I. Die Außenpolitik der Volksrepublik China – gestern und heute · 2009. 5. 14. · 5 Welche...

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Inhaltsverzeichnis Susanne Luther Einführung......................................................................................................................... 3 I. Die Außenpolitik der Volksrepublik China – gestern und heute Peter J. Opitz Grundprobleme und Grundzüge der chinesischen Außenpolitik zwischen 1949 und 1989 – Eine Einführung ........................................................... 9 Jürgen Domes Die Außen- und Innenpolitik der Volkrepublik China zu Beginn des neuen Jahrhunderts .......................................................................................... 21 Günter Kast China und Amerika – Schwierige Partner ............................................................. 33 Peter J. Opitz Szenarien einer militärischen Konfrontation ......................................................... 39 Joachim Glaubitz China – Stabilität und Wandel in den Beziehungen zu seinen Nachbarn .............. 49 II. Weltmacht China? Aktuelle Entwicklungen in der chinesischen Sicherheitspolitik Frank Umbach Die chinesischen Streitkräfte auf dem Weg zu einer militärischen Supermacht? – Sicherheits-, rüstungs- und militärpolitische Strategien und ihre Auswirkungen auf die regionale Stabilität ..................................................... 59 Martin Wagener China und die Selbstmandatierung der NATO ...................................................... 93 Oskar Weggel Vom Unruhestifter zur Ordnungsmacht – China in der UNO............................. 133 III. Chinas Rolle in der Weltwirtschaft Marcus Taube Die Rolle der VR China in der Weltwirtschaft: Supermacht oder Nebendarsteller?................................................................................................... 139 Margot Schüller Chinas WTO-Beitritt: Internationale und nationale Auswirkungen.................... 153

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Inhaltsverzeichnis

Susanne LutherEinführung......................................................................................................................... 3

I. Die Außenpolitik der Volksrepublik China – gestern und heute

Peter J. OpitzGrundprobleme und Grundzüge der chinesischen Außenpolitikzwischen 1949 und 1989 – Eine Einführung........................................................... 9

Jürgen DomesDie Außen- und Innenpolitik der Volkrepublik China zu Beginndes neuen Jahrhunderts .......................................................................................... 21

Günter KastChina und Amerika – Schwierige Partner ............................................................. 33

Peter J. OpitzSzenarien einer militärischen Konfrontation......................................................... 39

Joachim GlaubitzChina – Stabilität und Wandel in den Beziehungen zu seinen Nachbarn.............. 49

II. Weltmacht China? Aktuelle Entwicklungen in der chinesischenSicherheitspolitik

Frank UmbachDie chinesischen Streitkräfte auf dem Weg zu einer militärischenSupermacht? – Sicherheits-, rüstungs- und militärpolitische Strategien undihre Auswirkungen auf die regionale Stabilität ..................................................... 59

Martin WagenerChina und die Selbstmandatierung der NATO ...................................................... 93

Oskar WeggelVom Unruhestifter zur Ordnungsmacht – China in der UNO............................. 133

III. Chinas Rolle in der Weltwirtschaft

Marcus TaubeDie Rolle der VR China in der Weltwirtschaft: Supermacht oderNebendarsteller?................................................................................................... 139

Margot SchüllerChinas WTO-Beitritt: Internationale und nationale Auswirkungen.................... 153

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Yao Xian-guoChinas Rolle im internationalen KapitalverkehrAusländische Investitionen in China und chinesische Investitionenim Ausland ........................................................................................................... 173

IV. Die Beziehungen der Volksrepublik China zu Europa

Lian Yu-ruDie Westeuropapolitik der VR China an der Schwelle zum 21. Jahrhundert...... 181

Franco AlgieriDie Europäische Union und China: Zwischen Realpolitik undinstitutioneller Dynamik ...................................................................................... 191

Autorenverzeichnis............................................................................................199

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Susanne Luther

Einführung

Jubiläen sind ein willkommener Anlass für Bestandsaufnahmen und die Diskussion überZukunftsperspektiven. Dies war auch im vergangenen Jahr beim 50. Jahrestag der Gründungder Volksrepublik China der Fall. Die Frage, welchen Weg die Volksrepublik an der Schwellezum neuen Jahrtausend einschlagen werde, beschäftigte Politiker, Experten und Analytiker inaller Welt und selten gab es auf eine Frage gegensätzlichere Antworten.

Von "Supermacht" über beachtenswerte "Regionalmacht" bis zum "Nebendarsteller derinternationalen Beziehungen" reichen die Prädikate, die der Volksrepublik im 50. Jahr ihresBestehens verliehen wurden. So gab es auf der einen Seite die offizielle Definition von Staats-und Parteichef Jiang Zemin, der die künftige Rolle seines Landes in der Weltpolitik mit denSchlagworten "unabhängige Außenpolitik", "Widerstand gegenüber jeglichemVormachtsstreben in der asiatisch-pazifischen Region" und "Förderung weltweiterMultipolarität" absteckte.1 Eine Reihe westlicher Chinakenner hingegen sahen sich imchinesischen Jubiläumsjahr zu verhaltener und nicht selten offener Kritik veranlasst. Eines derprominentesten Be ispiele ist der bei aller Sachlichkeit bewusst provozierende Aufsatz "DoesChina Matter?" 2 von Gerald Segal. Diese Analyse, in der der mittlerweile verstorbeneamerikanische Experte China allenfalls den Status einer zweitklassigen Mittelmacht, die dieKunst des diplomatischen Ränkeschmiedens meisterlich beherrscht, zugestehen will, gehörtzu den von Wissenschaftlern und Journalisten am häufigsten zitierten Stellungnahmen.

Auch bei den deutschsprachigen Asienexperten ist die Rolle, die die Volksrepublik China imkommenden Jahrhundert in der Weltpolitik spielen wird, umstritten. Dies ist das Ergebniseines Werkstattgesprächs, das die Akademie für Politik und Zeitgeschehen Ende vergangenenJahres gemeinsam mit dem Geschwister-Scholl-Institut für Politische Wissenschaft derLudwig-Maximilians-Universität München in Wildbad Kreuth veranstaltet hat. Trotz der nochallgegenwärtigen Erinnerung an die Aufmärsche und Paraden mit denen Parteiführung undMilitär sich im Oktober 1999 in Peking mit enormem Aufwand selbst zelebriert hatten, gelangbei diesem Expertengespräch eine differenzierte und sachliche Debatte um Chinas künftigeRolle in der Welt, die die Emotionalität, mit der das Thema China immer noch öffentlichbehandelt wird, zur Kenntnis nahm, ohne sich dieser selbst anzuschließen. Dennoch hätten dieEinschätzungen darüber, welche Rolle die Volksrepublik China künftig spielen werde,unterschiedlicher nicht sein können.

Die Aussage "China matters!", um bei den Worten Segals zu bleiben, war der einzigegemeinsame Nenner, auf den sich der Expertenkreis, den auch zwei Wissenschaftler aus derVolksrepublik China (Lian Yu-ru und Yao Xian-guo) bereicherten, nach anregenden undkontroversen Diskussionen einigen konnte. Unterschiedliche Einschätzungen gab es aber, wasdie künftige politische, militärische und wirtschaftliche Rolle der Volksrepublik in der Regionund auch in den internationalen Beziehungen betraf. Sie werden in der im Folgendenabgedruckten Auswahl der überarbeiteten Redebeiträge deutlich.

1 Vgl.: Süddeutsche Zeitung, 2./3.10.2000 ("Jiang Zemin ruft sein Volk zu ‚harter Arbeit ' auf").2 Vgl.: Segal, Gerald: Does China matter?, in: Foreign Affairs, Bd.78, Nr.5 (September/Oktober 1999),

S.24-36.

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Peter J. Opitz, Mitinitiator des Werkstattgesprächs, stellt in seinem Aufsatz Grundproblemeund Grundzüge der chinesischen Außenpolitik dar. Der Beobachtungszeitraum seinesBeitrags reicht von den ersten außenpolitischen Schritten der Volksrepublik bis ins Jahr 1989,in dem sich die chinesische Führung mit ihrem Vorgehen gegen die Demonstranten auf demPlatz des Himmlischen Friedens kurzfristig ins diplomatische Abseits manövrierte. PekingsKonstanten in Perzeption und Handeln, die Opitz für diese vier Jahrzehnte aufzeigt, werdenvon den Autoren, die aktuelle Entwicklungen chinesischer Außenpolitik analysieren,aufgegriffen und ziehen sich als roter Faden durch den Sammelband. Nationalismus,Antihegemonismus und die Neigung, "den Kampf der Tiger aus der Ferne zu beobachten",d.h. Gegner oder Konkurrenten gegeneinander auszuspielen, und sich auf diese WeiseVorteile zu sichern, seien hier als wichtigste genannt.

Mit unterschiedlicher Intensität schließen sich eine Reihe von Wissenschaftlern der WarnungSegals vor einer "notorischen Überschätzung der wirtschaftlichen und politischenLeistungsfähigkeit der chinesischen Kommunisten im Westen" (Jürgen Domes) an. FrankUmbach verneint erwartungsgemäß die rhetorische Frage im Titel seinersicherheitspolitischen Analyse, ob die chinesischen Streitkräfte auf dem Weg zu einermilitärischen Supermacht seien, und spricht stattdessen von einem "Großmachtsanspruch auftönernen Füßen". Um auf globaler Ebene mit den Vereinigten Staaten von Amerikakonkurrieren zu können, müsste die Volksrepublik eine Reihe von strukturellen, historischtradierten und systemimmanenten Schwächen überwinden. Umbach unterstützt Segals These,wenn er konstatiert, Peking habe es, "dank geschickter Diplomatie vermocht, dass sowohl derWesten als auch die Nachbarstaaten bereits heute China als aufsteigende Großmacht mitregionalem Macht- und Dominanzanspruch, nicht nur so perzipieren, sondern auch ihrePolitik entsprechend ausrichten."

