommt, sich inihm erfüll t. So wie nun in der vorigen Erfüllungssynthesis eineBlickstellung und Identifizierung möglich ist, wodurch leeres undvolles Urteil bloß aIs Urteile zur Identität kommen und alsdasselbe Urteil eigene Gegenständlichkeit gewinnen, so auch in derparallelen Erfüllungesynthesis, die verworrenes und deutlichesUrteil zur Deckung bringt. Oder, so wie die Erkenntnis, die Selbst-habe des Sachverhaltes, in sich auch deutliches Urteil ist, so gut wiedas entsprechende leere Urteil, ebenso ist das Urteil in der Vagheitund das in der Deutlichkeit „dasselbe Urteil". Damit ist nicht gesagt,daß jedes verworrene Urteil sich überführen läßt in „dasselbe" aberdeutliche Urteil, ebensowenig, als sich jedes deutliche Urteil über-führen läßt in eine sachliche Einsicht, sei es als Möglichkeit, sei esals Wahrheit.

Der weiteste Urteil sbeg rif f ist also derjenige, der gegendie Unterschiede der Verworrenheit, Deutlichkeit und Klarheitunempfindlich ist, bzw. von diesen Unterschieden bewußt abstrahiert.Da unter Zugrundelegung dieses Begriffes jedem einsichtig er-kennenden und jedem deutlichen Urteil bei der Wesensmöglichkeit— ja in der Genesis der steten Notwendigkeit — des Verworren-vierdeng ein gleiches oder vielmehr dasselbe Urteil entspricht imModus der Verworrenheit, so umfaßt der Begriff des verworrenenUrteils in gewisser Weise alle Urteile des weitesten Sinnes, auch diezur Deutlichkeit und zur Klarheit zu bringenden.

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62

Edmund Hauer], [62

§ 22. Der Gebietsbegriff der apophantischen Formenlehre alsrein-logischer Grammatik ist das Urteil im weitesten Sinne.

Die Wichtigkeit dieser Abscheidung der dritten Evidenz undihres Korrelates, des neuen und weitesten Urteilslaegriffes, liegt darin,daß wir nun auch den Boden des Verständnisses für das Gebiet derreinen Formenlehre der Urteile gewonnen haben. Offenbar ist ihrGebietsbegriff das Urteil im weitesten Sinne, und die ganze konstitutiveFormgesetzlichkeit ist eine Gesetzlichkeit, die an das Eigenwesendieser Urteile gebunden ist. In der Verworrenheit ist jedes Urteilmöglich, das in der Deutlichkeit unmöglich ist, und in der Deutlichkeitwieder ist jedes Urteil möglich, das als einsichtige Erkenntnis unmög-lich ist. Die freie Formenbildung der Formenlehre kennt noch keinesie hemmenden Widersprüche. Der ganze Halt der Formenbildung istdie Rede mit ihren an die sinnlich abgehobenen Zeichen und ihresinnlichen Konfigurationen sich heftenden und wohl unterschiedenenIndikationen, Sinnverweisungen. Und es ist danach nicht ohneGrund, daß die Formenlehre der Bedeutungen in meinen LogischenUntersuchungen als „rein logische Grammatik" bezeichnet wurde.In gewisser Weise ist es ferner auch nicht ohne Grund, wenn öftersgesagt wurde, daß sich die formale Logik von der Grammatik habeleiten lassen. Das ist für die Formenlehre aber kein Vorwurf, sonderneine Notwendigkeit, wofern der Leitung durch die Grammatik (wasan historisch faktische Sprachen und ihre grammatische Deskriptionerinnern soll) substituiert -wird die Leitung durch das Grammatischeselbst. Einen Aussagesatz deutlich verstehen und ihn als möglichesUrteil vollziehen, das kann besagen und besagt oft ein deutlichesErfassen der Wort verläufe (unter innerem expliziten Quasi-nach-sprechen) und der zu ihnen gehörigen Verweisungsartikula-tion, mit der die Einheit eines verworrenen Urteils und doch einesin bestimmter Form gegliederten erwächst. So können wir ganz be-stimmt und artikuliert verstehen: kein Viereck hat vier Ecken, oder„alle A sind B, darunter einige, die nicht B sind — und dgl. SolcheBeispiele gelten in der „rein logischen Grammatik" mit, und so gehörenin das Formensystern alle Formen von widersprechenden Urteilen.Ohne die bestimmte Artikulation der vagen Urteile mittels der sinn-lichen Artikulation der Wortzeichen wäre eine Fornaenlehre und eineLogik überhaupt nicht möglich, wie selbstverständlich auch keineWissenschaft.

Durch diese Analysen ist der Sinn der in den §§ 13-45 in kurzerCharakteristik angeführten Dreischichtung der formalen Logik aus

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63] Formale und transzendentale Logik. 63

den ursprünglichsten Quellen geklärt und die Wesensnotwendigkeitdieser Schichtung begründet worden. Der bisherigen Logik ist siefremd geblieben, nur die Abscheidung einer reinen Formenlehre istschon in den „Logischen Urtersuchungen" vollzogen worden, hat aberin dem jetzigen Zusammenhang eine ungleich tiefere Begründungerfahren. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß unsere Scheidungzwischen formaler Logik der Widerspruclaslosigkeit und der Wahrheitein grundwesentlich Neues ist, so sehr sie den Worten nach allbekanntist. Denn diese Worte meinten etwas ganz anderes, nämlich denUnterschied zwischen der formal-logischen Problematik überhaupt,die als solche alle sachhaltige „Materie der Erkenntnis" außer Spiellasse, und den in irgendeinem weiteren (freilich nicht eben klargefaßten) Sinn von seiten einer Logik zu stellenden Problemen,welche eben diese sachhaltige Materie in Rechnung ziehen, wie dieFragen nach der Möglichkeit einer Erkenntnis realer Wirklichkeit,bzw. der Gestaltung von Wahrheiten über die reale Welt.

2. Kapitel.

Formale Apophantik, formale Mathematik.

§ 23. Die innere Einheit der traditionellen Logik und das Problemihrer Stellung zur formalen Mathematik.

a) Die begriffliche Abgeschlossenheit der traditionellenLogik als apophantischer Analytik.

Die formale Logik in der bisherigen Begrenzung als apophantischeAnalytik im weiteren Sinn verdankt die apriorische Geschlossenheitihrem (dem Arist o telis chen) Begriff der Urteilsform. Man kanndiesen Begriff auch definieren als Bestimmung von Urteilen überhauptausschließlich durch ihre „syntaktischen F o rmen", die sie alsGebilde "syntaktischer Operationen" a priori haben müssen.Die syntaktische Form läßt sich an jedem Urteil in Wesensbegrifferein fassen. Die Reinheit der Fassung sagt, daß die jeweils in dieSyntaxen eingehenden „syntaktischen Stoffe" als unbestimmt-beliebige gedacht werden. So entspringt der reine Formbegriff einesUrteils überhaupt als ausschließlich bestimmt durch jeweils angegebeneund begrifflich bestimmte syntaktische Formen 1) Als mitbestimmendund somit dem analytisch-logischen Formbegriff zugehörig, dürfen nurnoch hereingezogen werden die allgemeinsten „m o dalen." Ab -

I) Vgl. dazu die Beilage I.

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64 Edmund Husserl, [64

wandlunge n, die jedwedes Urteil erfahren kann, unangesehen alleres aufbauenden und daran zu vollziehenden syntaktischen Opera-tionen. Dieser Begriff der modalen Abwandlung erschöpft sich keines-wegs bloß in den sogenannten Urteilsmodalitäten. Unter ihn gehörtz. B. auch die kaum je verstandene Abwandlung, die Subjekte vonExistenzialsätzen und Sätze als Subjekte von Wahrheitsprädikationendarstellen gegenüber den entsprechenden unmodalisierten Subjektenund apophantischen Sätzen. Alle diese Modalitäten müssen in einersystematischen Logik besonders definiert sein als formale Urbegriffe.

Solange die Logik nun an diesen Begriff des Formalen gebundenbleibt, solange sie also in den apophantischeu Grundformen und dendaraus zu konstruierenden alle „Termini" als unbestimmte Variablebeläßt, kann sie keine anderen Erkenntnisse über niiigliche Wahrheitgewinnen als solche, die unmittelbar an die pure Analytik der Wider-spruchslosigkeit angeschlossen sind, die also bis auf wenige Sätzesozusagen nur triviale Wendungen der ernstlich die Erkenntnis be-reichernden formalen Theorien dieser puren Analytik sind. Dennwenn die formale Logik wirklich in jener radikalen Reinheit durch-geführt wird, die sie allein philosophisch nutzbar und sogar höchstwichtig macht, fehlt ihr alles, was die Wahrheiten, bzw. die Evidenzenzu scheiden gestattet. So wie ihr Gegenstandsbegriff der allgemeinsteist (der eines Substrates überhaupt in möglichen bestimmenden Prädi-kationen) so auch ihr Sachverhaltsbegriff und ihr Begriff der Evidenz.Sie kann demnach selbst so allgemeine Scheidungen wie die zwischenindividuellen Gegenständen und kategorialen, von „bloßen Sachen",Werten, Gütern usw. nicht machen, keine Scheidung zwischen denAllgemeinheiten, die aus individuellen Gegenständen geschöpft, imgewöhnlichen Sinne Gattungen und Arten heißen gegenüber anderenAllgemeinheiten. Es ist damit schon fühlbar, daß diese formale Logiknicht die Logik überhaupt sein kann, die volle und in einem neuenreicheren Sinne formale Wissenschaftslehre.

b) Das Auftauchen der Idee einer erweiterten Analytik‚Leibniz' „mathesis universalis", und die ructhodisch-technischeVereinheitlichung der traditionellen Syllogistik und der

formalen Mathematik.

Aber wir dürfen hier nicht daran gehen, die Idee der Logikin dieser Richtung intentional zu entfalten. Denn so sicher wirder Geschlossenheit der analytischen formalen Logik geworden sind,so bietet sie selbst uns noch große Probleme. Die strukturellenScheidungen, die wir in ihr durchgeführt haben, nehmen keine Rück-

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65] Formale und transzendentale Logik. 65

sieht auf die großen Erweiterungen, welche seit Leibniz für dietraditionelle Logik gefordert werden in der Überzeugung, daß sie nurdadurch der Idee einer formalen Analytik mit dem ihr eigentümlichenSinn des Formalen voll genug tun könne. Es ist nun an der Zeit dieseErweiterung in Erwägung zu ziehen, nämlich die schon erwähnteSynthese der traditionellen Syllogistik und der formalen Analysis inder Leibnizschen Idee einer mathesis universalis.

Außer Kontinuität mit Leibniz, dessen genialer Intuition diehistorische Wirkung versagt war, vollzieht sich eine Einverleibungder Syllogistik in die formale Mathematik, ineins mit der Ausbildungeiner syllogistischen Algebra. Sie ist nicht erwachsen aus philoso-phischen Reflexionen über den prinzipiellen Sinn und die Notwendig-keit einer mathesis universalis, sondern aus den Bedürfnissen derdeduktiven theoretischen Technik der mathematischen Wissenschaft,zuerst in der englischen Mathematik seit Anfang des 19. Jahr-hunderts (d e Mo rgan, Bo GI e). Hierbei mußte sich die Syllogistikvon vornherein eine bedenkliche Umdeutung in eine „Umfangslogik"gefallen lassen, die in ihrer prinzipiellen Unklarheit manchen Wider-sinn mit sich geführt hat und allerlei Künste, sie für die Praxismathematischer Theoretisierung unschädlich zu machen. Anderseitsenthält sie aber einen gedanklichen Kern, der sein ursprünglichesRecht hat, und der es auch allein ermöglicht hat, daß die gedanklicheKontinuität mit der traditionellen Analytik nicht verloren ging. DieMathematiker, durch solche Unklarheiten in ihrer deduktive Theoriengestaltenden Arbeit wenig behindert, haben sich inzwischen allgemeindie Einheit der „Logik" und „Mathematik" (genauer der formalenAnalysis i)) zu eigen gemacht.

Wenn wir hier auf das Problem dieser Einheit näher eingehen,so handelt es sich für uns natürlich nicht um spezialwissenschaftlicheInteressen, weder solche der formalen Mathematik noch solche derformalen Syllogistik, noch der ev. anzuerkennenden positiven Wissen-schaft, welche die beiden zur Einheit bringt. Also nicht bloß darumhandelt es sich, die beiderseits in historischer Sonderung erwachsenenTheorien im systematischen Aufbau der einen deduktiven Wissenschaft,in der sie zusammengehören sollen, in der rechten Weise theoretisch zuverknüpfen, den zwischen ihnen bestehenden deduktiven Verhältnissengenugzutun und durch solche Einsicht in ihre Funktionen im theore-tischen Ganzen ihnen selbst erst die rechte theoretische Gestalt zu

1) Disziplinen wie die reine Geometrie, die reine Mechanik, auch die„analytische" Geometrie und Mechanik sind also ausgeschlossen, solange sie sich

wirklich auf Raum und Kräf te beziehen.Husserl, Jahrbuch i. Philosophie. X. 5

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Edmund Ilasserl, fe06

verschaffen. So groß ein solches Interesse auch sein mag, es steht weitzurück hinter dem philosophischen Interesse: die Zweekidee einerWissenschaftslehre nach den ihr immanenten tekologischen Strukturenzu enthüllen, die in ihrem intentionalen Sinn mitbesehlossenen Ideen— Ideen logischer Partialdisziplinen — in ursprünglicher Evidenz zuentwickeln, mit der einer jeden eigentümlichen, wesensmäßig in sicheinigen Problematik. Inwiefern hier wirklich höchste philosophischeInteressen in Bewegung gesetzt werden, kann allerdings erst spätersichtlich werden. Immerhin, man wird im voraus schon zugestehen,daß zur Philosophie die Wissenschaft von den Prinzipien gehört, unddazu wieder das Prinzipielle der Wissenschaft überhaupt, also dielogischen Prinzipienfragen. Das kann hier genügen.

Wir haben bisher schon die Methode systematischer Auslegungder teleologischen Struktur der Idee der Logik befolgt, und mindesteine solche Struktur haben wir durch sie entwickelt und zu einigerReinheit gebracht, nämlich die Idee der ausschließlich auf Urteile(als reine Bedeutungen) bezogenen formalen Analytik. In gewisserWeise war diese, und nicht als bloße Idee sondern als ausgearbeiteteTheorie schon längst, schon seit Jahrtausenden da. Aber wie sie,an Anfang an in einer embryonalen Unentwickeltheit ihres eigen-

tümlichen Sinnes und ihrer wesensnotwendigen Umgrenzung undSchichtung sich zeigte und in allen Neugestaltungen in dieser Un-klarheit verblieb, kann sie nicht genügen. Nun sind wir allerdingsin dieser Hinsicht mit unserer intentionalen Entfaltung ein gutesStück weiter gekommen. Den der historischen Logik sozusagen ein-geborenen Sinn konnten wir, der Struktur der idealen Bedeutungenfolgend, dreifältig schichten und danach die drei in der reinenAnalytik der Urteile aufeinander fundierten Disziplinen auslegen.Aber wie Wichtiges zu einer prinzipiellen Einsicht noch fehlt, wieviel tiefer wir die intentionale Klärung noch treiben müssen, wirddie Behandlung der Aufgabe zeigen, die uns durch Leibniz unddie neue Mathematik gestellt ist.

§ 24. Das neue Problem einer formalen Ontologie. Charakteristikder überlieferten formalen Mathematik als formaler Ontologie.

Das wesentlich neue Proble m, auf das wir, zunächst geleitetvon der syllogistischen Logik der Tradition, bisher nicht aufmerksamwerden konnten, taucht nämlich auf, sowie wir uns statt von derUnklarheit der traditionellen Logik vielmehr von derjenigen derneuen Mathematik — der die syllogistische Algebra mit der sonstigen

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67] Formale und transzendentale Logik. 67

„Analysis" verbindenden — leiten lassen. Auch diese erweiterteformale Mathematik ist für uns vorweg schon da und doch wiedernoch nicht da. Sie ist es noch nicht, sofern für sie der in prinzipiellerKlärung herausgestellte Einheitssinn fehlt, die in Evidenz ent-faltete Zweckidee einer einheitlichen Wissenschaft, aus der eszu verstehest wäre, daß, was sie theoretisch-technisch einigt, in Not-wendigkeit zusantutengehört, als in dieser geklärten Idee begründeteZusammengehörigkeit des Sinnes. Sowie wir diese Idee zu gewinnensuchen (sei es von der uns schon klar gewordenen Idee einer formalenAnalytik hinstrebend zu den alten, dabei allererst zu klärenden formal-mathematischen Disziplinen, oder umgekehrt) tritt uns das neueProblem -- das einer formalen Ontologie — in den Weg.

- Um es im voraus zu entwickeln, sei zunächst daran angeknüpft,daß die Aristotelische Analytik als apophantische begründet war,also als den ihr Gebiet umgrenzenden thematischen Grundbegriff,den der Apophansis hatte: des (in Gewißheit behauptenden) Aussage-satzes, bzw. das prädikative Urteil. Die methodisch vollkommeneAusgestaltung dieser Analytik (sobald sie rein auf die Urteils-bedeutungen bezogen wird) führt notwendig auf eine formale apo-phantische „Mathematik". Denn jeder, der einmal an der modernenMathematik und mathematischen Analysis überhaupt die deduktiveTechnik kennen gelernt hat, muß ohne weiteres sehen (wie das zuerstLeibniz gesehen hat), daß sich Satzformen ebenso behandeln lassen,und daß man mit ihnen ebenso „rechnen" kann wie mit Zahlen,Größen usw.; ja noch mehr, daß dies die einzige Weise ist, wie eineuniversale Theorie der Sätze, als eine im Wesen deduktive Theorieaufgebaut werden muß. Das gilt schon, wie oben nachgewiesenworden, für eine bloße Formenlehre der Sätze.

Gegenüber der Apophantik, in diesem methodischen Stil einerapophantischen Mathematik haben wir nun die nicht-ap ophan-tische Mathematik, die traditionelle formale „Analysis" derMathematiker, die Mathematik der Mengen, der Kombinationen undPermutationen, der Anzahlen (der Modi des Wieviel), der Ordinal-zahlen verschiedener Stufe, der Mannigfaltigkeiten — mit den be-kannten zu den letzteren zugehörigen Formen die ebenfalls Zahlenheißen, aber keineswegs mit den erstgenannten Zahlen verwechseltwerden dürfen, da sie aus den jeweiligen Definitionen der Mannig-faltigkeiten ihren Sinn ableiten. In diesem Gebiet kommenoffenbar prädikative Sätze, „Urteile" im Sinne der tradi-tionellen Logik, als thematische Grundbegriffe über-

haupt nicht vor.5*

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Edmund Husserl, [68

Fragt man nach dem Universalbegriff, der das einheitliche Gebietdieser offenbar zusammengehörigen Disziplinen umgrenzen soll, soist man zunächst in Verlegenheit. Aber wenn man') die naturgemäßweiteste Allgemeinheit der Begriffe Menge und Zahl erwägt und dieihren Sinn bestimmenden Begriffe Element bzw. Einheit., so erkenntman, daß die Mengen- und Anzahlenlehre bezogen ist auf das Leer-universum Gegenstand überhaupt oder Etwas überhaupt,in einer formalen Allgemeinheit, die jede sachhaltige Bestimmungvon Gegenständen prinzipiell außer Betracht läßt; ferner daß dieseDisziplinen speziell für gewisse Ableitungsgestalten des Etwas über-haupt interessiert sind; die eine, nämlich die Mengenlehre für Mengenals aus beliebigen Gegenständen zusammengefaßte Inbegriffe, undähnlich die Anzahlenlehre für Anzahlen, als gewisse systematisch zuerzeugende Differenzierungen von Mengenformen. Von hier ausweitergehend erkennt man, daß wie die Mengenlehre und Anzahlen-lehre, 80 auch die übrigen formalen mathematischen Diszi-plinen in dem Sinne formal sind, daß sie als Grundbegriffegewisse Ableitungsgestalten des Etwas überhaupt haben.Hieraus erwächst eine universale Wissenschaftsidee, die einer f o r-malen Mathematik im voll umfassenden Sinne, derenUniversalgebiet sich fest umgrenzt als Umfang des obersten Form-begriffes Gegenstand überhaupt oder des in leerster Allgemein-heit gedachten Etwas überhaupt, mit allen in diesem Feld apriorierzeugbaren und daher erdenkbaren Ableitungsgestalten, die in immerneuer iterativer Konstruktion immer neue Gestalten ergeben. SolcheAbleitungen sind neben Menge und Anzahl (endliche und unendliche),Kombination, Relation, Reihe, Verbindung, Ganzes und Teil usw. Soliegt es nahe, diese ganze Mathematik als eine Ontologie (aprio-rische Gegenstandslehre), aber als eine formal e, auf die reinenModi des Etwas überhaupt bezogene anzusehen. Damit wäre alsoauch die Leitidee gewonnen, um die Sondergebiete dieser Ontologie,dieser Mathematik der Gegenständliehkeiten überhaupt in apriorischenStrukturerwägungen zu bestimmen.

§ 25. Thematische Untersehiedenheit und doch sachliche Zusammen-gehörigkeit von formaler Apophantik und formaler Ontologie.

Nach diesen Überlegungen scheint das Gebiet dieser formalenOntologie, als der zu wesensmäßiger Universalität erweiterten for-malen Mathematik, s eh a r f un ters chieden zu sein von dem der

1) Wie es schon in meiner „Philosophie der Arithmetik" geschehen ist.

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Analytik der Urteile — diese selbst rein gefaßt von aller subjektivgerichteten Thematik, die ja auch der Mengenlehre, der Arithmetikusw. von vornherein fern bleibt. Wir dürfen uns, scheint es, dadurchnicht täuschen lassen, daß sich auch die Syllogistik algebraisch be-handeln läßt und dann ein ähnliches theoretisches Aussehen hat wieeine Algebra der Größen und Zahlen, ja daß nach einer genialenBemerkung G. BooIes der Kalkul der Arithmetik sich (formal be-trachtet) reduziert auf den „Logikkalkul", wenn man sich die An-zahlenreihe auf 0 und 1 beschränkt denkt. Die apophantischeAnalytik und die formal ontologische wären also zwei verschiedeneWissenschaften, getrennt durch ihre Gebiete.

Indessen man braucht sich nur daran zu erinnern, daß Urteilensoviel heißt wie über Gegenstände urteilen, von ihnen Eigen-schaften aussagen, oder relative Bestimmungen; so mußman merken, daß formale Ontologie und formale Apophantik trotzihrer ausdrücklich verschiedenen Thematik doch sehr nahe zusammen-gehören müssen und vielleicht untrennbar sind. Schließlich tretendoch alle Formen von Gegenständen, alle Abwandlungs-gestalten des Etwas überhaupt in der formalen Apophantikselbst auf, wie ja wesensmäßig Beschaffenheiten (Eigenschaftenund relative Bestimmungen) Sachverhalte, Verbindungen, Be-ziehungen, Ganze und Teile, Mengen, Anzahlen und welche Modi derGegenständlichkeit sonst, in concreto und ursprünglich expliziert, füruns als wahrhaft seiende oder möglicherweise seiende nur sind als inUrteilen auftretende. Demgemäß liegen in allen formalen Urteils-unterscheidungen auch Unterschiede der Gegenstandsformen mit-beschlossen (wie immer dieses „BeschIossensein" und „Auftreten" sichnäher klären mag 1). Im pluralen Urteil z. B. kommt ja der Plural vor,im allgemeinen Urteil das Allgemeine. Freilich ist der Plural in jenemnicht Gegenstand im prägnanten Sinne dessen, „worüber" geurteiltwird, also des Substrates von Bestimmungen und ebenso im anderenBeispiel nicht das Allgemeine. Aber in der formalen Urteilslehre undzwar als reiner Formenlehre, kommen auch diejenigen „Operationen"vor, durch die die plurale Urteilsform umgewandelt werden kann indie Form der singulären Prädikation über die Kollektion, und dieForm des überhaupt-Urteils in die Form eines Urteils über dasAllgemeine als Gattung. Sachverhalt und Beschaffenheit sind gegen-ständliche Kategorien, aber jedes Urteil, etwa S ist p, das über Surteilt und von ihm das p aussagt, kann durch „Nominalisierung"

1) Worüber das 4. Kap. Aufschlüsse geben wird.

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verwandelt werden in ein Urteil über den Sachverhalt S ist p oder indas Urteil über die Beschaffenheit p, in der Form p kommt dem Szu I). Mit Rücksicht darauf kann man also das Problem der Einheitoder Verschiedenheit von formaler logischer Analytik und formalerMathematik keineswegs schon für erledigt halten., und der Einheits-gedanke bekommt von daher sogar schon einige Kraft. Aber es bedarfsehr tiefdringender Überlegungen, um wirkliche Einsicht zu gewinnen.

§ 26. Die historischen Gründe der Verdeckung des Problemsder Einheit von formaler Apophantik und formaler Mathematik.

a) Der Mangel des Begriffes der reinen Leerform.

Den Alten konnte das vorliegende Problem noch nicht entgegen-treten und anfangende Logik und Mathematik mußten als fraglosgetrennte Wissenschaften erscheinen, weil sie noch nicht so weitwaren, irgendeine mathematische Disziplin auf reine Form zu bringen.Die Arithmetik ist bei ihnen von Geometrie und Mechanik noch nichtprinzipiell unterschieden (wie uns, gemäß unserem prinzipiellen Kon-trast von formaler und sachhaltiger Mathematik). Denn nicht einmalder Anzahlbegriff ist bei den Alten von aller sachhaltigen Materieentleert, noch nicht in den gezählt gedachten Einheiten auf das Reichdes leeren Etwas-überhaupt bezogen. Zudem war ja auch auf deranderen Seite die antike Apophantik (wie wir früher schon bemerkthatten 2), bei ihrer gegenständlichen Beziehung auf Realität nochnicht letztlich formalisiert. Daher hatte Ar is t o teles nur eineallgemeine Realontologie und galt ihm diese als „erste Philosophie".Ihm fehlte die formale Ontologie und somit auch die Erkenntnis, daßsie an sich der realen vorangehe.

Die eigentliche Entdeckung des Formalen vollzieht sich erst zuBeginn der Neuzeit auf dem Wege über die Begründung der Algebradurch Vieta, also über die deduktive Technisierung der Zahlen- undGrößenlehre, und erreicht dann ihren reinen Sinn durch Leibniz,dessen mathesis univ er sa lis alle Gebundenheit an irgendeineund sei es die höchste sachhaltige Allgemeinheit offenbar völlig ab-gestoßen hat.

Die philosophischen Logiker der Neuzeit — ich meine alsonicht die mit den Mathematikern in der technischen Ausbildung

1) Vgl. dazu Ideen, S. 248 f. und Log. Unters. Hz, 5. Unters. § 34 36,112, 6. Unters. § 49.

2) Vgl. oben § 12, Sehlußabsatz p.43,

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der logischen Algebra wetteifernden und wie sie in philosophischerNaivität verbleibenden Logiker — überwanden in dem hier Frag-lichen nicht den Bann der Ahstotelisch-scholastischen Tradition.Sie verstanden nicht den allerdings aus den kurzen AndeutungenLeibnizens schwer zu erfassenden Sinn der mathesis universalis. Siesahen nicht das von der neuen Mathematik her gestellte Problem,und zwar aus tiefliegenden anderen Gründen.

b) Der Mangel der Erkenntnis der IdeaIität vonapophantischen Gebilden.

Hemmend erwies sich zunächst die Aristotelische Begründungder Analytik als Apophantik, als Logik der prädikativen Aussage,bzw. als Logik des prädikativen Urteils. Wie sehr das ein notwendigerAnfang war, 80 lag in ihm doch eine tief begründete Schwierigkeit,von der urteilenden Aktivität thematisch zu abstrahieren und, darinkonsequent bleibend, die Urteilssphäre als ein eigenes objektives Feldder apriorischen Idealität theoretisch ebenso anzusehen, wie es dieGeometer hinsichtlich der rein geometrischen Gestalten, dieArithmetiker hinsichlich der Zahlen tun.

In der eigenen Natur der Sachen selbst gründet es, daß sich dieideale Objektivität der Urteilsgebilde nicht zur Anerkennungdurchringen konnte und daß sie selbst nachdem sie in neuester Zeitsystematisch herausgestellt und kritisch gegen den empiristischenPsychologismus durchgekämpft wurde, noch nicht zu allgemeinerGeltung gekommen ist. Urteile sind ursprünglich für uns da inurteilenden Tätigkeiten. Alle Erkenntnisarbeit ist eine mannigfaltig-einheitliche psychische Tätigkeit, in der die Erkenntnisgebilde ent-springen. Nun sind freilich auch äußere Objekte für uns ursprünglichda nur in subjektivem Erfahren. Aber sie treten darin auf als schonim voraus daseiende („vorhandene") und nur in das Erfahren ein-gehende. Sie sind nicht wie die Denkgebilde (die Urteile, Beweise usw.)für uns da aus unserer eigenen Denkaktivität und rein aus ihr (nichtetwa aus schon vorhandenen, ihr äußeren Materialien) gebildet. Mitandern Worten: Dinge sind dem tätigen Leben ursprünglich ichfremdvorgegeben, von außen her gegeben. Die logischen Gebilde hingegensind ausschlie 131 ich von innen he r gegeben, ausschließlichdurch die spontanen Tätigkeiten und i n ihnen. Anderseits werden siefreilich nach der faktischen Erzeugung noch als seiend angesprochen,man „kommt auf sie zurück", und beliebig wiederholt, als auf die-selben, man verwendet sie in einer Art Praxis, verknüpft sie (etwaals Prämissen) erzeugt Neues, Schlüsse, Beweise usw. Also man geht

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doch mit ihnen um wie mit realen Dingen, obschon von Realitätenhier keine Rede sein kann. So schweben sie unklar zwischen Subjek-tivität und Objektivität. Sie als irreale Objekte ernstlich gelten zulassen, den beiderseitigen, vielleicht doch unrechtmäßig gegen-einander ausgespielten Evidenzen genug zu tun und, was hier ernstlichproblematisch ist, ernstlich als solches ins Auge zu fassen — das wagtman nicht, durch altererbte Ängste vor dem Platonismus blindgemacht für dessen rein zu fassenden Sinn und sein echtesProblem.

Die Sachlage ist freilich prinzipiell dieselbe auch für die sonstigenapriorischen Wissenschaften, die historisch unter dem Titel Mathe-matik überliefert waren; prinzipiell dieselbe also für die Geometrie,die Arithmetik usw., Wissenschaften, die doch auf ihnen zugehörigeObjektsphären ganz unfraglich bezogen ersrheinen, auf geometrischeGestalten, auf Anzahlen oder Ordinalzahlen usw., obschon auch dieseGegenständlichkeiten den Forschenden in subjektiven Aktionen zu-wachsen durch das Ziehen von Linien, durch geometrische Erzeugungvon Flächen usw., bzw. durch Kolligieren, Zählen. Ordnen, Kom-binieren. Und doch dachte man hier kaum daran, die Gebilde selbst zusubjektivieren. Denn hier hatte man den beständigen exemplarischenAnhalt an den sinnlichen Raum- und Zeitgestalten, die den Blick vonvornherein objektiv dirigierten, aber freilich zugleich die Irrealitätder mathematischen Gestalten verdeckten. Die mit den realen Gegen-ständen als exemplarischen Repräsentanten vollzogenen Konstruk-tionen, Mengen, Zahlbildungen usw. lieferten Gebilde, die als reale(reale Figuren, Körper, Mengen, Zahlen) anzusprechen waren,während dergleichen bei Gebilden der urteilenden Aktionen nichtebenso der Fall ist.

Hieraus versteht es sich, daß im Altertum die schon sehr vor-geschrittene Einsicht der stoischen Lehre vom kkx.rfir nicht durch-drang, und daß in der Neuzeit die meisten Logiker, selbst nach derAusbildung einer formalen Mathematik und ihrer Erweiterung durchden Logikkalkul, einen inneren Zusammenhang zwischen der mathe-matischen und logischen Thematik nicht zu sehen vermochten. Einsolcher konnte erst hervortreten, wenn als Parallele zu den formal-mathematischen Gebilden und in derselben objektiv-idealen Ein-stellung die formal-logischen Gebilde thematisch wurden. In derMathematik war diese abstraktive Einstellung feste Tradition, siebestimmte von jeher und ausschließlich das theoretische Absehen dermathematischen Theoretisierung. In der Logik mußte sie ersterrungen werden.

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c) Weitere Gründe, insbesondere der Mangel an echtenUrsprungsforschungen.

Zudem wirkten die gewagten „umfangslogischen" Interpretationender Urteile, die sich als für eine Einbeziehung der apophantischenSphäre in die Mathematik notwendig ausgaben, für die philosophischdenkenden Logiker keineswegs empfehlend. Nur ganz vereinzelteLogiker standen daher auf seiten der These der Mathematiker,aber im Grunde folgten sie dabei mehr einem Gefühl für dasRichtige — wie Lot ze i), oder dem Vorurteil für die Überlegen-heit der Einsicht der Mathematiker, wie offenbar A. Rieh 1 2) —als der Gründung ihrer Stellungnahme auf wirkliche Unter-suchung. Hinsichtlich der Mathematik empfanden die Logiker nichtdas Vorhandensein von in der Tat völlig parallelen Schwierigkeitendes Ineinander oder des Miteinander der idealen Objektivität derGebilde und der sie subjektiv konstituierenden Aktivität (des Zählens,des Kombinierens usw.), weil es eigentlich nie zu einer ernst-lichen philosophischen Erforschung des Ursprungs der formal-mathe-matischen Grundbegriffe eben als Begriffe von subjektiv konstituiertenGebilden gekommen war. Es hätte dann offenbar werden müssen, daßdas Urteilen und Zählen nahe verwandte aktive Spontaneitäten sind,die in ähnlicher Weise ihre idealen Korrelate, Urteil und Zahl,konstituieren 5); in weiterer Folge, daß eine konsequent einseitigeEinstellung beiderseits in gleichem Sinne objektive Theorie —mathematische Theorie — möglich mache und fordere 4).

Es ist überhaupt verständlich, daß eine radikale prinzipielleBesinnung über den sozusagen eingeborenen Sinn der beiderseitigenDisziplinen gleich notwendig war und immerfort ist, um den Bannder Tradition zu brechen und zum inneren Verständnis der Einheitihrer Thematik durchzudringen — statt sich wie die Mathematikermit einer Einheit aus theoretischer Technik zu begnügen oder wie diemeisten Philosophen mit einer angeblichen Sonderung, die durchkeine prinzipielle Einsicht verständlich zu machen ist.

1) Vgl. die Äußerungen in Lotzes Logik, 1. Kap. § 18, 3. Kap. § 111, die

um 80 weniger als voll durchdachte gelten können, als er in ihnen von Mathematiküberhaupt spricht und, wie ans dem Zusammenhang hervorgeht, nicht die

materiale Mathematik ausschließt.

2) Vgl. Der philos. Kritizismus, II, 1, p. 228.

3) Vgl. meine Philosophie der Arithmetik 1891, z. B. p. 91 (kategoriale

Gegenstände als Gebilde).

4) Das herauszustellen war das Hauptthema des I. Bandes meiner Logischen

Untersuchungen.

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d) Anmerkung über Bolzanos Stellung zur Idee derformalen Ontologie.

Wie schwer es ist, zu Ende zu denken und auf diese Weise, sei esvon der logischen Analytik in die formale Mathematik., oder um-gekehrt von dieser zu jener durchzudringen, und wie hoch daher dieLeistung L eib nizens in dieser Hinsicht zu schätzen ist, sieht manan B. Bolzan o. In seiner bewunderungswürdigen Wissensehafts-lehre vom Jahr 1837 war er schon so weit, eine Lehre von den Sätzenund Wahrheiten an sich systematisch zu entwerfen als eine in sich ab-geschlossene apophantische Analytik. Anderseits stellt er sogar schon1810 in seinen „Beiträgen zu einer begründeteren DarsteIlung derMathematik" den Versuch einer prinzipiellen Definition der Mathe-matik an, der bereits der Idee einer formalen apriorischen Gegen-standslehre zustrebt, freilich ohne zu ihrem wirklichen Sinn durch-zudringen (wie ich alsbald am Schlusse des Paragraphen zeigen werde).Und doch gelangt Bolzano nicht soweit, die beiden Ideen, die einerAnalytik der Sätze und einer formalen mathematischen Analytik, zuEnde zu denken und ihre innere Äquivalenz zu entdecken, ja auchnur soweit, die Möglichkeit einer algebraischen Theoretisierung derlogischen Gebilde in Parallele zu derjenigen der im gewöhnlichen Sinneformal-mathematischen in Erwägung zu ziehen. Kurzum, so viel er vonLeib niz gelernt hat, er bleibt weit hinter dessen Einsichten zurück.

Man liest zunächst mit Überraschung in der verdienstliehen Neuausgabe derfrüher so gut wie unzugänglichen Jugendschrift Bolzano s, die wir H. F e 1 $verdanken (9. Bändchen von F. Schankes Sammlung philosophiseher Lesestoffe,Paderborn 1926), die den § 8 (a. a. 0. S. 17) einleitenden Sätze, die, wie sehr sieim einzelnen eine Kritik herausfordern, eine Definition der formalen Ontologie zuversprechen schienen: „Ich denke, daß man die Mathematik als eine Wissenschafterklären könnte, die von den allgemeinen Gesetzen (Formen) handelt, nach welchensich die Dinge in ihrem Dasein richten müssen. Unter dem Worte Ding begreifeich hier nicht bloß solche, welche objektives, von unserem Bewußtsein unab-hängiges Dasein besitzen, sondern auch solche, die bloß in unserer Vorstellungexistieren und dieses zwar wieder entweder als Individuen (das heißt Anschauungen)oder als bloße Allgemeinbegriffe, mit einem Worte also — alles, WBK überhaupt einGegenstand unseres Vorstellungsvermögens sein kann." Genau besehen gibt hierBolzano eine (allerdings verbesserungsbedürftige) Definition einer allgemeinenapriorischen Ontologie, die in sich ungeschieden materiale und leer-formaleOntologie beschließt. Er versucht dann zwar die Abscheidung einer „allgemeinenMathematik", zu der als Disziplinen die „Zahlenlehre, Kombinationslehre usw." zurechnen seien, betont, daß diesen gegenüber Disziplinen wie Geometrie, Chrono-metrie usw. nicht als koordinierte, sondern als subordinierte gelten müßten, undfindet die Auszeichnung der ersteren darin, daß ihre Gesetze „auf alle Dinge ohneAusnahtne anwendbar seien", die der anderen nicht. Wenn er aber Ding überhauptals oberste Gattung denkt, nnter welcher als besondere durch Einteilung sieh er-

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gebende Gattungen die Oberbegriffe der Geometrie und der ihr koordiniertenDisziplinen stehen, so wird es sichtlich, daß er den Unterschied zwischen derLeerform des Etwas überhaupt als oberster Gattung, die sich als leer-formale differenziert, und der universalen Region des möglicher-weise Daseienden (des im weitesten Sinne Realen), die sich in besondereRegionen dif f erenziert, nicht gesehen hat, also auch nicht den Unter-schied gesehen hat der Subsumptionen der formalen Besonderungen unter formaleAllgemeinheiten und der Subsumptionen regionaler Besonderungen (materialmathematischer) wieder unter formale Allgemeinheiten. Die letzteren halten sichkeineswegs innerhalb der formalen Mathematik, die anderen erwachsen durchFormalisierung der materialen Mathematik. Mit einem Worte, Bolzan o hat deneigentlichen Begriff des Formalen, der die formale Ontologie bestimmt, nichterreicht, obschon er ihn in gewisser Weise berührt hat.

§ 27. Die Einführung der Idee der formalen Ontologie in den„Logischen Untersuchungen".

Die Idee einer formalen Ontologie tritt m. W. literarisch zuerstauf im I. Band meiner Logischen Untersuchungen 1), und zwar im Ver-such einer systematischen Entfaltung der Idee einer reinen Logik,jedoch noch nicht unter dem erst später von mir eingeführtenNamen einer formalen Ontologie. überhaupt haben es die LogischenUntersuchungen, und vor allem auch die des II. Bandes, wieder gewagt,die alte durch den Kantianismus und Empirimus so sehr verpönteIdee einer apriorischen Ontologie in neuer Gestalt aufzunehmen, undsie als eine für die Philosophie notwendige in konkret durchgeführtenStücken zu begründen versucht.

Das formal-ontologische Apriori ergibt sich (a.a.O. imSchlußkapitel des L Bandes) als ein untrennbar verbundenes mit demapophantischen Apriori (dem der Aussagebedeutungen), undeben damit mußte das Problem empfindlich werden, wie diese Un-trennbarkeit zu verstehen sei. Dieses Problem des Verhältnisses vonformaler Ontologie und apophantischer Logik, das den Gang unsererjetzigen Untersuchung bestimmt hat, ist in den „Logischen Unter-suchungen" noch nicht aufgeworfen worden. Es dürfte von Nutzensein, der Motivation zu folgen, die zu den Aufstellungen jenesKapitels geführt hatte, und diese dann auch selbst zu Worte kommenzu lassen. Ineins mit der erneuten Klarlegung des dort allzu knappDargestellten werden sich kritische Begrenzungen und wesentlicheFortbildungen ergeben, die uns dem Ziele unserer jetzigen Unter-suchung wesentlich näher bringen werden.

- —1) Log. Unters., L Band, Prolegomen'a zur reinen Logik, L Aufl.o .0011

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a) Die ersten konstitutiven Untersuchungen kategorialerGegenständlichkeiten in der „Philosophie gler Arithmetik".

Die bestimmte Blickrichtung auf das Formale und ein erstes Ver-ständnis seines Sinnes gewann ich schon durch meine "Philosophieder Arithmetik" (1891) i), die, so unreif sie als Erstlingsschrift war,doch einen ersten Versuch darstellte, durch Rückgang auf die spon-tanen Tätigkeiten des Kolligierens und Ziihlens, in denen Kollektionen(„Inbegriffe", „Mengen") und Anzahlen in ursprünglich erzeugenderWeise gegeben sind, Klarheit über den eigentlichen, den ursprungs-echten Sinn der Grundbegriffe der Mengen- und Anzahlenlehre zugewinnen. Es war also, in meiner späteren Redeweise ausgedrückt,eine phänomenologisch-konstitutive Untersuchung und es war zu-gleich die erste, die „kategoriale Gegenständlichkeiten" erster undhöherer Stufe (Mengen und Anzahlen höherer Ordnungsstufe ')) ver-ständlich zu machen suchte aus der „konstituierenden" intentionalenAktivität, als deren Leistungen sie originaliter auftreten, also in dervollen Ursprünglichkeit ihres Sinnes. Es ist apriori einzusehen,daß, so oft die Form dieser spontanen Aktionen die gleiche bleibt,korrelativ auch ihre Gebilde eine gleiche Form haben müssen. Werdenalso die Begriffsbildungen Menge und Anzahl in reiner und weitesterAllgemeinheit vollzogen, so kann von dem Sachgehalt (dem Was-gehalt) kolligierter Elemente und gezählter Einheiten nichts in dieseAllgemeinheit mit eintreten, er muß absolut frei variabel bleiben,was offenbar durchaus der Intention der Mengen- und Anzahlen-lehre entspricht. Das Formale dieser Disziplinen liegt also in dieserBeziehung auf „Gegenständlichkeit-überhaupt", Etwas-überhaupt, in einer leersten Allgemeinheit, die alle sachliche Be-stimmung unbestimmt beliebig sein läßt. Ihre Grundbegriffe abersind (in meiner späteren Redeweise) syntaktische Gebilde in forma,syntaktische Ableitungsformen des leeren Etwas.

Es war selbstverständlich, daß ich in meinen fortgeführten unddie gesamte formale Mathematik umspannenden Untersuchungen 5),die schließlich auf eine „Theorie der deduktiven Systeme", auf die

1) Sie ist eine bloße literarische Ausarbeitung meiner Hallenser Habilitations-schrift von 1887, von der ein Bruchstück „über den Begriff der Zahl" für denakademischen Zweck (nicht im Buchhandel) erschienen ist.

2) In ausdrücklicher Beziehung darauf und unter Hereinziehung der juristischenPerson als anderen Beispiels, hat B. Erdmann in seiner Logik, P (1892) p. 101 denTerminus „Gegenstände höherer Ordnung" eingeführt.

3) Vgl. du Vorwort der Philosophie der Arithmetik.

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Formen deduktiver Wissenschaften als solcher abziehen, alsbald dazuüberging, die formale Mathematik überhaupt unter dem Einheits-gesichtspunkt einer Wissenschaft anzusehen, die es prinzipiell mitAbleitungsgestalten des Etwas-überhaupt zu tun hat und die somit inallen ihren, dadurch wesensmäßig zusammenhängenden Disziplinenden gemeinsamen Boden in der Leerregion des Etwas-überhaupt hat.

b) Der Weg der „Prolegomena" von der formalen Apophantikzur formalen Ontologie.

Wir betrachten nun den Weg, der in dem bezeichneten Kapitel der„Prolegornena zur reinen Logik" von der konsequenten Entfaltungdes Sinnes einer formalen apophantischen Logik zur formalen Onto-logie geführt hat. Als Leitidee für die erstere diente die der aprio-rischen Wissenschaftslehre, mit ihrer ausschließlichen Forschungs-richtung auf den objektiv-idealen Gehalt der Wissenschaften, der, wieimmer er aus subjektiven Leistungen her geworden ist, als ein Systemwahrer Sätze, als Einheit der Theorie vorliegt. Des Näheren wirdvon vornherein der bevorzugende Blick gerichtet auf die theo-retisch erklärenden (nomologischen, deduktiven)Wissenschaften und auf die „Einheit der systematisch voll-endeten Theorie") —der „Theorie im strengen Sinne".Es handelt sich also um das Apriori der so verstandenenTheorie als solcher, in formaler Allgemeinheit, die alle sach-liche Besonderheit der Gegenstände oder Gegenstandsgebiete, aufdie sich eine Theorie bezieht, unbestimmt läßt. Als Aufgabe einersolchen formalen Logik ergab sich nun zunächst die EIerausstellungder konstitutiven Begriffe, die zum Wesen einer Theorie als solchergehiiren. Dies führt') auf die Begriffe: Satz (Urteil), Begriff, undüberhaupt auf alle die Begriffe, die den Bau der Urteile, der schlichtenund der komplizierten, betreffen und natürlich auch auf den Begriffder Wahrheit. Diese Gruppe von Begriffen wird die der „Be-deutungs k a t ego rien" genannt. Ihnen werden als korrelativeBegriffe der logischen Wissenschaft die der „formalen gegen-ständlichen Kategorien" gegenübergestellt, die Begriffe:Gegenst and, Sachverhalt, Einheit, Vielheit, Anzahl, Beziehung,Verknüpfung usw. — alle diese Begriffe von der Besonderheit der

1) Prolegomena § 64, S. 232.2) § 67, S. 243 f. (1. Aufl.), S. 242 f. in der zweiten, nur in einigen Wen-

dungen geinderten Auflage.

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Erkenntnismaterie frei gehalten 1). Im Anschluß daran wird') vonder Aufgabe der Bestimmung der zugehörigen Gesetze gesprochen,und es werden die Gesetze eben nach diesen zwei Gruppenvon Kategorien, den Bedeutungskategorien und den gegenständlichenKategorien unterschieden. Eben damit ist in aller Schärfedie formale Logik zugleich als eine Apophantik und alseineapriorischeformaleGegenstandslehre charakterisiert.Zu ihr gehören, wie aus den weiteren Ausführungen hervorgeht, nichtnur die auf das Feld idealer Bedeutungen reduzierte Syllogistik,sondern auch die Anzahlenlehre, die Ordinalzahlen- und Größen-zahlenlehre') und ebenso natürlich die formale Größenlehre über-haupt, die Lehre von den Kombinationen und Permutationen usw. 4).

3. Kapitel.

Theorie der deduktiven Systeme undMannigfaltigkeitslehre.

§ 28. Die höchste Stufe der formalen Logik: die Theorie derdeduktiven Systeme, bzw. die Mannigfaltigkeitslehre.

Im Hinblick auf den völlig neuartigen Typus der mathe-matischen Analysis, der in einer gewaltigen theoretisch-tech-nischen Entwicklung im 19. Jahrhundert aufgeschossen war, und ausdem Bedürfnis, den in völliger Verworrenheit verbliebenen logischenSinn dieser Analysis zur Klarheit zu bringen, erwuchs mir aber nocheine dritte und höchste Aufgabe einer formalen Logik oder formalenWissenschaftslehre. Sie kündigt sich an im Titel des § 69') alsTheorie der möglichen Theorienforznen, oder (korrelativ)als Mannigfaltigkeitslehre.

Da der Begriff der Theorie (nach dem ins vorigen ParagraphGesagten) im prägnanten Sinne verstanden sein sollte — gemäß dennomologischen oder deduktiven Wissenschaften — somit als einesystematische Verknüpfung von Sätzen in der Form einer systematisch

1) Auf den Begriff der Kategorie und die damit zusammenhingenden Begriffeder „analytischen" oder formalen Gesetze gegenüber den synthetischen oder mate-rialen, auf den Unterschied sinnlicher und kategorialer Anschauung usw. beziehensieh umfassende Untersuchungen des II. Bandes der Log. Unters., insbesondere II:,3. Abschn. § 11 und der ganze zweite Abschnitt über „Sinnlichkeit und Verstand"in

2) Prolegomena § 68. 3) A. a. 0. S. 248 oben (2. Aufl. S. 251).leieedwandandielliegedie 5) Prolegomena S. 247.

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einheitlichen Deduktion, so war hier ein erster Anfang gewonnen füreine Theorie der deduktiven Systeme, oder, was dasselbe, einerlogischen Disziplin von den deduktiven Wissenschaften als solchenund betrachtet als theoretische Ga nzheiten. Waren auf derfrüheren Stufe der Logik der reinen Form nach thematisch gewordenalle Bedeutungsgebilde, die innerha lb einer Wissenschaft aprioriauftreten können, also Urteilsformen (und die Formen ihrerElemente), Schlußformen, Beweisformen, korrelativ auf der gegen-ständlichen Seite Gegenstände überhaupt, Menge und Mengen-verhältnis überhaupt, Kombinationen, Ordnungen, Größen überhauptusw. mit den zugehörigen formalen Wesensverhältnissen und Ver-knüpfungen, so werden jetzt zum Thema die Ur teilssyst emein ihre r Ganz he i t, welche die Einheit einer möglichen deduk-tiven Theorie ausmachen, die einer „Theorie im strengen Sinne"').Als gegenständlicher Totalbegriff (und immer in formaler Allgemein-heit verstanden) tritt hier auf das, was die Mathematik, ohne jedeentfaltende Sinnbestimmung, unter dem Titel „Mannigfaltig.k ei t" im Auge hat. Es ist der Formbegriff des Gebietes einerdeduktiven Wissenschaft, diese gedacht als systematische oder totaleEinheit der Theorie: Ich wiederhole hier die strenge Charakteristikder Idee einer formalen Theorienformen- bzw. Mannigfaltigkeitslehre,an der ich nichts zu ändern wüßte, deren Inhalt wir hier aber vorAugen haben müssen.

„Das gegenständliche Korrelat des Begriffes der möglichen, nurder Form nach bestimmten Theorie ist der Begriff eines mö g-lichen, durch eine Theorie solcher Form zu beherr-schenden Erkenntnisgebietes überhaupt. Ein solchesGebiet nennt aber der Mathematiker (in seinem Kreise) eineMa nnig f a lt igk ei t. Es ist also ein Gebiet, welches einzig undallein dadurch bestimmt ist, daß es einer Theorie solcher Formuntersteht, d. h. daß für seine Objekte gewis se Verknüpfungenmöglich sind, die unter gewissen Grundgesetzen der und der b e-st im m ten Form (hier das einzig Bestimmende) stehen. IhrerMaterie nach bleiben die Objekte völlig unbestimmt — der Mathe-matiker spricht, dies anzudeuten, mit Vorliebe von „Denk-objekt en". Sie sind eben weder direkt als individuelle oderspezifische Einzelheiten, noch indirekt durch ihre inneren Arten oderGattungen bestimmt, sondern ausschließlich durch die Form ihnen

1) Die von der Einführung (a. a. 0. § 64) an immerfort mit dem Worte

„Theorie" gemeint ist.

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zugeschriebener Verknüpfungen. Diese selbst sind also inhaltlichebensowenig bestimmt, wie ihre Objekte; bestimmt ist nur ihre Form,nämlich durch die Form für sie als giiltig angenommener Elementar-gesetze. Und diese bestimmen dann, wie das Gebiet, 80 die auf-zubauende Theorie oder, richtiger gesprochen, die Theorienfor m.In der Mannigfaltigkeitslehre ist z. B. + nicht das Zeichen der Zahlen-addition, sondern einer Verknüpfung überhaupt, für welche Gesetzeder Form a+b b a usw. gehen. Die Mannigfaltigkeit istdadurch bestimmt, daß ihre Denkobjekte diese (und andere damitals apriori verträglich nachzuweisende) „Operationen" ermöglichen.

Die allgemeinste Idee einer Marinigfaltigkeita-lehre ist es, eine Wissenschaft au sein, welche die wesentlichenTypen möglicher Theorien bestimmt ausgestaltet und ihre gesetz-mäßigen Beziehungen zueinander erforscht. Alle wirklichen Theoriensind dann Spezialisierungen, bzw. Singuiarisierungen ihnen ent-sprechender Theorienformen, sowie alle theoretisch bearbeitetenErkenntnisgebiete einzelne Mannigfaltigkeiten sind. Ist in derMannigfaltigkeitslehre die betreffende formale Theorie wirklichdurchgeführt, so ist damit alle deduktive theoretische Arbeit fürden Aufbau aller wirklichen Theorien derselben Form erledigt."(Soweit die Prolegomena S. 249 f.)

Der neue Oberbegriff der hier fraglichen Disziplin wäre alsoForm einer deduktiven Theorie oder eines "deduktivenSystems"; er ist natürlich fundiert in den kategorialen Begriffen derunteren Stufe. Neben der Aufgabe seiner formalen Definition bestehtnun die in Unendlichkeiten greifende, ihn zu differenzieren, möglicheFormen solcher Theorien in expliziter systematischer Ausgestaltungzu entwerfen, aber . auch mannigfaltige Theorienformen dieser Arttheoretisch als Einzelheiten höherer Formallgemeinheiten zu er-kennen, diese selbst — und zuhöchst eben die oberste Idee einerTheorienform überhaupt, eines deduktiven Systems überhaupt —einer systematischen Theorie in ihren besonderen und bestimmtenFormen zu differenzieren.

§ 29. Die formalisierende Reduktion der nomologischenWissenschaften und die Mannigfaltigkeitslehre.

Der Sinn dieser Aufgabenstellung wurde näher geklärt') durchden Nachweis, daß die Mannigfaltigkeitslehre der modernen Mathe-

1) A. a. 0. im § 70.

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matik (und schließlich die ganze moderne formale Analysis) schoneine, freilich nur partielle, aber in lebendiger Fortentwicklungbegriffene Realisierung dieser Idee einer Wissenschaft von den mög-lichen deduktiven Systemen ist. Eben damit war zum ersten Maleeine verständliche und prinzipiell einsichtige Auslegung des Sinnesdieser Analysis gewonnen, die — in ihrer vollen Weite genommen —die Leibniz sehe Idee einer znathesis universalis verwirklicht, so wieder entfaltete Sinn der höchststufigen universalen Logik deduktiverSysteme zugleich eine notwendige Entfaltung des Leibniz vor-schwebenden Sinnes ist.

In freier Wiederholung der „Erläuterungen" jenes § 70 sei hierschon darauf hingewiesen, daß jede nomologisch erklärende theore-tische Wissenschaft, z. B. die Euklidische Geometrie — so wiesie Euklid selbst verstanden hat als Theorie des anschaulichen Welt-raumes — sich auf Theorienform bringen läßt. Das geschieht natür-lich durch jene der Logik eigentümliche Verallgemeinerung der„Formalisierung", in der alle sachhaltigen Wasgehalte der Begriffe,also hier alles spezifisch Räumliche in Indeterminaten verwandeltwerden, in Modi des leeren „Etwas-überhaupt". Dann wandelt sichdas sachhaltige System der Geometrie in eine exemplarische System-form, jeder geometrischen Wahrheit entspricht eine Wahrheits-f orm; jedem geometrischen Schluß oder Beweis eine Schluß formBeweisform. Aus dem bestimmten Gegenstandsgebiet räum-licher Gegebenheiten wird die Form eines Gebietes, oder wieder Mathematiker sagt, eine Ma nnigfaltigk e it. Es ist nichtschlechthin eine Mannigfaltigkeit überhaupt, was so viel wäre wieeine Menge überhaupt, auch nicht die Form „unendliche Mengeüberhaupt", sondern es ist eine Menge, die nur ihre Besonderheitdarin hat, daß sie in leer-formaler Allgemeinheit gedacht ist als „ein"Gebiet, das bestimmt sei durch den vollständigen InbegriffEuklidischer Postulatformen, also in einer deduktiven Disziplin vonder aus der Euklidischen Raumgeometrie durch jene Formalisierunghergeleiteten F o r m.

§ 30. Die Mannigfaltigkeitslehre seit Riemann.

Der große Schritt der neuzeitlichen Mathematik insbesondereseit Riemann besteht darin, daß sie nicht nur diese Möglichkeiteines Rückgangs auf die Form eines deduktiven Systems (also auf diejeweilige Form deduktiver Wissenschaften) von der Geometrie unddann, von sonstigen faktischen Wissenschaften her sich klar gemacht

Russen, Jahrbuch f. Philosophie. X. 6

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hat, sondern daß sie auch dazu überging, so !ehe Sys te informenselbst als mathematische Objekte anzusehen, sie frei zuwandeln, sie mathematisch zu verallgemeinern und die Allgemein-heiten zu besondern; das aber nicht in Bindung an die hierbedeutungslosen Differenzierungen nach Gattung und Art im Sinneder Arist o telischen Tradition, sondern im Sinne der im Gebietdes Formalen sich darbietenden formal-mathematischen über- undUnterordnungen. Die üblichen Reden waren und sind freilich unklar,man spricht nicht von der kategorialen Form Raum, sondernvom „Euklidischen Raum`''). In der Verallgemeinerungspricht man von Räumen n-ter Dimension, von Ri eni a n n sehen,Lob a ts cheskyschen, statt von Verallgemeinerungen jener kate-gorialen Form „drei-dimensionale Euklidische Mannigfaltigkeit"' inFormen von n-dimensionalen, so und so der Form nach nochnäher definierten Arten von „Mannigfaltigkeiten". Ebenso unklarsprechen die Mathematiker von Axiomen statt von Axiontenformen,und sprechen dann weiter von Lehrsätzen, Beweisen usw., wo essich um eine formal allgemeine Deduktion handelt, in der aus denvorausgesetzten Grundsatzf o rm en die darin beschlossenen Formenvon Lehrsätzen in F o rrn en von Schlüssen und Beweisen abgeleitetwerden. Dieser Mangel an Scheidung, der erst durch die evidenten(aber nicht überall beachteten) Nachweisungen der bezeichneten Para-graphen der Prolegomena beseitigt wurde, hat bei den Mathematikernund selbst den von ihnen mißleiteten Logikern viel Verwirrung ge-stiftet und auch falsche Reaktionen auf philosophischer Seite hervor-gerufen — denn in den Sachen hatte das mathematische Genie wieimmer recht, wenn auch die logische Selbstverständigung versagte.

§ 31. Der prägnante Begriff einer Mannigfaltigkeit, bzw. dereines „deduktiven", „nomologischen Systems" geklärt durch den

Begriff der „Definitheit - .

Die Mathematiker gingen in der bezeichneten Richtungschrankenlos weiter. Unbekümmert um vorgegebene theoretische

1) Man wird sich hier nicht durch den Kantischen Begriff der Rannsformbeirren lassen, der die regionale Form der wirklieben und jeder miiglichen Naturbetrifft, während wir es hier mit rein analytischen Formen, mit "kategorialen",den Gegenständen und Urteilen durch völlige Entleerung von allem Sachgehaltzugehörigen Formen zu tun haben. Die Form Raum im Kantischen Sinne ist derRaum der Geometrie Enklid's, der Raumgeometrie schlechthin. Diese ,,Raumform"ist selbst Einzelheit der analytischen Form „Euklidische Mannigfaltigkeit".

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Wissenschaften vollzogen sie freie Konstruktionen von „Mannig-faltigkeiten" (Mannigfaltigkeitsformen) oder korelativ von Formendeduktiver Wissenschaften. Freilich letztlich war doch, wie für dieganze Entwicklung der Mathematik seit dem Altertum, die Geometrieund das sich in ihr bekundende Euklidische Ideal leitend. DieTendenz auf eine ausgezeichnete Prägung des mathematischen Be-griffes der Mannigfaltigkeit (und somit auf eine besondere Ziel-stellung der Mannigfaltigkeitslehre) ging von diesem Ideal aus. Ichversuchte sie konkret zu fassen im Begriff der definitenMannigfaltigkeit.

Der verborgene Ursprung dieses die Mathematik, wie mir scheintbeständig innerlich leitenden Begriffes ist folgender. Denken wir dasE uk lidische Ideal verwirklicht 1), so wäre aus einem irreduktiblenendlichen System von Axiomen in rein syllogistischer Deduktion(also nach den Prinzipien der logischen Unterstufe) das ganze unend-liche System der Raumgeometrie abzuleiten, also das apriorischeWesen des Raumes theoretisch vollständig zu ent-hüll e n. Im übergang zur Form ergibt sich also die Formidee einerMannigfaltigkeit überhaupt, die gedacht als unter einem Axiomen-system der aus dem Euklidischen durch Formalisierung abgeleitetenForm stehend, vollständig nomoIogisch erklärbar wäreund zwar in einer mit der Geometrie (wie ich es in meinen GöttingerVorlesungen zu nennen pflegte) „äquiformen" deduktiven Theorie.Denken wir uns von vornherein eine in unbestimmter Allgemeinheitgedachte Mannigfaltigkeit durch ein solches System von Axiomen-formen definiert — ausschließlich dadurch als bestimmt gedacht —so ist in reiner Deduktion das ganz bestimmte Formensystem derLehrsätze, der Partialtheorien und schließlich die ganze für einesolche Mannigfaltigkeit notwendig geltende Form der Wissen-sehaft in reiner Deduktion abzuleiten. Natürlich haben alle sach-haltig konkret vorzulegenden Mannigfaltigkeiten, deren Axiomen-systeme sich bei der Formalisierung als äquiform herausstellen,dieselbe deduktive Wissenschaftsform gemein, sie sind in Beziehungauf sie selbst äquiform.

In diesem Zusammenhang tritt uns das Problem entgegen,was eigentlich rein f orm al ein in sich abgeschlossenes Axiomen-system als „ d e f ins t" charakterisiert, durch das wirklich eine„Mannigfaltigkeit" im prägnanten Sinne definiert wäre.

I) Sc. das durch die Systemform der „Elemente" den Mathematikern nahe-

gelegte, obschon von Euk Ii d selbst nicht formulierte Ideal.

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Denn wie ich erkannte, lag in der Intention dieses Begriffes ein ver-borgener intentionaler Sinn. Mannigfaltigkeit meinte eigentlich dieFormidee eines unendlichen Gegenstandsgebietes,für das es Einheit einer theoretischen Erklärung, oderwas dasselbe, Einheit einer n o mo I o gische n Wissenschaft gibt.Die Formidee „theoretisch erklärbares Gebiet" (Gebiet einer deduk-tiven Wissenschaft) und „definites Axiomensystem" sind äquivalent.

Es ist dabei zu beachten, daß allerdings je des beliebige formaldefinierte Axiomensystem seine Unendlichkeit von deduktiven Kon-sequenzen hat. Aber zur Idee einer „n om o log is eh e n Wissen-schaf t" oder korrelativ gesprochen eines unendlichen Ge-bietes (in der mathematisch-logischen Rede einer Mannigfaltigkeit),das durch eine erklärende Nomologie zu beherrschen ist, gehört, daßes keine für dieses Gebiet gültige Wahrheit gibt, die nicht in den„Grundgesetzen" der nomologischen Wissenschaft deduktiv be-schlossen ist — wie im idealen Euklid für den Raum in dem„vollständigen" System der Raumaxiome. Indem ich von solchenÜberlegungen der Eigenart eines nomologischen Gebietes zurFormalisierung überging, ergab sich das Ausgezeichnete einerMannigfaltigkeitsform im prägnanten Sinne, eben demeiner nomologisch erklärenden. Sie is t nicht nur ii be rh a up tdurch ein formales Axiomensystem definiert, sonderndurch ein „v ollständiges". Darin liegt, auf die präzise Formdes Begriffes der definiten Mannigfaltigkeit gebracht:

Das eine solche Mannigfaltigkeit formal definierende Axiomen.System ist dadurch ausgezeichnet, daß jeder aus den in diesemauftretenden Begriffen (Begriffsformen natürlich) rein-logisch-grammatisch zu konstruierende Satz (Satzform) entweder „wahr",nämlich eine analytische (rein deduktive) Konsequenz der Axiome,oder „falsch" ist, nämlich ein analytischer Widerspruch: fertilannon datur.

Natürlich knüpfen sich hieran höchst bedeutsame Probleme.Wie kann man apriori wissen, daß ein Gebiet ein nomologisches ist,z. B. der Raum in seinen Raumgestalten, und daß die Reihe unmittel-bar einsichtiger Raumaxiome, die man hergestellt hat, das Wesen desRaumes vollständig befaßt, also zu einer Nomologie ausreicht? Unddann erst recht in reiner Formalisierung oder in der freien Kon-struktion von Mannigfaltigkeitsformen: wie kann man wissen, wiebeweisen, daß ein Axiomensystem ein definites ist, ein „vollständiges"?

Ich habe hier überall den mir ursprünglich fremden Ausdruck„vollständiges Axiomensystem" verwendet, der von H ilb er t her-

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stammt. Ohne von den philosophisch-logischen Erwägungen geleitetzu sein, die meine Studien bestimmten, gelangt auch er (natürlichvöllig unabhängig von meinen unpubliziert gebliebenen Unter-suchungen) zu seinem Begriff der Vollständigkeit; nämlich er ver-sucht, ein Axiomensystem zu ergänzen durch ein eigenes „Axiom derVollständigkeit". Die oben gegebenen Analysen dürften evidentmachen, daß die innersten Motive, die ihn mathematisch leiteten,wenn auch inexplizit, doch im wesentlichen in dieselbe Richtunggingen, wie diejenigen, die den Begriff der definiten Mannigfaltigkeitbestimmten. Jedenfalls ist es, wie mir scheint, auch heute, und nichtzum mindesten für den philosophischen Logiker, nicht unwichtig,sich nach den oben versuchten Gedankengängen den tiefen Sinn einerNomologie und einer definiten (nomologischen) Mannig-faltigkeit klarzumachen.

Der Begriff der definiten Mannigfaltigkeit diente mir ursprünglich zu einemanderen Zwecke, nämlich zur Klärung des logischen Sinnes des rechnerischenDurchgangs durch „Imaginäres" und im Zusammenhang damit zur Herausstellungdes gesunden Kernes des vielgerühmten, aber logisch unbegründeten und unklarenH. Hank el sehen „Prinzips der Permanenz der formalen Gesetze". Meine Fragenwaren: an welchen Bedingungen hängt die Möglichkeit, in einem formaldefinierten deduktiven System (in einer formal definierten „Mannigfaltigkeit")mit Begriffen frei zu operieren, die gemäß seiner Definition imaginär sind? Wannkann man sicher sein, daß Deduktionen, die bei solchem Operieren von demImaginären freie Sätze liefern, in der Tat „richtig" sind, das ist korrekt eKonsequenzen der definierenden Axiomenf ormein? Wie weitreicht die Möglichkeit, eine „Mannigfaltigkeit", ein wohldefiniertes deduktivesSystem zu „erweitern" in ein neues, das das alte als „Teil' enthält? Die Antwortlautet: wenn die Systeme „definit" sind, dann kann das Rechnen mit imaginärenBegriffen nie zu Widersprüchen führen. Ausführlich beschrieben (ohne Beziehungauf diese Probleme) habe ich den Begriff des Definiten in meinen Ideen, S. 135(nach einem Doppelvortrag in der Göttinger Mathematischen Gesellschaft

190112). Im I. Band der Logischen Untersuchungen, den ich eigentlich nurals Einleitung zu den phänomenologischen Untersuchungen des II. Bandes ent-worfen hatte, unterließ ich es, Fragen der Mannigfaltigkeitslehre weiter zu ver-folgen, und so fehlen die Beziehungen auf den Begriff des Definiten und auf dasImaginäre, das Abschlußthema meiner alten philosophisch-mathematischen Studien.

§ 32. Die oberste Idee einer Mannigfaltigkeitslehre als eineruniversalen nomologischen Wissenschaft von den Mannigfaltig-

keitsformen.

Indem die Mathematiker dazu übergingen in mathematischerFreiheit Formen von Mannigfaltigkeiten zu definieren, und aus-

schließlich durch Formen für sie als gültig gedachter Sätze, so

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gerieten sie in eine Unendlichkeit von solchen Formen. Für jededurch ein System von Axiomenformen definierte Mannigfaltigkeitergab sich die Aufgabe, die Form zugehöriger deduktiver Wissenschaftselbst eplizit zu konstruieren, was in der Ausführung genau dieselbeArbeit konstruktiver Deduktionen ergab, wie sie in einer konkretendeduktiven Wissenschaft mit sachhaltigen Begriffen durchgeführtwird. Es war unmöglich und zwecklos, verschiedene solche Formenwahllos zu konstruieren, da sofort an den von den faktisch be-stehenden Wissenschaften her gebildeten Formen zu sehen war, daßFormen deduktiver Systeme sich selbst zu deduktiven Systemen zu-sammenschließen. Es erwächst hier also die Idee einer universalenAufgabe: nach einer obersten Theorie zu streben, die alle möglichenTheorienformen, bzw. alle möglichen Mannigfaltigkeitsformen alsmathematische Besonderungen, also ableitbar, in sich fassenwürde.

§ 33. Wirkliche formale Mathematik und Mathematik derSpielregeln.

Die Gefahr des Sichverlierens in einen sich übersteigerndenSymbolismus, der die Herausstellung des eigentlich logischen Sinnesder neuen formalen Mathematik sehr gehemmt hat und es zu einerEntwicklung der sie im Verborgenen treibenden Gesamtintention inForm einer begriffenen Aufgabe nicht kommen ließ, kann nur ver-mieden werden, wenn die Idee dieser Mathematik im Gesamt-zusammenhang der Idee einer Logik — in der Art der Darstellungender Logischen Untersuchungen — aufgebaut wird. Sie wird dannerkannt als eine universale Theorie der (je als Systeme geschlossenen)Theorienformen, korrelativ als eine universale Theorie der möglichenFormen von Mannigfaltigkeiten. So erscheint sie als oberste Stufeder logischen Analytik, fundiert in der wesensmäßig voraus-gehenden Unterstufe, die (mit Rücksicht auf die Ergebnisse der4. Logischen Untersuchung) sich in reine Formenlehre und Geltungs-lehre (Konsequenzlogik) teilt.

Die Mathematiker waren zunächst, befangen von ihren jeweiligentheoretisch-technischen Interessen und Sorgen; für die prinzipiellenlogischen Analysen, wie sie in den Logischen Untersuchungen an-gestellt sind, wenig empfänglich, und beginnen erst seit kurzem inihrer Weise etwas von dieser Stufenscheidung zu merken; sie sehenallmählich, daß durch eine formale Mathematik der höheren Mannig-faltigkeitsstufe niemals die spezifisch logischen Kategorien (Be-

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deutungskategorien und gegenständliche Kategorien) und die auf siebezüglichen wirklichen Axiome erspart werden können. Freilich diemeisten sehen auch jetzt noch nicht, daß, logisch betrachtet, An-zahlenarithmetik ihr eigenes Dasein hat, und wieder Ordinalzahlen-arithmetik, Größenzahlenarithmetik usw. 1). Und anderseits sehen sienicht, daß eine Theorie der „reellen Zahlen" (die in die formaleMathematik der höheren Stufe gehört) keine jener eigenständig auf-zubauenden Disziplinen aus sich herzugeben vermag. Natürlich isthier das Täuschende, daß es sich um äquiforme deduktive Disziplinenhandelt, daß es also technisch zwecklos wäre, jede solche Disziplinexplizit für sich aufzubauen, statt ein für allemal, in einer höherenStufe der Formalisierung, die betreffende Theorienform systematischaus den gemeinsamen Axiornenformen herzuleiten. Nur daß mandoch, wie gesagt, nie die eigene Herausstellung der betreffendenGrund begriffe im Zusammenhang der logischen Kategorien undder auf sie bezüglichen wirklichen Axiome ersparen kann.

Das gilt sogar, wenn man statt einer mathematischen Analysisselbst bzw. einer ernstlichen Mannigfaltigkeitslehre selbst, vielmehreine bloße Disziplin deduktiver Spiele mit Symbolenaufbaut, die erst zu einer wirklichen Mannigfaltigkeitslehre wird,wenn man die Spielsymbole als Zeichen für wirkliche Denkobjekte,Einheiten, Mengen, Mannigfaltigkeiten ansieht, und den Spielregelndie Bedeutung gibt von Ges etz esf ormen für diese Mannigfaltig-keiten. Selbst im Spiel urteilt man, kolligiert und zählt man wirklich,zieht man wirkliche Schlüsse usw.

§ 34. Die vollständige formale Mathematik identisch mit dervollständigen logischen Analytik.

Die systematische Ordnung im Aufbau einer vollen und ganzen„mathesis universalis" — also einer nicht in der Luft schwebendensondern auf ihre Fundamente gestellten und mit diesen Fundamentenuntrennbar einigen formalen Mathematik — ist natürlich ein großesProblem. Es ist nach unseren Nachweisungen aber nichts anderes alsdas Problem einer vollen und ganzen lo gisch en An alyt ik, wiedas schon im Sinne der Darstellungen in den Logischen Unter-suchungen liegt. Dann aber ist klar, daß eine universale Mannig-faltigkeitslehre bei ihrer freien Art, durch Axiomenformen, überhauptFormen von vorausgesetzt gültigen Sätzen eine jeweilige Mannig-

1) Vgl. das Vorwort meiner Philosophie der Arithmetik.

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faltigkeitsform zu definieren, doch über die in der Formenlehre derUrteile systematisch auftretenden Grundformen von Sätzen und diein ihnen implizierten logischen Kategorien, und über sie a I 1 e, zuverfügen hat und sich endlich auch dessen bewußt werden muß, wasdas besagt. Mit anderen Worten, sie muß sich bewu 13t auf einevorangehende Formenlehre der Urteile (der kategorialenBedeutungen) aufbauen. Hier eben verführt die aus vermeintenBedürfnissen größerer Exaktheit hervorgehende Neigung, der wirk-lichen Mannigfaltigkeitslehre ihr symbolisches Analogon zu unter-schieben, also die Definitionen von Mannigfaltigkeiten mit bloßenSpielregeln zu bestreiten.

In der Definition einer Mannigfaltigkeit haben wir nicht bloßsignitiv und kalkulatorisch zu definieren, z. B. "es soll mit denjeweiligen Zeichen gestattet sein, so zu hantieren, daß immer für dasZeichen a b gesetzt werden kann b a", sondern es muß heißen:es soll für die (zunächst nur als leere Etwas, als "Denkobjekte" ge-dachten) Gegenstände der Mannigfaltigkeit eine gewisse V e r -bindungs form bestehen mit der Gesetzes form a b b a,wobei Gleichheit eben wirklich Gleichheit bedeutet, wie sie ja zuden kategorialen logischen Formen gehört. Welche logischen Kate-gorien definitorisch hereinzuziehen sind, das ist Sache der will-kürlichen, obschon durch Widerspruchslosigkeit gebundenen, Defini-tion; aber sie müssen jedenfalls als die ganz bestimmten gemeint undbezeichnet sein.

§ 35. Warum in dem Bereich der mathesis universalis alsuniversaler Analytik nur deduktive Theorienformen thematisch

werden können.

a) Nur deduktive Theorie hat eine rein analytischeSystemform-

Es bedarf nun noch einer wichtigen Ergänzung, die in kritischerAnknüpfung an die Darstellung der „Prolegomena" ausgeführt sei:

Durch die Erhöhung zur systematischen Theorien- oder Mannig-faltigkeitslehre sind die Ganzheitsprobleme in die Logik ein-bezogen worden 1), soweit sie als formale Probleme zu stellen sind.

1) Es ist ein Mangel der Darstellung der Logischen Untersuchungen, daßdieser Gedanke nicht in wiederholter Betonung in den Mittelpunkt gerückt war,obschon er den Sinn der ganzen Ausführungen immerfort bestimmt. Ein ernst-licherer Mangel der Prolegomena ist, nebenbei bemerkt, daß ineins mit dem Begriffder Wahrheit nicht die Modalitäten der Wahrheit erwähnt und nicht Wahrscheinlich-

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Ob die formale Logik (die Analytik im weitesten Sinne) damit voll-endet ist in ihrer ausschließlichen Einstellung auf das universale Feldder Bedeutunge- und Gegenstandsformen, hätte (a. a. 0.) freilich erstuntersucht bzw. nachgewiesen werden müssen. Die Leitung derganzen Fragestellung nach dem Sinn einer „reinen" Logik (sc. alsAnalytik) durch das Ideal der spezifisch theoretischen Wissenschaft,nämlich der nomologischen (wie die Geometrie oder theoretischePhysik), bedingte in den Prolegomena zunächst eine Beschränkung,die nicht gerechtfertigt worden war, eben die Beschränkung des All-gemeinbegriffes Wissenschaft als Theorie im weitesten Sinne— als in sich geschlossenes Sätzesystem einer Wissenschaft überhaupt— auf den besonderen Begriff der deduktiven Theorie (dernomoIogisch „erklärenden" Wissenschaft). Indessen erwägt man dashier spielende und nun ausdrücklich zu formulierende Problem —was die Form eines Gebietes und korrelativ die Form einer Theorieim weitesten Sinne charakterisieren mag — so dürfte die Be-schränkung sich nachträglich in gewisser Weise rechtfertigen lassen.

Zunächst ist es wohl einsichtig, daß Wissenschaften vom Typusder Psychologie oder Phänomenologie, oder Geschichte, wenn wir anihnen Formalisierung üben und nun fragen, was alle die sich er-gebenden Satzformen zur Einheit einer Systemform verbinde, oderwiefern diese Formen als solche überhaupt eine Formeinheit desSystems haben — wir zu nichts kommen als zu der leeren Allgemein-heit, daß es eine offene Unendlichkeit von Sätzen sei, die g eg en-ständIich zusammenhängen und jedenfalls in der Weise analytischerWiderspruchslosigkeit miteinander vereinbar seien. Diese Wissen-schaften scheiden sich prinzipiell in ihrem theoretischen Typusvon den nomologischen im Sinne des von uns exakt definierten Be-griffs '). Das sagt also: ihre Systemform ist nicht die einer definiten

keit als eine dieser Modalitäten aufgeführt, demgemäß also die notwendige Er-weiterung einer formalen Logik dahin bestimmt wird, daß modale Abwandlungendes Urteilens und der Urteile als allgemeine formale Möglichkeiten darum in dieGewißheits- oder Wahrheitslogik eintreten, weil jede solche Abwandlung in dieprädikativen Gehalte des Urteils treten kann und nun nicht als außerfornaal an-gesehen werden darf. Mit anderen Worten „Materie" der Urteile im formallogischen Sinne ist nur der Gehalt, der das Etwas-überhaupt überschreitet; zumEtwas-überhaupt gehören eben alle Formen, nicht nur in denen in Gewißheit,sondern auch in Möglichkeit usw. geurteilt wird. Eine Erweiterung verwandtenSinnes ergibt sich dann, wenn berücksichtigt wird, daß auch das Gemüt Modalitätendes Etwas-überhaupt beibringt, die ebenso in die doxische Sphäre einbezogen sind

(vgl. darüber „Ideen" S. 243 ff. und weiter unten § 50, S. 121).

1) Vgl. § 31.

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deduktiven Theorie; oder korrelativ: ihr Gebiet ist keine definiteMannigfaltigkeit. Was in solchen Wissenschaften Prinzip der Ein-heit ist, kann offenbar nur durch Überschreitung deranalytisch-logischen Form zur Erkenntnis kommen Da-gegen ist die Systemform der deduktiven Theorieselbst eine Bildung der analytischen Sphäre. Somitsind deduktive oder nomologische Wissenschaftendadurch charakterisiert, daß ihr Systemprinzip einrein analytisches ist. Die deduktive Theorie hat eine syste-matische Einheitsform, die zur formalen Logik selbst gehört,in ihr selbst und zwar in ihrer obersten Disziplin, der Mannig-faltigkeitslehre apriori zu konstruieren ist, im Gesamtsystem derapriori möglichen Formen deduktiver Systeme.

b) Die Fragestellung: wann ein System von Sätzen eineanalytisch zu charakterisierende Systemform hat.