Die Rolle des Westens, insbesondere der USA, in Nordostasien ist ein weiterer interessanterStreitpunkt, über den sich Chinaexperten keineswegs einig sind. Günter Kast gehört zudenjenigen Politikwissenschaftlern, die von einem Aufstieg der Volksrepublik China voneiner Regional- zur Großmacht ausgehen. Dies bringe mit sich, dass China langfristig eineamerikanische Präsenz in Fernost nicht mehr akzeptieren werde. Als Ausweg aus diesemDilemma schlägt er ein schrittweises Disengagement der USA aus der Region verbunden mitdem Aufbau einer multilateralen Sicherheitsarchitektur vor. Die Tatsache, dass Washingtontrotz aller Bekenntnisse zu einer multilateralen Sicherheitsstruktur in Asien an seinenbilateralen Sicherheitsbeziehungen festhält, das von der nach wie vor ungelösten Taiwanfrageausgehende Konfliktpotenzial und das zwiespältige Verhältnis Pekings zu Tokio sind nur dreiPunkte, die gegen diese Prognose angeführt werden können. Für eine Reihe der Autorenwiegen diese Gefahrenpunkte mehr (Joachim Glaubitz in seinem Aufsatz über ChinasBeziehungen zu seinen Nachbarn Japan, Russland und Indien, Peter J. Opitz in einemzusätzlichen aktualisierten Beitrag über Konfliktszenarien auf Taiwan). Wenn auchunwahrscheinlich, so doch im Rahmen des Möglichen erscheint einer Mehrheit der Experteneine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Taiwan und dem Festland.

Neben aktuellen Entwicklungen in der chinesischen Sicherheitspolitik spielt auch ChinasRolle in der Weltwirtschaft eine wichtige Rolle. Weder als Supermacht noch alsNebendarsteller will Marcus Taube die Volksrepublik China verstanden wissen. Dies dürftesich auch durch einen Beitritt der Volksrepublik China zur Welthandelsorganisation (WorldTrade Organization, WTO) nicht ändern, von dem Margot Schüller langfristig betrachtetVorteile für Peking erwartet.

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Welche Qualität die Beziehungen der Volksrepublik China zu Europa am Beginn des 21.Jahrhunderts haben, lautet die Frage, die die einzelnen Analyseschwerpunkte am Ende diesesBandes synoptisch zusammenführt.3 Interessanterweise fällt hier sowohl die deutsche (FrancoAlgieri) als auch die chinesische Analyse (Lian Yu-ru) zurückhaltend, wenn nicht garpessimistisch aus. Die unterschiedliche Integrationsdichte innerhalb der Europäischen Unionist eines der Argumente, das Algieri anführt. Mit einem weiteren schließt er den Bogen zu denvon Peter J. Opitz eingangs aufgezeigten Konstanten chinesischer Außenpolitik: Peking sei esin der Vergangenheit immer wieder gelungen, "nicht nur die EU-internenMeinungsverschiedenheiten zur Durchsetzung eigener Interessen zu nutzen, sondern auch denWettbewerb zwischen der EU und den Vereinigten Staaten um den chinesischen Markt zuinstrumentalisieren". So scheint es, dass auch hier künftig der Kampf der Tiger aus der Fernebeobachtet werden wird.

3 Vgl.: hierzu auch Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen 17: Luther, Susanne/Opitz, Peter J.

(Hrsg.): Die Beziehungen der Volksrepublik China zu Westeuropa – Bilanz und Ausblick am Beginn des21. Jahrhunderts, München 2000.

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I. Die Außenpolitik derVolksrepublik China- gestern und heute

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Peter J. Opitz

Grundprobleme und Grundzüge der chinesischen Außenpolitikzwischen 1949 und 1989 – Eine Einführung

Um die Außenpolitik eines Landes zu verstehen, reicht es nicht aus, sie nur in ihren Abläufenzu beschreiben. Nicht minder wichtig ist die Kenntnis einer Reihe von Bestimmungsfaktoren,die ihr zu Grunde liegen und die ihr Sinn und Richtung geben. Nur zwei von ihnen seien hierkurz angesprochen. Zum einen: die allgemeinen und die besonderen Rahmenbedingungen,unter denen sich das außenpolitische Verhalten eines Landes vollzieht – und zu diesenRahmenbedingungen gehört natürlich auch der tiefere historische Hintergrund, vor dem sichdas gegenwärtige Geschehen abwickelt. Und zum anderen: die Zielsetzungen der politischenEliten und die ihnen zu Grunde liegenden, auch ihr außenpolitisches Verhalten motivierendenErfahrungen.

Bevor näher auf jene Rahmenbedingungen eingegangen wird, in denen sich die chinesischeAußenpolitik seit 1949 vollzog, sei kurz auf einige solcher motivierender Grunderfahrungenhingewiesen, die nicht nur für das Verständnis der vergangenen vier Jahrzehnte chinesischerAußenpolitik von zentraler Bedeutung sind, sondern darüber hinaus auch Konstanten für dasVerhalten der chinesischen Führung in der mittelbaren Zukunft darstellen:

Der Stolz auf eine große Vergangenheit, die durch drei Aspekte gekennzeichnet war: durcheine bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts reichende unangefochtene Vormachtstellung desReichs der Mitte in der asiatischen Region; durch hervorragende zivilisatorische Leistungen,die auf das gesamte regionale Umfeld ausstrahlten sowie schließlich durch ein Gefühlsittlicher Überlegenheit über die politische Umwelt, von der die chinesische Führungwiederum einen quasi-natürlichen Führungsanspruch ableitete.

Ein tiefes Trauma als Folge der Ereignisse und Entwicklungen der vergangenen 150 Jahre,durch die jener Stolz erheblich angeschlagen wurde. Denn keines der drei Elemente, auf die ersich bezog und aus denen er sich speiste, hatte weiterhin Bestand; jedes hatte erheblichenSchaden genommen: Die politische Vormachtstellung des Reichs der Mitte verfiel, und Chinawurde zum "kranken Mann" des Fernen Ostens; der Glanz der großen zivilisatorischenVergangenheit verblasste unter den Eindruck der wissenschaftlich-technischen Zivilisationdes Westens, der sich auch militärisch durchsetzte; und auch das Gefühl sittlicherÜberlegenheit, das sich vor allem aus der konfuzianischen Ziviltheologie gespeist hatte,wurde durch die schwere Krise, in die der Konfuzianismus zu Beginn des 20. Jahrhundertsgeriet, nachhaltig erschüttert. Diese Erschütterung erreichte ihren Höhenpunkt während deskulturrevolutionären Umbruchs zwischen 1916 und 1919.4 Zu den Folgen dieses"Jahrhunderts der Schmach" gehört auch eine sehr ambivalente Bewusstseinshaltung, in derdrei Elemente dominieren: das Gefühl verletzten Stolzes; ein tiefer kulturellerMinderwertigkeitskomplex sowie ausgeprägte Ressentiments gegenüber jenen Mächten, dieman für dies alles verantwortlich machte. Diese Bewusstseinshaltung ist wiederum Quelleeines Nationalismus, der nach dem inzwischen erfolgten Zerfall der kommunistischenIdeologie zur neuen Legitimationsbasis der kommunistischen Partei Chinas zu werden

4 Siehe dazu: Levenson, Joseph R.: Confucian China and its modern Fate, Berkeley and Los Angeles 1958;

dazu: Chow, Tse-tsung: The May Fourth Movement. Intellectual Revolution in Modern China. Stanford1960.

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beginnt. Nachdem die KP Chinas nicht mehr kommunistisch ist, muss sie – wie ThomasChristensen zurecht bemerkte – umso mehr chinesisch sein. 5

Die Erfahrung, dass Gewalt ein wesentliches Element der Politik ist und insofern auch einlegitimes Mittel chinesischer Außenpolitik. Hinter dieser Erfahrung stehen anderthalbJahrhunderte kontinuierlicher Aggression von außen sowie eine ebenso lange Kette vonBürgerkriegen im Inneren – von der Taiping-Rebellion bis zum Endkampf zwischen derNationalen Volkspartei (Kuomintang) und den chinesischen Kommunisten. Die Erfahrung,dass Gewalt ein legitimes Mittel der Politik ist, hatte schon den Hunan-Bericht Maos geprägtund war bald zu dem Prinzip kristallisiert, dass politische Macht aus der Mündung derGewehre kommt. Diese Überzeugung fand ihren Ausdruck auch in einer Reihe militärischerInterventionen der chinesischen Kommunisten: 1950 im Korea-Konflikt; 1962 im Krieg mitIndien, um strittige Gebiete im Himalaya und 1979 im Straffeldzug gegen Vietnam. Damitsoll nicht gesagt sein, dass China gewaltbereiter wäre als andere Staaten – doch es scheint,dass auf Grund der genannten Erfahrungen die Schwelle zum Einsatz von Gewalt niedrigerliegt.

Neben diesen drei Grunderfahrungen sind zwei weitere Faktoren für das außenpolitischeVerhalten der kommunistischen Führung in Peking charakteristisch und damit für dasVerständnis der chinesischen Außenpolitik seit 1949 unverzichtbar: Zum einen dieausgeprägte Neigung chinesischer Staatsmänner, Politik in globalen Dimensionen zu sehenund auch anzulegen. Dabei dürfte es sich sowohl um ein Erbe der chinesischen Vergangenheithandeln, in der sich das Reich der Mitte immer als Weltmacht verstand, wie auch als eineFolge des Tatbestandes, dass die Konflikte, in die China seit Beginn des 20. Jahrhundertsinvolviert war, zumeist globaler Natur waren. Das heißt nicht, dass die chinesischeAußenpolitik des vergangenen Jahrhunderts immer Weltpolitik war oder gar dass China heuteschon Weltmacht ist, sondern verweist lediglich auf die Dimensionen, in denen diechinesische Führung denkt und ihre Politik formuliert. Der zweite Faktor ist die Neigung derchinesischen Führung, ihre außenpolitischen Gegner gegeneinander auszuspielen. Auch hierstehen im Hintergrund alte Traditionen – sei es ein Strategem wie "Barbaren durch Barbarenbekämpfen" (yiyizhiyi), sei es die Strategie wechselnder Allianzen, wie sie im chinesischenKlassiker "Die Romanze der drei Königreiche" anschaulich beschrieben wird – eineLieblingslektüre Mao Zedongs, der unter dem Einfluss marxistisch-leninistischenGedankenguts Mitte der 30er-Jahre seine Theorie vom Widerspruch entwickelte, die in derSache auf Ähnliches hinausläuft.6 Eine besondere Färbung müssen solche Strategeme inZeiten der Schwäche annehmen – und die chinesischen Kommunisten befanden sich zumeistin Situationen der Schwäche, sei es während des Bürgerkrieges mit der Kuomintang zwischen1927 und 1949, sei es in den Kriegen gegen Japan zwischen 1931 und 1945 und sei es späternach 1949 in den Konflikten mit den beiden "Supermächten". Das Strategem "Barbaren durchBarbaren bekämpfen" musste deshalb schon bald durch eine Strategie wechselnderEinheitsfronten ergänzt werden. 7

Damit sind wir bei der Ausgangssituation, in der sich die chinesischen Kommunistenbefanden, als sie im Oktober 1949 die Volksrepublik China ausriefen. Die Welt war geteilt,

5 Christensen, Thomas J.: Chinese Realpolitik, in: Foreign Affairs, Vol.75, No.5, September/October 1996,

S.37-52.6 Siehe dazu: Mao, Tse-tung: Über die Praxis sowie Über den Widerspruch, in: Mao, Tse-tung: Ausgewählte

Werke, Bd.1, Peking 1968, S.347-408.7 Siehe dazu im Einzelnen: Gu, Xuewu: Ausspielung der Barbaren. China zwischen den Supermächten in der

Zeit des Ost-West-Konflikts, Baden-Baden 1998.

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und sie sollte es – das war eine Konstante der Rahmenbedingungen, unter denen sich dieFormulierung der chinesischen Außenpolitik in den nächsten vier Jahrzehnten vollzog – bis1989 bleiben. Insofern erfolgte die eigentliche Zäsur für die chinesische Außenpolitik aucherst zu Beginn der 90er-Jahre, als diese bipolare Struktur zerfiel. Diese Struktur – so dieThese – war für die chinesische Führung insofern ein Glücksfall, als sie ihr idealeMöglichkeiten bot, zwischen den beiden Blöcken zu lavieren und beide "Supermächte"gegeneinander auszuspielen – was allerdings nur in den 80er-Jahren für eine kurze Zeitgelang – bzw. sich gegen die gefährlichere der beiden mit der weniger gefährlichen zuverbünden, was erheblich häufiger geschah.

Wichtigstes Kriterium außenpolitischen Handelns war dabei immer das nationale InteresseChinas, das allerdings zumeist durch revolutionäre Rhetorik verdeckt bzw. in eine"revolutionären" Perspektive integriert wurde. Behauptungen, Chinas Außenpolitik weiserevolutionäre Phasen auf und die chinesische Führung habe insbesondere in der ersten Phaseeine "revolutionäre Außenpolitik" betrieben, sind insofern überaus problematisch. So teilteerst kürzlich wieder Denny Roy in seiner 1998 erschienenen Studie China's Foreign Relationsdie chinesische Außenpolitik hinsichtlich ihrer Grundorientierungen in drei Perioden ein: ineine revolutionäre Periode ab 1949, in eine Periode des "strategic triangle" ab 1971 sowie ineine dritte Periode der "Offenen Tür" seit 1979.8 Wenn die chinesische Führung in den vierJahrzehnten zwischen 1949 und 1989 jemals eine "revolutionäre" Außenpolitik betrieb – seies mit dem Ziel einer Weltrevolution zur Befreiung des Proletariats, sei es zur Befreiung derso genannten "Dritten Welt", – so geschah dies jeweils nur dann, wenn eine solche Politiksich im Einklang mit den nationalen Interessen Chinas befand. So zeigte etwa eine Studie vonPeter van Ness, dass von den 120 bewaffneten Revolutionsbewegungen, die es 1965 in der"Dritten Welt" gab, China nur jene 23 unterstützte, die gegen mit Washington verbündeteRegierungen kämpften. 9 Wenn Gerald Segal die chinesische Führung als Meister derMaskerade und des politischen Theaters bezeichnete, so gilt dies auch für die chinesischeAußenpolitik, der es über viele Jahre gelang, China als eine Macht zu stilisieren, der es primärum die Schaffung einer neuen und das heißt einer gerechteren Weltordnung ging.10 ImZweifelsfall fiel die Entscheidung allerdings immer zu Gunsten der nationalen InteressenChinas bzw. der Machtinteressen der kommunistischen Partei Chinas aus.

1. Allianz mit Moskau: Glanz und Elend einer strategischen Partnerschaft

Vor allem von nationalen Interessen geprägt war schon der Kurs, den die kommunistischeFührung Ende der 40er-Jahre einschlug, als sie die Macht in China übernahm. Die LageChinas zu jener Zeit war desolat: Das Land war als Folge von einem Jahrhundertununterbrochener Bürgerkriege ausgeblutet und wirtschaftlich geschwächt; der Bürgerkriegmit der Kuomintang war noch immer nicht abgeschlossen; eine Reihe von Territorien an derPeripherie des Landes – Xinjiang, Tibet, die Mandschurei – drohte der Kontrolle derZentralregierung zu entgleiten; die Beziehungen zu den beiden Großmächten warenproblematisch – zu den USA, die im Bürgerkrieg die chinesischen Nationalisten unterstützt

8 Roy, Denny: China's Foreign Relations, Lanham, MD: McMillan, S.13.9 van Ness, Peter: Revolution and Chinese Foreign Policy. Bejing's Support for Wars of National Liberation,

Berkeley, Los Angeles and London 1971.10 Segal, Gerald: Does China Matter?, in: Foreign Affairs, Vol.78, No.5, September/October 1999, S.24-36.

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hatten und den chinesischen Kommunisten ablehnend gegenüber standen sowieso, aber auchzur Sowjetunion, wie Dieter Heinzig es erst kürzlich im Einzelnen nachwies.11

In dieser Situation boten sich der chinesischen Führung drei außenpolitische Optionen:Annäherung an die Vereinigten Staaten; Suche nach einem "Dritten Weg" zwischen denbeiden Blöcken; Anlehnung an die Sowjetunion. Wenn sie sich trotz der schlechtenErfahrungen, die Mao Zedong seit der Gründung der Kommunistischen Partei Chinas 1921mit Stalin gemacht hatte, schließlich für eine "einseitige Anlehnung" an Moskau entschied, sowar dies nicht nur auf die ablehnende Haltung Washingtons zurückzuführen, sondern auchResultat der Einsicht, dass damit den eigenen nationalen und Machtinteressen am bestengedient war: So war es nur im Rahmen einer Allianz mit Moskau möglich, sich mit Stalinüber die strittigen Territoria lprobleme in Xinjiang und in der Manschurei zu einigen. Fernerkonnte man von Moskau, das sich inzwischen im Kalten Krieg mit dem Westen befand undinternational auf zuverlässige Verbündete angewiesen war, strategischen Schutz,wirtschaftliche Hilfe beim Wiederaufbau des Landes sowie Unterstützung bei derinternationalen Anerkennung, insbesondere in den Vereinten Nationen, erwarten. Für eineAnlehnung an Moskau sprachen auch das gemeinsame Weltbild sowie ein ideologischerKonsens in einer Reihe wichtiger Fragen.

Zur Politik der "einseitigen Anlehnung" an Moskau, die im Februar 1950 in einemFreundschafts- und Beistandsabkommen vertraglich besiegelt worden war, gab es nach demEingreifen chinesischer Freiwilligenverbände in den Bürgerkrieg auf der koreanischenHalbinsel noch weniger eine Alternative. Denn nun dehnte Washington seine containment-Politik auch auf die VR China aus, und dazu gehörte auch die politische Aufwertung und diemilitärische Aufrüstung der Republik China auf Taiwan.

Neben der Anlehnung an Moskau wies die Außenpolitik der chinesischen Kommunisten indieser ersten Phase noch zwei weitere Kernelemente auf: Das eine war die Unterstützung pro-chinesischer oder zumindest neutraler Eliten an der südlichen Peripherie Chinas. Das galtinsbesondere für Indochina, wo die Pekinger Führung den Kampf der dort operierenden anti-kolonialen Befreiungsbewegungen unterstützte; es galt jedoch auch für andere TeileSüdostasiens, etwa für Malaysia und Indonesien. Zusammen mit dem Eingreifen auf derkoreanischen Halbinsel, der Besetzung Tibets und der Konsolidierung der chinesischenPosition in der Mandschurei und in Xinjiang stand hinter dieser Politik das Bestreben, dieinneren und äußeren Grenzen des Landes zu konsolidieren.

Das dritte Kernelement bildete das Bestreben der chinesischen Führung, sich aus deraußenpolitischen Isolierung zu befreien und Optionen außerhalb des "sozialistischen Lagers"zu schaffen, die die Abhängigkeit von Moskau verringern und neue Handlungsspielräumeeröffnen sollten. Erste Vorstöße in diese Richtung erfolgten schon Mitte der 50er-Jahre aufder Genfer Indochina-Konferenz 1954, auf der Zhou Enlai wesentlich zu einer befriedigendenLösung beitrug und damit eine erste Entspannung gegenüber den Staaten Westeuropaseinleitete; 1955 auf der Bandung-Konferenz, auf der Zhou Enlai China als eine an friedlicherKoexistenz und guter Nachbarschaft interessierte Macht zu profilieren und anti-chinesischeAnimositäten zu zerstreuen suchte; sowie im selben Jahr in Form von Versuchen, dasVerhältnis zu Washington zu verbessern, was zwar letztlich scheiterte, aber doch im August1955 zur Aufnahme informeller Botschaftergespräche zwischen den USA und derVolksrepublik China führte.

11 Heinzig, Dieter: Die Sowjetunion und das kommunistische China 1949 bis 1950. Der beschwerliche Weg

zum Bündnis, Baden-Baden 1998.