Wir haben damit eine für das Verständnis der Logik sehrbedeutsame Erkenntnis gewonnen. Sie fehlt noch in den LogischenUntersuchungen. Korrekterweise hätte dort jede vorausgehende An-knüpfung an das Ideal der „theoretischen", der „nomologischerklärenden" Wissenschaft, das keineswegs für alle Wissenschaft alsIdeal gelten kann — unterbleiben müssen. Statt dessen mußte imGang der Sinnesentfaltung einer Logik als Wissenschaftslehre (undzwar in ausschließlichem Hinblick auf das Formale der Ergebnis-bestände, und von ganz beliebigen Wissenschaften überhaupt) dasentsprechende Pro b 1 em herausgestellt werden.

Dieses kann in folgender Weise kurz umrissen werden: eineWissenschaft überhaupt ist eine Mannigfaltigkeit nicht zufällig zu-sammengeratener, vielmehr verbundener und jedenfalls auf ein ein-heitliches Gebiet bezogener Wahrheiten. Wann hat das Ganze derins Unendliche fortlaufenden Sätze einer Wissenschaft eine syst c-mstische Einheitsform, die mittels der logisch-kate-gorialen Begriffe aus einer endlichen Anzahl von reinenAxiomenformen apriori konstruierbar ist? Wann ist dieeine Theorienform definierende Gruppe von Axiomenformendefinit, bzw. die Gebietsform eine „mathematische",eine „definite" Mannigfaltigkeit? Wenn diese Bedingungerfüllt ist, ist sie Systemform einer „deduktiven", einer „theoretischerklärenden" Wissenschaft.

Die mathesis universalis (was nun stets gleichwertig ist mitlogischer Analytik) ist aus apriorischen Gründen ein Reich

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universaler Konstruktion, abgesehen von den operativenElementen, durchaus ein Reich operativer und in ihrer Unendlichkeitdoch apriori beherrschbarer Gestaltungen. Darin treten als höchsteStufe die deduktiven und keine and e r en Systemformen auf.Eben dadurch beantwortet sich die Frage, wann eine Wissenschaftoder eine wissenschaftlich geschlossene Satzgruppe nach rein analy-tischen (mathematischen) Prinzipien eine einheitliche, eine mathe-matisch konstruierbare Systemgestalt hat.

Zu beachten ist, daß diese Frage nur in einem gewissen Sinne zurformalen Analytik gehört. Von dem Titel Wissenschaft weiß diese,und wissen wir, soweit wir bisher gekommen sind, nur so viel, daß erein gewisses Universum von Sätzen meint, wie immer aus theoretischerArbeit erwachsen, in deren systematischer Ordnung ein gewissesUniversum von Gegenständen zur Bestimmung kommt. Die Logik hatalso, als Analytik, keine Unterschiede von Wissenschaftenv orgegeb en, wie die irgend üblichen von konkreten (be-schreibenden) und abstrakten („erklärenden"), oder welche Unter-schiede sonst man da proponieren mag. Von sich aus kann sie nur zurErkenntnis kommen, daß eine formal allgemein gedachte offene Viel-heit oder „Mannigfaltigkeit" von Gegenständen mit d e r besonderenBestimmung formal denkbar ist, daß diese eine definite mathematischeMannigfaltigkeit ist, korrelativ, daß die für sie als zusammen geltendenin formaler Allgemeinheit gedachten Sätze eine konstruktive (deduk-tive) Systemform haben.

Bei unserem Wege, der weit hinausstrebend über das Absehender Logischen Untersuchungen auf das Ziel hingeht, die Idee einerWissenschaftslehre intentional zu entfalten, ist es noch ein offenesProblem, was über eine Analytik hinaus, die sich als eine erste Stufedieser Entfaltung einstellte, noch apriori unter dem Titel Wissenschafterstrebt werden kann — in einer „formalen" Allgemeinheit, die nunnicht mehr den Sinn der analytisch-formalen hat.

§ 36. Rückblick und 'Vordeutung auf die weiteren Aufgaben.

Nach dieser Klarlegung des Inhaltes des Schlußstückes derProlegomena (die freilich in unserem letzten Kapitel auch Ergänzungund kritische Begrenzung war) glaube ich auch jetzt, nach fast dreiJahrzehnten das Wesentliche und noch immer nicht ganz zur WirkungGekommene derselben vertreten zu können. Es ist dabei aber auchsichtlich geworden, daß wir in gewisser Hinsicht in unserer jetzigenUntersuchung um ein wesentliches Stück weiter gekommen sind, nämlich

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sofern wir im 1. Kapitel die fundamentale Drei-Schichtung der Logikbzw. die neue Scheidung zwischen formaler „Logik der Widerspruchs-losigkeit" und formaler „Logik der Wahrheit" begründen konnten.Andererseits waren wir aber im genannten Kapitel hinter den LogischenUntersuchungen zurückgeblieben, sofern wir durch Rücksichtnahme aufihre Ergebnisse nun genötigt sind, eine höhere Stufe von Problemen,jene Ganzheits- oder „Mannigfaltigkeits"-probleme anzuerkennen,und zwar als Thema einer höherstufigen und dabei immer nochformal-logischen („analytischen") Disziplin. Wir werden es schonerwarten, daß auch in dieser obersten Stufe sich dieSchichtung von Widerspruchslosigkeit und Wahrheitgenau in dem früher ausführlich begründeten Sinne wird vollziehenlassen. Doch müssen wir dazu erst die nötigen Vorbereitungen ge-winnen und zwar durch ausführliche Behandlung des Problems, dasunseren Ausgang gebildet hat, das Verhältnis von Ontologieund Bedeutungslogik betreffend.

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B. Phänomenologische Aufklärung der Doppelseitigkeitder formalen Logik als formaler Apophantik und

formaler Ontologie.

4. Kapitel.

Einstellung auf Gegenstände und Einstellungauf Urteile.

§ 37. Die Frage nach dem Verhältnis von formaler Apophantikund formaler Ontologie; das Ungenügende der bisherigen

Klärungen.

Kehren wir zurück zu dem Nachweis, den wir für die Unterstufegegeben haben, daß die auf sie bezogenen Wesensgesetze und evtl. aus-geführten Disziplinen zugleich und untrennbar formal-ontologischsind und apophantisch, da sie ja ausdrücklich auf beides, auf formaleBedeutungskategorien und formale gegenständliche Kategorien be-zogen worden waren'). Natürlich gilt nun eben dasselbe für die vollentwickelte formale Analytik, sofern die Theorienf or men ihremeigenen Sinne nach ihre Korrelate haben in gegenständlichenMannigf altigkeite n. Der konsequent durchgeführte Weg vondem Bau einer Wissenschaft aus Sätzen, also von der Bedeutungs-seile her, die formalen Bedingungen möglicher Wahrheit und schließ-lich wahrer Wissenschaft zu suchen, führte eben vermöge der in denSätzen selbst liegenden Sinnbeziehung auf Gegen-ständlichkeiten zugleich zu einer universalen formalen Onto-logi e, die in der höchsten Stufe den Namen Mannigfaltigkeitslehrebestimmt.

Es ist nun zu fragen: ist dieser wesensmäßige Doppelsinn derformalen Analytik schon zu hinreichender Verständlichkeit gebracht?Ist es schon klar, was es eigentlich heißt, einmal auf Urteile über-haupt eingestellt sein und das andere Mal auf Gegenständ-lichkeit überhaupt in formaler Allgemeinheit? Ist auch der

1) Vgl. oben § 25 und 27.

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Sinn einer formalen Ontologie gegenüber einer materialen (wir sagennicht realen, da wir noch nicht wissen, was unter dem zweiten Titelstehen mag) schon durchsichtig genug, hat es nicht seine Bedenkenüberhaupt von formaler Ontologie zu sprechen? In der Tat empfandich schon zur Zeit der Logischen Untersuchungen und noch langehinin dieser Hinsicht Schwierigkeiten. Die sehr nötigen Klärungen sollennun unsere nächste Aufgabe sein, dabei werden uns zum Teil Ein-sichten dienlich sein, die uns früher die dreifache Scheidung derAnalytik ermöglicht haben.

§ 38. Urteilsgegenstände als solche und syntaktische Gebilde.

Wir fragen, zugleich in Erinnerung an unsere früheren Dar-legungen'): kann überhaupt eine formale Ontologie von einerapophantischen Logik unterscheidbar sein, sei es auch nur als Korrelatderselben, bloß durch Änderung der Einstellung von den Sätzen aufdie Gegenstände sich ergebend?

Ihr Gebiet soll die „formale Region" des Gegenstandes über-haupt sein, sie soll also Gegenstände in apodiktischen Wahrheitenbestimmen in eben dieser formalen Allgemeinheit. Gehen wir in denUmfang ein und betrachten wir irgendwelche exemplarischen Einzel-fälle zu bestimmender Gegenstände, z. B. diesen Tisch hier, so voll-zieht sich Bestimmung zunächst in Form der Auslegung derbestimmten einzelnen Eigenschaft en und dann in höherer Stufein immer neuen Urteilsakten, in denen neue Gegenstände herein-gezogen, relative Bestimmungen erwirkt, oder in pluralenUrteilen Vielheiten auf dasselbe Prädikat bezogen werden, oderin denen allgemein geurteilt und so Allgemeines zum höherenThema wird usw. Hier sind wir in dem Gang des urteilenden Be-stimmens in der Tat gegenständlich gerichtet, auf den Tisch, desseninhaltlich bestimmter gegenständlicher Sinn zu den verschiedenenStufen sachhaltiger Begriffe führt. Aber wie nun, wenn wir ihn reindurch „formal-ontologische" Begriffe wie Gegenstand, Eigenschaft,Relation, Vielheit und dgl. also durch die Abwandlungsbegriffe desEtwas-überhaupt bestimmen wollten? Sind das anderes als „kate-gorial e" Begriffe, das ist Begriffe, die durch bloßen abstraktivenHinblick auf die s yn taktischen Formen erwachsen sind, indenen der Gegenstand in wechselnden Stufen syntaktischer Aktionen— der Urteilsaktionen — gefaßt wird?

1) Vgl. oben § 25.

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Es ist also in der formalen Analytik der Gegenstandrein als Gegenstand möglicher Urteile und der durch sieihm zuwachsenden Urteilsformen gedacht, und wenn das geradefür ein Denken in apriorischer Allgemeinheit wichtige Ergebnisse hat(während es in concreto zu lächerlich leeren Urteilen führen würde),so liegt es an der Evidenz, daß die Willkür syntaktischer Gestaltungengebunden ist, wenn die Gegenstände sollen in Wahrheit sein bzw. dieprädikativen Urteile sollen Wahrheiten sein können. Die Urteils-syntaxen als formende stehen apriori unter Gesetzen, welche Be-dingungen möglicher Wahrheit darstellen. Die Formung, die sich imUrteil vollzieht und aus der auch alle im engeren und engsten Sinnemathematischen Begriffe wie Menge, Anzahl, Reihe, Größe, Mannig-faltigkeit entspringen, obschon dann aus höchststufigen Urteils-gebilden, vollzieht sich natürlich nicht an den „transzendenten"sondern an den im Urteil selbst vorgestellten Gegenständen.So ist auch in den formal-apriorischen Urteilen der Logik der „Leer-kern" Etwas, das ist der formale Sinn der Buchstaben S, p usw.,Bestandstück der Urteile selbst. Wie hätten wir also eine formaleUrteilslehre überschritten? Stehen wir nicht doch mit allen formalenUnterscheidungen der Urteilsgegenständlichkeiten in ihr?

§ 39. Erweiterung des Urteilsbegriffs auf alle Gebildesyntaktischer Aktionen.

Freilich sind in dieser Betrachtung Aktivitäten wie Kolli-gieren, Zählen, Ordnen, Kombinieren usw. den Urteils-aktivitäten zugerechnet worden und ihre Korrelate den Urteils-gebilden. Aber sind es nicht wirklich in verschiedenen Stufenformbildende Aktivitäten, und sind sie nicht in den gewöhnlich sogenannten — prädikativen — Urteilen selbst durch Formen vertreten,die keine Formenlehre der Urteile übergehen darf? Wir haben diesenPunkt schon einmal berührt ): so gut Eigenschaf t eine im Urteilzunächst unselbständig auftretende Form bezeichnet, die „nominali-siert" die Substratform Eigenschaft ergibt, so tritt im pluralen Urteilender Plural auf, der „nominalisiert", zum Gegenstand im aus-gezeichneten Sinne umgestaltet — dem des Substrates, des „Gegen-standes-worüber" — die Menge ergibt. Es ist hier gleichgültig, daßman kolligieren und zählen kann, ohne sogleich die Gebilde in wirk-liche Prädikationen einzubeziehen. Es sind „objektivierende"

1) § 25.

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(„doxische") Aktivitäten, ,wie die prädikativen; sie haben wie diese(und dieselben) Glaubensmodalitäten, sie sind an allen erdenk-lichen Substraten (Etwas-überhaupt) zu vollziehen, ihre Gebildesind daher in gleicher Weise formale Kategorien 1). Zudem sind siealle wesensmäßig in prädikative Urteile einzubeziehen und in ihnenweiteren Formungen zugänglich. In einer wirklich durchgeführtenApophantik, als Lehre von den prädikativen Urteilen, müssen in deruniversalen Behandlung aller apophantischen Formen, als welche füreine formale Logik gefordert ist, auch alle F ormen doxischer„Setzungen" und doxischer Sätze vorkommen — alle diewir irgend als formal-ontologische ansprechen. Aber manmuß diese Zusammengehörigkeit und anderseits diesen Zusammenhangauch beachten und nicht die apophantische Logik in unzulänglicherWeise begrenzen, als ob z. B. Menge und Mengenlehre, Anzahl undAnzahlenlehre sie nichts anginge.

§ 40. Formale Analytik als Gedankenspiel und logische Analytik.Die Beziehung auf mögliche Anwendung gehört zum logischen

Sinn der formalen Mathesis.

Das soeben Ausgeführte erhält aber noch eine bedeutungsvolleWendung, wenn wir das Erkenntnisinteresse mit in Rechnungziehen, das, als ein herrschendes und auf ein Erkenntnisgebiet kon-sequent bezogenes gedacht, allen doxischen Aktivitäten die Intentionauf Erkenntnis, und zwar als Erkenntnis des betreffenden Gebieteseinverleibt. Wir stehen dann im Horizont einer Wissenschaft, und imFall formal-allgemeiner Betrachtung in der Logik, deren zwei-seitiges Thema mögliche Wissenschaften überhaupt sind, und zwar insubjektiver Hinsicht die möglichen Formen der die wissenschaftlichenErkenntnisgebilde erzeugend-erkennenden Aktionen und in objektiverHinsicht diese Gebilde selbst. Die logische Analytik, wie wir sie bisherrein objektiv faßten, betrifft natürlich in abstraktiver Einseitigkeitausschließlich die Gebilde. Sowie wir nun aber in dem Rahmen unsbewegen, den die Worte wissenschaftliches Erkennen und Er -k e nn t nisgebiet bezeichnen, ist jede Art doxischer Aktivitätnotwendig einbezogen gedacht in die prädik ativ- zusammen-geschlossenen Aktivitäten. Z. B. man kolligiert und zählt dann- nichtzum Spiel, oder weil man daran aus welchen Gründen sonst interessiert

1) So schon im wesentlichen in meiner „Philosophie der Arithmetik", S. 91.

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ist, sondern im Interesse der Erkenntnis des Gebietes (z. 13. der Natur),letztlich also um die betreffenden Elemente und Einheiten als ihmzugehörige zu erkennen und prädikativ (apophantisch) zu be-stimmen. Darum ist in der Logik, die ja ausschließlich Er-kenntnisinteressen, die der Wissenschaft, im Auge hat, immer nurvon prädikativen Urteilen die Rede — worin aber dieVielheiten, die Anzahlen usw. als Partialgebilde auftreten oderals in möglichen weiteren Erkenntniszusammenhängen auftretendgedacht sind.

Eine sich spezialwissenschaftlich wie ein Selbstzweck ausbildendeMathematik mag sich um dergleichen nicht kümmern, also nichtdarum, daß sie Logik und logische Methode ist, daß sie Erkenntnis-dienst zu üben hat, daß ihre Gebilde als Formgesetze unbestimmtbleibender Erkenntniszusammenhänge für ebenso unbestimmt blei-bende Erkenntnisgebiete zu fungieren berufen sind. Sie braucht sichdarum nicht zu kümmern, daß die Beziehung auf offenunbestimmte, ideal mögliche Anwendung zu ihremeigenen formal-logischen Sinne gehört, und zwar so, daßdabei der Umfang dieser Anwendung durch keine „Erkenntnismaterie"gebunden, also ein formaler ist. Sie kann demgemäß gleichgültigdagegen bleiben, daß alle ihre Gebilde den Sinn von solchen haben,die innerhalb irgendwelcher (in ihrer Materie unbestimmt bleibender)Erkennt uisurteile aufzutreten berufen sind — wie sie es injedem Falle tatsächlicher Anwendung in der „angewandten Mathe-matik" tun, indem sie etwa in der theoretischen Physik als Bestand.stück physikalischer Bestimmung fungieren. Aber der philosophischeLogiker muß sich darum kümmern. Er kann eine xarci Adeka,av1tzT2oxiir gedachte Mathematik nicht gelten lassen, eine solche, diesich von der Idee möglicher Anwendung losreißt und zu einem geist-reichen Gedankenspiel wird — wo nicht gar, wie in der bloß kalku-latorisch ausgebildeten Mathematik, zu einem Spiel der Symbole, diedurch bloße Rechenkonventionen ihren Sinn erhalten. Als Logikermuß er sehen, daß die formale Mathematik ursprüng-lich logische Analytik ist und daß dann zu ihrem eigenenlogischen Sinn ein durch die Erkenntnisintention begründeterUmfang der Erkenntnisfunktion gehört, das ist der möglichen An-wend ung en, die in all ihrer Unbestimmtheit doch zum mathe-matischen Sinn mit gehören. Und eben dadurch stehen wir, wiegesagt, in der apophantischen Urteilssphäre, der sich aber alle mathe-matischen Gebilde als Bestandstücke einordnen.

Husserl, Jahrbuch t Philosophie. X. 7

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§ 41. Der Unterschied zwischen apophantischer und ontologischerEinstellung und die Aufgabe seiner Klärung.

Kehren wir nun zu unserer Schwierigkeit zurück, so ist sie durchdie wichtige Einsicht, die uns die letzten Ausführungen gebrachthaben, offenbar nicht behoben. Die Idee der formalen Logik, bzw.des „Formalen" ist fest umgrenzt durch die doxischen Syntaxen, diealle in die syntaktische Einheit einer Apop h an s is, eines Urteilsim gewöhnlichen Sinn der Logik, mit eintreten können und logischeinzutreten haben. Allen Erkenntnisgegenständlichkeiten als Urteils-gegenständlichkeiten eignet eine „kategoriale", vom .7«crr4 7■,12e-ir (bzw.seinen syntaktischen Aktionen) herstammende, eine syntaktische Form.Die formale Logik bestimmt Gegenstände in reiner Allgemeinheitdurch diese Form. Wahr ist auch, daß nirgends sonst als im Urteilder Leerbegriff Etwas auftritt, in dem Gegenstände überhaupt logischgedacht sind. Aber ist damit gesagt, daß zwischen apop hantischerLogik und formaler Ontologie gar kein Unterschied ist unddaß, weil wir die Urteilssphäre in den formal-ontologischen Be-stimmungen nie überschreiten, nicht doch Gegenstände, sondernUrteile Thema der formalen Gegenstandslehre sind? Ist es nicht einwesentlich anderes, auf Urteile thematisch eingestelltsein und darin beschlossen: auf die syntaktischen Gestaltungen ein-gestellt sein, die im thematisch gewordenen Urteil mit dem Sinn vonUrteilsbestandstücken auftreten., und anderseits auf Gegenstän deeingestellt sein und deren syntaktische Gestalten — die zwar iUrteilen thematisch sind, aber so, daß es die Urteile nicht sind undih re Bestandstücke.

§ 42. Die Lösung dieser Aufgabe.

a) Das Urteilen nicht auf das Urteil sondern auf diethematische Gegenständlichkeit gerichtet.

Wir wollen nun versuchen, diese doppelte Einstellung zu klärenund ihr gemäß die Scheidung zwischen apophantischer Logik (imweitesten Sinne) und formaler Ontologie ursprünglich zu recht-fertigen, eine Scheidung, die zugleich doch Äquivalenz ist, sofern esdabei bleiben wird, daß beide Disziplinen, und bis ins einzelne, indurchgängiger Korrelation stehen und darum als eine einzigeWissenschaft zu gelten haben.

Gehen wir davon aus, daß Gegenstände für uns sind und sind,was sie sind, ausschließlich als die uns jeweils bewußten, als er-

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fahrene, das ist wahrgenommene und wiedererinnerte, oder als leervorgestellte und doch im Seinsglauben vermeinte, als gewisse, ver-mutete usw. und so überhaupt in irgendwelchen Bewußtseinsweisen,auch denen des Gemütes und Willens, vermeinte, im übrigen gleich-gültig, wie sie aus unserem bisherigen Bewußtseinsleben zu ihrem jetztuns geltenden Sinn gekommen sind. Dahin gehören auch die Bewußt-seinsweisen des spezifischen D enk en 5, des begreifend urteilendenund natürlich auch des „erkennend"-prädizierenden Denkens. Heißtes also, daß wir mit Gegenständen beschäftigt sind und im besonderen,daß wir über sie urteilen, so stehen wir innerhalb unseres eigenenBewußtseins, womit natürlich nicht gesagt ist, daß unser Bewußtseines ist, womit wir uns beschäftigen, oder gar, daß diese Gegenständenichts anderes sind als Bewußtseinserlebnisse.

Wir haben hier keine Transzendentalphilosophie zu geben, son-dern nur, was uns angeht, korrekt auszulegen, und zwar jetzt dies,daß, wenn wir urteilen, in diesem Urteilen selbst sich die Beziehungauf den Gegenstand herstellt. Dabei ist zu beachten, daß dieser zwarvor dem prädikativen Urteil durch Erfahrung vorgegeben sein kann,daß aber das Erfahrungsurteil oder das nachträglich nicht mehrerfahrende, aber „auf Erfahrung beruhende" in sich s elb st (imersten Falle) die Erfahrung befaßt, oder (im anderen Falle) eine wieimmer aus der vorangegangenen Erfahrung hergeleitete und sie ab-wandelnde Bewußtseinsweise — wodurch eben allein das Urteilen inseiner Konkretion Urteilen über das und das ist. Im jeweiligenUrteilen haben wir nun ein Urteil gefällt, und wir wissen schon,daß gefälltes Urteil (bzw. in der fällenden Aktivität sich in seinenGliedern sukzessive aufbauendes) nicht mit dieser Aktivität, demUrteilen zu vermengen ist.

Wir achten nun darauf, daß dieses „im Fällen das gefällteUr t eil habe n" nichts weniger besagt, als dieses Urteil geg en-ständlic h, als „Thema", im besonderen als Urteilssubstrathaben. Urteilend sind wir nicht auf das Urteil, sondern auf diejeweiligen „Geg enst än de w orübe r" (Substratgegenstände), aufdie jeweiligen Prädikate, das ist gegenständlich bestimmendenMomente, auf die Rela ti one n, in kausalen Urteilen auf die je-weiligen S a chv erhalte als Gründe und die Gegensachverhalte alsFolgen ge ri cht e t usw. Jederzeit ist aber, wie selbstverständlich,eine Änderung der Einstellung möglich, in der wir unsereUr teil e, ihre Bestandstücke, ihre Verbindungen und Beziehungenzum The ma ma ch en; das geschieht in einem neuen Urteilenzw eit er S tu f e, in einem Urteilen über Urteile, in dem Urteile

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zu Gegenständen der Bestimmung werden. Ohne diese Einstellungs-änderung könnten wir natürlich keinen Begriff von Urteil und vonseinen Urteilssyntaxen bekommen.

b) Die Identität des thematischen Gegenstandes im Wandelder syntaktischen Operationen.

In der Einstellung auf irgendwelche Gegenstände vollziehenwir urteilend je nachdem vielgestaltige Operationen. Z. B. wennwir geurteilt haben S ist p, können wir "nominalisierend" und damitneu formend urteilen: daß S p ist, ist bedauerlich, hat seine Gründeusw. War ursprünglich S der Substratgegenstand und wurde er im peigenschaftlich bestimmt, so ist jetzt "dies, daß S p ist" Substratgegen-stand: der Sachverhalt, der vordem zwar konstituiert, aber nichtGegenstand-worüber war. Ebenso ergibt die gleiche am p geübteOperation seine Verwandlung in das nominalisierte, zum Urteils-substrat gewordene P (das Rot, die Schnelligkeit und dgl.). DieseFormenverwandlungen (syntaktische Verwandlungen), die sich imUrteilen vollziehen, ändern also nichts daran, daß wir gegen-ständlich gerichtet sind. Die betreffenden syntaktischen F °cmenselbst treten im Urteil, am Urteilsgegenständlichen auf, ob-schon wir, auf dieses selbst gerichtet, sie ihm nicht zurechnen. Z. B.wir sagen, derselbe Sachverhalt sei — nur in verschiedenerForm — als „S ist p" und „dies, daß S p ist .. urteilsmäßiggemeinter, dieselbe Eigenschaft einmal als Prädikat "rot" unddas andere Mal als Subjekt „dieses Rot".

Diese Akte der Identifizierung sind Urteile mit Urteilen zuUrteilen höherer Stufe verbindende Synthesen, mit denen, und inverschiedenen Weisen (obschon oft verschwiegen) die Form „d as-selbe" in den Bedeutungsgehalt eintritt. Und ebenso in allen an-deren Fällen, z. B. wenn „dieselbe" Vielheit, die im pluralen Urteilengeurteilte war, nachher als Gegenstand „Inbegriff", als „diese Viel-heit" und dgl. auftritt. Es ist zum Wesende r geg enstä nd lic he nEinstellung gehörig, die das Urteilen selbst immerfortausmacht, daß es die betreffenden Identifizierungen imWechsel der Urteilsmodi, in denen sich „dasselbe" als ver-schieden geformt darstellt, vollzieht. Eben damit vollzieht sich durchdie Urteilsverkettung hindurch ein einheitliches Bestimmen(was doch, im weitesten Sinne, fortlaufend das Urteilen ist). Wiesehr es zwischendurch und in verschiedenen Stufen zum Bestimmennominalisierter Substrate werden mag, letztlich gilt es doch den

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untersten und primär thematischen Substraten, in den Wissen-schaften den Gegenständen des Gebietes; auf deren Bestimmung istes durch alle Zwischenstufen hindurch abgesehen.

c) Die Typik der syntaktischen Gegenstandsformenals die der Modi des Etwas.

Das Gegenständliche und immer wieder Identifizierte in der-artigen Urteilsverläufen, die, auf die Einheit irgendeines thematischenBereichs bezogen, Einheit der Bestimmung vollziehen, hat hinsicht-lich seiner möglichen kategorialen Gestalten (g egenständlicherGestalten!) eine ganz bestimmte Typik. Es ist die der Modi desEtwas-überhaupt: als „Eigenschaft", Relation, Sachverhalt,Vielheit, Einzelheit, Reihe, Ordnung usw. Wir nennen sie') Ableit ungs f o rm en des Etwas, der formalen Grundkategorie Gegen-stand, und in der Tat leiten sie sich von ihr ab — durch dasUrteilen selbst, bzw. durch alle die doxischen Aktivitäten, dieden weiteren Sinn von Urteil ausmachen. Eigenschaft als Form er-wächst ursprünglich im schlicht kategorisch bestimmenden Urteil, sowie Kollektion ursprünglich erwächst im Kolligieren, natürlich nichtals reelles psychisches Datum, sondern als intentionales Setzungs-korrelat. Es kann dann im Gang urteilenden Bestimmens verschiedeneUrteilssyntaxen annehmen und in dem Wechsel derselben, wie wirsehen, identifiziert werden als dieselbe Eigenschaft, derselbe Sach-verhalt, dieselbe Kollektion, dieselbe Allgemeinheit usw.

d) Die doppelte Funktion der syntaktischen Operationen.

Es ist hier zunächst freilich verwirrend, daß die syntak-tischen Operationen doppelt fungieren: einerseits alsformschaffende, dadurch daß sie Gegenständlichkeiten der ver-schiedenen syntaktischen Formen schaffen, der Ableitungsformen desEtwas-überhaupt, die als solche jeder erdenkliche Gegenstand, einzelnoder mit anderen zum Substrat geworden, in und mit der doxischenAktion selbst annehmen kann. Anderseits fungieren sie als diew e ch selnden Syntaxen, die eine solche kategoriale Gegenständ-lichkeit (Substrat, Eigenschaft, Relation, Gattung üsw.) annehmenkann, in deren Wechsel sie aber identisch bleibt, indem sie einmalals Subjekt, das andere Mal als Objekt fungiert, oder als ursprüng-liches Prädikat und dann wieder als nominalisiertes Prädikat, alsSachverhalt schlechthin oder Sachverhalt in der Funktion des Prä-

1) Vgl. Ideen, S. 24.

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missensachverhaltes usw. Hierbei ist leicht zu sehen, daß alle sy n-taktischen Modi in beiden Weisen fungieren, und daßspeziell, was für uns von anderer Seite schon wichtig geworden war,in die Form „Sachverhalt" alle syntaktischen Formen als zu ihmselbst gehörige Bestandstücke eintreten können. Anderseits kannwieder der Sachverhalt von außen her sozusagen in irgendwelchenweitergreifenden und ihn umgreifenden syntaktischen Aktivitäteneine wechselnde Funktionsgestalt erhalten, die ihm selbst nicht zu-gerechnet wird. Sie gehört dann eben in den Sachverhalt höhererStufe, der mit den neuen Urteilen sich konstituiert.

Diese verwickelten, aber in ihrer Wesensnotwendigkeit voll-kommen durchschaubaren Verhältnisse ändern jedoch nichts an dem,was für uns hier die Hauptsache ist: der Ur teilende i s gegen-ständlich gerichtet, und indem er das ist, hat er dasGegenständliche nie anders, als in irgendwelchenkat eg o rialen (oder wie wir auch sagen syntaktischen) Fo r m en,die also ontologische Formen sind. Jedes neue Urteil imUrteilszusammenhang, jede Urteilsverbindung und schließlich derganze Zusammenhang als e in nur sehr hochstufiges Urteil, konsti-tuiert eine neue kategoriale Gegenständlichkeit.

e) Zusammenhang des Urteilens in der Einheit der sichbestimmenden Substratgegenständlichkeit. Konstitution

ihres bestimmenden „Begriffes".

Zusammenhang hat das fortschreitende Urteilen durch dieEinheit eine s durch dasselbe hindurchgehenden "T hemas" imersten, prägnantesten Sinne als der jeweiligen S ubs tra t gegen-s tändli c hk ei t, auf deren Bestimmung es in ihm beständig undletztlich abgesehen ist. Urteilend und wieder urteilend erwirbt derUrteilende für diese Gegenständlichkeit das mannigfaltige "wie siebeschaffen ist", individuell oder im allgemeinen; er erwirbt für sieSachverhalte, in denen sie sich so und so verhält usw., immer neuekategoriale Gegenständlichkeiten, in die die Substratgegenständlichkeiturteilsmäßig eingeht, in der Form neuer Gegenständlichkeiten, die selbstrelativ the ni a tis eh werden, also selbst wieder Bestimmung er-fahren, durch die hindurch aber zugleich die erste Substratgegen-ständlichkeit als die letztlich thematische sich bestimmt.

Der Urteilsprozeß kann als einheitlicher ins Unendliche fort-schreiten, es kann die Substratgegenständlichkeit selbst Unendlich-keiten von Einzelheiten in sich befassen, wie das die Wissenschaftenillustrieren. Z. B. die noch unbestimmte Unendlichkeit der Natur

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hat der Urteilende, indem er von der bloßen Erfahrung in seinurteilendes Streben übergeht, während des Urteilens als Substrat vorsich, als zu bestimmende. Und nun konstituiert er die Bestimmungs-gebilde, die kategorialen Neugestaltungen des Substrates. All diemannigfaltigen Sondergebilde, die er dabei tätig erwirbt, habenselbst kategorialen Zusammenhang in der Identität der (selbst inurteilender Identifizierung konstituierten) Substratgegenständlich-keit und konstituieren für sie fortschreitend den ihr eben aus diesenganzen urteilenden Leistungen her zuwachsenden bestimmendenBegrif f — das jeweilige „was sie danach alles in allem ist", einsich immerzu fortbewegender, sich immer fortgestaltender, aber auchumgestaltender Begriff. Denn es ist zu berücksichtigen, daß sich imFortgang der Urteilsaktionen die Überzeugungen nicht nur erweiternmüssen, sondern auch im einzelnen Durchstreichung erfahren können,als „falsche", für die dann andere, als die „richtigen" eintreten, inneuer Weise die Substrate bestimmend. Ob das nun in Einsichtgeschieht oder nicht, ist hier für uns außer Frage. Genug, daß einProzeß der Gestaltung der dem Urteilenden „im Sinne liegenden"Urteilssubstrate statt hat.

Es ist dabei hervorzuheben, daß selbst Ideen und Ideenunter-schiede mit zur Einheit der im Urteilen sich konstituierenden Leistunggehören. Ich nenne hier z. B. Ideenunterschiede wie die zwischen„der Natur wie sie schlechthin ist" als Idee ihreswahren Seins, oder was dasselbe als Idee des sie vollständig be-stimmenden Begriffes, wie er in ihrer (freilich unmöglichen) voll-ständigen und auf Einstimmigkeit gebrachten Beurteilung sich er-geben würde — und anderseits der Natur, wie sie gemäß derjeweils bisher und nicht weiter gediehenen, aberimmer wieder fortzuführenden Urteilsleistung ist, alsEinheit der bisher erworbenen Überzeugungen. Im eigenen Sinngehaltdes auf die Einheit des noch unbestimmten und zu bestimmendenGebietes gerichteten Urteilens, in ihm selbst werdend und ge-worden, liegt die Idee der möglichen Fortführung der be-stimmenden kategorialen Bildungen und desgleichen derFortführung in einer möglichen Konsequenz der bestimmenden Ab-zielung ins Unendliche. Sie liegt darin implizite zunächst als sichim aktuellen Fortgehen und Fortgezogensein vorzeichnender Hori-zont, dann aber evtl. explizite in einer eigenen ur teilsmäßigenGestaltung der Idee als einer kategorialen Gegen-ständlichkeit einer besonderen Stuf e und Dignität.Und ebenso liegt darin die erstere Idee der Natur, „wie sie selbst

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ist" und schlechthin ist, die dann eingeht in die Idee der relativund als Abschlagszahlung jeweils von uns so und so weit erkanntenevtl. aber auch zu berichtigenden Natur. Die „Natur seIbs t"erhält dann sichtlich den Wert eines sich synthetisch durch dieseAbschlagszahlungen (mit den relativen Begriffen von der Natur)hindurch, unter Ausschaltung preisgegebener und Einschaltung be-richtigender Bestimmungen, konstituierenden Begriffs als kategorialenKorrelates der Idee eines einstimmig in die Unendlichkeiten durch-zuhaltenden Urteilsprozesses.

Das soeben Ausgeführte gilt für jederlei Substrate als wissen-schaftliche Gebiete, welche Besonderungen sich übrigens auch er-geben mögen, wenn die Urteilsprozesse eine Intention auf einsichtigeBestimmung in sich tragen und die Idee einer echten Wissenschaftin die Erwägung gezogen wird.

f) Die im Bestimmen erwachsenden kategorialen Gebildeals habitueller und intersnbjektiver Besitz.

Selbstverständlich darf nicht übersehen werden, daß die katego-rialen Gebilde nicht bloß in und während der urteilendenAktion für den Urteilenden Gegenständlichkeiten sind, wie dennin ihrem eigenen Seinssinn die Transzendenz liegt. Wasder Urteilende in seinem aktuellen Denken gestaltet hat, besitzt ernunmehr als bleibenden geistigen Erwerb: die aktuelle Geltung ver-wandelt sich ihm in eine habituelle. Das einst in Geltung Gesetztein wirklich konstituierender Aktivität kann in der Erinnerung wiederauftauchen und taucht nicht nur auf als in Geltung Gewesenes,sondern als noch Geltendes. Dieses Auftauchen besagt nicht explizitewiederholende Wiedererinnerung des früheren Prozesses der Kon-stitution Schritt für Schritt, sondern ein einstrahliges, vages Wieder-zurückkommen auf das Seiende aus früherer Aktion. Aber dazugehört die Gewißheit, den konstitutiven Prozeß reaktivieren, ihn inseiner Noch-geltung wiederherstellen zu können, bzw. dieselbe kate-goriale Gegenständlichkeit als dieselbe herstellen zu können. Nur sokönnen überhaupt fortschreitende Urteilsprozesse und dabei auchnach Unterbrechungen wieder anzuknüpfende und fortführende mög-lich werden. Sie beruhen auf der habituellen und wieder-zuerweckenden Geltung als Fortgeltung durch alle beliebigenWiedererweckungen hindurch; das Seiende ist das für den Urteilenden„hinfort" Seiende — solange er seine „Überzeugung" nicht aufgibtund die Geltung, die zugleich Fortgeltung ist, nicht durchstreicht.

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Nichts Wesentliches ändert sich an unserer Darstellung, wennwir nun auch die Vergern eins chaftung der Urteilenden inihrem Denken in Rücksicht ziehen, also die kategorialen Gegenständ-lichkeiten als in der Urteilsgemeinschaft konstituierte ansehen. ImBeispiel der Natur handelte es sich also nicht um die Natur „fürmich", sondern die Natur „für un s", etwa die Natur „für unsNaturwissenschaftler", „für die Naturwissenschaft unserer Zeit"und dgl.

g) Dem Denken schon vorgegebene Gegenständlichkeitgegenüber der kategorialen Denkgegenständlichkeit —

erläutert an der Natur.

Man darf natürlich nicht rekurrieren auf die vor allemDenken durch bloße Erfahrung vorgegebene Natur. Die Natur alsUrteilsgestalt, im besonderen als naturwissenschaftliche Erkenntnis-gestalt wird natürlich unter sich haben die Natur als Erfahrungs-gestalt, als Einheit wirklicher und möglicher Erfahrung, eigener undmit derjenigen der Anderen vergemeinschafteter; aber das Unter-sich ist z ugleich ein In-sich. Nur die in das Urteilen selbsthineingenommene Naturerfahrung ist den Urteilssinn bestimmende,und dem Urteilenden als solchem gilt nur die Natur, die im Urteilenkategorial geformte ist. Hinsieltlieh der sonst erfahrenen oder zuerfahrenden besagt das einen offenen, noch unrealisierten Horizontvon der Erfahrung her zu schaffender Urteile. Wir nennen die Ein-heit universaler Erfahrung freilich Natur und sagen, sie s ei undhabe an sich die und die Eigenheiten und sie sei, was sie oder wiesie ist, „ v o r" unserem Urteilen. Aber nur aus unserem Urteilenund für mögliche Urteilende hat sie apriori das „seiend" und das„sie ist, wie sie ist", die „Eigenschaften", die „Sachverhalte" usw.Nur wenn wir vom schlichten urteilenden Tun auf Grund der Er-fahrung (in welchem wir die kategorialen Gebilde gewinnen) syn-thetisch dazu übergehen, das Erfahren selbst und dessen Leistungenzum Urteilsthema zu machen, können wir ursprünglich davon wissen,daß dieses Erfahren (einstimmig verlaufend) schon „vor" dem Denkenund dessen kategorialen Gebilden den Seinssin der Natur „implizite"in sich trägt als denselben, den das Denken expliziert.

All das ist wieder nichts weniger als ein Stück argumentierendenIdealismus, und nicht herbezogen aus irgendeiner spekulierenden„Erkenntnistheorie" und Standpunktphilosophie, sondern schlichteBesinnung und Aufweisung.

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§ 43. Die Analytik als formale Wissenschaftslehre ist formaleOntologie und als solche gegenständlich gerichtet.

Was für die Natur als seiende und für die sie bestimmendeNaturwissenschaft gilt, gilt, sagten wir, für alle Gebiete undihre Wissenschaften. Es betrifft also auch die analytischeLogik als formale Wissenschaftslehre. Ihr Thema sind die kate-gorialen Gegenständlichkeiten überhaupt ihren reinen Formen nach,das ist gefaßt unter die durch Formalisierung entsprungenen Form-begriffe von solchen Gegenständlichkeiten, wobei die sachhaltigen„Kerne", die zuunterst aus den erfahrenden Anschauungen stammenund das Konkret-eigenwesentliche der Gegenstände und Gebieteurteilsmäßig konstituieren, in unbestimmter Allgemeinheit bleiben, indieser Allgemeinheit bloß gedacht als irgend etwas, als irgendein inden Identifizierungen sich identisch durchhaltendes Das und Was.Diese „Abstraktion" vom Sachgehalt, dieses ihn in die Variabilitätdes beliebig Identifizierbaren Einstellen besagt korrelativ, daß d i eBegriffsbildung der Logik ausschließlich den kate-gorialen Syntaxen folgt. Denken wir uns, wie es sich indiesem Zusammenhang ergibt, den Logiker so eingestellt, wie es seineOrientierung nach dem wissenschaftlich Urteilenden mit sich bringt,nach dem auf sein jeweiliges Gebiet in fortgesetzter Bestimmunggerichteten Wissenschaftler, der in immer neuen Stufen von Theorienendet. Dann hat er ebenfalls in seinem Thema umfangsmäßigirgendwelche Substratgegenständlichkeiten als zu bestimmendemitgedacht, und irgendwelche kategorialen Gegenständlichkeitenals die Substrate in Bestimmung. Er braucht dabei nicht von vorn-herein an universale Wissenschaftsgebiete explizit zu denken unddavon zu sprechen. Aber er muß doch in der Erwägung der formalenMöglichkeiten fortschreitend, darauf stoßen, daß nicht nur einzelneUrteile substratmäßig zusammenhängen können, sondern in dieserArt auch unendliche Urteilssysteme möglich sind, wobei ja, wie esoben geschehen ist, innerhalb des Ideenkreises der Logik selbst(als analytisch formaler) sich der Vorzug der deduktiven Systemeherausstellt.

Unser Ergebnis lautet also: die Analytik als formaleWissenschaftslehre ist wie die Wissenschaften selbst ontischge richtet, und zwar vermöge ihrer apriorischen Allgemeinheitontologisch. Sie ist formale Ontologie. Ihre apriorischenWahrheiten sagen aus, was für Gegenstände überhaupt, fürGegenstandsgebiete überhaupt in formaler Allgemeinheit gilt, in

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weichen Formen sie überhaupt sind, bzw. nur seinkönnen — natürlich urteilsmäßig, da Gegenstände überhaupt nururteilsmäßig „sind" und in kategorialen Formen sind, abermals ausdemselben Grunde.

§ 44. Wendung von der Analytik als formaler Ontologiezur Analytik als formaler Apophantik.

a) Thematische Umstellung von den Gegenstandsgebietenauf die Urteile im Sinne der Logik.

Nachdem wir soweit gekommen sind, ist die Frage: ob nun nichtdas gerade Gegenteil von dem evident gemacht ist, was wir zeigenwollten; zeigen wollten wir doch die Zwiefältigkeit der Idee derLogik als formaler Ontologie und formaler Apophantik. Wir habenaber, möchte man sagen, nur eins. Alle Gegen s tändlic h-keit e n, mit denen wir uns je beschäftigen und je beschäftigt haben,mit allen ihren formal-ontologischen Gestalten, alle, von denen wirje sagen und sagen könnten, sie seien, und wenn wir erkennend-bewährend eingestellt sind, sie seien in Wahrheit die und die, sindscheint es gar nichts anderes als „Urteile" — Urteile inunserem erweitert en Sinn e, in den Urteilstätigkeiten, dendoxischen Setzungen selbst gewordene „Sätze", ihre aktuellen unddann habituellen Korrelate, Gebilde, die selbst wieder von neuen undneuen Urteilen umgriffen werden können und dann in sie als Teileeintreten. Ist nicht ex definitione Urteil das im urteilenden Leistenals geurteiltes werdende und gewordene, das dann als ideale Gegen-ständlichkeit immer wieder identifizierbar ist? Ist das etwasanderes als kategoriale Gegenständlichkeit?

Um nun (trotz der, in einem gewissen Sinn genommen, unan-greifbaren Evidenz der bisherigen Darstellung) unsere voraus an-gekündigte Stellungnahme zu rechtfertigen, haben wir zu zeigen,daß gegenüber der thematischen Einstellung, in der wiruns bisher bewegt hatten, eine thematische Wendung jeder-zeit möglich ist, der gemäß nicht das jeweilige Gegen-standsgebiet und die aus ihm höherstufig gebildeten kategorialenGegenständlichkeiten im thematischen Felde liegen, sondernals ein Anderes und wohl Unterschiedenes das, was w ir dieUr teil e nennen und deren Bestandstücke, deren Verbindungenund sonstige Umwandlungen zu Urteilen immer neuer Stufe.

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b) Phänomenologische Aufklärung dieser Umstellung.

a) Die Einstellung des naiv-geradehin Urteilenden.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß wir uns in der voran-gegangenen Darstellung hineinversetzt hatten in die Ur-teilenden uhd ausschließlich nach dem frugen, was f ii r sieals solche „d a" war, also die und die Substratgegenstände oderGebiete, die und die in ihrem bestimmenden Urteilen ihnen zu-wachsenden kategorialen G-egenständliehkeiten immer neuer Formund Stufe, als die ihnen geltenden. Denn Urteilen ist immerzu etwasglauben, etwas als seiend „vor sich haben", ob nun anschaulich oderunanschaulich. Nur ein anderes Wort ist: es in Seinsgeltung haben.Das schließt, wie wir sogleich gesagt hatten, nicht aus, daß imweiteren Urteilsgang diese Seinsgeltung in den Urteilenden nichtstandhält. Das Seiend „modalisiert" sich in das Zweifelhaft, Fraglich,Möglich, Vermutlich oder gar in das Nichtig. Der Urteilszusammen-hang heißt solange ein einstimmiger, solange dergleichen nichtpassiert und die jeweilig geltenden Gegenständlichkeiten in schlichterSeinsgeltung verbleiben, für den Urteilenden schlechthin s i n d. Fürden Stil der weiteren Urteilstätigkeiten besagt das, daß eine jededieser Gegenständlichkeiten durch alle ihre weiteren syntaktischenWandlungen hindurch immer wieder in anknüpfenden Identifi-zierungen als „die eine und selbe" gesetzt ist, daß sie urteilsmäßiggilt und f ortgilt als dieselbe.

/5) In der kritischen Einstellung des erkennen Wollenden scheiden vermeinteGegenständlichkeit als solche und wirkliche.

Aber der jeweilig Urteilende setzt nicht nur in Seinsgeltung,streicht da und dort aus, setzt dafür ein Anderes in Geltung undendet so im Durchgang durch Modalisierungen, mit einer vonunbefriedigenden Störungen freien Einstimmigkeit. Es erwachsenschon im alltäglichen Urteilen gelegentlich Erkenntnisinteressen imausgezeichneten Sinn: Interessen der sichernden "Bewährung", Be-dürfnisse, sich „an den Sachen selbs t" zu überzeugen, „wie siewirklich sind". Die kategorialen Gebilde, die für den Urteilendenvordem schlechthin seiende Gegenständlichkeiten waren und im Fort-gang der Identifizierung schlechthin dieselben, sollen nun im Obergangzur Evidenz, zur „kategorialen Anschauung", in der sie als sie„selbst" originaliter gegeben wären, bewährt, als wah r ha f t undwirklich seiende erkannt werden. Damit scheiden sich gelegent.

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lich auch für den Urteilenden die vermeinten Gegenständlichkeitenals vermeinte, rein als die in seinen Urteilsaktionen in der undder kategorialen Gestalt zur Setzung gekommenen, rein als das imsyntaktischen Gang des Setzens Gesetzte als solches, von denentsprechenden „wahren" oder „wirklichen Gegenständlich-keiten, das ist von den kategorialen Gebilden, die in der ausgezeich-neten phänomenologischen Gestalt von Einsichten in den Schritt fürSchritt, Gebilde für Gebilde „selbstgebenden" Urteilenerwachsen.

Im allgemeinen wird im natürlichen Dahinurteilen der Verlaufder sein, daß der Urteilende die Gegenständlichkeit, die ihm gilt,auch während er dem Bedürfnis der Bewährung folgt, in der Geltungbeläßt und daß er daher in dem evident erschauten Gegenstand„selbst" terminierend sagt: d e r Gegenstand ist wirklich, ist wirklichso beschaffen, steht wirklich in den Relationen usw. Im übergangfindet dabei eine identifizierende Deckung statt zwischen demGegenständlichen (und schließlich dem gesamten Urteilsverhalt, demSachverhalt) das vordem schon im Glauben war, und dem, was jetztim evidenten, die Erkenntnisintention erfüllenden Glauben gegebenist, als es selbst, als erfüllende Wirklichkeit. So im Falle der ge-lingenden Bewährung.

Aber die Intention auf Bewährung, für den Urteilenden also dasBestreben zu dem Gegenständlichen „selbst" hinzukommen und beiihm selbst zu sein, an ihm selbst zu ersehen, „was vorliegt", kannstatt sich zu erfüllen, sich auch „enttäusche n". Sie erfüllt sichdann zwar in Partialsetzungen, aber diese ergänzen sich an denSachen selbst zu der Gesamtsetzung einer kategorialen Gegenständ-lichkeit, mit der die im voraus geglaubte „streitet" — ein Widerstreit,der ihre Durchstreichung ursprünglich notwendig macht. Jetzt heißtes z. B. „der Sachverhalt besteht nicht, wie ich meinte". DerZusatz drückt dann eine Sinnesmodifikation aus. Denn „derSachverhalt" ist in diesem Zusammenhang nicht der im Glaubenforterhaltene und konnte es nicht bleiben, er ist vermöge dernun zur Geltung gekommenen Durchstreichung der „vordem bloßvermeinte".

Zusat z. Es ist einzusehen, daß unsere Bezugnahme auf die eigentliche

„Bewährung", die zur Wahrheit aus selbstgebender Evidenz führt, wie jede Be-vorzugung eines I dea 1f alles eine Vereinfachung war, die mit Rücksicht aufdie weiteren Darstellungen zwar ein Vorrecht hat, aber nicht unbedingt notwendigist, um die Unterscheidung zwischen Vermeintem als solchem und Wirklichem fürden Urteilenden zu motivieren. Es kommen hier einmal in Betracht die Un-vollkommenheiten der Evidenz, und danach könnte der Begriff der eigentlichen

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ne Edmund Busserl, [110

Bewährung nach dem Idealfall der Vollkommenheit orientiert werden, in dem wassich dem Urteilenden als selbstgegebenes Seiendes oder Wahres darbietet, mitkeinen Vorbehalten, mit keinen vorgreifenden Prisutuptionen behaftet ist, vonderen Erfüllbarkeit in weiteren synthetisch anzuknüpfenden Evidenzen es abhingt,ob das prätendiert Wahre endgültig Wahres ist. Wir kiinnen aber den Begriff dereigentlichen Bewährung auch anders orientieren, nämlich sie solange als eigent-

liche bezeichnen, als wirklich eine adaequatio, sei es auch eine unvollkommene, aneiner selbstgebenden Anschauung vollzogen ist. In diesem Sinne gibt es auchuneigentliche Bewährung und entsprechende Widerlegung (worüber der Streit unddie Kritik in den alltäglichen Diskussionen meist nicht hinausstrebt): die Be-währung oder Widerlegung eines Gehenden an dem als sicher, unangreifbar Fest-stehenden — was noch lange nicht besagt, daß dieses einsichtig begründet ist. Insolcher Widerlegung wandelt sich das, was vorher schlechthin Seiendes war, in dieentsprechende bloße Meinung. Anderseits ergibt die Bestätigung des vielleichtzweifelhaft Gewordenen, die Rückverwandlung in bestätigte Gewißheit in Konnexmit „Feststehendem" als von daher geforderte, das tu'eigendiebe Prädikat desWahr- und Wirklich-seiend.

r) Die Einstellung des Wissenschaftlers; das Vermeinte a1 solches Gegenstandseiner Erkenntniskritik.

Wir brauchen hier nicht in umfassendere Untersuchungen ein-zutreten, das Gesagte genügt, um zu sehen, daß sich hier mit derUnterscheidung von Vermeintem und Wirklichem auchdie Unterscheidung der Sphäre bloßer Urteile (im erweitertenSinne) von derjenigen der Gegenstände vorbereitet. Um darinweiter zu kommen, lenken wir unseren Blick auf die Wissen-schaft en. Anstatt des alltäglich Urteilenden mit seiner nurgelegentlichen Erkenntniseinstellung nehmen wir jetzt den wissen-schaftlich Urteilenden. Als solcher lebt er in berufsmäßigerKonsequenz im „theoretischen Interesse"). Das ist,sein berufliches Urteilen ist immer und überall durchherrscht vonErkenntnisintentionen und diese selbst haben ihre synthetischeEinheit, nämlich in der Einheit des auf das jeweilige Wissenschafts-gebiet gerichteten Erkenntnisinteresses. Sein Gebiet im strengen(einem freilich idealen) Sinne erkennen, heißt für den Wissen-schaftler nichts anderes als, keine anderen Urteile als wissenschaftliche

1) Eine „berufsmäßige Konsequenz" bezieht sich auf die Periodisierung einesganzen Lebens, dessen periodisch gesonderte, aber durch intentionale Synthesisinnerlich verknüpfte Lebenszeiten (Berufsstunden, Berufstage usw.) einem habi-tuellen „Berufsinteresse" angehören, das sich konsequent auswirkt in einer ArtBerufstätigkeiten, die immer neue Vernunfterwerbe schaffen, und das die altenErwerbe in Geltung behält evtl. (wie in der Wissenschaft) als Bauglieder oderals Unterstufen für neue.

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1111 Formale und transzendentale Logik. 1 1 I

Ergebnisse gelten lassen denn solche, die durch Adäqua tion andie Sachen selbst ihre „Richtigkeit", ihre „Wahrheit" aus-gewiesen haben und die in dieser Richtigkeit jederzeit wieder ur-sprünglich herstellbar sind, d. h. durch Wiederverwirklichung derAdäquation. Nicht als ob der Wissenschaftler überhaupt nicht urteiltevor solcher Selbsthabe der „Sachen" — der Gegenständlichkeiten„selbst" der jeweiligen kategorialen Stufe. Aber alle solchen Urteilenimmt er als nur vorläufige, die in ihnen geltenden kategorialenGegenständlichkeiten als nur vorläufig geltende, als bloß vermeinte.Durch sie als vermeinte hindurch geht die Erkenntnisintention, ebenzu den Sachen selbst, zu ihrer Selbstgegebenheit oder Evidenz.

Es ist aber noch eine Differenz, die das Erkenntnisstreben desWissenschaftlers von dem naiven des unwissenschaftlich Denkendenunterscheidet. Dieser „sieht bloß nach", ob es wirklich so ist, undsieht er, so ist er zufrieden. Der Wissenschaftler aber ist schon längstbelehrt, daß Evidenz nicht nur ihre Gradualität der Klarheit hat,sondern daß sie auch täuschende Evidenz sein kann. So scheidet sichihm wieder vermeinte und echte Evidenz. Seine Urteilesollen durch echte, durch vollkommenste Evidenz bewährte sein undnur als das in den Ergebnisbestand der Wissenschaft als Theorie Auf-nahme finden. Das bewirkt ein besonderes urteilendes Ver-halten des Wissenschaftlers, ein Urteilen sozusagen imZickzack, ein zunächst geradehin auf Selbstgebung lossteuerndes,aber dann in der Weise der Kritik auf die schon gewonnenen vor-läufigen Ergebnisse zurückgehendes, wobei aber die Kritik selbstwieder in Kritik genommen werden muß, und aus gleichen Gründen.Den Wissenschaftler leitet also die Idee einer auf dem Wege derKritik erreichbaren vollkommenen oder in systematischen Stufen zuvervollkommnenden Evidenz mit dem Korrelat eines erzielbaren oderapproximierbaren wahrhaften Seins (eine Idee, deren Sinn undGrenzen zu erforschen im übrigen nicht Sache der positiven Wissen-

schaft selbst ist).Die kritische Einstellung betrifft, wie noch hinzuzufügen ist, alle

urteilenden Tätigkeiten auch in Hinsicht auf die darin auftretendenMo dalisierung e n, und die diesen selbst eigenen Unterschiededer Evidenz und Nicht-evidenz; nur daß die Erkenntnisintention durchdiese Modalisierungen, durch die Fraglichkeiten, Möglichkeiten, Wahr-scheinlichkeiten, Negationen hindurchstrebt auf einsichtige Gewiß-heiten. Verwirklicht sind sie die selbstgegebenen Wahrheitenschlechthin, von nun ab bleibende Erkenntniserwerbe, jederzeit wiedereinsehbar, aber in dieser Art überhaupt für jedermann als ver-

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nünftig Denkenden zugänglich und schon vor der „Entdeckung"zugänglich gewesen. Jede „wissenschaftliche Aussage" hat im vorausdiesen Sinn. Sie wendet sich an diesen „jedermann" und sagt aus,was die betreffenden Substratgegenständlichkeiten in Wahrheit sind— für jedermann einsehbar.

45. Das Urteil im Sinne der apophantischen Logik.

Der für jede wissenschaftliche Erkenntnis notwendige Durcgang durch die kritische Einstellung, den also jedeswissenschaftliche Urteil sich gefallen lassen muß, macht es, daßder Wissenschaftler in beständigem Wechsel gegenübergestellt hatGegenständlichkeit schlechthin — als im Urteilen gerade-hin für ihn seiende, bzw. als die von ihm als Erkennenden abgezielteWirklichkeit — anderseits vermeinte Gegenständlichkeitals solch vermeinte Folge, vermeinte Bestimmung, vermeinteVielheit, Anzahl als solche usw. Mit diesem Vermeinten alss olche m, dem bloßen Korrelat des ,Meinens" (sprachlich auch oftMeinung döga genannt) haben wir nun in den Griff bekommen, wasin der traditionellen Logik Urteil (Apophansis) heißtund Thema der apophantischen Logik ist'). Doch bevorzugt sie, wiewir schon wissen, in dieser Begriffsbildung — wiederum von demwissenschaftlichen Tun geleitet — einen engeren B egriff, dertrotzdem den weitesten einer „vermeinten kategorialen Gegenständ-lichkeit als solcher" vollständig in sich befaßt, obschon natürlichnicht als artmäßige Besonderung. Das wissenschaftliche Urteilen istdarauf gerichtet 2), das jeweilige Wissenschaftsgebiet bestimmend zuerkennen. Danach ist das prädik ative Urteil (die Apophansisals je in sich geschlossene Einheit der Bestimmung) be-ständig bevorzugt. Alle zu bildenden Kategorialien haben, wie wirschon ausgeführt, in prädikativen Urteilen zu fungieren und tretenin den Wissenschaften (von der Logik selbst sehen wir dabei ab)innerhalb dieser Urteile auf als ihre Bestandstücke. Mit anderenWorten, Urteile im Sinne der apophantischen Logik sind vermeinteSachverhalte als solche, und zwar selbständig abgeschlossene; alleanderen kategorialen Vermeintheiten fungieren in solchen „Urteilen"als Teilstücke.

1) Es ist das Noema des Urteilens. Zum Begriff des Noema vgl. IdeenS.181 ff. und speziell für das Urteil, S. 194 ff.

2) Vgl. § 40.

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113] Formale und transzendentale Logik. 113

§ 46. Wahrheit und Falschheit als Ergebnis der Kritik. Doppel-sinn von Wahrheit und Evidenz.

Das Endergebnis der Kritik ist — ideal gesprochen —„Wahrheit", bzw. „Falschheit". Diese Wahrheit besagt rich-tige s, kritisch bewährtes Urteil, bewährt durch Adäquationan die entsprechenden kategorialen Gegenständlichkeiten „selbst",wie sie in der evidenten Selbsthabe, das ist in der erzeugendenAktivität an den erfahrenen Substraten „selbst" ursprünglich, gegebensind. Aus dieser Adäquation, also aus dem erfüllenden übergang zurSelbsthabe und aus der Reflexion auf die bloße Meinung und ihreDeckung mit der Meinung in der F ülle entspringt der Begriffjener Richtigkeit, die den einen, den kritischen Be-griff von Wahrheit ausmacht, denjenigen, wonach dasUr teil wahr ist — oder falsch ist; oder auch, um nun den übrigenModalisierungen genugzutun, fraglich, vermutlich usw. Während dieFalschheit auf Selbstgegebenheit eines Sachverhaltes beruht, dem dervermeinte als solcher, also das Urteil widerstreitet und dadurch seineursprüngliche Aufhebung erfährt (was bei entsprechender Umstellungevidente Selbsterfassung der Nichtigkeit als seiender Nichtigkeitergibt), verhält es sich anders bei den übrigen Modalitäten. Nichtder Sachverhalt oder sein Negat ist ursprünglich gegeben, sondernbestenfalls ist ursprünglich gegeben eine motivierte Gegenmöglichkeit,„die gegen das Sosein spricht", oder auch eine Mehrheit solcherMöglichkeiten usw.

Von hier aus versteht sich die ausgezeichnete Stellungder Negation unter den sonstigen Modalitäten und die üblicheNeben- und Gleichstellung mit der Position für den kritisch -ein-gestellten Logiker. Doch dürfen wir hier nicht weiter darauf eingehen.

Neben dem kritischen Wahrheitsbegriff der Urteilsrichtigkeit auseinem ursprünglichen Sichrichten (oder gerichtet haben) nach derselbstgegebenen Wirklichkeit haben wir also diesen Begriff Wir k -1 i chk e it als den zweiten Wahrheitsbegriff. Das Wahre istjetzt das wirklich oder das wahrhaft Seiende als Korrelatder selbstgebenden Evidenz. Natürlich ist das Wirkliche im Sinnedes Realen ein bloßer Sonderfall dieses weitesten analytisch-for-malen Wirklichkeitsbegriffes.

Auch das Wort Evidenz nimmt in Zusammenhang mit diesenbeiden Wahrheitsbegriffen einen Doppelsinn an: neben dem derursprünglichen Selbsthabe von wahrem oder wirklichemSein auch den der Eigenschaft des Urteils als vermeinter kategorialer

Trusserl, Jahrbuch t Philosophie. X. 8

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114 Edmund Husserl, [114

Gegenständlichkeit („Meinung"), an eine ihm entsprechende Wirk-lichkeit in ursprünglicher Aktualität angemessen zu sein. Evidenzbesagt im letzteren Falle also das ursprünglich e, in aktuellerAdäquation erwachsende Richtigkeitshewußtsei n. Dieses istseinerseits hinsichtlich der Richtigkeit Evidenz im ersten Sinne,ein Sonderfall dieses weiteren Evidenzbegriffs der Selbsthabe. Imnatürlich erweiterten Sinne heißt dann ein Urteil ein evidentesauch hinsichtlich der Potenzialität, es zur Adäquation bringen zukönnen.

Was den zweiten (im Grunde aber an sich ersten) Wahrheits-begriff, den der Wirklichkeit als Seinswahrheit, betrifft, ist nochdie ihm eigentümliche Weite zu beachten. Von wirklichem oderwahrem Sein spricht der Wissenschaftler nicht nur in Hinsicht aufSachverhalte, also diejenigen „Wahrheiten", nach denen sich dieWahrheit (als Richtigkeit) der prädikativen Urteile richtet; sondernin Hinsicht auf alle kategorialen Gegenständlichkeitenüberhaupt. Der Titel Wirklichkeit befaßt wirkliche Eigenschaften,wirkliche Relationen, wirkliche Ganze und Teile, wirkliche Mengenund verbundene Komplexe (wie z. B. von Sonnensystemen) usw. Inden prädikativen Urteilen entsprechen ihnen die vermeinten kate-gorialen Gegenständlichkeiten, die als Urteilsbestandstücke auftreten.Ineins mit der Richtigkeitsausweisung der ganzen Urteile bzw. ihrer„Berichtigung" weisen sie selbst ihre entsprechende Richtigkeit oderUnrichtigkeit aus.

Der eigentümliche Formtypus der die Einheit des wissenschaft-lichen Lebens und seiner Gebilde durchherrschenden Intentionalitätbestimmt den besonderen Typus der wissenschaftlichen Ver-nu n f t als einer „echte" Erkenntnis durch eine beständigmitgehende Erkenntniskritik verwirklichenden. Dement-sprechend hat ihre systematische Leistung — die Wissenschaftals eine ins Unendliche fortzugestaltende Theorie — den besonderenSinn, ein System von Urteilen zu sein, die unter beständiger Kritikbewußt zur Adäquation an evidente Selbstgebung gebracht und indiesem Sinne Wahrheiten sind, ursprünglich richtige, nach dem wahrund wirklich Seienden selbst gerichtete Urteile, ideell das gesamtewahre Sein des Gebietes umspannend und im „vollständigen" Systemerschöpfend.

Es ist dabei zu bemerken, daß das wissenschaftliche Urteilen zwardie naiv gerade Erkenntnisrichtung auf die gegenständlichen Wirklich-keiten aus der naiven Selbsthabe der geraden Evidenz verläßt undbeständig die Urteile, die vermeinten Gegenständlichkeiten als

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115] Formale und transzendentale Logik. 115

solche thematisch macht; daß es danach also immer in Sätzenendigt, an denen das „richtig" oder „wahr" als Prädikat ursprünglicherworben und gefestigt worden ist — mag es dies, als durch alletheoretischen Ergebnisse hindurchgehend, auch zumeist verschweigen.Anderseits ist es aber selbstverständlich, daß dieses zweckmäßige Ver-fahren im Dienst der Bestimmung des Gebietes selbst steht, daß alsodie Thematik der Urteilssätze nur eine vermittelndeist. Das Ziel ist Erkenntnis der im Begriff des Gebietes umspanntenSubstratgegenständlichkeiten. Erkenntnis im idealen Sinneist der Titel für das zur aktuellen Erzielung gekommene wahrhafteSein der jeweiligen Gegenständlichkeiten selbst, nach allen kate-gorialen Gestalten, in denen es eben sein wahrhaftes Sein zeigt, sichals wahrhaftes ursprünglich konstituiert und soweit es das schon getanhat, eben „soweit" erkenntnismäßig wahrhaft Seiendes ist. Deraktuell fortschreitenden Erkenntnis wahren Seins folgt die Erkenntnisim Sinne des habituellen Besitzes aus ursprünglicher Erwerbung mitder entsprechenden Potenzialität der Aktualisierung. Daran ändertsich nichts durch die Methode der Kritik, die vielmehr die Erzielungdes wahren Seins sichern, bzw. die Spannung zwischen unvoll-kommener und vollkommener Erkenntnis vermindern will.

5. Kapitel.

Apophantik als Sinneslehre und Wahrheitslogik.

§ 47. Ans der Orientierung der traditionellen Logik an derkritischen Haltung der Wissenschaft folgt ihre apophantische

Einstellung.

Das Ergebnis dieser Betrachtungen über die Urteilsweisen derWissenschaften und die in ihnen waltende Intentionalität wird unsdazu dienen, im strukturellen Verständnis der logischenIdee weiterzuschreite n. Wir erinnern uns daran, daß dieLogik von ihrem Ursprung her Wissenschaftslehre sein wollte. Sieblickte also stets auf die vorangehenden Anfänge oder weit aus-geführten Entwürfe der Wissenschaften als ihr exemplarisches Feldhin und verstand Vernunft und Vernunftleistung nach dem, was indiesen Entwürfen zwar nicht in idealer Verwirklichung vorlag, aberin sich doch den idealen Zwecksinn der wissenschaftlichen Inten-tionalität bekundete. Danach wird es begreiflich, daß sich für dieLogik die Urteilssphäre rein als solche absetzen und zunächstzu einem eigenen thematischen Feld werden mußte.

8*

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116 Edmund Husserl, [116

Die Logik- als Wissenschaftslehre konstituierte sich also von vorn-herein als eine Wissenschaft, die jener Kritik, die echte Wissenschaftschafft, dienen wollte. Erkenntnisse, Wissenschaften, auf die sie alsExempel hinblickte, faßte sie als bloße Prätentionen, aIso als bloße„Ur t eile" (Vermeintheiten) und Urteilssysteme, die der Kritik zuunterwerfen und durch sie mitbestimmt so zu gestalten seien, daß siemit Recht das Prädikat der Wahrheit zugesprochen erhalten können.So folgte sie der Einstellung des Kritisierenden, dernicht geradehin urteilt, sondern über Urteile urteilt.Nur mit t ei b a r war sie also, solange sie Urteilslogik blieb, a u fdas Seiende selbst als in selbstgebend gestaltenden Aktivitätenmöglicherweise auftretendes gerichtet, unmittelbar aber a u fUrteile als Ver Ixte inung e n von Seiendent. Als „formaleLogik", die ja traditionell durchaus als Urteilslogik gemeint und ent-wickelt war, hatte sie als Thema diejenigen Urteilsgestalten, diewesensgesetzliche Bedingungen möglicher Adäquation an Seiendesselbst sind.

Wohl begreiflich ist nach unserer vorausgeschickten Betrachtungüber den Vorzug des prädikativen Urteils in den Wissenschaften, daßdie formale Logik als apophantische konstituiert war,daß also das prädikative Urteil ihr thematischer Hauptbegriff war.Das hätte aber nach unseren Einsichten bei systematisch vollständigerAusführung keine Beschränkung bedeuten müssen — wie sie es, sehrzu Schaden der Logik, tatsächlich bedeutet hat — da, wie wir wissen,die Apophansis alle kategorialen Vermeintheiten in sich faßt. Es sindalso mit den Urteilen im engeren auch diejenigen in unserem weitestenSinne Themen der formalen Logik — der vollverstandenen Apo-phantik — und das in allen ihren Stufendisziplinen.

§ 48. Urteile als bloße Vermeintheiten gehören der Region derSinne an. Phänomenologische Charakteristik der Einstellung auf

Sinne.

Urteile sind Themen -- dasselbe besagt, Vermein theiten alssolche sind Gegenstände einer eigenen Region, bilden einin sich geschlossenes Gegenstandsfeld. Hier bedarf es einer tieferdringenden phänomenologischen Klärung, die wir zum Teil schon inden Analysen des 4. Kapitels gewonnen haben, aber hier unter all-gemeinerem Gesichtspunkt noch vertiefen wollen.

Knüpfen wir kurz wiederholend an schon Ausgeführtes an. JedesUrteilen ist gegenständlich gerichtet. Nicht nur daß der Urteilende

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117] Formale und transzendentale Logik. 117

jeweils seine „Gegenstände-worübe r" hat, auf die er im aus-gezeichneten Sinne gerichtet ist, indem er sie bestimmt, sondern ineinem zweiten Sinne ist er gerichtet auf die Besti mmun g; fernerin einem uneigentlichen Sinne auf den Sachverhalt — uneigent-lieh, weil er ihn zwar schon mit jenen Substratgegenständen und denBestimmungen konstituiert hat, aber erst einer Umstellung des thema-tischen Blickes bedarf, um auf ihn im besonderen Sinne gerichtet zusein. In dieser Weise sind vielerlei Kategorialien für den Urteilendenals solchen „da", und in der Einheit eines zusammenhängendenUrteilsprozesses werden sie, wie besprochen, identifiziert und sindzugleich in F u nk tionen der Bestimmung für die letzten Substrate,die da bestimmt werden sollen. So auch im erkennenden Urteilen,nur daß durch die Kategorialien hindurchgeht die Intention auf ihreSelbsthabe in Form des sogenannten evidenten Urteilens, wobei dieerfüllende Identifizierung statthat, wenn sie im Modus des „sie selbst"erreicht sind.

Das ist Urteilen schlechthin — eine völlig relative Rede,wie sich sogleich zeigen wird. Nämlich jedes Urteilen kann wesens-mäßig in ein Urteilen zweiter Stuf e verwandelt werden, indem nicht mehr, was geradehin geurteilt war, also für den Urteilendenseiende Gegenständlichkeit war, gesetzt wird, sondern in einer Re-flexion das Geurt eilte als solche s. Es ist also zwar Reflexion,die das Neue ergibt, aber nicht eine Reflexion, die die Urteilsaktionthematisch und damit zum Gegenstand eines neuen Urteilens (einerneuen Setzung, die dann in prädikativ bestimmende übergehen soll)macht 1). Nicht nur ein Substratgegenstand, eine Beschaffenheit, einSachverhalt usw. kann gegenständlich sein, sondern auch ein. :v er -meintes Substrat als verneintes, eine vermeinte Beschaffen-heit als vermeinte usw., und das sind, sagten wir oben, Geg en-ständlichk eite n, die, wie wir nun sogleich begründen werden,trotz dieser Rückbeziehung in der Tat eine eigene Region be-zeichnen. Zunächst folgendes:

Natürlich wiederholt sich der mögliche übergang von Urteil(vermeinter Gegenständlichkeit schlechthin) in Urteilsmeinung (ver-meinter Gegenständlichkeit als solcher) in beliebigen Stufen. Esist ein iterativer Prozeß möglicher Reflexion und steterEinstellungsänderung. Dabei ist es aber evident, daß wir hierauf einen letzten Unterschied zurückkommen, den zwischen

1) Dies wäre die noetische Reflexion auf die die noematische Einheit kon-stituierenden noetischen Mannigfaltigkeiten. Vgl. dazu Ideen, S. 201-207.

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118 Edmund Husserl, [118

Gegenständlichkeiten, die Vermeintheiteu sind, undsolchen, die es nicht sin d. Eben darum sprechen wir von unter-schiedenen Regionen innerhalb der formalen Universal-region „Gegen-ständlichkeit-überhaupt". Alle höherstufigen Vermeintheiten sind jaselbst zur Region der Vermeintheiten oder „M einunge n" gehörig.Statt Meinung können wir auch Sinn sagen und von den Aussagenher auch von deren Bedeutungen sprechen. Nach der Bedeutungoder dem Sinn einer Aussage fragen und ihn sich deutlich machenist offenbar nichts anderes als von der geraden aussagend-urteilendenEinstellung, in der wir nur die betreffenden Gegenstände „haben",übergehen in die reflektierte, in die Einstellung, in der die ent-sprechenden Gegenstandsmeinungen, Sachverhaltsmeinungen zur Er-fassung oder Setzung kommen. Somit können wir diese Regionauch als die der Sinne bezeichnen'). Es sind für die ge-schlossenen prädikativen Urteile Sachverhaltsinne (vermeinte Sach-verhalte als solche) für die Substratgegenstände eben gegenständlicheSinne im engeren Sinn, für die Relationen Relationssinne usw.

Wir haben hier nichts ausgesagt darüber, ob die geraden (un-reflektierten) und ob die reflexiven Sinnesurteile evidente sind odernicht, ob sie Erkenntnisintentionen in sich tragen, evtl. als derenErfüllungen auftreten oder nicht. Dergleichen Abwandlungsmodikönnen selbstverständlich in beiderlei Urteilseinstellungen— der im „geradehin" und der in der Sinnesreflexion — statthaben,wie sie ja zu allen Urteilen als solchen gehören, also auch zu Sinnes-urteilen. Somit gibt es auch für sie den Unterschied von evidentemSelbsthaben und bloßem In-Geltung-haben, es gibt Modalisierung, imbesonderen evtl. Durchstreichung, Bewährung, evidente Widerlegung(als negative Bewährung) usw., dann aber durch Rückgang auf denSinn höherer Stufe Kritik.

Sinnesauslegung kann evident sein, aber sie braucht es nichtzu sein, und sie kann auch täuschen. Sind die Gegenstände, die daSinne heißen, wirklich andere als die schlichten Gegenstände, sosagt das, daß ein zusammenhängendes und als das identifizierendauf die schon gesetzten Gegenstände zurückkommendes Urteilen unddann insbesondere auch, daß ein erkennendes Urteilen fürdie eine und andere formale Region verschiedeneWege geht und verschiedene Identifizierungen vollzieht, bzw. ver-schiedene Unterscheidungen und verschiedene Ausscheidungen durch

1) Vgl. Ideen, S. 265. Ferner tiber das Verhältnis von Sinn und Noema,S. 185, 267-273.

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119] Formale und transzendentale Logik. 119

Durchstreichung. Der Sinn, der da „Urteil S ist p" heißt, kann nieidentifiziert werden mit dem schlechthin geurteilten S ist p und demdaraus durch Nominalisierung zu entnehmenden Sachverhalt. Fernerim Übergang zur Seinsevidenz ist es klar, daß das wirkliche Sein desUrteils als Sinnes nicht leidet, wenn S nicht ist oder S nicht p ist,mit einem Wort, wenn der Sachverhalt, der für den Urteilendenseiende, nicht besteht. Das Urteil ist dann unrichtig, aber a 1 s Urteilist es Seiendes der Sinnesregion. Im übrigen gehen alleFormen von Identifizierungen in möglichen Urteilszusammenhängen(wovon die in Evidenz überführenden ein besonderer Ausschnitt sind)in Modifikation in die Sinnessphäre ein.

Daß die Sinne als Gegenstände, den auf sie bezüglichen Aktenund Subjekten gegenüber im gleichen Sinne „transzendent" sind,ideale Einheitspole, ganz wie Gegenstände, die keine Sinne sind,bedarf nur der Erwähnung. Dergleichen gilt ja für alle Gegenständeüberhaupt.

§ 49. Der Doppelsinn von Urteil (Satz).

Werfen wir noch einen Blick zurück auf die Korrelationvon Urteilen und Urteil, so ist der Doppelsinn noch aus-drücklich hervorzuheben, der in all diesen Klärungen die ent-scheidende Rolle spielte: Urteilen im weitesten Sinne ist doxisch„Setzen", und was darin gesetzt ist, ist der „Satz". Speziell dasprädikative Urteil setzt den prädikativen Sat z. Er ist das, w a sgeurteilt ist. Aber ist dann Satz oder Urteil das, was die apophan-tische Logik — . die auf Richtigkeit und Falschheit hin kritisierende —unter diesem Titel versteht?

Das in einem Urteilen Geur teilte ist die geurteilte, dieurteilend vermeinte kategoriale Gegenständlichkeit. Erst,wie wir feststellten, in einem Urteilen zweiter Stuf e wird derSatz im Sinne der Logik — der Satz als Sinn, die vermeintekategoriale Gegenständlichkeit als solche — zum Gegenstand, undsie ist in diesem neuen Urteilen urteilend vermeinte schlechthinIn jedem Urteilen „liegt" zwar sein Sinn, und wir sagen auch inEvidenz, daß die in ihm geradehin vermeinte Gegenständlichkeit nichtimmer zu sein braucht — aber dergleichen können wir eben nurevident aussagen vermöge der Urteile und Evidenzen zweiter Stufe,in denen wir den schlichten Urteilen ihre Vermeintheiten „ent-nehmen", sie zu Gegenständen machend. Eben damit sind sieselbst zu eigenen Erkenntniszielen und in der Evidenz zu selbst er-

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zielten geworden, während im geraden Urteilen zwar implizite diejeweilige Vermeintheit bewußt, aber bloßer „Durchgang" derErkenntniszielung ist, die ihrerseits in der entsprechenden katego-rialen Gegenständlichkeit selbst und nicht im bloßen Urteil terminiert.

§ 50. Die Erweiterung des Begriffes Sinnauf die gesamte positionale Sphäre und die Erweiterung der formalen

Logik um eine formale Axiologie und Praktik.

Es ist nun noch lehrreich, zu beachten, daß, was wir für dasUrteilen und den Urteilssinn gesagt haben, für die ganze posi-tionale Bewußtseinssphäre gilt. Jedes Cogito hat, das ist fürdie Phänomenologie der Intentionalität eine fundamentale Wesens-lage, sein Cogitatum. Das Cogito kann besagen: „ich nehme wahr",auch „ich erinnere mich", „ich erwarte" (was freilich selbst in diedoxische Sphäre gehört, wenn auch nicht in die des prädikativ be-stimmenden Denkens); es kann aber auch sagen, ich übe „wertende"Gemütstätigkeiten in Gefallen oder Mißfallen, in Hoffen oderFürchten, oder in Willenstätigkeiten usw. Geradehin vollzogen hatjedes solche Cogito seine Richtung je auf die Erfahrungsobjekte, aufdie Werte und Unwerte, auf die Zwecke und Mittel usw. Aber jedesläßt eine Reflexion unter Einstellungsänderung zu auf sein cogitatumqua cogitatum, auf seine „intentionale Gegenständlichkeitals solche". Unter solcher Reflexion kann gemeint sein einedoxische Reflexion, evtl. aber auch eine entsprechende Reflexiondes Gemütes und des zwecktätigen Strebens.

Haltenwir uns an die in jedem Falle zugleich mögliche doxischeReflexion, so kommt in ihr nun ein Neues, der betreffende Sinn: derWahrnehmungssinn'), Wertungssinn, praktische Sinn usw. zur Setzung— das Vermeinte als solches. überall gilt auch, daß der je-weilige Sinn thematisch werden muß, wenn „Kritik"ei-nsetzen soll. Alle „Akte" in einem ausgezeich-neten S in n e, nämlich alle intentionalen Erlebnisse, die „Setzungen"(Positionen, Thesen, Stellungnahmen) vollziehen, untersteheneiner Kritik der „Vernunft" und zu jeder Gattung solcher

1) Schon in den Logischen Untersuchungen kommt dieser allgemeine, auf alleintentionalen Sphären bezogene Begriff des Sinnes zum Durchbruch. Die "Denk-psychologie" unserer Zeit hat ihn übernommen, leider ohne die tieferen inten-tionalen Analysen zu berücksichtigen, insbesondere auch die so viel weiter-reichenden meiner Ideen (vgl. dort S. 236 f.).

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121] Formale und transzendentale Logik. 121

Positionen gehört eine eigene Eviden z 1), die wesensgesetzlich ineine doxische Evidenz umgewandelt werden kann. Demgemäßhat auch die Identitätssynthesis der Urteilssphäre ihre Analoga insolchen der übrigen positionalen Sphären. überall erfahren diegeraden Themen (das Wort jetzt also in einem auf alle Gattungender Positionalität bezogenen weitesten Sinne genommen) mit jenerReflexion eine Modifikation.

Wir sprachen von der möglichen Wendung jeder Evidenz in einedoxische Evidenz. Allgemeiner wäre hier zu sagen: Alle außer-doxischen Sinne können in einer jederzeit möglichen doxischenThematisierung in die doxische Sphäre eintreten und im besonderenin die apophantische. Es ist ähnlich, wie jedes modalisierte Urteildie Form eines Gewißheitsurteils, eines Urteils im normalen Sinneannehmen kann. Im Urteilsverhalt tritt dann das Möglich, das Wahr-scheinlich usw. auf; ähnlich verhält es sich mit dem Schön und Gut.So kann die formale Logik der Gewißheiten sich um die Formen derModalitäten bereichern, aber auch in gewisser Weise die Gemüts-modalitäten in sich aufnehmen

Diese Betrachtung läßt voraussehen, daß auch die außerdoxischenAktsphären eine formale Betrachtung zulassen. Das hat eine großeBedeutung, weil die Möglichkeit sich eröffnet, die Idee der f o r -malen Logik um eine formale Axiologie und Praktikzu erweitern. Es erwächst damit sozusagen eine formale Logikder Werte, der Güter. Jede positionale Sphäre hat ihre „syntak-tischen" Kategorien, hat ihre eigenartigen Urmodalitäten des „Etwas"und deren Ableitungsgestalten, und demgemäß hat jede ihre „formaleLogik" ihre „Analytik").

§ 51. Die pure Konsequenzlogik als reine Sinneslehre.Die Gliederung in Konsequenzlogik und Wahrheitslogik gilt auch

für die Mannigfaltigkeitslehre als oberste Stufe der Logik.

Beschränken wir uns nun wieder auf die Urteilssphäre als Reichder apophantischen Sinne und darin beschlossen aller kategorialenSinne, so ist die pure formale Analytik als eine in sich

1) Die Gemiitsevidenz wurde zum erstenmal herausgestellt von F. B r en t an o;vgl. in seinem Vortrag „Vom Ursprung sittlicher Erkenntnis" (neu herausgegebenvon 0. Kraus, Leipzig 1921) die Ausführungen über die „richtige und als richtig

charakterisierte Liebe" (S. 17).2) Seit dem S.-S. 1902 habe ich in eigenen Vorlesungen und Seminarübungen,

aber auch im Zusammenhang logischer und ethischer Vorlesungen die Idee einer

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geschlossene systematische Theorie anzusehen, derenthematische Sphäre ausschließlich eben diese Sinnes i n d. Das ergibt sich, wenn wir die in diesen Untersuchungengewonnene Klärung des Urteilsbegriffes als prädikativen gegenständ-lichen Sinn mit den Feststellungen über Sinne und über dieStruktur der logischen Analytik im 1. Kapitel verbinden — in demfreilich ihre oberste Stufe, die Lehre von den Formen der deduktivenTheorien noch nicht in unseren Gesichtskreis getreten war. Einepure systematische Theorie der Region der Sinne im strengen undeigentlichen Verstand ist die Analytik nur für die beiden Unter-schichten, für die reine Formenlehre der Sinne (oder Be-deutungen) und für die reine Analytik der Widerspruchs-losigkei t. Da diese in der Formenlehre fundiert ist, so bildet sieeine für sich abgeschlossene logische Disziplin nur ineins mit derersteren, und so verstanden ist sie die universale und reine Wissen-schaft von den apophantischen Sinnen, die nichts, was deren Eigen-wesentliches überschreitet, mit befaßt. Von ihrem Thema aus-geschlossen sind alle Wahrheitsfragen, denn eben diese überschreitenmit dem Prädikat „wahr" (und allen seinen Abwandlungen) das reineigenwesentliche Apriori der Sinnessphäre, wie seine auf Adäquationberuhende Bedeutung zeigt.

Durch die breiteren Auslegungen, die wir oben zu Klärungs-zwecken vollzogen haben, ist es verständlich, daß im Ausbau derAnalytik zur Lehre von den systematischen Theorienformen (bzw.den mathematischen Mannigfaltigkeiten) und damit zu einer vollenmathesis universalis alles wird in Geltung bleiben müssen, was wirfür die niederen Stufen erwiesen haben, zunächst also die Schichtungin eine reine Mathesis der Widerspruchsjosigkeit undMathesis möglicher Wahrheit und dann die Interpretationder ersteren als Mathesis purer Sinn e. Denn fassen wirirgendeine bestimmte systematische Theorienform, oder korrelativgesprochen irgendeine bestimmte mathematische Mannigfaltigkeit, wiesie apriori konstruiert worden ist — z. B. die Form EuklidischeGeometrie, oder korrelativ Euklidische Mannigfaltigkeit — 80 sindim Umfang dieser Form (eines Allgemeinbegriffes) als Einzelheiten,obschon in völliger Unbestimmtheit, singuläre Mannigfaltigkeiten ge-

formalen Axiologie und Praktik systematisch auszugestalten versucht. Wohl allein der Literatur seitdem auftretenden Ausführungen ihnlichen Sinnes, vor allemganz unmittelbar Th. Lessings Wertaziomatik gehen auf diese Vorlesungenund Seminarien zurück — wie erhebliche Abwandlungen die mitgeteilten Ge-danken auch erfahren haben mögen.

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dacht (im Beispiel lauter Mannigfaltigkeiten der Euklidischen Form).Und gedacht sind sie als durchaus gebaut aus k ategorialen Ge-biI den, die also ihren syntaktischen Formen nach ganz und gar indie apophantisch-logische Sphäre hineingehören, bis hinauf zu derjeweiligen ganzen Mannigfaltigkeit selbst. Die gesamte mathesisuniversalis ist also Analytik möglicher Kategorialien,Theorie ihrer Wesensformen und Wesensgesetze.

Achten wir nun darauf, daß die Mannigfaltigkeits-lehre gar keinen zwingenden Grund hat, Fragen mög-licher Wahrheit für ihre Theorienformen und korrelativFragen möglicher Wirklichkeit (möglichen wahren Seins)von irgendwelchen singulären Mannigfaltigkeiten,die unter ihren formalen Ideen von Mannigfaltigkeit stehen, über-haupt in ihr Thema zu ziehen. Gleichwertig damit ist, der Ma th e-ma tike r als solcher braucht sich gar nicht darum zu kümmern,daß es in konkreter „Wirklichkeit" Mannigfaltigkeiten wirklich gibt(z. B. so etwas wie eine mathematisch erkennbare Natur oder einReich wie das der Raumgebilde, etwa als Euk 1 idi s ch e Mannig-faltigkeit zu fassen), ja daß es dergleichen geben kann, daß der-gleichen in irgendeinem Sachgehalt denkmöglich ist. Er b r auchtalso nicht die Voraussetzung möglicher Mannigfaltig-k eit en im Sinne möglicherweise k o nkr et seien der, und kann— als „purer" Mathematiker — seine Begriffe so fassen, daß ihrUmfang solche Möglichkeiten gar nicht mitmeint.

§ 52. Eigentlich logische und außerIogische „mathesis pura".Die „Mathematik der Mathematiker".

Freilich geht damit, wie für die niedere Stufe der logischenAnalytik, so für diese höhere und schließlich für die voll umfassendeAnalytik — die mathesis universalis — das wesentliche Stück ihreseigentlich logischen, ihres wissenschaftstheoretischen Sinnes verloren.Denn auf mögliche Gebiete und ihre mögliche Erkenntnis, auf mög-liche systematische Theorien will die Logik ja, und auch wo sie bloßeformale Logik sein will, bezogen sein, für sie Wesensgesetze der Mög-lichkeit im voraus und als Normen festlegen. Wenn sie in diesemBestreben darauf stößt, daß schon in der Form der „Urteile" selbstBedingungen möglicher Wahrheit und wahrhaft seiender Theorienund theoretisierbarer Erkenntnisgebiete aufweisbar sind, so verläßtsie damit natürlich ihren spezifisch logischen Sinn nicht. Sie machtaber vielleicht einen Schritt dazu, wenn sie ihrer Wesensschichtung

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in Analytik der Widerspruchslosigkeit und in Analytik möglicherWahrheit inne wird und demnach

1. erkennt, daß die Urteile rein als Sinne genommen (unddarin beschlossen alle Gegenständlichkeiten rein als gegenständ-liche Sinne) eine in sich geschlossene Formgesetzlichkeithaben und in der Stufe der „Deutlichkeit" eine Gesetzlichkeit derKonsequenz, Inkonsequenz, Widerspruchslosigkeit, die ansich nochnichts von einem möglichen Sein der etwa den Urteilenentsprechenden Gegenständlichkeiten und von möglicher Wahrheitdieser Urteile selbst besagen:

2. wenn sie im Anschluß daran erkennt, daß evidentermaßen dieGesetzmäßigkeiten derWidersp ruchslosigkeit mittel-bar den Wert von logischen Gesetzmäßigkeiten, von aller-ersten und allgemeinsten Gesetzen möglicher Wahrheit an-nehmen, so wie der spezifisch logischen Absicht gemäß möglichesSein und mögliche Wahrheit nach Wesensgesetzen ihrer Möglichkeitbefragt werden sollen, und nun die Sinne (die puren Urteile) aufsolche Möglichkeiten bezogen gedacht, diese also mitvorausgesetztgedacht werden.

Ist das klargestellt, so kann man eine ganze Wissenschaftetablieren, die von dem spezifisch logischen Absehen befreit nichtsweiter erforscht und erforschen will als das universale Reich derpuren apophantischen Sinne. Bei solcher konsequenten Ausschaltungder Fragen möglicher Wahrheit und der Wahrheitsbegriffe selbst stelltes sich heraus, daß man von dieser ganzen logischen Mathesis dabeieigentlich nichts verloren hat, sondern sie noch ganz und gar hat als„r e i formale Mathematik. Diese Reinheit in der thema-tischen Beschränkung auf gegenständliche Sinne in ihrer Eigenwesent-lichkeit — auf „Urteile" im erweiterten Sinne — kann auch gewisser-maßen unbewußt betätigt sein, nämlich dadurch, daß der Mathe-matiker, wie von jeher in der mathematischen Analysis, es unterläßt,je Fragen möglicher Wirklichkeit von Mannigfaltigkeiten zu stellen,bzw. nach Bedingungen der möglichen Wirklichkeit derselben aufGrund der bloßen Sinnesform zu fragen, wie es im Gegensatz dazutraditionell die apophantische Logik tut. Mag auch ein RestchenUnreinheit insofern bleiben, als die mathematisch konstruiertenFormen von Mannigfaltigkeiten in der Regel mitgedacht sind alssolche möglicher 'Wirklichkeiten: wenn nur dieser Gedanke, wie esfaktisch auch stets war, in der Mathematik selbst nie irgendwelcheFunktionen übt. So versteht es sich, daß es für eine (un-bewußt wie bewußt) „reine" formale Mathematik keine

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anderen Erkenntnissorgen geben kann als die der„Widerspruchslosigkeit", als die unmittelbarer oder mittelbareranalytischer Konsequenz und Inkonsequenz, wohinoffenbar alle Fragen mathematischer „Existenz" gehören.

Anders ist es freilich für den Logiker, der wissenschafts-theoretisch eingestellt, selbst wenn er in konsequenter Erweiterungder traditionellen Engen zur rnathesis universans vordringt (wie ichselbst in den Logischen Untersuchungen), nicht leicht auf den Ge-danken kommen wird, diese Reduktion auf eine Analytik reiner Sinnezu vollziehen und somit die Mathematik nur gewinnen wird als eineerweiterte Logik, die also auf mögliche Gegenstandsgebieteund Theorien wesentlich bezogen ist. Philosophisch ist hier die vollsteBewußtheit nötig und radikale Erkenntnis der zu vollziehenden De-markationen. Es genügt nicht etwa zu interpretieren und danach zufragen, was der Mathematiker von Fach vermutlich meine. Es mußgesehen werden, daß eine formale Mathematik im Sinnejener reduzierten Reinheit ihr Eigenrecht hat und daßfür die Mathematik jedenfalls keine Notwendigkeit besteht, über dieseReinheit hinauszugehen. Zugleich aber ist es ein großer Fortschrittphilosophischer Einsicht, daß diese einschränkende Reduktion derlogischen Mathesis (der zu wesensmäßiger Völlständigkeit ge-brachten formalen Logik) auf eine pure Analytik der Wider-s pruchslosigkeit ihren wesentlichen Sinn hat als eine Wissen-schaft, die es mit nichts anderem als mit apophantischen Sinnen nachihrem eigenwesentlichen Apriori zu tun hat, und daß damit endlichder eigentliche Sinn der „formalen Mathematik" derMathematik, der alle eigentlich logische, d. i. wissenschaftstheoretischeIntention fernbleibt — der Mathematik der Mathematiker —prinzipiell geklärt ist. Hier liegt die einzig rechtmäßigeUnterscheidung zwischen formaler Logik und bloßerformaler Mathematik.

§ 53. Erläuterungen am Beispiel der EuklidischenMannigfaltigkeit.

Es dürfte bei der Wichtigkeit der Sache nützlich sein, für dieArt der Reduktion der Mannigfaltigkeitslehre auf eine pure Sinnes-lehre noch einige Erläuterungen beizufügen.

Die Mannigfaltigkeitslehre bietet sich, sagten wir, dem Logikerzunächst dar als eine Wissenschaft von den apriori zu konstruierendenFormtypen möglicher Mannigfaltigkeiten (oder korrelativ von den

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Formtypen möglicher deduktiver Wissenschaften, systematischerTheorien), die mögliche Wahrheit haben. Hier ergibt die Re-duktion auf die Reinheit, einzeln ausgelegt, folgendes: „EuklidischeMannigfaltigkeit" bedeutete, um an dieses naheliegende Beispiel an-zuknüpfen, zunächst eine Form für mögliche deduktive Wissen-schaften, als mögliche Systeme wahrer Sätze, exemplifiziert an derEuklidischen Raumgeometrie, nun als einer Möglichkeit neben eineroffenen Unendlichkeit anderer möglicher deduktiver Wissenschaftendieser selben kategorialen Form. Die Reduktion, welche alle Be-ziehung auf die Voraussetzung möglicher Wahrheiten abschneidet,liefert die Form (noch immer die der „Euklidischen Mannigfaltig-keit") als die eines Systems von möglichen Sätzen (Ur-teilen) rein als Sinn en, und zwar von solchen, die in derEvidenz der Deutlichkeit nicht nur einzeln, sondern als Systemganzesin Deutlichkeit zu vollziehen sind — rein als Urteile — mit einemWort, die ein in sich geschlossenes System reiner Konsequenz(„Widerspruchslosigkeit") bilden: die Euklidische Form hat also inihrem Umfang nicht mehr deduktive Wissenschaften, be-zogen auf möglicherweise seiende Gebiete, sondern wider-spruchslose Urteilssysteme. Und sie bezeichnet ein Form-gesetz, das sagt: jede Gruppe von Urteilen, die unter die EuklidischeGruppe der Axiomenformen zu subsumieren ist, ist apriori wider-spruchslos vereinbar, und apriori sind alle daraus nach den Prinzipien(echten Axiomen) der unteren Analytik der Widerspruchslosigkeitableitbaren Konsequenzen mit den Ausgangssätzen in eins vereinbar,sie bilden ein widerspruchsloses System und ein definites, wenn wir be-weisen können, daß das Euklidische Axiomensystem ein definites ist').

Als Korrelat einer möglich en systematischen Theorie habenwir eine mögliche Mannigfaltigkeit, ein mögliches, von ihrsystematisch theoretisiertes Gebiet von Gegenständen. Dafür tritt, nach-dem diese Möglichkeit außer Spiel gesetzt ist, ein eine Mannigfaltig-

1) Offenbar steht dahinter das primitive Grundgesetz der Analytik reinerKonsequenz: zwei Urteile (im weitesten Sinne), die aus einem einstimmigen Urteilals Konsequenzen folgen, sind verträglich in der Einheit eines Urteils — siedürfen „multipliziert" werden. „Multiplikation" im „logischen Kalkul" besagtnichts anderes als diese Operation der konjunktiven Verbindung in sich als wider-spruchslos gedachter Urteile zu einem Urteil. Das zugehörige Operationsgesetz(iterierbaren Sinnes) als Grundgesetz besagt: apriori ist jedes Urteil (das „deut-liche", das in sich widerspruchslose) mit jedem anderen zu einem ebensolchenUrteil vereinbar. Gültigkeit von Urteilen heißt in der Konsequenzsphäre ihre Ein-stimmigkeit in sich, ihre deutliche Vollziehbarkeit, sc. als Möglichkeit, sich ineinen solchen Vollzug hineindenken zu können.

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keit nicht von Gegenständen schlechthin, sondern von vermeinten alssolchen, also gegenständlichen Sinnen, als Substrat-sinnen, die geeignet sind, in einem Urteilssystem ein-stimmig als Substrate der Prädikationen zu fungiere n. DieSubstratsinne sind aber nur gegenständliche Grundsinne der Theorie,der selbst auf den puren Theo rie-sinn reduzierten. Sie selbst inallen ihren einzelnen und komplexen Urteilen und in allen darin auf-tretenden kategorialen Gestaltungen ist nach der jetzigen Reduktion„vermeinte Gegenständlichkeit als solche", ist gegenständlicher Sinnoder Urteil im erweiterten Sinne; nur handelt es sich um kategorialeGestalten höherer Stufe, als detf Substratsinnen zugestalteter.

Es braucht wohl nicht ausdrücklich für die zur reinen Mathesiserweiterte Analytik wiederholt zu werden, was schon für die Analytikder niederen Stufe gesagt worden war. Die reine Mathesis hat es alsWissenschaft natürlich auf Wahrheiten abgesehen in betreff ihresGebietes, also auf Wahrheiten über Sinne und deren Verhältnis derKonsequenz. Aber zu ihrem Gebiet gehören in der Reinheit ebenso-wenig Gesetze der Wahrheit (der Richtigkeit, des möglichen wahrenSeins als solchen usw.) als zu den anderen Wissenschaften, die eigent-liche Logik ausgenommen. Wahrheit gehört ebensowenig zu den„rein" mathematischen Prädikaten als zu den Prädikaten der Natur,die zu erforschen das Thema der Naturwissenschaften ist.

§ 54. Abschließende Feststellung des Verhältnisses zwischenformaler Logik und formaler Ontologie.

a) Die Fragestellung.

Die Idee der mathesis universalis ah Wissenschaft von denapophantischen Sinnen aller kategorialen Stufen hatten wir in denletzten Betrachtungen, um sie in ihrer Eigenheit völlig rein zu er-fassen, von allen logischen Interessen abgelöst — wir setzen diesejetzt wieder ins Spiel.

Die Mathematik steht also wieder innerhalb der Wissenschafts-lehre, übt in ihr Funktionen der Kritik, und ihre Lehren nehmenalso selbst diesen Funktionssinn an. Die Beziehungsgesetze zwischenWiderspruchslosigkeit und Wahrheit sind vorweg ausgesprochen undihnen gemäß dann die Einführung der Wahrheitsbegriffe (wahresprädikatives Urteil, wahrhaft seiender Substratgegenstand, wahresPrädikat, wahre Mannigfaltigkeit usw.) zulässig und entsprechendvollzogen. Die Gesetze der Konsequenz und der Widerspruchslosig-keit werden zu Gesetzen möglicher sachlicher Wahrheit. Obschon in

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ihnen die Sachgehalte (die Kerne) Indeterminaten bleiben, sind sienun in dieser Allgemeinheit doch auf mögliche Gegenständlichkeitbezogen gedacht. Mögliche Wahrheit als Richtigkeit besagt ja Mög-lichkeit der Adäquation an mögliche Sachen selbst. So sind z. B. inFormgesetzen möglicher Richtigkeit prädikativer Urteile eo ipso be-schlossen Gesetze der Möglichkeit von Sachverhalten- So gewinnt alsodas ganze mathematische System der Logik Beziehung auf möglicheGegenständlichkeit überhaupt.

Wir stellen nun die Frage: ist die formale Logik danachals formale Ontologie anzusehen, und warum gilt das jeden-falls nicht für die Analytik der bloßen Widerspruchslosigkeit, obschonauch sie doch auf Urteile überhaupt und damit auf das Etwas-über-haupt bezogen ist?

b) Der korrelative Doppelsinn der formalen Logik.

Geradehin von irgend etwas, von irgendeinem Gegenstand odervon Gegenständen überhaupt sprechen, das heißt normalerweise, vonihnen als Wirklichkeiten oder Möglichkeiten sprechen, im Falle desapriorischen überhaupt von eidetischen Möglichkeiten, als in völligfreier Phantasie ausdenkbaren. Nennen wir formale Ontologieeine apriorische Wissenschaft von Gegenständen überhaupt, so heißtdas also ohne weiteres, von möglichen Gegenständen reinals solche n. Natürlich gehören in ihren thematischen Bereich alleals möglich erdenklichen kategorialen Abwandlungen von „Gegen-ständen überhaupt". Eine nicht formale Ontologie wäre dannirgendeine apriorische Wissenschaft sonst, sie wäre eine Ontologiehinsichtlich ihres gegenständlichen Gebietes, als eines besonderenGebietes von möglichen Gegenständlichkeiten.

Danach müssen wir sagen: jene reine Mathematik derWi derspruchs losigk e it, in ihrer Ablösung von der wissen-schaftstheoretischen Logik verdient nicht den Namen einerformalen Ontologie. Sie ist eine Ontologie reiner Urteile a 1sSinne und zwar eine Ontologie der Formen widerspruchsloserund, so verstanden, möglicher Sinne: möglich in der Evidenz derDeutlichkeit. Jedem möglichen Gegenstand entspricht sein Gegen-standssinn. Jede Sinnesform möglicher Gegenstände kommt unter denmöglichen Sinnesformen der „außerlogischen" Mathematik natürlichvor. Aber jene Möglichkeit einer Sinnesform enthält an und fürsich nichts von der Möglichkeit von Gegenständen eines ihr ent-sprechenden Sinnes, wie ja auch dieses Entsprechen selbst über diereine Sinnessphäre hinausführt.

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Sowie wir es hereinziehen und die beiden Möglichkeiten, diewiderspruchsloser gegenständlicher Sinne und die möglicher Gegen-stände selbst in Beziehung setzen, also Fragen möglicher Richtigkeitaufwerfen, stehen wir in der eigentlichen Logik und alsbald nimmtin ihr die ganze Mathematik der Urteile als Sinne eine formal-onto-logische Bedeutung an — und doch dürfen wir sie nochnicht ohne weiteres als formale Ontologie ansprechen.

überlegen wir. Die formale Analytik als formale Logik mög-licher Wahrheit ist, wie wir ausführten, kritisch eingestellt. Ebendarum ist ihr Thema das Gesamtreich der Urteile (immer mit ein-gerechnet die Gesamtheit der kategorialen Sinne) unter dem Gesichts-punkt möglicher Adäquation. Solange aber die Urteile als dieausschließlichen Themen angesehen werden, sei es auch unterHereinziehen der entsprechenden möglichen Gegenständlichkeiten,denen angepaßt sie Prädikate der „Richtigkeit", der Wahrheit an-nehmen könnten, sind wir noch nicht eigentlich formal.ontologisch eingestellt. Indessen so wie in den Wissenschaftendie beständig wiederholte kritische Einstellung und damit die Ein-stellung auf die Urteile nur ein Mittel ist, um dem primären Inter-esse an den Sachen selbst und wie sie in Wahrheit sind, zu dienen,so auch für die Logik, die ihren wissenschaftstheoretischen Berufnicht aus den Augen verliert. Ihrem Endsinne nach ist sie dannnicht pure formale apophantische Logik, sondernformal-ontologische. Eine Apophantik kann zwar rein alssolche in der festen und ausschließlich thematischen Einstellung aufdie Urteile als Sinne und auf die Möglichkeiten ihrer Adäquationdurchgeführt werden, und man kann sagen, daß diese Tendenz sichin der historischen Entwicklung der Logik ausgebildet hat. Aberder tiefe und der Aufgabe als Wissenschaftslehre an-gemessene Sinn der formalen Analytik ist es, Wissen-schaft zu sein von den möglichen kategorialen Formen,in denen Substratgegenständlichkeiten sollen wahr-haft sein können.

Kategorial geformte Gegenständlichkeit, das ist keinapophantischer Begriff, sondern ein ontologischer.Allerdings ist es das Wesen solcher Gegenständlichkeit, nichts anderesals erfülltes Urteil entsprechender Sinnesform zu sein. Wenn derUrteilende in seiner gegenständlichen Einstellung zur evidentenSelbsthabe übergeht, so liegt im Wesen dieser Erfüllungssynthesis, daßsie Deckungssynthesis ist. Wir sagen ja, und mit Evidenz (indem wirauf sie reflektierend eine Aussage über sie machen), eben dasselbe,

Busserl, Jahrbuch L Philosophie. X. 9

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was ich soeben meinte und noch meine, ist selbst gegeben. Nehmenwir den idealen Fall. Wenn die Erfüllungen ideal vollkommen sind,sind die Substratgegenständlichkeiten mit all ihren kategorialen For.mungen selbst gegeben im strengsten Sinne, die Evidenz verwirklichtund erfaßt sie selbst, so wie sie in Wahrheit sind'). Vermöge dei.evidenten Deckung mit den bloßen Urteilsmeinungen, also den ver-meinten Substraten in den vermeinten kategorialen Formen, ist esevident, daß je in der wahrhaft seienden Gegenstiindlich-keit die Urteilsmeinung darin liegt, nur daß sie hier mitErkenntnisfülle gesättigt ist.

Eben darum haben wir den schon früher von uns herausgestelltenDoppelsinn von Evidenz parallel mit dem von Urteil. Indem einen Sinne besagt sie so viel, wie wahrhaft seiender Sachverhaltim Modus der Selbstgegebenheit (wahrhaft seiende Substratgegen-ständlichkeit in den jeweilig wahrhaft seienden Eigenschaften, Rela-tionen usw.). Im zweiten korrelativen Sinne besagt Evidenz Selbst-gegebenheit der Richtigkeit der Urteilmeinung vermöge deren An-messung an jene Evidenz im ersten Sinne, also an die selbstgegebenekategoriale Gegenständlichkeit. Als Erkennend-Urteilende haben wir,wie schon ausgeführt, keine anderen Gegenständlichkeiten als kate-gorial geformte, und es hat keinen Sinn, hier etwas anderes haben zuwollen. Wahrhaft seiende Natur, wahrhaft seiende Sozialität oderKultur usw., das hat gar keinen anderen Sinn als den einer gewissenkategorialen Gegenständlichkeit, zu der in wissenschaftlicher Methodevorzudringen, sie methodisch erzeugend, das ganze Absehen derWissenschaft ist.

Man darf uns hier nicht die Metaphysik entgegenhalten. IstMetaphysik ein Wort für eine Wissenschaft und nicht für unklareGedanken und Reden, so gibt es keine vernünftigen Prn-bleme einer „formalen und realen Bedeutung desLogische n" 2). Tut uns die Naturwissenschaft z. B. nicht genug, sokann das nur sagen (wenn das Recht ihrer Evidenzen, also die Voll-kommenheit ihrer Selbsthabe unangefochten bleibt, also diese Wissen-schaft selbst unangefochten bleibt), daß die so bezeichnete Wissen-

1) Sie verwirklicht sie natürlich in dem Stufenbau, der ihnen sinngemäßjeweils zugehört, also in einer Stufenfolge ineinander fundierter Evidenzen, diein ihrer synthetischen Einheit eben die eine Evidenz der einen, so und so ge-bauten kategorialen Gegenständlichkeit ausmachen, die Einheit ihrer Selbsthabeaus Selbstverwirklichung"

2) Vgl. die Kritik der verkehrten Lotzeschen Problematik in der yi. Log.Unters., 3. Aufl., S. 199 f.

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schaft irgendwie einseitig ist und in Hinsicht auf ihr Gebiet nochweitere Erkenntnisse notwendig sind — neue kategoriale Gebilde inbezug auf dieselbe Substratsphäre, die als Ziele methodischer Her-stellung entsprechender Evidenzen zu setzen sind. Nehmen wir stattderart bestimmter sachhaltiger Wissenschaften die formale Logik, soist sie formal-ontologische, wenn sie die möglichen Formen katego-rialer Gegenständlichkeiten (nicht die entsprechenden gegenständ-lichen Sinne) bewußt zum Endthema macht. Ein spezieller Fall davonist es, wenn sie diejenigen Kategorialien erforscht, die die Form einerdeduktiven Theorie ausmachen, wobei diese nicht als ein System vonUrteilen, sondern von möglichen Sachverhalten und im Ganzen alseine ausgezeichnet geformte Einheit einer kategorialen Gegenständ-lichkeit verstanden ist.

Der korrelative Doppelsinn von Evidenz und Wahrheit, den wirklargelegt haben, bedeutet offenbar auch einen k orr elativ enDoppelsinn von formaler Logik: von der traditionellenEinst ellung auf die Ur teil e als apophantische Meinungen aus-gehend, also die Einstellung der Kritik bevorzugend, gewinnen wireine apophantische L ogik, die voll erweitert von seiten derkategorialen Sinnesformen bis hinauf zu den apophantischen Sinnes-formen von Theorien die mathesis universalls erreicht Bevorzugenwir die Einstellung auf mögliche kategoriale Gegen-ständlichkeiten selbst bzw. deren Formen, so treiben wir vonvornherein und konsequent eine formal-ontologische Logik,die aber selbstverständlich aus Gründen der Methode doch genötigtsein wird, die Urteilssinne zu Gegenständen zu machen, obschon nurals Mittel, während das Endabsehen den Gegenständen gilt.

c) Die Idee der formalen Ontologie abzulösen von der Ideeder Wissenschaftslehre.

Nach dieser Untersuchung dürfen wir den Doppelsinn der Logikund den der beiden ihrer Seiten zugehörigen Einstellungen für voll-kommen geklärt halten. Natürlich sind solche Klärungen für denMathematiker ziemlich gleichgültig. Er hat in seiner Positivität, ganzim Absehen auf Entdeckung neuer theoretischer Resultate lebend,nicht das mindeste Interesse für Einstellungsänderungen, die Äqui-valentes in Äquivalentes verwandeln. übergänge in evidenter Kor-relation liefern in seinem Sinne „dasselbe". Der Logiker aber, dersolche Klärungen nicht vermißt oder für gleichgültig erklärt, ist jeden-falls kein Philosoph, da es sich hier um p rin z ip i elle Struktur-einsicht en in eine formale Logik handelt. Offenbar kann ohne

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Klarheit über ihren prinzipiellen Sinn auch nicht an die großenFragen gerührt werden, welche innerhalb der Idee einer universalenPhilosophie an die Logik und ihre philosophische Funktion gestelltwerden müssen.

Zum Schluß sei noch bemerkt, daß die f ormale Ontologieauch von vornherein direkt als Aufgabe gestellt werdenkann, ohne von der Idee einer Wissenschaftslehre aus-zugehen. Ihre Frage ist dann: was kann man innerhalb derLeerregion Gegenstand-überhaupt aussagen? Rein apriori in dieserformalen Allgemeinheit stehen die syntaktischen Gestaltungen zurVerfügung, durch die aus irgendwelchen als möglich vorgegeben ge-dachten Gegenständen (Etwas-überhaupt) immer neue Kategorialienerzeugt gedacht werden können. Man wird dabei auch auf den Unter-schied möglicher Erzeugungen kommen, die bloß deutliche Meinungenliefern, aber als widerspruchsvolle nicht zu möglichen Gegenständenselbst führen können usw. Offenbar erwächst dann die ganze formaleMathesis. Hinterher können wir uns aber jederzeit die wissen-schaftstheoretische Bedeutung dieser Ontologie klar machen, da jaeine jede Wissenschaft für ihr Gebiet auf „wahres Sein", also aufKategorialien ausgeht, deren Formen, wenn sie echte Wissenschaftist, unter den formal-ontologisch möglichen stehen müssen.

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IL Abschnitt.

VON DER FORMALEN ZUR TRANSZENDENTALENLOGIK.

1. Kapitel.

PsychoIogismus und transzendentale Grundlegungder Logik.

§ 55. Ob mit der Ausbildung der Logik als objektiv-formalerschon der Idee einer auch nur formalen Wissenschaftslehre

genuggetan ist.

Im ersten Abschnitt unserer Untersuchung haben wir den dertraditionellen formalen Logik mit der Aristotelischen Analytik vor-gezeichneten Sinn entfaltet. Sie hat sich uns als eine völlig ab-geschlossene Wissenschaft dargestellt. Die scharfe Wesensumgrenzungihres Gebietes haben wir klargelegt und ebenso die in ihr durchFundierung apriori verbundenen Schichtendisziplinen. Wir habenauch ihre korrelative und dadurch äquivalente Thematik als formaleApophantik und formale Ontologie verstehen gelernt, die es gestattet,von einer, nur in zwei Einstellungen zu behandelnden Logik zusprechen.

Es könnte nun scheinen, daß -wir mit dieser Logik als Philosophenfertig wären und ihre theoretische Ausgestaltung den Mathematikernüberlassen könnten, die sie ja ohnehin schon, um philosophische Er-kenntnisbedürfnisse unbekümmert, in Arbeit haben. In weiterer Folgekönnte es also scheinen, daß wenn wir noch als Logiker uns Aufgabenzu stellen hätten, es sich nur um eine Erweiterung der logischen Ideehandeln könnte. Die uns zu Anfang leitende Idee war die eineruniversalen apriorischen Wissenschaftslehre. Sie sollte das imweitesten Sinne Formal-apriorische aller Wissenschaften als solcherbehandeln, nämlich das sie in apriorischer Allgemeinheit Um-spannende, an das sie, sofern sie in Wahrheit überhaupt Wissen-schaften sind, notwendig gebunden bleiben. Jedenfalls ist die Formim Sinne der analytischen oder „formalen" Logik von dieser Art; jede

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Wissenschaft erzeugt kategoriale Gebilde und untersteht den Wesens-gesetzen ihrer Form.

Es könnte also jetzt gefragt werden, ob diese analytisch-formaleWissenschaftslehre die Idee einer Wissenschaftslehre überhaupt aus-füllt, oder ob nicht die analytisch-formale durch eine materialeWissenschaftslehre ergänzt werden muß. Das Eigentümliche derAnalytik, das ihren Formbegriff bestimmt, ist ja dies, daß sie die inden möglichen Urteilen und Erkenntnissen an bestimmte Gegenstands-sphäre bindenden „Kerne" (die „Erkenntnismaterien") zu b e -1 i eh igen, nur als identisch festzuhaltend gedachten Kernen macht,zu Modis des Etwas überhaupt. Ist, wenn wir in diese in leerer All-gemeinheit gehaltenen Kerne wieder Fülle einströmen lassen, nichtvielleicht ein sachhaltiges Apriori zu gewinnen, das von universalerwissenschaftstheoretischer Bedeutung ist?

Bestimmen wir den Begriff des analytischen Aprioridurch die reine und in voller Weite gefaßte formale Analaytik 1), sosteht also in Frage ein neues „synthetisches" Apriori, oderbezeichnender ausgedrückt ein „kernhaftes", ein sachhaltiges und desnäheren ein un -iv ersales Apriori dieser Art, das alle sach-haltig-aprioris ch en Sondergebiete in eine Totalitätzusammenbin d e t. Mit anderen Worten, wir fragen: Ist allesSeiende, konkret sachhaltig bestimmt und bestimmbar gedacht, nichtwesensmäßig Seiendes in einem S eins univers nm, einer „Welt"?Ist nicht, wie dieses „wesensmäßig" besagt, jedes mögliche Seiendezu seinem möglichen Seinsuniversum gehörig; ist danach nicht jedessachhaltige Apriori zu einem universalen Apriori gehörig, eben dem,das für ein mögliches Universum des Seienden die apriorische sach-haltige Form vorzeichnet? Es scheint also, daß wir jetzt auf einesachhaltige, eine eigentliche Ontologie lossteuern müßten, durchwelche die bloß analytisch-formale Ontologie zu ergänzen sei.

Indessen so naheliegend dieser ganze Gedankengang ist, so dürfenwir dieser neu sich aufdrängenden Leitidee noch nicht folgen. Dennso liegt die Sache nicht, daß wir mit der formalenAnalytik in der Tat schon fertig wären— wir als philoso-phische . Logiker und nicht als mathematische Techniker, also ernstlichgesinnt, der Zweckidee einer analytisch-formalen Wissenschaftslehregenugzutun. Ist dies mit unseren bisherigen Untersuchungen schonvolikoMmen. geleistet worden?

1) Was jedenfalls einen fundamentalen Begriff des Analytischen ausmacht,ihnselben, den die III. Untersuchung (Log. Unters. Bd. III) abgegrenzt hat.

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§ 56. Der Vorwurf des Payehologismus gegen jede subjektivgerichtete Betrachtung der logischen Gebilde.

Knüpfen wir an die Forderung der Zweiseitigk ei t logischerForschungen an, die wir in unseren Vorbetrachtungen hingestellthatten 1), aber ohne den Sinn der subjektiv gerichteten Thematikzureichend geklärt zu haben. Diese Forderung war als eine ganz all-gemeine ausgesprochen worden, somit auch als gültig für die an sicherste, die analytische Logik. Sinn und Recht dieser subjektivgerichteten logischen Thematik — die, um es gleich zusagen, nicht die Bedeutung einer eigenen logischen Disziplin, einervon der objektiv-ideal gerichteten Analytik abzusondernden be-anspruchen wird — sind nun in Frage.

Im Eingang steht hier aber das Schreckbild des P sych olo gis-mu s. Gegen die Forderung subjektiv gerichteter logischer For-schungen erhebt man unter Berufung auf den I. Band meiner logischenUntersuchungen (mit dein bezeichnenden Titel „Prolegomena zurreinen Logik") den Einwand, daß es doch die Leistung desselbensein sollte, aus dem Thema der Logik, zunächst der traditionellenund dann der zur vollen mathesis universalis erweiterten, alles Psycho-logische radikal auszumerzen. Der herrschend gewordene Empirismus(seiner historischen Abkunft nach Antiplatonismus) war blind für dieeigentümliche Objektivität aller idealen Gebilde; überall wertet er siepsychologistisch um in die jeweiligen psychischen Aktualitäten undHabitualitäten. So auch jene ihrem eigenen Sinne nach irrealenGegenständlichkeiten, die als Aussagesätze, als Urteile, als Wahrheiten,als Schlüsse, Beweise, Theorien 'und als in ihnen eingeformt auf-tretende kategoriale Gegenständlichkeiten das thematische Gebiet derLogik ausmachen. Die Urteile, von denen die Logik in ihren Gesetzenspricht, sind nicht die Urteilserlebnisse (das Urteilen), die Wahrheitennicht die Evidenzerlebnisse, die Beweise nicht das subjektiv-psychischeBeweisen usw.

Sowenig es die (wie wir wissen, selbst in die Logik hinein-gehörige) Anzahlenlehre mit den Erlebnissen des Kolligierens undZählens als ihrem Gebiet zu tun hat, sondern mit den .Zahlen, sowenigdie Lehre von den Ordnungen und Ordinalzahlen mit den Erlebnissendes Ordnens, sondern mit den Ordnungen selbst und ihren Formen,sowenig hat es die Syllogistik mit den psychischen. Erlebnissen deSUrteilens, Schließens zu tun. Dasselbe gilt für die sonstigen objektiven

1) Vgl. oben § 8.

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Wissenschaften. Niemand wird als Gebiet der Naturwissenschaft diepsychischen Erlebnisse der naturalen Erfahrung und des Naturdenkensbezeichnen anstatt die Natur selbst. Hier bestanden nicht die psycho-logistischen Versuchungen, denen die neuere Logik fast allgemein unter-lag. Danach scheint also, wie für jede andere objektive Wissenschaft(die Menschen- und Tierpsychologie ausgenommen) so für die Logikjede subjektiv gerichtete (wofür man meistens ohne weiteres sagenwird: psychologische) Thematik ausgeschlossen. Sie gehört eben nichtin das Gebiet der Logik sondern der Psychologie.

Wie steht es dann aber mit unserer Forderung der Einbeziehungsubjektiv-korrelativer Untersuchungen in die Logik? Steht sie nichtauf einer Stufe mit der entsprechenden Forderung für alle Wissen-schaften?

Schon bald nach dem Erscheinen der Logischen Untersuchungenwurde der Vorwurf erhoben, die dort unter dem Titel der „Klärung"der rein logischen Grundbegriffe geforderten phänomenologischenUntersuchungen, die der II. Band in breiterer Ausführung abzuhebenversuchte, bedeuteten einen Rückfall in den Psychologismus.

Merkwürdigerweise hat man die ProIegomena zur reinen Logik als eineschlechthütige Überwindung des Psychologismus angesehen, ohne zu beachten, daßdarin nirgends vom Psychologismus schlechthin (als einer universalenerkenntnistheoretischen Verirrung) die Rede war, sondern von einem Psycho-logismus ganz besonderen Sinnes, eben der Psychologisierung derirrealen Bedeutungsgebilde, die das Thema der Logik sind. Die noch heute all-gemein herrschende Unklarheit über jenes den prinzipiellen Sinn der ganzenTranezendentalphilosophie (darin beschlossen der sogenannten Erkenntnistheorie)betreffende Problem des erkenntnistheoretischen Psychologismus hatte ich selbstdamals noch nicht ganz überwunden; obschon gerade die "phänomenologischen"Untersuchungen des II. Bandes, sofern sie den Weg zu einer transzendentalenPhänomenologie bahnten, zugleich zu der Stellung und radikalen Überwindung desProblems des transzendentalen Psychologismus die notwendigen Zugänge eröffneten.Auf diese Probleme bezügliche Klärungen werden wir weiter unten versuchen 1).

Es ist also sehr notwendig hier noch einmal auf das besondereProblem des Psychologismus näher einzugehen, das jene„Prolegomena" behandelt hatten. Wir wollen uns aber nicht an diefrüheren, in einzelnen Punkten verbesserungsbedürftigen Dar-stellungen binden, sondern dem Problem eine reinere Form geben,es auch in allgemeinere Zusammenhänge hineinstellen, die uns über-leiten in die Klarlegung des notwendigen Sinnes einer „zweiseitig"forschenden, einer im echten Sinne philosophischen Logik. Denn

1) Vgl. weiter unten Kap. 6, insbes. § 99. Es sei auch im voraus auf nähereAusführungen in bald folgenden Publikationen verwiesen.

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darauf geht unser Hauptabsehen, zu zeigen, daß eine geradehin aufihre eigentliche thematische Sphäre gerichtete und ausschließlich anihrer Erkenntnis tätige Logik in einer Naivität stecken bleibt, die ihrden philosophischen Vorzug radikalen Sichselbstverstehens und prin-zipieller Selbstrechtfertigung verschließt, oder was dasselbe, denVorzug vollkommenster Wissenschaftlichkeit, den zu erfüllen diePhilosophie da ist, und vor allem die Philosophie als Wissen-schaftslehre.

§ 57. Logischer Psychologismus und logischer Idealismus.

a) Die Beweggründe für diesen Psychologismus.

Wir haben schon früher ') von der Schwierigkeit gesprochen, diepsychischen Gebilde, die den thematischen Bereich der Logik aus-machen, von der psychologischen Subjektivität abzuscheiden; alsoUrteile — dann aber auch Mengen und Anzahlen usw. — als etwasAnderes anzusehen, denn als psychische Vorkommnisse im urteilendenMenschen. Was im urteilenden Tun ursprünglich erwächst an Sub-jekten und Prädikaten, Prämissensätzen und Schlußsätzen und dgl.,das tritt doch im Bewußtseinsfeld des Urteilenden Glied für Glied auf.Es ist nichts dem Psychischen Fremdes, nichts dergleichen wie einphysischer Vorgang, wie ein in physischer Handlung erwachsendesphysisches Gebilde. Vielmehr in der als Bewußtseinserlebnis ver-laufenden psychischen Tätigkeit selbst, von ihr ungetrennt und nichtaußen sondern innen, treten die Urteilsglieder und die ganzen Urteils-gebilde auf. Ja die vom englischen Empirismus Mißleiteten kommenhier nicht einmal dazu, überhaupt eine Scheidung zu machen zwischendem urteilenden Erleben und dem „darin" sich gliedweise gestaltendenGebilde selbst. Was von den ursprünglich erzeugenden Denkaktionengilt, das gilt auch von den sekundären Modis des Denkens, so vonverworrenen Einfällen und sonstigen „undeutlichen" Meinungen (undebenso denen der parallelen Weisen des Vernunftbewußtseins, denendes „Gemütes", sowie den entsprechenden zugehörigen sekundärenModis. Im verworrenen Denkbewußtsein selbst und nicht als einÄußeres treten diese verworrenen Gedanken auf. Wie hätten wir alsoin der Logik das Feld der „psychischen Phänomene", der „Phänomeneinnerer Erfahrung" überschritten? Demnach wären alle logischenData reale Vorkommnisse der psychologischen Sphäre, als solche nachder gewöhnlichen Ansicht in dem allgemeinen Kausalzusammenhang

1) Vgl. oben § 10.

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der realen Welt eindeutig determiniert und nach Kausalgesetzen zuerklären.

Doch diesen letzten Punkt können wir außer Betracht lassen.Die Hauptsache ist hier die Gleichsetzung der Urteils-g e b ild e (und dann natürlich aller ähnlichen Gebilde von Vernunft-akten überhaupt) mit Phänomenen der inneren Erfahrung.Diese Gleichsetzung ist begründet durch ihr „inneres" Auftreten imAktbewußtsein selbst. So wären also Begriffe, Urteile, Schlüsse; Be-weise, Theorien psychische Vorkommnisse und die Logik, wieJ. S t..M i 1 1 gesagt hatte, ein „Teil oder Zweig der Psychologie".Eben in dieser scheinbar so einleuchtenden Auffassung liegt derlogische Psichologismus.

b)- Die Idealität der logischen Gebilde als irreales Auftretenin der logisch-psychischen Sphäre.

Demgegenüber sagen wir: es ist eine ursprüngliche Evidenz, daßin wiederholten Akten, gleichen oder ähnlichen, gebildete Urteile,Schlüsse Usw. nicht bloß gleiche und ähnliche, sondern numerischidentisch dieselben Urteile, Schlüsse usw. sind. Ihr „Auftreten"im Etewußteeinsbereich ist ein vielfaches. Die jeweiligen bildendenDenkprozesse sind zeitlich — als real-psychische Prozesse realerMenschen angesehen objektiv-zeitlich — außer einander, individuellverschiedene und getrennte. Nicht aber die im Denken gedachtenGedanken. Gewiß treten sie im Bewußtsein nicht als ein „Äußeres"auf. Sie sind eben keine realen, keine Raumgegenstände, sondernirreale Geistesgebilde, deren eigentümliches Wesen die räumlicheExtension, ursprüngliche Örtlichkeit und Beweglichkeit, ausschließt:Wie andere Geistesgebilde lassen sie aber eine physische Verleih-lichung zu, hier die durch die sinnlichen Wortzeichen, und gewinnenso ein sekundäres räumliches Dasein (des gesprochenen oder ge-schriebenen Satzes). Jede Art Irrealität, von der die Idealität derBedeutungen und die von ihr zu scheidende Idealität der allgemeinenWesen oder Spezies') besondere Fälle sind, hat Weisen möglicherAnteilhabe an der Realität Aber das ändert nichts an der prin-zipiellen Sonderung zwischen Realem und Irrealem.

Hier werden aber tiefer dringende Klärungen unentbehrlich.Durch Studium und ParalIelisierung der Evidenzen vom Realen undIrrealen wird. die allgemeine Gleichartigkeit der Gegenständlichkeiten— als Gegenständlichkeiten — verständlich werden.

1) über diese in den „Prolegomena" noch nicht gemachten Unterscheidungbringen meine bald erscheinenden Logischen Studien die begrünetende 4usführung.

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§ 58. Die Evidenz der idealen Gegenstände analog der derindividuellen.

Die Evidenz irrealer, im weitesten Sinne idealer Gegenstände istin ihrer Leistung völlig analog derjenigen der gewöhnlichen, sö-genannten inneren und äußeren Erfahrung, der man allein — ohneeinen anderen Grund als den eines Vorurteils — die Leistung einerursprünglichen Objektivierung zutraut. Die Identität eines Idealenund damit dessen Gegenständlichkeit, ist in gleicher Ursprüng-lichkeit direkt zu "sehen" (und wenn man das Wort mit entsprechenderweitertem Sinne fassen wollte: direkt zu erfahren) wie die Identitäteines gewöhnlichen Erfahrungsgegenstandes, z. B. eines Gegenstandesder naturalen Erfahrung oder eines solchen der immanenten Er-fahrung von irgendwelchen psychischen Daten. In wiederholten Er-fahrungen, vorher schon in der stetigen Abwandlung der momentanenWahrnehmung in Retention und Protention, dann in möglichen nachBelieben zu wiederholenden Wiedererinnerungen kommt, in derenSynthesis, das Bewußtsein von Demselben, und zwar als „Erfahrung"dieser Selbigkeit zustande. Diese ursprüngliche Identifizierbarkeitgehört als Wesenskorrelat zum Sinn jedes Gegenstandes der Er -f ahrung im gewöhnlichen und prägnanten Sinne, der sich dahinbestimmt, daß es evidente Selbsterfassung -und Selbst-habe eines individuellen (immanenten oder realen) Datums ist.

Ebenso sagen wir, gehört zum Sinn eines irrealen Gegenstandesdie ihm zugehörige Identifizierbarkeit auf Grund der ihm eigenenWeisen der Selbsterfassung und Selbsthabe. Der Leistung nach ist siealso wirklich so etwas wie eine „Erfahrung", nur daß ein derartigerGegenstand eben nicht ans einer ihm ursprünglich- zu-gehörigen Zeitlichkeit individuiert

Die Möglichkeit der Täuschung gehört mit zur Evidenzder Erfahrung und hebt ihren Grundcharakter und ihre Leistung nichtauf, obschon das evidente Innewerden der Täuschung die betreffendeErfahrung oder Evidenz selbst „aufhebt". Die Evidenz einer neuenErfahrung ist es, an der die vordem unbestrittene Erfahrung dieGlaubensmodifikation der Aufhebung, der Durchstreichung erleidet,und nur so kann sie sie erleiden. Evidenz der Erfahrung ist alsohierbei immer schon vorausgesetzt. Die bewußtseinsmäßige „Auflösung"einer Täuschung, in der Ursprünglichkeit des „nun sehe ich, daß das

1) Außerwesentliche Zeitbezogenheit können irreale Gegenständlichkeitensehr wohl annehmen, wie nicht minder außerwesentliche Raumbezogenheit und

Realisierung.

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eine Illusion ist", ist selbst eine Art der Evidenz, nämlich die von derNichtigkeit eines Erfahrenen, bzw. von der „Aufhebung" der (vordemunmodifizierten) Erfahrungsevidenz. Auch das gilt für je dw e deEvidenz oder für jede „Erfahrung" im erweiterten Sinne. Selbst einesich als apodiktisch ausgebende Evidenz kann sich als Täuschung ent-hüllen und setzt doch dafür eine ähnliche Evidenz voraus, an der sie„zerschellt".

§ 59. Allgemeines über Evidenz als Selbstgebung.

Der beständige Anstoß, der bei dieser Darstellung empfundenwerden dürfte, liegt nur an der üblichen grundverkehrten Inter-pretation der Evidenz vermöge des völligen Mangels einer ernstlichenphänomenologischen Analyse der durch alle ihre Formen gemeinsamhindurchgehenden Leistung. So kommt es, daß man den Begriff derEvidenz im Sinne einer absoluten Apodiktizität, einerabsoluten Sicherheit gegen Täuschungen versteht — einer Apodik-tizität, die ganz unbegreiflich einem aus dem konkreten wesenseinheit-lichen Zusammenhang eines subjektiven Erlebens herausgerissenenEinzelerleben zugeschrieben wird. Man sieht in ihr ein absolutesKriterium der Wahrheit, womit nicht nur alle äußere, sondern eigent-lich auch die innere Evidenz wegfallen müßte. Rekurriert man nungar in einer Art sensualitischer Unterschiebung auf sogenannteEvidenzgefühle — unfähig Evidenz als eine fungierende Inten-tionatität auszulegen -- so wird die immer doch der Evidenz zu-gemutete Erzielung der Wahrheit selbst zu einem Wunder, ja imGrunde zu einem Widersinn.

Man darf uns nicht etwa die berühmte Evidenz der „innerenWahrnehmung" als Gegeninstanz gegen diese Ausführungen vorhalten.Denn — wir werden davon noch zu sprechen haben 1) — die Selbst-gebung dieser Wahrnehmung für ihr „immanent Wahrgenommenes"ist für sich allein nur die Selbstgebung für eine Vorstufe eines Gegen-standes, nicht aber die eines Gegenstandes im eigentlichen Sinne.Wahrnehmung allein ist überhaupt keine volle objektivierendeLeistung, wenn darunter eben die Selbsterfassung eines Gegen-standes verstanden sein soll. Nur dadurch gilt uns die innere Wahr-nehmung als Selbsterfassung eines Gegenstandes, daß mögliche undbeliebig wiederholbare Wiedererinnerung stillschweigend in Rechnunggezogen ist. Aktualisiert gibt sie erst in vollem Sinne ursprüngliche

1) Vgl. unten § 107.

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Gewißheit vom Sein eines subjektiven Gegenstandes, genanntpsychisches Datum, als eines aus ursprünglicher Erwerbung beliebigIdentifizierbaren, als auf welches man „immer wieder" zurückkommenund es als dasselbe in Reaktivierung wiedererkennen kann. Natür-lich spielt die intentionale Mitbeziehung auf diese „Synthesis derRekognitio n" auch für jede äußere Gegenständlichkeit eine ähn-liche Rolle, womit aber keineswegs gesagt sein soll, daß dergleichenschon die volle Leistung äußerer Erfahrung ausmacht.

Evidenz bezeichnet, wie für uns durch die obigen Ausführungenschon sichtlich geworden ist, die int enti ona le Leistung derSelbstgebun g. Genauer gesprochen ist sie die allgemeine aus-gezeichnete Gestalt der „Intentionalität", des „Bewußtseins vonetwas", in der das in ihr bewußte Gegenständliche in der Weise desSelbsterfaßten, Selbstgesehenen, des bewußtseinsmäßigen Bei-ihm-selbst-seins bewußt ist. Wir können auch sagen, es ist das urtümlicheBewußtsein: „es selbst" erfasse ich, originaliter, im Kontrast z. B.gegen das Erfassen im Bilde, oder als sonstige anschauliche oder leereVormeinung.

Doch muß hier gleich darauf hingewiesen werden, daß dieEvidenz verschiedene Originalitätsmodi hat. Der Urmodus derSelbstgebung ist die Wahrnehmung. Das Dabei-sein ist fürmich als Wahrnehmenden bewußtseinsmäßig mein Jetzt-dabei-sein: ichselbst bei dem Wahrgenommenen selbst. Ein intentional ab-gewandelter und komplizierter gebauter Modus der Selbstgebung istdie nicht leer auftauchende sondern das „Selbst" wieder-verwirk-lichende Erinnerung: die klare Wiedererinnerung. Zu ihrem phäno-menologischen Bestande gehört es, daß sie in sich „reproduktives"Bewußtsein ist, Bewußtsein vom Gegenstande selbst als meines ver-gangenen, korrelativ gesprochen als des von mir (demselben, aber imModus „vergangen" reproduzierten Ich) wahrgenommen gewesenen,bei dem ich (das als Gegenwart für sich selbst aktuelle Ich) jetzt„wieder" bin — bei ihm selbst.

Hier sei, weil das beirren könnte 1), bemerkt, daß die Abwand-lung der Selbstgebung als Wahrnehmung und Wiedererinnerung fürreale und ideale Gegenständlichkeiten eine sehr verschiedeneRolle spielt. Das steht im Zusammenhang damit, daß die letzterenkeine sie individuierend bindende Zeitstelle haben.Jede klare, explizite Wiedererinnerung an ideale Spezies geht durcheine bloße, wesensmäßig mögliche Einstellungsänderung in eine

1) Wie es mich selbst in der Zeit der Logischen Untersuchungen beirrt hat.

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Wahrnehmung über, was natürlich bei zeitlich individuierten Gegen-ständen ausgeschlossen ist.

Unsere allgemeine Charakteristik der Evidenz stellen wir derüblichen nicht etwa gegenüber als eine neue „Theorie", als eine an-mutende Interpretation, die allererst und wer weiß wie zu erprobenwäre — am Ende gar durch Denkexperimente. Vielmehr als einedurch phänomenologische Entfaltung jeder Erfahrung und jeder wirk-lich betätigten „Einsicht" (die man grundlos ganz prinzipiell von dengewöhnlich sogenannten Erfahrungen scheidet) zu gewinnendeEvidenz höherer Stufe. Diese ihrerseits ist selbst wieder nur durcheine Evidenz dritter Stufe in ihrer Leistung auszulegen und zu ver-stehen, und so 'in infinitum. Nur sehend kann ich heraus-stellen, was in einem Sehen eigentlich vorliegt, ich mußein sehendes Explizieren des Eigenwesens solchenSehens vollziehen.

Jedes selbstgebende Bewußtsein kann eben darum, weil es seinGegenstlindliches als es selbst gibt, für ein anderes Bewußtsein, fürein bloß unklares oder gar verworrenes Meinen, oder für ein zwaransclianlichei, aber bloß vorverbildlichendes oder ein sonstiges nichtselbstgebendes Meinen Recht, Richtigkeit begründen; und zwar, wiewir schon früher zu beschreiben hatten 1), in Form der synthe-tisch en Adäquat ion an die „Sachen selbst", bzw. im Falle derUnrichtigkeit in Form der Inadäquation als der Evidenz derNichtigkeit. Insofern sind die Selbstgebungen, die evidentes Rechtschaffenden Akte, schöpferische Urstiftungen des Rechtes,der Wahrheit als Richtigkeit') — eben weil sie für die jeweiligenGegenständlichkeiten selbst als für uns seiende ursprünglich kon-stituierende, ursprünglich Sinn und Sein stiftende sind. Ebenso sinddie ursprünglichen Inadäquationen, als Selbstgebungen der Nichtig-keit, Urstiftungen der Falschheit, des Unrechtes als Unrichtigkeit(positio gewendet, der Wahrheit der Nichtigkeit, der Unrichtigkeit).Durch sie konstituiert sich nicht Gegenständlichkeit schlechthin, d.seiende, seitdem auf Grund vermeinter Gegenständlichkeit Durch-streichung solcher „Meinung", also ihr Nichtsein.

§ 60‚. Die Grundgesetzlichkeit der Intentionalität und dieuniversale Funktion der Evidenz.

Wir haben es vorhin schon berührt, daß die Selbstgebung, wiejedes einzelne intentionale Erlebnis, F unk tion ist im universalen

•i 141. 44, g 2) Vgl. 4 46,

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Bewußtseinszusammenhang. Ihre Leistung ist also nicht in der Einzel-heit abgeschlossen, auch nicht die als Selbstgebung, als Evidenz, sofernsie in ihrer eigenen Intentionalität implizite weitere Selbstgebungen„fordern", auf sie „verweisen" kann, ihre objektivierende Leistungzu vervollständigen. Lenken wir unseren Blick auf das Universale desBewußtseinslebens, um uns eine bedeutsame, die Evidenz allgemeinbetreffende Erkenntnis zuzueignen:

Intentionalität überhaupt — Erlebnis eines Bewußt-habens von irgend etwas — und Evidenz, Int en tionalitä tder Selbstgebung sind wesensmäßig zusammengehörige13 egriff e. Beschränken wir uns auf „setzendes", auf positionalesBewußtsein. Für das „neutrale" Bewußtsein modifiziert sich alles,was wir jetzt ausführen werden, in einer leicht verständlichen Weise;für die Evidenz tritt dann ein deren Als-ob-Modifikation, für dieAdäquatjan ebenso usw. Es gilt nun als Grundge se tzlichkeitder Intentionalität:

Jedwedes Bewußtsein von irgend etwas gehört a priori in eineoffen endlose Mannigfaltigkeit möglicher Bewußtseinsweisen„ die 'inder Einheitsform der Zusammengeltung (con -positiof synthetisch jezu ein e in Bewußtsein verknüpfbar sind als Bewußtsein von „ d ein -selbe n". Zu dieser Mannigfaltigkeit gehören wesensmäßig auchdie Modi eines mannigfaltigen, sich entsprechend einfügendenE vi denzbewußtSeins — und dies disjunktiv entweder alsevidente Selbsthabe von Demselben oder von einem Anderen, esevident aufhebenden.

So ist Evidenz eine universale, auf das gesamte Be-wußtseinsleben bezogene Weise der Intentionalität,durch sie hat es eine universale teleologische Struktur,ein Aalgelegtsein auf „Vernunft" und sogar eine durchgehendeTendenz dahin, also auf Ausweisung der Richtigkeit (und dann zu-gleich auf habituellen Erwerb derselben) und auf, Durchstreichungder Unrichtigkeiten (womit sie aufhören als erworbener Besitz zu

gelten).Nicht nur in Hinsicht auf diese universale teleologische Funktion

ist Evidenz ein Thema für weitreichende und schwierige Unter-suchungen. Sie betreffen schon das Allgemeine der Evidenz als ein-zelnen Erlebnisses, wohin die oben berührte Eigenheit gehört, daßin jedem evidenten Gegenstandsbewußtsein eine intentionale Ver-Weisung mitbeschlossen ist auf eine Synthesis der Rekognition. Siebetreffen ferner die Originalitätsmodi der Evidenz und ihre Funk-tionen, weiter die verschiedenen Regionen und Kategorien von -elegem

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ständlichkeiten selbst. Denn wenn wir mit der Charakteristik derEvidenz als Selbstgebung (oder von seiten des Subjektes gesprochender Selbsthabe) eines Gegenstandes eine auf alle Gegenständlichkeitenin gleicher Weise bezogene Allgemeinheit bezeichnet haben, so istdamit nicht etwa gemeint, daß die Struktur der Evidenz eine überallgleiche ist.

Kategorie der Gegenständlichkeit und Kategorieder Evidenz sind Korrelate. Zu jeder Grundart vonGegenständlichkeiten — als in intentionaler Synthesis durch-zuhaltender intentionaler Einheiten, letztlich von Einheiten möglicher„Erfahrung" — gehört eine Grundart der „Erfahrung",der Evidenz und ebenso des intentional indizierten Evidenzstilesin der evtl. Steigerung der Vollkommenheit der Selbsthabe.

Es erwächst so die große Aufgabe, alle diese Weisen derEvidenz zu durchforschen, die höchst komplizierten, zu synthetischerEinstimmigkeit zusammengehenden und auf immer neue vorweisendeLeistungen verständlich zu machen, in der die betreffende Gegen-ständlichkeit sich selbst und bald unvollkommener, bald voll-kommener zeigt. Von oben her die Evidenz und das „Selbst-vertrauen der Vernunft" bereden, ergibt hier nichts. Und an derTradition hängen bleiben, die aus längst vergessenen Motiven, undjedenfalls aus nie geklärten, die Evidenz auf apodiktische, absolutzweifellose und sozusagen in sich absolut fertige Einsicht reduziert,das heißt sich das Verständnis aller wissenschaftlichen Leistung ver-sperren. Nur darum muß beispielsweise die Naturwissenschaft aufäußere Er f ahrung bauen, weil diese Erfahrung eben der Modusder Selbsthabe von Naturobjekten ist, und ohne sie alsogar nichts mehr denkbar wäre, wonach naturales (raumdingliches)Meinen sich richten könnte. Und wieder nur weil unvollkommeneErfahrung doch Erfahrung, doch Bewußtsein der Selbsthabe ist, kannErfahrung sich nach Erfahrung richten und durch Erfahrung be-richtigen. Aus eben diesem Grunde ist es auch verkehrt, eine Kritikder -sinnlichen Erfahrung, die natürlich deren prinzipielle Unvoll-kommenheit (das ist ihr Angewiesensein auf weitere Erfahrung!)herausstellt, damit abzuschließen, daß man sie verwirft und dann inder Not auf Hypothesen und indirekte Schlüsse rekurriert, durch diedas Phantom eines transzendenten „Ansich" (eines widersinnig tran-szendenten) erhascht werden soll. Alle transzendental-realistischenTheorien mit ihren Schlüssen von der „immanenten" Sphäre rein„innerer" Erfahrung auf eine außerpsychische Transzendenz beruhenauf der Blindheit für das Eigentümliche der „äußeren" Erfahrung als

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einer selbstgebenden Leistung, die nur als solche Grundlage für natur-wissenschaftliche Theorien sein kann.

Ich finde nicht, daß man der zuerst in den Logischen Untersuchungen, II. Teildurchgeführten und in meinen „Ideen" vertieften Klärung der Evidenz und derganzen zugehörigen Verhältnisse zwischen bloßer „Intention" und „E r-f üllun g" eine hinreichende Beachtung geschenkt hätte. Sie ist sicherlich sehrder Vervollkommnung bedürftig, aber ich glaube doch, in dieser ersten Klärungeinen entscheidenden Fortschritt der Phänomenologie gegenüber der philoso-phischen Vergangenheit sehen zu dürfen. Ich bin der sicheren Oberzeugung, daßerst durch die aus ihr erwachsene Einsicht in das Wesen und die eigentlicheProblematik der Evidenz eine ernstlich wissenschaftliche Transzendentalphilosophie(„Vernunftkritik") möglich geworden ist, wie im Grunde auch eine ernstlichwissenschaftliche Psychologie, diese nämlich zentral gefaßt als Wissenschaft vomEigenwesen des Psychischen, als welches (wie Brent an o entdeckt hat), in derInt entiona lität liegt. Die neue Lehre hat freilich die Unbequemlichkeit, daßdie Berufung auf Evidenz aufhört, sozusagen ein Trick der erkenntnistheoretischenArgumentation zu sein, und dafür ungeheure Bereiche von evident faßbaren undlösbaren Aufgaben stellt, letztlich die Aufgaben der phänomenologischen Konsti-tution, worüber das 6. und 7. Kapitel näheres beibringen wird.

§ 61. Evidenz überhaupt in der Funktion aller, ob realen oderirrealen Gegenstände als synthetischer Einheiten.

Gehen wir nun wieder zurück zu den irrealen Gegenständlich-keiten und im besonderen zu denen der analytisch-logischen Sphäre,so haben wir im L Abschnitt die für sie in ihren verschiedenenSchichten rechtgebenden oder selbstgebenden Evidenzen kennen-gelernt. Für die irrealen Gegenständlichkeiten einer jeden Schichtsind das also die entsprechenden „Erfahrungen", und sie haben dieWesenseigenschaft aller Erfahrungen oder Evidenzenüberhaupt; nämlich daß sie in der Wiederholung der subjektiven Er-lebnisse, in der Aneinanderreihung und Synthesis verschiedener Er-fahrungen von Demselben, eben ein num e ris ch I d e ntischesund nicht bloß Gleiches evident sichtlich machen, den Gegen-stand, der da vielmals erfahrener ist, oder wie -wir auch sagen können,sein v ie lmalig e s (nach idealer Möglichkeit ein unendlich viel-maliges) „Auftrete n" im Bewußtseinsbereich haben. Unterschiebtman den idealen Gegenständlichkeiten die zeitlichen Vorkommnissedes Bewußtseinslebens, in denen sie „auftreten", so müßte man kon-sequenterweise das auch bei den Daten der Erfahrung tun. So sinddie psychischen Daten, die der „inneren" Erfahrung, als immanentzeitliche erfahren, also als intentional identische im Fluß der sub-jektiven temporalen Modi. Wir müßten ihnen also die immanenten

Russerl, Jahrbuch f. Philosophie. X. 10

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konstitutiven Zusammenhänge des „ursprünglichen Zeitbewußtseins" 1)

unterlegen.Doch leichter zugänglich ist das Konstitutive des Identischen der

äußeren Erfahrung. Auch die physischen Gegenstände treten „imBewußtseinsfeld" auf, dem allgemeinsten nach nicht anders wie dieidealen Gegenstände; nämlich in dem Fluß der mannigfaltigen, auf-einandergebauten Erscheinungsweisen als intentionale Einheiten,obschon im Modus des „selbst-gegeben". Sie sind in diesem Auf-treten innerhalb der Erfahrungserlebnisse diesen in einem gutenSinn immanent, wenngleich nicht im gewöhnlichen — der reellenImmanenz.

Es ist, wenn man die Leistung des Bewußtseins und im be-sonderen die der Evidenz verstehen will, nicht genug, hier und sonstvon der „Richtung" des Bewußtseins, insonderheit des erfahrenden,auf Gegenstände zu sprechen und allenfalls oberflächlich äußere undinnere Erfahrung, Ideation und dgl. zu unterscheiden. Man muß siehdie Bewußtseinsmannigfaltigkeiten, die unter diesenTitelnstehen, in phänomenologischer Reflexion zu Gesicht bringen und siestrukturell zergliedern. Man muß sie dann in den synthet is chenüb e r gängen verfolgen, bis in die elementarsten Strukturen hineinnach der intentionalen Rolle oder Funktion fragen. Man muß es ver-ständlich machen, wie sich in der Immanenz der Erlebnisraannigfaltig-keiten, bzw. der in ihnen wechselnd auftretenden Erscheinungsweisen,ihr Sichrichten-auf und das worauf sie sich richten, macht,und worin nun in der Sichtsphäre der synthetischen Er-fahrung s elb st der transzendente Gegenstand besteht — alsder den einzelnen Erlebnissen immanente und dochin der sie übersteigenden Identität transzendenteI den titätspo 1. Es ist Selbstgebung und doch Selbstgebung von„Transzendentem", von einem zunächst „un best im m t" selbst-gegebenen Identitätspol, der sich in der anschließend fortzuführendenSelbstgebung der synthetischen Form der „Explikation" auslegt in„seine" wiederum ideal-identischen „Bestimmungen". Aber dieseTranaz en den z lie gt in der Weise ursprünglicher Stiftung imEigenwesen der Erfahrung selbst. Was sie bedeutet, kannman nur ihr allein abfragen, so wie man (was übrigens selbst inunseren Bereich gehört), was ein juristisches Besitzrecht jeweils

1) Vgl. hinsichtlich der Analyse der Konstitution zeitlicher Daten meine Vor-lesungen über Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, herausgegeben vonM. Heidegger. Dieses Jahrbuch, gd.IX.

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bedeutet und ausweist, nur erfragen kann durch Rückgang auf dieUrstiftung dieses Rechtes.

Man muß also diese große und so viel mißachtete Selbstverständ-lichkeit in den Mittelpunkt aller prinzipiellen Besinnungen stellen,daß so etwas wie ein Gegenstand (z. B. auch ein physischer) den ihmeigentümlichen ontischen Sinn (durch den er dann in allen mög-lichen Bewußtseinsweisen bedeutet, was er bedeutet) ursprüng-lich nur schöpft aus den Erlebnisprozessen derErfahrung, als solchen eben, die in sich charakterisiert sind alsBewußt-haben im Modus „Es-selbst", als Selbst-Erscheinungen einesEtwas, als uns Selbst-entgegentreten in Seinsgewißheit (im Beispielvon physischen Gegenständen). Die Ur f orm ist dabei das S c h-selbst-ge gen wärtig-zeigen der Wahrnehmung, oder desSich-,,wieder"-zeigen der Wiedererinnerung im Modus desVergangen.

Erfahrung ist die Urstiftung des Für-uns-seins vonGegenständen ihres gegenständlichen Sinnes. Das giltoffenbar ganz ebenso für die irrealen Gegenstände, ob sie denCharakter der Idealität des Spezifischen haben oder der Idealitäteines Urteils, oder die einer Symphonie usw. überall, also auch fürdie äußere Erfahrung, gilt es, daß evidente Selbstgebung zu charak-terisieren ist als ein Prozeß der Konstitution, eines Sichbildens desErfahrungsgegenstandes — freilich eine zunächst nur beschränkteKonstitution, da ja der Gegenstand auch über die Mannigfaltigkeitender aktuellen Erfahrung hinaus ein Dasein beansprucht und auchdieses Moment seines Seinssinnes seine konstitutive Aufklärungfordert und vermöge der in der Erfahrung selbst implizierten undjeweils zu enthüllenden Intentionalität ermöglicht. In den kontinuier-lichen und diskreten Synthesen mannigfaltiger Erfahrungen baut sichwesensmäßig der Erfahrungsgegenstand als solcher „sichtlich" auf, indem wechselnden Sichzeigen immer neuer Seiten, immer neuer ihmeigenwesentlicher Momente, und aus diesem aufbauenden Leben, dasseinen möglichen Verlauf der Einstimmigkeit vorzeichnet, schöpfensie und schöpft der Gegenstand selbst (als nur so wechselnd sichzeigender) seinen Sinn als das dabei Identische möglicher und nachder Verwirklichung zu wiederholender Selbstbildungen. Auch hierist diese Identität evident, bzw. ist evident, daß der Gegenstandnicht selbst der ihn konstituierende wirkliche und offen möglicheErfahrungsprözeß ist, geschweige denn die damit sich verbindendeevidente Möglichkeit wiederholender Synthesis (als Möglichkeit des„ich kann").

10*

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§ 62. Die Idealität aller Arten von Gegenständlichkeiten gegen-über dem konstituierenden Bewußtsein. Die positivistische Miß-

deutung der Natur als eine Art Psychologismus.

Danach liegt also im Sinne eines jeden erfahrbaren Gegenstandes,auch eines physischen, eine gewisse Idealität — gegenüber denmannigfaltigen, durch immanent zeitliche Individuation getrennten„psychischen" Prozessen, denen des erfahrenden Erlebens und dannauch Erlebenkönnens, schließlich des Bewußtwerdenkönnens oderBewußtwerdens jedweder auch nicht erfahrenden Art. Es ist d ieallgemeine Idealität aller intentionalen Einheitengegenüber den sie konstituierenden Ma n nig f a 1 tigk eiten.

Darin besteht die „Transzendenz" aller Arten vonGegenständlichkeiten gegenüber dem Bewußtsein vonihnen (und in entsprechend geänderter, aber zugehöriger Weise desjeweiligen Bewußtseins-Ich, verstanden als Subjektpol des Bewußtseins.

Wenn wir darum doch immanente von transzendentenGegens tä n d en scheiden, so kann das also nur eine Scheidunginnerhalb dieses weitesten Transzendenzbegriffes besagen. Aberdas ändert nichts daran, daß auch die Transzendenz des Realen undin höchster Stufe des intersubjektiven Realen (des Objektiven ineinem ausgezeichneten Sinne) sich ausschließlich in der immanentenSphäre, der der Bewußtseinsmannigfaltigkeiten, nach Sein und Sinnkonstituiert, und daß seine Transzendenz als Reales einebesondere Gestalt der „Idealität" ist oder besser einerpsychischen Irrealität, eines in der rein phänomenologischenBewußtseinssphäre selbst Auftretenden oder möglicherweiseAuftretenden mit allem, was ihm eigenwesentlich zugehört, unddoch so, daß es evidenterweise kein reelles Stück oderMo m ent de s B ewußtseins, kein reelles psychisches Datum ist.

Wir finden demgemäß ein genaues Analogon der psycho-logistischen Interpretation der logischen und aller son-stigen Irrealität en (wir könnten sagen der erweiterten Region derplatonischen Ideen) in jenem bekannten Typus des P osi ti v ismus,den -Wir auch als Humanismus bezeichnen dürften. Er wird z. B.durch die Ma eh sehe Philosophie und die „Philosophie des Als ob"vertreten — obschon in einer Weise, die, was die Ursprünglichkeitund Tiefe der Problematik anbelangt, hinter Hume weit zurück-bleibt. Die Dinge reduzieren sich für diesen Positivismus aufempirisch geregelte Komplexe psychischer Daten (der „Empfin-dungen"), ihre Identität und damit ihr ganzer Seinssinn wird. zu

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einer bloßen Fiktion. Es ist eine nicht bloß falsche, gegen die phäno-menologischen Wesensbestände völlig blinde Lehre, sondern sie istauch dadurch widersinnig, daß sie nicht sieht, wie selbst Fiktionenihre Seinsart haben, ihre Weise der Evidenz, ihre Weise Einheitenvon Mannigfaltigkeiten zu sein, und wie sie somit dasselbe Problemmit sich führen, das durch sie wegtheoretisiert werden sollte.

§ 63. Ursprünglich erzeugende Aktivität als die Selbstgebung derlogischen Gebilde und der Sinn der Rede von ihrer Erzeugung.

Wir haben oft von einem Erzeugen der logischen Ge-bilde im Bewußtsein gesprochen. Es ist bei dieser Rede vor einemMißverständnis zu warnen, das mutatis mutandis alle Rede von Kon-stitution von Gegenständlichkeiten im Bewußtsein betrifft.

Wo wir sonst von einem Erzeugen sprechen, beziehen wir unsauf eine reale Sphäre. Wir meinen damit ein handelndes Hervor-bringen von realen Dingen oder Vorgängen: Reales, das im umwelt-lichen Kreise schon da ist, wird zweckentsprechend behandelt, um-geordnet oder umgestaltet. In unserem Falle aber haben wir irrealeGegenstände vor uns, gegeben in realen psychischen Vorgängen,irreale, die wir in einer auf sie, und keineswegs auf die p s y -chisehen Rea litäten gerichteten praktischen Thematik be-handeln, handelnd so und so gestalten. Nicht also wie wenn diesabgeschwächt werden dürfte, daß hier und ganz ernstlich eingestaltendes Tun, ein Handeln, ein praktisch auf Ziele oderZwecke Gerichtetsein statthätte, als ob nicht wirklich hier aus einemschon praktisch Vorgegebenen ein Neues zwecktätig erzeugt würde.In der Tat, das Urteilen (und in seiner Ursprünglichkeit in be-sonderer Weise natürlich das erkennende Urteilen) ist auchHandel n, nur eben prinzipiell nicht ein Behandeln von Realem,wie sehr selbstverständlicherweise jedwedes Handeln selbst einpsychisch Reales ist (ein objektiv Reales, wo wir das Urteilen in derpsychologischen Einstellung als menschliche Aktivität nehmen). Aberdieses Handeln hat von Anfang an und in allen seinen Stufen-gestaltungen ausschließlich Irreales in seiner thematischen Sphäre; imUrteilen wird ein Irreales intentional konstituiert. In der aktivenBildung von neuen Urteilen aus schon vorgegebenen sind wir ernstlicherzeugend tätig. Wie bei allem Handeln sind die Handlungsziele, diezu erzeugenden neuen Urteile im voraus in Modis einer leeren, in-haltlich noch unbestimmten und jedenfalls noch unerfüllten Anti-

zipation uns bewußt, als das, worauf wir hinstrebe4U4 wae zur vor-

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wirklichenden Selbstgegebenheit zu bringen, eben das sich schrittweisevollendende Handeln ausmacht.

Was hier „behandelt" wird, sind also keine Realitäten: an demeigentümlichen Sinn idealer Gegenständlichkeiten, uns in eigenerEvidenz, wie gesagt, genau so ursprünglich gewiß zu sein wie realeGegenständlichkeiten aus der Erfahrung, ist nicht zu rütteln. Anderseitsaber ebensowenig daran, daß auch sie erzeugbare Ziele- Endziele undMittel sind, und daß sie sind, was sie sind, nur .,a ne" ursprünglicherErzeugung. Das sagt aber keineswegs, sie sind, was sie sind- nur i nund während der ursprünglichen Erzeugung. Sind sie „in" derursprünglichen Erzeugung, so sagt das, sie sind in ihr als einer ge-wissen Intentionalität von der Form spontaner Aktivitätbewußt, und zwar im Modus des o r i gi aalen Se lbs t. Diese G e -g eb en h eit sw eise ans solcher ursprünglichen Aktivitätist nichts anders als die ihr eigene Art der„Wahrnehanung".Oder was dasselbe, diese ursprünglich erwerbende Aktivität ist die„Evidenz" für diese Idealitäten. Evidenz, ganz allgemein,ist eben nichts anderes als die Bewußtseinsweise, die evtl. als außer-ordentlich komplexe Stufenfolge sieh aufbauend, ihre intentionaleGegenständlichkeit im Modus des originalen „es selbst" darbietet.Diese evident machende Bewußtseinstätigkeit — hier eine schwierigzu erforschende spontane Aktivität — ist die „ursprüngliche Konsti-tution", prägnanter gesprochen, die urstiftende der idealen Gegen-ständlichkeiten der logischen Art.