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Ein zweiter Vorstoß erfolgte zehn Jahre später, nun schon im Schatten des sich vertiefendenKonflikts mit Moskau. Die Verschlechterung der sino-sowjetischen Beziehungen hatte schonbald nach dem 20. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 eingesetzt, auf dem Chruschtschowsich von Stalin distanziert und zugleich die Prinzipien der "friedlichen Koexistenz" zurGenerallinie der internationalen kommunistischen Bewegung erhoben hatte. WährendChruschtschow mit der neuen Politik die Gefahr einer nuklearen Konfrontation mit den USAentschärfen und über Bündnisse mit den Ländern der "Dritten Welt" die kapitalistischenStaaten weltweit zu isolieren suchte, witterte Mao hinter ihr den Versuch Moskaus, sich mitWashington zu arrangieren, die eigenen Verbündeten, insbesondere China, aber inAbhängigkeit zu halten. Die sowjetische Politik der kommenden Jahre schien diesen Verdachtzu bestätigen: die einseitige sowjetische Kündigung des erst 1957 geschlossenen Abkommensüber sowjetische Hilfe beim Bau einer chinesischen Atombombe; die Zurückhaltung dersowjetischen Führung in der so genannten Quemoy-Krise im Herbst 1958; der Abzug dersowjetischen Experten aus China im August 1960; die pro-indische Haltung der sowjetischenFührung im indisch-chinesischen Konflikt 1962, vor allem aber die Unterzeichnung desTestsstop-Abkommens im Herbst 1963. Parallel zu diesen Ereignissen vollzog sich eine sichständig vertiefende Verschlechterung der sino-sowjetischen Beziehungen; zugleich gingen aufsowjetischen Druck hin viele der sozialistischen Länder zu Peking auf Distanz. 12

Angesichts der Gefahr einer doppelten Isolierung – durch die USA und ihre Verbündeten wieauch durch die Sowjetunion und das "sozialistische Lager" – unternahm die chinesischeFührung Anfang der 60er-Jahre den Versuch, sich den westlichen Mittelmächten sowie denLändern des "Südens" anzunähern und diese zur Bildung einer gemeinsamen Front gegen diebeiden "Supermächte" zu animieren. Dies schien jedenfalls die tiefere Absicht der sogenannten "Zwischenzonen-Theorie" zu sein, die die chinesische Führung Anfang 1964vorstellte und mit der sie sich von den bis dahin geltenden "Zweilager-Theorie" Moskausverabschiedete.13 Allerdings blieb der Strategiewechsel Pekings schon im Ansatz stecken.Weder waren die westlichen Mittelmächte bereit, auf die chinesischen Avancen einzugehen –mit Ausnahme Frankreichs, das am 24. Januar 1964 diplomatische Beziehungen zur VRChina aufnahm. Noch gelangen der chinesischen Führung größere Geländegewinne in der"Dritten Welt", deren Ländern Peking wenig zu bieten hatte und die sich daher auch eher amWesten bzw. an den Warschauer Paktstaaten orientierten. So reduzierte sich der chinesischeEinfluss auf wenige radikale Süd-Staaten. Doch auch hier musste Peking Mitte der 60er-Jahreschwere Rückschläge hinnehmen, nachdem in kurzen Abständen wichtige Verbündete –Sukarno, Ben Bella und Nkruhmah – durch Militärputsche entmachtet wurden. Weitereaußenpolitische Initiativen erstickten in den Wirren der Kulturrevolution, die 1966 ausbrachund bis 1969 auch die chinesische Außenpolitik lähmten.

Parallel zu den kulturrevolutionären Ereignissen setzte sich die Verschlechterung der sino-sowjetischen Beziehungen fort. 1966 war es zum Abbruch der Parteibeziehungen gekommen;gleichzeitig verschärften sich die Polemiken beider Seiten. Bald darauf begann diechinesische Führung die Möglichkeit eines sowjetischen Angriffes auf China als realeMöglichkeit anzusehen. Das Gefühl der Bedrohung verschärfte sich, als im Herbst 1968 dieTruppen der Warschauer Pakt-Staaten in die ÈSSR einmarschierten, dem Prager Reformkursein gewaltsames Ende bereiteten und das Land wieder fest in den sowjetischen Machtbereich

12 Siehe dazu im Einzelnen: Zagoria, Donald S.: The Sino-Soviet Conflict 1961, New York: Atheneum, 1973;

Opitz, Peter J.: Gezeitenwechsel: Die sino-sowjetischen Beziehungen in historischer Perspektive, Berichtedes Bundesinstituts für ostwissenschaftliche Studien 5/1990.

13 Renmin Ribao; 21. Januar 1964; siehe dazu im Einzelnen: Bechthold, H.: Chinas Revolutionsstrategie, erw.und bearb. Ausgabe, Stuttgart 1969.

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eingliederten – eine Aktion, die man in Peking als Generalprobe für ein größeres, gegen diemaoistische Führung gerichtetes Unternehmen wertete. Im Frühjahr 1969 eskalierte derKonflikt weiter, als es am Ussuri zu blutigen militärischen Auseinandersetzungen über einigekontroverse Inseln kam. Ob China einem größeren Konflikt mit Moskau militärischgewachsen war, war allerdings mehr als fraglich. Obwohl China am 16. Oktober 1964 eineerste Atombombe und am 14. Juni 1977 eine erste Wasserstoffbombe erfolgreich getestethatte, befand sich die chinesische Atomrüstung noch in ihren Anfängen. Doch auch aufkonventioneller Ebene hatte die chinesische Führung den hochmobilen sowjetischenStreitkräften im Fernen Osten wenig Gleichwertiges entgegenzusetzen.

2. Wende gen Westen: eine strategische Rochade

In dieser Situation unternahm die chinesische Führung einen dritten Vorstoß, um sich derdoppelten Konfrontation mit den beiden Supermächten zu entziehen. Mit ihr beganngleichzeitig die zweite Phase der chinesischen Außenpolitik, die Roy unter den Begriff des"strategischen Dreiecks" gestellt hat. Gegen eine solche Charakterisierung spricht allerdings,dass es ein solches "Dreieck" zu jener Zeit noch gar nicht gab. Die chinesische Strategie derAnnäherung an den Westen ähnelte eher derjenigen der ersten Phase – mit dem Unterschied,dass Peking nun den strategischen Schutz der anderen "Supermacht" suchte, der mannatürlich auch weiterhin mit großen Vorbehalten gegenüberstand, und dass es dabei nicht wieim Februar 1950 zu einem formellen Bündnis, sondern eher zu einer informellen strategischenAllianz kam. Dass der chinesische Vorstoß dieses Mal gelang, hatte nicht zuletzt damit zutun, dass die Nixon-Administration die strategische Position der USA gegenüber derSowjetunion zu verbessern und zugleich Hanoi von Peking zu isolieren suchte, umso dieWeichen für einen "ehrenvollen Rückzug" aus Indochina zu stellen.

In der Substanz ging es der chinesischen Führung bei ihrer neuen Strategie letztlich jedenfallsum dieselben nationalen Interessen, die schon dem Bündnis mit der Sowjetunion zu Grundegelegen hatten: Schutz gegen einen möglichen Angriff der anderen "Supermacht", jetzt derSowjetunion; Sprengung der internationalen Isolierung, die sich durch die Kulturrevolutionnoch weiter vertieft hatte; Zugang zu wirtschaftlicher Hilfe, für die durch die Politik der "DreiRoten Banner" und die Kulturrevolution zerstörte Wirtschaft Chinas. Möglicherweise kamnoch eine weitere Überlegung hinzu: die Hoffnung nämlich, über eine strategischeAnnäherung an Washington gleichzeitig auch die Beziehungen zwischen den USA und derRepublik China auf Taiwan unterminieren zu können und so Taipei allmählich in diestrategische Defensive zu drängen.

Der Rückblick zeigt, dass Peking fast alle seine Ziele erreichte – und zwar ohne nennenswerteGegenleistungen an die USA. Weder kam es zu einem sowjetischen Angriff auf dieVolksrepublik noch zu der von Peking befürchteten "Unheiligen Allianz" der beidenWeltmächte, obwohl es von sowjetischer Seite Vorstöße gab, die zu einer solchenEntwicklung hätten führen können. Fast von selbst endete auch die internationale Isolierung;unterhielt Peking Ende 1970 diplomatische Beziehungen mit nur 45 Staaten, so hatte sichderen Zahl ein Jahrzehnt später auf 124 Staaten erhöht. Unter ihnen befanden sich nicht nuralle großen Industriestaaten des Westens, sondern auch die meisten südostasiatischenNachbarstaaten, die nach dem Abzug der amerikanischen Truppen aus Indochina und demSieg der kommunistischen Befreiungsbewegung in Indochina damit begonnen hatten, dieVolksrepublik als eine weitere Schutzmacht gegen den wachsenden Einfluss der Sowjetunionund Vietnam in der Region anzusehen – eine Neigung, die sich Ende 1978 nach dem

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Einmarsch vietnamesischer Truppen ins benachbarte Kambodscha und dem sowjetisch-vietnamesischen Freundschaftsvertrag weiter festigte.

Auch die Erwartungen hinsichtlich Taiwans hatten sich zu einem erheblichen Teil erfüllt:Schon im Herbst 1971 hatte die Mehrheit der Generalversammlung der Vereinten Nationendie Regierung in Peking als die legitime Repräsentantin Chinas in den Vereinten Nationenanerkannt. Während Peking nun den ständigen Sitz Chinas im Sicherheitsrat übernahm,musste die Republik China – immerhin eines der Gründungsmitglieder der Weltorganisation –die UNO verlassen. Gleichzeitig begann die Zahl der Staaten, die die Regierung in Taipeiweiterhin diplomatisch anerkannten, schnell zusammenzuschmelzen – nicht zuletzt auf Druckund Drängen Pekings, das seinen Alleinvertretungsanspruch mit dem Abbruch derBeziehungen zu allen Staaten durchsetzte, die diplomatische Beziehungen zu Taipei aufrechterhielten. Um das Verhältnis zu Peking und damit die gemeinsame strategische Front gegenMoskau nicht zu belasten, hatte auch Washington schon bald damit begonnen, seine aufTaiwan stationierten Truppen abzuziehen. Ende 1978 entschloss sich die Carter-Administration schließlich auch dazu, den Preis zu zahlen, den die chinesische Führung fürdie Normalisierung der amerikanisch-chinesischen Beziehungen forderte: Kündigung desamerikanisch-taiwanesischen Beistandspaktes von 1956 und Abbruch der diplomatischenBeziehungen zur Regierung in Taipei.