§ 64. Der Seinsvorzug der realen vor den irrealen Gegenständen.

Zum Abschluß dieser Untersuchung sei noch beigefügt, daßmanche heftige, über unsere phänomenologischen Befunde freilichwegsehende Opposition aus einem Mißverständnis des Sinnes unsererGleichstellung der idealen Gegenständlichkeiten und auch der kate-gorialen Abwandlungen der Realitäten (wie der Sachverhalte) mitdiesen selbst erwächst. Für uns handelte es sich bloß um das Recht desweitesten Sinnes „Gegenstand-überhaupt" oder Etwas-überhaupt und korrelativ des allgemeinsten Sinnes derEvidenz als Selbstgebung. In einer anderen Hinsicht als der derrechtmäßigen Subsumption der Ideen unter den Begriff des Gegen-standes und damit des Substrates möglicher Prädikationen bestehtzwischen realen und idealen Gegenständlichkeiten keineswegs eineGleichordnung, wie sich gerade auf Grund unserer Lehre verstehenläßt. Realität hat einen Seinsvorzug vor jedweder

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Irrealitä t, sofern alle Irrealitäten wesensmäßig auf wirklicheoder mögliche Realität zurückbezogen sind. Diese Beziehungen all-seitig zu überschauen und den Totalzusammenhang alles wirklichund möglicherweise Seienden, der Realitäten und Irrealitäten, zursystematischen Erkenntnis zu bringen, das führt auf die oberstenphilosophischen Probleme, auf die einer universalen Ontologie.

§ 65. Ein allgemeinerer Begriff von Psychologismus.

Die außerordentliche Erweiterung und zugleich Radikalisierungder Widerlegung des logischen Psychologismus, die wir in der vor-stehenden Untersuchung vollzogen haben, brachte uns auch eineäußerste Verallgemeinerung der Idee des Psycholo-gismus, und zwar eines ganz bestimmten — nicht des ein-zigen — Sinnes. Er ist dadurch zu kennzeichnen, daß irgendeineArt evident zu machender Gegenständlichkeiten — oder gar alleArten, wie das in der Hume sehen Philosophie der Fall ist —psychologisiert werden, weil sie sich, wie selbstverständlich,bewußtseinsmäßig konstituieren, also durch Erfahrung oder damitsich verflechtende andere Bewußtseinsweisen ihren Seinssinn inder Subjektivität und für sie aufbauen. Sie werden „psychologisiert",besagt, es wird ihr gegenständlicher Sinn, ihr Sinn als eineArt von Gegenständen eigentümlichen Wesens negiert zu-gunsten der subjektiven Erlebnisse, der Daten in derimmanenten bzw. psychologischen Zeitlichkeit.

Doch kommt es hier nicht darauf an, ob man diese Daten alsirreale Daten im Sinne der Psychologie (einer Wissenschaft vonden Menschen und Tieren als objektiven Realitäten) oder als Dateneiner wie immer davon zu unterscheidenden „t ranszendentalen"(allen objektiven Realitäten, auch den menschlichen Subjekten voran-gehenden) Subjektivität ansieht, und im letzteren Falle, ob alseinen Haufen absolut gesetzter Empfindungen, oder als intentionaleErlebnisse in der teleologischen Einheit eines konkreten Ich und einerIchgemeinschaft. Allerdings paßt der Ausdruck Psychologismus mehrauf jede Umdeutung in eigentlich Psychologisches, was auch denprägnanten Sinn von Psychologismus bestimmen müßte.

§ 66. Psychologistischer und phänomenologischer Idealismus.Analytische und transzendentale Kritik der Erkenntnis.

Dieser so allgemein und sogar absichtlich zwitterhaft gefaßte

Psychologismus iet der Grundcharakter jedes sehleehten „Ich-

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alismus" (lucus a non lucendo!), wie des Berk eley sehen oderHume sehen. Er reicht jedoch über den gewöhnlichen Begriff, denman mit dem Worte Idealismus zu verknüpfen pflegt, weit hinaus,da dieser Begriff gerade die echten Idealitäten der erweitertenPlaton is chen Sphäre nicht zu berücksichtigen pflegt (wobei derHume sehe allerdings auszunehmen ist). Man darf diesen Idealismusaber ja nicht verwechseln, wie das von oberflächlichen Lesern meinerSchriften (auch phänomenologischen Lesern) immer wieder geschieht,mit dem von mir ausgebildeten p hänom en olo gi schen Ide-alismus, der gerade durch die radikale Kritik jenes Psychologismusauf Grund einer phänomenologischen Aufklärung der Evidenz seinengrundverschiedenen neuen Sinn erhält.

Zur Charakteristik des phänomenologischen Idealismus kannauch folgendes hierher Gehörige dienen.

Jedes „Sehen", bzw. jedes in „Evidenz" Identifizierte hat seineigenes Recht, desgleichen jedes in sich geschlossene Reich möglicher„Erfahrung" als Gebiet einer Wissenschaft, als ihr T hem a imerst en und eigentlichsten Sinne. Dabei gehört zu einer jeden einesekundär thematische Sphäre, die Sphäre ihrer Kritik:Es ist eine Kritik der Erkenntnis in einem ersten Sinne, nämlichbezogen auf die idealen Erkenntnisergebnisse — die der „Theorie" —und in subjektiver Richtung bezogen auf das in korrelativem SinneIdeale, nämlich auf das zu diesen Idealitäten gehörige Handeln(Schließen, Beweisen). Durch diese Kritik, die wir als a na I yt is cheKritik der Erkenntnis bezeichnen können, erhält jede Wissen-schaft ihre Beziehung zur Analytik als universaler Wissenschaft derTheorie in formaler Allgemeinheit, und korrelativ zur entsprechendbegrenzten analytischen Kunstlehre.

Endlich hat aber jede Wissenschaft eine dr it t e themat ischeSphäre, ebenfalls eine solche der Kritik, aber einer andersgewendete n. Diese betrifft die zu jedem Gebiet und jeder mitihm beschäftigten wissenschaftlichen Leistung zugehörige k onsti-tuier ende Subjektivität. Gegenüber der Kritik der offensicht-lich im Bewußtseinsfelde auftretenden Vorgegebenheiten, Handlungenund Ergebnisse haben wir es hier mit einer ganz anders geartetenErkenntniskritik, der der konstitutiven Ursprungsquellen ihres posi-tionalen Sinnes und Rechtes zu tun, also der Kritik der im gerade-hin dem Gebiet zugewandten Forschen und Theoretisieren v e r -b org enen Leistungen. Es ist die Kritik der (sei es psychologischoder transzendental gefaßten) „V ernunf t", oder wie wir im Gegen-satz zur analytischen Erkenntniskritik sagen können, die tr auszen-

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dentale Kritik der Erkenntnis. Das gilt für die Logik wie fürjede Wissenschaft, und wir hatten es in den allgemeinen Vorbetrach-tungen unter dem Titel der Zweiseitigkeit der logischen Thematikschon behauptet, nur nicht so deutlich wie hier präzisieren können.

§ 67. Der Einwand des Psychologismus als Unverständnis dernotwendigen logischen Funktion der transzendentalen Erkennt-

niskritik.

Eben dagegen hatte sich nun, wie wir uns erinnern, der Ein.wand des Psychologis zu u s gerichtet — in Hinsicht auf dieLogischen Untersuchungen, daß sie in den Prolegomena den Psycho-Iogismus bekämpften und doch im II. Teil in Untersuchungen derphänomenologischen Subjektivität übergingen, in Untersuchungenüber die intentionalen Strukturen von Aussagen und Bedeuten, vonVorstellung und Vorstellungsinhalt (Sinn), von Wahrnehmung undWahrnehmungssinn, von Urteilen und vermeintem Sachverhalt, vonkategorialen Akten und der Konstitution der kategorialen Gegen-ständlichkeiten gegenüber den sinnlichen, von symbolisch-leeremBewußtsein gegenüber intuitivem, von den intentionalen Verhältnissender bloßen Intention und Erfüllung, von Evidenzbewußtsein, vonAdäquation, von der Konstitution wahren Seins und prädikativerWahrheit usw. Derartige „deskriptiv psychologische" Forschungender Erkenntnispsychologie seien psychologistische Überschreitungeneiner reinen Logik. So wandte man ein, während erkenntniskritischeForschungen in bezug auf alle Wissenschaft (und wohl auch in bezugauf die Logik) damit nicht abgelehnt sein sollten. Sie stehen ja aufallen Seiten in hohem Ansehen. Aber sie gehören, meinte man, ineine ganz andere Linie, sie dürfen nicht das konkret wirkliche undmögliche Erkenntnisleben, nicht seine intentionale Analyse sich zurAufgabe stellen. Das sei Psychologie und bedeute einen erkenntnis-theoretischen Psychologismus.

Im Sinne solcher Kritik und der herrschenden Auffassung über-haupt liegt es, daß man.Wissenschaft und Vernunftkritiktrenn t, daß man der Wissenschaft ein eigenes Dasein in eigenemRecht zubilligt und die Vernunftkritik als eine auf alle Wissenschaftbezogene neuartige Wissenschaft höherer Dignität faßt, die dochdas rechtmäßige Eigensein der Wissenschaften nicht stört. So erstrecht für die analytische Logik; sie gilt vorweg als absolute Norm,die alle vernünftige Erkenntnis voraussetzt. Den Wert meiner Kritikdes logischen Psychologismus (und aller ähnlichen früheren und

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späteren Kritiken) sieht man gerade in der Herausstellung einer vonaller Psychologie zu sondernden reinen (analytischen) Logik als einereigenständigen Wissenschaft, darin gleich der Geometrie oderNaturwissenschaft. Auf sie bezügliche vernunftkritische Fragen mages gehen, aber sie haben nicht ihren eigenen Gang zu stören, undauch sie dürfen beileibe nicht in die Konkretion des logischen Be-wußtseinsIebens eingehen, denn das wäre Psychologie.

Halten wir demgegenüber zunächst im Auge, daß der Kampfgegen den logischen Psychologismus in der Tat keinen anderen Zweckhaben sollte als den höchst wichtigen, das eigentümliche Gebietder analytischen Logik in seiner Reinheit und idealen Eigenheit sicht-lich zu machen, es von den psychologisierenden Vermengungen undMißdeutungen zu befreien, in die es von Anfang an verstrickt warund verstrickt blieb. Ihr Gebiet — das besagt ihr thematisches Feldin dem ersten und Hauptsinn, ähnlich wie ein solches eine jedeWissenschaft hat. Das schließt doch nicht aus, daß sekundär — imDienste der Erkenntnis des Gebietes — auch solches thematisch wird,was nicht zum Gebiet gehört, aber mit ihm in Wesenszusammenhangsteht. Das gilt ja bereits, wie früher schon berührt wurde, für das ersteFeld der für alle Wissenschaft unentbehrlichen ..analytischen - Kritik,nämlich für das Feld ihrer Theorie, und ihrer auf das Gebiet bezogenenUrteile überhaupt sowie der entsprechenden idealen Handlungen.

Und sollte nun nicht ähnliches gelten können und müssenfür das gesamte Feld der intentionalen Akte, der Erscheinungsweisen,jedweder Bewußtseinsmodi, in denen das wissenschaftliche Gebietund seine Gegenstände und gegenständlichen Zusammenhänge für denUrteilenden vorgegeben sind, und desgleichen derjenigen, in denendas ganze auf das Gebiet bezogene theoretische Leben und Strebensich intentional abspielt, in denen sich Theorie und wissenschaftlichwahrhaftes Sein des Gebietes intentional konstituiert? Sollte hiernicht in der Tat ebenfalls ein Feld einer für alle Wissenschaften not-wendigen Kritik sein, einer transzendentalen Kritik — notwendigwenn sie überhaupt sollen echte Wissenschaften sein können? Läßtsich dies einsichtig machen und das große Aufgabenfeld dieser letztenund tiefsten Kritik entfalten, so wäre damit natürlich der Logikgedient; denn sie als universale und nicht bloß analytische Wissen-schaftslehre (als bloße rnathesis universalis) wäre wie auf echteWissenschaften überhaupt nach ihren allgemeinen Wesensmöglich-keiten, so auf jedwede ihnen und ihrer Echtheit zugehörige Kritik,und wieder nach deren Wesensallgemeinheiten, bezogen. A 1 1 -gemeine Wissenschaftstheorie ist eo ipso allgemeine

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Theorie der echter Wissenschaft als solcher eigen-wesentlichen Kritik, sei es Kritik der Urteile als Gebilde, alsidealer Bestände ihrer idealen Theorie, sei es als Kritik des inten-tionalen, Gebiet und Theorie konstituierenden Lebens.

Wir haben hier nicht nach irgendwelchen überlieferten oder jetztgeltenden Vernunftkritiken zu fragen und nach den sie lähmendenÄngsten vor einer unter dem Titel Psychologismus verpönten kon-kreten Betrachtung der Erkenntnissubjektivität, vor jedwedem Ein-beziehen von Psychologie in wissenschaftstheoretische Betrachtungen.Wir fragen nur nach dem, was zur Wesensmöglichkeit echter Wissen-schaft gehört. Sollte die konstitutive Bewußtseinsforschung, die aufdie gesamte Teleologie der zum Erkenntnisleben gehörigen Inten-tionalitäten gerichtete, für die Ermöglichung der Echtheit der Wissen-schaften als wesensnotwendig erweisbar sein, so müßte sie für unsgelten. Und sollte in dieser Hinsicht doch noch einem „Psyche-logismus" zu wehren sein (einem Psychologismus anderen Sinnes alsden wir bisher behandelt haben, obschon eines mit jenem verfloch-tenen Sinnes), so müßte uns das aus der Erwägung der logischenErfordernisse selbst zuwachsen. Ohne jede Verbindlichkeit wollenwir im weiteren die nach ihrer wesentlichen Funktion erst zu klä-rende subjektive, deutlicher die intentional-konstitutive Thematik alsphänomenologische bezeichnen.

§ 68. Vorblick auf die weiteren Aufgaben.

Die zu klärende Sache ist für uns verwickelt, weil die Logik selbsteine Wissenschaft ist und als solche ebenfalls solcher Kritik bedürfenwürde, und weil sie anderseits in ihrer Beziehung auf den offenenUmfang möglicher Wissenschaften diejenige Wissenschaft sein soll, dievon diesen für alle Wissenschaften notwendigen subjektiven kritischenForschungen als Thema zu handeln hat, obschon in einer alle Wissen-schaften ineins betreffenden Allgemeinheit. Beides fällt nicht ohneweiteres zusammen. Denn wenn die Logik, und zwar die für unsjetzt allein sicher umgrenzte formale Analytik, ihre erste thematischeSphäre in den Formen der kategorialen Urteils- und Gegenstands-gebilde hat und nur umfangsmäßig bezogen ist auf die unter diesenFormen stehenden Gebilde aller Wissenschaften, so haben wir fürdie Logik eben die ihr eigentümlichen konstitutiven Probleme, welchedie subjektive Bildung der allgemeinen kategorialen Formen betreffenund zunächst ihre obersten regionalen Begriffe wie Urteil-überhaupt,Gegenständlichkeit-überhaupt. Für die einzelnen Wissenschaften

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kommen diese Probleme allerdings auch in Betracht, aber erst aufdem Wege über die Logik als ihrer Methode. Nämlich wofern ebenzu zeigen ist, daß Echtheit der Wissenschaft nur Echtheit auf Grundbewußter Normierung durch die logischen Prinzipien sein kann, daßalso, wie wir es vorweg in der Einleitung behauptet aber erst durchdas Weitere wirklich zu begründen haben, die Logik nicht nur eineeigene Wissenschaft ist neben den anderen, sondern zugleich Grund-stück der Methode für jede zu ermöglichende Wissenschaft überhaupt.

Jedenfalls ist es nach all den bisher durchgeführten Unter-suchungen zur radikalen Klärung und kritischen Sicherung des eigen-tümlichen Gebietes der Analytik und der in ihr sich scheidendenGebiete unsere nächste Aufgabe, die weiteren Untersuchungen vorerstauf die Klärung der für diese Analytik gefordertensubjektiven Untersuchungen und ihrer Notwendigkeit zurichten. Die in weiterer Konsequenz erforderlichen Untersuchungenzur Ausgestaltung der Idee einer formalen zu der einer realen undschließlich einer absoluten Ontologie werden uns von selbst auf dienoch ausstehende wirkliche Klärung des echten Sinnes eines tran-szendentalen Psychologismus führen, dem man keineswegs schon ver-fallen ist, wenn man die formale Logik auf intentionale Forschungengründet und ebenso die positiven Wissenschaften auf eine in solchenForschungen verlaufende Erkenntnistheorie.

2. Kapitel.

Ausgangsfragen der transzendental-logischenProblematik: Die Grundbegriffsprobleme.

§ 69. Die logischen Gebilde in gerader Evidenz gegeben. DieAufgabe der reflektiven Thematisierung dieser Evidenz.

Trotz der Mißdeutungen oder Verhüllungen der analytischenSphäre liegt die analytische Logik doch längst vor, hinsichtlich der imengeren Sinne formal-mathematischen Disziplinen sogar in hoch ent-wickelter Gestalt. An einer Evidenz in der Bildung der logischenKategorien und der differenzierten Formen kann es also nicht gefehlthaben und ihr Wert stand ja zu allen Zeiten in einer besonderenSchätzung. Trotzdem ist sie nichts weniger als musterhaft. Mit demGebrauch dieses Wortes haben wir zugleich schon ausgedrückt, daßdiese Evidenz — daß Evidenz überhaupt — reflektiv zu betrachten,zu analysieren, umzugestalten, zu reinigen und zu bessern ist und daßsie dann evtl. zum Muster, zur Norm eenoramen werden kann undgenommen werden soll,

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In einer geraden Evidenz sind die logischen Gebilde undihre allgemeinen Formen zunächst gegeben und das ist das notwendigErste. Aber nun ist gefordert die thematische Reflexion aufdiese Evidenz, das ist auf die vordem in unthematischer Naivitätgeradehin vollzogene bildende Aktivität. Es gilt dabei die in ihrzunächst allein „gegebenen" Gebilde und allgemeinen Formen (Ge-bilde höherer Stufe) zu „klären", um aus der Aufklärung der aufihren gegenständlichen Sinn ursprünglich abzielenden und ihn ver-wirklichenden Intentionalität diesen selbst in der rechten Weisefassen, umgrenzen und seine Identität sichern zu können gegen allein der Naivität möglichen Verschiebungen und Verhüllungen. Mitanderen Worten, in jedem leistenden Tun liegt Intention und Ver-wirklichung; man kann dieses Tun und was darin liegt selbst be-trachten, sich der Identität seines Abscheus und der es erfüllendenVerwirklichung versichern. Im naiven Absehen und Tun kann sichdie Zielung verschieben, und ebenso in der naiven Wiederholung undim sonstigen Rückgang auf das vorher Erstrebte und Erzielte. Soauch in der im Zusammenhang der naiven Aktionen des Logikers ver-laufenden Thematisierung. In der Reflexion von den geradehin alleingegebenen Themen (den sich evtl. sehr wesentlich verschiebenden) aufdie sie in Abzielung und Erfüllung konstituierende Aktivität — dievordem im naiven Tun verborgen, oder wir wir auch sagen können,„anonym" bleibt und erst jetzt zum eigenen Thema wird — befragenwir hinterher die betreffende Aktivität. Das heißt, wir befragendie eben damit aufgeweckte Evidenz nach dem, worauf siezielt und was sie erworben hat, und in der Evidenz höhererStufe identifizieren und fixieren wir bzw. verfolgen wir die möglichen Ab-wandlungen sonst unmerklicher thematischer Schwankungen und unter-scheiden wir die zugehörigen Zielungen und Verwirklichungen, mitanderen Worten, die sich verschiebenden logischen Begriffsbildungen.

§ 70. Der Sinn der geforderten Klärungen als konstitutiverUrsprungsforschung.

a) Verschiebung der intentionalen Abzielungen undÄquivokation.

Man sagt hier oft (und auch ich habe es früher' ) so ausgedrückt),

daß es gelte, der Gefahr der Äquivokation zu begegnen. Es

1) Vgl. z. B. die Einleitung zum II. Teil der Log. Unters. (in der 2. und den

späteren Auflagen) S. 7.

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ist aber zu beachten, daß es sich hier nicht um geprägte Äquivoka-tionen handelt, derart, daß man bloß den Worten und Wort-bedeutungen nachgehen sollte und könnte. Vielmehr handelt es sichum innere und dabei durch Wesenszusammenhänge verbundene undgeforderte Verschiebungen der Intentionalität und ihrerLeistung. Als deren Folge ergibt sich dann die sprachliche Äquivoka-tion, und zwar so, daß diese nicht im Haften an dem Sprachlichenselbst, in der Befragung ihrer assoziativen Bedeutungszielungen auf-gelöst werden könnte, sondern nur aufgelöst, als Äquivokation nurformuliert werden kann durch jene refiektive Befragung der inten-tionalen Abzielungen und der in ihrer Auswirkung sich vollziehendenursprünglichen Konstitution der Gebilde.

Eine Illustration, aber zugleich eine weiterführende Ergänzungzu dem eben Dargestellten bieten die ganzen Untersuchungen, die wirim Interesse der Klärung des logischen Gebietes durchgeführt haben.Ihre Unentbehrlichkeit im Interesse einer ernstlich wissenschaftlichenLogik ist zweifellos. Denn wie sollte eine solche möglich werden beider Verworrenheit der ihr ursprünglich zugehörigen Thematik? Nichtnur, daß ihrer psychologistischen Umdeutung ein Ende gemachtwerden mußte, es bedurfte auch für die schon rein gefaßte logischeSphäre jener schwierigen Untersuchungen, die ihre Dreischichtungallein evident machen konnten. Diese Untersuchungen warenaus u s subjektiv-phänomenologisch gerichtet; sie betrafendie Kontrastierung von dreierlei Einstellungen im Urteilen, bei derenWechsel sich die Richtung wirklicher und möglicher Identifizierung —die gegenständliche Richtung — änderte, den Nachweis von dreierleiEvidenzen, ihnen entsprechend dreierlei Weisen leerer Vorintentionund Erfüllung, und danach ursprünglich sich scheidenden Begriffenvon Urteil. Hier handelt es sich um eine Begriffsverschiebung undÄquivokation, die sich im Denken der Logiker nicht aus zufälligensondern aus Wesensgründen vollzog und die verborgen bleiben mußte,weil sie selbst mit gehörte zur thematischen Einheit ihres „geraden"Denkens in der Richtung auf die Kritik der Urteile an der Norm derWahrheit; genauer gesprochen, sie mußte verborgen bleiben, weil dieFrage nach den formalen Bedingungen zu ermöglichender wahrerUrteile notwendig in den systematischen Stufen verlaufen mußte, diewir als Formenlehre der Urteile, 'als Konsequenzlehre und als Wahr-heitslehre unterscheiden.

Hier, sehen wir, handelt es sich nicht bloß überhaupt um eineunvermerkt sich vollziehende Sinneswandlung, sondern um eine solcheganz ausgezeichneten und besonders wichtigen Typus: die Wand-

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lung ist zugleich Überschiebung und Deckung; letzteressofern die Urteilseinheit der niederen Stufe zugleich in die höhereStufe in Identifikation eingeht, wobei das Neue der höheren Stufe (sodie Deutlichkeit oder Eigentlichkeit des Urteils oder aber die Fülleder Evidenz) jeweils als eigenes Prädikat gefaßt werden muß. In derEinheit des logischen Denkens haben alle Stufeneinheiten ihre Denk-und Erkenntnisfunktionen, die Einstellung kann daher wechseln unddamit der Sinn der durch die Deckung durchgehenden und dochwieder sich wandelnden Einheit").

b) Klärung der zu scheidenden Grundbegriffe der logischenDisziplinen als Enthüllung der verborgenen subjektiven

Bildungsmethode und als Kritik derselben.

So ist die sprachliche Äquivokation in gewisser Weise einewesensnotwendige, anderseits aber ihre Auflösung und Beherrschung,die grundsätzliche Unterscheidung der drei Urteilseinheitenund der auf sie bezogenen Grundbegrif f e eine absolute Not-wendigkeit für eine Logik, die doch ihre thematischen Sphären alsprinzipiell unterschiedene beständig vor Augen haben will — wie siees als echte Wissenschaft muß. Es muß dem Logiker klar sein, daßdie Urteile im Sinne der Formenlehre, für die eine bloße Deutlichkeitin der Rhythmik sprachlicher Indikation zu ihrer evidenten Selbst-gegebenheit genug ist, unfähig sind, Verhältnisse der Konsequenz zufundieren. Er muß es sich klar gemacht haben, daß der bloß verbalwohlverstandene Satz, explizit verstanden in der Erfassung der be-stimmten Rhythmik symbolischer Indikation, als eine Einheit der„Bedeutung" erfaßt ist, die eben Einheit einer bloßen rhythmischenIndikation ist, und daß dabei das Indizierte das Urteil im zweitenSinne ist, die neue Rhythmik der im eigentlichen Urteilen, dem derwirklich vollzogenen kategorialen Aktion, sich konstituierendenUrteilsmeinung (das ist Sachverhaltsmeinung), die zum nachträglichenVollzug gebracht die symbolische Rhythmik erfüllte. Und wieder mußer sich klar gemacht haben, daß, wo durch das Urteilen die Er-kenntnisabzielung hindurchgeht, das explizite, das nun eigentliche oder„deutliche Urteil" selbst als Meinung hinmeint auf einerfüllendes Selbst,auf den Sachverhalt „selbst", sein Subjekt und Prädikat „selbst" usw.

Das alles aber muß er wissen, weil es für ihn Methode ist undweil es für ihn kein naives, instinktives, verborgenes Tun geben darf,sondern weil er für jedes Tun und seine Leistung muß Rechenschaft

1) Vgl. dazu weiter unten die tiefer gehenden Klärungen des 4. Kapitels, vor

allem §§ 89, 90.

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abgeben können, also als Logiker in prinzipieller Allgemeinheit aufdie verborgene naive Methode reflektiert und sie thematisch aus-gelegt haben muß, um danach die echte logische Methodedurchzuführen. Diese Methode, die ursprünglichste, die Urteileund Urteilsformen als logische schafft, ist in der Formenlehre einewesentlich andere als in der Konsequenzlehre und wieder eine andereals in der Wahrheitslehre.

In derselben Weise für den Logiker unentbehrlich sind offenbaralle die anderen der von uns oben geführten, subjektiv gerichtetenUntersuchungen, in denen der korrelative Sinn einer Apophantik undder einer formalen Ontologie, desgleichen das Eigentümliche einerpuren Mathematik und einer logischen Mathematik zur Klarheit ge-bracht wurde.

Alle diese Untersuchungen haben den Charakter von fundamen-talen der Enthüllung und Kritik der ursprünglichenlogischen Methode, und zwar können wir sie alle auch be-zeichnen als Erforschungen der Methode, durch die die„Grundbegriffe" der Analytik ursprünglich erzeugtwerden in derjenigen Evidenz, die uns ihres identischen und vorallen Verschiebungen gesicherten Wesens versichert.

Die Grundbegriffe sind immer schon vertraut und zu freier Ver-fügung, und als Erzeugnisse sind sie erzeugt worden und werden, woimmer das Evidenzbedürfnis geweckt ist, wieder erzeugt in erneuterEvidenz. Aber diese naiv geübte „Methode" ist noch keine echteMethode. Es ist also nicht so, als ob es sich um eine bloße„psychologische Analyse", eine reflektive psychologischeÜberlegung handelte, wie wir dabei jeweils diesen Begriff gebildethaben und bilden. Die konstitutive Forschung ist nur im Ausgangsolche Reflexion und fortgehende Enthüllung der faktisch und„unbewußt" geübten Methode. Im Fortgang ist sie „Kriti k", dasist aktive Erfüllung in den verschiedenen Erfüllungslinien aufdem Grunde der systematischen Scheidung der in der Einheit derSynthesis verwobenen intentionalen Richtungen. Das heißt aber hier,solche Kritik ist schöpf erische Konstitution der betreffendenGegenständlichkeiten in der Einheit einstimmiger Selbstgegebenheitund Schöpfung ihrer Wesen und Wesensbegriffe. Auf Grund der dazugehörigen Leistung der terminologischen Fixierung sollen diese Be-griffe dann als habituell erworbene verharren.

Jede konstitutive Analyse ist in dieser Hinsicht schöpferisch;die schöpferisch erworbenen konstitutiven Einheitensind Normen, und ihr schöpferisches Erwerben ist

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selbst thematisch gewordene Methode und als solcheNorm für die künftige habituelle methodische Praxis. Echte logischeMethode ist nur möglich aus thematischer Erforschung und zweck-tätigen Gestaltung der naiv geübten Methode selbst.

§ 71. Grundlagenprobleme der Wissenschaften und konstitutiveUrsprungsforschung. Die Logik zur Führung berufen.

Das wirft schon im voraus Licht auf die vielberedeten Grund-la genp ro bIeme nicht nur der Mathematik, sondern aller objek-tiven Wissenschaften. Für die formale Mathematik, als die Analytikselbst, ist ihr Sinn durch unsere bisherigen Überlegungen schonentschieden und die übliche Verworrenheit der Problemstellungbehoben. Überall beobachten wir, wie bei der erkenntnistheoretischenProblematik sonst, die schon wiederholt erwähnte Verkehrtheit, daßman die Wissenschaften als etwas nimmt, das schon ist; als ob Grund-lagenforschung nur eine nachkommende Klärung oder allenfalls einediese Wissenschaften selbst nicht wesentlich ändernde Besserung be-deuten sollte. In Wahrheit sind Wissenschaften, die Paradoxienhaben, die mit Grundbegriffen operieren, die nicht aus der Arbeitder Ursprungsklärung und Kritik geschaffen sind, überhaupt keineWissenschaften, sondern bei aller ingeniösen Leistung bloß theore-tische Techniken.

Die Grundbegriffsschöpfung ist also in der Tat eine im wört-lichsten Sinne grundlegende Leistung für alle Wissenschaften,wie wir im voraus gesagt haben. Allen voran aber für die Logik,die dazu berufen ist, die prinzipielle Methode für sie alle zu sein undim Apriori der Methode überhaupt alle ihre Spezialmethoden zuumgreifen und ihre Gestaltung aus Prinzipien bewußt zu regeln. Nurin einem wissenschaftlichen Leben, das sich unter den Radikalismusdieser Forschung beugt, ist echte Wissenschaft möglich. Wie ihmgenügt werden kann, und wenn nicht absolut, in welcher Stufenfolgevon methodischen Approximationen, das muß, wir sehen es voraus,ein Hauptstück der schöpferischen Methodengestaltung sein, einHauptstück einer subjektiv gerichteten logischen Arbeit. Doch hiersind wir erst in den Anfängen, und. der Anfang in diesen Anfängenist die Arbeit an den Grundbegriffen im strengstenSinn e, die aus der Verworrenheit und Verschiebbarkeit der naivenGestalt in die Festigkeit und Bestimmtheit wissenschaftlicher Grund-begriffe überführt werden müssen nach einer in sich bestimmten,jederzeit zu reaktivierenden und somit bewährenden Methode.

Russeri, Jahrbuch f. Philosophie. X. 11

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§ 72. Die subjektiven Strukturen als ein dem objektivenkorrelatives Apriori. Übergang zu einer neuen Stufe der Kritik.

Die subjektiven Strukturen, die in den bisher beschriebenenForschungen einer subjektiv gerichteten Logik in Frage sind, sind mitden entsprechenden Begriffen der objektiv logischen Theorie offenbarnicht in einer zufälligen psychologischen Faktizität zusammengehörig.Sie bezeichnen ein dem objektiven korrelatives Apriori.Es ist undenkbar z. B., daß ein Prozeß der Evidenz, in dem ein Urteilzu expliziter Selbstgegebenheit kommt, eine andere Wesensstrukturhat, als die eine refiektive Analyse aufweist. Die formalisierendeVerallgemeinerung, die ein faktisches Urteil in eine Urteilsform über-haupt verwandelt, ist in subjektiver Hinsicht notwendig eine Wesens-verallgemeinerung und zwar eine im korrelativen Sinn formale derEvidenz des faktischen Urteils. Das gilt dann in entsprechender Weisenicht nur für alle sonstigen Grundbegriffe der puren analytischenLogik, sondern auch für die zugehörigen Grundgesetze und ab-geleiteten Gesetze der logischen Theorie. Jedem operativenGesetz der Formenlehre entspricht apriori eine sub-jektive Gesetzmäßigkeit in Hinsicht auf die kon-stituierende Subjektivität, eine formale Gesetzmäßigkeit,bezogen auf jeden erdenklichen Urteilenden und seine subjektivenMöglichkeiten, aus Urteilen neue Urteile zu bilden.

Die Grundbegriffe, die logischen Urbegriffe sind dieobersten Begriffe des logischen Gebietes selbst undseiner Schichtung in synthetisch fungierende Partialgebiete. Mit ihrerGestaltung vollzieht sich eine ers te Kritik der notwendig erstenLogik-geradehin, und zugleich eine Kritik ihrer Erkenntnis-weis e, ihrer methodischen Art. Ist aber diese erste Kritik unddie ihr zu verdankende erste Gestaltung der Gebietsbegriffe schoneine volle und ganze Kritik — abgesehen von den voraussichtlichneuen kritischen Forschungen, die für die weiter folgenden Begriffenotwendig sein werden?

3. Kapitel.

Die idealisierenden Voraussetzungen der Logik undihre konstitutive Kritik.

Machen wir uns nach der Notwendigkeit nun auch die Unzuläng-lichkeit unserer ersten Reihe kritischer Untersuchungen klar. Es giltjetzt eine Kritik der analytischen. Logik, die uns eine Reihe vonidealisierenden Voraussetzungen zum Bewußtsein bringen

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soll, mit denen sie nicht etwa aus einer thematisch gewordenensondern wiederum aus einer naiv geübten Methode wie mit Selbst-verständlichkeiten operiert, und die wir daraufhin unbesehen mitübernommen hatten. Diese neue Kritik ist Fortführung der auf derersten Stufe von uns zur Aufklärung jener Dreischichtung geübtenKritik, setzt also ihre Untersuchungen voraus.

§ 73. Idealisierende Voraussetzungen der mathematischenAnalytik als Themen konstitutiver Kritik. Die ideale Identität

der Urteilsgebilde als konstitutives Problem.

Betrachten wir zunächst die pure und voll genommene mathe-matische Analytik, die bloße Logik der analytischen Urteils-konsequenz, so bezieht sie sieh mit ihren allgemeinen Formen auf denoffen unendlichen Umfang möglicher Urteile, deren ideale Iden-tität sie voraussetzt.

überlegen wir, wiefern hier von einer Voraussetzung zu sprechenund was in ihr beschlossen ist. Die Formen sind allgemeine Wesen-heiten („Begriffe"), die in eigener Evidenz gewonnen sind auf Grundexemplarischer Urteile, diese selbst geschöpft aus den von uns be-schriebenen Weisen der Evidenz. Die Intentionalität des Urteilens isterlebnismäßig eine sich abwandelnde; aber es erhält sich, wenn wirdoch vom selben Urteil sprechen, eine intentionale Einheit, dieRichtung auf das eine und selbe Urteil, das in Evidenz als dasselbezur Selbstgegebenheit kommt — dasselbe, das zunächst verworreneMeinung war, und sich dann verdeutlicht. Alles, was die Verdeut-lichung in ihrer eigentlichen Aktivität erzeugend herausstellt, warschon vordem in der Verworrenheit als Gemeintes „impliziert", undso schließlich das ganze Urteil, wenn die Verdeutlichung vollkommenglückt.

Nun ist aber schon das „verworrene", das „vage" Urteilennicht ein todtes und starres, sondern ein wandelbares, und wenn in ihmdasselbe Urteil — dasselbe im Sinne der Formenlehre, die keinerAktivität eigentlicher Erzeugung bedarf — als identische Gegenständ-lichkeit sich konstituieren soll, so fragt es sich, was uns dieserI denti tä t v er sicher t. Und in weiterer Folge ist dieselbe Fragefür das Urteil in der „deutlichen" Eigentlichkeit zu stellen. Freilichwährend der Lebendigkeit der Evidenz haben wir das Urteil selbst,

als dag eine sich im Wandel der Erlebnisse als es selbst darbietende.Aber wenn der Denkprozeß fortschreitet und wir synthetisch ver-knüpfend zu dem vordem als Eines gegebenen zurückkehren, ist

ii*

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164 Edmund Numeri, [164

dieses selbst ja nicht mehr ursprünglich evident, es ist im Medium derWiedererinnerung und einer keineswegs anschaulichen wieder bewußt.Wiedererinnerung, gelingend als wirkliche und eigentliche An-schauung, würde ja die Restitution aller einzelnen Momente oderSchritte des ursprünglichen Prozesses besagen; und selbst wenn dasstatthätte, also eine neue Evidenz hergestellt wäre, ist es sicher, daßes Restitution der früheren Evidenz ist? Und nun denken wir daran,daß die Urteile, die in lebendiger Evidenz ursprünglich als inten-tionale Einheiten im Modus der Selbsthabe konstituiert waren, eineFortgeltung haben sollen als jederzeit für uns seiend e, füruns jederzeit verfügbare Gegenstände, als nach der ersten Konstitutionhinfort für uns bestehende Überzeugungen.

Die Logik bezieht sich nicht auf die Gegebenheiten in bloßaktueller Evidenz, sondern auf die bleibenden, in ihr zur Ur-stiftung gekommenen Gebilde, auf die immer wieder zu reakt i-vierenden und zu identifizierenden, als auf Gegenständ-lichkeiten, die hinfort vorhanden sind, mit denen man, sie wiederergreifend, denkend operieren, die man als dieselben kategorial fort-bilden kann zu neuen Gebilden und immer wieder neuen. In jederStufe haben sie ihre Weise evidenter Identifizierbarkeit, in jederkönnen sie verdeutlicht werden, können sie in Evidenzzusammenhängeder Konsequenz und Inkonsequenz gebracht, können aus ihnen durchWegstreichung der Inkonsequenzen, bzw. durch entsprechende Um-bildung, reine Zusammenhänge der Konsequenz erzeugt werden.Offenbar setzt die Logik mit ihren formalen Allgemeinheiten undGesetzlichkeiten Urteile, Kategorialien jeder Art und Stufe voraus,deren Ansichsein in Identität feststeht. Sie setzt voraus,was jedem Denkenden und jeder Denkgemeinschaft das Selbst-verständliche ist: was ich gesagt habe, habe ich gesagt, der Iden-tität meiner Urteilsmeinungen, meiner Überzeugungenkann ich jederzeit gewiß werden über alle Pausenmeiner Denkaktualität hinaus, und ihrer einsichtiggewiß werden als eines bleibenden und jederzeit verfügbarenBesitzes.

Nun kennt zwar jeder die Tatsache gelegentlicher Täuschungenin dieser Hinsicht, der Meinungsverschiebungen und -ver-meng un g en, aber auch die Möglichkeit verworren-schwankendenSinn zu festigen und vage Urteile auf deutliche und bestimmtidentifizierbare zu reduzieren. Das Vage mag seine vielfältige Be-stimmbarkeit haben, geht der Denkende zu einer Bestimmtheit über,die er wiederholt und evident identifizieren kann, so mag es sein, daß

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seine Feststellung, d a s meine ich, im Grunde eine Willensentscheidungbedeutet: dieses Bestimmte will ich hinfort stets als meine Meinunganerkennen. Aber eine bloß momentane und je nachdem wiederwechselnde Willkür kann hier nicht vorliegen. Wenn der Beweisendeim Beweiszusammenhang auf ein früheres Urteil rekurriert, so mußes eben doch wirklich dasselbe Urteil sein.

Die traditionelle Logik und die naiv geradehin theoretisierendeMathematik machen sich darüber keine großen Sorgen. Sie setz env or a us, daß durch das Denken in rechter Weise Identität hindurch-geht, Identität der Gegenstände in ontischer Einstellung, Identitätder gegenständlichen Sinne und der Urteile in der apophantischen.Sie setzen also im Grunde voraus, daß im konkreten Falle, in demDenken der jeweiligen Wissenschaftler eine dies-bezügliche Leistung in rechter Weise schonvonstattengegangen i st., daß sie gegenüber dem Wandel der Verworrenheitenund Unklarheiten, gegenüber den dabei möglichen Sinnesverschie-bungen schon für eine Fixierung streng identifizierbarer Gegenständeund Sinne gesorgt haben.

Naiv geradehin ist es leicht, das ideale Sein der Urteile als jeder-zeit identifizierbaren Sinne herauszustellen und es dann als Logikerbeständig in Anspruch zu nehmen. Aber wie ist solches Herausstellenund Feststellen möglich, da doch dieses ideale Sein für uns nur eintein Anspruch zu nehmende Gültigkeit haben kann, wenn solches Fest-stellen in seiner Leistung wirklich einsichtig zu machen ist? Diesesideale Sein bedeutet eine eigentümliche Transzendenz: es tran-szendier t die jeweilige lebendige Evidenz, in der dasUrteil als dieses Urteil aktuell zur Selbstgegebenheit kommt DieseEvidenz kann doch noch nicht aufkommen für die erforderliche neueLeistung, in der das Selbstgegebene Sinn und Recht idealerTra nszen d enz gewinnen soll. Und doch sagten wir soeben, daßjeder Denkende ohne weiteres dessen sicher ist, Urteile als fest iden-tifizierbare herstellen zu können, auf deren Sein und Zugänglichseiner rechnen kann, auch wenn er nicht daran denkt. Wenn nun eineeigene Evidenz in dieser Hinsicht gefordert ist in Er g änzung derersteren, die die ideale Gegenständlichkeit zur Selbstgegebenheitbringt, besteht dann nicht die Gefahr, daß sich das P roh le mwiederholt, und so in infinitum?

Mag die in der Naivität geübte Methode, diese idealen Identitätenzu gewinnen (welche die Logik auch wirklich als jederzeit zu ge-winnende v o raussetz t), leisten, was ihr zugemutet ist, und mag

somit die Voraussetzung der Logik ein ursprüngliches Recht haben —

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166 Edmund Husserl, [166

solange die Methode als naiv geübte anonym bleibtund ihre intentionale Leistung nicht thematisch klar-gelegt ist, haben wir doch kein Recht, jenes prätendierte Rechtgelten zu lassen. Oder will man sich etwa damit begnügen, auf diebevorzugte Empirie der erfolgreichen Wissenschaften zu verweisen,nämlich auf die Praxis der Wissenschaftler, die ja doch in ihrenTheorien feste Urteile erzielen? Indessen hier erinnern wir uns andie Vieldeutigkeit der Grundbegriffe der Wissenschaften und damitall ihrer Theorien und werden danach sagen müssen, daß von einemwirklichen Erzielen keine Rede sein kann, daß es sich also um einideal handelt, das praktisch nie erfüllt worden ist und wohl auchnie zu erfüllen ist. Wenn aber um ein Ideal, das die für dieMöglichkeit echter Wissenschaft überhaupt allererst normgebendeLogik voraussetzt, dann stehen wir vor dem Dilemma:

Entweder die Logik operiert mit einer universalen F ik tion undist dann selbst nichts weniger als normgebend; oder sie ist norm-gebend; dann ist dieses Ideal eben eine wirkliche GT u n dno rm,zur Möglichkeit echter Wissenschaft unablöslich gehörig.

Müssen wir die letztere Auffassung mindest zunächst bevorzugenund den Versuch machen, sie zu berechtigen, so e rw ei t er t sichfür uns das subjektiv gerichtete Methodenproblemder Logik um ein wesentlich neues Stück, und zwar er-weitert sich damit dasjenige der schöpferischen Methode der logischenGrundbegrifflichkeit. In der Tat, jenes Ideal der Identitätder Aussagebedeutungen (in dem mehrfachen Sinn) steckt ja imSinne aller logischen Grundbegriffe. Demnach ist die in formalerAllgemeinheit zu allem konkret logischen, das ist wissenschaftlichenDenken gehörige und allgemein zu fassende Methode der Verwirk-lichung identischer Bedeutung Besta ndstü ck der Methode derGrundbegriffsbildung der Logik. In Sonderfassung ist esdas Problem der Konstitution der normativen idealenobjektiven Identität mit den, wie vorauszusehen, wesensmäßigeinzubeziehenden Approximationsstufen.

Das konstitutive Problem erweitert sich abermals, wenn wir darandenken, daß der von unserer logischen Betrachtung ausgeschlossenesprachliche Ausdruck für ein intersubjektives Denken und füreine Intersubjektivität der idealiter seiend-geltenden Theorie Wesens-voraussetzung ist, und somit auch eine ideale Identifizierbarkeitdes Ausdrucks als Ausdrucks ein konstitutives Problem mit sichführen muß.

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167] Formale und transzendentale Logik. 167

§ 74. Die Idealitäten des Undsoweiter, der konstruktivenUnendlichkeiten und ihr subjektives Korrelat.

Die subjektive intentionale Thematik einer Analytik, die (beialler Begrenzung auf das bloß analytisch Formale) ernstlich Wissen-schaftstheorie sein, ernstlich die Möglichkeit einer echten Wissen-schaft begründen, ernstlich die Prinzipien der Rechtfertigung derEchtheit für den Wissenschaftler bereitstellen will, führt, wie wirsehen, in ungeahnte phänomenologische Tiefen und Weiten. Dabeihaben wir nicht einmal alle Idealisierungen berücksichtigt,die für eine pure Analytik eine universale Rolle spielen. Ich erinnerenur noch an die von den Logikern nie herausgehobene Grundf ordes „Und so weiter", der iterativen „Unendlichkeit", die ihrsubjektives Korrelat hat im „man kann immer wieder". Esist eine offenbare Idealisierung, da de facto niemand immer wiederkann. Aber sie spielt doch in der Logik überall ihre sinnbestimmendeRolle. Man kann auf eine ideale Bedeutungseinheit und so auf eineideale Einheit überhaupt immer wieder zurückkommen —insofern gehört das „und so weiter" auch als Grundstück zum Problemdes vorigen Paragraphen. Man kann z. B. zu einer Menge immerwieder eine ihr disjunkte Menge haben und sie addierend hinzufügen;man kann zu jeder Anzahl a immer wieder ein a 1 bilden, und soaus dem 1 die „unendliche" Anzahlenreihe bilden. In der Formen-lehre der analytischen Sinne haben wir lauter iterierbare Gesetz-mäßigkeiten, in allen steckt die Unendlichkeit, steckt das „immerwieder", das „und so weiter". Die Mathematik ist das Reich unend-licher Konstruktionen, ein Reich von idealen Existenzen, nicht nur„endlicher" Sinne, sondern auch von konstruktiven Unendlichkeiten.Offenbar wiederholt sich hier das Problem der subjektiven konsti-tutiven Ursprünge als der verborgenen, zu enthüllenden und als Normneu zu gestaltenden Methode der Konstruktionen, der Methode, inder das „und so weiter" verschiedenen Sinnes und die Unendlich-keiten als neuartige kategoriale Gebilde (die aber auch schon in dervorbegrifflichen Vorstellungssphäre ihre große Rolle spielen) evidentwerden. Eben diese Evidenz in allen ihren Sondergestalten muß nun

aber zum Thema werden.

§ 75. Das analytische Widerspruchsgesetz und seine subjektiveWendung.

Gehen wir nun in der Freilegung der subjektiven Problematikein Stück weiter. In der puren Konsequenzlogik haben wir ee

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168 Edmund liusserl, [168

mit Gesetzen der Konsequenz und des Widerspruchs und allenfallsnoch der äußerlichen (nicht auf Konsequenz beruhenden) Wider-spruchslosigkeit zu tun'). Objektiv heißt ein Urteil Widersprucheines anderen, wenn es entweder ein unmittelbarer Widerspruchdieses anderen ist oder als mittelbarer ein Widerspruch gegen dessenKonsequenz.

Das objektiv-ideale Grundgesetz lautet dann: Jedes wider-sprechende Urteil ist durch das Urteil, dem es wider-spricht, „ausgeschlossen". Jedes Urteil, das eine analytischeKonsequenz eines anderen ist, ist darin „mitbeschlossen".

Das Letztere besagt subjektiv: Wer eine Urteilsmeinung hatund, diese sich auslegend, irgendeine analytische Konsequenz sieht,urteilt nun die Konsequenz nicht nur faktisch, sondern "er kannnicht anders" als so zu urteilen: im bloßen Hinachten auf diesyntaktische Form und im Bewußtsein der Beliebigkeit der geradevorkommenden Kerne wird die Notwendigkeit, das Nicht-anders-können, mitbewußt: in vollkommenster Weise im wirklichen Über-gang in die formale Allgemeinheit. Die generelle Evidenz der ana-lytischen Konsequenz ineins mit dem Versuch und Ansatz ihrerNegation zeigt objektiv die generelle Unmöglichkeit dieser Einheit,und, subjektiv, die Unmöglichkeit des urteilenden Glaubens nicht nurfür einen faktisch Urteilenden, sondern für einen (in der Evidenzder Deutlichkeit) Urteilenden überhaupt. Niemand überhaupt kannanders als in solchem Zusammenhang negieren. Ebenso wer zweiUrteile als von jemandem geurteilte sich denkt und im Übergang zurVerdeutlichung erkennt, daß das eine dem anderen widerspricht, kannnicht anders, als das aus beiden gebildete konjunktive Urteil leugnen.Allgemein gilt hier also das subjektiv gewendete formaleGrundgesetz der puren Analytik:

Von zwei einander (unmittelbar oder mittelbar) widersprechendenUrteilen kann im eigentlichen oder deutlichen Einheitsvollzug einemUrteilenden überhaupt nur eines von beiden gelten.

Geltung besagt hier natürlich nicht Wahrheit, sondern eben bloßesUrteilen in dem Modus der Deutlichkeit. Das analytische Wider-spruchsgesetz ist also nicht etwa zu verwechseln mit dem historischunter diesem Titel ausgesprochenen Gesetz der Wahrheitslogik.

So richtig jene subjektiven Wendungen auch sind, sie indi-zieren nur die wirkliche, hinter ihnen liegende Gesetzmäßigkeit,die in der wirklichen Enthüllung der korrelativen subjektiven

1) Vgl. dazu auch vorne die §§ 19, 20,

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169] Formale und transzendentale Logik. 169

Strukturen zutage tritt. Rein objektiv ist der pure analytischeWiderspruchssatz ein Satz über ideale mathematische „Existenz" undKoexistenz, also über Kompossobilität von Urteilen in der Deutlich-keit. Auf subjektiver Seite aber steht die apriorische Strukturder Evidenz und der ihr sonst zugehörigen subjektiven Leistungen,deren Enthüllung die subjektiven Wesenslagen wirklich herausstellt,die ihrem objektiven Sinn entsprechen.

Mit dem Subjektiven der Evidenz, die speziell zur idealen Sphäreder Konsequenz und Inkonsequenz gehört, verflechten sich in Wesens-notwendigkeit Evidenzen der Formenlehre, bezogen auf dieModi der Verworrenheit und die vorher aufgewiesenen Einheits-zusammenhänge der Intention und Erfüllung.

Alle diese Evidenzen mit ihren zugehörigen Wesensstrukturenmüssen entfaltet werden als mitfungierend in der subjektiven undverborgenen „Methodik" der intentionalen Konstitution der verschie-denen idealen Einheiten und Zusammenhänge, die die Formenlehremit der Konsequenzlehre verbinden zur Einheit der mathematischenAnalytik. Alle subjektiven Strukturen haben eben ein Apriori derFunktion, sie alle müssen herausgestellt und dieses Apriori auseinem klaren Sich-selbst-verstehen bewußt gestaltet werden, als ur-sprungsklare Methode für eine radikal rechtmäßige Formenlehre undeine rechtmäßig in ihr gründende volle Analytik, eine Analytik, fürdie es keine Paradoxien geben kann und deren rechtmäßiger An-wendungssinn völlig außer Frage sein muß.

§ 76. Übergang zur subjektiven Problematik der Wahrheitslogik.

Wir haben bisher von der Analytik im engeren Sinne der „puren"znathesis universalis gesprochen, einer Wissenschaft von unendlicherFruchtbarkeit, die, wie wir schon wissen, keinen Zuwachs an neuenDisziplinen, sondern nur die spezifisch logische Funktion gewinnt,wenn sie nachher die Begriffe der Wahrheit in ihr Thema einbeziehtund sich um einige auf sie bezügliche Sätze erweitert. In ihnengründet es, daß die formalen Gesetze bloßer Widerspruchslosigkeitzu Bedingungen der Möglichkeit der Wahrheit werden und als dasausgesprochen werden können. Die pure mathematische Analytikgeht dann, sagten wir, in eine analytische, eigentliche Wissenschafts-lehre über, oder was äquivalent ist, in eine „formale Ontologie".

Genauer überlegt ist eine derartige Wissenschaftslehre und Onto-logie, wenn sie nach Freilegung ihres Gebietes geradehin durchgeführtgedacht wird, sehr wenig geeignet, das zu leisten, wozu sie doch

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bestimmt ist, nämlich Normen und sei es bloß formale Normen derWesensmöglichkeit von echten Wissenschaften zu bieten. Das betrifftjetzt speziell die neuen Grundbegriffe und Gesetze, mit der neuenSinnbestimmung, die durch sie der puren mathematischen Analytikeingeflößt wird. Wenn sie so bereichert als „formale" Logik ihremPrinzip treu bleibt, die syntaktischen Stoffe in unbestimmter All.gemeinheit zu belassen und bloße Syntaktik möglichen wahren Seinsund möglicher prädikativer Wahrheit zu sein, so fragt es sich, w iesie dieses „wahr" in ihre formalen Allgemeinheitenüb erhaupt hin ein b ringt. Es scheint zunächst, daß hier fürdie Schöpfung der neuen Grundbegriffe nichts anderes zuleisten ist als für diejenigen der vorangehenden logischen Disziplinen:wie diese ihre Wesensbegriffe der Form aus Exempeln durch Wesens-verallgemeinerung schöpfen, so die formale Wahrheitslehre ausExempeln wahren Seine und prädikativer Wahrheit.Dort zwang die Erkenntnis gewisser idealisierender Voraussetzungenzu subjektiv gerichteten Untersuchungen. Entsprechendes ist auchhier zu erwarten, und so scheint ein gleicher Weg vorgedeutet unddie Art de'r zu lösenden Schwierigkeiten als die gleiche.

Aber bei tieferem Eindringen zeigt es sich, daß wir hier nicht nurauf gleichartige, sondern auf neue und viel weiter reichendeVoraussetzungen und Schwierigkeiten stoßen, als welchewir bisher kennenzulernen Gelegenheit hatten. Sowie sie sichtbarwerden, umgreifen sie allerdings sofort auch die ganze auf das reinMathematische beschränkte Analytik. Da die Logik in allen ihrenhistorischen Gestalten von dem ihr „eingeborenen" Grundsinn eineranalytischen Logik wesentlich bestimmt gewesen ist (zu dem dieForschung in naiver Positivität gehört), so finden wir sie auch in allendiesen Gestalten mit diesen ihr selbst eben vermöge dieser Naivitätverborgenen Grundschwierigkeiten behaftet, die wir hier an der reinherausgestellten Idee einer Analytik zu erörtern haben.

Unsere Untersuchung hat einen gegebenen Ausgangspunkt in demBegriff der Wahr heit und in den ihn axiomatisch auslegenden„logis ch en Prinzipien". Wir erinnern uns an die Ursprungs-analysen für die Begriffe wahrhaftes Sein und Wahrheit als Urteils-richtigkeit in ihrer Rückbeziehung auf Selbstgebung (Erfahrung imengeren und weiteren Sinne) und auf Adäquation 1). Sie waren zu-reichend für unseren damaligen Zweck, eine pure mathematischeAnalytik (der bloßen Widerspruchslosigkeit) gegenüber einer for--------

1) Vgl. I. Abschnitt, § 16, S.49 und für die „logischen Prinzipien" § 20, 5.

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malen Logik der Wahrheit abzuscheiden; aber sie berührten nur inflüchtigen Hinweisen, z. B. den auf die Vollkommenheitsunterschiededer Evidenz (in dem doppelten Sinne), einzelne der dunklen Stellen,von denen, sowie man in sie eindringt, sehr schwierige Fragenausgehen.

§ 77. Die im Satz vom Widerspruch und vom ausgeschlossenenDritten enhaltenen idealisierenden Voraussetzungen.

Beginnen wir mit den Problemen der Evidenz der „logischenPrinzipien". Ihre Evidenz muß doch in der evidenten Schöpfung derBegriffe Wahrheit und Falschheit gegründet sein. Der Satz vomWiderspruch drückt die generelle Unmöglichkeit aus, daß kontra-diktorische Urteile zusammen wahr (oder falsch) sind. Fragen wirnach der Evidenz, in der diese Unmöglichkeit gründet, so sehen wir,daß in ihr folgendes liegt: wenn ein Urteil im Sinne positiver sach-licher Evidenz zur Adäquation zu bringen ist, so ist apriori seinkontradiktorisches Gegenteil nicht nur als Urteil ausgeschlossen,sondern ebenfalls nicht zu solcher Adäquation zu bringen. Undebenso umgekehrt.

Damit ist noch nicht gesagt, daß überhaupt jedes Urteil zurAdäquation gebracht werden könne. Eben das liegt im Satzvom ausgeschlossenen Dritten, bzw. in seinem subjektivenEvidenzk-orrelat mitbeschlossen. Jedes Urteil ist an „seineSachen selbst" heranzubringen und nach ihnen zu richten,sei es in positiver oder in negativer Adäquation. Im einen Falle istes evident wahr — in erfüllend-bewährender Deckung mit der imjeweiligen Urteil gemeinten und nun als selbstgegeben sich bietendenkategorialen Gegenständlichkeit; im anderen Falle evident falsch,nämlich sofern ineins mit der partialen Erfüllung der Urteils-meinung (der vermeinten kategorialen Gegenständlichkeit als solcher)sich als selbstgegeben eine kategoriale Gegenständlichkeit herausstellt,die der totalen Urteilsmeinung widerstreitet und sie notwendig „auf-hebt". Eine wesensmögliche Änderung der Urteilsbildung ergibt dann(wie wir schon wissen) statt der aufhebenden Negation als Durch-streichung das p ositive Urteil mit dem geänderten prädikativenSinn, der das Negat als prädikative Form enthält und damit die Wahr-heit des kontradiktorischen Gegenteils aussagt.

Das Prinzip vom ausgeschlossenen Dritten hat also in subjektiverHinsicht zwei Stück e. Es beschließt nicht nur, daß, wenn einUrteil zur Adäquation zu bringen ist, zur Synthesis mit einer im

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erweiterten Sinn entsprechenden Selbstgegebenheit, es entweder zupositiver oder negativer Adäquation zu bringen ist, sondern auch —falls man das nicht als eigenes Evidenzprinzip vorweg herausstellt —daß, wie gesagt, jedes Urteil prinzipiell zur .Adäquationgebracht werden kann. „Prinzipiell" in einer Idealität ver-standen, für die freilich nach keiner Rechenschaft abgebenden Evidenzje gefragt worden ist. Wir wissen alle sehr wohl, wie wenige Urteileirgend jemand de facto und bei bestem Bemühen anschaulich aus-weisen kann; und doch soll es apriori einsehbar sein, daß es keinenicht-evidenten Urteile geben kann, die nicht „an sich" evident zumachen wären, und zwar im Sinne positiver oder negativer Evidenz.

Wir sind noch nicht zu Ende. Das Doppelprinzip vom Wider-spruch und vom ausgeschlossenen Dritten sagt schlechthin, jedesUrteil ist eines von beiden, wahr oder falsch. Es enthält kein solchessubjektives Wort wie Evidenz, obschon Wahrheit und Falschheit ur-sprünglich Sinn und Recht aus der Evidenz schöpfen. Ein Urteil istnicht einmal wahr und das andere Mal falsch, sondern wahr oderfalsch ein für allemal; d. h. wenn es einmal evident ist, einmalin der Evidenz erfüllender Adäquation ausgewiesen, so kann es nichtein andermal in der Evidenz „enttäuschender Adäquation" als falscherwiesen sein.

Man kann auch dem viel gedeuteten Prinzip von der Iden-tität A ist A eben diesen Sinn geben: wenn A wahr ist (wo A alsein Urteil in unserem weitesten Sinne verstanden werden kann), soist es ein für allemal wahr — Wahrheit ist eine dem ideal identischenUrteil bleibend zugehörige Beschaffenheit. Man könnte dann diebeiden anderen Prinzipien hinzufügen: wenn überhaupt ein A wahrist, ist sein kontradiktorisches Gegenteil falsch, und jedes Urteil isteines von beiden, wahr oder falsch. Aber es fragt sich, ob diese Drei-gliederung homogen ist, da das „ein für allemal" eine subjektiveWendung ist, die in die rein objektiven Prinzipien nicht hineingehört.

Aber noch kommt der Sinn der logischen Prinzipien zu kurz:wir hätten schon in der puren mathematischen Analytik die Iden-tität der Urteilssinne beziehen können auf „Jedermann": dasselbeUrteil ist nicht nur als meine bleibende Meinung ideale Einheitmeiner mannigfaltigen subjektiven Erlebnisse, sondern jedermannkann dieselbe Meinung haben — wonach wir also schon früher dasProblem der universalen intersubjektiven Evidenz dieser Selbigkeithätten aufwerfen müssen. Haben wir vorgezogen, das „Jedermann"erst hier einzuführen, so kommt jetzt als Weiteres in Frage dieMeinung der Logik, daß eine Adäquation, die der eine vollzieht, nicht

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nur i h m ein für allemal d i e Wahrheit, als eine ideale Einheit ergibt,sondern daß diese Idealität sich auch auf jedermann erstreckt.Jedermann kann jedes Urteil haben und für jedermann gilt die Mög-lichkeit, dieses Urteil zur Adäquation zu bringen und desgleichen diezugehörigen logischen Gesetze. Alle stehen mit allen darin in einervollkommenen Harmonie.

Die merkwürdigen Sinnbestimmungen des Wahrheitsbegriffes derLogik — des Begriffes einer „objektiven", nämlich intersubjektiv-identischen Wahrheit, den sie zugrunde legt, erstrecken sich auf alleSätze, die sie theoretisch aufstellt, — ihre Axiome wie ihre Lehr-sätze. Sie alle erheben also den Anspruch ein für allemal und fürjedermann zu gelten.

§ 78. Die Umwendung der Gesetze des „modus ponens undtollens" in subjektive Evidenzgesetze.

Auch für die unter den Titeln des modus ponens und tollens zuscheidenden Grundgesetze, von denen nur das in die pure Konsequenz-logik gehörige Prinzip der analytischen Folge sich als ein echtesPrinzip erwiesen hat 1), können wir, ähnlich wie für das Doppel-prinzip vom Widerspruch, die Umwendung in subjektive Evidenz-gesetze vollziehen. Für das reine Konsequenzprinzip gewinnen wirdann als Gesetz: daß die Möglichkeit der Deutlichkeits-evidenz des analytischen Grundurteils notwendig dieMöglichkeit ebensolcher Evidenz des Folgeurteilsnach sich zieht.

Das Neue in der Umwendung des entsprechenden Gesetzes derWahrheitslogik ist, daß bei Durchführung der syntaktischen (kate-gorialen) Aktionen des Grundurteilens an der Ursprünglichkeit der„Sachen selbst" (auf Grund der „Erfahrung") dieselbe Möglichkeitsachlicher Evidenz auch für die Urteilsaktionen der Folgebestehen müssen. Natürlich bieten auch diese Evidenzsätze nichteine Selbstverständigung ihrer Probleme und zudem gehören alleSchwierigkeiten des Verständnisses der apriorischen Evidenzgesetze,die für die früheren Prinzipien aufgewiesen werden mögen, auch zudem jetzt fraglichen Prinzip. Sie alle fordern ein reflektives Studiumdieser Evidenzen, ihres Ursprungs, ihrer Struktur, ihrer eigentlichen

Leistung.

1) Vgl. I. Abschnitt, § 20.

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§ 79. Die Voraussetzungen der Wahrheit und Falschheit an sichund der Entscheidbarkeit aller Urteile.

Gehen wir nun zu den ersten, Wahrheit und Falschheit sozusagendefinierenden Prinzipien zurück, die eben darum voranstehen. Wahr-heit und Falschheit bedeuten ihnen Prädikate von Urteilen, abernicht eigenwesentliche, in der traditionellen Rede nicht„konstituierende Merkmale" derselben. Man kann sie denUrteilen nicht ohne weiteres „ansehen"- Urteile selbst-gegeben haben,ist nicht, das eine oder andere dieser Prädikate selbst-gegeben haben.

Es kann nicht einmal gesagt werden, daß im eigentlichen Wort-sinn ein Anspruch auf Wahrheit den Urteilen eigenwesentlichist, und es ist daher nicht richtig, diesen Anspruchsbegriff schon vonvornherein zum Urteilsbegriff zu rechnen. Subjektiv gesprochen, esist für den Urteilenden nicht notwendig, Wahrheit mit vorzustellen,ob anschaulich oder leer. Man muß sich hier vor dem Doppelsinnder Rede von Behauptun g hüten, durch die man die Urteile zuerklären liebt. Der häufige und sozusagen betonte Sinn von Be-hauptung sagt: dafür stehe ich ein, es ist wahr, man kann es jederzeitdurch Adäquation ausweisen. Aber der Möglichkeit der Adäquationgeht das Urteil schon voraus, das in sie jederzeit eintreten könnte.Urteil ist kategorialer Glaube (grammatisch ausgedrückt prädikativer)— im gewöhnlichen engeren Sinn unmodalisierte kategoriale Gewiß-heit — also nicht schon ein Sich-überzeugt-haben durch irgendwelcheZeugen und Zeugnisse, auch nicht die letztentscheidenden: die„Sachen selbst". Also in ihrem Eigenwesen haben Urteile nichts voneinem Anspruch auf Wahrheit und Falschheit, aber es kann jedes diepraktische Intention auf Bewährung, auf das „es stimmt", oder aufEntscheidung, ob es stimmt oder nicht stimmt, in sich aufnehmen,es kann subjektiv, als Urteil im urteilenden Meinen, in genauer zuunterscheidende intentionale Zusammenhänge der Bestätigung undevidenten Bewährung treten, die zu klären wieder eine wichtige Auf-gabe der subjektiv gewandten logischen Arbeit ist.

Gemäß dem Ursprungssinn der apophantischen Logik und ihrerwesentlichen Beziehung auf Ur teilskritik wird, wie wir das schonfrüher auszuführen hatten, vom Logik er jedes Urteil von vorn-herein als zu bewährende Behauptung, also in der Er-kenntnisintention gedacht, bzw. jedes als in Frage zu stellen, unddanach jede Wahrheit als eine, sei es durch direkte rechtgebendeEvidenz oder durch Evidenz mittelbarer Methode gewonnene Ent-scheidung gedacht. Gilt es nun für den im Erkenntniswillen lebenden

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Wissenschaftler, jedes so noch nicht entschiedene Urteil zur Richtig-keitsentscheidung zu bringen, und um gegenüber zu erneuerndenZweifelsfragen und kritischen Einwänden zu bestehen, auch die schonentschiedenen evtl. nachprüfend wieder so zu behandeln, so liegt fürden Logiker und die Logik im Staude der Positivität immer schoneine Grundüberzeugung voran, eben diejenige, die jedenWissenschaftler in seinem Gebiet unausgesprochen leitet: die derWahrheit an sich und Falschheit an sich. Für uns bleibenviele Urteile ohne Rechtsentscheidung und für uns sind die meistender überhaupt möglichen de facto so nie entscheidbar, aber sie sindes an sich. Jedes Urteil ist an sich entschieden, es„gehör t" sein Prädikat der Wahrheit oder Falschheit zu seinemWesen — obschon es, wie oben gezeigt, kein konstituierendes Merk-mal irgendeines Urteils als Urteils ist. Das ist sehr merkwürdig.

Natürlich ist immer schon die Rede von fest identifizierbarenUrteilen, von uns und sogar von jedermann (in der besprochenenIdealisierung) herstellbaren und als das immer schon zur Verfügungstehenden. Also von diesen Grundvoraussetzungen und den aufsie bezüglichen schwierigen Fragen und Untersuchungen, mögen siegeführt oder übersehen sein, wollen wir jetzt nicht sprechen, obschonwir sie beständig als hier überall hineingehörig im Auge haben müssen.Jedenfalls wir als Logiker fußen auf der Gewißheit verfügbarer iden-tischer Urteile. Aber nun sollen sie „an sich entschieden" sein. Dasheißt doch durch eine „Method e", durch einen an sich seiendenund gangbaren Weg erkennenden Denkens, der unmittelbaroder mittelbar zu einer Adäquation, zu einer Evidentmachung derWahrheit oder Falschheit jedes Urteils führt. Mit all dem ist einerstaunliches Apriori jedem Subjekt möglichen Urteilens, also auchjedem Menschen und jedem erdenklichen, auferlegt; erstaunlich, dennwie sollen wir a priori wissen, daß es Denkwege mit gewissen End-ergebnissen „an sich gibt" als zu betretende aber nie betretene, Denk-aktionen unbekannter subjektiver Gestalten als ausführbare aber nie

ausgeführte.

§ 80. Die Evidenz der Wahrheitsvoraussetzung und die Aufgabeihrer Kritik.

Doch wir haben ja de facto Erkenntnis, wir haben Evidenz

und in ihr erzielte Wahrheit, bzw. abgewiesene Falschheit. Wir habenfaktisch dahin noch unentschiedene Urteile gehabt, sie faktisch inFrage gestellt und in Sicherheit vorausgesetzt, daß sie positiv oder

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Edmund ilusgert, [176

negativ zu entscheiden seien und es ist oft die Entscheidung gelungen,die diese nie formulierte Voraussetzung zugleich erfüllte. Wenn wirnun als Logiker den Satz vom Widerspruch und den vom aus-geschlossenen Dritten feststellten — geschah das nicht auf Grundeiner Wesensverallgemeinerung im Ausgang von solchen exempla-rischen Einzelfällen und evtl. daran zu vollziehenden faktischen Ver-suchen des Andersdenkens, auf Grund einer apodiktisch evidentenVerallgemeinerung, so daß wir die unbedingt allgemeine Wahrheitdieser Prinzipien und im Versuch der Leugnung die unbedingt all-gemeine Unmöglichkeit des Andersseins erfaßten? Wir hätten natür-lich statt wirklicher mögliche Wahrheiten und Falschheiten nebstderen Ausweisungen wählen können, das ist, uns in purer Phantasiehineindenkend in irgendein Urteilen und uns anschaulich-explizitWege der positiven oder negativen Adäquation au entsprechendemögliche Sachlichkeiten phantasierend. Die Wesensverallgemeinerunghaftet ja nicht am Faktum; da sie ohnehin, selbst wenn sie von einemwirklichen Faktum ausgeht, es frei variieren muß (also in ideal mög-liche Fakta), so kann sie ebensogut von vornherein von freien Mög-lichkeiten ausgehen.

Dagegen ist zunächst natürlich nichts einzuwenden. Vor allem,daß in der Tat Wahrheiten an sich bestehen, die man suchen undauf den an sich schon vorgezeichneten Zugangswegen auch findenkann, ist doch eine der fraglosen Selbstverständlichkeiten des Lebens.Man fragt nie, ob es eine Wahrheit gebe, sondern jeweils nur, wiesie erreicht werden könne, allenfalls, ob sie für unsere faktisch be-schränkte Erkenntniskraft nicht überhaupt unerreichbar sei oder obsie es nur sei bei unseren zur Zeit unzureichenden Vorkenntnissenund methodischen Hilfsmitteln. In dieser Weise, obschon immer unterSchranken, haben wir neben den Bereichen erkennbarer Wahrheiten,die ein praktisches Leben möglich machen, auch die unendlichenErkenntnisfelder der Wissenschaften. Ihre Möglichkeit beruht ganztind gar auf dieser Gewißheit, daß ihre Gebiete in Wahrheit sind unddaß für sie theoretische Wahrheiten an sich bestehen als zu verwirk-lichende auf zu erforschenden und schrittweise zu verwirklichendenErkenntniswegen.'

Von diesen Selbstverständlichkeiten wollen wir nichts preisgeben,sie haben sicherlich den Rang von Evidenzen. Aber das darf unsnicht hindein, sie einer Kritik zu unterwerfen, sie nach ihremeigentümlichen Sinn und ihrer „Tragweite" zu be-tragen. Urteilsevidenzen können Voraussetzungen haben —nicht gerade Hypothesen, sondern im Bereich der Evidenz der sach-

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liehen Unterlagen Inhbeschlossene, also die Wahrheiten und Falsch-heiten mitfundierende Voraussetzungen — die eben nicht zur evi-denten Fixierung kommen, weil das Erkenntnisinteresse nicht in dieseRichtung geht und es sich vielleicht um Selbstverständlichkeiten einerArt handelt, die im betreffenden Erkenntnisgebiet in immer gleicherWeise ihre eben darum uninteressante Rolle spielen.

Man beachte z. B. das ungeheure Reich der okkasionellenUrteile, die doch auch ihre intersubjektive Wahrheit und Falsch-heit haben. Sie beruht offenbar darauf, daß das ganze tägliche Lebendes Einzelnen und der Gemeinschaft auf eine typ is eh e Gleich-artig k eit der Situationen bezogen ist, derart daß jeder, der indie Situation eintritt, als normaler Mensch eo ipso die ihr zugehörigenund allgemeinsamen Situationshorizonte hat. Man kann dieseHorizonte nachträglich explizieren, aber die k onsti t ui e r en d eH oriz o 11 tint en tion alitä t, durch die die Umwelt des täglichenLebens überhaupt Er f ahrungswelt ist, ist immer früher als dieAuslegung des Reflektierenden; und sie ist es, die den S inn d e rokkasionellen Urteile wesentlich bestimmt, immer undweit über das hinaus, was jeweils in den Worten selbst ausdrücklichund bestimmt gesagt ist und gesagt werden kann'). Das sind also„Voraussetzungen", die als in der konstituierenden Intentionalitätbeschlossene intentionale Implikate schon den gegenständlichen Sinnder nächsten Erfahrungsumgebung beständig bestimmen, und diedaher einen total anderen Charakter haben als Prämissenvoraus-setzungen und überhaupt als die bisher von uns besprochenen ideali-sierenden Voraussetzungen des prädikativen Urteilens. In der for-malen Abstraktion logischen Denkens und bei seiner Naivität könnensolche nie formulierte Voraussetzungen leicht übersehen und dadurchkann selbst den logischen Grundbegriffen und Prinzipien eine falscheTragweite zuerteilt werden.

überhaupt ist ja schon aus unseren bisherigen Stücken einerEvidenzkritik sichtbar geworden, daß Evidenz zunächst eine naivbetätigte und „verborgene Methode" ist, die nach ihrer Leistungbefragt werden muß, damit man weiß, was man in ihr, als einemBewußtsein im Modus der Selbsthabe, wirklich selbst hat und mitwelchen Horizonte n. Die Notwendigkeit und Bedeutung dieser

1) In den Logischen Untersuchungen fehlte mir noch die Lehre von derIlorizontintentionalitiit, deren allbestimmende Rolle erst die „Ideen' herausgestellthaben. Darum konnte ich dort mit den okkasionellen Urteilen und ihrer Bedeutungnicht fertig -werden.

Hueserl, Jahrbuch f. Philosophie. X. 12

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178 Edmund Husserl, [178

tiefsten Leistungskritik wird freilich im weiteren lua sehr viel höheremMaße sichtlich und verständlich werden. Und verständlich wird dabeiauch werden, warum die Frage, was ist Wahrheit? keine bloßeSpielfrage einer zwischen skeptischem Negativisnuus bzw. Relativismusund logischem Absolutismus verhandelnden Dialektik ist, sondern eingewaltiges Arbeitsproblem, das auf einem eigenen Boden der Sach-lichkeit beruht und auf höchst umfassende Untersuchungen verweist.Es wird sich von immer neuen Seiten zeigen, daß die Logik vor allemdarum unfähig ist, der Idee einer echten Wissenschaftslehre genug-zutun, also allen Wissenschaften wirklich zur Norm zu gereichen,weil zu ihren formalen Allgemeinheiten die intentionale Kritik fehlt,die einer fruchtbaren Anwendung Sinn und Grenzen vorschreibt.

§ 81. Formulierung weiterer Probleme.

Unser jetziges Thema, der Sinn der logischen „Wahrheit an sich"oder auch der „objektiven Wahrheit", bzw. die Kritik der auf sie be-züglichen Prinzipien, hat verschiedene Problemseiten an sich, die aberso innig verschlungen sind, daß sie einer Darstellung Schwierigkeitenbereiten.

Den problematischen Sinn des mit dem „ein für allemal wahr"verbundenen „wahr für jedermann" haben wir schon berührt, aberkeineswegs schon voll enthüllt und geklärt.

Ein weiteres ist die Problematik, die sich durch die Beziehungder prädikativen Wahrheit auf Gegenstände-worüberergibt und schließlich auf „letzte Substrate", auf Gegenstände mög-licher „Erfahrung". Diese Gegenstände, das im letzten Sinne Sach-liche, sind im Sinne der traditionellen Logik „Objektives";Erfahrung ist eo ipso objektive Erf ahrung, Wahrheit eo ipsoobjektive Wahrheit. Sie ist Wahrheit an sich für „Objekte" —einer objektiven Welt. Als solche „Objekte" sind sie ihrerseits„an sich" und nicht nur überhaupt beurteilbar, sondern, wie gesagt,so, daß jedes Urteil entscheidbar ist in Wahrheiten (und Falsch-heften) an sich.

Damit hängt nahe zusammen, daß der Sinn dieses Seins derObjekte in der traditionellen Logik in der Regel gedacht ist im Sinneeines absoluten Seins, dem die Beziehung zur erkennendenSubjektivität und ihren wirklichen oder möglichen subjektiven „Er-scheinungen" außerwesentlich ist. Das absolute Sein aller Objekte hatsein Korrelat in einer absoluten Wahrheit, die es vollständigerschöpfend prädikativ entfaltet.

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Zu all dem haben wir die entsprechenden Evidenzprobleme, die,da was immer wir vernünftig aussagen wollen, aus Evidenz geschöpftsein soll, für jeden Punkt aufzuwerfen sind. Aber allgemein kommthier in Frage der Evidenzbegriff der traditionellenLogik, der als Korrelat der absoluten Wahrheit und der absolutseienden Gegenstände den Leistungssinn absoluter Evidenzhaben soll. In Zusammenhang damit steht die Klärung der all-bekannten Unterschiede zwischen unvollkommener und voll-kommener Evidenz, evtl. unechter und echter. AnderePunkte von Wichtigkeit, die sich vorweg nicht so leicht verständlichbezeichnen lassen, werden noch im Zusammenhang der Darstellungselbst ihre Motivation und Beschreibung finden.

4. Kapitel.

Rückführung der Evidenzkritik der logischenPrinzipien auf die Evidenzkritik der Erfahrung.

§ 82. Die Reduktion der Urteile auf letzte Urteile.Die kategorialen Urabwandlungen des Etwas und das Ursubstrat

Individuum.

Unser Erstes muß der Rückgang vom Urteil zu denUrteilssubstraten, von den Wahrheiten zu ihren Gegen-ständen-worüber sein.

Hier bedarf es zunächst einer wichtigen Ergänzung der purenLogik der Widerspruchslosigkeit, die zwar die eigentliche formaleMathematik überschreitet, aber doch noch nicht zur Wahrheitslogikgehört. Es handelt sich sozusagen um ein üb ergangsgliedzwischen beiden.

Die Formalisierung, welche die Analytik vollzieht und welcheihren eigentümlichen Charakter bestimmt, bestand, wie wir unserinnern, darin, daß die syntaktischen Stoffe oder „Kerne" derUrteile als bloßes Etwas überhaupt gedacht wurden, so daß nur diesyntaktische Form, das spezifisch Urteilsmäßige (eingerechnet dieKernformen, wie die Form der Substantivität, Adjektivität usw.) fürdie begrifflichen Wesen bestimmend wurde, die als „Urteilsformen"in die logischen Gesetze der Analytik eingingen. Hier ist nun dieRelativität zu beachten, in der diese Gesetze die unbestimmtallgemeinen Kerne belassen. Z. B. die Form des kate-gorischen Urteils und des Näheren des adjektivisch bestimmendensagt nichts darüber, ob Urteilssubjekt und -prädikat nicht schon

tg.