Allerdings ließ Washington Taipei nicht gänzlich fallen: Nicht nur unterhielten die USAweiterhin ein hochrangig besetztes Verbindungsbüro, das die Beziehungen zwischen denbeiden Ländern unterhalb der offiziellen Anerkennung weiter betrieb. Am 13. März 1979hatte der amerikanische Kongress darüber hinaus einen "Taiwan Relations Act"verabschiedet, deramerikanische Regierungen u.a. dazu verpflichtete, auch weiterhin die VerteidigungsfähigkeitTaiwans durch Waffenlieferungen sicherzustellen und der Insel im Fall eines Angriffs vomchinesischen Festland auch militärischen Beistand zu gewähren.

3. Strategie der "Unabhängigkeit": Chancen im strategischen Dreieck

Ende der 70er-Jahre begann sich eine neue Phase in der Außenpolitik Chinas abzuzeichnen.Für den erneuten Strategiewechsel gab es innen- wie außenpolitische Gründe. Derinnenpolitische Anlass bestand darin, dass Ende 1978 die Entmachtung des maoistischenParteiflügels weitgehend abgeschlossen war und auf dem 3. Plenum des XI. Parteitages derKPCh im Dezember 1978 der Reformflügel unter der Führung Deng Xiaopings die Zügel derchinesischen Politik in die Hand genommen hatte. Zentrales Ziel der neuen Führung war dieSanierung der chinesischen Wirtschaft – zum einen um den schweren Vertrauensverlust unddie damit einhergehende Delegitimierung der kommunistischen Partei durch eine schnelleVerbesserung der Lebensbedingungen der chinesischen Bevölkerung zu kompensieren; zumanderen in der Einsicht, nur über eine leistungsfähige moderne Wirtschaft auch dasaußenpolitische Gewicht Chinas erhöhen zu können, also endlich jene Ziele zu erreichen, diedie chinesischen Regierungen seit der Tung-ch'ih-Restauration in der Mitte des 19.Jahrhunderts angestrebt hatte: China "reich und mächtig" (fu-ch'iang) zu machen.

Der Ausbau einer leistungsfähigen Wirtschaft musste zudem schnell erfolgen und konntenicht auf der Grundlage der maoistischen Wirtschaftskonzepte erfolgen, sondern musste sichin den Gleisen jener Politik der "vier Modernisierungen" vollziehen, die Zhou Enlai schon1975 in einigen Grundstrichen skizziert hatte. Statt auf eine Veränderung derProduktionsverhältnisse setzte man nun auf eine schnelle Entwicklung der Produktivkräfte;

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statt auf staatliche Planung auf einen vorsichtigen Rückzug des Staates aus der Wirtschaft;statt auf den "neuen Menschen", der sich allein für das Kollektiv einsetzte, auf Eigennutz,materielle Anreize und die Zulassung begrenzter privater Wirtschaftstätigkeiten; statt auf"Self-reliance" auf die Öffnung Chinas für ausländisches Kapital, modernes Know-how,Technologie und Management. Um die Devisen für die Importe der für die Modernisierungerforderlichen Investitionsgüter aus dem Westen zu erwirtschaften, setzte man auf verstärkteExporte. Zu diesem Zweck war die Schaffung von Wirtschaftssonderzonen vorgesehen, indenen ausländ ische Unternehmen unter besonders günstigen Bedingungen produzierenkonnten.Zu den außenpolitischen Rahmenbedingungen dieser Strategie gehörte zum einen dieSchaffung eines friedlichen regionalen und internationalen Umfeldes, zum anderen derAufbau kooperativer Beziehungen. Letzteres verlangte eine Revision der prinzipiellenGrundlagen der chinesischen Außenpolitik: nämlich eine entschiedene Absage an diePrinzipien des "revolutionären" bzw. des "proletarischen Internationalismus", die in derVergangenheit die Unterstützung kommunistischer Befreiungs- und Aufstandsbewegungenlegitimiert hatten sowie die Erhebung der Prinzipien der "friedlichen Koexistenz" zurGrundlinie der chinesischen Außenpolitik und zu den Kernprinzipien einer internationalenOrdnung, die an die Stelle der bestehenden hegemonistischen Ordnung treten sollte.

Diese prinzipielle Kurskorrektur bot insofern wenig Probleme, als die chinesische Führungdamit an eine politische Linie anknüpfen konnte, die bis in die frühen 50er-Jahrezurückreichte, als der damalige Ministerpräsident Zhou Enlai auf der Rückreise von derGenfer Indochina-Konferenz zusammen mit dem indischen Premier Jawaharlal Nehru jene"Fünf Prinzipien der friedlichen Koexistenz" entwickelte, mit denen die chinesische Führungsich als friedliche Macht und guter Nachbar ausweisen wollte. Dabei handelte es sich um diegegenseitige Achtung der Souveränität und territorialen Integrität, um den gegenseitigenNicht-Angriff, die gegenseitige Nicht-Einmischung in innere Angelegenheiten, dieGleichberechtigung und den gegenseitigen Nutzen sowie die friedliche Koexistenz. Währenddiese Prinzipien Ende der 50er-Jahre im Klima der zu jener Zeit stattfindendenRadikalisierung der chinesischen Innen- und Außenpolitik vorübergehend in den Hintergrundgeraten waren, wurden sie in den 70er-Jahren wieder stark hervorgehoben – etwa von DengXiaoping in seiner Rede vor der Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen 1974, inder er gleichzeitig das "Dreiwelten"-Konzept vorgestellt hatte.

Ein zweites wichtiges Element der neuen chinesischen Strategie – das zugleich auchBestandteil der regionalen Befriedungs- und Normalisierungspolitik war –, war eineModifizierung der bisherigen Taiwan-Politik. Hatte die chinesische Führung diese Politik bisdahin unter den Schlüsselbegriff "Befreiung" (yiefang) gestellt, so trat nun an dessen Stelledie Devise "friedliche Wiedervereinigung" (hetong) – allerdings bei verstärkten Bemühungen,Taipei international zu isolieren sowie unter Beibehaltung der Gewaltoption, insbesondere fürden Fall einer Unabhängigkeitserklärung der Insel. Als operatives Prinzip der friedlichenWiedervereinigung wurde die Formel "Ein Land, zwei Systeme" propagiert, die nun auch –und zunächst – der Rückgewinnung Hongkongs und Macaos zu Grunde gelegt wurde. 14 Wiedie wirtschaftliche Modernisierung, so gehörte auch diese Politik zu den Elementen, die dieimmer brüchiger werdende marxistische Legitimationsbasis ersetzen sollten. Während diewirtschaftliche Modernisierung auf die Hoffnung der Bevölkerung auf einen höherenLebensstandard setzte, appellierte die nun immer stärker herausgestellte Politik derRückholung Hongkongs, Macaos, und Taiwans an die patriotischen Gefühle des Landes.

14 Opitz, Peter J.: Der Kampf um Hongkong, in: Zeitschrift für Politik, Jg. 45, H.3, September 1998,

S.239-266.

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Neben der wirtschaftlichen Reformpolitik mit den erwähnten außenpolitischen Implikationenund Konsequenzen sowie der Politik der "Wiedervereinigung" stand noch ein drittes Elementim Mittelpunkt der dritten Phase der chinesischen Außenpolitik, die in den 80er-Jahrenbegann: die Neugestaltung der Beziehungen zu den beiden "Supermächten". Wenn DengXiaoping schon im Januar 1980 in einer internen Rede vor hohen Parteikadern die"Verwirklichung der Modernisierung", die "nationale Wiedervereinigung" sowie die"Bekämpfung des Hegemonismus" als die drei Hauptaufgaben der Partei in den 80er-Jahrennannte,15 so verbarg sich hinter der Formel "Bekämpfung des Hegemonismus" eineNeugestaltung der Beziehungen zu Washington und Moskau, die nun langsam an Gestaltannahm.

"Hegemonismus bekämpfen", das hieß aus chinesischer Sicht zu jener Zeit zunächst einmalund vor allem, eine geeignete Politik gegen die Bedrohung zu entwickeln, die von derSowjetunion ausging. Diese hatte sich in den 70er-Jahren nicht zuletzt in Reaktion auf diechinesisch-amerikanische Annäherung insofern verschärft als Moskau nicht nur seinmilitärisches Potenzial an der sino-sowjetischen und an der mongolisch- chinesischen Grenzeaufgestockt, sondern auch den Ausbau seiner Pazifik-Flotte fortgesetzt hatte und imNovember 1978 mit einem Freundschaftsvertrag mit Hanoi und der Errichtung sowjetischerMarine- und Luftwaffenstützpunkte in Vietnam Anstalten machte, auch an der südlichenPeripherie Chinas Fuß zu fassen.

Der chinesischen Führung boten sich in dieser Situation zwei Alternativen: Sie konnte zumeinen die seit Beginn der 80er-Jahre von ihr betriebene Politik der anti-sowjetischenEinheitsfront bei verstärkter Zusammenarbeit mit den USA fortsetzen. Die Bedingungendafür hatte sich Ende der 70er-Jahre insofern verbessert, als es nach dem Einmarschsowjetischer Truppen in Afghanistan im Dezember 1979 und dem Ausbau des gegenWesteuropa gerichteten sowjetischen Raketenpotenzials zu einem Klimasturz in denamerikanisch-sowjetischen Beziehungen gekommen war. Die Entspannungspolitik war schonunter der Carter-Administration durch eine neue Politik der Konfrontation abgelöst worden,die von der 1981 ins Amt gekommenen Reagan-Administration kompromisslos verschärftwurde.