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Edmund Huzand, [180

syntaktische Formen im Kern selbst enthalten; das Subjekt S, alsForm verstanden, besondert sich formal ebensogut durch S, welchesa ist, S waches a, b ist, oder S welches in Relation zu Q steht usw.Dabei ist es offen, daß in jeder dieser Formen das S selbst schon der-artige syntaktische Gestalten in sich habe. Ebenso kann auf Prädikat-seite das p schon eine kategoriale Bestimmung in sich tragen (etwaq seiendes p, wie z. B. blutrot); und so in einem beliebig kompliziertenIneinander. Es ist aber apriori einzusehen, daß jedes w i rklicheund mögliche Urteil, wenn wir seinen Syntaxen nachgehen,auf letzte Kerne zurückführt, bzw. daß es letztlich ein dyn-taktischer Bau, wenn auch evtl. ein sehr mittelbarer ist aus eiernt n-taren Kernen, die keine Syntaxen mehr enthalten.Auch werden wir durch das substantivierte Adjektiv, seinemSinne nachgehend, zurückgeführt auf das u rsp r üng I iche A d-je k t iv bzw. auf das ursprünglichere Urteil, dem es zugehört und indem es als irreduzible Urform auftritt. Ebenso führt uns eineAllgemeinheit höherer Stufe (wie z. B. der logischen FormgattungUrteilsform) zurück auf Allgemeinheiten niederer Stufe (im Beispieldie besonderen Urteilsformen). Und stets ist es klar, daß wir reduktivauch auf entsprechend Letzt es kommen, also auf 1 e tz t e Sub-stra te, formal-logisch auf absolute Subjek te (nicht mehrnominalisierte Prädikate oder Relationen usw.), auf le t z te Prä di-ka te (nicht mehr Prädikate von Prädikaten und dgl.), letzteAllgemeinheiten, letzte Relationen 1).

Das aber ist recht zu verstehen. In der Urteilslogik sind Urteile,wie wir ausgeführt haben, Sinne, Urteilsmeinungen als Gegenstände.Demnach besagt die Reduktion, daß wir, rein de n Meinungennachgehend, auf letzte Etwas-Meinungen, also zunächsthinsichtlich der vermeinten Urteilsgegenstände auf v ermeinteabsolute Gegenstände-worüber kommen. Ferner daß wir inden letzten Urteilen, auf die sich die Urteile verschiedener Stufeaufbauen, zurückkommen auf die kat ego ria len Ur a bw an d-lung en des Sinnes: absolutes Etwas, auf absolute Eigen-schaften, Relationen usw. als Sinne.

Für die mathesis universali4 als formale Mathematik haben dieseLetztheiten kein besonderes Interesse. Ganz anders für die Wahr-heit s 1 og ik ; denn letzte Substratgegenstände sind Individuen,von denen in formaler Wahrheit sehr viel zu sagen ist und a u fdie sich schließlich alle Wahrheit zurückbezieht.

1) Vgl. dazu unten die Beilage L

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Bleibt man im Formalen der puren Analytik, bezieht sich alsodie Evidenz, die ihr dient, nur auf die puren Urteilssinne in derDeutlichkeit, so kann man den zuletzt ausgesprochenen Satz nichtbegründen, er ist keineswegs ein „analytischer" Satz. Ihn ein-zusehen muß man sich letzte Kerne anschaulich machen,statt aus der Evidenz der Sinne, aus der Evidenz der ihnen ent-sprechenden „Sachen" Fülle der Adäquation schöpfen. Analytischlogisch kann man so viel, aber auch nicht mehr sagen, daß es imSinn gewisse Sinnelenaente geben muß, als letzte Kernstoffe allersyntaktischen Formen, und daß man zurückgeführt wird auf Urteils-zusammenhänge letzter Urteile mit „individuellen" Substraten.Analytisch kann man über Möglichkeit und Wesens-struktur von Individuen nichts aussagen; selbst daß ihnenz. B. eine Zeitf orm notwendig eignet, Dauer und qualitative Fülleder Dauer usw., das kann man nur aus einer sachlichen Evidenz herwissen, und in den Sinn kann es nur hineinkommen durch vorgängigesyntaktische Leistung.

§ 83. Parallele Reduktion der Wahrheiten. Rückbeziehung allerWahrheiten auf eine Welt von Individuen.

Der Reduktion der Urteile auf letzte Urteile mit letztem Sinnentspricht eine Reduktion der Wahrheiten von den Wahr-heiten höherer Stufe auf diejenigen der niedersten Stufe, dasist auf Wahrheiten, die direkt auf ihre Sachen und Sach-sphiren bezogen sind, oder da die Substrate die führende Rollespielen, bezogen sind auf individuelle Gegenstände in ihrenGegenstandssphären — individuelle Gegenstände, die also in sichselbst nichts von Urteilssyntaxen enthalten und ihrem erfahrbarenDasein nach vor allem Urteilen liegen. Das Sichbeziehen derUrteile (nicht Urteilssinne) auf Gegenstände besagt, daß im Urteilselbst diese Gegenstände als Substrate, als die, worüber ausgesagt ist,gemeint sind, und die reduktive Überlegung lehrt, als ein Apriori,daß jedes erdenkliche Urteil letztlich (und je nachdembestimmt oder unbestimmt) individuelle (in einem weitesten Sinnereale) Gegenstandsbeziehung hat und (was schon weiter-führend und zu begründen ist) daß es somit Beziehung hat aufein reales Universum, auf eine „Welt" oder ein Welt-gebiet, „für das es gilt".

Es ist zu näherer Begründung darauf hinzuweisen, daß allgemeine

Urteile in Bestimmtheit nichts von Individuen besagen aber in ihrem

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182 Edraarx d Nueperl, [18

Umfang sinngemäß unmittelbar oder mittelbar schließlich auf indivi-duelle Einzelheiten zurückbezogen sind. Das ist zunächst klar fürsachhaltige Allgemeinheiten. Wie sehr sie in Form höheratufigerAllgemeinheiten im Umfang selbst wieder auf Allgemeinheiten be-zogen sein mögen, sie müssen evidenterweise in einer endlichen Zahlvon Schritten auf sachhaltige Einzelheiten zurückführen, die nichtselbst wieder Allgemeinheiten, also Individuen sind. Handelt es sichaber um formal-analytische Allgemeinheiten, wie etwa Zahlen oderMaxmigfaltigkeiten, BO gehört zu ihrem Umfang, bzw. dem ihrer Ein-heiten „alles und jedes". Darin liegt die Bestirambarkeit durch will-kürlich zu wählende Gegenstände überhaupt, die nun zwar selbstwieder analytisch-formale Gebilde sein könnten, für deren Einheitendasselbe gilt und so in infinitum. Es gehört aber auch sinngemäßdazu die Anwendbarkeit auf willkürlich zu wählende Sachhaltigkeiten,womit wir auf das Vorige zurückkämen. Somit hat in der Tat jedwedeAllgemeinheit im Umfang letztlich Beziehung der Anwendbarkeit aufsei es durch sachhaltige Allgemeinheiten umgrenzte oder selbst darinoffen-beliebige Individuen. Es entspricht nun dem Sinne der formalenLogik — und damit aller formal-analytischen Allgemeinheitsbildungals wissenschaftstheoretischer Funktion — sachhaltig-wissenschaft-lichen Zwecken dienen zu wollen. Bei aller Freiheit iterativerFormenbildungen und aller Rückbezogenheit auf ihre eigene Wissen-schaftlichkeit will sie doch auch in diesen Iterationen und dieserRückbezogenheit nicht ein Spiel mit Leer-Gedanken bleiben, sondernzur sachhaltigen Erkenntnis dienen. Also die Anwendbarkeit letztlichauf Individuen ist für die formale Analytik zugleich ein auf allemöglichen individuellen Sphären teleologisch bezogen sein— die also logisch das an sich Erste sind.

§ 84. Stufenfolge der Evidenzen; die an sich erste die derErfahrung. Der prägnante Begriff der Erfahrung.

Ist nun Wahrheit in Frage und korrelativ Evidenz, durch die sieursprünglich zu eigen wird, so ist gerade dies eben Ausgeführte vonoffenbarer Bedeutung. Der Stuf enfolge der Urteile und ihrerUrteilssinne folgt die der Evidenzen, und die an sich erstenWahrheiten und Evidenzen müssen die individuellensein. Die Urteile in der subjektiven Vollzugsform der Evidenz, undzwar der wirklich ursprünglichsten, der ihre Substrate undSachverhalte ursprünglich und ganz direkt erfassenden, müssenapriori die Individualurteile- sein.

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Individuen sind gegeben durch Erfahrung, Erf ahrung imersten und prägnantesten Sinne, welche eben als direkteBeziehung auf In dividuelles sich definiert. Hierbei muß, wennwir als Erfahrungsurteile die Gruppe der Urteile ursprüng-lichster Evidenz nehmen, Erfahrung in gewisser Weise doch in einemweiten Sinne genommen sein, nicht nur als Selbstgebung individuellenDaseins schlechthin, also in Seinsgewißheit, sondern auch erstrecktauf die Modalisier ung e n dieser Gewißheit, die sich ja in Ver-mutlichkeit, Wahrscheinlichkeit usw. wandeln kann. Aber gegenüberallen diesen Formen „wirklicher" d. i. positionaler Erfahrungkommt auch in Betracht die „neutralisierte" Erfahrung, die „E r-fahrung als ob", wir können auch sagen „Erfahrung in derPhantasi e", die in einer entsprechenden frei möglichen Ein-stellungsänderung zur positionalen Erfahrung eines möglichen Indivi-duellen wird. Natürlich gehören zur Erfahrung-als-ob parallele Als-ob-Modalitäten ihres Urmodus der Seinsgewißheit-als-ob.

§ 85. Die echten Aufgaben der sogenannten Urteilstheorie.Die Sinnesgenesis der Urteile als Leitfaden zur Aufsuchung der

Stufenordnung der Evidenzen.

Die soeben durchgeführte Betrachtung eröffnet uns das Ver-ständnis für die eigentliche Aufgabe der vielberedeten, aberziemlich fruchtlos gebliebenen „Urteilstheori e" — fruchtlos,weil jedes Verständnis für die Art der subjektiv gerichteten Unter-suchungen fehlte, die für die Urteile im Sinne der Logik und die aufsie bezüglichen Grundbegriffe notwendig waren.

1. War die allgemeine Verworrenheit soweit gelichtet, daß (inOberwindung der psychologistischen Vermengung) Urteilen undUrteil selbst (das ideale Gebilde, der ausgesagte Satz) unter-

schieden wurde, 80 konnte nun erst recht ein sinnvolles subj ek tivgerichtetes Problem nicht gestellt werden, solange nicht daseigentümliche Wesen der Intentionalität überhaupt als kon-stituierender Leistung verstanden war, also auch die Urteilsinten-tionalität nicht verstanden war als die für die idealen Urteilsgebilde— und im besonderen die Intentionalität des evidenten Urteilens alsdie für die idealen Wahrheitsgebilde — konstituierende Leistung.So ist es nach jener Scheidung zwischen Urteilen und Urteil das erstein der Logik von hier aus zu stellende Urteilsprohl em, dieim Rückgang auf die unterschieden leistende Intentionalität ver-laufenden phänomenologischen Klärungen durchzuführen, in denen

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Edmund Ilueuerl, [184

die verschiedenen Urteilsbegriffe d r ogik als Grund-begriffe für ihre Disziplinen ursprungsmäßig sich sondern, und zu-gleich in ihrer Aufeinanderbeziehung verständlich werden.

2. Ist diese erste Reihe von Untersuchungen durchgeführt — ebendieselbe, die wir in den früheren Teilen dieser Schrift versucht haben— so werden reduktiv e Überlegungen der Art notwendig, dieuns vorhin 1) beschäftigt haben. Von ihnen aus enthüllen sich die v e r -borgenen intentionalen Implikationen, die im Urteilen,bzw. im Urteil selbst als seinem Gebilde beschlossen sind. D i eUrteile als Sinne haben danach eine Sinnesgenesis.

Was das besagt, versteht sich aus den phänomenologischenRückweisen, die z. B. ein nominalisiertes Prädikat (das Rot)noetisch auf eine nominalisierende Tätigkeit, noematisch auf dasPrädikat in seiner Ursprünglichkeit (rot) an sich trägt. Eben solchephänomenologischen Rück weise zeigt jede sonstige nominalisierteSinngestalt (wie „die Ähnlichkeit", „dies, das S p ist") auf die ent-sprechende ursprünglichere Gestalt, bzw. auf die zugehörigen nominali-sierenden Tätigkeiten; oder auch jede attributive Bestimmung imSubjekt auf die Ursprünglichkeit der Bestimmung als Prädikat usw.

Hieraus ergibt sich schon für die Formenlehre und dannfür das Vorgehen in einer Analytik der Konsequenz einPrinzip genetischer Ordnung, die zugleich bestimmendwird für das spezifisch logische Absehen der Analytik, das mit denWahrheitsbegriffen und Sätzen zum Austrage kommt. In sub-jektiver Hinsicht besagt das, daß die vorgezeichnete Ordnung derUrteilsformen zugleich in sich birgt eine vorgezeichneteOrdnung sachlicher Evidentmachung und in der Ab-stufung der wahren Sachlichkeiten selbst.

Die Enthüllung der Sinnesgenesis der Urteile besagt genauer ge-sprochen, so viel wie Aufwickelung der im offensichtlich zutagegetretenen Sinn implizierten und ihm wesensmäßig zugehörigenSinnesmomente. Die Urteile als fertige Produkte einer „Konstitution"oder „Genesis" können und müssen nach dieser befragt werden. Esist eben die Wesenseigenheit solcher Produkte, daß sie Sinne sind, dieals Sinnesimplikat ihrer Genesis eine Art Historizität in sich tragen;daß in ihnen stufenweise Sinn auf ursprünglichen Sinn und die zu-gehörige noematische Intentionalität zurückweist; daß man alsojedes Sinngebilde nach seiner ihm wesensmäßigen Sinnes-geschichte befragen kann.

1) Vgl. § 82 u. 83.

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Diese wundersame Eigenheit gehört zur Universalität des Be-wußtseins überhaupt als leistender Intentionalität. Alle intentionalenEinheiten sind aus einer intentionalen Genesis, sind „konstituierte"Einheiten, und überall kann man die „fertigen" Einheiten nachihrer Konstitution, nach ihrer gesamten Genesis befragen und zwarnach deren eidetisch zu fassender Wesensform. Diese fundamentaleTatsache, in ihrer Universalität das gesamte intentionale Lebenumspannend, ist es, die den eigentlichen Sinn der inten-tionalen Analyse bestimmt als Enthüllung der in-tentionalen Implikationen, mit denen, gegenüber dem offenfertigen Sinn der Einheiten, ihre verborg enen Sinnesmomente und„kausalen" Sinnesbeziehungen hervortreten. Jedenfalls verständlichist uns das im Urteil und insbesondere wird nun auch verständlich,daß nicht nur der offene oder fertige Sinn, sondern derimplizierte beständig mitzureden hat, und daß er ins-besondere bei der Evidentmachung, hier in unserer logischen Sphärebei der Evidentmachung der logischen Prinzipien, wesentlich mitfungiert. Das betrifft aber, wie sich gleich zeigen wird, nicht bloßdie syntaktischen Implikationen, sondern auch die tieferliegendeGenesis, die schon zu den letzten „Kernen" gehört und die auf dieUrsprünge aus Erfahrungen zurückweist. Ohne daß wir über all dasKlarheit haben, können wir auch nicht über die logischen Prinzipienwirklich verfügen, wir wissen nicht, was in ihnen an verborgenenVoraussetzungen liegen mag.

§ 86. Die Evidenz der vorprädikativen Erfahrung als an sicherstes Thema der transzendentalen Urteilstheorie. Das Erfahrungs-

urteil als das Urteil des Ursprungs.

Die unterste Stufe, auf die wir, am Leitfaden der Sinnesgenesiszurückschreitend, kommen, führt uns, wie wir schon wissen, auf dieIn di vidualurteil e und somit für die evidenten Urteile im Sinneder Erschauung der Sachverhalte selbst auf individuelle Evidenzenschlichtester Gestalt: es sind die schlichten Erfahrung surteil e,Urteile über Gegebenheiten möglicher Wahrnehmung und Erinnerung,normgebend für die Richtigkeit der kategorischen Urteilsmeinungender niedersten Individualstufe.

Verwerten wir einen Satz aus der allgemeinen Bewußtseinslehreund zwar aus der Phänomenologie der universalen Bewußtseinsgenesis.Er sagt, daß Bewußtsein vom Modus der Selbstgebung fürjede Art von Gegenständlichkeiten allen anderen auf sie bezogenen

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Edraund Hmwert, [186

Bewußtseinsweisen als genetisch sekundären vorangeh t. Selbst-gebendes Bewußtsein geht ja immer auf dem Wege der Retentionund Protention in nicht selbstgebendes, in Leerbewußtsein über. AuchWiedererinnerung, obschon sie anschaulich sein kann, ist Weckungeines Leerbewußtseins und weist auf früheres Originalbewußtseinzurück. Danach ist unter Gesichtspunkten dieser Genesis die a nsich erste Urteilstheorie die Theorie der evidentenUrteile, und das an sich erste in einer Theorie derevidenten Urteile (und damit in einer Urteilstheorie überhaupt)ist die genetische Rückführung der prädikativen Evi-denzen auf die nichtprädikative Evidenz, die da Er-fahrung heißt. Diese geht dabei unter entsprechenden intentionaleuAusgestaltungen in das genetisch unterste Urteilen mit ein und hin-sichtlich ihrer Leistung in das Urteilsgebilde selbst.

Hier steht man in der Tat vor dem an sich ersten Anfangeiner systematischen Urteilstheorie, als einer Theorie,die eben der wesensmäßigen systematischen Genesis des ursprünglichan den Sachen selbst betätigten Urteils, des „evidenten" nachgehtund dann den bestimmt vorgezeichneten Wegen, die von dem an sichErsten in dieser Genesis emporleiten.

An diesem Anfang liegt auch die systematische Stelle, um v o mUr t eil her zu en t decken, daß Gewißheit und Gewißheits-modilitäten, daß vermeinende Intention und Erfüllung, identischSeiendes und identischer Sinn, evidente Selbsthabe, Seinswahrheit(„wirklich" sein), Wahrheit als Sinnesrichtigkeit — daß all dasnicht ausschließlich Eigenheiten der prädikativenSphäre sind, sondern schon zur Intentionalität derErfahrung gehören. Von da aus sind sie zu verfolgen in die Selbst-gebungen oder Evidenzen höherer Stufe, z. B. der nächsten Ab-wandlungen des Individuellen (Eigenschaft, Relation usw.)und insbesondere der Evidenz des (ans individueller Erfahrung zuschöpfenden) Allgemeinen mit seinem individuellen Umfangssinn.

So kommt man vom Erfahrungsurteil, und zwar dem un-mittelbarsten der kategorischen Form, zur Er f a hrung und zudem Motiv einer Erweiterung des Urteilsbegriffes,die durch den Humeschen Begriff des belief bezeichnet ist. Freilichbleibt dieser weiteste Begriff historisch in einer rohen, ja sinnwidrigenFassung. Ihre Unzulänglichkeit zeigt sich schon darin, daß die Iden-tifikation von Urteil und „belief" alsbald zur Beiziehung einer diesen„Glauben" angeblich fundierenden „Vorstellung" nötigt. Es ist hiernicht der Ort, daran ausführlich Kritik zu üben. Der Locke sehe

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Sensualismus, der in Hume und J. St. Mill zur Vollendung kommtund in der neuzeitlichen Philosophie nahezu allherrschend wird, findetin diesem belief ein bloßes Datum der „inneren Sinnlich-keit", nicht viel anders als ein Datum der „äußeren Sinnlichkeit",wie etwa ein Tondatum oder Geruchsdatum. Befangen in derParaIlelisierung „innerer" und „äußerer" Erfahrung,bzw. der individuellen psychischen Seinssphäre (der in der imma-nenten Erfahrung in ihrem realen Sein erfaßten — wie man meinte)und der Sphäre physischen Seins, schien es selbstverständlich, daßim Grunde die Urteilsprobleme, die psychischen Problemeüberhaupt, wesentlich gleichen Sinn haben mußten, und nachder gleichen Methode zu behandeln seien, wie die Probleme derphysischen Natur — als Realitätsprobleme, Problemeeiner Psychologie als Wissenschaft von den „psychischen Phäno-menen", den Daten der „inneren Erfahrung", darunter eben denbelief-Daten. In dieser Blindheit für Intentionalität überhaupt undselbst nach ihrer Geltendmachung durch Brentano, für ihre objek-tivierende Funktion, gingen freilich alle wirklichen Urteils-probleme verlore n. Stellt man ihren echten Sinn heraus, soführt also die Intentionalität der prädikativen Urteile letzten Endeszurück zur Intentionalität der Erfahrung.

Die Theorie der Evidenz des schlichten kategorischen Erfahrungs-urteils ist nach dem oben Angedeuteten insofern die „an sich erste"Urteilstheorie zu nennen, als in der intentionalen Genesis das nichtevidente Urteil, selbst das widersinnige, auf einen Ursprung aus Er-fahrungsurteilen zurückweist. Es ist zu betonen, daß dieses Zurück-verweisen, ganz wie das vorhin besprochene der prädikativenSinnegenesis, nicht abgeleitet ist aus einer induktiven Empiriedes psychologischen Beobachters, etwa gar des „denkpsychologischen"Experimentators, sondern es ist, wie in der Phänomenologie Zuzeigen ist, ein Wesensbestand der Intentionalität, ausihrem eigenen intentionalen Gehalt in den entsprechenden Erfüllungs-leistungen zu enthüllen. Danach ist es so, daß zwar für uns,als uns philosophisch und logisch Besinnende, nicht- evident esund evidentes Urteil sich in gleicher Ebene bieten,und daß demnach der Weg der naiv-positiven Logik dernatürliehe ist, während doch an sich betrachtet das evidenteund zutiefst das Erfahrungsurteil das Urteil des Ur-sprungs ist. Von seinen Syntaxen, den an sich ersten, geht diehöhere syntaktische Genesis aufwärts, mit der sich die formaleAnalytik in ihren Theorien ausschließlich beschäftigt und zwar mit

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Rücksicht auf die in den apriorischen Vollzugsformen der Deutlich-keit und ihrer intentionalen Korrelate liegenden Bedingungen mög-licher Urteilsevidenz.

Hat nun die formale Analytik nach Gebiet und Theorie es nurmit den Formen möglicher Urteile und Wahrheiten zu tun undkommt da rin nichts von Evidenz und Erfahrung vor, so muß siedoch in ihren subjektiven, „erkenntniskritischen", auf die radikaleMethode der intentionalen Leistungen gerichteten Forschungen denkategorialen Mittelbarkeiten der Evidenz, bzw. Bewährung nachgehen,und demgemäß die Leistung der Urteile des Ursprungsaufklären. Durch sie ist alle Wahrheit und alle Urteilsevidenz,wie wir sehen, zurückbezogen auf den Urboden der Erfahrung, undda diese selbst in den ursprünglichen Urteilen und n ich t nebenihnen fungiert, so be da rf die Logik — wenn sie für die Rechts-gründe und Rechtsgrenzen ihres Apriori und somit für ihren recht-mäßigen Sinn soll wissenschaftliche Auskunft geben können — e in erThe orie der Erfahrung. Wird dem Urteil im weitesten Sinneschon die Erfahrung zugerechnet, so ist schon diese Erfahrungstheorieals die erste und unterste Urteilstheorie zu bezeichnen. Natürlichmuß diese Auslegung der Erfahrung als der den spezifisch katego-rialen Funktionen vorangehenden und sich ihnen eingestaltendenFunktion dem formal-logischen Zweck gemäß in einer „f o rmale n"All g eme in heit gehalten werden — formal in dem Sinne, der insubjektiver Hinsicht K orrelat ist des Formalen der Analytik. Diehierhergehörige, keineswegs leichte Aufwickelung der vielgestaltigenErfahrungsleistung, die im Erfahrungsurteil sich vollzieht und diesesursprünglichen Urteils selbst, soll an einer anderen Stelle durch-geführt werden 1)• Besonders hervorgehoben sei nur, daß schon diesefundierende Erfahrung ihre Weise der syntaktischen Leistungen hat,die aber noch frei sind von all den begrifflichen und grammatischenFormungen, die das Kategoriale im Sinne des prädikativen Urteilsund der Aussage charakterisieren 2)

1) In den oben schon wiederholt angekündigten Studien war Logik.2) In meinen Logischen Untersuchungen 112, 6. Unters., wurde der Begriff

des Kategorialen zuerst eingeführt, ausschließlich in der Blickrichtung auf dasSyntaktische im Urteil. Es wurde noch nicht geschieden: zwischen dem Syntak-tischen überhaupt, das schon in der vorprädikativen Sphäre auftritt und übrigensauch seine Analoge im Gemüt hat, und dem Syntaktischen der spezifischenUrteilssphäre.

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§ 87. Übergang zu den höherstufigen Evidenzen. Die Frage nachder Relevanz der Kerne für die Evidenz der sachhaltigen und der

formalen Allgemeinheiten.

Aufsteigend von der individuelle Gegenstände gebenden Er-fahrung hat man in einer systematischen Urteilstheorie überzugehenzu den sich darauf bauenden möglichen Verallgemeinerungen und zufragen, in welcher Weise für ihre Evidenz die zugrunde liegende Er-fahrung fungiert. Es zeigt sich dann ein fundamentaler Unterschiedin der Art der Wese ns verallgemeinerungen, wie sie einerseits imSinne des ma t er ialen, andererseits in dem des f o rmalenApriori vollzogen werden. Dort schöpfen wir aus dem Indivi-duellen, das zum Exemplarischen wird. eigenwesentliche Ge-halte und gewinnen die sachhaltigen Wesensgattungen und Arten unddie sachhaltigen Wesensgesetze; in der f ormalisierenden Ver-allgemeinerung soll aber jedes Individuum zum Etwas üb er-ha up t entleert werden. Demgemäß soll jede syntaktische Gegen-standsbildung aus Individuen und so wieder jedes kategoriale Gebildeaus irgend schon voran liegenden kategorialen Gegenständlichkeitenin gleicher Weise als Modus des bloßen Etwas-überhaupt in Betrachtkommen. An Stelle des Individuellen tritt überall die Setzung „eingewisses beurteilbares Substrat überhaupt", während das Bilden derAllgemeinheiten ausschließlich auf die Fo rraen und Formgattungen kate-gorialer Gebilde als solcher geht. Hier bleibt alle Gesetzmäßigkeit ineiner Relativität, die es unbestimmt läßt, ob und wie die unbestimmtenSubstrate der kategorialen Formen auf Individuelles zurückleiten.

Dieser wesentliche Unterschied zwischen sachhaltiger und forma-lisierender Verallgemeinerung ergibt im Übergang von den Urteilenals bloßen Meinungen zu den Wahrheiten beiderseits sehr ver-schiedene Probleme der Evidenz und Wahrheit,also auch beiderseits sehr verschiedene Probleme derKritik der apriorischen Erkenntnis. Jedes sachhaltigeApriori (hineingehörig in den Zusammenhang einer im nor-malen Sinne „ontologischen" Disziplin und letztlich in eineuniversale Ontologie) fordert zur kritischen Herstellung derechten Evidenz den Rückgang auf exemplarische Anschauungvon Individuellem, also auf „mö glich e" Erfahr ung. Esbedarf der Erfahrungskritik und darauf gestuft der Kritik derspezifischen Urteilsleistung, also der wirklichen Herstellung der anden Gegebenheiten möglicher Erfahrung selbst zu vollziehenden syn-taktischen oder kategorialen Gebilde. Die Evidenz analy tie ch

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apriorischer Gesetze bedarf solcher bestinunten individuellenAnschauungen nicht, sondern nur irgendwelcher Exempelvon Kate go ria lie n, evtl. schon mit unbestimmt allgemeinenKernen (wie wenn Sätze über Zahlen als Beispiele dienen), die zwarauf Individuelles intentional z ur üc kweisen mögen, aber in dieserHinsicht nicht weit er befragt und ausgelegt werden müssen.Man hat sich nicht in einen vorgelegten sachhaltigen Sinn zu ver-tiefen, so wie im materialen Apriori, wo die Evidenz ganz auf derVertiefung in das Eigenwesentliche irgendwelcher Sachen und aufseiner Explikation beruht.

Indessen die aus der Siruagenesis erwachsende Sinnbeziehungaller kategorialen Meinungen — alsoauchaller der formalenAnalytik möglicherweise dienenden Exempel — auf Individuelles, alsonoetisch auf individuelle Evidenzen, auf Erfahrungen, kann dochnicht gleichgültig sein für Sinn und mögliche Evidenzde r analytischen Gesetze und zu oberst der logischen Prin-zipien. Wie könnten sie sonst f orma I- ontologi s c he Geltungbeanspruchen: in eins mit der Geltung für alle mögliche prädikativeWahrheit, Geltung für alles erdenk liehe Se ien d e. Diese Er-denklichkeit besagt doch Möglichkeit der Evidenz, die eben letztlich,wenn auch in formaler Allgemeinheit, auf mögliches Individuelles über-haupt, bzw. mögliche Erfahrung zurückführt. Der L ogiker hat beider ursprünglichen evidenten Schöpfung seiner logischen Prinzipienirgendwelche Urteile (Kategorialien) als Exempel vor Augen. Ervariiert sie im Bewußtsein freier Beliebigkeit, bildet das Bewußtsein„irgendwelcher Urteile" überhaupt; und in der reinen Allgemeinheitsollen die Einsichten über Wahrheit und Falschheit konzipiert sein,deren typischer Wesensstil in der Variation durchgehalten wird. DieExempel stehen da vor ihm als fertige Produkte einer von ihm, all-gemein zu reden, gar nicht betätigten Genesis. In der naiven Evident-machung der Prinzipien ist von einer Enthüllung dieser Genesis undihrer Wesensgestalt keine Rede, geschweige denn, daß eidetisch derWesensgehalt des in so gearteter Genesis konstituierten Sinnes Urteilüberhaupt in Wesenszusammenhang gebracht wird mit dem, was diePrinzipien als Wahrheit bzw. Falschheit voraussetzen und darüberbestimmen. Kann es bei dieser Naivität sein Bewenden haben, be-dürfen die logischen Prinzipien, so selbstverständlich sie sind, nichtdoch einer Kritik ihres echten Sinnes aus den Ursprüngen ihrer Sinn-bildung heraus und somit auch der Enthüllung der Urteilsgenesis?

In der Tat wird die Kritik der logischen Prinzipien als die Ent-hüllung der in ihnen implizierten verborgenen Voraussetzungen zeigen,

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daß auch in der Evidenz der formalen Verallgemeinerung die Kernenicht ganz irrelevant sind.

§ 88. Die implizierte Voraussetzung des analytischen Widerspruchs-gesetzes: jedes Urteil ist zur Deutlichkeitsevidenz zu bringen.

Erwägen wir die logischen Prinzipien unter dem Gesichtspunktder Sinnesgenesis, so stoßen wir auf eine Grundvoraussetzung,die in ihnen beschlossen ist und die untrennbar jedenfalls dem Satzvom ausgeschlossenen Dritten anhaftet Genau besehen stammt sievon einer entsprechend unvermerkten Voraussetzung, die schon derunteren, vor der Einführung des Wahrheitsbegriffes liegenden Schichteder formalen Logik angehört, die sich uns in unseren früheren Ana-lysen abgehoben hat. Sie ist uns, da wir bei diesen Analysen selbstnoch mit der Naivität anhuben und nur einer Interessenrichtungnachgingen, in dem früheren Zusammenhang verborgen geblieben,Wir können diese Voraussetzung der unteren Stufe sichtbar machen,indem wir als Selbstverständlichkeit zu formulieren ver-suchen: jedes mögliche Ur teil im weitesten Sinne — dessenMöglichkeit also schon aus einer bloß explizit aufgefaßten Indikationder Wortbedeutungen einer aussagenden Rede evident wird — ist,wenn die Gesetze der analytischen Konsequenz innegehalten bleiben,auch in ein mögliches „deutliches" oder „eigent-liches" Urteil zu verwandeln — dessen Möglichkeit erstevident wird in der Verwirklichung der Indikationen, durch Her-stellung der angezeigten Urteile selbst, im eigentlichen Vollzug derentsprechenden syntaktischen Akte. Mit anderen Worten: „Wider-sp r u chslosigkeit" im weitest gefaßten Sinne, der jede ana-lytische Konsequenz beschließt, ist eine notwendige undhinreichende Bedingung für diese eigentliche Voll-ziehbarkeit eines möglichen Urteils.

Nun ist das aber gar nicht so allgemein richtig, wie mansich leicht überzeugt. Und doch setzt die Installierung der Kon-sequenzlosigkeit voraus, daß jedes Urteil im weitesten Verstande, sei esin positivem oder negativem Sinne, zur Deutlichkeitsevidenz zubringen ist, und daß hierzu das Analogon des Satzes vom Widerspruchgilt. Es muß also irgendeine ungeklärte Voraussetzungin den Urteilsbegriff der Konsequenzlogik be-schränkend eingegangen sein, so daß es nur in dieser still-schweigend vorausgesetzten Beschränkung unter den gesetzlichen Be-dingungen der eigentlichen Vollziehbarkeit steht,

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§ 89. Die Möglichkeit der Deutlichkeitsevidenz.

a) Sinn als Urteil und als „Urteilsinbalt". Ideale Existenzdes Urteils setzt ideale Existenz des Urteilsinhalts voraus.

Knüpfen wir an Beispiele an. Versetzen wir uns in einen„gedankenlos" Lesenden oder Hörenden, so können wir es als Mög-lichkeit erfassen, daß dieser eben bloß den symbolischen Indikationender Worte folgend, etwa durch Autoritäts-Gläubigkeit befangen, passivmiturteilt, was er hört, und sogar z. B.: diese Farbe + 1 ergibt 3.Trotzdem sagen wir, der Satz „gibt keinen eigentlichenSinn", es ist unmöglich, wirklich gedanklich, also in einem wirk-lichen Vollzug der einzelnen prädikativen Glieder und ihrer syntak-tischen Aufstufung das Urteil als mögliches zu gewinnen, aber nichtetwa darum, weil es einen analytischen oder außer-analytischenWiderspruch enthält, sondern weil es sozusagen über Einstim mi g -k fit und Widerspruch erhaben ist in seiner „Sinnlosig-keit". Die einzelnen Satzelemente sind nicht sinnlos, sondernehrliche Sinne, aber das Ganze gibt keinen einheitlich zusammen-stimmenden Sinn; es ist kein Ganzes, das selbst Sinn ist.

Wir haben demnach Einstimmigkeit und Unstimmigkeit (Wider-streit) im „Sinn", und zwar so, daß es sich bei dem, was hie r Sinnbesagt und Ganzes des Sinnes, nicht um wirklich und eigentlichvollzogene Urteile handelt, um Urteile im Sinne der Konsequenz —obschon doch um Urteile und Wahrheitslogik. WidersprechendeUrteile haben jetzt ja Einstimmigkeit in der Einheiteines Sinne s, Widerspruch und Einstimmigkeit nach den Begriffender Konsequenzlogik sind aber sich ausschließende Gegensätze, undes ist offenbar, daß sie schon Einheit dieses „Sinnes"voraussetzen.

Fragen wir nun, was hier den Begriff des Sinnes bestimmt, sowerden wir auf eine jener wesensmäßigen Äquivokationen aufmerk-sam, von denen wir früher gesprochen haben. Wir werden zu ihrerKlärung auf die Unterscheidung zurückgehen müssen, die in denLogischen Untersuchungen als Unterschied zwischen „Qualität" und„Materie" behandelt worden ist 1).

Als Sinn einer Aussage kann1. das betreffende Urteil verstanden werden. Geht aber der

Aussagende von. schlechthiniger Gewißheit „S ist p" über zum Ver-

1) Vgl. III, S. 411 e Eine wesentliche Radikalisierung der Idee „Urteils-materie" und damit der ganzen Darlegungen dieses Paragraphen bringt Beilage 1.

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muten, Für-wahrscheinlich-halten, zum Zweifeln, zur Bejahung oderverneinenden Ablehnung, oder auch zur Annahme desselben „S ist p",so hebt sich

2. als Urteilssinn der „Urteilsinhalt" als ein Gemein-sames ab, das im Wechsel des Seinsmodus (Gewißheit, Mög-lichkeit, Wahrscheinlichkeit, Fraglichkeit, „Wirklichkeit", Nichtig-keit), in subjektiver Richtung des doxischen Setzungsmodus sichidentisch erhält. Dieses im Wandel der Modifikationen des Urmodusder Glaubensgewißheit identische Was des Urteils, das was dajeweils „ist", oder möglich ist, wahrscheinlich ist, fraglich usw.faßten die Logischen Untersuchungen als ein unselbständiges Momentin den Urteilsmodalitäten.

Der Begriff des Sinnes hat also für die Urteilssphäre einenwesentlichen D o pp e 1 sinn — ein Doppelsinn, der übrigens in ähn-licher Weise in alle positionalen Sphären hineinreicht und zunächstnatürlich auch in die unterste doxische Sphäre, die der Vor-stellung", das ist der Erfahrung all ihrer Abwandlungsmodi, ein-schließlich des Leermodus. Die mögliche Einheit einessolchen Urteilsinhaltes, als in irgendeiner Modalität setz-bare Einheit gedacht, ist an Bedingungen gebunden. Diebloße einheitliche grammatische Verstehbarkeit, die r ein gr am-matische Sinnhaf tigkeit (mit dem wieder ganz anderen Begriffdes grammatischen Sinnes) ist noch nicht die Sinnhaf tigkeit,die die logische Analytik voraussetzt.

Wir sehen, der Begriff des deutlichen Urteils, des syntaktischeigentlich vollziehbaren, der in der Konsequenzlogik und in weitererFolge in den formalen Wahrheitsprinzipien vorausgesetzt ist, bedarfeiner ergänzenden Wesensbestimmung und einer entsprechendtieferen Aufklärung. Die einheitliche Vollziehbarkeit desUrteilsinhaltes liegt vor der Vollziehbarkeit desUr teils s e lb st und ist seine Bedingung. Oder die ideale„Existenz" des Urteilsinhaltes ist Voraussetzung deridealen „Existenz" des Urteils (im weitesten Sinne einervermeinten kategorialen Gegenständlichkeit als solcher) und geht in

diese selbst ein.

b) Die ideale Existenz des Urteilsinhaltes ist an die Bedin-gungen der Einheit möglicher Erfahrung geknüpft.

Fragen wir nun nach dem „Ursprung" der ersteren Evidenz (mitdem Gegensatz, der nur durch das vieldeutige Wort Sinnlosigkeitseinen Ausdruck findet) so werden wir auf die in der formalen Be-

Husserl, Jahrbuch f. Philosophie. X. 13

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trachtung scheinbar funktionslosen syntaktischen Kerne verwiesen.Was also besagen würde, daß die Möglichkeit des eigentlichen Voll-zuges der Möglichkeit eines Urteils (als Meinung) nicht nur in densyntaktischen Formen sondern auch in den syntaktischen S toffenwurzelt. Dieses Letztere wird von dein formalen Logiker leicht über-sehen, bei seiner einseitigen Interessenrichtung auf das Syntaktische— dessen Formenmannigfaltigkeit ausschließlich in die logischeTheorie eingeht — und bei seiner Algebraisierung der Kerne alstheoretischer Irrelevanzen, als leere Etwas, die nur in Identität zuhalten seien.

Wie versteht sich aber die Funktion der syntaktischen Stoffe oderKerne für die Ermöglichung der Urteilsexistenz, also der eigentlichenVollziehbarkeit des Urteils im Sinne der Urteilsindikation? Hier liegtdie Aufklärung in der intentionalen Genesis. Jedes Urteilals solches hat seine intentionale Genesis, wir können auch sagen,seine wesensmäßigen Motivs ti onsg rundla gen, ohne die eszunächst nicht im Urmodus Gewißheit sein und dann rnodalisiert seinkönnte. Dazu gehört, daß die in der Einheit eines Urteile auftretendensyntaktischen Stoffe etwas miteinander zu tun habenmüssen. Das aber stammt daher, daß die genetisch ursprünglichsteUrteilsweise — es ist von einer intent ion a len und demgemäßwesensmäßigen Genesis und nicht von einer übrigens nur von ihr ausverständlich zu entwerfenden psychophysischen und induktivenGenesis die Rede — die evidente und in unterster Stufe die aufGrund der Erfahrung ist. Vor allem Urteilen liegt ein universalerBoden der Erfahrung, er ist stets als einstimmige Einheitmöglicher Erfahrung vorausgesetzt. In dieser Einstimmigkeithat alles mit allem sachlich „zu tun". Aber Einheit der Erfahrungkann auch unstimmig werden, jedoch wesensmäßig so, daß dasWiderstreitende mit demjenigen, dem es wider-streitet, eine Wesensgemeinschaft hat, so daß in derEinheit zusammenhängender und selbst in der Weise von Wider-streiten noch zusammenhängender Erfahrung alles mit allem inwesensmäßiger Gemeinschaft steht. So hat je des ursp r ü ngl ich eUr teilen in s einem Inhalt und so jedes zusammenhängend fort-schreitende Urteilen Zusammenhang durch den Zusammen-hang der Sachen in der synthetischen Einheit der Er-fahrung, auf deren Boden es steht. Damit soll nicht vorweg gesagtsein, daß es nur ein Universum möglicher Erfahrung geben kannals Urteilsboden, daß also jedes anschauliche Urteil auf demselbenBoden steht, und alle Urteile zu einem einzigen sachlichen Zusammen.

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hang gehören. Doch darüber eine Entscheidung zu treffen, wäre dasThema einer eigenen Untersuchung.

Von den ursprünglichen Urteilen überträgt sich das Gesagte nunin Wesensnotwendigkeit auf alles mögliche Urteilen überhaupt, aufalle zunächst für denselben Urteilenden in seinem Bewußtseins-zusammenhang möglicherweise auftretenden Urteile überhaupt, alsoals Neues auf alle für ihn nun möglichen unanschaulichen Urteile.Das einsichtig zu machen aus Wesensgesetzen, das gehört hinein inden allgemeinen Zusammenhang konstitutiver Theorien, durch die auf-geklärt wird, wie ursprüngliche Intentionalität als „urstiftende" dieKonstitution sekundärer intentionaler Gebilde nach sich zieht und siemit einer Intentionalität ausstattet, die als sekundäre auf die stiftendewesensmäßig zurückweist und dabei zugleich als ihr analog zu ver-wirklichende. In diesen Zusammenhang gehört auch die ganzeWesenslehre von der Bildung von „Apperzeptionen".

Die syntaktischen Stoffe unanschaulicher Urteilekönnen aus den angedeuteten Gründen ihrer Seins- und Sinnesgenesisnicht völlig frei variabel sein, als ob man solche Stoffeganz beliebig zusammenlesen und daraus mögliche Urteile bildenkönnte. Apriori haben die syntaktischen Stoffe je eines möglichenUrteils und jedes urteilsmäßig zu verbindenden Urteilskomplexes inten-tionale Bezogenheit auf die Einheit einer möglichen Erfahrung, bzw.einer einheitlich erfahrbaren Sachlichkeit. Dabei ist die schon obenhervorgehobene Möglichkeit von Unstimmigkeiten, von Scheinen,von notwendigen Durchstreichungen nicht übersehen. Denn sie hebtdie Einheit eines Zusammenhanges nicht auf, eben die Einheit,die den untersten Grund sachlicher Zusammengehörigkeit der Stoffemöglicher Urteile, also auch möglicher noch so weit zu spannenderUrteilszusammenhänge ausmacht. Die f ormal-logische Be-trachtung und Theorie hat in ihrer objektiven Einstellung davonnichts zu sagen, aber jede ihrer logischen Formen mit ihren S und p,mit all den Buchstabensymbolen, die in der Einheit eines formalenZusammenhanges auftreten, setzt im Verborgenen voraus,daß in diesem Zusammenhang die S, p usw. sachlich „mit ein-ander zu tun" haben.

§ 90. Anwendung auf die Prinzipien der Wahrheitslogik: siegelten nur für inhaltlich sinnvolle Urteile.

Die wichtige Ergänzung, die unsere frühere Analyse des Urteilserhalten hat, hat nun eine entscheidende Bedeutung f ür die

13*

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Kritik der logischen Prinzipien, die wir vorweg im Augehatten. Diese Kritik ist jetzt leicht zu erledigen. Die Logik hat ganzselbstverständlich nicht Urteile der Art im Auge., die wir als inhalt-lich sinnlos beschrieben haben, also z. B.: die Winkelsumme einesDreiecks ist gleich der Farbe rot. Es fällt natürlich niemandem, derin die Wissenschaftslehre eintritt, ein, an ein solches Urteil zu denken.Und doch ist jeder Aussagesatz, der nur die Bedingungen einheit-lichen rein-grammatischen Sinnes erfüllt (die Einheit einesüberhaupt verständlichen Satzes) auch als Urteil denkbar — alsUrteil im weitesten Sinne. Sollten sich die logischen Prin-zipien auf Urteile überhaupt beziehen, so wären sienicht haltbar, sicherlich nicht der Satz des aus-geschlossenen Dritten. Denn alle inhaltlich „sinnlosen"Urteile durchbrechen seine Gültigkeit.

Unbedingt gültig sind, um zunächst das einsichtig zu machen,die Prinzipien für alle Urteile, deren Kerne sinngemäßzusammen gehören, also die Bedingungen der einheitlichen Sinn-haftigkeit erfüllen. Denn für diese Urteile ist es vermöge ihrerGenesis a priori gegeben, daß sie sich auf einen einheitlichen Er-fahrungsboden beziehen. Eben dadurch gilt für jedes solche Urteilund in dieser Beziehung, daß es zur Adäquation zu bringenis t, daß es in ihrer Ausführung entweder auslegt und kategorial faßt,was in der einstimmigen Erfahrung gegeben ist, oder daß es zumNegat der Adäquation führt, etwas prädiziert, was zwar sinngemäß zudieser Erfahrungssphäre gehört, aber mit etwas Erfahrenem streitet.Wir haben bei der subjektiven Wendung der Prinzipien aber gezeigt,daß zum Sinn derselben eben mit gehört, daß jedes Urteil zu posi-tiver oder negativer Adäquation gebracht werden kann. Für dasweitere Reich der Urteile, dem auch inhaltlich sinnlosezugehören, gilt diese Disjunktion aber nicht mehr. Das „D ritt e"ist hier nicht ausgeschlossen und besteht darin, daß Urteilemit Prädikaten, die keine sinnhafte Beziehung zum Subjekte haben,sozusagen in ihrer Sinnlosigkeit über Wahrheit undFalschheit erhaben sind.

§ 91. Überleitung zu neuen Fragen.

Man sieht also, wie notwendig eine intentionaIe Urteilstheorie ist,und wie tief sie ausgebaut werden muß, um auch nur ursprünglich zuverstehen, was der eigentliche und reine Sinn derlogischen Prinzipien ist.

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Aber überlegen wir, was für sie und somit für die Klärung derIdee der Wahrheit in unserer Untersuchung gewonnen ist, so ist esnicht mehr als die Aufweisung der Notwendigkeit einer „erkennt-nistheoretischen" Vorarbeit, die der wesensmäßigen Be-zogenheit aller Urteilsevidenzen auf Erfahrungssphären genugtut.Urteilsevidenz „gibt" Wahrheit im Sinne der Urteilsrichtig-keit, bzw. im Sinne der seienden Sachverhalte selbst und überhauptder Kategorialien selbst. Erfahrung, die wir als eine vorprädi-kative Evidenz ansehen, gibt „Realitäten", wobei dieses Wortweitmöglichst unverbindlich sein soll, also alles „Individuelle" um-fassend. Darunter gehören natürlich die Objekte der raum-zeitlichenWelt; aber vielleicht ist nicht alle Erfahrung Selbstgebung von Welt-lichem und vielleicht führt die Kritik der Voraussetzungen der Logikund ihres Begriffes „Wahrheit" dahin, daß wir diesen Begriffnoch anders und weiter fassen lernen, ohne daß die Reduktion aufErfahrung und Erfahrungsgegenstände — „Realitäten" — darunterleidet, und daß diese erweiterte Fassung gerade darauf beruht, daßwir einen weiterreichenden Erfahrungsbegriff in Rücksicht ziehenmüssen, obschon wie hier immer innerhalb des prägnanten Begriffsder Selbstgebung von „Individuen".

Gesetzt es wäre wirklich nachgewiesen, was wir in Grundgedankenumgriffen, aber nicht wirklich ausführlich begründet haben, nämlichda» dank einer zu enthüllenden intentionalen Genesis der Urteilejedes Urteil im Sinne einer nicht nur rein grammatisch sinnhaftenIndikation sondern einer sinnhaften sachlichen Homogeneität derKerne, notwendig eine derartige Beziehung auf eine einheitliche Er-fahrungssphäre (auf ein einheitliches sachliches Gebiet) hat, daß esentweder zu positiver oder negativer Adäquation zu bringen ist; dannist also, was wir als subjektive Wendung der logischen Prinzipien inPrinzipien der Evidenz aufgestellt haben, freilich begründet. Aberwie steht nun Evidenz zur Wahrheit? Doch nicht so ein-fach, wie jene Umwendung es erscheinen ließ.

5. Kapitel.

Die subjektive Begründung der Logikals transzendental-philosophisches Problem.

§ 92. Aufklärung des Sinnes der Positivität der objektiven Logik.

a) Die Bezogenheit der historischen Logik auf eine reale Welt.

Probleme der Leistung der Evidenz haben wir als Logiker,da alle Urteile auf Erfahrung zurückweisen, hinsichtlich der Erfahrung

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selbst und hinsichtlich der ihr entspringenden Kategorialien. Beidesverflicht sich in der Aufklärung der untersten Urteilsstufe bzw.untersten Stufe von Kategorialien, die den Erfahrungsquell nochunmittelbar in sich tragen. Der Weg zu diesen Problemen führt uns,die wir uns durch eine Kritik der naiven Logik und ihrer Positivitätzu einer transzendentalen Logik hinleiten lassen, zunächst zu einerKritik der naiven Begriffe von Evidenz und Wahrheitbzw. wahrem Sein, die die ganze logische Tradition beherrschen.

Die Logik als formale Wissenschaftslehre hat, um wieder daranzu erinnern, nur in ihrem ersten, unvergeßlichen Anfang in derplatonischen Dialektik das prinzipielle Thema der Möglichkeit einerWissenschaft überhaupt und von Seiendem überhaupt. Für sie gabes noch keine wirkliche Wissenschaft und keine wirkliche Welt alsim voraus schon geltende. In der geänderten Lage der späteren Zeitenstand es damit umgekehrt. Die Logik nahm die Gestalt einer formalenapophantisehen Kritik vorgegebener Wissenschaft an, vorgegebenerWahrheit und Theorie; bzw. die Gestalt einer formalen Ontologie,für die dem allgemeinsten nach seiende Gegenstände, seiende Welt imvoraus feststanden. Nicht als ob die bestimmten Gehalte der Weltund die bestimmten jeweils ausgebildeten Wissenschaften in derLogik vorausgesetzt wurden, an denen vielmehr Kritik ermöglichtwerden sollte durch Herausstellung apriorischer logischer Normen.Aber wahres Sein überhaupt, prädikative Wahrheit und Theorieüberhaupt und die Möglichkeit, durch Erfahrung und theoretischeErkenntnis zu diesem im voraus im allgemeinen als seiend Voraus-gesetzten vorzudringen, das waren in der traditionellen formalenLogik nie erwogene Selbstverständlichkeiten. Man kann sagen (unddaß darin ein Besonderes liegt, wird sich noch zeigen) sie ist Logik— formale Apophantik und formale Ontologie — für einevorgegeben gedachte reale Welt. Diese Welt ist selbst-verständlich an und für sich was sie ist, anderseits ist sie doch füruns und jedermann im erkennenden Bewußtsein zugänglich, und zwarzunächst durch Erfahrung. Allerdings sehr unvollständig und über-haupt unvollkommen, aber auf den Erfahrungsgrund baut sich diehöhere und eigentliche Erkenntnisleistung, die uns zur objektivenWahrheit führt.

Auf diese seiende Welt beziehen sich alle Urteile, Wahrheiten,Wissenschaften, von denen diese Logik spricht. Die Tatsachenwahr-heiten bzw. Wissenschaften betreffen tatsächliches Dasein in derWelt oder der Welt selbst, die apriorischen Wahrheiten, bzw.Wissenschaften, ebenso mögliches weltliches Sein. Genauer ge-

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sprochen betreffen die letzteren das bei freier Phantasieabwand-lung der tatsächlichen Welt notwendig Gültige, notwendig gültigals Wesensform einer Welt überhaupt, also auch dieser gegebenen.So ist die apriorische Raum- und Zeitlehre (Geometrie, Chronologie)auf Raum und Zeit als Wesensformen dieser Welt als einer Weltüberhaupt bezogen. Auch die apriorischen Wissenschaften, die dieLogik im Auge hat, sind also weltliche; wie das Ansichsein der wirk-lichen Welt, so ist vorausgesetzt das mögliche Ansichsein ihrerMöglichkeitsabwandlungen und vorausgesetzt, daß durch wirklicheund mögliche Erfahrung und Theorie Wissenschaft von der wirk-lichen Welt und Wissenschaft von einer apriori möglichen überhaupt„an sich" möglich sei, bzw. an sich Bestand habe und darum selbst-verständlich Ziel logisch verwirklichender Arbeit sein könne.

Nun hielt sich freilich die Logik in einer Aprioritä t, diekeinerlei Fakta, auch keine faktische Welt in Anspruch nehmen durftein ihren Theorien. Aber einerseits ist daran zu denken, daß sieformal-ontologisch mindestens mögliches weltliches Sein voraussetzte,welches sie doch als Möglichkeitsabwandlung der selbstverständlichwirklichen Welt gewonnen haben mußte. Anderseits, wo immer sieihre Grundbegriffe zu klären die Neigung empfand und in s u b -jek tiv gerichtete Untersuchungen eintrat, nahm sie dieselben alspsychologische im gewöhnlichen Sinne, als Untersuchungen überdas Vorstellungsleben und Denkleben, Evidenzerleben von Menschenin der Welt, gleichgültig, ob dabei auf Psychophysik und „objektives"Experiment rekurriert wurde oder auf bloße „innere Erfahrung",Und so werden auch unsere früheren grundbegrifflichen Unter-suchungen, da wir in dieser Hinsicht uns nicht ausgesprochen haben,ohne weiteres als im gewöhnlichen Sinne psychologische genommenworden sein. Jedenfalls im Hintergrund steht immer die vorgegebenewirkliche Welt — obschon es übrigens für uns genügte, daß dieBeziehung der Logik auf eine apriori mögliche Welt, wie immer siein die Logik hineingekommen wäre, eine Voraussetzung bedeutetund eine solche von nicht minderem kritischen Belang als die der

faktischen.

b) Die naive Voraussetzung einer Welt reiht die Logikin die positiven Wissenschaften ein.

Wir sagten oben, daß die Logik in ihrer Beziehung auf eine realeWelt nicht nur deren Ansichsein voraussetze, sondern auch die „ansich" bestehende Möglichkeit, Welterkenntnis als echtes Wissen, alsechte Wissenschaft zu gewinnen, sei es empirisch oder apriorisch.

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200 Edmund liusaerl, [200

Darin liegt: so wie die Realitäten der Wett an und für sich sind, wassie sind, so sind sie Substrate für an sieh gültige Wahrheiten — für

',Wahrheiten an sich", wie wir mit Bolzano sagten. Ferner: in

den erkennenden Subjekten entsprechen ihnen Erkenntnismöglich-keiten, diese Wahrheiten selbst in subjektiven Evidenzerlebnissen zuerfassen, in absoluten Evidenzen als Selbsterfassungen der absolutenWahrheiten, derjenigen, die eben an sich gelten. Das alles wird alsein Apriori in Anspruch genommen. Die Wahrheiten, die für dasSeiende an sich bestehen — für das absolute Seiende und nichtfür das subjektiv-relative (für das sich uns als seiend Gebende, inder Erfahrung als seiend und so seiend Erscheinende) sind a b.solute Wahrheite n. In den Wissenschaften werden sie "ent-deckt", durch wissenschaftliche Methode begründend herausgestellt.Das gelingt vielleicht für immer nur unvollkommen; aber zweifellosund in stillschweigender Geltung bleibt das Ziel selbst als universaleIdee und korrelativ die Idee der Erzielbarkeit, also die einer abso-luten Evidenz. Machte die Logik selbst diese Voraussetzungennicht zu ihrem Thema, 80 taten dies um so mehr Erkenntnistheorie,Psychologie und Metaphysik — aber doch in der Weise nach-kommender Wissenschaften, welche die absolute Eigenständigkeit derLogik nicht antasten wollten.

Eine solche Ordnung der Disziplinen ist aber — wir werden dieausführlichere Begründung bald folgen lassen — nur bei völligerUnklarheit über ihre Probleme möglich und führt hinsichtlich dergenannten philosophischen Ergänzungsdisziplinen zu einer Naivität,die von einem ganz anderen Rang ist als diejenige derschlichten Positivität. Denn diese als naive Hingabe wie des prak-tischen Lebens so des Erkenntnislebens an die in der Tat vorgegebeneWelt, hat ein zwar ungeklärtes und danach noch unbegrenztes Rechtin sich, aber doch ein Recht. Eine naive Kritik der Erfahrung aberund der aus ihr stammenden Erkenntnis einer an sich seienden Weit,die mit Schlußweisen einer gewohnten Logik operiert, einer Logik,die sie nicht einmal dahin untersucht hatte, ob sie ihrem Sinne nachdas Sein einer Welt nicht schon voraussetzen, ja die nicht einmaldaran dachte, die eigene Leistung der Erfahrung und der sonstigenBestände der für ihren Seinssinn relevanten Subjektivität zu unter-suchen, ist von einer Naivität, die deren scheinbar wissenschaftlicheTheorien von ernstlicher Beachtung von vornherein ausschließen.

Natürlich ist das dem Logiker apriori gewisse Bestehen möglicherabsoluter Evidenzen auch als ein Bestehen gedacht für jeden zurErkenntnis Befähigten. Jeder steht darin jedem gleich. Das absolut

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201] Formale und transzendentale Logik. 201

Seiende in seiner absoluten Wahrheit ist entweder wirklich gesehenund eingesehen als wie es ist, oder aber nicht. Also bietet das Geltender Wahrheit für jedermann und ein für allemal nun kein besonderesProblem. Dieser „Jede rm ann" ist jeder Mensch oder ein sonstigesin der wirklichen Welt (oder einer möglichen, für die ihr zugehörigenabsoluten Wahrheiten) vorauszusetzendes menschenartiges Wesen, dasüberhaupt zu Evidenz als Wahrheitserkenntnis befähigt ist. Was fürpsychologische Konstellationen bei uns Menschen (von intelligentenWesen anderer Welten wissen wir nichts) dazu gehören, daß dieseEvidenzen, in der Kausalität, die mit allem sonst Realen auch allesPsychische beherrscht, in uns real wirklich werden, das geht nichtdie Logik, sondern die Psychologie an.

Das von uns zu Anfang eingeführte Problem der Wahrheit ansich hat also in dieser Aufweisung der Voraussetzungen der tradi-tionellen Logik einen näher bestimmten, auf wirkliche und möglicheWelt bezogenen Sinn gewonnen. Die Logik als in diesem neuen Sinneobjektive, als formale Logik einer möglichen Welt ordnetsich damit in die Mannigfaltigkeit der „p ositiven" Wi sse n-s cha f ten ein; denn für sie alle — für Wissenschaften in dem Sinnder gewöhnlichen Rede, die ja überhaupt andere nicht kennt — istdie Welt eine im voraus fraglose Tatsache, deren rechtmäßiges Be-stehen allererst in Frage zu stellen (oder gar das der Möglichkeitenvon Welten) dem Stil positiver Wissenschaft zuwider ist.

§ 93. Das Ungenügen der Versuche der Erfahrungskritik seitDescartes.

a) Die naive Voraussetzung der Gültigkeit der objektivenLogik.

Es gehört allerdings zu der von Des cart es versuchten er-kenntnistheoretischen Reform aller Wissenschaften und ihrer Um-schöpfung zu einer sie in radikaler Begründung vereinheitlichendensapientia universalis, daß ihnen zur Fundierung vorangehen muß eineK ri tik der Erf ahrun g, die ja den Wissenschaften das Daseinder Welt vorgibt. Diese Kritik führt bei Desc a rt es bekanntlich zudem Ergebnis, daß die Erfahrung der absoluten Evidenz (der das Seinder Welt apodiktisch begründenden) entbehre, daß demnach die naiveVoraussetzung der Welt aufgehoben und alle objektive Erkenntnis aufdie einzige apodiktische Gegebenheit eines Seienden, nämlich des egocogito gegründet werden müsse. Wir wissen, das war der Anfangder ganzen neuzeitlichen, durch immer neue Unklarheiten und Ver-

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irrungen sich emporringenden Transzendentalphilosophie.Sogleich dieser Cartesianische Anfang mit der großen, aber nur inHalbheit durchgebrochenen Entdeckung der transzendentalen Sub-jektivität ist durch die verhängnisvollste und bis heute unausrottbargebliebene Verirrung getrübt, die uns jenen —Realismu s"beschert hat, als dessen nicht minder verkehrte Gegenstücke dieIdealismen eines B e rk eley und Hume figurieren. Schon beiDescartes wird durch eine absolute Evidenz das Ego als ein erstes,zweifellos seiendes Endchen der W elt (mens .Nite animus, sub-stantia cogitans) festgelegt und es kommt dann nur darauf an, durchein logisch bündiges Schlußverfahren die übrige Welt (beiDescartes die absolute Substanz und die endlichen Substanzen derWelt außer meiner eigenen seelischen Substanz) dazu zu erschließen.

Schon Descartes operiert dabei mit einem naiven apriorischenErbgut, mit dem Apriori der Kausalität, mit der naiven Voraus-setzung ontologischer und logischer Evidenzen für die Behandlungder transzendentalen Thematik. Er verfehlt also den eigent-lichen transzendentalen Sinn des von ihm entdecktenEgo, desjenigen das dem Sein der Wett erkenntnismäßig vorangeht.Nicht minder verfehlt er den eigentlich transzendentalen Sinn derFragen, die an die Erfahrung und an das wissenschaftliche Denken,und so in prinzipieller Allgemeinheit an eine Logik selbst gestelltwerden müssen.

Diese Unklarheit vererbt sich verborgen in den Scheinklar-heiten, die allen Rückfällen der Erkenntnistheorie in die natürlichenNaivitäten eigen sind, und so in der scheinklaren Wissenschaftlichkeitdes zeitgenössischen Realismus. Es ist eine Erkenntnistheorie, die imBunde mit einer naiv isolierten Logik dazu dient, dem Wissenschaftlerzu beweisen und somit ihn allererst dessen völlig sicher zu machen,daß die Grundüberzeugungen der positiven Wissenschaften über realeWelt und sie logisch behandelnde Methode durchaus richtig sind,und daß er somit eigentlich der Erkenntnistheorie entraten kann, wieer ja ohnehin seit Jahrhunderten ohne sie gut weggekommen ist.

b) Das Verfehlen des transzendentalen Sinnesder Cartesianischen Reduktion auf das Ego.

Aber kann es bei einem solchen Verhältnis von positiver Wissen-schaft, von Logik und Erkenntnistheorie sein Bewenden haben?Schon nach allem, was wir wiederholt in früheren Zusammenhängenauszuführen hatten, so unvollständig und vielfach bloß vordeutend esauch sein mußte, ist es schon sicher, daß diese Frage zu verneinen

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Formale. und tranittendentale Logik

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ist. Ein Realismus der wie hei Deseart es in dem Ego, auf dasdie transzendentale Selbstbesinnung zunächst zurückführt, schon diereale Seele des Menschen gefaßt zu haben meint und von diesemersten Realen Hypothesen und Wahrscheinlichkeitsschlüsse in einReich transzendenter Realitäten entwirft - - dabei (sei es ausdrücklichoder implieite) die Prinzipien der zur Logik selbst gehörigen Mathe-matik der Wahrscheinlichkeiten benützt und evtl. auch die sonstigeformale Logik — verfehlt widersinnig das wirklicheProb 'ein, da er überall als Möglichkeit voraussetzt, was als Mög-lichkeit selbst überall in Frage ist.

Die Aufklärung der Geltung der logischen Prinzipien — alleGrundbegriffe und Grundsätze eingeschlossen — führt auf sub-jektiv gerichtete Untersuchungen, ohne die diese Prin-zipien wissenschaftlich in der Luft stehen. Das ist nach den Stückenvon uns schon geführter und immer weiter treibender Unter-suchungen zweifellos. Wenn man aber auf das ego cogito zurück-geht, als diejenige Subjektivität, aus deren reinem Bewußtsein undinsbesondere aus deren Evidenzen alles was für dieses Ego (fürmich den radikal Philosophierenden) Seiendes ist, aber auch Mög-liches, Erdenkliches, Vermutliches, Falsches, 'Widersinniges usw. —kann man da die Logik voraussetzen? Wie steht es mitjenen für jede Logik allererst und im strengsten Sinne grundlegendensubjektiven Untersuchungen? Kann man sie mit einer Logik be-streiten, die erst durch sie geklärt werden soll und die vielleicht inihrer Weltlichkeit, mag diese auch zu rechtfertigen sein, Sinnbeständeund Satzgehungen hereinbringt, die den Boden dieser subjektivenUntersuchungen unzulässig überschreiten?

Ferner, können diese subjektiven Untersuchungen mit derPsychologie bestritten werden, die durchaus auf dieser objek-tiven Logik und jedenfalls auf der beständigen Voraussetzung derobjektiven Welt beruht, zu der ihrem Sinne nach alle psychischenErlebnisse als reale Momente realer psychophysischer Wesen gehören?Ist nicht die gesamte reale Welt für die radikale Be-gründung der Logik in Frage gestellt, nicht ihre Wirklich-keit zu erweisen, sondern ihren möglichen und echten Sinn herauszu-stellen und seine Tragweite, mit der er in die logischen Grundbegriffemit eingehen kann? Birgt das Etwas-überhaupt der formalen Logik,in ihrer Fassung als objektiver Logik letztlich auch den Sinn welt-lichen Seins in sich, so gehört dieser eben mit zu den Funda-mentalbegriffen der Logik, zu denen, die den ganzen Sinnder Logik bestimmen.

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c) Die Begründung der Logik führt in das universale Problemder transzendentalen Phänomenologie.

Wie stellt es ferner mit den den Realisten sich so leichtlichdarbietenden Hypothesen, durch die auf dem einzigen durch dieCartesianische Reduktion als zweifellos evident verbliebenen und füralle Erkenntnis an sich ersten Seinsboden des Ego eine reale Außen-welt gewonnen werden soll? Ist dieses Auße n, ist der mögliche Sinneiner transzendenten Realität und eines ihr zugehörigen Apriori mitden Schlüsse gestattenden Formen Raum, Zeit und Kausalität nichtdas Problem — nämlich wie es in der Irnrnanenz des Ego jenen Sinnder Transzendenz annehmen und bewähren könne, den wir naivgeradehin haben und verwenden? Und ist nicht zu fragen, welcheverborgenen Präsumptionen aus der sinnkonstituierenden Subjektivitätdie Tragweite dieses Sinnes begrenzen? Ist das nicht das Problem,das erst gelöst werden müßte, damit über die prinzipielle Möglich-keit, die Sinnhaftigkeit oder Widersinnigkeit solcher Hypothesen inder transzendentalen Sphäre des Ego zu entscheiden wäre? Ist nichtam Ende, wenn man die echten Probleme, die mit dem Rückgangauf dieses Ego entspringen, erfaßt hat, dieses ganze Schema einer„E rklärun g" der rein immanenten Gegebenheiten durch einehypothetisch anzunehmende und mit ihnen kausal verbundene objek-tive Realität ein vollendeter Widersinn?

In der Tat, so ist es, und der Widersinn stammt daher, daßmit der Cartesianischen Reduktion auf mein Ego als Subjektmeines reinen Bewußtseins eine neuartige Erkenntnisrnög-lichk.eit und Seinsmöglichkeit zum Problem wurde —nämlich die transzendentale Möglichkeit eines an sich Seienden, a 18mit diesem Sinn für mich Seienden, ausschließlich aus den Möglich-keiten meines reinen Bewußtseins — und daß diese problematischeMöglichkeit verwechselt wird mit der total anderen Möglichkeit voneinem Realen, das man schon erkenntnismäßig h a t, auf andereRealen, die man nicht hat, Schlüsse zu machen.

Die übergangsstelle dieser Verwechslung, die frei-lich nur möglich ist, weil man den Sinn der ersteren Möglichkeitüberhaupt nicht klar gesehen hat, ist die Verwechslung desEgo mit der Realität des Ich als menschlicher Seele.Man sieht nicht, daß schon die als Realität angenommene Seele(mens) ein Sinnesmoment der Äußerlichkeit (der Raum-welt) hat, und daß alle Äußerlichkeit, auch die man allererst durchHypothesen sich zueignen wollte, von vornherein in der reinen Inner-

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lichkeit des Ego ihre Stelle hat, als in t en t io aale r Pol derErf ahrung, die selbst mit dem ganzen Strom weltlicher Erfahrungund dem in ihr selbst sich einstimmig bestätigenden Seienden zumInnen gehört, ebenso wie alles Weitere, W88 ihm durch mögliche Er-fahrung und Theorie zuzumuten ist. Liegt also nicht jede möglicheProblematik, die von diesem Ego aus zu stellen ist, ganz in ihm selbst,in seinen Bewußtseinswirklichkeiten und Möglichkeiten, in seinenLeistungen und den ihnen zugehörigen Wesensstrukturen?

So stehen wir, von Wissen und Wissenschaft zur Logik alsWissenschaftstheorie geleitet und von ihrer wirklichen Begründungfortgeleitet zu einer Theorie der logischen oder wissenschaftlichenVernunft, vor dem universalen Problem der Transzen-den talphilosophie und zwar in ihrer einzig reinen und radi-kalen Gestalt einer transzendentalen Phänomenologie.

6. Kapitel.

Transzendentale Phänomenologie und intentionalePsychologie. Das Problem des transzendentalen

Psychologismus.

§ 94. Alles Seiende konstituiert in der Bewußtseinssubjektivität.

Machen wir uns den Sinn der transzendentalen Problematikklar. Jede Wissenschaft hat ihr Gebiet und geht auf Theorie diesesGebietes. In ihr hat sie ihr Ergebnis. Aber die wissenschaftlicheVernunft ist es, die diese Ergebnisse schafft und die erfahrendeVernunft ist es, die das Gebiet schafft. Das gilt auch für die formaleLogik in ihrer höherstufigen Beziehung auf Seiendes und evtl. aufeine mögliche Welt überhaupt, für ihre Theorie von höherstufiger,auf alle besonderen Theorien mitbezogener Allgemeinheit. Seiendes,Theorie, Vernunft kommen nicht zufällig zueinander und sie dürfennicht wie zufällig, wenn auch „in unbedingter Allgemeinheit undNotwendigkeit" Zusammengeratenes vorausgesetzt werden. Ebendiese Notwendigkeit und Allgemeinheit muß befragt werden als diedes logisch denkenden Subjektes — in eines, der ich mich nur einerLogik unterwerfen kann, die ich selbst einsehend durchdenke unddurchdacht habe — meines, da dabei von keiner anderen Vernunftzunächst die Rede ist als von der meinen und von keiner anderen Er-fahrung und Theorie als der meinen, und von keinem anderen Seienden,als das ich durch Erfahrung ausweise und das in meinem Bewußtseins-feld als irgendwie Verneintes sein muß, wenn ich damit in meinemtheoretischen Handeln, in meiner Evidenz Theorie erzeugen soll.

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Wie im alltäglichen Leben, so ist auch in der Wissenschaft (wennsie nicht durch „realistische" Erkenntnistheorie beirrt ihr eigenesTun mißdeutet) Erfahrung das Bewußtsein, bei den Sachen selbst zusein, sie ganz direkt zu erfassen und zu haben. Aber die Erfahrungist kein Loch in einem Bewußtseinsranlaie, in das eine vor aller Er-fahrung seiende Welt hineinscheint, oder nicht ein bloßes Hinein-nehmen von einem Bewußtseinsfremden ins Bewußtsein. Denn wiesollte ich das vernünftigerweise aussagen können, ohne es selbst zusehen und dabei wie das Bewußtsein so das Bewußtseinsfremde zusehen — also es zu erfahren? Und wie sollte ich es als Erdenk-lichkeit mindest vorstellen können? Wäre das nicht ein anschaulichesSich-hineindenken in ein solches widersinniges Erfahren von Er-fahrungsfremden? Erfahrung ist die Leistung, in der für mich, denErfahrenden erfahrenes Sein „da ist", und als was es da ist, mit demganzen Gehalt und dem Seinsmodus, den ihm eben die Erfahrungselbst durch die in ihrer Intentionalität sich vollziehende Leistungzumeint. Hat das Erfahrene den Sinn „trans ze nden te n" Seins,so ist es das Erfahren, sei es für sich, sei es in dem ganzen Moti-vationszusammenhang, der ihm zugehört und der seine Intentionalitätmit ausmacht, das diesen Sinn konstituiert. Ist eine Erfahrung u n -vollkommen, die den an sich seienden Gegenstand nur einseitig,nur in einer Fernperspektive und dgl. zur Erscheinung bringt, so istes die Erfahrung selbst als diese jeweilige Bewußtseinsweise, die aufdie Befragung mir das sagt, die mir also sagt, hier ist etwas als esselbst bewußt, aber es ist mehr als was wirklich selbst erfaßt ist,es ist noch von demselben anderes zu erfahren; es ist insoferntranszendent und auch darin, daß es, wie mich wieder die Erfahrunglehrt, auch ein Schein sein könnte, obschon es sich als wirklich undselbst Erfaßtes gab. Des weiteren ist es doch abermals die Erfahrung,die sagt: Diese Dinge, diese Welt ist mir, meinem eigenen Sein ganzund gar transzendent. Sie ist „objektive" Welt, als dieselbe auch vonAnderen erfahrbar und erfahren. Wirklichkeit und Schein berechtigtund berichtigt sich im Konkurs mit den Anderen — die wiederumfür mich Gegebenheiten wirklicher und möglicher Erfahrung sind. Sieist es, die mir dabei sagt: Von mir selbst habe ich Erfahrung inprimärer Originalität; von Anderen, von ihrem Seelenleben in einerbloß sekundären, sofern das fremde mir in direkter Wahrnehmungprinzipiell nicht zugänglich ist. Das jeweils Erfahrene: Dinge, Ich-selbst, Andere usw. — das jeweilige Mehr, das zu erfahren wäre, dieSelbigkeit, in der es durch mannigfaltige Erfahrungen hindurchgeht,der Vorweis jeder Art Erfahrung der verschiedenen Originalitäts-

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stufen auf neue mögliche, zunächst eigene und darauf gestuft fremde,Erfahrungen von demselben, auf den Stil fortschreitender Erfahrungund was dabei sich als seiend und so-seiend herausstellen würde —alles und jedes liegt intentional beschlossen im Bewußtsein selbst alsdieser aktuellen und potenziellen Intentionalität, deren Struktur ichjederzeit befragen kann.

Und ich tu uß sie befragen, wenn ieh eben verstehen will, was hierwirklich vorliegt: daß für mich nichts ist, es sei denn aus eigeneraktueller oder potenzieller Bewußtseinsleistung. Da-bei ist die potenzielle, die in meiner Bewußtseinssphäre selbst sich vonder aktuellen Intentionalität her vorzeichnende Gewißheit des „ichkann" bzw. „ich könnte" - - nämlich des ich könnte synthetisch ver-knüpfte Bewußtsenesreihen ins Spiel setzen, als deren Einheitsleistungmir fortgesetzt bewußt würde derselbe Gegenstand. Im besonderengehört dazu apriori die Potenzialität von mir aus zu verwirklichenderAnschauungen — Erfahrungen, Evidenzen in denen dieser selbeGegenstand in kontinuierlicher Einstinunigkeit sich selbst zeigen undbestimmen würde, eben dadurch sein wirkliches Sein fortgesetzt be-während. Daß er mir nicht nur als seiend gilt, sondern für michwirklich seiender ist „aus gutem", aus „zweifellosem Grunde", und,was er dabei für mich schon ist und was er für mich noch offen läßt— das alles bezeichnet gewisse, so und so synthetisch zusammen-hängende, bewußtseinsmäßig vorgezeichnete, von mir auszulegende,von mir auch frei in Gang zu bringende Leistungen. Mit anderenWorten: Kein Sein und So-sein für mich, ob als Wirklichkeit oderMöglichkeit, es sei denn als mir gelten d. Dieses mir Gelten isteben ein Titel für eine nicht bloß von oben her postulierte,obschon zunächst verborgene, aber dann auch zu erschließende —Mannigfaltigkeit meiner wirklichen und möglichen Leistungen, mitsich wesensmäßig vorzeichnenden Ideen der Einstimmigkeit ins Un-endliche und endgültigen Seins. Was mir irgend als seiender Gegen-stand entgegentritt, hat für mich, so muß ich aber auch, meineigenes Bewußtseinsleben als Geltungsleben konsequent auslegend, an-erkennen, seinen ganzen Seinssinn aus meiner leistenden Inten-tionalität empfangen, nicht ein Schatten davon bleibt ihr entzogen.Eben sie muß ich befragen, muß ich systematisch auslegen, wenn ichdiesen Sinn verstehen will, also auch verstehen, was ich einem Gegen-stand, sei es in formaler Allgemeinheit oder als solchem seiner Seins-kategorie, zumuten darf und was nicht — gemäß eben der kon-stituierenden Intentionalität, aus der, wie gesagt, sein ganzer Sinnentsprungen ist. Diese selbst auslegen, das ist aus der Ursprünglich.

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keit der Sinn-konstituierenden Leistung den Sinn selbst verständlichmachen.

So wenn ich philosophiere. Denn wenn ich das nicht tue, wennich in der Naivität des Lebens stehe, so hat es keine Gefahr. Dielebendige Intentionalität trägt mich, zeichnet vor, bestimmt michpraktisch in meinem ganzen Verhalten, auch in meinem natürlichdenkenden, ob Sein oder Schein ergebenden, mag sie auch als lebendigfungierende unthematisch, unenthüllt und somit meinem Wissen ent-zogen sein.

Ich sagte Schein neben Sein. Denn natürlich gehört es zurBewußtseinsleistung der Erfahrung selbst, daß sie nur als einstimmigeErfahrung ihren als normal vorgezeichneten Leistungsstil hat, daß dieseEinstimmigkeit aber auch gebrochen, das Erfahren in Widerstreitzerfallen, daß die zunächst schlichte Erfahrungsgewißheit zu Zweifel,Anmutung, Vermutung, Negation (Nichtigkeitsqualifizierung) führenkann — all das mit bestimmt zugehörigen Strukturbedingungen, dieeben erforscht werden müssen. Erforscht muß dann auch werden,warum die offene Möglichkeit der Täuschung, also des Nichtseins desErfahrenen, doch nicht die universale Präsumption der normalenEinstimmigkeit aufhebt und ein Seinsuniversum für mich allzeit überjeden Zweifel erhaben bleibt, als ein solches also, das ich nur inEinzelheiten gelegentlich verfehle und verfehlen kann.

Es braucht nicht gesagt zu werden, daß Ähnliches für allesund jedes Bewußtsein gilt, für jede Weise, wie Seiendes, mög-liches, sinnvolles und widersinniges, für uns ist, was es für uns ist,und daß jede Rechtsfrage, die da gestellt wird und zu stellenist, aus der jeweiligen Bewußtseinsintentionalität selbst Sinn undWeg der Ausweisung vorgezeichnet erhält. Durch alle Bewußtseins-zusammenhänge der Ausweisung, günstigenfalls terminierend in einerEvidenz, geht Identität des Vermeinten und schließlich ausgewiesenenSeienden — desselben, das immerfort intentionaler Identitätspolist — hindurch: es gibt keine erdenkliche Stelle, wo dasBewußtseinsleben durchstoßen und zu durchstoßenwäre und wir auf eine Transzendenz kämen, die anderen Sinnhaben könnte als den einer in der Bewußtseinssubjektivität selbstauftretenden intentionalen, Einheit.

§ 95. Notwendigkeit des Ausgangs von der je-eigenen Subjektivität.

Korrekt und ausdrücklich muß ich aber zunächst sagen: dieseSubjektivität bin ich selbst, der ich mich über das, was für mich

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ist und gilt, besinne und jetzt als ich, der ich mich als Logiker hin-sichtlich der vorausgesetzten seienden Welt besinne und der auf siebezogenen logischen Prinzipien. Zunächst also immerzu ich undwieder ich, rein als Ich desjenigen Bewußtseinslebens, durch das allesfür mich Seinssinn erhält.

Aber die Welt ist doch (wir dürfen nicht so schnell wie imvorigen Paragraphen darüber hinweggehen) unser aller W eI t, siehat als objektive Welt in ihrem eigenen Sinn die kategorialeForm der „ein für allemal wahrhaft seienden" nicht nurfür mich, sondern für jedermann. Denn was wir oben') alslogischen Charakter der prädikativen Wahrheit geltend gemacht haben,gilt offenbar auch schon für die Erfahrungswelt vor der sie prädikativauslegenden Wahrheit und Wissenschaft. Welterfahrung als kon-stituierende besagt nicht bloß meine ganz private Erfahrung, sondernGemeinschaf tserfahrung, die Welt selbst ist sinngemäß dieeine und selbe, zu der w i r alle prinzipiell Erfahrungszugang haben,über die w i r alle uns im "Austausch" unserer Erfahrungen, also inihrer Vergemeinschaftung verständigen können, wie denn auch die„objektive' Ausweisung auf wechselseitiger Zustimmung und ihrerKritik beruht.

Indessen so ungeheure Schwierigkeiten die wirkliche Enthüllungder leistenden Intentionalität mit sich bringen mag und ganz besondersdie Scheidung zwischen ursprünglich eigener und fremder — bzw.die Aufklärung derjenigen Intersubjektivität, die für die objek-tive Welt als sinnkonstituierende fungiert — zunächst bleibt es inunübersteiglicher Notwendigkeit bei dem Gesagten. Zuerst und allemErdenklichen voran bin I c h. Dieses „I eh bin" ist für mich, derich das sage und in rechtem Verstande sage, der int ent io naleUrgrund für meine Welt, wobei ich nicht übersehen darf, daßauch die "objektive" Welt, die „Welt für uns alle" als mir in diesemSinn geltende, „meine" Welt ist. Intentionaler Urgrund ist aber das"Ich bin", für „die" Welt nicht nur, die ich als reale anspreche,sondern auch für die mir je geltenden „idealen Welten" und so über-haupt für alles und jedes, das ich in irgendeinem für mich verständ-lichen oder geltenden Sinne als seiend bewußt habe — als das baldrechtmäßig, bald unrechtmäßig ausweise usw. — mich selbst, meinLeben, mein Meinen, all dieses Bewußthaben eingeschlossen. Obbequem oder unbequem, ob es mir (aus welchen Vorurteilen immer)als ungeheuerlich klingen mag oder nicht, es ist die Urtatsache,

1) Vgl. § 77, S. 171.Huene r 1 , Jahrbuolk I. Philosopltie. X. 14

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der ich standhalten muß, von der ich als Philosoph keinenAugenblick wegsehen darf. Für philosophische Kinder mag das derdunkle Winkel sein, in dem die Gespenster des Solipsismus, oder auchdes Psychologismus, des Relativismus spuken. Der rechte Philosophwird, statt vor ihnen davonzulaufen, es vorziehen, den dunklen Winkelzu durchleuchten.

§ 96. Die transzendentale Problematik der Intersubjektivitätund der intersubjektiven Welt.

a) Intersubjektivität und Welt der reinen Erfahrung.

Also auch die Weh für jedermann ist als das m i r bewußt, mirgeltend, in meiner Intentionalität sich ausweisend, in ihr Gehalt undSeinssinn empfangend. Sie setzt natürlich voraus, daß in meinemEgo, — in dem Ego, das in der hier fraglichen Universalität sagt,ego cogito, und in den cogitata, den wirklichen und möglichen, ebenalles für es Wirkliche und Mögliche befaßt — daß, sage ich, indiesem Ego jedes Alterego als solches den Sinn und die Geltungerhält. Der „Andere", die Anderen — das hat ursprüngliche Be-ziehung auf mich, der ich es erfahre und sonstwie bewußt habe. Mitallem natürlich, das zu seinem Sinn — Sinn für mich — gehört, wiedaß der Andere „mir gegenüber" leiblich und mit seinem eigenenLeben da ist und nun mich ebenso als sein Gegenüber hat, daß ichfür ihn — mit meinem ganzen Leben, mit all meinen Bewußtseins.weisen und für mich geltenden Gegenständen — Alterego bin, wieer für mich; und ebenso jeder Andere für jeden Anderen, so daß das„Jedermann" Sinn erhält und ebenso das Wir und Ich als „einerunter den Anderen" als im „Jedermann" beschlossen.

Versuchen -wir nun die verwickelte transzendentale Problematikder Intersubjektivität und damit der Konstitution der kategorialenForm der „Objektivität" fiir die Welt, die ja die unsere ist, zu ent-falten, um damit wenigstens eine Vorstellung zu gewinnen von derArt der hier, und rein durch konsequente Enthüllung des eigenenintentionalen Lebens und des darin Konstituierten, zu leistendenKlärungen.

Wenn ich in der Universalität meines ego cogito mich als psycho-physisches Wesen, als eine darin konstituierte Einheit, finde unddarauf bezogen in der Form „Andere" psychophysische Wesen mirgegenüber, als solche nicht minder in Mannigfaltigkeiten meines in-tentionalen Lebens konstituiert, so werden hier zunächst schon in

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Beziehung auf mich selbst große Schwierigkeiten empfindlich. Ich,das "transzendentale Ego -. bin das allem Weltlichen „vorausgehende",als das Ich nämlich, in dessen Bewußtseinsleben sich die Welt als in-tentionale Einheit allererst konstituiert. Also Ich, das konstituierendeIch, bin nicht identisch mit dem schon weltlichen Ich, mit mir alspsychophysischem Realen; und mein seelisches, das psychophysisch-weltliche Bewußtseinsleben ist nicht identisch mit meinem tran-szendentalen Ego, worin die Welt mit all ihrem Physischen undPsychischen sich für mich konstituiert.

Aber sage ich nicht beidemal Ich, ob ich im natürlichen Lebenmich weltlich als Menschen erfahre, oder ob ich in philosophischerEinstellung von der Welt und mir als Menschen nach den Mannig-faltigkeiten konstituierender „Erscheinungen", Meinungen, Bewußt-seinsweisen usw. zurückfrage, und zwar 80, daß ich alles Objektiverein als „Phänomen", als intentional konstituierte Einheit nehmend,mich nun als transzendentales Ego finde? Und finde ich dann nichtmein transzendentales Leben und mein seelisches, mein weltlichesLeben nach allem und jeden gleichen Inhalts? Wie ist es zu ver-stehen, daß das „Ego" sein gesamtes ihm Eigenwesentliches zugleichin sich konstituiert haben soll als „seine Seele", psychophysisch ob.jektiviert in Anknüpfung an „seine" körperliche Leiblichkeit und soals eingeflochten in die in ihm als Ego konstituierte räumliche Natur?

Ferner, wenn der „Andere", wie offenbar, mit einem Sinne kon-stituiert ist, der auf mich selbst und zwar als Menschen-Ich zurück-weist — im besonderen sein Leib auf meinen eigenen als „fremder"Leib, sein Seelenleben auf mein eigenes als „fremdes" Seelenleben —wie ist diese Konstitution des neuen Seinssinnes, dessen als An -derer ", zu verstehen? Ist schon die Selbstkonstitution des Ego alsverräumlichtes, als psychophysisches Wesen eine sehr dunkle Sache,so ist es eine noch viel dunklere und eine geradezu peinliche Rätsel-frage, wie sich im Ego ein anderes psychophysisches Ichmit einer anderen Seele konstituieren soll, da doch zu ihrem Sinnals anderer die prinzipielle Unmöglichkeit gehört, daß ich die ihreigenwesentlichen seelischen Gehalte, ungleich den mir eigenen, inwirklicher Originalität erfahre. Prinzipiell muß also die Konstitutionvon Anderen verschieden sein von derjenigen meines eigenen psycho-physischen Ich.

In weiterer Folge muß verständlich gemacht werden, daß ichdem Anderen in seinen von mir ihm eingelegten anderen Erlebnissen,anderen Erfahrungen usw. notwendig nicht nur eine analoge Er-fahrungswelt zuschreibe, sondern dieselbe, die ich selbst erfahre,

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desgleichen daß er mich darin erfahre und seinerseits mich als aufdieselbe Erfahrungswelt bezogen, als wie ich auf die seine, usw.

Ist es mir gewiß und schon durch transzendentale Klärung ver-ständlich, daß meine Seele eine Selbstobjektivierung meines transzen-dentalen Ego ist, so weist nun auch die fremde Seele auf ein undnun ein fremdes transzendentales Ego zurück, als das Ego,das der Andere, von der ihm in seiner Erfahrung vorgegebenen Weltauf das letzte konstituierende Leben von sich aus zurückfragend, inseiner „phänomenologischen Reduktion", erfassen müßte. Danachwendet sich das Problem der „Anderen' auch dahin:

Zu verstehen, wie mein transzendentales Ego, der Urgrund allesfür mich seinsmäßig Geltenden, in sich ein anderes transzendentalesEgo und danach auch eine offene Vielheit solcher Egos konstituierenkann — „fremder", in ihrem originalen Sein meinem Ego absolut un-zugänglicher und doch für mich als seiend und soseiend erkennbarer.

Jedoch mit diesen Problemen ist es noch nicht genug, sie sindmit Rätseln umlagert, die selbst in bestimmte Probleme gefaßt werdenmüssen, bis schließlich eine feste und notwendige Stufenordnung derganzen überaus verwickelten Problematik evident geworden ist, dieder Lösung ihren notwendigen Arbeitsgang vorzeichnet.

Gehen wir davon aus, daß die Welt für uns, deutlicher ge-sprochen, daß sie ja für mich als Ego konstituiert ist als „objektive",in jenem Sinn der für Jedermann daseienden, sich als wie sie ist inintersubjektiver Erkenntnisgemeinschaft ausweisenden. Also es mußschon ein Sinn von „Jedermann" konstituiert sein, damit in Beziehungdarauf eine objektive Welt es sein kann. Darin liegt, daß ein ersterSinn von Jedermann, also auch von Anderen zugrundeliegen muß, der noch nicht der gewöhnliche, höherstufige Sinn ist,nämlich der Sinn „jeder Mensch", in dem doch ein Reales der objek-tiven Welt gemeint, also die Konstitution der Welt schon voraus-gesetzt ist.

Der „Andere" der konstitutiven Unterstufe weist nun seinemSinne gemäß auf mich selbst zurück, aber, wie wir vorhin schonbemerkten, auf mich nicht als transzendentales Ego, sondern alsmein psychophysisches Ich. Auch dieses kann also nochnicht Ich, der Mensch in der objektiven Welt sein, derenObjektivität durch ihn erst konstitutiv möglich werden muß.

Das wiederum weist darauf zurück, daß meine körperlicheLeiblichkeit, die ihrem Sinne nach räumliche ist und Glied einerraumkörperlichen Umgebung, einer Natur — innerhalb deren derkörperliche Leib des Anderen mir entgegentritt — daß, sage ich, all

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das noch nicht objektiv-weltliche Bedeutung haben kann.Mein an sich erstes psychophysisches Ich (von zeitlicher Genesis isthier nicht die Rede, sondern von konstitutiven Schichten), in Be-ziehung auf welches der an sich erste Andere konstituiert sein muß,ist, sieht man, Glied einer an sich ersten Na tu r, die noch nichtobjektive Natur ist, deren Raum-Zeitlichkeit noch nicht objektiveRaumzeitlichkeit ist, mit anderen Worten noch nicht konstitutiveZüge von dem schon konstituierten Anderen her hat. Im Zusammen-hang dieser ersten Natur tritt als in dem ihr zugehörigen Körper, derda mein körperlicher Leib heißt, waltend, an ihm in einziger Weisepsychophysische Funktionen übend, mein seelisches Ich auf, ihn alsden einzigen ursprünglich-erfahrungsmäßig „beseelend".

Man versteht nun. daß diese erste Natur oder Welt, diese erstenoch nicht haersubjektive Objektivität, in meinem Ego in einemausgezeichneten Sinne als mir Eigenes konstituiert ist,sofern sie noch nichts Ich-fremdes in sich birgt, d. i. nichts, was durchkonstitutive Einbeziehung fremder Iche, die Sphäre wirklich direkter,wirklich originaler Erfahrung (bzw. aus ihr Entsprungenes)überschritte. Anderseits ist es klar, daß in dieser Sphäre prim-ordinaler Eigenheit meines transzendentalen Ego das Mo ti-vationsfundament liegen muß für die Konstitution jenerechten, sie überschreitenden Transzendenze n, die zunächstals „Andere" — als andere psychophysische Wesen und anderetranszendentale Egos — entspringen und, dadurch vermittelt, dieKonstitution einer objektiven Welt des alltäglichen Sinnes möglichmachen: eine Welt des „Ni cht-Ich", des Ich-fremden. AlleObjektivität dieses Sinnes ist konstitutiv zurückbezogen auf daserste 1c h - f rem d e, das in der Form des „Anderen", d. h. desNicht-Ich in der Form "anderes Ich".

b) Der Schein des transzendentalen Solipsismus.

Es braucht kaum gesagt zu werden, daß diese ganze vielstufigeProblematik der Konstitution der objektiven Welt zugleich dieProblematik der Auflösung des sozusagen transzendentalenScheins ist, der vorweg jeden Versuch der Inangriffnahme einerkonsequenten Transzendentalphilosophie beirrt und zumeist lähmt,des Scheins, daß sie notwendig zu einem transz en dentalenSo lipsismus führen müßte. Ist alles, was für mich Seinsgeltung jehaben kann, in meinem Ego konstituiert, so scheint ja in. der Tat allesSeiende ein bloßes Moment zu sein meines eigenen transzendentalenSeine.

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Aber die Lösung dieses Rätsels liegt in der systematischen Auf-wicklung der konstitutiven Problematik, die in der Bewußtseinstat-sache der für mich allzeit daseienden, allzeit aus meiner ErfahrungSinn-habenden und Sinn-bewährenden Welt liegt und dann in dengemäß der systematischen Stufenfolge fortschreitenden Aufweisungen.Deren Absehen ist aber kein anderes und kann ein anderes nicht seinals die in dieser Bewußtseinstatsache selbst beschlossenen Aktuali-täten und Potenzialitäten (bzw. Habitualitäten) des Lebens, in denensich der Sinn Welt immanent aufgebaut hat und immerfort aufbaut,wirklich aufzuschließen. Die Welt ist beständig für uns da, aberzunächst doch für mich da. Für mich da ist dabei auch dies, undnur daher hat es für mich Sinn, daß sie f ür uns da ist und da alseine und dieselbe und als Welt eines nicht so und so zu postulierenden— und etwa gar zur Versöhnung der Interessen des Verstandes undGemüts passend zu „interpretierenden- — Sinnes, sondern einesSinnes der zunächst und in erster Ursprünglichkeit aus der Erfahrungselbst herauszulegen ist. Das Erste ist also das Befragen der Er-fahrungswelt rein als solcher. In den Gang der Welterfahrung michganz einlebend und in alle offenen Möglichkeiten ihrer konsequentenErfüllung, richte ich dabei den Blick auf das Erfahrene und seine all-gemeinen, eidetisch zu fassenden Sinnesstrukturen. Davon geleitetist dann weiter zurückzufragen nach den Gestalten und Gehalten derfür diesen Seinssinn und seine Stufen Sinn-konstituierenden Aktuali-täten und Potenzialitäten, wobei wieder nichts zu postulieren und„passend" zu „interpretieren", sondern aufzuweisen ist. Dadurchallein ist jenes letzte Weltverständnis zu schaffen, hinter das, alsletztes, es sinnvoll nichts mehr zu erfragen und zu verstehen gibt.Kann in diesem Vorgehen bloßer konkrete r Au siegu ng dertranszendentale Schein des Solipsismus standhalten? Ist es nicht einSchein, der nur v o r der Auslegung auftreten kann, da doch, wiegesagt, das in und aus mir selbst Sinnhaben der Anderen, und der Weltfür Andere, als Tatsache vorliegt und es sich hier also um nichtsanderes handeln kann, als sie, d. i. als was in mir selbst liegt zu klären?

c) Höherstufige Probleme der objektiven Welt.

Natürlich ist mit den oben angedeuteten Arbeitslinien nicht alleserschöpft. Die Forschung muß weitergehen. Erst muß, worauf jeneangedeuteten sich ausschließlich bezogen, die naive und rein-gefaßteErfahrungsweh konstitutiv aufgeklärt sein, damit die davon wohl zuunterscheidenden höherstufigen Fragen gestellt werden können, sodie der Konstitution einer sozusagen theoretischen Welt, der im

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theoretischen Sinn wahrhaft-seienden, bzw. die einer etwa unbedingtund objektiv gültigen theoretischen Erkenntnis. Ein besonderswichtiges und schwieriges Problem ist dabei die Aufklärung derIdealisierunge n, die zum intentionalen Sinne der Wissenschaftengehören. In formaler Allgemeinheit sprechen sie sich aus als „Seinan sich" und „Wahrheit an sich" in dem eben idealisierten Sinne derformalen Logik und ihrer „Prinzipien". Sie werden aber in den weit-lieh-regionalen Besonderheiten erst recht zu großen Problemen, wiez. B. als Idee der exakten Natur (gemäß der „exakten" Naturwissen-schaft), zu der der "ideale" Raum der Geometrie, mit seinen idealenGeraden, Kreisen usf. gehört, die entsprechend ideale Zeit usw.

d) Abschließende Betrachtung.

Es muß uns hier genügen, mindestens im Rohen die verwirrendverschlungene Problematik der Intersubjektivität und der weltlichenObjektivität verständlich gemacht zu haben 1). Es ist nun klar: Nurdurch jene Enthüllung der den Seinssinn der gegebenen Welt kon-stituierenden Leistung, können wir uns von jeder widersinnigen Ver-absolutierung des Seins dieser Welt freihalten und können überhauptund in jeder Hinsicht wissen, was wir ihm — wir als Philosophen —zumuten dürfen, was der Natur, dem Raume, der Raumzeit, derKausalität, in welchem Sinne wir die Exaktheiten der Geometrie, dermathematischen Physik usw. rechtmäßig zu verstehen haben, von ent-sprechenden, aber andersartigen geisteswissenschaftlichen Problemenzu schweigen.

Wie sehr all das die formal-logische Sphäre überschreitet, es mußim voraus im Sichtfelde sein, damit wir verkehrte Ansprüche derformal-logischen Geltungen vermeiden können. Wir müssen die ganzeWeite und Größe der Probleme der „Tragweite" der Erkenntniserfassen; ja jetzt verstehen wir eigentlich erst, worauf diese alteerkenntnistheoretische Rede von der Tragweite hinauswollte odermindestens, worauf sie hinausmußte.

1) Die Hauptpunkte zur Lösung des Problems der Intersubjektivität und derÜberwindung des transzendentalen Solipsismus habe ich bereits in Göttinger Vor-lesungen (W.-S. 1910111) entwickelt. Die wirkliche Durchführung erforderte abernoch schwierige Einzeluntersuchungen, die erst viel später zum Abschluß kamen.Eine kurze Darstellung der Theorie selbst bringen demnächst meine „Carte-sianischen Meditationen". Im nächsten Jahre hoffe ich auch die zugehörigenexpliziten Untersuchungen zur Veröffentlichung zu bringen.

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§ 97. Die Methode der Enthüllung der Bewußtseinskonstitutionin ihrer universalen philosophischen Bedeutung.

Keinem Philosophen kann der Weg dornenvoller Untersuchungenerspart werden, den wir freizulegen versucht haben.. Die u n i -v er sale Bezog enheit alles für ein Ich Erdenklichen auf seinBewußtseinsleben ist allerdings schon seit Descar tes als einephilosophische Grundtatsache allbekannt und insbesondere wiederin neuesten Zeiten viel beredet. Aber es nützt nichts, von obenher darüber zu philosophieren und sie durch noch so fein aus-gedachte Gedankengespinnste zu verdecken, statt in ihre ungeheurenKonkretionen einzudringen und sie wirklich philosophisch fruchtbarzu machen. Der Philosophierende muß sich von Anfang an zurKlarheit bringen, was wir mit gutem Grunde so stark und sooft betont haben: daß alles, was für ihn soll sein und das oderjenes sein, also als das für ihn Sinn und Geltung haben können,ihm bewußt sein muß in Gestalt einer eigenen, der B e -sonderheit dieses Seienden entsprechenden intentionalenLeistung, aus einer eigenen „Sinngebung" (wie ich in meinen„Ideen" es auch ausdrückte). Man darf nicht bei der leerenAllgemeinheit der Rede von Bewußtsein stehen bleiben, oder bei denleeren Worten Erfahrung, Urteil und dgl, und allenfalls das Weitere,als wäre es philosophisch irrelevant, der Psychologie überlassen —dieser Psychologie, deren Erbteil die Blindheit für die Intentionalitätist als das Eigenwesentliche des Bewußtseinslebens, und jedenfallsfür die Intentionalität als teleologische Funktion, d. i. als konstitutiveLeistung. Bewußtsein läßt sich methodisch enthüllen, so daß man esin seinem sinngebenden und Sinn in Seinsmodalitäten schaffendenLeisten direkt „sehen" kann. Man kann verfolgen, wie gegenständ-licher Sinn (das jeweilige cogitatuin der jeweiligen cogitationes) sichim Wandel dieser cogitationes in ihrem fungierenden Motivations-zusammenhang zu neuem Sinn gestaltet, wie das schon Vorhandenesich vordem gestaltet hat aus zugrunde liegendem und aus frühererLeistung herstammendem Sinn. Hat man an herausgegriffenen Bei-spielen Stücke solcher intentionaler Auslegungen durchgeführt, soerkennt man alsbald, daß die ungeheure Aufgabe nimmermehr um-gangen werden kann, dieses leistende Leben in seiner Universalität zuenthüllen und damit alle Sinngebilde des natürlichen, des wissenschaft-lichen, des gesamten höheren Kulturlebens, alles darin als „seiend"auftretende, in seiner universalen ontischen Einheit verständlich zumachen und zwar letztlich aus seinen konstitutiven Ursprüngen.

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Freilich mußte dazu die Methode erst eröffnet werden, weil dieEntdeckung der Intentionalität durch Brentano merkwürdigerweisenie dahin geführt hat, in ihr einen Zusammenhang von Leistungen zusehen, die in der jeweils konstituierten intentionalen Einheit undihrer jeweiligen Gegebenheitsweise als eine sedimentierte G e-schichte beschlossen sind, eine Geschichte, die man jeweils instrenger Methode enthüllen kann. Vermöge dieser Grund-erkenntnis wird jede Art intentionaler Einheit zum „t r anszende n-talen Leitfade n" der konstitutiven „Analysen", und dieseAnalysen selbst gewinnen von ihr her einen völlig eigenartigenCharakter; sie sind nicht Analysen im gewöhnlichenSinne (reelle Analysen), sondern En thüllungen in ten-t io nale r Implikationen (im Fortgang etwa von einer Er-fahrung zum System der als möglich vorgezeichneten Er-fahrungen).

§ 98. Die konstitutiven Untersuchungen als apriorische.

Aber diese Grundeinsicht wäre doch ohne rechte Frucht ge-blieben ohne die gelegentlich schon erwähnte Erkenntnis, daß indiesen Untersuchungen nicht die induktive Empirie einErstes ist, sondern daß eine solche überhaupt nur möglich ist durcheine vorangegangene Wesensforschun g. Die eigentlich funda-mentale und aller früheren Psychologie wie Transzendentalphilo-sophie fremde Erkenntnis ist hierbei die, daß jede geradehinkonstituierte Gegenständlichkeit, z.B. ein Naturobjekt,ihrer Wesensart (physisches Ding überhaupt) entsprechendzurückweist auf eine korrelative Wesensform dermannigfaltigen wirklichen und möglichen (im gegebenen Beispielunendlichen) Intentionalität, die für sie die konstitu-tive is t. Die Mannigfaltigkeit möglicher Wahrnehmungen, Er-innerungen, ja sonstiger intentionaler Erlebnisse überhaupt, die"einstimmig" auf ein- und dasselbe Ding bezogen und beziehbarsind, hat bei aller ungeheuren Komplikation einen ganz bestimmten,für jedes Ding überhaupt identischen Wesensstil, sich nur vonindividuellem zu individuellem Ding besondernd. Ebenso sind dieBewußtseinsweisen, die irgendeine ideale Gegenständlichkeit bewußtmachen können und zur Einheit eines synthetischen Bewußtseins vondieser selben sollen gebracht werden können, von einem bestimmten,für diese Art Gegenständlichkeit wesensmäßigen Stil. Da meinganzes Bewußtseinsleben auch in seiner Ganzheit, unbeschadet aller

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sich darin konstituierenden mannigfaltigen Sondergegenständlich-keiten eine universale Einheit leistenden Lebens ist- mit einer Einheitder Leistung, so ist das ganze Bewußtseinsleben beherrschtvon einem universalen konstitutiven, alle Tuten-tionalitäten umspannenden Apriori, einem Apriori, dassich bei der Eigenart der sich im Ego konstituierenden Intersubjek-tivität zu einem Apriori der intersubjektiven Inten-tionaIität und der ihrer Leistung intersubjektiver Einheitenund „Welten" ausweitet. Die Erforschung dieses gesamten Aprioriist die überschwänglich große, aber durchaus angreifbare undstufenweise zu lösende Aufgabe der transzendentalenPhänomenologie.

Es ist dabei im Auge zu behalten, daß die leistende Subjek-tivität prinzipiell nicht erschöpft ist durch das aktuelleintentionale Leben, in seinen sich faktisch zusammenordnendenintentionalen Erlebnissen, sondern daß sie auch ist und beständig istin ihren Vermögen. Diese sind nicht etwa hypothetische Erklärungs-gebilde, sondern in einzelnen Pulsen des „ich kann" und „ichtue" aufweisbar als beständig leistende Faktoren und von da aussind auch aufweisbar alle universalen Vermögen, einzelsubjektiveund intersubjektive. Auch darauf bezieht sich, das sei ausdrücklichbetont, das phänomenologische Apriori als ein, wie es überhaupt imSinne der Phänomenologie liegt, aus entsprechenden Wesens-intuitionen geschöpftes.

Zum besseren Verständnis der Methode der Wesens-forschung sei noch folgendes kurz angedeutet:

Alles was wir in unseren Betrachtungen über Konstitutionausgefiihrt haben, ist zunächst an beliebigen Ex emp eln beliebigerArten vorgegebener Gegenstände einsichtig zu machen, also in reflek-tiver Auslegung der Intentionalität, in der wir reale oder idealeGegenständlichkeit schlicht geradehin „haben". Es ist ein bedeutungs-voller Schritt weiter zu erkennen, daß was für faktische Einzel-heiten der Wirklichkeit oder Möglichkeit offenbar gilt, auch not-wendig in Geltung bleibt, wenn wir unsere Exempel ganz beliebigvariieren und nun nach den korrelativ mitvariierenden „Vor-stellungen", d. i. den konstituierenden Erlebnissen zurückfragen,nach den sich bald kontinuierlich bald diskret wandelnden „sub-jektiven" Gegebenheitsweisen. Vor allem ist dabei zu fragen nachden im p r ä gn anten Sinn konstituierenden „Erscheinungs"-weisen,den die jeweils exemplarischen Gegenstände und ihre Varianten e r -f ahr en den, und nach den Weisen, wie darin die Gegenstände sich

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als synthetische Einheiten im Modus „sie selbst" gestalten. Das ist abernichts anderes, als nach dem systematischen Universum möglicherErfahrungen, möglicher Evidenzen, zu fragen. oder nach der Ideeeiner vollständigen Synthesis möglicher einstimmiger Erfahrungen, alsderen synthetisches Gebilde der jeweilige Gegenstand in der „All-seitigkeit", in der Allheit ihm zugehöriger Bestimmungen als absolutselbstgegebener und selbstbewährter bewußt würde: Die hierbei zuvollziehende Variation des (als Ausgang notwendigen) Exempels istes, in der sich das ..Eidos– ergeben soll und mittels deren auchdie Evidenz der unzerbrechlichen eidetischen Korrelation von Kon-stitution und Konstituiertem. Soll sie das leisten, so ist sie nicht zuverstehen als eine empirische Variation, sondern als eineVariation, die in der Freiheit der reinen Phantasie und im reinenBewußtsein der Beliebigkeit — des .,reinen" überhaupt — voll-zogen wird, womit sie sich zugleich in einem Horizont offen endlosmannigfaltiger freier Möglichkeiten für immer neue Varianten hinein-erstreckt. In einer derartigen völlig freien, von allen Bindungen anim voraus geltende Fakta gelösten Variation stehen nun alle Variantendes offen unendlichen Umfangs — in die auch das von aller Faktizitätbefreite Exempel selbst, als „beliebiges", einbezogen ist — in einemVerhältnis synthetischer Aufeinanderbezogenheit und allheitlichenVerbundenheit, und des näheren in einer kontinuierlich durch-gehenden Synthesis der „Deckung im Widerstreit". Eben in dieserDeckung tritt aber das in dieser freien und immer wieder neu zugestaltenden Variation notwendig Verharrende, das Invariant ehervor, das unzerbrechlich Selbige im Anders und Immer-wieder-anders, das allgemeinsame Wesen — an das alle „erdenklichen"Abwandlungen des Exempels und alle Abwandlungen jeder solchenAbwandlung selbst gebunden bleiben. Dieses Invariante ist dieontisehe Wesensform (apriorische Form), das Eid os, das demExempel entspricht, wofür jede Variante desselben ebensogut hättedienen können ').

Die ontische Wesensform (zu oberst die „Kategorie") führtaber in reflektiver Blickwendung auf die konstituierenden möglichenErfahrungen, möglichen Erscheinungsweisen, darauf, daß diese sich

1) Es ist hier zu beachten, daß von uns Gegenstand stets in dem weitestenSinne verstanden ist, der auch alle syntaktischen Gegenständlichkeiten befaßt. Dasgibt also auch dem Begriff Eid os einen weitesten Sinn. Er definiert zugleichden einzigen der Begriffe des vieldeutigen Ausdrucks a priori, den wir philo-

sophisch anerkennen. Er ausschließlich ist also gemeint, wo je in meinen Schriftenvon a priori die Rede ist.

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notwendig mitvariieren und zwar so, daß sich nun eine korrelativ-zweiseitige Wesensform als invariant zeigt. So wird evident, daß einontisches Apriori nur möglich ist, und zwar in konkret voller Möglich-keit, als Korrelat eines mit ihm konkret einigen, von ihm konkretunabtrennbaren konstitutiven Apriori. Dies gilt nicht nur von denSystemen der möglichen Erfahrung von Gegenständen (den imprägnanten Sinne konstitutiven Systemen), sondern für die konstitu-tiven Systeme im weiteren Sinne, mitumfassend alle, auch die un-anschaulichen Bewußtseinsweisen, die je für irgendwelche Gegen-stände möglich sind.

Schließlich sieht man, zur weitesten, der analytisch-formalen All-gemeinheit aufsteigend, daß jeder noch so unbestimmt, ja inhaltlichleer gedachte Gegenstand, gedacht als ein „ganz beliebiges" Etwas-überhaupt, nur denkbar ist als Korrelat einer von ihm unabtrenn-baren intentionalen Konstitution, die unbestimmt-leer und doch nichtganz beliebig ist; die nämlich mit jeder Besonderung des —Etwas"und mit jeder hierbei substituierten ontischen Kategorie (dem durchontische Variation eines entsprechenden Exempels herauszustellendenEidos) sich korrelativ besondern muß. Danach ist jede an faktischenGegebenheiten zu vollziehende intentionale und konstitutive Analysevon vornherein, auch wenn dafür das Verständnis fehlt, als eineexemplarische anzusehen. Alle ihre Ergebnisse, von der Faktizitätbefreit und so in das Reich freier Phantasie-Variation versetzt, werdenzu wesensmäßigen, zu solchen, welche ein Universum der Erdenk-lichkeit (eine „reine" Allheit) in apodiktischer Evidenz beherrschen,derart daß jede Negation so viel besagt, wie intuitiv-eidetische Un-möglichkeit, Unausdenkbarkeit. Das betrifft also auch diese ganzesoeben durchgeführte Betrachtung. Sie ist selbst eine eidetisch durch-geführte. Die eidetische Methode auslegen, heißt nicht ein empi-risches, empirisch-beliebig zu wiederholendes Faktum beschreiben.Ihre Allgemeingültigkeit ist eine unbedingt notwendige, eine vonjedem erdenklichen exemplarischen Gegenstande aus durchführbare,und so ist sie von uns gemeint worden. Nur in eidetischer Intuitionkann das Wesen der eidetischen Intuition geklärt werden.

Es ist sehr notwendig, sich dieses echten Sinnes und dieser Uni-versalität des Apriori zu bemächtigen und dabei insbesondere derbeschriebenen Rückbezogenheit jedes geradehin geschöpften Aprioriauf das seiner Konstitution, also auch der apriorischen Faßbarkeitder Korrelation von Gegenstand und konstituierendem Bewußtsein.Das sind Erkenntnisse von beispielloser philosophischer Bedeutung.Sie schaffen einen wesentlich neuen und streng wissenschaftlichen Stil

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der Philosophie, und das selbst gegenüber der Kantischen Transzen-dentalphilosophie„ so viel in dieser sonst an großen Anschauungenbeschlossen ist.

Eröffnen sieh hier durch die konstitutiven Probleme, die allenRegionen der Gegenständlichkeit zugehören, ungeheure Felderapriorischer und dabei subjektiver Forschung, so ist schon vorauszu-sehen, daß sie sich in noch größere Weiten erstrecken müssen, alswelche zunächst das Blickfeld der methodischen Analyse ausmachen.Nämlich wenn alles faktische Subjektive seine immanent zeitlicheGenesis hat, so ist zu erwarten, daß auch diese Genesis ihr Apriorihat. Dann entspricht der „statische n", auf eine schon „ent-wickelte" Subjektivität bezogenen Konstitu ti on von Gegen-ständen die apriorische genetische Konstitution, auf-gestuft auf jener notwendig vorangehenden. Erst durch dieses Apriorierweist sich, und in einem tieferen Sinne, was im voraus schon gesagtworden '), daß in dem, was die Analyse als intentional Impliziertesder lebendigen Sinnkonstitution enthüllt, eine sedimentierte „G e-schicht e" liege.

§ 99. Psychologische und transzendentale Subjektivität.Das Problem des transzendentalen Psychologismus.

Eine Welt, Seiendes überhaupt jeder erdenklichen Artung,kommt nicht „Oe'etekr - in mein Ego, in mein Bewußtseinslebenhinein. Alles Außen ist, was es ist, in diesem Innen und hat seinwahres Sein aus den Selbstgebungen und Bewährungen innerhalbdieses Innen — sein wahres Sein, das eben damit selbst zum Innengehört, als Einheit spol in meinen (und dann intersubjektiv inunseren) wirklichen und möglichen Mannigfaltigkeiten, mit Möglich-keiten als Vermögen, als „ich kann hingehen, ich könnte syntaktischeOperationen vollziehen" usw. Welche Modalisierungen des Seins hierauch spielen mögen, auch sie gehören in diese Innerlichkeit, in deralles, was darin konstituiert ist, nicht nur Ende sondern Anfang ist,etwa thematisches Ende und für neue Thematik fungierend. Undso ist es vor allem mit den im Ego konstituierten Ideen, wie derdes absolut seienden Naturobjektes, der absoluten dafür be-stehenden „W ahr h eit en an sich" und dgl. Sie haben im Zu-sammenhang der konstituierten Relativitäten, der konstituierten Ein-heiten niederer Stufe, „regulative Bedeutung".

Die Bewußtseinsbeziehung auf eine W elt, das ist nicht eine mir

1) Vgl. § 97.

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von einem zufällig von außen her es so bestimmenden Gott oder vonder im voraus zufällig seienden Welt her und einer ihr zugehörigenkausalen Gesetzlichkeit auferlegte Tatsache. Das subjektive Aprioriist es, das dem Sein von Gott und Welt und allem und jedem fürmich, den Denkenden, vorangeht. Auch Gott ist für mich, was erist, aus meiner eigenen Bewußtseinsleistung, auch hier darf ich ausAngst vor einer vermeinten Blasphemie nicht wegsehen, sondernmuß das Problem sehen. Auch hier wird wohl, wie hinsichtlich desAlterego, Bewußtseinsleistung nicht besagen, daß ich diese höchsteTranszendenz erfinde und mache.

Ebenso steht es mit der Welt und aller Weltkausalität. Gewißbin ich mit der Außenwelt in psychophysischem kausalen Zusammen-hang — nämlich ich, dieser Mensch, ein Mensch unter Menschenund Tieren, unter sonstigen Realitäten, die alle zumal die Weltausmachen. Aber die Welt mit allen ihren Realitäten, darunter auchmit meinem menschlichen realen Sein ist ein Universum konsti-tuierter Transzendenzen, konstituiert in Erlebnissen und Vermögenmeines Ego (und dadurch erst vermittelt denen der für mich seiendenIntersubjektivität), das also dieser konstituierten Welt als die letzt-konstituierende Subjektivität vorangeht. Die Transzendenz der Weltist Transzendenz in Relation zu diesem Ich und mittels seiner zu deroffenen Ichgemeinschaft als der seinen. Es zeigt sich dabei der schonvon Descar tes bei aller Unklarheit doch vorgeschaute Unterschied,daß dieses Ego, daß Ich in diesem Sinne letztkonstituierenderSubjektivität, unbeschadet meiner unendlichen Horizonte der Un-enthülltheiten und Unbekanntheiten, für mich in apodiktischerNotwendigkeit bin: während die in mir konstituierte Welt, ob-schon im Strom meiner einstimmigen Erfahrung immerfort für michseiend und ganz ohne Zweifel seiend (einen Zweifel könnte ichnimmer zustande bringen, wo jede neue Erfahrung bestätigt) nurden Sinn einer präsumptiven Existenz hat und in Wesens-notwendigkeit behält. Die reale Welt ist nur in der beständig vor-gezeichneten Präsumption, daß die Erfahrung im gleichen kon-stitutiven Stil beständig fortlaufen werde.

Hier mögen tiefe und schwierige Untersuchungen zur voll-kommenen Klärung nötig sein: aber es bedarf ihrer nicht, um sichdavon zu überzeugen, daß sich diese, von uns früher schon recht-mäßig verwertete und für die Erkenntnistheorie fundamentalsteUnterscheidung ergibt, zwischen

I. der transzendental-phinomenologischen Sub-jektivität (durch die meine hindurchgesehen als transzenden.

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Formate und tranneudentale Logik. 223

tale Intersubjektivität) mit ihrem konstitutiven Bewußtseinslebenund ihren transzendentalen Vermögen;

2. der psychologischen oder psychophysischenSubjektivität, der menschlichen Seele, der menschlichen Personund Personengemeinschaft, mit ihren psychischen Erlebnissen impsychologischen Sinne, Bestandstücken der objektiven Welt, inpsychophysisch-induktivem Zusammenhang mit den der Welt zu-gehörigen physischen Leiblichkeiten.

Es ist danach zu verstehen, warum wir in allen Versuchen, dieExistenz einer objektiven Welt durch Kausalschlüsae von einemzunächst rein für sich (zunächst als solus ipse) gegebenen Ego zu be-gründen, als eine widersinnige Verwechslung bezeichneten zwischender in der Welt verlaufenden psychophysischen Kausalität mit derin der transzendentalen Subjektivität verlaufenden Korrelations-beziehung zwischen konstituierendem Bewußtsein und darin kon-stituierter Welt. Es ist für den wahren und echten Sinn der Transzen-dentalphilosophie von entscheidender Bedeutung, sich dessen zu ver-sichern, daß Mensch, und nicht nur menschlicher Leib, sondernauch menschliche Seele, wie rein sie immer durch innere Er-fahrung gefaßt sein mag, We lt begriffe sind und als solcheGegenständlichkeiten einer transzendenten Apperzeption,also mit hineingehörig als konstitutive Probleme in das transzenden-tale Universalproblem, das der transzendentalen Konstitution allerTranszendeuxen, ja aller Gegenständlichkeiten überhaupt.

Die radikale Scheidung zwischen psychologischer Subjektivitätund transzendentaler (in der die psychologische sich mit einem welt-lichen, also transzendenten Sinngehalt konstituiert) bedeutet eineradikale Scheidung zwischen Psychologie und Tran-szendentalphilosoph e, speziell transzendentaler Theorie dertranszendenten Erkenntnis. Man darf sich in keine Verschiebung desBegriffes der Psychologie einlassen, trotz der, man kann sagen, wesens-mäßig begründeten Versuchungen, die darin liegen, daß eine zunächstpsychologisch durchgeführte, aber reine Bewußtseinsanalyse sich tran-szendental wenden läßt, ohne ihren eigenwesentlichen Gehalt zu ändern.

Es ist nie aus den Augen zu verlieren, daß die Psychologieihren einzigen Sinn hat und immer hatte als Zweig der Anthr o-polo gie, als positive Weltwissenschaft, daß in ihr die „psychischenPhänomene", deutlicher die psychologischen Daten, die Erlebnisseund die Dispositionen (Vermögen) Data innerhalb der vorgegebenenWelt sind, daß „innere Erfahrung" eine Art weltliche, objektive Er-fahrung ist, so gut irgendeine Erfahrung an anderen oder eine

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physische Erfahrung, und daß es eine verfälschende Verschie-bung ist, wenn man diese psychologische innere Erfahrung mit der-jenigen zusammenwirft, die als evidente Erfahrung vom Ego cogitotranszendental in Anspruch genommen wird. Es ist freilich eineVerfälschung, die vor der transzendentalen Phänomenologie nichtmerklich werden konnte.

Es soll keineswegs geleugnet werden, daß jede Weise der Inten-tionalität und darunter jede Weise der Evidenz, so wie der Erfüllungvon Meinungen durch Evidenz auch in psychologischer Ein-s t e llun g durch Erfahrung vorzufinden und psychologisch zu be-handeln ist. Es soll nicht geleugnet werden, daß alle unsereausgeführten oder nur angezeigten intentionalenAnalysen auch Geltung haben in psychologischerApperzeptio n, nur daß es eben eine besondere weltliche Apper-zeption ist, die erst nach der Einklammerung die transzendental-subjektiven und parallelen Konkretionen ergibt. PsychologischeErkenntnistheorie hat einen guten Sinn — nämlich schlicht ver-standen als Titel für die Bearbeitung der mannigfaltigen Probleme,welche das Erkennen als Funktion innerhalb des menschlichenSeelenlebens, der Psychologie als der Wissenschaft von diesemSeelenleben stellt. Diese Erkenntnistheorie wird nur zum Wider-sinn, wenn man ihr die transzendentalen Aufgaben zumutet, wennman also das psychologisch apperzipierte intentionale Leben für dastranszendentale ausgibt und durch Psychologie transzendentale Auf-klärung alles Weltlichen zu leisten versucht — mit dem Zirkel, daßman mit der Psychologie, mit ihrem „Seelenleben", mit ihrer „innerenErfahrung" die Welt schon naiv vorausgesetzt hat.

Gleichwohl darf man sagen: Wäre diese Erkenntnispsychologiezu zielbewußter und dann auch erfolgreicher Arbeit gekommen, sowäre das alsbald auch für die philosophische Erkenntnistheoriegetane Arbeit gewesen. Alle für die Erkenntnispsychologie ge-wonnenen Struktureinsichten wären auch der transzendentalen Philo-sophie zugute gekommen. Selbst wenn diese in der Vermischung vonErgebnissen psychologischer und transzendentaler Einstellung steckengeblieben wäre (eine für den Anfang fast unvermeidliche Ver-mischung), so hätte sich dieser Fehler später durch Umwertungbessern lassen, ohne die gewonnenen Einsichten ihrem wesentlichenKerne nach zu verändern. Gerade das hier bestimmende und zu-nächst notwendig verborgene Ineinander macht die große Schwierig-keit und bestimmt das transzendentale Problem desPsychologisraus.

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Es ist dabei als ein beirrendes Moment folgendes zu beachten.das mit der Eigenart der sogenannten "deskriptiven" Psychologie —der Psychologie der abstraktiv rein in sich und für sich zu betrach-tenden Seele auf Grund der entsprechend rein gefaßten seelischenErfahrung — zusammenhängt. Die re ine Ps y cho lo gie kannnämlich (wie das schon durch die Logischen Untersuchungen ein-leuchtend geworden ist) ebensogut a 1s aprio rische durchgeführtwerden, wie die transzendentale Phänomenologie. Die Beschränkungdes psychologischen Urteilens auf die intentionalen Erlebnisse (die inder reinen „inneren" Erfahrung) und auf deren Wesensformen (die inder inneren Wesensverallgemeinerung zur Selbstgegebenheit kommen)desgleichen auf die rein psychischen Vermögen, ergibt dann einpsychologisch-phänomenologisches Urteilen. Wie mangeradezu sagen kann, es ergibt sich eine in sich geschlossene p sycho -logische Phä nomeno log je, und zwar mit der gleichen Methodeintentionaler "Analyse", als welche in der transzendentalen Phänome-nologie betätigt wird. Aber in diesem psychologisch-phänome-nologischen Urteilen ist eben psychologische Apperzeption vollzogen.nur daß, was durch diese intentional rnitgesetzt ist, die Beziehungauf Leiblichkeit, somit auf Weltliches, in den begriff-lichen Gehalt des Urteilens nicht ausdrücklich eintritt.Aber die psychologische Apperzeption wirkt doch sinnbestimmendmit und muß erst bewußt "eingeklammert" werden, damit jener Gehalt,der dadurch selbst nicht geändert wird, transz enden tale Be-de u t ung gew inn t. Das Durchschauen dieser Parallele zwischenrein immanenter und apriorischer Psychologie (psychologischerPhänomenologie) und transzendentaler Phänomenologie und dieNachweisung einer Wesensnotwendigkeit ist die prinzipiell letzteAufklärung des Problems des transzendentalen Psychologismus undzugleich seine Lösung.

§ 100. Historisch-kritische Bemerkungen zur Entwicklung derTranszeudentalphilosophie und insbesondere zur transzendentalen

Problematik der formalen Logik.

Der Weg zu der ganzen in Parallele rein psychologisch undtranszendental zu fassenden Ursprungsproblematik, die in ihrerWesensallgemeinheit alle möglichen Welten, mit allen ihren zu-gehörigen Wesensregionen realer und idealer Gegenständlichkeitenund Weltschichten in sich beschließt (also auch die Welt idealerSinne, der Wahrheiten, Theorien, Wissenschaften, die Idealitäten

Busser 1, .T.thrhueh f. 11,11■1;e1.11i. , X.

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226 Edmund Husserl, [226

jedweder Kultur, jedweder gesellschaftlich-geschichtlichen Welt) bliebdurch Jahrhunderte hindurch unbetreten. Das war eine vollbegreif-liche Folge der naturalistisch-sensualistischen Verirrung der gesamtenneuzeitlichen Psychologie aus innerer Erfahrung. Diese Verirrung hatnicht nur die Transzendentalphilosophie des englischen Empirismuszu jener bekannten Entwicklung gedrängt, die ihn im widersinnigenFiktionalismus enden ließ, sie hat auch die Transzendentalphilosophieder Kantischen Copernikanischen Umwendung in ihrer vollen Aus-wirkung gehemmt, so daß sie nicht zu den letztlich notwendigenZielen und Methoden durchdringen konnte. Ist das reine konkreteEgo, in dem sich alle ihm geltenden Gegenständlichkeiten und Weltensubjektiv konstituieren, nichts anderes als ein sinnloser Haufenkommender und verschwindender Daten, bald so, bald so zusammen-gewürfelt, nach einer sinnlos-zufälligen, der mechanischen analogenGesetzmäßigkeit (wie derjenigen der seinerzeit mechanisch inter-pretierten Assoziation), so kann es bloß durch Erschleichungen er-klärlich werden, wie auch nur so etwas wie der Schein einer realenWelt entstehen könne. Hume aber gibt vor verständlich zumachen, daß uns nach einer blinden rein-psychischen matter-of-fact-Gesetzlichkeit unter den Titeln Verharrende Körper, Personen usw.besondere Typen von Fiktionen erwachsen. Scheine, Fiktionen sindSinngebilde, ihre Konstitution vollzieht sich als Intentionalität,sie sind cogitata von cogitationes, und nur aus Intentionalität kannneue Intentionalität entspringen. Fiktionen haben ihre eigene Seins-art, die zurückweist auf Wirklichkeiten, auf Seiendes im normalenSinn. Ist leistende Intentionalität einmal entdeckt, so wird alles, Seinwie Schein, verständlich in seiner wesensmäßigen objektiven Mög-lichkeit, seine Subjektivität ist für uns dann sein Konstituiert-sein.Und das ist nicht die schlechte Subjektivierung, die dann beides, Seinund Schein, wie bei Hume in einen solipsistischen Schein verkehrt,sondern es ist eine transzendentale Subjektivierung, die sich mit derechten Objektivität nicht nur verträgt, vielmehr ihre apriorischeKehrseite ist.

Humes Größe (eine in dieser wichtigsten Hinsicht noch un-erkannte Größe) liegt darin, daß er trotz alledem der Erste war,der das universale konkrete Problem der Transzendental-philosophie erfaßt, daß er zuerst die Notwendigkeit gesehen hat, ausder Konkretion der rein egologischen Innerlichkeit, in der, wie ersah, alles Objektive dank einer subjektiven Genesis bewußt undbestenfalls erfahren wird, eben dieses Objektive als Gebilde seinerGenesis zu erforschen, um aus diesen letzten Ursprüngen den recht.

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mäßigen Seinssinn alles für uns Seienden verständlich zu machen.Genauer gesprochen: die reale Welt und deren real-kategorialeGrundformen werden ihm in neuer Weise zum Problem. Er warder Erste, der mit der reinen Inneneinstellung Des c a r tes'ernst machte, indem er die Seele radikal von allem vorweg befreite,was ihr weltlich-reale Bedeutung gibt, und indem er sie rein als Feldvon „Perzeptionen", von „Impressionen" und „Ideen" voraussetzte,als wie sie Gegebenheit ist einer entsprechend rein gefaßten innerenErfahrung. Auf diesem „phänomenologischen" Boden konzipiert erzuerst, was wir „konstitutive" Probleme nennen, indem er die Not-wendigkeit erkannte, verständlich zu machen, wie es sich rein indieser phänomenologisch reduzierten Subjektivität und ihrer imma-nenten Genesis macht, daß sie transzendente Objektivitäten, undzwar Realitäten in den vorweg uns selbstverständlichen ontologischenFormen (Raum, Zeit, Kontinuum, Ding, Personalität) in vermeinter"Erfahrung" vorfinden kann.

So können wir sicherlich von der heutigen Phänomenologie herseine allgemeine Intention beschreiben. Nur daß wir beifügen müssen,daß er keineswegs die den phänomenologischen Boden vorbereitendeMethode phänomenologischer Reduktion bewußt geübt und garprinzipiell durchdacht hat, des weiteren, daß er, der erste Entdeckerder konstitutiven Problematik, völlig hinwegsieht über diegrundwesentliche Eigenheit des seelischen Lebensals Bewußtseinslebens, auf die sie sich bezieht, und damit über dieihr als intentionale Problematik angemessene und in der Ausführungsofort ihre Kraft wirklicher Aufklärung bewährende Methode. Durchseinen naturalistischen Sensualismus, der nur einen in wesenloserLeere schwebenden Haufen von Daten sieht und blind ist für dieobjektivierenden Funktionen der intentionalen Synthesis, gerät er inden Widersinn einer „Philosophie des Als ob".

Was anderseits Kant anbelangt, so hat er in seiner reaktivenAbhängigkeit von Hume mindest hinsichtlich der Natur das konstitu-tive Problem übernommen, aber nicht mehr in dem vollen Sinn einesTeilproblems einer universalen konstitutiven Problematik, die durchHumes Umfassung des Cartesianischen ego cogito zum konkreten"seelischen" Sein vorgedeutet war. Er stellt nicht der sensua-listischen „Psychologie" (die, wie gesagt, in Wahrheit bei Humeeine transzendentale, obschon durch den Sensualismus widersinnigePhänomenologie ist) eine echte intentionale Psychologie gegenüber,geschweige denn als eine in unserem Sinn apriorische Wesenslehre. Ander Psychologie Lockes und seiner Schule hat er nie eine radikale,

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den Grundsinn ihres Sensualismus betreffende Kritik geübt. Er selbstbleibt zu sehr von ihr noch abhängig, womit auch zusammenhängt,daß er den tiefen Sinn der Scheidung zwischen reiner Psycho-logie (auf dem bloßen Grunde „innerer Erfahrung") und tran-szendentaler Phänomenologie— auf dem Grunde der durch„transzendental-phänomenologische Reduktion" entspringenden tran-szendentalen Erfahrung — nie herausgearbeitet hat und damit nichtden tiefsten Sinn des transzendentalen Problems des „Psycho-logismus". Und doch muß man sagen, daß seine Lehre von derSynthesis und den transzendentalen Vermögen, daß seine ganzen,auf das Hume sehe Problem zurückbezogenen Theorien im-plieite intentional-konstitutive sind, nur eben nicht aufden letzten Boden gestellt und von da in radikaler Methode durch-geführt.

Doch für uns auf eine radikale Logik Hinstrebende ist von be-sonderem Interesse das Verhalten der Kantischen Transzendental-philosophie zur formalen Logik. Und zudem ist es, wie sich zeigenwird, von Interesse für die neuzeitliche Motivation, die den Zugangzur phänomenologischen Transzendentalphilosophie versperrt hat.

So gewaltig Kant seine Zeit überragt und seine Philosophie füruns eine Quelle tiefer Anregungen bleibt, die Halbheit seines Vor-stoßes einer systematischen Transzendentalphilosophie zeigt sichdarin, daß er die f ormale Logik (als Syllogistik, seine "reine undallgemeine" Logik) zwar nicht wie jener englische Empirismus alswertloses scholastisches überlebsel ansieht und auch nicht, wie er(nach dem was er von ihr gelten läßt) durch psychologistische Um-deutung ihrer Idealität sie ihres eigentümlichen echten Sinnes be-raubt; daß er aber an sie keine transzendentalen Fragenstellt und ihr ein sonderliches Apriori zuschreibt, das sie übersolche Fragen hinaushebt. Natürlich darf man da nicht an seine Ideeeiner transzendentalen Logik erinnern, die ja etwas total anderes istals die subjektiv gewendete und zwar transzendental-phänomeno-logische Problematik, die wir im Auge haben.

Die reine Logik hat als ihre thematische Sphäre ideale Gebilde.Als solche idealen Gegenständlichkeiten mußten sie aber erstklar gesehen und bestimmt gefaßt sein, damit an sie und damit andie reine Logik transzendentale Fragen gestellt werden konnten. Das18. Jahrhundert und die Folgezeit waren vom Empirismus oder besserAntiplatonismus so sehr bestimmt, daß nichts ferner lag als die An-erkenntnis idealer Gebilde als Gegenständlichkeiten — in der Artund in dem guten, nie preiszugebenden Sinne, den wir ausführlich

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begründet haben. Das ist für die neuere Geschichte der Transzen-dentalphilosophie und für die noch in den alten Vorurteilen so sehrbefangene Gegenwart ein Punkt von größter Bedeutung. Nichts hatdie klare Einsicht in den Sinn, in die eigentliche Problematik undMethode der echten Transzendentalphilosophie so sehr gehemmt alsdieser Antiplatonismus, der so einflußreich war, daß er alle Parteien,auch den sich vom Empirismus losringenden Kant bestimmte.Leibni z, der hier eine Ausnahmstellung hat, aber freilich auchkeine transzendentale Problematik in unserem Sinne, lassen wir hieraußer Betracht. Er hat in seiner Zeit in diesen wie in manchenanderen wesentlichen Beziehungen nicht durchzugreifen vermocht.

Wir heben hier einige die historische Entwicklung erleuchtendeHauptmomente hervor. Gehen wir auf Hum e zurück, der schon um dereigenen Bedeutung willen, die wir ihm nach dem oben Ausgeführten,abgesehen von seiner Wirkung auf Kant, zuschreiben, unsere Be-achtung fordert, dann aber auch um eben dieser Wirkung willen.

Hume hat neben dem transzendentalen Problem der Konstitu-tion der Welt nicht auch das der Konstitution der idealenGegenständlichkeiten gestellt, somit auch nicht das derlogischen Idealitäten, der kategorialen Gebilde, der Urteile, die dasThema der Logik bilden. Es hätte gestellt werden müssen bei den„R elationen zwischen Idee n", die als Sphäre der „Vernunft"im prägnanten Sinne bei Hume eine so große Rolle spielen. Sievertreten die idealen Wesensverhältnisse und Wesensgesetze. Aberdiese selbst, die idealen Gegenständlichkeiten überhaupt, waren nichteinmal als tatsächliche Gegebenheiten einer vermeintlichen"Erfahrung", oder eines ähnlichen, vermeintlich selbst-gebenden Bewußtseins eingeführt — also nicht so, wie dieGegebenheiten der "objektiven" Natur in der naturalen Erfahrung.Demnach fehlt das entsprechende Hume sehe Problem und die ent-sprechende Theorie, mit dem Beruf, auch die „Erfahrung" von der-artigen vermeinten Gegenständen als eine innere Leistung bloßerFiktion zu „erklären".

Als Ersatz gewissermaßen für das transzendentale Problem deridealen Gegenständlichkeiten haben wir bei Hume das berühmteKapitel über Ab s tr ak tio n. Hier handelt es sich, wie gesagt, nichtdarum, die abstrakten Ideen als Gegebenheiten einer Erfahrungdadurch in Fiktion zu verwandeln, daß nachgewiesen würde, daßErlebnisse, die als solche Erfahrung von uns allzeit angesprochenwerden, zwar vorhanden sind, daß sie aber, wie die psychologische

Analyse lehre, nur den Wert V9rt SCheiP-Erfahrllneen habe4 — wie

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230 Edmund Heuert, [230

das Hume hinsichtlich der äußeren Erfahrung und ihrer Gegebenheitzu zeigen versuchte; vielmehr ist der Zweck des bezeichneten Kapitelsder Nachweis, daß wir überhaupt keine abstrakten „Vorstellungen"haben, daß abstrakte „Ideen" als Gegebenheiten irgendeiner "Er-fahrung" überhaupt nicht vorkommen, sondern nur Einzelideen undzugehörige habits, wodurch das allgemeine Denken als ein bloßesDenken in Einzelideen erklärt sein soll.

So wird auch die S tellung Kants zur Logik verständlich.Den Worten na ch, von der Definition angefangen und bis in dieAusführungen hinein gibt sich die Logik Kants als eine subjektivgerichtete Wissenschaft — eine Wissenschaft vom Denken, die jedochals apriorische getrennt wird von der empirischen Psychologie desDenkens. In Wirk lichk e i t geht aber seine rein formale Logikihrem Sinne nach auf die idealen Denkgebilde. Eigentlich transzen-dentale Fragen der Möglichkeit der Erkenntnis an diese zu stellen,unterläßt er. Wie kommt es, daß er eine formale Logik in ihrerApriorität für selbstgenugsam begründet ansieht? Wie ist es zu ver-stehen, daß es ihm nicht beigefallen ist, für die formal-logische Sphäre— die an und für sich genommene — transzendentale Fragen zustellen?

Das ist aus der erwähnten reaktiven Abhängigkeit vonHume zu verstehen. So wie Hume seine Kritik nur auf die Er-fahrung und Erfahrungswelt richtet und die Unangreifbarkeit derRelationen zwischen Ideen (die Kant als analytisches Apriori faßt)hinnimmt, so tut es auch K auf in seinem Gegenproblem; er ver-wandelt dieses analytische Apriori selbst nicht in ein Problem.

Für die Folgezeit besagt das aber, es kommt g a r nicht imernstlichen Sinne zu denjenigen erkenntnispsycho-logischen oder vielmehr transzendentalphänomeno-logischen Untersuchungen, die das eigentliche Be-dürfnis einer vollen, also zweiseitigen Logik ausmachen.Es kommt dazu aber nicht, weil man nie daran ging oder nie denMut hatte, die Idealität der logischen Gebilde in der Weiseeiner eigenen, in sich geschlossenen „Welt" idealer Objektezu f a ss en und ineins damit der peinlichen Frage ins Angesicht zusehen, wie die Subjektivität in sich selbst rein aus Quellen ihrerSpontaneität Gebilde schaffen kann, die als ideale Objekt e eineridealen „Welt" gelten können. Und dann weiter (als eine Frage neuerStufe) wie diese Idealitäten in der doch als real anzusprechendenKulturwelt — als einer im raum-zeitlichen Universum beschlossenen— zeiträumlich gebundenes Dasein annehmen können, Dasein in der

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Form der historischen Zeitlichkeit, wie eben Theorien und Wissen-schaften. Natürlich verallgemeinert sich die Frage für jede Art vonIdealitäten.

Kant selbst, so klar er im Hinblick auf die Kernbestände derAristotelischen Tradition den apriorischen Charakter der Logik, ihreReinheit von allem Empirisch-psychologischen, bzw. die Verkehrtheitihrer Einbeziehung in eine Erfahrungslehre erkannte, hat doch deneigentümlichen Sinn ihrer Idealität nicht erfaßt. Sonst hätte von hieraus wohl ein Motiv für transzendentale Fragestellungen entspringenkönnen.

Das übersehen der Gegenständlichkeit des Idealen jeder Formwirkt sich in der Erkenntnislehre seit Locke — die ursprünglichein Ersatz für die mißachtete traditionelle Logik sein sollte — undgenauer gesprochen von Hume ab in dem berühmten Urteils-problem und den zugehörigen Urteilstheorien aus, Theorien,die durch die Zeiten hindurchgehend im Grund ihren Stil nicht ge-ändert haben. Was eine echte, zielklare Urteilstheorie zu leisten hätte,das haben wir oben ') ausführlich darzulegen versucht. Hier in derhistorisch-kritischen Betrachtung ergibt sich uns erst der Kontrast.

Der allgemein herrschend gewordene psychologische Natura-lismus, seit Locke nach deskriptiven psychischen „Daten" suchend,in denen der Ursprung aller Begriffe liegen sollte, sah das deskriptiveWesen des Urteils im „belief" — einem psychischen Datum, nichtanders wie irgendein Empfindungsdatum, ein Rot- oder Tondatum.Ist es aber nicht sonderbar, daß schon Hume und nachher auchwieder Mi Il nach dieser Aufweisung in beweglichen Worten vonden Rätseln des belief sprechen. Was soll ein Datum für Rätselhaben, warum haben dann „rot" und sonstige Empfindungsdatenkeine Rätsel?

Natürlich erlebt man die Intentionalität und hat ihre Leistungvor sich, aber in der naturalistischen Einstellung kann man das,worauf es ankommt, nicht in den Griff bringen. Daran wurde auchdurch Brentanos Entdeckung der Intentionalitätnichts wesentliches geändert. Es fehlte die konsequentekorrelative Betrachtung von Noesis und Noema, von cogito und

cogitatum qua cogitatum. Es fehlte die Aufwickelung der impli-zierten Intentionalitäten, die Enthüllung der „Mannigfaltigkeiten",in denen sich die „Einheit- konstituiert. War diese Einheit nicht dertranszendentale Leitfaden, war also in der Urteilstheorie nicht von

1) Vgl. e 85 ff.

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vornherein das Absehen darauf gerichtet, das Urteil im logischen Sinneals das ideal-identische nach den noetisch-noematischenMannigfaltigkeiten zu befragen, die sein ursprüngliches Für-uns-erwachsen in dieser Idealität verständlich machen, so fehlte derganzen Urteilstheorie ein eigentliches Ziel. Ein solches hätte eben vor-ausgesetzt, daß man die Idealität als solche, als Gegebenheit greifbarerEvidenz anerkannte Statt dessen hing man an psychischen „Daten".

Auch die spezieller ausgestalteten logischen Theorien der Urteils-bildung verloren sich in den trüben Unklarheiten der Psychologiender immer fortwirkenden Lockeschen Tradition: Psychologien, die,wie wir schon ausgeführt haben, trotz eifrigster „innerer Erfahrungversagten, weil eben alle rein-psychologischen Probleme und so auchdie des Urteils in Echtheit erfaßt, denselben Stil haben, den Stil von„konstitutive n" Problemen in unserem phänomenologischenSinne. Als solche konnten die Urteilsprobleme garnicht isoliertund in Bindung an den engen Urteilsbegriff der tradi-tionellen Logik behandelt werden. Intentionalität ist nichts Isoliertes,sie kann nur betrachtet werden in der synthetischen Einheit, die alleEinzelpulse psychischen Lebens teleologisch in der Einheits-beziehung auf Gegenständlichkeiten verknüpft, oder vielmehrin der doppelten Polarisierung von Ichpol und Gegenstandspol. Die„objektivierende" Leistung, der alle einzelnen intentionalen Erleb-nisse in mannigfachen Stufen und in Beziehung auf mannigfaltigeaber sinnhaft zu „Welten" verbundenen Gegenstände dienen, machtes, daß man schließlich die ganze Universalität des psychischen Lebensin Korrelation mit der ontischen Universalität (der des in sich ein-heitlichen Gegenstandsall) im Auge haben muß. Diese teleologischeStruktur des intentionalen Lebens, als universal-objektivierenden, hatihren Index in der Zusammengehörigkeit von Gegenstand und Urteilim weitesten Sinne und in der Universalität, in der jedweder schonvorgegebene Gegenstand in Freiheit kategorialen Aktionen zu unter-werfen ist. Eben dadurch gewinnt (und als Index dieserselbenTeleologie) auch das prädikative Urteil für das psychische Lebenuniversale Bedeutung.

Doch diese echte Urteilsproblematik mußte so lauge unzugänglichbleiben, als noch nicht auf der einen Seite die Gegenständlichkeit desIdealen jeder Art, so auf der anderen der Sinn und die Methodeintentionaler Forschung erschlossen und der Widersinn der natura-listischen Psychologie (darunter auch der naturalistischen Behandlungder zur neuen Geltung gekommenen Intentionalität) überwunden war.Solange es daran fehlte, konnten weder die Psychologie noch die nach

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„psychologischer" Aufklärung bedürftigen idealen („normativen")philosophischen Disziplinen, die Logik, die Ethik, die Ästhetik, ineine zielsichere Entwicklung und zu ihrer wahren Methode kommen.

Für die Logik (und nicht anders für ihre philosophischen Parallel-disziplinen) bezeichnet das also die Richtung der ihr wesensnotwen-digen Reform. Sie muß die phänomenologische Naivität überwinden,sie muß selbst nach errungener Anerkenntnis des Idealen mehr seinals eine bloß positive Wissenschaft von den logisch-mathematischenIdealitäten. Vielmehr in beständig zweiseitiger (sich dabei wechsel-weise bestimmender) Forschung muß sie systematisch von den idealenGebilden auf das sie phänomenologisch konstituierende Bewußtseinzurückgehen, diese Gebilde als wesensmäßige Leistungen der korre-lativen Strukturen des leistenden Erkenntnislebens nach Sinn undGrenzen verständlich machen, und sie damit wie alle und jedeObjektivität überhaupt dein weiteren, dein konkreten Zusammen-hang der transzendentalen Subjektivität einordnen. An der idealenObjektivität der logischen Gebilde wie an der realen Welt wirddadurch nichts geändert.

Wir sagten schon oben, das bestimmte Ziel konnte dem dunklenBedürfnis nach subjektiv gerichteten logischen Forschungen über-haupt erst gesteckt werden, nachdem vorher die ideale Objektivitätsolcher Gebilde scharf herausgestellt und in Entschiedenheit an-erkannt war. Denn nun stand man vor der Unverständlichkeit, wieideale Gegenständlichkeiten, die rein in unseren subjek-tiven Urteils- und Erkenntnistätigkeiten entspringen, rein als Gebildeunserer Spontaneität in unserem Bewußtseinsfeld originaliter da sind,den Seinssinn von „Objekten" gewinnen, an sich seiendgegenüber der Zufälligkeit der Akte und Subjekte. Wie „macht"sich, wie entspringt dieser Sinn in uns selbst, und woher sollen wirihn anders haben als aus unserer eigenen Sinn-konstituierendenLeistung; kann, was für uns Sinn hat, letztlich anders woher Sinnhaben als aus uns selbst? Diese Frage, einmal an einer Art vonObjekten gesehen, wird sofort zur allgemeinen: ist nicht alle undjede Objektivität, mit allem Sinn, in dem sie uns je gilt, in uns selbstzur Geltung kommende oder gekommene, und das mit dem Sinn,den wir uns selbst erworben haben?

Danach tritt das transzendentale Problem, das die ob-jektive Logik in welch enger oder weiter Fassung immer inbezug auf ihr Feld idealer Gegenständlichkeiten zu stellen hat, inParallele zu den transzendentalen Problemen der

Realitätenwissenschaften, nämlich den in bezug auf ihre

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Regionen der Realitäten zu stellenden, also insbesondere den vonHume und Kant behandelten transzendentalen Problemen derNatur. Es scheint also, daß als die nächstliegende Folge der Heraus-stellung der Ideenwelt und im besonderen derjenigen der reinlogischen Ideen (auf Grund der Auswirkung von Impulsen vonLeibniz, Bolzano und Lotze), eine sofortige Über-tragung der transzendentalen Probleme auf diese Sphäre sich hätteeinstellen müssen.

Aber so einfach konnte sich die historische Entwicklung nichtgestalten. Die Kantische Problematik und Theorie war als einGanzes ausgeführt und in ihrem Panzer der Systemformung so festabgeschlossen, daß die Möglichkeiten der Übertragung auf die logischeIdeensphäre nicht entfernt in Frage kam. Also nicht etwa bloßdeshalb, weil Kant selbst aus den oben behandelten Gründen einsolcher Gedanke fremd geblieben ist. Seine transzendentalen Problemein ihrer historisch gebundenen Gestalt stehen nicht, wie das letzteProblemklarheit hier fordert, auf dem Urboden aller transzen-dentalen Forschung, dem der phänomenologischen Subjektivität. Inder Tat, sowie dieser erreicht ist, ist eigentlich schon die Gesamt-heit transzendentaler Probleme und ihr überall gleicher Sinn mit-gegeben. Kants Probleme waren von vornherein in einer zu hoch-stufigen Form gestellt, als daß sie hätten den erkenntnistheoretischinteressierten Logikern nützlich sein können. Man kann vielleicht sagen,daß die größten Hemmungen, Unklarheiten, Schwierigkeiten, mit denenKant in seiner Problemsphäre rang und die es so schwer machen.in seinen Theorien die Befriedigung voller Klarheit zu finden, geradedamit zusammenhängen, daß er das transzendentale Problem derLogik nicht als ein ihr vorangehendes erkannt hat.Denn ist die transzendentale Möglichkeit der Natur im Sinne derNatur -wissenschaft und somit diese selbst sein Problem, so gehtdarin schon als Wesensvoraussetzung ein das formal-logische Problemder Wissenschaft als Theorie und zwar als transzendentales Problem.Für Kant aber ist es genug, auf die formale Logik in ihrerapriorischen Positivität zu rekurrieren, oder wie wir sagen würdenin ihrer transzendentalen Naivität. Sie ist ihm ein Absolutes undLetztes, worauf Philosophie ohne weiteres zu bauen habe. Bei radi-kalem Vorgehen hätte er also die Problematik zunächst scheidenmüssen in die für die vorwissenschaftliche Natur und für die wissen-schaftliche. Er hätte (wie II um e) vorerst nu r an die vor-wissenschaftliche Natur, so wie sie ausschließlich in er-fahrender Anschauung zur Selbstgegebenheit kommt (nicht also in

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der „Erfahrung im Kantischen Sinne) transzendentale Fragen stellendürfen und erst nach einer transzendental-formaleu Logik an dieNaturwissenschaft und ihre Natur. Zugleich ist es klar: Nur wenndie Transzendentalphilosophie der Natur zunächst in prinzipiellerBeschränkung auf die anschauliche Natur ausgeführt vorgelegen wäre,wäre sie nach der Erschließung der Idealitäten geeignet gewesen, dasWerden einer transzendentalen Logik zu motivieren.

Jedenfalls scheint es sicher, daß die historischen Gestalten derTrauszendentalphilosophie Kants und seiner neukantianischenNachfolger, so bedeutsame Vorstufen einer echten Transzendental-philosophie sie darstellen, nicht geeignet waren, den Übergang zueiner transzendentalen Betrachtung der idealen und im besonderender logischen Welten nahezulegen. Ja es lag in der Natur der histo-rischen Entwicklung, wie sie durch die Herausstellung der logischenSphäre als eines Reichs idealer Gegenständlichkeiten geworden war,daß es leichter war und noch ist, von diesen Gegenständlich-keiten aus -- durch spontane Tätigkeiten konstituierten — z umreinen Sinn transzendentaler Fragestellungen über-haupt durchzudringen, als durch eine kritische Umbildungder Kantischen Fragestellungen und bestimmt von ihrer besonderenthematischen Sphäre. So war es durchaus nicht zufällig, daß diePhänomenologie selbst in ihrer Entstehung den Weg nahm von derHerausstellung der Idealität der logischen Gebilde zur Erforschungihrer subjektiven Konstitution und von da aus erst zur Erfassung derkonstitutiven Problematik als einer universalen, nicht nur auf dielogischen Gebilde bezogenen.

Kehren wir nach diesem historisch-kritischen Exkurs zu unseremHaupthema zurück.

7. Kapitel.

Objektive Logik und Phänomenologie der Vernunft.

§ 101. Die subjektive Grundlegung der Logik als transzendentalePhänomenologie der Vernunft.

Die Evidenzprobleme, die sich an die logischen Grundbegriffeund Grundsätze knüpften, waren es, die uns, da Evidenz es ist, diefür Wahrheit und wahrhaft Seiendes jedes uns geltenden Sinnes kon-stitutiv ist, auf die allgemeinste konstitutive Problematik und dasRadikale ihrer Methode geführt haben. Soll die Logik, als aus einernaiven Evidenz entsprungene, nicht himmelhoch über jeder mög-lichen Anwendung schweben, so müssen diese Probleme in ihrer

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Stufenfolge gestellt und gelöst werden. Denn nur geklärter Sinnist es, der den Umfang rechtmäßiger Anwendung vor-zeichnet. Die formale Wissenschaftslehre soll ein Apriori für mög-liche Wissenschaft überhaupt aussprechen — das große Problem, w jeist Wissenschaft möglich, ist nicht, analogisch gesprochen,durch das „solvitur ambulando" erledigt. Diese Möglichkeit ist nichtdurch das Faktum von Wissenschaften zu erweisen, da erst dieSubsumption unter diese Möglichkeit als Idee das Faktum erweist.So werden wir auf die Logik, auf ihre apriorischen Prinzipien undTheorien zurückgeführt. Nun ist sie selbst aber in Hinsicht auf ihreMöglichkeit in Frage und in unseren fortschreitenden Kritiken be-ständig und sehr ernstlich in Frage gestellt. Sie führen uns vonder Logik als Theorie zurück zur logischen Vernunftund ihrem neuen theoretischen Feld. Wenn zu Anfang dieser Schriftunter den Bedeutungen des Wortes Logos schließlich auch V e r -nun f t auftrat, so ist die mit den subjektiven Untersuchungen aufradikale Begründung bedachte Logik also auch in diesem SinneWissenschaft vom Logos.

Geraten wir nicht in ein sich fortsetzendes Fragespiel? Ist nichtalsbald eine weitere Frage unbeweisbar: wie ist eine Theorielogischer Vernunft möglich? Darauf gibt unsere letzteUntersuchung') die Antwort: sie hat ihre radikale Möglichkeit a 1 sPhänomenologie dieser Vernunft im Rahmen der ge-samten transzendentalen Phänomenologie. Wenn diesedann, wie vorauszusehen ist, die letzte Wissenschaft ist, so muß siesich als solche darin zeigen, daß die Frage nach ihrer Mög-lichkeit durch sie selbst zu beantworten ist, daß es alsoso etwas wie wesensmäßige iterative Zurückbezogen-heit en auf sich selbst gibt, in der der wesensmäßige Sinn einerletzten Rechtfertigung durch sich selbst einsehbar beschlossen ist,und daß eben dies den Grundcharakter einer prinzipiellen letztenWissenschaft ausmacht.

§ 102. Die Weltbezogenheit der überlieferten Logik und dieFrage nach dem Charakter der ihre transzendentale Aufklärung

selbst normierenden „letzten" Logik.

Lassen wir diese für uns hier zu fern liegenden Problemebeiseite, halten wir uns an die Fragestufe, auf die wir durch dasBisherige gestellt sind.

1) Die des 5. und 6. Kapitels,

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237) Formak und transzendentale Logik. 237

Als Erstes haben wir heranzuziehen die naive Weltbezogenheitder Logik und die Evidenzprobleme, die mit ihr zusammenhängen.Hier werden wir wieder, Nutzen ziehend von unseren Betrachtungenüber Phänomenologie, sagen müssen, daß diese Weltlichkeit und dieArt ihrer Selbstverständlichkeit -- der jeder Gedanke an die Mög-lichkeit fernliegen mußte, daß durch sie der Logik ein besondererund nicht der einzig mögliche Sinn zuerteilt sei — solange eine Not-wendigkeit war, als sich der wissenschaftlichen Menschheit ein tran-szendentaler Horizont noch nicht eröffnet hatte. Erst die Entdeckungder transzendentalen Problematik macht die Unterscheidung möglich(mit der eine radikale Philosophie überhaupt erst anfangen konnte)zwischen der Welt. der wirklichen und einer möglichen überhaupt,und der transzendentalen Subjektivität. die dem Sein der Welt alsihren Seinssinn in sich konstituierende vorhergeht, und die demnachihre Realität ganz und gar in sich trägt als in ihr aktuell und poten-ziell konstituierte Idee. Allerdings hat erst die Erschließung der trau-szendental-phänornenologischen Reduktion mit ihrer universalen1,..Topj hinsichtlich aller weltlichen Vorgegebenheiten, aller mit demAnspruch des „an sich" auftretenden Transzendenzen, die konkretetranszendentale Seinssphäre freigelegt und damit den Weg zu denkonstitutiven Problemen, insbesondere') zu denjenigen, für die die"eingeklammerten" Transzendenzen als „transzendentaleLeitfäde n" zu fungieren haben. Die innerhalb des transzendentalreduzierten Ego verlaufende Klärung der Konstitution der „Anderen"führte dann zur Erweiterung der phänomenologischen Reduktion undder transzendentalen Sphäre auf die transzendentale Intersubjek-tivität (das transzendentale Ich-all).

Davon ist die Evidenzproblematik oder wie wir weiter aus-greifend sagen können, die konstitutive Problematik derLogik sehr wesentlich betroffen. Denn, wie gezeigt, die gesamtensubjektiv gerichteten Untersuchungen der logischen Vernunft sind,wenn sie in dem Sinne gemeint und geführt sind, der ihnen vor-geschrieben ist, als Untersuchungen des Ursprungssinnes der logischenGrundlagen, selbstverständlich transzendental-phänomenologisch undnicht psychologisch.

Sind aber die Ursprungsuntersuchungen der Logik transzendentalund sind sie selbst wissenschaftliche, so geraten wir auf eine über-raschende, den Sinn der Logik und der Wissenschaft grundwesentlich_

1) Auch die „immanente" Sphäre hat ihre konstitutiven Probleme. Vgl. z. B.dir schon zitierte Abhandlung in diesem Jahrbuch f. Philos. IX.

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mit betreffende Tatsache. Alle positiven Wissenschaften sind welt-lich, die transzendentale Wissenschaft ist nicht weltlich. Die naivnatürliche Logik, die Logik, die nur auf positive Wissenschaften be-zogen sein konnte, ist weltlich — wie st e ht es mit derj enigenLogik, unter deren Normen die transzendentalenUntersuchungen, die die positive Logik aufklärenden,stehen? Man konzipiert Begriffe, man bildet Urteile, sie schöpfendaus transzendentaler Erfahrung (derjenigen der Gegebenheiten desego cogito) — man hat leere und erfüllte Urteile, man erstrebt underreicht Wahrheiten durch Adäquation, man schließt auch, man wirdwohl auch induzieren dürfen — wie steht es da mit der Wahrheitund den logisc hen Prinzip ie u, da wahres Sein ein "bloß sub-jektives" ist? Die Wahrheit ist mindest im Gebiet der fundatnen-talsten „rein egologischen" Phänomenologie (wie sie fast ausschließ-lich in dem allein erschienenen I. Teil meiner „Ideen" zu Wortekommt) in keinem normalen Sinne mehr Wahrheit "an sich",selbst nicht in einem Sinne, der auf ein transzendentales„Jedermann" Beziehung hat. Zum Verständnis dieser Äußerungerinnere ich daran, daß andere Subjekte als transzendentale nicht imRahmen meines Ego, so wie dieses für mich selbst in wirklichunmittelbarer Erfahrung, gegeben sind, und daß der systematischeAufbau einer transzendentalen Phänomenologie in der ersten undGrundstufe die Anderen nur als eingeklammerte -Phänomene"und noch nicht als transzendentale Wirklichkeiten in Anspruchnehmen darf. So erwächst als diese Grundstufe eine merk-würdige transzendentale Disziplin als die an sich erste,die wirklich transzendental-solipsistisch ist, mit Wesens-wahrheiten, mit Theorien, die ausschließlich f ü r mic h, das Egogelten, also die zwar „ein für allemal", aber ohne Beziehung aufwirkliche und mögliche Andere zu gelten beanspruchen dürfen.Somit erwächst auch die Frage nach einer subjektivenLogik, deren Apriori doch nur s o lipsistisch gelten darf.