Eine Unterstützung dieser Politik mochte Moskau zwar weiter in die Defensive drängen – siewar jedoch für China mit einer Reihe unübersehbarer negativer Konsequenzen verbunden: Siewürde das Verhältnis Pekings zu Moskau weiter belasten und damit die chinesische Führungzu größeren Verteidigungsausgaben zwingen, die wiederum zu Lasten derModernisierungspolitik gehen würden. Gleichzeitig wäre Peking auf die Lieferung moderneramerikanischer Militärtechnologie angewiesen, was die Abhängigkeit zu Washingtonverstärken und den Verhandlungsspielraum Pekings weiter verschlechtern würde. Zudem warnicht auszuschließen, dass im Falle einer offenen Konfrontation zwischen den beiden"Supermächten" auch China darin involviert werden würde. Statt die informelle Allianz mitden USA weiter fortzuführen, war es somit klüger, erneut jener Devise zu folgen, die sichschon häufig bewährt hatte: den Kampf der Tiger aus der Ferne zu beobachten. Konkretverlangte dies von der chinesischen Führung, sich vorsichtig aus der strategischenPartnerschaft mit den USA zu lösen, gleichzeitig aber das Verhältnis zur Sowjetunion durchEntspannungsangebote zu verbessern und sich so in eine Mittelposition zwischen die beiden

15 Deng, Xiaoping: Muqian de Xingshi he Renwu, in: Deng, Xiaoping, Wenxuan 1975-1982, Ausgewählte

Werke von Deng Xiaoping, Hubei 1983, S.204.

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"Supermächte" zu lavieren, von der aus man sie beide zugleich kritisieren wie zuZugeständnissen veranlassen konnte.

Für eine vorsichtige Distanzierung von den USA sprachen zwei weitere wichtige Gründe.Zum einen: die zögerliche Unterstützung, die Washington China bei seiner Militäraktiongegen Vietnam gegeben hatte; die enttäuschende Wirtschaftshilfe, vor allem aber der "TaiwanRelations Act" und die Wiederaufnahme der amerikanischen Waffenlieferungen an Taipei,die die Hoffnungen auf ein Einlenken der dortigen Regierung und damit auch eine baldigeWiedervereinigung zerstörte. Sie alle zeigten, dass sich die Zusammenarbeit mit Washingtonfür China nicht länger auszahlte. Dass vor allem die amerikanische Taiwan-Politik diestrategische Kurskorrektur bewirkt hatte, bestätigte Deng Xiaoping selbst, als er feststellte:"Der Wandel unserer Ansichten zur globalen Strategie ist vor allem durch einenentsprechenden Wandel der USA herbeigeführt worden. Die größte Veränderung, die durchden USA-Wandel verursacht wurde, ist die hinsichtlich des Taiwan-Problems."16 DengXiaoping war es auch, der in seiner Eröffnungsrede auf dem XII. Parteitag der KPCH imHerbst 1982 den neuen außenpolitischen Kurs verkündete und dabei auch die ihm zu Grundeliegenden Motivationen ansprach: "Unabhängigkeit, Selbstständigkeit und das Vertrauen indie eigene Kraft war, ist und bleibt unser grundlegender Standpunkt. Das chinesische Volkschätzt die Freundschaft und die Zusammenarbeit mit anderen Ländern und Völkern hoch,umso mehr sein Recht auf Unabhängigkeit und Selbstständigkeit, das es durch langewährenden harten Kampf erlangt hat. Kein Land soll erwarten, China könne sein Vasallwerden oder wird bittere Früchte schlucken, die sich gegen Chinas Interessen richten."17 Alszudem der Generalsekretär der KPCh, Hu Yaobang, zum Widerstand gegen beide"Supermächte" aufrief, wurde deutlich, dass die Zeit, in der der "Hegemonismus" vor allemals ein Codewort für eine anti-sowjetische Politik gedient hatte, vorbei war. Nun begann sichder Vorwurf wieder gleichermaßen gegen Moskau und Washington zu richten. "Bei derBehandlung unserer Beziehungen zu den USA und der Sowjetunion", so präzisierte derPremierminister Zhao Ziyang bald darauf die Haltung Chinas, "oder gegenüber den beidenSupermächten werden wir weder davon Abstand nehmen, die Beziehungen zu ihnen zuverbessern, weil wir ihren Hegemonismus bekämpfen, noch unseren anti-hegemonistischenStandpunkt aufgeben, weil wir die Beziehungen mit ihnen verbessern wollen, noch werdenwir versuchen, unsere Beziehungen zu einem dieser Länder auf Kosten des anderen zuverbessern."18

Zu diesem Zeitpunkt befand sich der Versuch der chinesischen Führung, die Beziehungen zuMoskau zu normalisieren, schon im vollen Gange. Wie gegenüber Washington, so setzte sichauch die Politik gegenüber Moskau aus zwei Komponenten zusammen: Einerseits nutztePeking jede Gelegenheit, den sowjetischen Einmarsch in Afghanistan und die Unterstützungder vietnamesischen Expansionspolitik in Indochina öffentlich als "Hegemonismus"anzuprangern und die Positionen der islamischen Welt bzw. der ASEAN-Staaten zuunterstützen. Andererseits hatte man schon im Dezember 1979 Verhandlungen mit Moskauüber eine Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen aufgenommen, die auf Grund derAfghanistan-Intervention zwar vorübergehend unterbrochen, Anfang Oktober 1982 aberungeachtet der anhaltenden Anwesenheit der sowjetischen Truppen in Afghanistan wiederaufgenommen wurden. Bei dieser Gelegenheit nannte Peking auch erstmals den Preis, denman für die Normalisierung der Beziehungen verlangte: den Abbau der starken militärischen

16 Zit. nach: China aktuell, 1984, S.59.17 Beijing Rundschau 36/1982, S.5.18 Bericht über die Tätigkeit der Regierung, Beijing Rundschau 24/1984.

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Präsenz der UdSSR in der Mongolischen Volksrepublik und an der sino-sowjetischen Grenze;die Beendigung der Unterstützung der vietnamesischen Expansionspolitik in Kambodschasowie schließlich den Rückzug der sowjetischen Interventionsstreitkräfte aus Afghanistan.Diese "drei Hindernisse" waren sorgfältig ausgewählt: Einerseits bildeten sie die zentralenGlieder des sowjetischen Einkreisungsringes, den Peking sprengen wollte; andererseits lagihre Beseitigung auch im westlichen Interesse. Das galt vielleicht weniger für die sowjetischePräsenz in der Äußeren Mongolei, umso mehr aber für Afghanistan und Kambodscha. Diechinesische Führung brauchte bei diesen Forderungen an Moskau also nicht zu befürchten,westlichen Argwohn hinsichtlich einer sich anbahnenden neuen sino-sowjetischen Allianzneue Nahrung zu geben.

Dass die neue "Strategie der Unabhängigkeit" erfolgreich war, verdankte die chinesischeFührung allerdings eher einem Glücksfall: dem Machtantritt von Michael Gorbatschow imMärz 1985, der für seine Politik der Perestroyka nicht nur eine befriedete Front im Westen,sondern auch im Osten benötigte und deshalb im Herbst 1998 alle "drei Hindernisse", vondenen Peking die Normalisierung der Beziehungen abhängig gemacht hatte, beseitigte. Erneuthatte China dafür keinerlei nennenswerte Gegenleistungen zu erbringen.

Mit der Normalisierung der Beziehungen zu Moskau auf dem Pekinger Gipfel im Mai 1989befand sich China somit in einer einmaligen Situation: Das Land wurde von keiner der beiden"Supermächte" mehr bedroht, sondern unterhielt zu beiden gute Beziehungen. Sowohl vonWashington wie von Moskau umworben, hatte die chinesische Führung nun die bestenMöglichkeiten, beide Mächte zum eigenen Vorteil gegeneinander auszuspielen. Verbesserthatten sich nach dem Staatsbesuch von Gandhi auch die Beziehungen zu Indien, und auch mitIndonesien war anlässlich der Begräbnisfeierlichkeiten des japanischen Kaisers Hirohito imFebruar 1989 die baldige Normalisierung der Beziehungen abgesprochen worden. Als einvoller Erfolg hatte sich auch die zu Beginn der 80er-Jahre eingeleitete Modernisierungspolitikerwiesen: Nach chinesischen Berechnungen waren zwischen 1978 und 1989 über 36 Mrd.US-$ in China investiert und mehr als 25.000 Joint Ventures gegründet worden. China hattezudem erhebliche Kredite von den großen Entwicklungsbanken erhalten, und die chinesischenExporte waren von nur 18,1 Mrd. US-$ im Jahre 1980 auf 52,5 Mrd. im Jahre 1989angestiegen, seine Importe sogar von 20,2 Mrd. US-$ auf 59,1. Vor allem erwirtschafteteChina inzwischen wachsende Handelsbilanzüberschüsse, mit denen es die Modernisierungvon Wirtschaft, Gesellschaft und Armee vorantreiben konnte.

4. Jenseits des Ost-West-Konflikts: auf der Suche nach einer multipolarenWelt

Zu Beginn der 70er-Jahre hatten konvergierende Interessenlagen die Volksrepublik China unddie Vereinigten Staaten zu einer informellen anti-sowjetischen Front zusammengeführt. ZuBeginn der 80er-Jahre hatte die chinesische Führung unter dem Eindruck sich verändernderRahmenbedingungen vorsichtig damit begonnen, sich aus dieser Front wieder zu lösen, in derErwartung, im "strategischen Dreieck" die begehrte pivot position besetzen zu können, vonder aus sie die beiden Supermächte gegeneinander ausspielen und zu Zugeständnissenbewegen konnte. Doch schon in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre hatten Entwicklungeneingesetzt, die dem strategischen Kalkül Pekings die Grundlage entzogen: Zunächst war es,als Folge des "Neuen Denkens" in der sowjetischen Außenpolitik Michael Gorbatschowgelungen, den Ost-West-Konflikt, der in der ersten Hälfte der 80er-Jahre nochmals bedrohlicheskaliert war, zu entspannen und schließlich zu beenden. Damit hatten sich die ChancenPekings, Ost und West gegeneinander ausspielen zu können, erheblich verringert. Doch es

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kam noch schlimmer: So kam es im Gefolge der blutigen Niederschlagung der chinesischenDemokratiebewegung im Juni 1989 zu einem unerwarteten Klimasturz im Verhältnis Chinaszu den westlichen Mächten, die unter dem Druck einer aufgebrachten Öffentlichkeit diepolitischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Peking einfroren und damit die Zukunft derReformpolitik schweren Belastungen aussetzten.