Natürlich geht auch hier im einzelnen wie in der logisch-idealenAllgemeinheit die naive Evidenz und die naive Inanspruchnahme vonWesensallgemeinheiten der eine Stufe tiefer dringenden phänomeno-logischen Aufklärung des Sinnes aus der Sinngebung voran. Sollman, kann man über diese Probleme hinwegsehen, wenn man dieLogik verstehen, wenn man die Möglichkeiten und Grenzen ihrer An-wendung, wenn man den Sinn jeder Stufe von Seiendem beherrschen— wenn man Philosoph sein will — auch Metaphysiker in rechterWeise — also wenn man über Seiendes und Theorie für Seiendes

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nicht „spekulieren" sondern von den Stufen und Tiefen des Sinnessich selbst leiten lassen will? Wer hier A sagt, muß auch B sagen.Man wollte wirklich nur eine „formale Logik", wirklich nur ein wenigüber die pure mathematische Analytik hinaus. Aber nun führen dieEvidenzfragen in eine phänomenologische Subjektivität und dieExempel der logischen Ideation in die Konkretionen der seiendenWelt und von da zu der seienden transzendentalen Subjektivität.Was in seiner Selbstverständlichkeit so einfach erschien, wird nunüberaus kompliziert. Die Untersuchungen erhalten eine peinlicheund doch unvermeidliche Relativität, eine Vorläufigkeit stattder erstrebten Endgültigkeit, weil jede in ihrer Stufe irgendeineNaivität überwindet, aber selbst noch ihre Stufennaivität mit sichführt, die nun ihrerseits durch tieferdringende Ursprungsunter-suchungen überwunden werden muß. Die auf jeder Stufe sich ent-hüllenden Seinsvoratzssetzungen werden zu Indizes für Evidenz-problezne, die uns in das große System der konstitutiven Subjektivitäthineinführen. Die objektive Logik, die Logik in der natürlichenPositivität ist die für uns erste aber nicht die letzte Logik.Nicht nur daß die letzte die gesamten Prinzipien der objektivenLogik als Theorie auf ihren ursprünglichen und rechtmäßigen tran-szendental-phänomenologischen Sinn zurückführt und ihr echteWissenschaftlichkeit verleiht. Schon indem sie das tut oder darangeht, diesem Ziel stufenweise entgegenzustreben, erweitert sie sichnotwendig. Eine formale Ontologie möglicher Welt alseiner transzendental-subjektiv konstituierten ist unselbständigesMoment einer anderen "formalen Ontologie", diesich auf alles in jedem Sinne Seiende, auf das als tran-szendentale Subjektivität Seiende und alles sich in ihr Kon-stituierende bezieht. Aber wie das durchzuführen ist, wie der all-gemeinsten Idee einer formalen Logik als formaler Ontologie undformaler Apophantik auf dem absoluten Boden genugzutun ist, wiesie sich im Rahmen der absoluten und letzten Universalwissenschaft,der transzendentalen Phänomenologie, als eine ihr notwendig zu-gehörige Schichte konstituiert, welchen Seinssinn und Rang von daaus die natürlich erwachsene Logik als formale Ontologie zti be-anspruchen hat, und an welche methodischen Voraussetzungen" ihrerechtmäßige Anwendung gebunden ist — das sind sehr tiefe philo-sophische Fragen. Sie verflechten sich sofort mit neuen Fragen.

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§ 103. Absolute Erkenntnisbegründung ist nur in der universalenWissenschaft von der transzendentalen Subjektivität als dein

einzigen absolut Seienden möglich.

Die als Analytik gedachte formale Ontologie bezieht sichin leerer Allgemeinheit auf eine mögliche Welt überhaupt, aber,ungleich der Ontologie im realen Sinn e, entfaltet sie dieseIdee nicht nach den einer Welt wesensnotwendigen S t r uk tu r-formen, Formen in neuem und selbst sehr verschieden zu ver-stehendem Sinne, wie die „Form" AIlheit von Realitäten,mit den Allheits„f orme n" Raum und Zeit, wie die „formal e"Gliederung in Realitätenregionen usw. Wie steht es mit dem rechtenVerhältnis dieser beiden, jeder in einem anderenSinne „formalen" apriorischen Wissenschaften vonweltlich Seiendem überhaupt, wenn sie beide aus ursprüng-lichen Quellen der transzendentalen Subjektivität begründet werden?Denn das ist nun stets die unabläßliche Forderung, sie macht überalldas spezifisch Philosophische eines wissenschaftlichen Abscheus, sieunterscheidet überall Wissenschaft in naiver Positivitiit(die nur als Vorstufe echter Wissenschaft und nicht als sie selbstgelten darf) und echte Wissenschaft, die nichts anderesals Philosophie ist.

Durch Reduktion auf diese Subjektivität muß ein systematischerWeg letzter Begründungen, letzter Klärungen des möglichen undrechtmäßigen Sinnes beschritten werden. Es muß eine freie Aus-gestaltung derjenigen Erfüllungswege vollzogen werden, die sichvermöge der Enthüllung der verborgenen Intentionalitiit als diewirklich, obschon jeweils nur relativ erfüllenden erweisen. Zudemeine freie Gestaltung der Wesensformen der Zielideen und der in denzugehörigen Approximationsstufen auf sie wesensmäßig hinleitendenrelativen Erfüllungen. Die Ursprungsbegründung allerWiss enschaft en und der für sie wissenschaftstheoretische bzw.normative Funktion übenden formalen Ontologie von beiderlei Artgibt ihnen allen Einheit als Zweige konstitutiverLeistung aus der einen transzendentalen Subjek-tivität.

Mit anderen Worten, es ist nur Eine Philosophie, Einewirkliche und echte Wissenschaft, und in ihr sind echteSonderwissenschaften eben nur unselbständige Glieder.

Die universale Wissenschaft von der transzendentalen Subjek-tivität, in der alle erdenklichen Wissenschaften nach Wirklichkeit

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241] Formale und trauszeitdeunde Logik. 241

und Möglichkeit wesensmäßig vorgezeichnete transzendentale Ge-stalten sind, und vorgezeichnet als frei tätig zu verwirklichende, gibtauch dein Ideal der Erkenntnisbegründung in absoluterVo rausse tzungslosigk eit und Vorurteilslosigkeit einen recht-mäßigen und den einzig erdenklichen Sinn. Alles Seiende (das je füruns Sinn hatte und Sinn haben kann) steht als intentional konstituiertin einer Stufenfolge inteutionaler Funktionen und selbst schon inten-tional konstituiert Seiender, die ihrerseits für neue Seinskonstitu-tion in intentionale Funktionen verflochten sind. Alles Seiend eist (entgegen dein falschen Ideal eines absolut Seienden und seinerabsoluten Wahrheit) letztlich relativ und ist mit allem in irgendeinemgewöhnlichen Sinne Relativen relativ auf die transzen-dentale Subjektivität. Sie aber ist allein „in sich und fürsi c h" und das selbst in einer Stufenordnung entsprechend der Kon-stitution. die zu den verschiedenen Stufen der transzendentalenIntersubjektivität führt. Also zunächst als Ego bin ich absolut in mirund für mich seiend. Ich bin nur insofern für anderes Seiende als esAnderer, Alterego, selbst transzendentale Subjektivität ist, die aberin mir als den im voraus schon für sich seienden Ego zu notwendigerSetzung kommt. In ähnlicher Weise ist auch die transzendentaleIntersubjektivität (die transzendentale Subjektivität im erweitertenSinne), die in mir, also auf mich relativ, konstituiert ist alsVielheit von "Egos — deren jedes dabei in ausgewiesener Geltungist als auf d i est I be Intersubjektivität intentional bezogen wie ich— ihrem Sinne nach, nur entsprechend abgewandelt, „in sich und fürsich", in der Seinsart des „Absoluten'. Absolut Seiend es istseiend in Form eines intentionalen Lebens, das, was immer es sonstin sich bewußt haben mag, zugleich Bewußtsein seiner selbst ist.Eben darum kann es (wie bei tieferen Überlegungen einzusehenist) wesensmäßig jederzeit auf sich selbst nach allen seinen, ihmabgehobenen Gestalten reflektiere n, sich selbst thematischmachen, auf sich selbst bezogene Urteile und Evidenzen erzeugen.Zu seinem Wesen gehört die Möglichkeit der „Selbst-b es in nun g'*, einer Selbstbesinnung, die von vagen Meinungendurch Enthüllung zurückgeht auf das originale Selbst.

§ 104. Die transzendentale Phänomenologieals die Selbstauslegung der transzendentalen Subjektivität.

Die ganze Phänomenologie ist nichts weiter als diezunächst geradehin, also selbst in einer gewissen Naivität vorgehende,

Husserl, Jahrburh f. Philosophie, . X. 16

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dann aber auch kritisch auf den Logos ihrer selbst bedachte wissen-schaf tliche Selbstbesinnung der transzendentalenSubjektivität, eine Selbstbesinnung, die vom Faktum zu denWesensnotwendigkeiten fortgeht, zum Urlogos, aus dem allessonst „Logische" entspringt. Alle Vorurteile fallen hier notwendigab, weil sie selbst intentionale Gestalten sind, die enthüllt werden imZusammenhang der konsequent fortgehenden Selbstbesinnung. AlleKritik der logischen Erkenntnis, der Logik schaffenden aber auchdurch Logik schon vermittelt, die Kritik der Erkenntnis in allenArten von Wissenschaften ist als phänomenologische LeistungSelbstauslegung der sich auf ihre transzendentalenFunktionen besinnenden Subjektivität. Alles objektiveSein, alle Wahrheit hat ihren Seins- und Erkenntnisgrund in dertranszendentalen Subjektivität, und ist es Wahrheit, die die tran-szendentale Subjektivität selbst betrifft, dann eben in dieser selbst.Näher ausgeführt: Vollzieht diese Subjektivität die Selbstbesinnungsystematisch und universal — also als transzendentale Phänomenologie— so findet sie, wie aus unseren früheren Darlegungen klar ist, alsin sich selbst konstituiert alles „objektive" Sein und alle „objektiveWahrheit", alle weltlich sich ausweisende. Objektives ist nichts an-deres als der transzendentalen Subjektivität eigenwesentlich zuge-hörige synthetische Einheit aktueller und potenzieller Intentionalität.Vermöge der Weise wie 1 ) in meinem apodiktisch-seienden Ego dieoffene Vielheit anderer Egos konstituiert ist, ist diese synthetischeEinheit auf die All-gemeinschaft der mit mir und miteinander kom-munizierenden transzendentalen Egos, der „für einander" seienden,bezogen, also synthetische Einheit der dieser Gemeinschaft eigen-wesentlich zugehörigen Intentionalitäten. Anderseits ist alle thema-tisch auf die transzendentale Intersubjektivität gerichtete Wahrheiterst recht relativ auf diese Intersubjektivität, entsprechend ihrerSeinsart des Für-sich-selbst-seins, des „absoluten" Seins.

So ist letzte Begründung aller Wahrheit ein Zweig der universalenSelbstbesinnung, die radikal durchgeführt, absolute ist. Mit anderenWorten es ist eine Selbstbesinnung, die Ich mit der transzendentalenReduktion beginne und die mich zur absoluten Selbsterfassung, zu dermeines transzendentalen Ego führt. Als dieses absolute Ego michhinfort als ausschließliches thematisches Grundfeld betrachtend, voll-ziehe ich alle weiteren, die spezifisch philosophischen Besinnungen,das ist rein phänomenologische. Ich besinne mich rein auf das, was

1) Vgl. oben § 96, S. 210 ff.

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ich „in- mir selbst finden kann; scheide, wie früher angedeutet, meinprimordinal Eigenes, (das als von mir selbst unabtrennbar Kon-stituierte), und das auf dieser Motivationsbasis in mir als „Fremdes"verschiedener Stufe Konstituierte — das in mir als Reales aber auchIdeales, das in mir als Natur, als Animalität, als Menschengemein-schaft, als Volk und Staat, als verdinglichte Kultur, als Wissen-schaft — auch als Phänomenologie und zunächst durch eigene Denk-arbeit Konstituierte. All das wird zum Thema phänomenologischerBesinnungen, zweiseitiger, die "subjektive- Konstitution der jeweilsgeradehin vorgegebenen Gebilde enthüllend. So besinnlich vorgehendund fixierendh werden aus mir selbst, aus Quellen eigener Passivität(Assoziation) und Aktivität, zunächst in einer Art Naivität die theo-retischen Gebilde der transzendentalen Phänomenologie und sie selbstals unendlich-offene Einheit der Wissenschaft. Wird sie dann in derhöheren Stufe zum konstitutiven und kritischen Thema, um ihr diehöchste Dignität der Echtheit, der bis ins Radikale reichenden Ver-antwortungsfähigkeit zuzueignen. so bleibt es natürlich dabei, daßich mich auf dem Boden meiner absoluten Subjektivität bewege, bzw.auf dem der aus mir selbst erschlossenen absoluten Intersubjektivität:daß ich also als Philosoph nichts anderes will und wollen kann, dennradikale Selbstbesinnungen, die aus sich heraus zu Selbstbesinmmgender für-mich-seienden Intersubjektivität werden. Die transzendenteWelt, die Menschen, ihr miteinander und mir mir als Menschen ver-kehren, miteinander erfahren, denken, wirken und schaffen wirddurch meine phänomenologische Besinnung nicht aufgehoben, ent-wertet, geändert, sondern nur verstanden, und so wird auch ver-standen gemeinschaftlich erarbeitete positive Wissenschaft, schließ-lich auch gemeinschaftlich erarbeitete Phänomenologie, die sich dabeiselbst versteht als besinnliche Funktion in der transzendentalen Inter-subjektivität.

Als Mensch (in natürlicher Einstellung) bin ich „in" der Welt,finde ich mich als das, also mannigfaltig von außen her (einem raum-zeitlich Äußeren) bestimmt. Auch als transzendentales Ego (in derabsoluten Einstellung) finde ich mich von außen bestimmt — jetztalso nicht als raumzeitlich Reales von äußerem Realen. Was besagtjetzt das Außer-mir und von-Äußerem-bestimmt-sein? Im transzen-(Laien Sinn kann ich offenbar von einem „Äußeren", von Etwas dasmeine abgeschlossene Eigenheit überschreitet, nur bedingt sein, sofernes den Sinn „Anderer" hat, der in durchaus verständlicher Weise inmir die Seinsgeltung transzendental anderes Ego gewinnt und aus-weist. Von da aus wird die Möglichkeit und der Sinn nicht nur

16*

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einer Vielheit koexistierender absoluter Subjekte („Monaden")sondern aufeinander transzendental-wirkender und in Ge-meinschaftsakten Gemeinschaftsgebilde als Werke konstituierenderSubjekte klar. — Doch all das ist nicht Hypothese sondern Ergebnissystematischer Besinnung über die Welt, die als „Phänomen" in mirselbst liegt, in mir selbst und aus mir ihren Seinssinn hat, systematischesRückfragen nach dem echten, ungetrübten Sinn meiner eigenen Sinn-gebung, nach allen unabtrennbar zugehörigen, in mir selbst liegendenVoraussetzungen, angefangen von der absoluten Voraus-Setzung, dieallen Voraussetzungen Sinn gibt: der je meines transzendentalen Ego.

Es ist also wirklich nur Selbstbesinnung, aber nicht vorschnellabbrechende und in naive Positivität umschlagende, sondern in ab-soluter Konsequenz eben das bleibend, womit sie anfing: Selbst-besinnung. Nur daß sie ohne ihren Stil wesentlich zu ändern,im Fortschreiten die Form der transzendental-intersubjektivenannimmt.

Der Radikalismus dieser philosophischen Selbst-besinnung, der in allem als seiend Vorgegebenen einen inten-tionalen Index sieht für ein System zu enthüllender konstitutiverLeistungen, ist danach in der Tat der äußerste Ra dik alismus iStreben nach Vorurteilslosigkeit. Jedes vorgegebeneSeiende mit seiner geraden Evidenz gilt ihm als „Vorurteil". Einevorgegebene Welt, ein vorgegebenes ideales Seinsgebiet, wie dasReich der Anzahlen, das sind aus natürlicher Evidenz stammende„Vorurteile", obschon nicht solche im tadelhaften Sinne. Sie be-dürfen unter der Idee einer absolut begründeten Erkenntnis, dieWissen und Wissenschaft im strengen Sinne liefern könne, einer tran-szendentalen Kritik und Begründung — anders ausgedrückt, siebedürfen dessen unter der Idee einer Philosophie, der sie sicheinordnen sollen.

Das gilt auch in der formalen Allgemeinheit, mit der sie in einenatürliche Logik eingehen. Die Logik aber, und insbesonderedie neuzeitliche seit Lockes Essay, als eine aus Quellen der „innerenErfahrung" auf Ursprungsklärung bedachte Logik, ist beständig durchVorurteile in dem gewöhnlichen schlechten Sinne gehemmt, und dieschlimmsten aller Vorurteile sind hier die die Evidenz betreffenden.Sie hängen zusammen mit dem von uns früher aufgewiesenen Vor-urteil der absoluten, an sich seienden Welt als Substrat von selbst-verständlich ihr zugehörigen Wahrheiten an sich. In dieserHinsicht bedarf unsere transzendentale Kritik der Logik noch derabschließenden Ergänzung.

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§ 105. Vorbereitungen zum Abschluß der transzendentalenKritik der Logik. Die üblichen Evidenztheorien mißleitet von

der Voraussetzung absoluter Wahrheit.

Außerordentlich verbreitet ist bekanntlich die — aller phänome-nologischen Vertiefung in die Intentionalität eines evidenten Urteilensfernbleibende — Interpretation, die von der naiv vorausgesetztenWahrheit-an-sich her die Evidenz konstruier t. Danach „muß"es (wie oft auch ausdrücklich naiv argumentiert wird) eine Evidenzals absolute Erfassung der Wahrheit geben, da wir ja sonst überhauptnicht Wahrheit und Wissenschaft haben oder erstreben könnten.Diese absolute Evidenz wird dann gefaßt als ein (in der Tat sehrwunderbarer) psychischer Charakter mancher Urteilserlebnisse, deres absolut verbürgt. daß der Urteilsglaube nicht bloß Glaube ist,sondern ein solcher, der die Wahrheit selbst zu wirklicher Gegeben-heit bringt. Wie aber, wenn die Wahrheit eine im Unendlichenliegende Idee ist? Wenn sieh in Evidenz zeigen ließe, daß das mitBeziehung auf die gesamte Weltobjektivität nicht eine zufällige, aufder leider beschränkten menschlichen Erkenntniskraft beruhendeTatsache, sondern ein Wesensgesetz ist? Wie wenn alle undjede reale Wahrheit, ob Alltagswahrheit des praktischen Lebens, obWahrheit noch so hoch entwickelter Wissenschaften wesensmäßig inRelativitäten verbleibt, normativ beziehbar auf „regulativeIdee n"? Wie wenn selbst im Herabsteigen zu den phänomeno-logischen Urgründen Probleme relativer und absoluter Wahrheit ver-blieben und als Probleme höchster Dignität die Ideenproblemeund die der Evidenz dieser Ideen? Wie wenn die Relativitätder Wahrheit und ihrer Evidenz und die über sie gestellte unendliche,ideale, absolute Wahrheit jedes sein Recht hätte und das eine dasandere forderte? Der Händler am Markt hat seine Marktwahrheit;ist sie in ihrer Relation nicht eine gute Wahrheit und die beste, dieihm nützen kann? Ist sie darum Scheinwahrheit, weil der Wissen-.schaftler in einer anderen Relativität, mit anderen Zielen und Ideenurteilend andere Wahrheiten sucht, mit denen man sehr viel mehrmachen kann, nur eben gerade nicht das, was man am Marktebraucht? Man muß endlich aufhören, sich von den idealen undregulativen Ideen und Methoden der „exakten" Wissenschaftenblenden zu lassen, und insbesondere in der Philosophie und Logik,als ob deren An-sich wirklich absolute Norm wäre, sowohl was gegen-ständliches Sein anlangt, als was Wahrheit anlangt. Das heißt wirklichvor lauter säumen den Wald nieht sehen, es heißt nm einer bre

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artigen Erkenntnisleistung willen, aber von sehr beschränktem teleo-logischen Sinne, die Unendlichkeiten des Lebens und seiner Erkennt-nis, die Unendlichkeiten relativen und nur in dieser Relativitätvernünftigen Seins mit dessen relativen Wahrheiten übersehen. Abervorweg und von oben her darüber philosophieren, das ist grund-verkehrt, es schafft den verkehrten skeptischen Relativismus und dennicht minder verkehrten logischen Absolutismus, beides füreinanderPopanzen, sich wechselseitig niederschlagend und wieder auflebend,wie Figuren auf dem Kasperletheater.

Urteilen in einer naiven Evidenz, das heißt Urteilen auf Grundeiner Selbstgebung und unter beständiger Frage, was dabei wirklichzu „sehen" und zu getreuem Ausdruck zu bringen ist — also Urteilenin derselben Methode, die im praktischen Leben der Vorsichtig-klugebefolgt, wo es ihm ernstlich darauf ankommt, „herauszubekommen,wie die Sachen wirklich sind". Das ist der Anfang aller Weisheit,obschon nicht ihr Ende; und es ist eine Weisheit, die man nie ent-behren kann, wie tief man auch theoretisierend dringt — die manalso schließlich ebenso betätigen muß in der absoluten phänomeno-logischen Sphäre. Denn wie schon wiederholt berührt, naives Er-fahren und Urteilen geht in Wesensnotwendigkeit voraus. Aber beibesinnlichem Ernste ist es nicht leichtsinnige Naivität, sondernNaivität ursprünglicher Anschauung mit dem Willen, sich rein andas, was sie wirklich gibt, zu halten. Folgt dann immer weitere be-sinnliche Fragestellung, schließlich die nach letzten transzendentalenWesensstrukturen und Wesensgesetzen, universalen Wesenszusammen-hängen, so ist auch dann immer wieder diese reine Intuition und dasihrem reinem Gehalt Treubleiben methodisch mit im Spiele, be-ständiger Grundcharakter in der Methode. Nur daß sie zuletzt ineiner selbst intuitiven Erkenntnis der sich iterativ wiederholenden,im Wesensstile identischen Ergebnisse und Methoden enden muß. Soverfahrend hat man stets von Neuem lebendige Wahrheit ausdem lebendigen Quell des absoluten Lebens und der ihmzugewendeten Selbstbesinnung in der steten Gesinnung derSelbstverantwortung. Man hat die Wahrheit dann nichtfälschlich verabsolutiert, vielmehr je in ihren — nicht übersehenen,nicht verhüllt bleibenden, sondern systematisch ausgelegten —Hori-zonte n. Man hat sie mit anderen Worten in einer lebendigenIntentionalität (die da ihre Evidenz heißt), deren eigener Gehaltzwischen „wirklich selbstgegeben" und „antizipiert", oder retentional.,noch im Griff", oder „als ich-fremd appräsentiere` und dgl. unter-scheiden läßt, und in der Enthüllung der zugehörigen intentionalen

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Implikationen zu allen Relativitäten führt, in die Sein und Geltungverflochten sind.

§ 106. Weiteres zur Kritik der Voraussetzung absoluter Wahrheitund der dogmatistischen Theorien der Evidenz.

Wohin das Wirtschaften mit einem absoluten, in völlig leererWeise im voraus angenommenen Seienden führt (in völlig leerer, weilman nicht nach seiner eigentlichen Denkmöglichkeit gefragt hat), daszeigen schon die Cartesianischen Meditationen. Wie kann der subjek-tiv-psychische Charakter der dar« et distincta perceptio — das istnichts anderes, als was die Nachfahren ah, Evidenzcharakter, alsEvidenzgefühl. Gefühl der strengen Notwendigkeit „beschreiben" —eine objektive Gültigkeit verbürgen, ohne die es doch für uns keineWahrheit gäbe? Hinsichtlich der Evidenz des ego cogito beruhigt,vielleicht etwas schnell, die „Evidenz der inneren Wahrnehmung".Aber schon was über die momentan lebendige innere Wahrnehmungs-gegenwart hinausreicht (vom konkret vollen Ego zu schweigen),erregt Bedenken. Eventuell führt es zur Annahme minderwertigerEvidenzen und doch brauchbarer, evtl. rekurriert man schon hier aufdie Logik der Wahrscheinlichkeiten. Für die „Außenwelt" lehnt manzwar den originalen Cartesianisehen Weg über den Gottesbeweis ab,um die Transzendenz der Erfahrung und ihres Seinsglaubens begreif-lich zu machen; aber der widersinnige Typus dieses Begreiflich-machen& durch Schlüsse, an :dem wir schon Kritik geübt, bleibt be-stehen. Und so überhaupt der Grundgedanke in der Fassung derEvidenz. Sie „muß" jedenfalls eine absolute Seins- und Wahrheits-erfassung sein, Es „muß" zunächst eine absolute Erfahrunggeben, und das ist die innere, und es „muß" absolut gültigeallgemeine Evidenze n: geben, und das sind die der apodik-tischen Prinzipien, zuhöchst die formal-logischen, die auch die deduk-tiven Schlüsse regeln und damit apodiktisch fraglose Wahrheitenevident machen. Weiter hilft dann die Induktion mit ihren Wahr-scheinlichkeitsschlüssen, die selbst unter den apodiktischen Prinzipiender Wahrscheinlichkeiten stehen, etwa den berühmten Laplace sehenPrinzipien. So ist für eine objektiv gültige Erkenntnis vortrefflichgesorgt.

Aber leider ist das nur Theorie von obeil her. Dennwas man dabei vergessen hat sich zu sagen ist: Da Wirklichkeitso auch Möglichkeit — Erdenklichkeit — von Seiendem jeder Art

nur aus wirklicher oder möglicher „Erfahrung" her Ursprünglichkeit

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ihres . Sinnes hat, muß man also die Erfahrung selbst befragen, bzw.das Sichhineindenken in ein Erfahren, was man darin als Erfahreneshat. Erfahrung besagt hier (gemäß unseren früheren Darlegungen) inder notwendigen Verallgemeinerung: Selbstgebung, Evidenz überhaupt,wofür die Erfahrung im gewöhnlichen ebenfalls unentbehrlichen Sinnein ausgezeichneter Sonderfall ist, und wenn das einmal gesehenworden ist, ein für die Theorie der Evidenz sehr lehrreicher. AIso be-fragen wir diese gemeine Erfahrungsevidenz, nach dem was sie selbstuns lehren mag. Es ist für jedermann, nur nicht für den verwirrtenPhilosophen absolut selbstverständlich, daß das in der Wahrnehmungwahrgenommene Ding das Ding selbst ist, in seinem selbsteigenenDasein, und daß wenn Wahrnehmungen täuschend sind, dies besagt,daß sie mit neuen Wahrnehmungen in Widerstreit sind, die in Gewiß-heit zeigen, was an Stelle des illusionären wirklich ist. Welcheweiteren Fragen hier zu stellen sind, jedenfalls sind sie an die be-treffenden Erfahrungen zu stellen, es ist durch ihre intentionateAnalyse und in Wesensallgemeinheit verständlich zu machen, wie eineErfahrung in sich selbst als Erfahrenes ein Seiendes selbst geben undwie doch dieses Seiende durchstrichen werden kann — wie wesens-mäßig so geartete Erfahrung in Horizonten auf mögliche weiterebestätigende Erfahrungen vorweist, wie sie aber die Möglichkeitwesensmäßig auch offen läßt, daß widerstreitende Erfahrungen sicheinstellen, die zu Korrekturen in Form von Andersbestimmung odervon vollständiger Durchstreichung (Schein) führen. Offenbar giltÄhnliches aber für jede Art der Evidenz, mit den Besonderungen, dieaus ihr selbst zu entnehmen sind.

Solche intentionale Untersuchungen hat erst die Phänomenologiein Arbeit genommen. Erfahrung, Evidenz, gibt Seiendesund gibt es selbs t, unvollkommen, wenn sie unvollkommene Er-fahrung ist, vollkommener, wenn sie sich — ihrer Wesensart gemäß —vervollkommnet, das ist, sich in der Synthesis der Einstimmigkeiterweitert. Wie es mit den Möglichkeiten dieser Vervollkommnung,aber auch denen der Zunichtemachung und Korrektur steht, ob esjeweils relative oder gar absolute Optima gibt, ideale Vollkommen.heften vorauszusetzen und zu erstreben sind, das kann nicht von Vor-urteilen her, selbst nicht von naiv evidenten Idealisierungen her fest-gestellt werden, sondern in echtem, ursprünglichem Recht durch eineWesensbefragung der Erfahrungen selbst, und der systematischenErfahrungsmöglichkeiten, die in den jeweiligen Wesensarten vonErfahrungen und Erfahrungsgegenständen apriori beschlossen unddurch intentionale Auslegung evident zu machen sind. Das aber

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natürlich auf dem letzten transzendentalen Boden, den uns diephänomenologische Reduktion schafft.

Schon in Descar te s' ersten Meditationen (die das Werden dertranszendentalen Phänomenologie wesentlich bestimmt haben) fälltgleich hei der Kritik der äußeren Erfahrung dieser Grundmangel auf,daß er die ihr beständig anhaftenden Täuschungsmöglichkeitenhervorhebt und sich nun dadurch in verkehrter Weise den Grundsinnder Erfahrung als einer originalen Selbstgebung ver-deck t. Das aber nur darum, weil es ihm gar nicht beifällt, danachzu fragen, was Denkbarkeit von weltlich Seiendem eigentlich aus-macht, in der dieses rechtmäßigen Sinn gewinnt, daß er es vielmehrim voraus als über den Wolken der Erkenntnis schwebendes absolutesSein hat. Oder wie wir auch sagen können: D es car t es fällt esnicht ein, eine intentionaIe Auslegung des Stromes sinnlicher Er-fahrung zu versuchen im ganzen intentionalen Zusammenhang desEgo. in welchem sich der Stil einer Erfahrungswelt konstituiert, undvollverständlicher Weise in Form einer Welt, deren Sein trotz derBewährung Sein "auf Kündigung" ist, Sein unter stets möglicher undoft eintretender Korrektur, und die selbst als SeinsalI, als Welt fürdas Ego nur ist aus einer aus der Lebendigkeit der Erfahrung Rechtund doch nur relatives Recht schöpfenden Präsumptio n. Sosieht er nicht, daß der Wesensstil der Erfahrung dem Seinssinn derWelt und aller Realitäten eine wesensmäßige Relativität aufprägt,die, durch einen Appell an die göttliche Wahrhaftigkeit bessern zuwollen, ein Widersinn ist.

Es soll nun im Weiteren in conereto gezeigt werden, wie man.stufenweise aufsteigend von der sinnlichen Erfahrung, Evid en z alsLeistung verständlich machen kann, und was an sich seiende Wahr-heit als ihre Leistung bedeutet.

§ 107. Vorzeichnung einer transzendentalen Theorie der Evidenzals intentionaler Leistung.

a) Die Evidenz der äußeren (sinnlichen) Erfahrung.

Die phänomenologische Enthüllung der sinnlichen Erfahrung,genauer der rein naturalen, in der uns die pure physische Natur zurGegebenheit kommt (bei Abstraktion von allen apperzeptivenSchichten sozialer oder einzelpersonaler Bedeutsamkeit), ist, wie sichin wirklicher Ausführung zeigt, eine große Aufgabe, die außerordent-

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lich weitreichende Untersuchungen fordert 1). Hier genügt nicht dieWesensbetrachtung einzelner Naturobjekte und ihrer Erfahrung, etwagar nur Wahrnehmung. Es bedarf der intentionalen Erforschung dergesamten, durch das Leben des Einzel-Ego und der transzendentalenGemeinschaft hindurchgehenden, synthetisch vereinheitlichten Welt-erfahrung, des ihr zugehörigen Universalstiles und nachherder Erforschung ihrer konstitutiven Genesis mitsamt diesem Stil. Insolchen konkreten Studien lernt man in einer Sphäre das Wesender Evidenz, Evidenz als Leistung verstehen., die wieintentionale Leistungen überhaupt eingeflochten auftreten in syste-matisch aufgebauten Leistungen, bzw. Vermögen. Und man lerntnatürlich so am Besten auch die ganze Bedeutungslosigkeit derüblichen Auskünfte über Evidenz mit den üblichen Untersuchungs-weisen derselben verstehen.

Natürlich, wenn man vom Wahn eines absolut verbürgendenEvidenzgefühls für ein im leeren Vorurteil als absolut seiend Voraus-gesetztes geleitet ist, dann ist, und so urteilt man ja allgemein, äußereErfahrung keine Evidenz. Aber die Welt, so denkt man, i st dochselbstverständlich, was sie ist, und ist als das auch einer Evidenzzugänglich. Wenige würden schwanken, dem unendlichen Intellekt,und wäre er auch nur als Grenzidee der Erkenntnistheorie heran-gezogen, diese absolute Evidenz zuzuschreiben, was nicht im mindestenbesser wäre, wie wenn man die göttliche Allmacht in der mathe-matischen Sphäre in der Fähigkeit sehen wollte, regelmäßige Dekaederzu konstruieren, und so jeden theoretischen Widersinn. Der Seinssinnder Natur hat die ihm von dem Wesensstil der naturalen Erfahrungabsolut vorgezeichnete Wesensform, und so kann auch ein absoluterGott kein „Evidenzgefühl" schaffen, das naturales Sein absolut ver-bürgte, oder in schon besserer Auffassung und Redeweise, kein insich geschlossenes Erfahrungserlebnis, das wie immer es als von„unserer" sinnlichen Erfahrung unterschieden gedacht würde, apodik-tisch und adäquat selbstgebend wäre.

1) Meine eigenen, durch eine Reihe von Jahren fortgeführten konkretenUntersuchungen, von denen ich oft genug Auszüge in Vorlesungen vorgetragenhabe, hoffe ich in den nächsten Jahren zu Druck bringen zu können. Eine ersteschon für den Druck bestimmte Ausarbeitung brachte der 1912 ineins mit dem1. Bande der Ideen niedergeschriebene Enwurf des 2. Bandes. In der vonDr. Edith Stein vollzogenen Redaktion ist er einer Reihe von Schülern undKollegen zugänglich gemacht worden. Inzwischen hat sich der Umfang zulösender konkreter Probleme als noch viel schwieriger nnd umfassenderherausgestellt,

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b) Die Evidenz der „inneren" Erfahrung.

Sehr verleitend war in der Evidenzlehre die innere Er-f ah run g. So viel einfacher sie ist als die naturale, da sie in diesein jeder Phase eingeht, ja in alle und jede Evidenzen eingeht, sofordert auch sie eine intentionale Enthüllung und führt auf über-raschende Implikationen. Wir brauchen nicht von neuem auf dasschwerwiegende übersehen aufmerksam zu machen, das die Ver-wechslung von innerer Wahrnehmung als psychologischer und alserkenntnistheoretischer, d. i. als transzendental-phänomenologischer,als Wahrnehmung des Ego von seinem Cogito, allgemein gemacht hat.Die psychologische Erfahrung, darunter auch die innere Erfahrung, isteine mit der naturalen intentional komplizierte weltliche Erfahrung,die erst, wenn man die transzendierende Apperzeption „einklammert",zur phänomenologisch reinen Erfahrung wird. Aber auch in dieserist das Seiende, hier das im phänomenologischen Sinne immanentSeiende, zwar selbst-gegeben, in der Wahrnehmung als selbstgegen-wärtig, in der Erinnerung als vergangen, jedoch es konstituiert sichauch hier schon in diesem einfachsten Modus konstitutiver Leistung dasSelbstgegebene, das immanent Gegenständliche in sehr komplizierterWeise — im Fluß der ursprünglichen Präsentationen, Retentionen,Protentionen in einer komplizierten intentionalen S ynthesis, derdes inneren Zeitbewußtseins Wie unerforscht diese Evidenzstrukturblieb, hier wenigstens wurde das Moment der wirklichenSelbsthabe hervorgehoben, ohne es auf jede sonstige Erfahrungund Evidenz zu erstrecken. Aber selbst hier, wo in gewisser abergenauer zu beschreibender und zu begrenzender Weise davon zureden ist, daß das immanente Datum im konstituierenden Erlebnisreell auftritt, muß vor dem Irrtum gewarnt werden, als ob dasDatum als Gegenstand schon mit diesem reellen Auftretenv oll konstituiert wäre. Wir sagten oben, daß Evidenzen Funk-tionen sind, die in ihren intentionalen Zusammenhängen fungieren;gäbe es kein Vermögen der Wiedererinnerung, kein Bewußtsein, ichkann auf das, was ich da erfasse, immer wieder zurückkommen, woes doch nicht mehr wahrgenommen ist, oder wo die Erinnerung, inder ich es gerade hatte, selbst wieder dahingegangen ist, so wäre dieRede von demselben, von dem Gegenstand sinnlos. Die erste„Evidenz", das originale Auftreten des Datums und das originaleHindauern z. B. eines immanent gefaßten Empfindungsdatums inseiner Identität während dieser Dauer, hat zwar eine gewissermaßenapodiktische Undurchstreichbarkeit — während dieses Hindauerns.

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Aber die in der kontinuierlichen Identifizierung des Hindauernswerdende originale Einheit ist noch kein .,Gegenstand", sondern istes erst als seiend in der (hier immanenten) Zeitlichkeit, das istseiend in der Evidenz, als dasselbe wiedererkennbar zu sein, bei allemWandel der subjektiven Modi des Vergangen. Die Form diesergegenständlichen Selbigkeit ist die Zeitstelle in der Zeit. So ist dieeinzelne Wahrnehmung mit ihrer Retention und Wieder-erinnerung doch nie eine abgeschlossene Evidenz fürSeiendes, sondern es ist weiter zurückzufragen, was das Seiendekonstituiert, als innerhalb des identischen Ego identisch Seiendes(in seiner Weise „verharrend").

Nun ist es offenbar in dem viel komplizierteren Falle der äußerenWahrnehmung und schließlich in anderen Weisen bei jederEvidenz ebenso, und wir selbst sind ja schon wiederholt auf das„Immer wieder" und die Frage der Aufklärung seiner Evidenzzurückgeführt worden.

c) Hyletische Daten und intentionale Funktionen.Die Evidenz der immanenten Zeitdaten.

Der allherrschende Daten-Sensualismus in Psychologie wie Er-kenntnistheorie, in dem auch meist die befangen sind, die in Worten,gegen ihn, bzw. das was sie sich unter diesem Worte denken, pole-misieren, besteht darin, daß er das Bewußtseinsleben aus Daten auf-baut als sozusagen fertigen Gegenständen. Es ist dabei wirklichganz gleichgültig, ob man diese Daten als getrennte „psychischeAtome" denkt nach unverständlichen Tatsachengesetzen in Art dermechanischen zu mehr oder minder zusammenhaltenden Haufen zu-sammengeweht, oder ob man von Ganzheiten spricht und von Gestalt-qualitäten, die Ganzheiten als den in ihnen unterscheidbarenElementen vorangehend ansieht, und ob man innerhalb dieserSphäre im voraus schon seiender Gegenstände zwischen sinnlichenDaten und intentionalen Erlebnissen als andersartigen Daten unter-scheidet.

Nicht als ob die letztere Unterscheidung völlig zu verwerfenwäre. Man kann sich als Ego auf die immanenten Gegenstände alsGegenstände der immanenten Erfahrung, das ist als solche derimmanenten Zeit einstellen, und das ist offenbar das Erste für denphänomenologischen Anfänger. In diesem Sinne habe ich bewußt undausdrücklich in meinen Ideen die Probleme des immanenten Zeit-bewußtseins oder, was dasselbe, der Konstitution dieser Gegenstände

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der egologischen Zeitlichkeit ausgeschaltet') und eine zusammen-hängende große Problematik für mögliche Deskriptionen in dieserSphäre vorzuzeichnen und zum Teil auch durchzuführen versucht.In dieser Sphäre tritt dann notwendig als radikaler Unterschied derzwischen hyletischen Daten und intentionalen Funk-tionen auf. Aber es gibt auch in der immanenten „Innerlichkeit"des Ego keine Gegenstände im voraus und keine Evidenzen,die nur umgreifen, was im voraus schon ist. Die Evidenzen als dasSeiende konstituierende Funktionen (ineins mit den gesamten Funk-tionen und Vermögen, die dabei ihre zu enthüllende Rolle spielen)vollziehen die Leistung, deren Ergebnis da heißt s ei en der Gegen-stan d. So schon hier und so überall.

Hierbei ist Verschiedenes wieder zu beachten, was zum Teilschon berührt wurde. Fassen wir Evidenzen in einem weitesten Sinneder Selbstgebung oder Selbsthabe, so braucht nicht jede Evidenz dieGestalt des spezifischen Ichaktes zu haben, des vom Ich, dashier den Ichpol bezeichnet, auf das Selbstgegebene hin Gerichtetseins,„aufmerkend", erfassend, auch wertend und wollend. Die in starrerGesetzlichkeit vonstatten gehende Konstitution von immanenten Zeit-daten ist eine kontinuierliche Evidenz in einem weitesten Sinne, abernichts weniger als ein aktives Darauf-gerichtet-sein des Ich.

Ferner, Evidenz als Selbstgebung hat ihre Abwand-lungsgestalten,ihre Gradualitäten in der Vollkommen-heit der Selbstgebung, hat vielerlei Unterschiede, die ihreWesenstypik haben und erforscht sein müssen. Die Abwandlungs-gestalten der Originalität heben die Selbstgebung nicht auf, wenn-gleich sie sie modifizieren. Die Evidenz der absoluten originalenGegenwart des erklingenden Tones im jeweiligen Jetztpunkt (vonmathematischem Punkt ist natürlich keine Rede) fungiert wesens-mäßig in Zusammenhang mit einer Evidenz des „soebe n" ver-klingenden und des ursprünglich „k ommende n". Auch jede klareWiedererinnerung ist Evidenz, Selbstgebung für die wiedererinnerteVergangenheit als solche, nicht für das vergangene Original, das alsOriginal Gegenwart wäre, aber für das Vergangene als Ver-gangene s.

Diese Evidenz gibt gleich Beispiele für die Gradualitätender Klarheit und für die daraüs zu schöpfende Idee . (eine Idee!)vollkommener Klarhei t, der ich mich annähern „kann", ein

1) Vgl. a. a. 0. S. 163, über diese Probleme selbst die schon mehrfach zitierte

Abhandlung im Jahrbuch IX.

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Ich-kann, das seine eigene Evidenz hat. So wie wir das bei deräußeren Erfahrung schon gesagt haben, so ist hier in dem primitivenFall der immanenten Wiedererinnerung die Täuschung nicht aus-geschlossen. Aber evident ist doch auch die Wesensform ihrer Ent-hüllung, die wiederum Evidenz der Wiedererinnerung in Form der-jenigen von anderen Wiedererinnerungen, voraussetzt.

Ferner, so wie es schon im einfachsten Fall einer lebendigeninneren Erfahrung zur Wesensform ihres strömenden Konstituierensgehört, daß kontinuierlich sich aneinanderschließende und abwan-delnde Evidenzen zusammen fungieren, so gilt es über-haupt in der großen Sphäre des gesamten transzendentalen (wieauch psychologischen) Innenlebens. Die mannigfaltigen, sichkonstituierenden Gegenstandskategorien sind, woraufschon hingewiesen wurde, miteinander wesensmäßig ver-flochten, und demgemäß hat nicht nur jeder Gegenstandseine eigene Evidenz, sondern sie übt, und er in ihr alsevidenter, auch übergreifende Funktionen. Jedes Kultur-objekt ist ein Beispiel. Die Idealität, die sein eigentümliches Seinausmacht, „verkörpert" sich in einer materiellen (durch ihn „ver-geistigten") Gegenständlichkeit, und danach ist die Evidenz derobjektiven Kulturbestimmtheit fundiert in einer naturalen Evidenz,und mit ihr innig verflochten.

Oder das allgemeinste Beispiel: alle Gegenstände stehen als kon-stituierte in Wesensbeziehungen zu immanenten Gegenständen, sodaß die Evidenz jedweder Gegenständlichkeit in sichbergen muß für sie fungierende immanente Erlebnisse, immanenteEvidenzen. überall erhält dabei das Fungierende als solchesseinen besonderen intentionalen Charakter, womit höchst wichtigeUnterschiede zusammenhängen in der Weise, wie konstituierte Gegen-stände „affektiv" fungieren können, als „Reize" für mögliche aktiveZuwendungen des Ich. Ist ein Ding, sei es auch im unbeachteten„Hintergrund" konstituiert, so sind dabei vielerlei implizierte Gegen-ständlichkeiten konstituiert, z. B. die Perspektiven, oder letztlich diejeweiligen Empfindungsdaten, die als objektive Farben, oder Töne„aufgefaßt" sind. Aber ni ch t stehen etwa alle diese für das tran-szendentale Ego „bewußtseinsmäßig" seienden Gegen-stände•hinsichtlich der möglichen Affektion gleich.Das Ding ist das erste, das affiziert, und erst in einer reflektivenAblenkung davon, sekundär, die Perspektive oder weiter zurück dieEmpfindungsfarbe, also von der Fundierung der Evidenzfunktionenher bestimmt.

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Doch das ist genug, um eine Vorstellung davon zu bekommen,wie viel gegenüber den leeren Evidenzreden der Tradition unterdem Worte Evidenz zu erforschen ist, und das, wenn über-haupt der Sinn einer Kritik der Evidenzen und ihremögliche Durchführung klar werden soll. Sehr spät habeich erkannt, daß alle Kritik der Evidenzen und im besonderen derUrteilsevidenzen (genauer derjenigen der kategorialen Aktivität)nicht nur, wie es in der jetzigen Darstellung selbstverständlich ist,im Rahmen der Phänomenologie zu vollziehen ist, sondern daß allediese Kritik zurückführt auf eine letzte Kritik in Form einerKritik derjenigen Evidenzen, die die Phänomenologieder ersten, selbst noch naiven Stufe geradehin voll-zieht. Das aber sagt:

Die an sich erste Erkenntniskritik, in der alle anderewurzelt, ist die transzendentale Selbstkritik der phänomeno-logischen Erkenntnis selbst 2).

d) Evidenz als apriorische Strukturform des Bewußtseins.

Noch ein Punkt ist von Wichtigkeit. Die traditionelle Erkenntnis-theorie und Psychologie sieht die Evidenz als ein absonder-liches Spezialdatum an, das nach irgendwelcher induktivenoder kausalen Erfahrungsgesetzlichkeit in den Zusammen-hang einer seelischen Innerlichkeit hineinkommt. Den Tieren werdendergleichen Vorkommnisse in der Regel wie selbstverständlich ab-gesprochen.

Demgegenüber ist bereits aus dem Bisherigen evident, daß e inBewußtseinsleben schon vermöge der immanenten Zeitsphäreohne Evidenz nicht sein kann und wieder, daß es, so wie wires als auf Objektivität bezogenes Bewußtsein denken, nicht sein kannohne einen Strom äußerer Erfahrung. Es ist aber auch noch daraufhinzuweisen, daß Evidenz jeder Stufengestalt nicht nur sich mit an-deren Evidenzen verflicht zu höheren Evidenzleistungen, sondern daßEvidenzleistungen überhaupt in weiteren Zusammenhängen mit Nicht-evidenzen stehen, und daß wesensmäßige Ab wand! ungen be-ständig vonstatten gehen: die Sedimentierung von Retentionen in dieGestalt „schlafenden" Bewußtseins, die wesensmäßige Bildung vonassoziativen Leerintentionen, von Meinungen, Leerstrebungen, die auf

1) Eine wirkliche Durchführung dieser letzten Kritik versuchte ich in einetvierstündigen Wintervorlesung 1922/23, deren Niederschrift meinen jüngerenFreunden zugänglich gemacht worden ist.

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Fülle hinstreben usw. Selbstgebung als Erfüllung, Bestätigung, Be-währung, Durchstreichung, Falschheit, praktisches Verfehlen usw. —das alles sind zur Einheit eines Lebens apriori gehörige Struktur-formen, und die all das berücksichtigende, aufhellende Untersuchungdieser Einheit ist das ungeheure Thema der Phänomenologie.

Schlußwort.

Den Weg von der traditionellen Logik zur transzendentalenhaben wir in dieser Schrift zu zeichnen versucht — zur transzenden-talen, die nicht eine zweite Logik, sondern nur die in phänomeno-logischer Methode erwachsende radikale und konkrete Logik selbstist. Doch genauer gesprochen, haben wir als solche transzendentaleLogik eben nur die traditionell begrenzte, die analytische Logik imAuge gehabt, die allerdings vermöge ihrer leer-formalen Allgemeinheitalle Seins- und Gegenstands- bzw. Erkenntnissphären umspannt. Gleich-wohl haben wir, genötigt den Sinn und die Weite transzendentalerForschung zu umzeichnen, im voraus auch ein Verständnis für diezu begründenden „Logiken" anderen Sinnes, als Wissenschaftslehrenaber sachhaltigen mit gewonnen, wobei die oberste und umfassendstedie Logik der absoluten Wissenschaft wäre, die Logik dertranszendental-phänomenologischen Philosophie selbst.

Natürlich fallen im guten Sinn unter den Titel Logik, äquivalentOntologie, auch alle zu begründenden sachhaltig-apriorischen Diszi-plinen — Disziplinen der einen, zunächst geradehin, in transzendental„naiver" Positivität zu begründenden mundanen Ontologi e. Esist in unseren Zusammenhängen schon ersichtlich geworden, daß siedas universale Apriori einer in reinem Sinne möglichen Welt über-haupt entfaltet, die als Eidos durch die Methode der eidetischenVariation von der uns faktisch gegebenen Welt aus, als dem diri-gierenden „Exempel", konkret entspringen muß. Von diesem Ge-danken gehen dann aus die Stufen der großen Problematikeiner radikal zu begründenden Welt-L o gik, einer echten mundanenOntologie, wovon einiges schon zur Andeutung kam.

Als Grundstufe fungiert die in einem neuen Sinne „transzen-dentale Ästhetik" (so genannt vermöge einer leicht faßbarenBeziehung zur engumgrenzten Kant ischen). Sie behandelt daseidetische Problem einer möglichen Welt überhaupt als Welt„reiner Er f ahr u ii g", als wie sie aller Wissenschaft im „höheren"Sinne vorangeht, also die eidetische Deskription des universalen

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Apriori, ohne welches in bloßer Erfahrung und vor den kategorialenAktionen (in unserem Sinne, die man nicht mit dem Kategorialen imKantischen Sinne vermengen darf), einheitlich Objekte nicht erscheinenund so überhaupt Einheit einer Natur, einer Welt sich als passivesynthetische Einheit nicht konstituieren könnte. Eine Schichte davonist das ästhetische Apriori der Raum-Zeitlichkeit. Dieser Logos derästhetischen Welt bedarf natürlich, um echte Wissenschaft sein zukönnen, ebenso wie der analytische Logos, der transzendentalen Kon-stitutionsforschung — woraus schon eine überaus reiche undschwierige Wissenschaft erwächst.

Darauf stuft sich nun der Logos des objektiven weltlichen Seinsund der Wissenschaft im „höheren" Sinne, der unterIdeen des „strenge n" Seins und der strengen Wahrheit forschendenund entsprechend „exakte" Theorien ausbildenden 1). In der Taterwächst, zuerst in Form der exakten Geometrie, dann der exaktenNaturwissenschaft (Galilei sehe Physik) eine Wissenschaft bewußtneuen Stils, eine nicht „deskriptive", das ist „ästhetische" Gebilde,Gegebenheiten der puren Anschauung typisierende und in Begriffefassende, sondern eine idealisierend-logifizierende Wissenschaft. Wiebekannt war historisch ihre erste Gestalt und weiterhin ihre Leitungdie platonisierende Geometrie, die nicht von Geraden, Kreisen usw.im „ästhetischen" Sinne spricht und von ihrem Apriori, dem desin wirklicher und möglicher Erscheinung Erscheinenden, sondernvon der (r egulative n) Idee eines solchen Erscheinungsraumes,dem „idealen Raum" mit „idealen Geraden" usw. Die ganze „exakte"Physik operiert mit solchen „Idealitäten", unterlegt also der wirklicherfahrenen Natur, der des aktuellen Lebens, eine Natur als Idee, alsregulative ideale Norm, als ihren Logos in einem höheren Sinn. Wasdas bedeutet, was damit in der Naturerkenntnis und Naturbeherrschungzu leisten ist, das „versteht" in der naiven Positivität jeder Student.Für eine radikale Selbstverständigung und eine transzendentale Kritikder „exakten" Naturerkenntnis liegen hier gewaltige Probleme --selbstverständlich Probleme einer phänomenologischen, am Leitfadennoematischer Sinnesauslegung fortgehenden Forschung, die noetischdie „subjektive" Konstitution enthüllen und von da aus letzte Sinnes-fragen, kritische Bestimmungen der „Tragweite" leisten muß.

Wie weit ähnliche, obschon beileibe nicht dieselben Intentionenin den Sinn der Geisteswissenschaften eingehen können, welche regu-lativen Ideen für sie notwendig sind und ihre Methode bewußt leiten

1) Vgl. § 96 c), S. 214 f.gusserl, Jahrbuch L Philosophie. X. 17

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müssen, um ihnen nicht etwa naturwissenschaftliche Exaktheit, aberdoch für ihre „höhere" Logizität Normbegriffe einzuprägen (ihnenselbst entwachsende), das sind abermals neue Fragen, neue Forschungs-gebiete einer „Logik" bezeichnend.

Und so haben wir nur das Wesen einer formalen Wissenschafts-lehre umgrenzt und sie zu ihrer transzendentalen Gestalt übergeleitet,während die volle Idee einer Wissenschaftslehre, einer Logik, einerOntologie nur ihren Rahmen gewonnen hat und auf künftige Dar-stellungen verweist, die berichten werden, wie weit wir in dieser Hin-sicht vorzudringen vermochten.

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Beilager.

Syntaktische Formen und syntaktische Stoffe,Kernformen und Kernstoffe.

Zur Vertiefung der Einsicht in das Wesen der Urteils f ormsei im folgenden der im Texte vielbenützte Unterschied zwischensyntaktischen Formen und syntaktischen Stoffen näher erläutert, unddurch andere mit ihnen wesentlich zusammenhängenden Unterschiedeergänzt. Sie gehören alle in die rein-logische Formenlehre(„rein-logische Grammatik"), und demgemäß ist überall, wo wirgrammatische Ausdrücke, wie Prädikation, Satz und dgl. gebrauchen,ausschließlich an die betreffenden Bedeutungsgebilde gedacht. Unterdem Titel Syntaxe und den sich anknüpfenden Titeln handelt essich bei der Beschränkung des Themas um eine deskriptiv eAufweisung unerforscht gebliebener Wesensstrukturen derUr t eils sp hä r e, deren Relevanz anderseits für den Grammatikerselbstverständlich ist').

§ 1. Gliederung der prädikativen Urteile.

Nehmen wir zunächst Prädikationen der einfachsten kategorischenForm A ist b, so g lie der t eine jede sich offenbar in zwei Teile,sie hat sozusagen eine Zäsur: A — ist b, das Substratglied, das„worüber" ausgesagt wird, und das, was von ihm ausgesagt wird;wobei jedes genau so genommen sei, wie es rein deskriptiv in derBedeutungseinheit A ist b sich abgliedert. Gliederung besagt dannnatürlich nicht Abstückung, da die Rede von Stücken uns auf Teileverweist, die auch für sich abgelöst sein können. Offenbar ist abermindestens das Prädikatglied selbständig nicht ablösbar. Daß das-selbe aber auch für das Subjektglied gilt, wird sich bald zeigen.

1) Im Wesentlichen stammt der Inhalt dieser Beilage ans meinen Göttingerformal-logischen Vorlesungen — und zwar nach der letzten Fassung vom W.-S.1910111 — in welchen ich den Versuch machte, in noematischer Einstellung undrein deskriptiv die systematischen Linien einer reinen Formenlehre der prädi-kativen Bedeutungen zu entwerfen, als Unterlage für eine eigentliche Analytik.

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Betrachten wir einen Fall komplizierterer Gliederung, z. B. dashypothetische Urteil, wenn A b ist, ist C d. Es gliedert sich scharfin zwei Teile, es hat wieder eine „Zäsur": Wenn A b ist — so ist C d.Jedes dieser Glieder gliedert sich wieder. Der hypothetische Vorder-satz und ebenso der Nachsatz gibt sich in seinem eigenen Sinngehaltals eine „Modifikation" eines schlichten kategorischen Satzes, eineModifikation, die, eben als beiderseits unterschiedene, einmal zumAusdruck kommt in der Form wenn A b ist und das andere Mal inder Form so ist C d. Jede solche Modifikation trägt in sich, demunmodifizierten kategorischen Urteil entsprechend, auf das sie „ver-weist", die Zäsur zwischen dem modifizierten Subjektglied undseinem modifizierten Prädikatglied. Das A kann in der ursprüng-lichen kategorischen Form wie in ihren Modifikationen in sich selbstwieder Gliederungen haben, etwa in Gestalt attributiver Annexe.Dann haben wir in A selbst wieder eine Zäsur, ein Hauptglied undein attributives Nebenglied (evtl. auch in Form eines Relativsatzes).

So kann ein einheitlicher Satz reicher und weniger reich ge-gliedert sein, und wir sehen, daß nicht alle Glieder aufgleicher Stuf e stehen müssen. Der hypothetische Satz z. B. istunmittelbar gegliedert in Vordersatz und Nachsatz. Die unmittelbarenGlieder als Glieder erster Stufe haben selbst wieder unmittelbareGlieder, die in bezug auf das Ganze Glieder zweiter Stufe sind. Undso kann es weiter gehen zu Gliederungen dritter, vierter Stufe usw.Bei jedem Satz kommen wir aber auf letzte Gliederungen undGlieder, in unserem Beispiel symbolisch angedeutet durch das A, b usw.

Alle Glieder in diesem Sinne sind unter allen Umständen u n -selbständig, sie sind, was sie sind, im Ganzen, und verschiedeneGanze können gleiche Glieder haben, aber nicht dasselbe Glied. Sagenwir A ist b und setzen wir fort, A ist c, so liegt nicht ein identischesGlied in beiden Sätzen vor. Derselbe Gegenstand A ist vermeint, aberin einem verschiedenen Wie, und dieses Wie gehört selbst mit zurMeinung (nicht dem Meinen), zu dem Vermeinten als solchem, daswir Satz nennen. In den zwei Sätzen haben wir an den korrespon-dierenden Stellen Verschiedenes eines gleichen Gehaltes A, und diesenverschieden geformt. Es tritt unausdrücklich im zweiten Satze die Form„dasselbe" auf, welche, wenn wir den Sinn genau betrachten, zwischenbeiden eine Verknüpfung, und zwar eine sie verschieden formendeVerknüpfung herstellt. Anders ausgedrückt, wir stehen in der Einheiteines, wenn auch nicht ausgesprochenen Gesamtsatzes: A ist b unddasselbe ist c. Das zweimal auftretende A-vermeinte hat in beideneine bezügliche Form: das zweite die Identitätsbezüglichkeit auf das

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erste; von daher hat aber auch das erste eine korrelative Identitäts-bezüglichkeit auf das zweite gewonnen, was dem Sinn des erstenselbst, 80 wie es im Gesamtsatz auftritt, abzufragen ist. DerartigeÜberlegungen kann man überall durchführen, wo „dasselbe" Glied(dasselbe „Subjekt", Prädikat, Objekt, derselbe Vordersatz usw.)auftritt,

§ 2. Die Sachbezüglichkeit in den Urteilen.

An den Gliedern innerhalb der konkreten prädikativen Bedeutungs-einheit, aber auch am ganzen Urteil oder Satz sind zweierlei Momentezu unterscheiden. Jeder selbständige Satz bezieht sich auf irgend-welche Sachen und irgend etwas ihnen Zukommendes. Im geurteiltenSatz ist ein Sachverhalt „gemeint". ES wird sich zeigen, daß dieseBeziehung auf Gegenständlichkeiten, seine Sa c hb ezüglichkeit,wie wir kurz sagen wollen, an bestimmte seiner Momente gebundenist, die wir die S tof fe nennen werden, während sie doch konkretund als Bedeutungsbeziehung auf Gegenständliches nur möglich istdurch andere Momente, die Momente der F o r m.

Des näheren beobachten wir — unter der Frage, wie der Satzals ganzer gegenständliche Beziehung zustande bringt — zunächst,daß wir an ihm stets Teile finden müssen, die selbst gegenständlicheBeziehung haben. Das gilt von allen Gliedern, und wofern siegegliedert sind, von ihren Gliedern bis zu den letzten, bzw. an sichersten. Mit diesen haben wir die unter dem Gesichtspunkt derGliederung letztlich sachbezüglichen Typen von Teilbedeutungen,sich scheidend als Subjektbedeutungen, die sich auf Substratgegen-stände beziehen (als die sich bestimmenden), als Teilbedeutungen, diesich auf Eigenschaften beziehen, und wieder auf Relationen. Ander-seits heben sich uns leicht schon im normalen sprachlichen AusdruckTeile ab (wir gebrauchen das Wort Teile in einem weitesten Sinne,der also auch Nicht-glieder befaßt), die wie das ist, oder, weil usw.Bedeutungsmomente darstellen, und den Sätzen wesensmäßig unent-behrliche, welche in sich nichts von Sachbezüglichkeitbergen. Das schließt natürlich nicht aus, daß sie vermöge ihrer Funktionim Satz, der als ganzer (oder vermöge ihrer Funktion im jeweiligenGlied, das als ganzes) Sachbezüglichkeit hat, an dieser Anteil haben.In ihnen aber, rein für sich genommen, liegt davon nichts. Genauerbesehen enthält jedes, und auch jedes primitive Glied, solche Momente,mögen sie auch nicht, wie die beispielsweise oben herangezogenen,in eigenen Worten des vollständigen grammatischen Satzes Ausdruckfinden.

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§ 3. Reine Formen und Stoffe.

Von da aus ergibt sich gegenüber der Gliederung eine merk-würdige und total andersartige „Teilung" jeder prädikativen Be-deutung, jedes „konkreten" Satzes und Satzgliedes. Auf der einenSeite können wir stufenweise an diesen Konkretionen heraushebendie offenbar völlig unselbständigen, völlig abstrakten Momente, denenvon sich aus die Sachbezüglichkeit fehlt: sie heißen Momenteder reinen For m. Dann bleibt uns an jedem der Glieder undschließlich an jedem der letzten ein Kerngehalt übrig, wieder einvöllig Abstraktes, aber gerade das, was dem Glied seine Sach-bezüglichkeit verleiht. In dieser Hinsicht sprechen wir von stoff-lichen Momenten. Ein Beispiel macht alles sofort klar: Nehmenwir etwa Satzsubjekte wie das Papier, der Zentaur usw. und denkenwir andere Sätze, wo „dieselben" Ausdrücke in abgewandelter Funk-tion stehen (grammatisch sich deklinierend) — statt die sich be-stimmenden Subjekte bezügliche Objekte bezeichnend — so hebt sichuns, wenn wir auf die Bedeutungsseite hinblicken, in der Tat einIdentisches ab. Es ist das Identische der Sachbezüglichkeit, das inallem solchen Wechsel der Form die Beziehung auf Dasselbe, aufPapier, auf Zentaur erhält. Wir kommen also auf zwei Grenzbegriffe:„reine Formen" und „reine Stoge". Beides gehört notwendig zurKonkretion, und zwar so, daß wir sagen werden: die reinen Stoffeermöglichen letztlich die Sachbezüglichkeit durch ihre abgestufteFormung, derart, daß das Gebilde jeder Stufe in den Gliedern stetswieder relative Stoffe und Formen aufweist. Diese Relativität wirduns weiterhin beschäftigen.

Die Formung ist selbstverständlich keine Tätigkeit, die an vor-gegebenen Stoffen vollzogen würde und zu vollziehen wäre — wasja den Widersinn voraussetzte, daß man im voraus Stoffe für sichhaben könnte, als ob sie statt abstrakter Bedeutungsmomente kon-krete Gegenstände wären. Gleichwohl kann man, in den verschie-denen Abstraktionsrichtungen vorgehend und dabei die Satzgebildeabwandelnd (in der Freiheit des urteilenden und quasi-urteilendenDenkens und Umdenkens), gleichsam die Funktion der Formen undihrer Wandlung für die Sinnbildung der gegenständlichen Beziehungverfolgen, mit anderen Worten, Einsicht gewinnen in die Art undWeise, wie durch die Wesensstrukturen der Sätze und ihrer Gliederdie gegenständliche Beziehung derselben und ihre analytisch-formaleTypik zustande kommt.

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§ 4. Niedere und höhere Formen. Ihre Sinnbeziehung aufeinander.

Die Formen unterscheiden sich in untere und höher stuf igeForme n, in Formen, die zu den untersten Gliedern gehören, undin solche, welche die schon geformten Glieder selbst umfangen undzu höherstufigen Konkretionen bringen, zu komplexeren Gliederngestalten oder zu voll konkreten Einheiten, zu selbständigen Sätzen.Ihrem Sinne nach sind die höherstufigen Formen (wobei nicht aus-geschlossen ist, daß sie evtl. einem allgemeinen Sinngehalt nach gleich-artig sind mit den niederen) auf die niederstufigen bezogen und indieser Rückbeziehung für die Sachbezüglichkeit fungierend. Der Satzals ganzer hat Ganzheitsformen und hat mittels ihrer einheitlicheBeziehung auf das ganze jeweils Vermeinte, kategorial so und soGeformte: den Sachverhalt. Offenbar ist diese Sachbezüglichkeit einefundierte, da sie schon die Sachbezüglichkeit der Glieder voraussetzt,bzw. voraussetzt die Funktion der zu der Sachbezüglichkeit dieserGlieder gehörigen besonderen Formen. Ich sage besondere Formen,und will damit andeuten, daß vermöge der Ganzheitsformung jedesGlied auch Eint ormung in das Ganze hat: seine gegenständlicheBeziehung erhält die Form des Bestandstückes der gegenständlichenBeziehung des ganzen Satzes.

Aber auch in anderer Weise zeigen sich Bedeutungsbeziehungender Formen aufeinander, und mit ihnen zusammenhängende Unter-schiede einer unmittelbaren und mittelbaren Sachbezüglichkeit. Ver-möge der Form erhält mitunter ein in sich sachbezügliches Gliednoch eine über es selbst hinausreichende Sachbezüglichkeit, nämlichbezogen auf die in einem anderen Gliede liegende. Z. B. wenn esheißt, dieses Papier ist weiß, so gewinnt, wie in jedem kategorischbestimmenden Satz, das Prädikat über seinen eigenen Sachgehalt

hinaus Beziehung auf das Subjekt Papier, in dessen Sachbezüglichkeit

bedeutungsmäßig eingreifend. Heißt es aber statt weiß: bläulich weiß,

so hat das vordem einfache Prädikat weiß nun in sich selbst einesekundäre Bestimmung, die also noch mittelbarer das primäre Subjekt

angeht.

§ 5. Die abgeschlossene Funktionseinheit der selbständigenApophansis. Scheidung der ganzheitlichen Verbindungsformen

in Kopulation und Konjunktion.

Formen sind, wie sich schon in den ersten Analysen aufdrängt,von verschiedener Art, in sehr verschiedener Weise den Gesamtsinnbestimmend. Im Bedeutungsganzen des Satzes stehen sie in der ab-

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geschlossenen Einheit Einer Funktion; Satz selbst (nicht Satz alsGlied, sondern hier „selbständiger", für sich abgeschlossener Satz)drückt in formaler Allgemeinheit diese Funktionseinheit mit aus. Inihr sind also die Glieder Glieder in Funktion und haben somit, anihnen selbst aufweisbar, ihre Funktionsformen.

Dabei tritt doch zugleich und zumeist auch im sprachlichenAusdruck das die Glieder ganz heitli eh Ve rb in dend e der Formhervor. Es machen sich aber große Unterschiede in der Weise dieserVerbindungsform geltend.

Einerseits haben wir Verbindungsformen, -wie die des Undund Oder, kurz gesagt, die (im erweiterten Sinne) k o nj u nk tiven.Sie verbinden, schaffen kategoriale Einheit, aber in ihrem eigenenSinn liegt nichts von der überall so sehr bevorzugten und insbesonderefür den Wisenschaftler und Logiker bevorzugten Beziehung auf dasUrteil (oder den „Satz") im prägnanten Sinne, das prädizierend e,das „ ap ophantisch e" Urteil. Weder stiften sie selbst eine der-artige kategoriale Einheit, noch weisen sie auf eine solche zurückin irgendeiner „Modifikation" oder sonstwie — als ob, was sie ver-binden und die Verbindung selbst, notwendig innerhalb einer Prä-dikation (Apophansis) auftreten müßte.

Anderseits haben wir die „Verbindungs"weise, die eben diespezifische Einheitsform eines prädikativen Satzes macht, in tradi-tioneller Rede die Form der Kopula. Wir hätten also sozusagen diekopulierende Einheitsform; sie ist es, welche die Gliederder Prädikation, zunächst einer einfachen, zur Einheit bringt. Es istdie Ist-form in ihren verschiedenen Gestalten, in der des katego-rischen Urteils als bestimmenden, aber auch in anderen Gestalten, dasie ja offenbar in der Einheitsgestalt des hypothetischen und kausalenUrteils steckt, so wie auch in jeder identifizierenden Anknüpfung. Sieist die Funktionsform, welche die Glieder, ihnen selbst Gliederformzugestaltend, zu Gliedern des Satzganzen macht, derart daß die Ganz-heitsform als ihre Verbindungsform abstraktiv abzuheben ist.

§ 6. übergang in die weiteste kategoriale Sphäre.

a) Universalität der unterschiedenen Verbindungsformen.

Wenn gesagt war, daß im eigenen Sinn jener anderen Ver-bindungsformen nichts von Kopulation liegt, so ist damit nicht aus-geschlossen, daß sie aus gewissen, diesem Sinn äußeren Gründen etwasdavon aufnehmen kann, sei es assoziativ-apperzeptiv —sofern wir beständig auch damit beschäftigt sind, kategoriale Gebilde

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jeder Art, die nicht Prädikationen sind, in Prädikationen einzu-beziehen — sei es, daß wir Urteile selbst, was wir jederzeitkönnen, konjunktiv (bzw. disjunktiv und sonstwie) verbinden.Dabei hat die Verbindung als Einheitsfunktion, die die Prädikationenkategorial einigt, einen notwendigen, Sinn mitbestimmenden Einflußauf diese Prädikationen, auf sie als kopulative Ganze und auf ihreKopulationen selbst, und umgekehrt hat z. B. das betreffende Und insolcher Funktion seinerseits in seinem Sinn etwas von den Kopu-lationen angenommen, die es eben verbindet. Es ist klar, daß, wennwir die volle Weite der kategorialen Gebilde betrachten (die wir miteinem zweiten Worte auch aus guten Gründen als syntaktischebezeichnen), wir konstatieren müssen, daß die unterschiedenen Ver-bindungsweisen, die kopulativen und die nicht-kopulativen, die gleicheUniversalität haben, als Weisen der verbindenden Formung von kate-gorialen Gegenständlichkeiten zu neuen.

b) Erstreckung der mit der Gliederung zusammenhängendenUnterscheidungen auf die gesamte kategoriale Sphäre.

Es ist auch klar, daß, was wir über Gliederung gesagt haben,immer bloß auf apophantische Urteilsgebilde hinblickend, nur wenigmodifiziert auf alle „syntaktischen" Gebilde paßt, wie z. B. Zahlen,Kombinationen usw. Also auch da haben wir hinsichtlich der Gebilde,bzw. ihrer Formen eine Reduktion auf letzte Gliederungen und einenteils gleichstufig, teils in beliebiger Aufstufung erfolgenden Aufbauvon kategorialen Ganzen aus letzten Gliedern. Eben die Universalitätder auch miteinander verflochten fungierenden Formen (subjektivund korrelativ gesprochen, die Universalität der Formen wirklicheroder erdenklicher leistender Aktionen, der konjungierenden, dis-jungierenden, der identifizierend-kopulierenden usw.) hat zur Folgedie ideell iterative Formenbildung in offener Unendlichkeit.

c) Der erweiterte kategoriale Satzbegriff gegenüber demder alten apophantischen Analytik.

Alle diese Bildungen, bzw. Gebilde unterstehen dem weitestenBegriff des Satzes als des analytischen Gebildes, das „Satz" nichtheißt als Korrelat von Kopulationen, sondern von Setzungen, undzwar eines Sinngehaltes kategorialer Form. Setzung ist dabei ver-standen als Doxa, als Seinsglaube aber eben als Seinssetzung, d.zugleich als Hinsetzung in einer allzeit und für jedermann zugäng-lichen „Äußerung", die auf jedermanns Mitgehen im Glauben rechnen

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kann. Dabei hat also das „gesetzte" Sein einen anderen Sinn als daskopulative Ist, das eben nur zu kopulativen Sätzen gehört. Bei diesenverbindet sich mit der kopulativen Funktion, vermittelt durch denvon ihr unabtrennbaren Glaubensmodus, die neue, der Seinssetzungeigene Sinnbildung des Seiend — allzeit und für jedermann'). Dietraditionelle apophantische Logik betrachtet in ihrer Urteilslehre,geleitet vom Aristotelischen Begriff der Apophansis (der sich in derTat als ein radikaler Grundbegriff herausstellt) und aus Motiven, diewir im Haupttext (§ 47, S. 115 ff.) kennen lernen, unter dem TitelUrteil ausschließlich fürs Erste kategorische Sätze (die Existenzial-sätze eingerechnet) in allen doxischen Modalitäten (als in den kate-gorischen Satzsinn einzubeziehenden); sie ordnet fürs Zweite diesemTitel auch alle konjunktiven und sonstigen Gebilde aus kategorischenSätzen zu, alle die dazu berufen sind, Einheit der prädikativenTheorie herzustellen.

Halten wir uns in der weiteren Untersuchung ausschließlich andiesen Bereich (wie sie in der Tat ursprünglich nur im Hinblick aufihn durchgeführt war), so sei doch vorweg betont, daß sie einegrößere, auf die gesamte kategoriale Sphäre (des Urteils im weitestenSinne, dann aber auch auf die parallelen syntaktischen Gebilde deraxiologischen und praktischen Sphäre) zu beziehende Allgemeinheitannehmen kann, womit sehr wichtige deskriptive Aufgaben imGesamtbereich der betreffenden noematischen Idealgebilde bezeichnetsind. An Durchblicken auf die größere Allgemeinheit werden wir esaber nicht fehlen lassen.

§ 7. Syntaktische Formen, syntaktische Stoffe, Syntaxe.

Mit Rücksicht auf das oben Dargelegte über die Einheitsformeines Satzes oder „Urteils" (der apophantischen Logik) und über dieFormung, die ihre Glieder korrelativ haben müssen, ergeben sich,und zunächst für die Formenlehre der doxischen Bedeutungen (die„rein-logische" Grammatik), bedeutsame Unterscheidungen, reindeskriptiv an den Sätzen aufzuweisen (ohne jede Frage nach konsti-tutiven Zusammenhängen und dadurch kenntlich werdenden Sinn-beziehungen).

Zu jedem Urteil können wir uns andere denken, die mit ihmkopulativ verknüpft sind in der Art wie etwa, dieses Papier ist weiß,

1) Der Urteilslehre Br entan os kann ich also nicht folgen, wie ich dennauch die Existenzialsätze als kategorische Sätze mit anomal geänderter Subjekt-bedeutung ansehe.

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267] Formale und transzendentale Logik. 267

und diese Wand ist weißer als dieses (selbe) Papier. In AristotelischerFormalisierung: Dieses S ist p und dieses W ist in der Relation Q zudiesem (selben) S. Durch nähere Betrachtung derartiger für jederein-logisch-grammatische Urteilsform möglicher Anknüpfungen neuerUrteilsformen mit entsprechend „selbigen" Gliedern, heben sich unsan Urteilen jeder Form, bzw. an allen ihren Gliedern, nicht nurdeskriptive Formunterschiede,* sondern auch Forms chichtungenin Wesensallgemeinheit ab. Diesen wollen wir jetzt nachgehen.

Zunächst werden wir, was sich deskriptiv und unmittelbarabhebt, mit unseren bisherigen Begriffen Form und Stoff fassenkönnen. Wir werden nämlich sofort scheiden Subjektf orm undForm des Prädikate s, als des das jeweilige Subjekt be-stimmenden, auf letzterer Seite eigenschaf tliches Prädikatund Relationsprädikat. Zudem scheiden sich (ähnlich wieschon im § 3) in der Konfrontierung unserer Beispiele, bzw. Beispiels-formen und in der Bemerkung, daß dies Papier oder die Form dies Seinmal als Subjektform, Form des sich bestimmenden Substrates,auftritt und das andere Mal als Objektform innerhalb des relativenPrädikates: derselbe stoffliche Gehalt, der einmal in Subjekt-form, das andere Mal im Prädikat in der Objektform auftritt, unddiese beiden F o r m en selbst. Sie sind offenbar reine Formen undunmittelbar zur einheitlichen Funktionsform der Prädikation gehörig.Aber wir sehen auch, daß wir zunä chst in dieser Scheidung vonForm und Stoff den Begriff des Stoffes nur relativ zu nehmenhätten, nämlich nicht als reinen Stoff, da an demselben in die ver-schiedenen Funktionsformen tretenden Gehalt, selbst an so einfachenBeispielen, noch Form abgehoben werden kann (hier dies als reine

Form).Jedenfalls dürfen wir sagen, in Hinblick auf die r eine

Gesamtform der apophantischen Einheit in ihrer Um-fassung der ihr selbst mit zugehörigen reinen Sonder-formen, sie sei die Einheit der Syntaxe, durch welche dienach ihrer Abstraktion verbleibenden identischenStoffe (dieses Papier, weiß und dgl.) syntaktisch geformtsind. Also Subjektform, Objektform usw. sind syntaktischeForme n. Dabei ist zu beachten, daß diese Stoffe — wir sagensyntaktis ehe Stof fe — solche Momente des Urteils sind, diedurch Abstraktion von jenen Funktionsformen, den syntak-tischen, sich abheben, also z: B. das in ihrem Wechsel identische Sub-stantiv, oder das identische „Adjektiv", ob es in dieser oder jenerSyntax° steht.

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§ 8. Syntagma und Glied. Selbständige Urteile als Syntagmen,desgleichen Urteile im erweiterten Sinn.

Nehmen wir wieder die syntaktischen Stoffe in ihren Formen,also konkret einig, so nennen wir diese Einheit das S yn tagm a. Esist also nichts anderes als Einheit des Gliedes im Satz, das geformterStoff ist, mit der Wesensgesetzmäßigkeit, daß verschiedeneGlieder dieselbe Form aber verschiedene Stoffe, undwieder, daß sie verschiedene Form und denselben Stoffhaben können.

Dieses Gesetz gilt für Glieder noch so kompliziert gebauter Prädi-kation, und wie immer in ihr selbst wieder Sätze, in der syntaktischmodifizierten Gestalt von Satzgliedern auftreten mögen.

Aber es gilt auch für selbständige Sätze jedes und wieimmer komplizierten Baues, nämlich mit Rücksicht auf das Wesens-gesetz, daß jeder Satz in formaler Allgemeinheit und in bestimmtenTypen Modifikationen erfahren kann, die ihn in ein syntaktischesGlied höherstufiger Prädikationen verwandeln. Jeder ganze Satz istalso gewissermaßen selbst ein „Glied", sofern er eben die Wesens-strukturen hat und die syntaktischen Modifikationen zuläßt, die zueinem Gliede als solchem gehören. Mit einem Wort, auch er alsselbständiges Ganzes der Prädikation ist ein Syntagma, Einheitsyntaktischen Stoffes in syntaktischer Form.

Wir bedenken nun, daß vermeinte kategoriale Gegenständlich-keiten überhaupt rechtmäßig so heißen, weil sie entweder selbstPrädikationen sind, oder in Prädikationen eingeordnet auftretenkönnen; bzw. daß ihre analytischen Formen und die analytischen dermöglichen Prädikationen in einem entsprechenden Verhältnis stehen.Also das Universum der letzteren muß die aller Kategorialien über-haupt in sich fassen. Mit Rücksicht darauf ist es klar, daß Urteileim erweiterten Sinn e, daß alle kategorialen Vermeintheitenüberhaupt, Syntagmen sind und unter den Gesetzmäßigkeiten derStruktur stehen, die dieses Wort andeutet.

§ 9. „Urteilsinhalt" als syntaktischer Stoff des Urteils alsSyntagrna.

Zur Erläuterung, insbesondere auch der Auffassung ganzer prädi-kativer Sätze als Syntagmen, ziehen wir Beispiele heran.

Wo immer wir einen komplexen, zerstückbaren Satz haben, z. B.das Urteil, weil nebliges Wetter eintrat, erfuhren die kriegerischen

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269] Formale und transzendentale Logik. 269

Operationen eine Hemmung, da ist jedes Stück im Ganzen gegeben alsein syntaktisch geformtes Stück, als ein Glied. Wenn das Stück, etwadas erste, verselbständigt wird, so wird nicht das Glied, wie es ist,selbständig, sondern es ist ein selbständiger Satz desselben „U r teil s-inhaltes" hergestellt, der Satz es trat nebliges Wetter ein, Um-gekehrt, hätte die syntaktische Wandlung auch mit diesem Satzeanheben können, so wie sie für jeden selbständigen Satz möglichist — nämlich in ein Satzglied eines anderen Satzes. Der nun-mehr unselbständig gewordene Satz hat weiter denselben „Inhalt",wir sagen geradezu: „derselbe Sat z" einmal als Sa tz fürsich, das andere Mal als Vordersatz, als Nachsatz usw.Das Selbständig-für-sich-sein ist selbst als syntaktische Form an-zusehen. Im Wandel der Funktionen, in denen „derselbe" Satz dieverschiedenen Formen des Vordersatzes, des Gliedes einer Disjunk-fion usw. annimmt, tritt als Identisches hervor dieselbe „Satzmaterie"oder „Urteilsmaterie" — in dem Sinn desselben prädikativen s y n-taktischen Stoffe 8, der die verschiedenen syntaktischen Formenannimmt, die Formen: Satz für sich, Vordersatz, Nachsatz usw. Waswir gesagt haben, gilt in formaler Allgemeinheit, es gilt also für dieentsprechenden Satzformen als Formen von Syntagmen. Also wirkönnen an jeder, und iterativ, eine freie Variation vollziehen, in derwir unter Erhaltung ihres gesamten in forma gedachten prädikativenStoffes (in diesem wichtigen Sinne: der Form ihrer „Materie") diesyntaktischen Formen abwandeln und ebenso mit den jeweiligenGliederformen verfahren, wir können es eben an allen Formen, obvon selbständigen oder unselbständigen Syntagmen 1).

1) Gehen wir von hier zu § 89 a) S. 192 des Haupttextes dieser Schriftzurück, die Möglichkeit der Deutlichkeitsevidenz betreffend, so erkennen wir jetzt,wie zwar alles dort Ausgeführte richtig bleibt, aber durch Heranziehung des jetztherausgearbeiteten radikaleren Begriffes von Urteilsmaterie eine wesentliche Ver-tiefung erhält. Es ist nämlich klar, daß wenn eine Urteilsmaterie im dortigen Sinn(dem der Logischen Untersuchungen [Bd. IL, 426 ff.J), welche ihre Identitätseinheithat im 'Wandel der „Qualitäten", d. i. der Modalisierungen der Gewißheit, dieDeutlichkeitsovidenz gewinnen kann, wesensmäßig auch jede ihrer syntaktischenAbwandlungen sie gewinnen kann. Eine beliebige unter diesen Abwandlungenpräjudiziert durch ihre mögliche Verdeutlichung diejenige aller übrigen. Offenbarsagt das aber, daß in einem tiefsten Sinne die Möglichkeit der Deutlichkeits-evidenz an dem radikaleren Sinn von Urteilsmaterie hängt, den des totalen syn-taktischen Stoffes des betreffenden Urteils oder der betreffenden syntaktischenUrteilsabwandlung. — Natürlich überträgt sich dieser Begriff der Urteilsmaterieauf Urteile im erweiterten Sinn.

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§ 10. Stufen syntaktischer Formung.

Es ist klar, daß gegenüber der Unendlichkeit der identischensyntaktischen Stoffe die Zahl der syntaktischen Formen (Subjekt,Prädikat, Objekt, Attribut, die genannten und andere prädikativeTotalformen) beschränkt ist. Wenn es dabei heißt, daß jeder solcheStoff mannigfaltige Formen annehmen kann, so ist natürlich damitnicht auch gesagt, daß ein jeder jede beliebige Form annehmen kann,wie an den Gliedern einer einfachen kategorischen Prädikation ohneweiteres zu ersehen ist.

Tiefer eindringend, zeigt sich hier, daß sich die syntaktischenFormen nach Stufen sondern, daß gewisse Forme n, z. B. diedes Subjektes und Prädikates auf allen Stuf en der Zusammen-setzung auftreten — ein ganzer Satz kann als Subjekt ebensogut fun-gieren wie ein einfaches „Substantiv" — daß andere Formenaber, wie die des hypothetischen Vordersatzes und Nachsatzes, bereitsin sich syntaktisch gegliederte Stoffe fordern.

So ist es auch klar, daß innerhalb eines Gesamtgliedes Formenauftreten können, die sich von den syntaktischen Formen der ihmuntergeordneten Glieder unterscheiden. Es sei dies noch an einemanderen Beispiel erläutert: die konjunktive Verbindung der PhilosophSokrates und der Philosoph Platon, ebenso die disjunktive derPhilosoph Sokrates oder der Philosoph Platon kann in einem Satz alsein Glied auftreten und dann etwa in der syntaktischen Form desSubjektgliedes einer einheitlichen konjunktiven oder disjunktivenPrädikation. In diesem einheitlichen Glied treten wieder Glieder auf:der Philosoph Sokrates, der Philosoph Platon, und jedes hat wiederseine syntaktische Form, aber eine andere als das Ganze.

§ 11. Nicht-syntaktische Formen und Stoffe — innerhalb derreinen syntaktischen Stoffe aufgewiesen.

Die bisher behandelten Begriffe von Form und Stoff bezogen sichauf Syntagmen. Die syntaktischen Formen waren Formen von Satz-gliedern und Sätzen selbst, sofern diese durch Funktionswandel inSatzglieder anderer möglicher Sätze übergehen konnten. Ein Satz fürsich ist, sagten wir, Einheit einer abgeschlossenen Funktion, und alleGliederformen bezeichnen die wesensmäßigen Teilformen der Gesamt-funktion. Die Stoffe, die in sie eingehen, die sie voraussetzen, haben,wie wir nun zu zeigen haben, ebenfalls eine gewisse, aber eineletztlich ganz anders geartete Formung. Mit anderen Worten,

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2711 Formale und transzendentale Logik. 271

die syntaktisch zur Einheit der Prädikation als Ist-Einheit als kopu-lativer, unmittelbar gehörigen Formen setzen in den letzten StoffenFormen eines ganz neuen Stiles voraus. Sie gehören nichtzur S yntaxe des Satzes selbst.

Dies klarer zu machen, gehen wir am besten gleich derGliederung der Sätze in ihrer natürlichen Stufenfolge nach, also vonden unmittelbaren Gliedern gehen wir zu den Gliedern der Gliederüber, und so in gleicher Art fort, bis wir zu den letzten Gliedern, dennicht mehr zu zergliedernden kommen. Deren syntaktische Stoffesind dadurch ausgezeichnet, daß sie reine Stoffe sind, das ist frei vonsyntaktischen Formen: z. B. Substantiva wie Papier, Mensch, ab-strahiert von Subjekt-, Objekt-, Dies-Form usw., ebenso Adjektiva wieweiß, rund und dgl. Vergleichen wir nun ve rs c hie d ene solchereine oder letzte syntaktische Stoffe, wie sie in ver-schiedenen Sätzen, in welchen syntaktischen Formen immer auftreten,so bemerken wir, daß sie trotz ihrer Verschiedenheit nochein ab heb bar Iden tis ches gemein haben können. Nämlichvergleichen wir den reinen Stoff Papier und den reinen Stoff Menschusw., so tritt uns ein Wesensallgemeines der Form hervor — in forma-lisierender Allgemeinheit: irgend etwas von „substantivischer" Form.Ebenso hebt sich uns die „adjektivische" Form ab, ebenso die anRelativen wie gleich, ähnlich, größer usw. erfaßbare Form des „Rela-tivunis". In einer und derselben Form können unendlich viele Inhaltegefaßt sein: die einzelnen Substantiva z. B. sind inhaltlich verschieden,aber derselben Form. Wir kommen so auf eine beschränkte Gruppevöllig neuartiger, also nicht mehr syntaktischer Formen; es gruppierensich alle letzten syntaktischen Stoffe, deren jeder sich als Einheit vonForm und Inhalt darstellt, nach den neua r tigen r ein - gr amma -tischen Kategorien der Substantivität und der Adjek-tivität als Eigenschaftlichkeit und als Relationalität.

§ 12. Das Kerngebilde mit Kernstoff und Kernform.

An die Stelle des Syntagma tritt jetzt eine an d er s a r tigeEinheit v on St o f f und F o rm: das jeweilige Substantiv selbst,Prädikat und Relativum selbst, als im syntaktischen Stoff beschlossen;und jeder muß wesensnotwendig eine solche Einheit in sich schließen,so daß wir eine tiefere Struktur der Prädikation überhaupt,eine in allen ihren Syntaxen, speziell den syntaktischen Stoffenliegende erreicht haben. Wir nennen dieses Einheit das K er n-

$ebilde.

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Wir waren also im Bisherigen noch nicht zu den letzten Form-strukturen durchgedrungen. Das sichtlich zu machen, bedarf es einesneuen Schrittes der deskriptiven Analyse.

Vergleichen wir die Kerngebilde Ähnlichkeit und ähnlich, Röteund rot, so sehen wir, daß in jedem solchen Paar Kerngebildeverschiedener Kategorie einander gegenüber stehen, die selbstmiteinander, und zwar in der stofflichen Seite desselben einWesensmoment gemein haben. Röte und rot haben „inhalt-liche" Gemeinschaft in der verschiedenen Kerngebildform, welche dieKategorien der Substantivität usw. bestimmt. Zum ideal Identischen,das da Kerngebilde heißt, gehört fest die betreffende Kategorie; es istja der im Wechsel der syntaktischen Funktion verharrende syntak-tische Stoff, der unter festen Kategorien steht und bei Identität derKategorie selbst einen wandelbaren Inhalt offen läßt. Voll bestimmtesSubstantiv, Adjektiv, Relativum sind syntaktische Stoffe und nachdiesen wesensmäßig zugehörigen Kategorien bezeichnet. Dagegenzeigt sich jetzt, daß solche syntaktischen Stoffe, und zwar als Kern-gebilde verschiedener Kategorie genommen, noch ein Identischesgemein haben können, das also noch tiefer in diesen Stoffen be-schlossen ist. Wir nennen es den Kernstoff des jeweiligen Kern-gebildes, oder wie wir auch sagen können, des syntaktischen Stoffes.Das Korrelat dieses Kernstoffes, abgekürzt des Kernes, ist dieKernfor m, sie ist es, welche den Kern zu dem der bestimmtenKategorie formt, also das einheitliche Kerngebilde, bzw. den syntak-tischen Stoff herstellt: Das Wesensgemeinsame, das Ähnlichkeit undähnlich z. B. gemein haben, wird einmal in der Kategorie der Sub-stantivität, das andere Mal in der der adjektivischen Relationalitätgeformt und so zum bestimmten syntaktischen Stoff.

§ 13. Die Bevorzugung der substantivischen Kategorie.Die Substantivierung.

Wir haben nun noch das Wesensgesetz beizufügen, in dem sicheine merkwürdige Bevorzugung der substantivischenKategorie ausdrückt. Nämlich jedes Adjektiv und Relativum hatsich gegenüber ein entsprechendes Substantivum, das „substantivierte"Adjektiv und Relativ. Aber es gibt keine Adjektivierung (im eigent-lichen Sinne gesprochen) von beliebigen Substantiven. Substantivawie Ähnlichkeit oder Röte geben sich sinngemäß als „Modifikationen",sie haben einen sekundären Sinn, der auf den ursprünglichen, nichtsubstantivischen verweist: damit hängt eine Wesensmöglichkeit der

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syntaktischen Umformung der betreffenden Sätze zusammen, wiez. B. des Satzes dieses Dach ist rot in den Satz Röte ist eine Eigen-schaft dieses Daches, oder auch die Röte dieses Daches . . . Anderseitsist das aber nicht eine bloße syntaktische Umwandlung, sondernineins damit eine Umwandlung der Kerngebilde, die in einer anderenSchichte liegt.

§ 14. Übergang zu den Komplikationen.

Damit haben wir in der Sphäre der prädikativen Bedeutungeneine Reduktion auf die letzten „Elemente" gewonnen,nämlich auf die Stoffe in dem allerletzten Sinne, diekeinerlei Bedeutungsformen mehr haben und die allen Formungenverschiedener Art und Stufe zugrunde liegen. An diesen letztenElementen treten die letzten Formen auf, Kernformen.

Wir haben diese ganze Betrachtung sogleich auf das Letzt-elementare abgestellt, aber die Betrachtung der höheren Kompli-kationen ergibt doch noch Wichtiges. Nämlich die strukturelleUnterscheidung, die wir in den letzten syntaktischen Stoffen sichtlichmachten, gilt für alle syntaktischen Stoffe überhaupt, und es ist auchan ihnen sichtlich zu machen, und ganz ähnlicher Weise, durchZusammenstellung passender Beispiele und Hervorhebung von idealidentischen Wesensgehalten. Jedes kategoriale Gebilde, das nichtschon „nominale", „substantivische" Form hat, läßt sich, wie es dieLogischen Untersuchungen ausdrückten, „nominalisiere n", undgenauer gesprochen, ist es auch hier nicht das konkrete Gebilde,sondern sein syntaktischer Gesamtstoff, der da im erweiterten Sinneeine „substantivische" Form erhält. Hierbei werden wir .sagenmüssen, daß eine Satzmaterie (im Sinn des „Satzes" als syntaktischenStoffes) als wechselnde Kernkategorien die der Substantivität und diedes für sich bestehenden Satzes hat, worin einerseits eine syntaktischeForm bezeichnet ist und anderseits das Wesensgemeinsame, das diesemit der Formung in „Substantivität" gemein hat. Mit dieser Formunggeht wie bei jeder Substantivierung eine syntaktische ÄnderungHand in Hand.

Doch die nähere Durchführung dieser Fragen und ihre tiefereBehandlung sei künftigen Forschungen anheim gegeben.

§ 15. Der Begriff des „Terminus" der traditionellen formalen Logik.

Die traditionelle Logik hat von diesen Unterschieden so gut wienichts herausgearbeitet, obschon sie sich gelegentlich auch in ihr

Busserl, Jahrbuch f. Philosophie. X. 18

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zutage drängen. Es ist ja ohne weiteres klar: der von uns fixierteBegriff des Kernstoffes fällt im wesentlichen mit dem zusammen, wasdie traditionelle Logik in völlig vager Weise, ohne den Versuch einernäheren Bestimmung, als Terminus bezeichnet und zudem nur ineiner eng begrenzten Sphäre benützt hat. Die Rede von den Terminipaßt sich nämlich der traditionellen Syllogistik an. Man drücktdie Urteilsformen des universellen, partikulären, singulären Urteilsund dgl. symbolisch aus durch alle A sind b, einige A sind b usw.Ebenso wird die hypothetische Satzform ausgedrückt durch wenn Mist, so ist N. Fragt man sich, was hierbei durch die Buchstaben an-gezeigt ist, so scheint es zunächst, als handelte es sich um syntaktischeStoffe. Indessen achtet man darauf, daß vom Standpunkt der Syl-logistik etwa beim Schluß alle Menschen sind sterblich, alle Sterb-lichen sind vergänglich usw. das sterblich und die Sterblichen alsderselbe Terminus gelten und symbolisch durch denselben Buchstabenbezeichnet werden, so zeigt es sich, daß es nicht auf die Unterschiededer Kernformen ankommt, daß also unter dem Terminus nicht dersyntaktische Stoff verstanden sein kann, sondern der bei Wechsel derKernform identisch verbleibende Ke Tust of f.

Sehr häufig sagt man statt Terminus auch Begrif f. Indessenist das Wort Begriff mit mehrfachen Vieldeutigkeiten behaftet, so daßwir es in dieser Bedeutung nicht ohne weiteres gebrauchen können.Jedenfalls ist aber durch den Begriff des Kernstoffes eine der Be-deutungen des Wortes Begriff wissenschaftlich festgelegt.

Es ist für diesen Begriff des Begriffes oder Terminus zu beachten,daß er sich, dem ganzen Sinne der Analytik gemäß, nicht auf letzteKernstoffe beschränkt. Für ihn kommt die Erweiterung der BegriffeSubstantiv und Adjektiv (vgl. den vorigen Paragraphen) wesentlich inBetracht (und damit die des Kernstoffes), die sie über die primitivenBegriffe erhebt, welche durch die Erinnerung an die grammatischenWortformen nahegelegt sind. Z. B. die Form daß S p ist, bedingt, daßQ r ist, bietet in der Formung „Vordersatz", bzw. „Nachsatz" je einSubstantiv, eben den „substantivierten" Satz. Die Analytik, derenthematisches Absehen auf das Gesetzessystem formaler „Konsequenz"geht, fragt nicht nach letzten Kernen; sie läßt es in ihren Satzformenoffen, ob die Termini substantivierte kategoriale Gebilde sind odernicht. (Vgl. dazu Beilage IIL)

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Beilage II.

Zur phänomenologischen Konstitution des Urteils.Das ursprünglich-aktive Urteilen und seine sekundären

Modifikationen.

§ 1. Aktives als selbsterzeugendes Urteilen gegenüber seinensekundären Modifikationen.

Aktiv urteilen ist ein Erzeugen von „Denkgegenständen", kate-gorialen Gebilden. Zu seinem Wesen gehört die Möglichkeit (die hierdie subjektive Bedeutung des Vermögens, des „Ich kann" hat), ineiner Aufstufung fortschreiten zu können, ideal gesprochen einerIteration in infinitum. Irgendein Urteilen, etwa ein schlicht be-stimmendes („kategorisches") erzeugt einen vermeinten SachverhaltS ist p, in dem sich das Bestimmungssubstrat S als p bestimmt.Hierdurch ist zugleich miterzeugt das kategoriale Ergebnis Sp: d. h.das p ist als „Niederschlag" in den Sinn des S, als nunmehr sobestimmten, getreten. In zweiter Stufe kann nun etwa das S ist pzur Unterlage eines neuen Urteilens werden, es kann, neue kategorialeFormen annehmend, zum Glied von konjunktiven, hypothetischenu. a. Urteilen werden. Oder es kann in anderer Weise fortgeurteiltwerden, etwa so, daß das Sp zum Bestimmungssubstrat des neuenUrteils Sp ist q wird usw. Jedes neu erzeugte Urteil kann so zurUnterlage neuer werden in infinitum. Dasselbe gilt offenbar, wenn wirden erweiterten Urteilsbegriff zugrunde legen, der in den späterenTeilen der vorliegenden Schrift bevorzugt wird — der sich deckt mitdem der kategorialen (doxischen) Gegenständlichkeit überhaupt undals solcher.

Das aktive Urteilen ist nicht die einzige, aber die originale Formdes Urteilens. Es ist diejenige, in der allein die vermeinte kategorialeGegenständlichkeit als solche zu wirklicher und eigentlicher Er-zeugung kommt, mit anderen Worten das „Urteil" zu originalerSelbstgegebenheit. Alle anderen G-egehenheitsweisen desselben Urteilssind in sich selbst als intentionale Modifikationen der aktiverzeugenden, als der originalen, charakterisiert. Es ist das ein Sonder-fall des wesensgesetzlichen Vorzugs der Originalität, der für jed e,ob nun passive oder aktive Gegenstandskonstitution Gültigkeit hat.

18*

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276 Edmund Husserl. [276

Machen wir von hier aus zunächst eine Exkursion in die all-gemeine Theorie der Intentionalität, deren Erkenntnisse uns nachherfür unser vorliegendes Thema tiefere Einsichten ermöglichen werden.

§ 2. Aus der allgemeinen Theorie der Intentionalität.

a) Ursprüngliches Bewußtsein und intentionaleModifikation. Statische intentionale Auslegung. Auslegungder „Meinung" und des Gemeinten „selbst". Die Mannig-faltigkeit möglicher Bewußtseinsweisen von Demselben.

Ein und derselbe Gegenstand kann a priori in sehr verschiedenenBewußtseinsweisen (gewisser Wesenstypen: Wahrnehmung, Wieder-erinnerung, Leerbewußtsein usw.) bewußt sein; unter ihnen hat diejeweils „erfahrende", die originale einen Vorzug, auf sie sind alleanderen als intentionale Modifikationen bezogen.

I n.t entionale Modifikation aber hat ganz allgemein dasEigene, daß sie in sich selbst auf das nicht-Modifizierte zurück-weis t. Die modifizierte Gegebenheitsweise, gewissermaßen befragt,sagt uns selbst, daß sie Modifikation v o n jener ursprünglichen sei.Dazu gehört für das Bewußtseinssubjekt (und demnach für jeden sichin dasselbe Einverstehenden und solche Bewußtseinsweise Nach-verstehenden), daß es von der jeweiligen nicht-originalen Gegeben-heitsweise auf die originale hinstreben und sich evtl. die originaleexplizit vergegenwärtigen, bzw. sich den gegenständlichen Sinn „k 1 a rmachen" kann. Die erfüllende Klärung vollzieht sich in einemsynthetischen Übergang, in dem sich das in einem nicht-originalenModus Bewußte als dasselbe gibt, wie das im Modus der „Erfahrung"(des „es selbst") Bewußte, bzw. als dasselbe „Geklärte", sc. so wiees in „möglicher Erfahrung" selbst gegeben sein „würde". Bei sozu-sagen negativer Klärung tritt synthetisch der klare Wider-sinn hervor.

Jede intentionale Gegebenheitsweise als „Bewußtsein-von" läßtsich in dieser Art „st at isc h" explizier en — nicht in Teilezerlegen, sondern in t ent io nal auslegen und nach seinemn klarenSinn befragen, und dieser Sinn läßt sich in synthetischen übergängen,die zu der möglichen Selbstgegebenheit führen, herstellen oder zurklaren Selbstaufhebung bringen.

Handelt es sich um Bewußtseinsweisen, deren Originalform einein synthe tis ehe r Aktivität erzeugende ist, so erweist sich, wiein den Ausführungen des Textes speziell für die urteilende Aktivitätgezeigt wird, daß hier eine doppelte Intentionalität und Selbstgebungin Frage kommt und wesensmäßig sich verflicht: die Aktivität des

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Urteilens als das Urteil selbst (und bloß als Urteil) originalerzeugende, und die Aktivität der originalen Gestaltung (Evident-machung) der kategorialen Gegenständlichkeit selbst, des jeweiligenSachverhaltes selbst, des Sachverhaltes im Modus der Erfahrung.Das gilt für jede Art der Aktivität, sofern sich ganz allgemein kon-trastiert: Aktivität der erzeugenden Konstitution der Meinungbloß als Meinung und Aktivität der Konstitution des entsprechenden„Selbst". Aber schließlich gilt Ähnliches in der weitesten Allgemein-heit und wesensmäßig für jede Intentionalität — hinsichtlich derSelbstgebung von bloßer Meinung (Sinn) und Gegenstand „selbst".

Die Wesenseigenheit jedes nicht originalen Bewußtseins, als„Modifikation" eines entsprechenden originalen, in sich auf mögliche„Erfahrungen", originale Bewußtseinsweisen von demselben zu „ver-weisen" — und wenn diese als „unvollkommene" ein Gemisch vonOriginalität und Nichtoriginalität sind, auf synthetische Ketten mög-licher fortschreitender Erfahrung — hat ein Gegenstück. Es liegtdarin, daß, umgekehrt, jede originale Gegebenheitsweise ihre Möglich-keiten des Übergangs in „entsprechende", mit ihr synthetisch zueinigende nicht-originale, und dabei von solchen einer festen Typik,mit sich führt. Allerdings wird hier nicht gesprochen werden könnenvon einer Gegenv er w eis un g, einer Verweisung in dem eigent-lichen Sinne, der bei der „intentionalen Modifikation" in Frage ist.Jedenfalls aber steht je des Bewußtsein wesensmäßig in einerbesonderen, ihm zugehörigen Bewußtseinsmannigfaltigkeit,in einer synthetischen offenen Unendlichkeit möglicher Bewußtseins-weisen von Demselben — einer Mannigfaltigkeit, die aber sozusagenihre teleologische Mitte hat in der möglichen „Erfahrung". Das be-zeichnet zunächst einen Horizont erfüllender Evidenz mit demals „zu verwirklichend" antizipierten Es-selbst. Dabei bleibt aberwesensmäßig offen die Gegenmöglichkeit enttäuschender A u f -hebung des Antizipierten im „Statt-dessen-Anderes", was eineGegengestalt der zentrierten Mannigfaltigkeit anzeigt. — Dies schreibtaller „intentionalen AnalyseLe das Allgemeinste der Methode vor.

13) Intentionale Auslegung der Genesis. Genetische, so wiestatische Ursprünglichkeit der erfahrenden Gegebenheits-

weise. „Urstiftung" der „Apperzeption" für jedeGegenstandskategorie.

Während die „st atische" Analyse von der Einheit des ver-meinten Gegenstandes geleitet ist und so von der unklaren Gegeben-Ixeitsweise, ihrer Verweisung als inteutionaler Modifikation folgend?

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278 Edmund Husserl, [278

gegen das Klare hinstrebt, ist die genetische Intentionalanalyse aufden ganzen konkreten Zusammenhang gerichtet, in dem jedes Bewußt-sein und sein intentionaler Gegenstand als solcher jeweils steht. Eskommen dann alsbald in Frage die anderen intentionalen Ver-weisungen, die zur Situation gehören, in der z. B. der die urteilendeAktivität übende steht, also mit in Frage die immanente Einheitder Zeitlichkeit des Lebens, das in ihr seine „Geschichte"hat, derart daß dabei jedes einzelne Bewußtseinserlebnis als zeitlichauftretendes seine eigene „Geschichte", d. i. seine zeitlicheGenesis hat.

Hierbei zeigt es sich — immer als universale Wesenseigenheit desintentionalen Lebens — daß die Originalform des Bewußtseins,die der „E rfahrung" im weitesten Sinne (der in dieser Schriftausführlich erörtert wird), nicht nur statisch sondern auch gene-tisch bev orzugt ist gegenüber ihren intentionalen Abwandlungen.Auch genetisch ist — in gewisser Weise — die originaleGegebenheitsweise die ursprüngliche. Sie ist es nämlichfür jede Grundart von Gegenständlichkeiten, und zwar in dem Sinn,daß keine nicht-originale Bewußtseinsweise von Gegenständen einerGrundart wesensmöglich ist, wenn nicht vorher in der synthetischenEinheit der immanenten Zeitlichkeit die entsprechende originale Be-wußtseinsweise von Denselben aufgetreten ist als die genetisch„urstiftende", auf welche jede nicht-originale nun auch genetischzurückweist.

Damit ist nicht gesagt, daß wir keine Gegenständlichkeit in nicht-originaler Weise bewußt haben können, die wir — als dieselbe —vorher nicht schon original erfahren hätten. Wir können z. B. ineiner völlig leeren Antizipation etwas indiziert haben, was wir niegesehen hatten. Aber daß wir Dinge vorstellen, und sogar Dinge inEinem Blick sehen — wobei zu beachten ist, daß in jeder Dingwahr-nehmung schon Leerantizipationen von selbst Ungesehenem be-schlossen sind — das weist in der intentionalen genetischen Analysedarauf zurück, daß in einer früheren urstiftenden Genesis der TypusDingerfahrung zustande gekommen und damit die Kategorie Ding füruns in ihrem erstmaligen Sinn schon gestiftet ist. Das aber gilt, wiesich zeigt, wesensmäßig für jedwede Gegenstandskategorie imweitesten Verstande, selbst für die des „immanenten" Empfindungs-datums, aber auch für jede Gegenständlichkeit der Stufe der Denk-gegenständlichkeiten, der Urteilsgebilde, ferner der wahrhaft seiendenTheorien, auch der axiologischen und praktischen Gebilde, der prak-tischen Entwürfe usw.

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Das hängt damit zusammen, daß jede originale Gegebenheitsweiseeine doppelte genetische Nachwirkung hat. Fürs Erstein Form möglicher erinnernder Reproduktionen im Durchgang durchursprünglich-genetisch und ganz unmittelbar sich anschließende Re-tentionen, und fürs Zw eite die „apperzeptive" Nachwirkung, dergemäß in ähnlicher neuer Situation das wie immer schon konstituiertVorliegende in ähnlicher Weise apperzipiert wird.

Danach wird ein Bewußtsein von Gegenständen möglich, dieselbst noch nie bewußt waren oder mit Bestimmungen, in denen siees nicht waren, aber eben auf Grund der Gegebenheit von ähnlichenGegenständen und ähnlichen Bestimmungen in ähnlichen Situationen.Das sind intentionale Wesenstatsachen der Empirieund der sie konstituierenden „Assoziation", aber es sind nichtempirische Tatsachen. So wie die statische Analyse dem gegen-ständlichen Sinn und, von seinen Gegebenheitsweisen her, seinem„eigentlichen und wirklichen" Sinn auslegend nachgeht, diese Ge-gebenheitsweisen als intentionale Verweisungen auf das mögliche „esselbst" befragend, so ist die Intentionalität des konkreten, des zeit-lichen Zusammenhangs, in den alles Statische verflochten ist,ebenfalls zu befragen, seine genetischen Verweisungen sindintentional auszulegen.

e) Die Zeitform der intentionalen Genesis und ihreKonstitution. Retentionale Abwandlung. Sedimentierung

im Untergrund der Unabgehobenheit (Unbewußtsein).

Die universale Wesensform der intentionalen Genesis, auf die alleandere zurückbezogen ist, ist die der Konstitution der immanentenZeitlichkeit, die in einer starren Gesetzmäßigkeit jedes konkreteBewußtseinsleben beherrscht und allen Bewußtseinserlebnissen einbleibendes zeitliches Sein gibt. Genauer gesprochen, ein Bewußtseins-leben ist nicht denkbar denn als solches, das in einer wesensnot-wendigen Form der Faktizität, in der Form der universalen Zeit-lichkeit, ursprünglich gegeben ist, in der jedes Bewußtseinserlebnis,im strömenden Wechsel typisch abgewandelter Gegebenheitsweiseninnerhalb einer lebendigen Gegenwart, seine identische Zeitstelleerhält und dann aus Wesensquellen der Habitualität bleibend behält.

Um nur einen Hauptpunkt davon herauszuheben: An jedem imUrmodus immanenter Gegenwärtigkeit auftretenden Erlebnis (das alsso auftretend selbst auch bewußt ist) schließt sich in unabänderlicherNotwendigkeit ein „retentionales" Bewußtsein als eine ursprünglicheModifikation an, durch die der Urmodus „ueeenwärtig Gegebenes" in

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kontinuierlicher Synthesis übergeht in die modifizierte Gestalt des-selben „soeben" Gewesenen. Dieses modifizierte Bewußtsein als jetztgegenwärtiges fungiert nach derselben Gesetzmäßigkeit als relativerUrmodus für eine neue Modifikation (eine Modifikation der Modifi-kation) und so kontinuierlich weiter.

In sich verweist offenbar jede solche Modifikation unmittelbaroder mittelbar zurück auf ihren absoluten Urmodus — ein Bewußt-sein, das sich zwar alsbald modifiziert, aber keine Modifikation mehrist. Dieses kontinuierlich retentionale Sich-abwandeln ist das wesens-mäßige Anfangsstück der Konstitution eines identischen, im weitestenSinne verharrenden Gegenstandes — die wir statt sie hier in All-gemeinheit weiter zu verfolgen im nächsten Paragraphen in der Be-sonderheit verharrender kategorialer Gebilde näher studieren werden.

Die kontinuierliche Abwandlung der Retention geht bis an einenwesensmäßigen Limes fort. Das sagt, mit dieser intentionalen Ab-wandlung geht auch eine Gradualität der AbgehobenheitHand in Hand, und eben diese hat ihre Grenze, in der das vordemAbgehobene in den allgemeinen Untergrund verfließt — indas sogenannte „U nbewußte", das also nichts weniger als einphänomenologisches Nichts ist, sondern selbst ein Grenzmodus desBewußtseins. Auf diesen Hintergrund der sedimentierten Abgehoben-heften, der als Horizont alle lebendige Gegenwart begleitet und seinenkontinuierlich wechselnden Sinn in der „Veckung" zeigt, beziehtsich die ganze intentionale Genesis zurück.

Nach diesem Exkurs in die allgemeine Phänomenologie derIntentionalität und damit in die methodischen Horizonte, die auchunserem besonderen Problem, dem des Urteils zugehören, kehren wirzu diesem wieder zurück, in seiner Behandlung die gewonnenen all-gemeinsten Einsichten verwertend.

§ 3. Die nicht-originalen Gegebenheitsweisen des Urteils.

a) Die retentionale, als an sich erste Form „sekundärerSinnlichkeit". Die lebendig sich -wandelnde Konstitution

eines vielgliedrigen Urteils.

Gegenüber der original erzeugenden Gegebenheitsweise desUrteils haben wir als nicht-originale, als nicht wirklich erzeugendezunächst die retentional e. Sie ist unter den modifizierten Ge-gebenheitsweisen die an sich erste, auf die nämlich alle anderenzurückgehen. Natürlich schließen sich, wie sonst überall, vermögeder beschriebenen zeitkonstituierenden Bewußtseinsgesetzmäßigkeit

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an die original verlaufende Urteilsaktion stetig ihre retentionalenModifikationen an. Allgemeiner ist diese Modifikation als die eineraktiven Erzeugung (wohin auch die Aktivitäten des „Gemütes"mit ihren Konstitutionen von Werten, Zwecken, Mitteln gehören) so zucharakterisieren: Wo immer eine originale Konstitution einer Bewußt-seinsgegenständlichkeit durch eine Aktivität (von evtl. synthetischerVielgliedrigkeit ein- und untergeordneter Partialaktionen) geleistetist, da verwandelt sich die originale Aktion in retentionalerStetigkeit in eine sekundäre Form, die nicht mehr Aktivitätist, also in eine passive Form, in die einer „sekundären Sin n-lichk eit", wie wir uns auch ausdrücken. Vermöge der stetigenIdentitätssynthesis ist das passive Bewußtsein Bewußtsein von dem-selben „vorhin" in aktiver Originalität Konstituierten. Also speziell inder Urteilssphäre besagt das: das Urteil ist nicht nur in und währendder aktiven Konstitution als in ihr lebendig sich erzeugendes, sondernwird zum kontinuierlich verbleibenden selben Urteil, als einem sicherhaltenden Erwerb, der eben auch für aktive Gebilde — wieüberall (das ist in jedweder Konstitution identisch verharrender Ein-heiten) auf Funktionen der Passivität beruht. Soweit wir bishergekommen sind, ist der Erwerb als bleibender zunächst nur kon-stituiert während des lebendigen Fortganges der retentionalen Ab-wandlung bis zum Limes der Unabgehobenheit.

Diese Art der Erhaltung in passiv-kontinuierlicher Identifi-zierung macht allein fortschreitende Urteilsprozesse als lebendigeFortbildung und Verknüpfung kategorialer Vermeintheiten zur Ein-heit immer neuer und höherstufiger Urteile möglich. Die retentionalherabsinkenden Partialgebilde bleiben in dieser Modifikation imBereich des einheitlich thematischen Blickes; es kann wieder auf sie,die sinnes-identischen, zurückgegriffen werden, sie können vermögeder neuen Urteilsschritte auch noch neue Sinneszuwüchse in neuenFormungen erfahren. Nur so kann der Prozeß der synthetischenUrteilsbildung bewußtseinsmäßig abschließen als Einheit eines viel-gliedrig und kompliziert gewordenen Gebildes, das, wenn es fertig ge-worden ist, nichts von den, zu den verschiedenen Stufen undGliedern gehörigen Originalerzeugnissen in ihrer Originalität befaßt.Nur ihre genetisch sehr abgewandelte Modifikationen sind übrig; aberin den passiv verlaufenden Wandlungen erhält sich die intentionaleEinheit der Partialgebilde durch die stetige Identifizierung. Indieser lebendigen Konstitution gehören sie zu derjenigen ursprüng-lichen Aktivität, die das hochstufige Urteilsgebilde zu originalerzeugender Gegebenheit bringt und im Schlußpunkt f ertig gemacht

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hat. Dieses „fertig" selbst unterliegt wieder der retentionalen Ab..wandlung, es kann wieder nachkommendes Urteilen daran anknüpfenund weiter gestalten.

b) Die passive Wiedererinnerung und deren konstitutiveLeistung für das Urteil als bleibende Einheit.

Indessen wenn wir davon sprechen, daß jede kategoriale Aktivitätdurch die Art, wie sich aktive Genesis nach passiv modifizierendenGesetzmäßigkeiten wandelt, zu einem bleibenden Erwerb führt,so kann doch noch anderes gemeint sein und ist normalerweise stetsanderes gemeint. Nämlich jedes Urteilen führt zu einem Urteils-ergebnis, das dem Urteilenden hinfort, und nicht bloß während derlebendigen Retention, ein dauerndes „Ergebnis" ist, eingeistiger Erwerb, über den er wann immer nach Belieben frei ver-fügen kann. Hier werden wir also über jene erste lebendige Er-werbung durch originale Erzeugung und anschließende Retentionenhinausgewiesen. Es kommen dabei die allgemeinen Wesensgesetz-mäßigkeiten der passiven Genesis in Frage und ineins damit die derGegenstandskonstitution — als Konstitution in Identität für mich, füruns „seiender", als dieselben allzeit zugänglicher „Gegenstände" —die Wesens gesetze der „Ass oziat io n" und assoziativenKonstitution. Ihnen gehören auch zu diejenigen der Bildung vonApp er z ep tione n. Die Gesetzmäßigkeiten der passiven Genesisumspannen die gesamte Bewußtseinssphäre als die der imma-nenten Zeitlichkeit, in der auch jede vom Ichpol ausstrahlendeaktive Bewußtseinstätigkeit und ihr originales syntaktisches Gebildeseine Zeitstelle und Zeitgestalt hat, danach alsbald in assoziativeWeckungen eintritt, anderseits durch das Medium der Retention inden Untergrund versinkend, apperzeptiv nachwirkt und sich danachin verschiedenen Weisen an neuen, an passiven aber nicht minder anaktiv-erzeugenden Gegenstandskonstitutionen beteiligen kann.

Das gilt also auch von den kategorialen Akten bzw. Gebilden.Ein Satz, ein Beweis, ein Zahlengebilde usw. kann aus assoziativenGründen längst nach dem Entschwinden der originalen Erzeugungwieder einfallen und, obschon in der Gegebenheitsweise des Er-innerungseinfalls, an neuen originalen Urteilsaktionen sich beteiligen.Das „Ergebnis" der früheren Originalität wird wieder aufgenommenund daraus ein neues geschaffen, ohne daß die Wiederaufnahme eineWiederholung der Aktivität beschlösse,

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c) Das Auftauchen als apperzeptiver Einfall ein Analogendes Einfalls der passiven Wiedererinnerung.

Es können uns aber auch Gebilde einfallen, die zwar Analogasind von Erinnerungseinfällen, aber nicht selbst Erinnerungseinfälle,Gebilde, die wir nie ursprünglich aktiv erzeugt hatten. Aber wirhatten doch analoge erzeugt, und eben vermöge dieser Analogiekönnen sie in der Weise von Einfall-Modifikationen auftreten, alsAnaloga von passiven Wiedererinnerungen, und in der Tat als solcheauf ihre Genesis aus früheren ähnlich gebildeten Urteilen zurück-weisen. Das alles ist aus der Intentionalität der Assoziation und densie beherrschenden Wesensgesetzen verständlich zu machen. Konntenwir schon hier bei diesen Einfällen von einem apperzeptiven Auf-treten sprechen, so erst recht und in einem mehr normalen Sinneüberall da, wo durch perzeptive sinnliche Daten oder ihre Reproduk-tionen die betreffenden kategorialen Gebilde geweckt werden, dienun ganz ähnlich wie die Einfälle auftreten — obschon wir uns sonicht auszudrücken pflegen.

Das aber aus verständlichen Gründen. Denn sobald, wie bei denZeichen und Ausdrücken, das assoziativ weckende Ferzeptiveund das apperzeptiv, durch Weckung oder ein Analogon der Weckung,Auftretende einheitlich thematisch wird und in weitererFolge eine zweiseitig-einheitliche Gegenstandskonstitution imprägnanten Sinn der thematischen zustande kommt — da affizierthinfort das perzeptiv Geweckte nicht an und für sich, und es wirdnicht zu einem thematischen Gegenstande für sich. Vielmehr hat nundas Geweckte den Charakter einer Komponente, obschon den einersolchen „auf die es ankommt", die bedeutete, bezeichnete ist.,.Durch" das sinnlich gegebene Zeichen geht der thematisch bevor-zugende Blick auf das Bezeichnete. Aber zugleich ist das Zeichenselbst Durchgangsthema, es bildet mit dem thematischen Telos einegeschlossene, einheitlich abgehobene Gegenständlichkeit, einheitlichschon vorgegeben vor der Zuwendung und so auch bereit, evtl. auchder normalen Funktion zuwider anderseitig thematisch zu werden.

§ 4. Die Wesensmöglichkeiten der Aktivierung der passivenGegebenheitsweisen.

In allen sekundären Gegebenheitsweisen, die uns in der letztenÜberlegung entgegengetreten sind — den retentionalen, den eigent-lichen Wiedererinnerungen (die übrigens auch in unmittelbarem An-schluß an Retentionen unwillkürlich oder willkürlich, jedenfalls aber

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assoziativ bedingt erwachsen können) und endlich den apperzeptivenEinfällen, den scheinbar freien und den mit abgehobenen „Perzep-tionen" verflochtenen — haben wir mit „Modifikationen" zu tun,die also auf die ursprüngliche Aktivität phänomenologisch zurück-weisen.

Es ist ferner zu bemerken, daß hier wie überall bei derartigenVerweisungen auch mit beschlossen ist das Bewußtsein einer Freiheit,einer praktischen Möglichkeit, die Gegebenheitsart ursprünglicherAktivität, die die Gebilde eigentlich und selbst gebende, herzustellen.Gelingt die Wiederherstellung, so tritt notwendig Synthesis der er-füllend-identifizierenden Deckung ein, das Bewußtsein des Rück-gangs vom passiv Vermeinten zum Gemeinten selbs t. Komme ichdurch Wiedererweckung, in Form der passiven Wiedererinnerung,in der eines passiven Wiedereinfallens, auf meine alte Überzeugungzurück, in der ich S ist p geurteilt und nun darin Sp erworben hatte,so steht das Sp nur eben in ähnlicher Weise für mich wiedererwecktda, wie es in der damals anschließenden passiven Retention „nochbewußt" und „noch im Griff" war; nur daß das Im-Griff-haben odervielmehr abermals In-den-Griff-bekommen jetzt den phänomeno-logischen Modus des Wieder, des Wiedererfassens hat, und zwar alsder mir noch geltenden, mir verbliebenen, mir noch eigenenÜberzeugung.

Anstatt es aber bei diesem passiven Wiederauftauchen oderWiedergewahrwerden meines Urteils bewenden zu lassen, kann iches auch wirklich reaktiviere n, es ernstlich re-produzieren, es,dasselbe, in erneuter und wirklicher Aktivität erzeugen, das auf-tauchende Sp zurückverwandeln in S ist p lind dabei das Sp in er-neuter Aktivität, also ursprünglich konstituieren. Ebenso gehört zujeder anderen Einfalls-Modifikation bewußtseinsmäßig die Möglichkeiteigentlicher Aktivierung (also zugleich des erfüllenden Zugangs zudem „Es selbst") — das Bewußtsein des Vermögens zu einer wirk-lichen Aktivität, die natürlich wie jede praktische Bewußtseinsinten-tion ihre Modi des Gelingens oder Mißlingens haben kann.

§ 5. Die Grundgestalten ursprünglich erzeugenden Urteilensund des Urteilens überhaupt.

Machen wir davon zunächst Anwendung auf die wichtigeScheidung, die der Begriff des aktiv urteilenden Erzeugens katego-rialer Vermeintheiten (aktives Urteilen im weiteren Sinne) aber auchder des Urteilens überhaupt erfahren kann.

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Ursprünglich erzeugendes („explizites") Urteilen, als einanfangender und sich in Form der synthetischen Einheit, als einimmer höherstufiges Urteilen, vollziehender Prozeß, kann

L „durch und durch" ursprüngliche Aktivität sein. Jede in derEinheit der gebildeten und fortgebildeten kategorialen Gegenständlich-keit auftretende kategoriale Teilgegenständlichkeit, darin als Unter-lage für höhere Bildungen fungierend, ist in der aktiven Lebendigkeitdes Urteilsprozesses ursprünglich erzeugt worden, und so hat danndas gewordene oberste Ganze selbst durch und durch Ursprünglichkeitder Selbstgebung — der Selbstgebung als „vermeinte kategorialeGegenständlichkeit", als Urteil in unserem erweiterten Sinne.

2. Der andere, ein gewöhnlicher Fall ist der, daß die Urteilstätig-keit an alte Urteilserwerbe wieder anknüpft, au passive und in modi-fizierter Gegebenheitsweise wieder auftauchende kategoriale Gegen-ständlichkeiten, daß „altbekannte" Sätze wieder verwertet, oder daßSubstratgegenstände zu Themen von Bestimmungen werden, die inihrem Sinn schon ihre reichlichen Bestimmungsgehalte aus früherenbestimmenden Urteilen als Niederschlägen tragen und passiv so auf-genommen werden usw. Es vollzieht sich hier also ein explizitesUrteilen, sofern neue Gestaltungen in einer gewissen relativen Ur-sprünglichkeit vollzogen werden, aber auf dem Grunde „alter" Ge-staltungen. Wir müssen dabei zugleich an die „apperzeptiven Ein-fälle" denken: Sehr gewöhnlich urteilen wir auch auf Grund vonUrteilsapperzeptionen, von passiv, aber indirekt auf Grund unsererfrüheren ähnlichen Bildungen uns zukommenden, uns einfallenden,kategorialen Gedanken — uns einfallend als Urteile, die uns ebenin unserer Motivationslage ohne weiteres „eingehen". So wie Er-innerungseinfälle fassen wir sie für unsere prädikative Urteilsaktionzuerst in sich assoziativ darbietende Worte, ohne darum die expliziteUrteilsaktion herzustellen, auf die hierbei implizite verwiesen ist.Oder es handelt sich von vornherein um Zeichen, um Ausdrücke, undzwar um normal fungierende, uns auf die Bedeutungsgebilde thema-tisch hinlenkend. Diese treten — abgesehen von ihrer Funktionsformals Bedeutungen — ganz wie Einfälle, nämlich als rein passive Ver-gegenwärtigungen, als Analoga passiver Erinnerungen auf, und dabeipflegt es zu bleiben, sie werden nicht im mindesten reaktiviert. Sodienen sie zu neuer Urteilsaktivität. An die passive Habe, an das uns(normalerweise in Gewißheit) seinsmäßig Geltende der Bedeutungs-Seite knüpfen wir an, in frei erzeugender Aktion erwachsen :uns neuekategoriale Meinungsgebilde ineins mit entsprechenden Zeichen, bzw.Worten. Wir versagen es uns auf die nicht uninteressanten inten-

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tionalen Komplikationen einzugehen, die daraus entspringen, daß diezweiseitigen Reden selbst schon als Einfälle auftreten können und alssolche in sekundärer Weise in ihrem Sinne all das „implizieren", wasbei den originalen Reden bereits ein Sekundäres ist, so daß wir einSekundäres „im" Sekundären intentional eingewickelt haben. Wirsehen hier überhaupt intentionale Implikationen (nicht reelle Be-.schlossenheiten der Art von Teilen!) wie in dem Auftauchen so in denWeisen der Verwirklichung — der Verwirklichung der einfallendenZeichen mit ihren Verweisen und der ihrer Bedeutungen selbst, aufdie dabei verwiesen ist.

Wir haben nach diesen Ausführungen alles in allem teils ganz„verworrene", durchaus inexplizite Urteile; bestenfalls in Wortegefaßt, verbal artikuliert, und doch ist nichts dabei ursprünglichaktiv geurteilt. Im äußersten Kontrast dazu die vollkommendeutliche n, völlig expliziten Urteile, die nach allen und jedenkategorialen Beständen ursprünglich erzeugten Urteile, freilich Aus-nahmsfälle, aber die besonders wichtigen. Zwischen beiden stehenalle explizit vollzogenen Urteile sonst, welche altererbte Bestände ver-arbeiten, die Fälle der unvollständigen Deutlichkeit.

§ 6. über das undeutliche sprachliche Urteilen und seine Funktion.

In den beiden Gruppen unvollkommener Deutlichkeit spielt (wieauch im Text unserer Schrift ') kurz ausgeführt worden ist) dieSprache mit ihren artikulierten Abgehobenheiten und den Abgehoben-heiten ihrer Bedeutungsindikationen eine große Rolle. Jedes einfacheZeichen indiziert eine Bedeutung, und zwar eine Setzung irgendeineszugehörigen Sinngehaltes, und diese Indikation ist eine assoziative.Die Zeichen verbinden sich zur Einheit eines Zeichens, im besonderendie einzelnen Worte zur Einheit einer Rede, dadurch daß die In-dikationen sich zur Einheit einer Indikation verbinden und nicht nurdie sinnlichen Zeichen zur Einheit einer sinnlichen Konfiguration —was ja auch Haufen von (dem Sinn nach) „zusammenhangslosen"Worten tun. Die Kombination der Worte zur Einheit der Rede,also die Verknüpfung der ihnen zugehörigen Indikationen zur Ein-heit einer Indikation ist Einheit einer assoziativ entsprungenenApperzeption: entsprungen aus analogen Weisen einer dereinstigen,urstiftenden Konstitution derartiger kategorialer Gebilde, bzw. schonzweiseitiger urteilender Redegebilde.

I) Vgl. § 16, S. 49 ff.

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Auch in der willkürlichen Bildung grammatischer Sätze undeinheitlicher Reden können wir, und wir tun es sehr gewöhnlich,eben dem gewohnten Stil der Sinnbildung folgen; wir können ausElementen und aus Gebilden typisch vertrauter Form neue Gebildeentspringen lassen, ohne im mindesten wirklich kategoriale Aktionendurchzuführen und die kategorialen Gebilde in Ursprünglichkeit zugewinnen. So kann unvermerkt sachlicher Widersinn, Sinnlosigkeitder Vereinheitlichung von „total Beziehungslosem" (das „miteinandernichts zu tun hat") zustande kommen, aber auch analytischer Wider-sinn, der im Text der Schrift das Hauptthema ist. Einheit des„Urteils" kommt zustande, als Einheit der Urteilssetzung, aber es ist„verworren", inexplizit, „uneigentlich" geurteilt. Es ist eine asso-ziative Passivität, aus assoziativen Motivationen entspringend, aber inder Weise intentionaler Implikation in sich tragend eine in passiveSinnlichkeit verwandelte und umgewandelte spontane Aktivität, aufsie als aktivierbare verweisend.

Eben dadurch hat sie auch wichtige Funktionen im Rahmen derVernunft, die nur im aktiven Erzeugen kategoriale Evidenz jeder Artergibt, Evidenz als Selbstgebung der kategorialen Vermeintheiten, dieals bloß assoziativ indizierte keineswegs schon jene „Existenz" (der„Deutlichkeit") haben, welche ihrerseits die Voraussetzung ist für dieAdäquation der kategorialen Vermeintheiten, der Urteile selbst an diekategorialen Gegenständlichkeiten selbst, an die kategorialen Wahr-heiten. Eben weil Assoziation (im gewöhnlichen Wortsinne) jedenfallsnur indirekt indiziert und antizipiert, aber nicht selbst gibt (es sei denn,daß sie eben zugleich mit der Selbstgebung des Assoziierten sich einigt)steht das „blinde", bloß assoziativ entsprungene Urteilen vor Fragender „Existenz" oder „Nichtexistenz" -- nämlich des indizierten Urteilsselbst und in weiterer Folge der kategorialen Gegenständlichkeitenselbst, wobei „sie selbst" unter Indikation der Adäquation „im vor-aus" bewußt sind. Wenn der Mathematiker auf Grund des Bauesund der Folge von Formeln, die er in seiner Denksituation vorfindet,nun einen neuen Satz und einen in entsprechendem Stil dafür zuführenden Beweis antizipiert — offenbar von der Assoziation, diefrühere ähnliche Denksituationen, Formeln und Formelverbändedunkel geweckt hat, geleitet — so hat er, wie er wohl weiß, nochkeine wirkliche Erkenntnis, keine wirklichen Sätze und Beweisegefunden, und das besagt für ihn als Analytiker, er hat nicht diewirklichen Urteile und Urteilsverbände aktiv hergestellt, in derenwirklicher Aktivität alles aus original zugehörigen analytischen Ver-hältnissen hervorspringen würde. Eben darum erstrebt er nun die

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explizite Aktion, die seine eigentliche Vernunfttätigkeit ist — wiesehr die assoziativ indizierende notwendig bleibt, ihm Ziel und Wegefür seine Vernunftpraxis vorzudeuten.

Das ist also die Art des assoziativen und in der komplizierteren,aber begreiflicherweise fruchtbareren Gestalt des doppelseitigen,sprachlichen und sonstwie signitiven Urteilens, daß es assoziative (undim allgemeinen den assoziativen Indikationen der Ausdrücke undZeichen folgende) Antizipation von Urteilen ist, von kategorialenGegenständlichkeiten, Vermeintheiten und Adäquationen, die vermögedieser indirekten Anzeige Wege der vereigentlichenden, der die wirk-lichen Urteile und evtl. Erkenntnisse selbst herstellenden Praxis sind— oder aber Wege, ihre Unwirklichkeit zu erweisen.

§ 7. Vorzug der retentionalen und wiedererinnerungsmäßigenVerworrenheit gegenüber der apperzeptiven : sekundäre Evidenz

in der Verworrenheit.

Hier zeigt sich freilich ein bedeutsamer Unterschied dieser ver-worrenen Urteilsweisen gegenüber der Inaktivität der Retentionenund Wiedererinnerungen, so sehr auch diese der Rechtfertigung durchVereigentlichung zugänglich und bedürftig sind. Denn so wenig sieoriginal selbstgebend und somit eigentliche Evidenzen sind, haben siedoch die Bedeutung von sekundären Ableitungen derEvidenz, in denen, wie eine Erkenntniskritik zeigt, obschon in-direkt, immer noch etwas von Evidenz verbleibt. Ohne siegäbe es keine Wissenschaft. Wenn die lebendige Retention wertloswäre, käme es überhaupt zu keinem Denkergebnis. Sowie die Aus-weisung angeht, ist ja abermals Retention im Spiele und ihrGeltungswert vorausgesezt. Ähnlich bei den reproduktivenErinnerungen. Sie haben nicht nur Evidenz als klare Wieder-erinnerungen, die Evidenz der Erfahrung vom Vergangenen — zwareine unvollkommene, aber doch eine wesensmäßig, in der Art derApproximation an einen idealen Limes, zu vervollkommnende Evidenz— sondern auch eine sekundäre Evidenz als noch unklareErinnerunge n. Ohne sie fehlte jede mögliche Rechtfertigung desVertrauens der Wissenschaft, daß sie ein Bestand bleibender Er-kenntniserwerbe sei, als jederzeit reaktivierbarer Evidenzen.

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Beilage III.

Zur Idee einer „Logik bloßer Widerspruehslosigkeit"oder „Logik bloßer Konsequenz".

§ I. Das Ziel der formalen Widerspruchslosigkeit und der for-malen Konsequenz. Weitere und engere Fassung dieser Begriffe.

Die traditionelle formale Logik wurde schon längst als Logikder bloßen Widerspruchslosigkeit oder auch als bloßeKonsequenzlogik bezeichnet, und ich könnte sagen, daß meineNachweisung, sie sei ihrem wesentlichen theoretischen Gehalte nachals eine „pure Analytik" zu definieren und in der Tat exakt zu um-grenzen, im Grunde darauf hinauslaufe, jene alten Charakteristikenaus Wesensgründen zu rechtfertigen, aber freilich auch für sie einenechten und gereinigten Sinn herauszustellen. Die Art nun, wie ichöfters dieselben Ausdrücke verwendete und im einzelnen die WorteWiderspruchslosigkeit (auch Verträglichkeit) und Konsequenz — ineiner Allgemeinheit, die von jenen traditionellen Reden mitbestimmtwar — kann, wie mich während des Druckes Herr Professor0. Becker aufmerksam gemacht hat, zu Mißverständnissen Anlaßgeben. Vielleicht habe ich mich von der Genugtuung, die tradi-tionellen Reden durch neue Einsichten zu Ehren bringen zu können,etwas zu weit — im Ausdruck — treiben lassen. Es dürfte nützlichsein, hier einige zugleich rechtfertigende und weiterführende Er-läuterungen beizufügen.

Die alte Logik hieß Logik der (formalen) Widerspruchslosigkeit,obschon sie doch nicht auf bloße Fragen der formalen Kompossibilitätder Urteile abgestellt war, auf die ihres Sich-nicht-widersprechens.Bildeten doch Fragen der analytisch-notwendigen Folge, der syl-logistischen Konsequenz ihr Hauptthema. Gleichwohl hatte die alteRede einen guten Sinn. In ihrer normativen Einstellung war schondie Rede vorn Widerspruchsprinzip normativ gemeint — als Normzu vermeidenden Widerspruchs. So ist denn überhaupt ihre Intentiondurch die Frage zu kennzeichnen: Wie können wir in unseren Urteilenvor allem Eingehen in die materialen Themen derselben, zunächst

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einmal das Verfallen in „Widersprüche" vermeiden, in Unverträglich-keiten, die durch die bloße Form bedingt sind? Und wie die zu-gehörigen formalen Gesetzesnormen finden? Nun ist jede Negationeiner formalen notwendigen Konsequenz ein Widerspruch: so trittdie ganze formale Konsequenzlogik, die der analytischen Notwendig-keiten, unter den Gesichtspunkt der Widerspruchslosigkeit. Freilichkann das Absehen, ein System „formaler Wahrheit" zu gewinnen,von dem Widersprüche zu meiden abgelöst und ausschließlich miteinem positiven Sinn ausgestattet werden. Etwa so: Haben wir schonwiderspruchslose und miteinander widerspruchslos zusammenhängendeUrteile — welche weiteren Urteile sind rein auf Grund der Formdurch jene ersteren präjudiziert, in ihnen als analytische Notwendig-keiten der Folge beschlossen? Jedenfalls führt aber die allgemeingestellte Frage nach den Wesensformen und Normen eines Uni-versums der Wide rsp ruchslo sigk eit im besonderen zugleichund notwendig auf die Frage nach den Wesensformen der analytischenNotwendigkeiten, nach denen in vorgegebenen Urteilen anderebeschlossen sind. Die universale Formgesetzlichkeit der Widerspruchs-losigkeit befaßt also diejenige der schließenden Konsequenz, formaleLogik der Widerspruchslosigkeit ist auch formale Konsequenzlogik,wie natürlich dem allgemeinsten Begriff der Widerspruchslosigkeitder der Konsequenz a priori untergeordnet ist.

Umgekehrt liegt es aber auch nahe, die ganze Logik auf K o n -s equenz zu beziehen und dabei diesen Begriff ganz weit zu fassen.Um ein Urteil preiszugeben, es negierend „zu durchstreichen",oder allgemeiner, es sonstwie zu modalisieren — was ja nicht Sacheder Willkür ist — muß ich besondere Motive haben. Welche Motiveliegen innerhalb der Urteilssphäre selbst und des näheren in derbloßen Urteilsform? Ich bleibe, als Urteilender mir treu, mir „kon-sequent", so lange ich eben an meinen Urteilen festhalte, im Gegen-f alle bin ich inkonsequent. Ich bin es aber auch ohne es zu wissen, undim besonderen formal-inkonsequent, wenn ich nachträglich, bei genauerBetrachtung („Verdeutlichung") der Formen, in denen ich urteile, er-kenne, daß mein späteres Urteil meinem früheren widerspricht.

Urteile überhaupt bilden also ein System der „Konsequenz" — indiesem Sinne — wenn sie für den Urteilenden bei „genauer Betrach-tung" zur Einheit eines verbundenen Urteils zusammengehen,innerhalb deren keines dem anderen widerspricht.

Nun sieht man, daß die Analytik, als universale Wesensgesetz-mäßigkeit möglicher formaler Widerspruchslosigkeit, auch Analytikals Wesensgesetzmäßigkeit möglicher formaler „Konsequenz" ist. Der

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Begriff der ,,Konsequenz" ist dabei wieder ein ganz allgemeiner, derin sich faßt die „logische" Konsequenz im prägnanten Sinn deranalytischen notwendigen Folge, aber auch die Konsequenz im Sinnevon Einheitlichkeit in der sozusagen zufälligen, zeitlichen Folge,nämlich der im Nacheinander doch ineins gemeinten Urteile, undzwar Urteile, die im genauen Beachten ihrer Form sich vertragen —*ohne sich moddisierend zu beeinflussen.

Dies alles bleibt nun bestehen, vertieft sich aber, wenn wir dieEinsichten in Rechnung ziehen, die im Haupttext unter dem Titel„Evidenz der Deutlichkeit oder wirklicher und eigentlicher Urteils-vollzug" uns erwachsen sind. Von da aus gewinnt es erst die rechteBedeutung. Unsere „pure Analytik" ist in ihrer Reinheit in der Tatebensowohl Analytik der Widerspruchslosigkeit wie Analytik derKonsequenz, und ist — im Hinblick auf die sich natürlich dar-bietenden weiteren Bedeutungen der fraglichen Worte — im Textso bezeichnet worden. Die „Konsequenz" dieses weiteren Sinnesscheidet sich dann eo ipso in die des logisch gewöhnlichen Sinnes deranalytischen Notwendigkeit der Folge und in die „triviale Wider-spruehslosigkeit" oder Verträglichkeit der Urteile, „die miteinandernichts zu tun haben". Das Letztere bestimmt sich durch die Unter-suchungen der Beilage I (mit dem neu herausgestellten Begriff derUrteilsmaterie als des „syntaktischen Stoffes") durch den wissen-schaftlichen Ausdruck: „Urteile, die kein Bestandstück ihrer syn-taktischen Stoffe gemein haben".

Das meines Erachtens Grundwesentliche der im Haupttexte vor-getragenen Lehre liegt eben darin, daß Verträglichkeit, Widerspruch,Konsequenz jedes hier fraglichen Sinnes, so wie sie in der ganzenformalen Analytik fungieren, in einem reinen Sinn präzisiert werdenkönnen und dann auch müssen, der nichts von einer Beziehung aufWahrheit und Falschheit der Urteile in sich behält, nämlich derUrteile, die jeweils nach analytischen Verhältnissen als thematischegedacht werden. Mit anderen Worten, die reine Analytik hatUrteile rein als Urteile in Frage, bzw. rein die Urteilsverhältnisse,welche die eigentliche Vollziehbarkeit und Nichtvollziehbarkeitbetreffen — nichts aber davon, ob dergleichen für mögliche Wahrheitder Urteile eine Relevanz hat. Gegenüber der traditionellen Logikhat also Verträglichkeit und Widerspruch in der r einen Analytiknicht den Sinn Verträglichkeit oder Unverträglichkeit in möglicherWahrheit, ebenso Folge nicht den Sinn von Folgewahrheit (sei es auchvermeinter) usw. Es gibt eine Kompossibilität von Urteilen rein alssolchen — Kompossibilität in der Einheit eines explizit-eigentlichen

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Urteilsvollzugs; und nur diese ist ein thematischer Begriff der reinenAnalytik. Subjektiv gewendet, handelt es sich in ihr um nichts dennum die formale Wesensgesetzlichkeit für ein explizit und eigentlichUrteilen-, bzw. Zusammen-urteilen-können. Es bedarf nicht der Bei-fügung: auch für ein Zusammen-urteilen -müssen — weil eben dieWesensgesetzlichkeit formaler „Kompossibilität" schon in sich schließtdiejenige formaler „Konnezessitä.t".

Die Ausdrucksweise im Haupttext erweckt vielfach den Anschein der In-korrektheit dadurch, daß sie an verschiedenen Stellen diese „Konnezessität" nichtausdrücklich miterwähnt, ferner daß die reine Analytik bald schlechthin Kon-sequenzlogik, bald wieder Logik der Widerspruchslosigkeit genannt und in letztererHinsicht auch ausdrücklich die Widerspruchslosigkeit als ihr einziges, universalesThema bezeichnet wird. Dergleichen ist aber gedanklich ganz korrekt, wie aus denobigen aufklärenden Darlegungen hervorgeht, insbesondere aus denjenigen überdie Wesenszusammenhänge der universalen Thematik und Gesetzlichkeit derformalen Widerspruchslosigkeit und der universalen der formalen Konsequenz (imweiteren, wie im prägnanten Sinne).

Ausdrücklich sei noch darauf hingewiesen, daß sich damit auch die S. 126gegebene Charakteristik der Euklidischen Mannigfaltigkeit als eines Systems der„Widerspruchslosigkeit" (wofür es übrigens kurz vorher auch heißt: „Konsequenz")versteht. Es ist dort ja auch zu beachten, daß von einer „Mannigfaltigkeit" dieRede ist, und daß schon im 3. Kap. (S. 82 ff.) der exakte Begriff der Mannig-faltigkeit, als eines Systems rein aus analytischer Notwendigkeit, ausführlichgeklärt worden war.

§ 2. Rückbeziehung des systematischen und radikalen Aufbauseiner reinen Analytik auf die Lehre von den Syntaxen.

Mit Beziehung auf die in der L Beilage mitgeteilten Unter-suchungen über Syntaxen sei noch folgende Anwendung auf die reineAnalytik beigefügt.

Fassen wir die universale Aufgabe dieser Analytik in die einfacheGestalt: die Wesensgesetze der Urteilsform zu erforschen, welche dieBedingungen der Möglichkeit dafür sind, daß irgendein Urteil be-liebig anzusetzender Form ein „eigentlich existierendes" Urteil — einexplizit vollziehbares — sein kann, sc. im Sinne der Deutlichkeits-evidenz.

Urteil sei in der weitesten analytischen Allgemeinheit, der einerkategorialen Vermeintheit überhaupt, gefaßt, wie sie in den späterenKapiteln dieser Schrift maßgebend geworden ist.

Die Fragestellung betrifft die Urteilsformen auch selbst, als reinbegriffliche Allgemeinheiten von Urteilen und lautet dann: Wann sindUrteilsformen in ursprünglicher Einsicht als Wesensallgemeinheiten

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wirklich und eigentlich vollziehbarer Urteile zu erfassen, wann habensie als solche ideale „Existenz"?

Bei der Weite des Urteilsbegriffes ist jede beliebige Urteilskonjunk-tion und jedes beliebige kategoriale Ganze, das rein-grammatisch ausbeliebigen Urteilen, als kategorialen Vermeintheiten, zu konstruierenist, e i n Urteil, und darauf ist die Frage der „Existenz" bezogen. Siebefaßt also jede Frage der Kompossibilität von irgendwelchenUrteilen, die dann natürlich immer als Teilurteile, sei es auch einerbloßen Konjunktion, fungieren.

Es ist nun in der L Beilage klar geworden, daß das in der for-malen Betrachtung völlig unbestimmt-variabel aber in der IdentitätGedachte — die Termini — nichts anderes als die „Kernstoffe" sind,und daß die formalen Gesetzmäßigkeiten, die gesucht werden, nursolche der Syntaxe und, in tieferer Stufe, der Wandlung der Kern-formen, also der Substantivierung („Nominalisierung") sind.

Bei einem systematischen Angreifen der gestellten Frage müssenwir also der Gesetzmäßigkeit der Syntaxe und ihrer Unterstrukturnachgehen. Wir müssen als Ausgang nehmen zunächst die syntaktischeGliederung mit den zugehörigen Unterscheidungen syntaktischerFormen und Stoffe, bzw. die Formen der „Materie". Wir hätten dannzurückzufragen nach den „primitiven" oder Urformen und ihrer Ur-gliederung, weiter nach den ebenso primitiven syntaktischen Ver-bindungsweisen — wie primitive „Elemente" durch sie in primitiverWeise einig werden zu Urteilen, und wie sei es durch dieselben Ver-bindungsweisen, als für beliebige Komplikationsstufen mögliche(gleich den konjunktiven) oder durch eigenartig höhere, Urteilseinheitin den Stufen der Komplikation möglich wird. Zum Primitiven, inder syntaktischen Formenbildung Ursprünglichen, werden wir nurrechnen dürfen die Selbständigkeit — als sich wandelnd durch Ein-gliederung, die schon syntaktisch formt — ebenso die Seinsgewißheit— als sich verschiedentlich modalisierend und zwar in formal-all-gemeinen Weisen.

Dazu gehören Gesetze der analytischen Existenz — zunächst dasGesetz der analytischen Primitivität: primitive Formen sind a priori„existent", das ist eigentlich vollziehbar. Jede Modalisierung erhält— an und für sich betrachtet — diese Existenz, doch nicht mehrohne weiteres in Zusammenhängen, sofern was an und für sich mög-liche „Existenz" hat, von anderem ebenso an und für sich Möglichenabhängig werden kann, und zwar, was hier allein in Frage kommt,nach formalen Gesetzen möglicher Koexistenz oder, was dasselbe,möglicher syntaktischer Gesamteinheit. Ferner: Bloße Konjunktion,

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ohne jedwede Kopulation, ergibt neue Formen von möglicher Existenz.Dabei ist zu beachten, daß jede Verbindung von Formen durchGemeinsamkeit eines Terminus die Bedeutung einer zu ihm gehörigenkopulierenden Verbindung hat, es gehört zu ihm ein „ist dasselbe".überhaupt ergeben in sich mögliche Urteile syntaktisch irgendwieeingefügt, also zu Gliedern geworden, noch nicht ein, der gesamtenSyntaxe nach, mögliches Ganzes. überall liegt es an der Verflechtungdurch Kopulationen (den in einem weitesten Sinne identifizierend-einigenden), also an der Bildungsweise kopulativer Ganzheiten, wenndie Möglichkeit der Koexistenz (die Kompossibilität auf Grund reinerForm) fraglich werden kann. Man kann danach sagen, daß dieEinheit aus Kopulation einen ganz ausgezeichneten Ur teils-b e gr if f definiert und eben den, welchen die traditionelle Logik aus-schließlich im Auge hat, da sie „zusammenhangslose" Urteilskonjunk-tionen außer Betracht läßt 1)• In der Betrachtung der syntaktischenKomplexionen dieser kopulativen Sphäre stößt man natürlich inallgemeinster Weise auf alle analytischen Notwendigkeiten, bzw. dieWidersprüche, die ihre Kehrseite sind.

Dies nur zur Andeutung, um zu zeigen, daß es gut und notwendigist, im voraus eine als systematische syntaktische Strukturenlehre tiefausgebaute Formenlehre zugrunde zu legen, um auf sie eine einsichtigsystematische und ursprungsechte Analytik aufbauen zu können. Mankann diese reine Analytik, gegenüber der „rein-grammatischen"Formenlehre der Urteile, die ja keine Fragen eigentlicher Vollzieh-barkeit aufwirft, als eine höhere Formenlehre, die möglicherexplizit vollziehbarer Urteile, bezeichnen (mit dem Korrelat natürlichder Formenlehre negativ-vollziehbarer Urteile, der widersprechenden).Die Formen als Wesensallgemeinheiten sind Wesensgesetze. Die reineAnalytik, so können wir nach all dem sagen, ist eine Wissenschaft, diesystematisch die Urformen der in eigentlicher und vollständigerAktivität zu urteilenden Urteile aufsucht, die „Uroperationen" ihrermöglichen syntaktischen Abwandlungen, ihre ursprünglichen Weisenverknüpfender (kopulativer, konjunktiver) Verbindung. Daraus hatsie unter Leitung der rein-grammatischen Iterationen der Formen-bildung die sich stufenweise ergebenden Möglichkeiten der Formen-bildung „eigentlicher" Urteile zu verfolgen und so das ganze Systemder Urteilsmöglichkeit der Deutlichkeitssphäre gesetzlich zu be-herrschen — ideal gesprochen, durch systematische Konstruktion derexistenten Formen.

1) Vgl. Beilage I, § 6, S. 266.

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§ 3. Die Charakteristik der analytischen Urteile als bloß„erkenntniserläuternde" und als „Tautologien".

Betrachten wir noch das Eigentümliche der Analytik mit Be-ziehung auf die Rolle, die in ihr die „Termini" spielen. In kon-stitutiver Hinsicht bezeichnen die Syntaxen und die sich mit ihnenverflechtenden „Substantivierungen" die noematischen Korrelate derspezifischen Urteilstätigkeiten und der Rhythmik ihres sich immerwieder Vollendens in Form in sich geschlossener Kopulationen. Wasdie Kerne anlangt, so verweisen sie uns darauf, daß die Urteilsaktionstets schon Vorgegebenheiten voraussetzt. Diese können aus früherenUrteilen stammende Gebilde sein, aber schließlich kommen wir, ent-sprechend den letzten Stoffen und ihren Formen der Substantivitätund Adjektivität, auf vorgebende passive und dann aktive Erfahrungvon Individuellem und auf die Vorformungen, die hier unter demTitel bloß erfahrend-explizierender Kenntnisnahme geleistet werden.Das bezeichnet eine Thematik für sich. Die Analytik läßt sie, auchwo sie auf das ihr selbst Korrelative leistender Subjektivität zurück-geht, außer Frage. Sie läßt bei der offenen Unbestimmtheit ihrerTermini außer Frage, ob die in ihren Form-Allgemeinheiten auf-tretenden Termini letzte Substantivitäten und Adjektivitäten ausErfahrung sind, oder aus schon syntaktischen Aktionen stammendeGebilde. Ihre formale Deutlichkeitsevidenz betrifft also nur dieEigentlichkeit der syntaktischen Bildung, während die Terminigewissermaßen frei schwebend bleiben hinsichtlich ihres Ursprungs,also ihrer Möglichkeit. Dem entspricht, daß das thematische Interesseauch bei sachlicher Exemplifizierung oder Anwendung der Analytik,ja schon beim Zusehen, ob ein Schluß analytisch evident ist (ohneRekurs auf Formgesetze), nicht in die sachlichen Termini eindringt,sondern, sie nur in Identität erhaltend, sich rein mit den Syntaxenbefaßt.

Dabei ist das „analytische Urteilen", und in formaler Allgemein-heit das der Analytik selbst, natürlich auch in dem Sinne alsanalytisch zu bezeichnen, den Kant mit den Worten der bloßenErkenntniserläuterung gegenüber einer Erkenntniserweiterung zufassen suchte. Denn das kann ja nur bedeuten, daß das analytischeInteresse rein auf die Möglichkeit der Deutlichkeitsevidenz geht,welche in der eigentlichen Vollziehbarkeit der Urteilsakte aller syn-taktischen Stufen liegt, und daß für diese die Evidenz der jeweiligenVorgegebenheiten irrelevant ist. Das dient der Logik: Die in sichgeschlossene Gesetzlichkeit der „Widerspruchslosigkeit" fundiert die-

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jenige möglicher Wahrheit. Die Erkenntnis wird nicht „bereichert"— bei allem analytischen Tun bleibt man bei dem, was man urteils-bzw. erkenntnismäßig schon „hatte"; alles analytisch Erwachsende istdarin „beschlossen". Nur daß man so oft das Genie des Mathematikerszu Hilfe nehmen muß, um die bloße „Verdeutlichung" oder „Er-läuterung" zustande zu bringen. Denkt man ideell das ganzeanalytische Absehen auf eine beliebige, offen-endlose Vorgegebenheits-sphäre bezogen, so hat man in allen Stufen analytischer Leistung„immer dasselbe", dieselben Sachen, dieselben Sachverhaltsbestände.Was man erschließt, ist schon da, es steht sachlich in totaler oderpartialer Identität zu den Voraussetzungen. Eben das bestimmtoffenbar die in der neueren Logistik hervortretende Begriffsbildungund Lehre von der „T aut o 1 o gi e", unter die jeder geschlosseneanalytische Zusammenhang fällt.

Es dürfte von Interesse sein, die auf sie bezüglichen, sie zugleichin eine „reine" Analytik einbeziehenden Bemerkungen kennen zulernen, die Professor 0. Becker freundlichst zur Verfügung gestellt hat.

§ 4. Bemerkungen über Tautologie im Sinne der Logistik.

Von 0. Becker.

(Zu §§ 14-18 des Haupttextes.)

Nach der Anschauung der Logistik kann eine Tautologie auf-gefaßt werden als das Negat eines Widerspruchs, und umgekehrt istjedes Negat eines Widerspruchs eine Tautologie. Aus dieser„Definition" ergibt sich der rein analytische Charakter der gekenn-zeichneten Tautologien. Sie sind gewissermaßen selbstgenugsameKonsequenzsysteme, die keiner außerhalb ihrer gelegenen Prämissenbedürfen. Die Eigenart der Tautologie tritt in strenger Analogie zuder des Widerspruchs hervor, wenn man zunächst das Gebiet derreinen Analytik verläßt und die mögliche Wahrheit und Falschheitvon Urteilen in Rücksicht zieht (s. Haupttext § 19):

„Jeder Widerspruch schließt von vornherein Fragen der Ad-äquation aus, er ist a limine Falschheit" (S. 58). Genau entsprechendgilt: Jede Tautologie schließt von vornherein Fragen der Adäquationaus, sie ist a limine Wahrheit.

Bildet man durch logische Operationen aus den Urteilen pi,p, die komplexe Form P pn), die vermöge ihrer rein

grammatischen Struktur selbst ein Urteil darstellt, so ist P dann undnur dann eine Tautologie bzw. ein Widerspruch, wenn P wahr bzw.falsch ist, gleichgültig, ob die Urteile pi,p2,...pn wahr

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oder falsch sind ). Die Frage der Adäquation der Urteilssinnevon ih, P2e • • • pu an irgendwelche formal-ontologischen oder gar mate-rialen Sachverhalte ist also hier ohne jede Relevanz.

Man kann diese Definitionen nun aber auch entsprechend in derrein analytischen Sphäre, also stricte ohne jede Benutzung einesWahrheits- oder Falschheitsbegriffes aufstellen:

„P ist eine Tautologie bzw. ein Widerspruch" besagt: „P (p1, p2,- -Pn)ist mit p, wie mit Nicht-p 1, mit p 2 wie mit Nicht-p 2, , mit p,.wie mit Nicht-p u verträglich bzw. unverträglich." (D. h. P ist, je nach-dem es eine Tautologie oder ein Widerspruch ist, mit jedem logischenProdukt, das aus pl p.. ih, dadurch entsteht, daß man beliebigep i durch ihre Negate ersetzt, verträglich bzw. unverträglich.)

Dies Verfahren der Verwandlung einer „wahrheitslogischen" ineine „konsequenzlogische" Formulierung läßt sich offenbar auch indem allgemeineren Fall anwenden, wo gesagt werden soll, daßP (p, p 2, ih) wahr (bzw. falsch) ist, wenn gewisse p i wahr, dieübrigen p i falsch sind. Die rein analytische Fassung lautet dann: dasNegat von P (bzw. P selbst) ist mit einem bestimmten logischenProdukt von Aussagen unverträglich, das aus p 1 P2 pu dadurchentsteht, daß man die oben genannten pi (und nur sie) durch ihreNegate ersetzt. (Streng genommen muß man noch den Satz vom aus-geschlossenen Dritten für diejenigen Urteile voraussetzen, von denenNegate gebildet werden. Sonst müßte man der Unverträglichkeit desNegats von q mit r jeweils durch ein positives Beschlossensein vonq in r ersetzen.) — Damit dürfte im wesentlichen die Vermeidbarkeitdes Wahrheitsbegriffes in der ganzen Logistik gezeigt sein.

Ebenso wie Wahrheit ein Prädikat ist, das nur einem deutlichen(nicht widerspruchsvollen) Urteil zukommen kann (S. 58), ist Falsch-heit ein Prädikat, das nur einem nicht-tautologischen, das ist einem inder bloßen Sphäre der Deutlichkeit nicht bereits selbstverständlichenUrteil zukommen kann.

Ebenso wie die Unstimmigkeit der in einem komplexen Urteilenthaltenen „Teilsinne" („Teilsätze") die Wahrheit, so schließt die„Selbststimmigkeit" (tautologische Struktur) der Teilsinne die Falsch-heit, und zwar beide Male a limine, aus. Beidem, der möglichenWahrheit wie der Falschheit, offen sind nur die zwar einstimmigenaber nicht „selbststimmigen", die zwar deutlichen aber nicht „selbst-deutlichen" Urteile.

1) Diese Charakteristik der Tautologie stammt von L. Wittg enstein

(„Tractatus logico-philosophicus", London 1922, auch in den Annalen der Natur-

und Kulturphilosophie, Bd. 14 [1921]).

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Es wurde schon zu Anfang gesagt, daß die Negate von Tauto-logien Widersprüche sind und vice versa. Damit hängt zusammen, daßin der ganzen tautologisch-kontradiktorischen Urteilssphäre der Satzvom ausgeschlossenen Dritten gilt, was bekanntlich in derrein analytischen Sphäre im allgemeinen nicht der Fall ist (s. § 90;vgl. § 77). Das beruht offenbar darauf, daß — sobald man die Ideemöglicher Wahrheit bzw. Falschheit hinzunimmt — die En t -scheidbarkeitsf rage der Wahrheit und Falschheit eines Urteilsder tautologisch-kontradiktorischen Sphäre a limine im positivenSinne gelöst ist (vgl. § 79).

Erratu m. S. 78 ist Anm. 4 zu streichen.