Noch schwer wiegender waren allerdings die Auswirkungen der gewaltigen Umwälzungen inOsteuropa und in der Sowjetunion, die zunächst zum Zusammenbruch der kommunistischenRegierungen in Osteuropa und der Sowjetunion führten und schließlich in der Implosion derSowjetunion einen Höhepunkt fanden. Mit dem Zerfall der nördlichen "Supermacht" warenzwar endgültig die Bedrohungen aus dem Norden beendet, die fast zwei Jahrhunderte aufChina gelastet und zum Verlust großer Territorien geführt hatten, zuletzt der ÄußerenMongolei, deren Unabhängigkeit Stalin Chiang Kai-shek und Mao Zedong abgetrotzt hatte.Gleichzeitig war mit dem Zerfall des sowjetischen Imperiums aber auch dieGeschäftsgrundlage zerfallen, die seit Beginn der 70er-Jahre die informelle Allianz mit denUSA begründet hatte. Damit aber drohte die Gefahr, dass sich die USA zur Verteidigung ihrerHegemonialstellung in der asiatisch-pazifischen Region nun gegen China wenden würden, alsjener Macht, von der zu erwarten war, dass sie mit erfolgreicher Konsolidierung ihrerWirtschaft versuchen würde, die traditionelle Vormachtstellung, die das chinesische Reichüber viele Jahrhunderte in dieser Region ausgeübt hatte, wiederherzustellen.

Bei dem zu erwartenden Konflikt mit den USA ging es aber nicht nur um die Zukunft derStellung Chinas in der Region, sondern auch um die Zukunft des kommunistischen Regimesin China. Die gemeinsame Bedrohung durch die Sowjetunion hatte zwar die ideologischenGegensätze zwischen Peking und Washington vorübergehend in den Hintergrund gedrängt,aber sie hatte sie nicht aufgehoben. Nach dem Ende der Sowjetunion war zu erwarten, dassauch dieser Gegensatz wieder in den Vordergrund treten würde und dass die starken anti-kommunistischen Kräfte in den USA – inspiriert durch das Ende des europäischenKommunismus – nun versuchen würden, auch kommunistische Regime in China und in denanderen asiatischen Staaten zu zerschlagen. Eine neue Phase der chinesischen Außenpolitikhatte begonnen, und es war absehbar, dass es nicht nur die schwierigste, sondern auch dielangwierigste sein würde.

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Jürgen Domes

Die Außen- und Innenpolitik der Volksrepublik China zu Beginn des neuenJahrhunderts∗∗

Am Beginn des 21. Jahrhunderts steht China in der Form einer Volksrepublik, politischausgefüllt mit einer Einparteiherrschaft marxistisch – leninistischen Typs, so einheitlich,innerlich befriedet und geordnet und zugleich nach außen hin versöhnt mit allen anderenStaaten in der Welt da wie nur selten in seiner langen, an Chaos, Hungersnöten,Naturkatastrophen und kriegerischen Auseinandersetzungen übermäßig reichen Geschichte.Vor allem trifft diese Feststellung im Vergleich mit den beiden letzten Jahrhundertwenden zu:jener vom 18. auf das 19. Jahrhundert, in der sich nach einer verhältnismäßig langen Zeit derinneren Ruhe und der außenpolitischen Selbstherrlichkeit des chinesischen Kaiserreiches eineKrise von den Ausmaßen eines Weltunterganges zu entfalten begann, sowie jener vom 19. aufdas 20. Jahrhundert. Damals bereiteten die Interventionsstreitkräfte von acht auswärtigenMächten dem letzten, urwüchsigen Aufbäumen der chinesischen Welt, dem Aufstand der sogenannten Boxer, ein blutiges Ende. Das Jahr 1900 stellte in vielerlei Hinsicht einenTiefpunkt in der Geschichte Chinas dar, gegen den sich die heutige Lage des Landes in derMomentaufnahme kontrapunktisch abhebt.

Nach der Rückgliederung von Hongkong 1997 und Macao 1999 in ihren Staatsverband weistdie chinesische Volksrepublik cum grano salis wieder die historischen Konturen Chinas auf.Die politische Separatexistenz des Inselarchipels Taiwan-P'enghu-Chinmen-Matsu ist eineTatsache, die formell keine internationale Unterstützung findet und insofern als ein reininnerchinesischer Schönheitsfehler eingestuft werden kann. Um mehr handelt es sich dabeikaum, zumal die hier als stärkste politische Kraft agierende Kuomintang nicht allein amBeginn der 90er-Jahre endgültig ihren Anspruch aufgab, mit der Kommunistischen ParteiChinas (hinfort: KP Chinas) um die Alleinherrschaft im ganzen Land zu konkurrieren,sondern im Zuge der Demokratisierung ihres autoritären politischen Systems auch eineerhebliche Schwächung bis hin zum Verlust des Präsidentenamtes in der Republik China aufTaiwan in diesem Frühjahr hinnehmen musste.

Die KP Chinas herrscht demgegenüber nach wie vor uneingeschränkt und nunmehr also auchohne eine erkennbare organisatorische Konkurrenz. Ihre nationale Führungsrolle hat dieweltweite Krise des Marxismus – Leninismus und den Zusammenbruch des so genanntensozialistischen Weltsystems, als dessen Initialzündung die chinesische Demokratie – undMenschenrechtsbewegung vom Frühjahr 1989 fungierte, nicht allein unbeschadetüberstanden, sondern auch – und dies ist in der Tat ein historisches Novum vonherausragender Bedeutung – ungeteilte Unterstützung und Wertschätzung unter denwestlichen Nationen gewonnen.

China pflegte seinen Nachbarn historisch durchweg am genehmsten zu sein, wenn diepolitische Führung dieses unitarisch – zentralistischen Konstrukts schwach war, Annexionenan seinen territorialen Rändern dulden musste und sich übrige Sicherheit vor Angriffen vonaußen durch Tributzahlungen erkaufte. Diese grundlegende Rationalität bestimmteunverkennbar auch die spätere Politik der überseeischen Mächte. China wurde im 19.Jahrhundert nicht von der abgewirtschafteten mandschurischen Fremdherrschaft befreit undneuer kraftvoller Kolonialherrschaft unterworfen, sondern mit immer neuen territorialen, ∗ Beitrag basiert auf Vortrag GfA.

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hoheitsrechtlichen und finanziellen Forderungen konfrontiert, die der Kaiserhof in Peking aufGrund seiner Schwäche früher oder später in retrospektiv als "ungleich" bezeichnetenVerträgen akzeptie rte. Für die politische Führungsschwäche Chinas zu sorgen, bliebmindestens bis in die späten Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts hinein, womöglich sogarnoch bis zur Mitte der Siebzigerjahre, ein unumstrittenes Motiv in der im Übrigen vielfältigzerrütteten internationalen Diplomatie.

Ganz anders verhält es sich heute. Die Akteure in den internationalen Beziehungen stimmendarin überein, dass politische Stabilität in China Priorität genieße. Sie hofieren die Führer derKommunistischen Partei, die sie für deren Garanten halten, und sind geradezu begierig, einen"starken Mann" (paramount leader) an der Spitze dieses Landes wahrzunehmen. Wir erinnernuns beispielsweise an den Besuch von Altbundeskanzler Helmut Kohl bei den chinesischenStreitkräften, wie es damals bei uns regierungsoffiziell hieß, weil diese Streitkräfte Politischzunehmend wichtiger würden; an die Einrichtung einer "roten Telefonverbindung" zwischenden Präsidenten der VR China und Frankreichs, Chiang Tse-min und Jacques Chirac, oderauch an den Vorschlag von Bundeskanzler Gerhard Schröder, die VR China in den Kreis derG – 7 plus 1 Staaten aufzunehmen.

China hat in der Außenwelt objektiv keine Feinde mehr. Bei aller Vorsicht vor Euphorie undÜbertreibung ist gleichzeitig feststellbar, dass auch die wirtschaftliche Situation des Landesund die soziale Lage der Bevölkerung (Ernährung und medizinische Versorgung, Kleidungund Wohnung, Bildung und Arbeit, Transport und Kommunikation) am Beginn diesesJahrhunderts bei weitem günstiger sind als vor hundert oder zweihundert Jahren.

Die traditionale chinesische Gesellschaft hatte ihren natürlichen Reichtum jahrhundertelangderart einseitig ausgebeutet, dass der Überfluss an menschlicher Arbeitskraft nicht allein alleEnergien zur Modernisierung ihrer Produktionsmethoden absorbierte, sondern auch geradezuihre Selbstreduzierung durch Seuchen und Hungersnöte und nicht zuletzt durch Bürgerkriegein für Europäer schwer vorstellbaren Dimensionen erheischte. Aber trotz eines Verlustes vonmehr als einem Fünftel oder gar einem Viertel der Gesamtbevölkerung in solchenKatastrophen im Laufe des 19. Jahrhunderts, hatten Armut und Verelendung der chinesischenGesellschaft am Beginn des 20. Jahrhunderts einen Grad erreicht, der schwerlich noch zuüberbieten war. Am Beginn dieses neuen Jahrhunderts bildet China, immer noch mit einemeinzigartigen Bevölkerungsreichtum gesegnet, das Zentrum einer besonders dynamischen,also besonders rasch wachsenden Wirtschaftsregion.

Ist die Führung der VR China nicht nur willens, was aus der Sicht ihrer sozialistischenÜberzeugungen ganz und gar außer Frage steht, sondern auch in der Lage, das 21. Jahrhundertquasi für sich zu entscheiden, zur wirtschaftlich und politisch führenden Macht des neuenJahrhunderts zu werden, wie prominente Beobachter in fast allen westlichen Ländern meinen?Sind vor allem die kleineren westlichen Industrienationen, also die Europäer, in politischerebenso wie in wirtschaftlicher Hinsicht wohl beraten, sich mit dieser, einer kommunistischenFührung des Landes möglichst gut zu stellen? Und, was haben wir international von der VRChina zu erwarten?

Lassen Sie mich versuchen, zu diesen Fragen aus der Sicht des sozialwissenschaftlichenChinaspezialisten Stellung zu nehmen!

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1. Die Innenpolitik der KP Chinas

Die Politik der KP Chinas im Inneren ihres Herrschaftsbereiches lässt sich für unsere Zweckeauf zwei komplementäre Grundmotive zurückführen: zum einen auf Modernisierung desWirtschaftslebens und der Wirtschaftsorganisation durch Reformen und zum anderen aufBewahrung der marxistisch – leninistischen Einparteiherrschaft, der politischen,organisatorischen und intellektuellen Hegemonie der KP Chinas, durch alle Arten derRepression Individuen und Bewegungen gegenüber, die dieses dreifache Monopol der Parteibedrohen, bis hin zum Einsatz von Verbänden der Volksbefreiungsarmee und schweremKriegsmaterial. Beide Motive werden seit nunmehr rund zwanzig Jahren nicht unbedingtgradlinig und ohne innerparteilichen Zwist, aber gleichwohl kontinuierlich verfolgt.Mindestens in materieller Hinsicht hat diese Politik das Erscheinungsbild der VR China nachdem Tode Mao Tse-tungs radikal verändert.

Die Reformen bewirkten in allen Wirtschaftsbereichen eine durchgreifende Reduktion desKollektivierungsniveaus:

− die Freisetzung der einzelnen staatlichen und "kollektiv" geleiteten Industriebetriebehinsichtlich ihrer Produktionsentscheidungen, der Produktvermarktung sowie der Zahlungvon Prämien an die Arbeiter;

− die Entkollektivierung der landwirtschaftlichen Produktion unter Beibehaltung allerdingsdes Kollektiveigentums an der landwirtschaftlichen Nutzfläche;

− die Freigabe der Preisgestaltung für Konsumgüter und Nahrungsmittel außerhalb derstaatlichen Läden und ebenso für eine Anzahl von Investitionsgütern; und

− die Zulassung von privaten Unternehmen in Einzelhandel, Handwerk, Klein- undKonsumgüterindustrien sowie im Dienstleistungsbereich.

Die Industrieproduktion wird heute immer noch – nach dem realen Produktionswert berechnetzu 57,21% in Staatsbetrieben und zu 17,06% in "kollektiven" Unternehmen erbracht, in denensich genossenschaftliche Elemente mit staatlicher Kontrolle verbinden. Private Betriebe sindmit 11,32% und so genannte joint ventures, Mischunternehmen von in- und ausländischenFirmen, sowie rein ausländische Unternehmen mit 14,41% an ihr beteiligt. Inzwischenwerden aber rund 60% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der VR China in nichtstaatlichen,also privaten und kollektiven Betrieben erwirtschaftet.

Nach Jahrzehnten der Genehmigungspflicht für Entfernungen vom Wohnort bzw. vomArbeitsplatz setzte sich die uneingeschränkte Freizügigkeit innerhalb des Landes wiederdurch. Chinas Öffnung nach außen als ein zentraler Bestandteil der Politik derwirtschaftlichen Reformen hatte zugleich auch die Herstellung einer kontrollierten Mobilitätder Bevölkerung über die Landesgrenzen hinaus zur Folge. 1999 hielten sich rund 134.000Bürger der VR China als Studenten, Praktikanten und in sonstigen Positionen zur beruflichenWeiterbildung im Ausland auf. Bis Ende 1997 hatten sich rund 297.000 Chinesen aus der VRChina zum Zwecke der Aus- bzw. Weiterbildung ins Aus land begeben, von denen rund36.000 oder wenig mehr als 12% wieder in ihre Heimat zurückgekehrt waren. Demnachdürften bis heute insgesamt schätzungsweise 300.000 solcher längerfristigenAuslandsaufenthalte von Chinesen aus der VR China stattgefunden haben. Hinzu sind in denletzten Jahren immer häufiger Auslandskurzaufenthalte, offiziell als Fortbildungsreisengetarnte Vergnügungsfahrten, getreten, die von der Partei finanziert, offenbar mittlere unduntere Kader bei Laune halten.

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Die Summe der Auslandsinvestitionen, die seit 1979 in der VR China getätigt wurden, betrugim Herbst 1999 US $ 295,822 Mrd.. Das waren fast die Hälfte aller bis dahin vertraglichvereinbarten Investitionsvorhaben. An erster Stelle unter den ausländischen Investorenstanden Hongkong und Macao gefolgt von Japan, den USA, Taiwan, Singapore undSüdkorea. Die Positionen sieben bis zehn nahmen Großbritannien, Deutschland (auf Platz 8),Frankreich sowie Malaysia ein.

Stadt und Land in der VR China wurden von einem beispiellosen Boom in der Bauwirtschaftergriffen. Küstenstädte wie vor allem Shanghai, Hsiamen und Kanton und ebenso Großstädtedes Inlands wie Peking, Nanking, Wuhan oder Ch'ungking, die nach der kommunistischenMachtübernahme in dörfliche Beschaulichkeit verfallen waren, verwandelten sich inatemberaubender Geschwindigkeit in hochmoderne, dauernd von Verkehrsinfarkten bedrohteMetropolen. Kein Produkt der Young World Branche, das es in der VR China heute nicht zukaufen gäbe. Während es nach offiziellen Angaben – vorwiegend in den großen Städten rund9 Millionen Internet-Anschlüsse gibt, ist die Zahl der Parabolantennen, die privateFernsehapparate an die Weltkommunikation anbinden, auch auf dem Lande unübersehbargeworden.

Versucht man die Wirkungen der Politik der Wirtschaftsreformen in gesamtwirtschaftlichenDaten zu erfassen, so wird man nach wie vor als Erstes mit der Frage nach der Verlässlichkeitdes verfügbaren statistischen Materials konfrontiert. Bis heute wird dieses Material irgendwoauf dem Weg von der Basis über die Ebene der Provinzen bis in die Amtsstuben desStaatsrates hinein je nach Gegenstand nach oben (Wirtschaftswachstum) oder nach unten(Bevölkerungswachstum) retuschiert. Die wenigen hier verwendeten Zahlen, welche diegesamtwirtschaftliche Entwicklung der VR China anzeigen sollen, gilt es deshalb mit demZusatz "nicht mehr, vielleicht sogar weniger als" zu verstehen.

In den 47 Jahren von 1953 bis 1999 verzeichnete das BIP der VR China ein jährlichesWachstum von 7%, in den 21 Jahren von 1979 bis 1999 von 8,53%, in den 9 Jahren von 1991bis 1999 von 9,3% und in den letzten zwei Jahren, also 1998 und 1999, von 6,1%. Das sind,trotz eines deutlichen Einbruchs mindestens im Jahre 1998, zweifellos beeindruckendeWachstumsraten, die allerdings, wie mit Hilfe von internationalen Vergleichsdaten gezeigtwerden kann, offenkundig von einem niedrigen Niveau ausgehen. 1998 produzierte die VRChina mit 20,9% der Weltbevölkerung lediglich 2,94% des Welt – BIP. In jenem Jahrrangierte ihr BIP in absoluten Zahlen nach den USA, Japan, Deutschland, Frankreich, Italienund Großbritannien an siebenter Stelle, ihr pro-Kopf BIP aber noch auf Platz 129 unter 191Staaten und Wirtschaftseinheiten in der Welt. Japan allein besorgte und besorgt bis heute rundzwei Drittel der Industrieproduktion aller asiatischen Staaten. Der Anteil der VR China amWelthandel stieg von 1979 (0,95%) bis zur Jahrhundertwende um das Dreieinhalbfache. Ermacht gegenwärtig jedoch immer noch nur 3,46% aus.

Lassen Sie uns an dieser Stelle einen Blick auf das zweite Grundmotiv in der Innenpolitik derVR China werfen, auf jenes der Repression zum Zwecke der Bewahrung der umfassendenFührungsrolle der Kommunistischen Partei! Es steht außer Frage, dass dieses Motiv dieReformschritte im Bereich von Wirtschaft und Wirtschaftsorganisation intentionell vonAnfang an begleitete. Kein Spitzenpolitiker in Peking, ganz gewiss auch nicht TengHsiao-p'ing, der im Westen vielgerühmte Architekt der Reformpolitik, hat jemals dieAnnahme genährt, die Partei könne dem gesellschaftlichen Drängen auf Respektierung vonhypothetisch universell gültigen Menschenrechten sowie auf eine erhebliche Ausweitung derParameter der politischen Beteiligung nachgeben, das spätestens seit den Unruhen zumGräberfest Ende März/Anfang April 1976 in Peking Massencharakter trägt. Doch die

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deutliche Senkung des allgemeinen Kollektivierungsniveaus der chinesischen Gesellschaftimplizierte selbstverständlich Herrschaftsverzichte der Partei. Repression als einekomplementäre Komponente der Reformpolitik hat sich deshalb erst recht im Zusammenhangmit der Demokratie – und Menschenrechtsbewegung von 1989 und in dem Maße ausgeprägt,in dem im Laufe des letzten Jahrzehnts deutlich wurde, dass der gesamtwirtschaftliche Erfolgund die weit gehende Freigabe des persönlichen Gewinnstrebens das individuelleFreiheitsbegehren und ebenso das massenhafte Begehren nach politischer Beteiligunginnerhalb der chinesischen Bevölkerung eher ermutigen als lähmen.

Auf dem Lande versuchte die Partei der als alarmierend empfundenen Erosion ihrer Kontrolledurch eine Ausweitung von erstmals 1987 in einer Anzahl von Dörfern versuchsweisedurchgeführten Wahlen zur Bestimmung der lokalen Verwaltungsspitzen, also vonDorfvorstehern und Gemeinde-Bürgermeistern entgegenzuwirken. Bis Ende 1999 wurdensolche Wahlen als Konkurrenzwahlen mit mehr als zwei Bewerbern in 34,9% allerGemeinden durchgeführt. In 18,9% dieser Fälle konnten sich dabei nicht kommunistischeKandidaten gegenüber den Kandidaten der KP durchsetzen. Das betrifft 6,6% allerchinesischen Gemeinden, ist also bis heute ein durchaus marginales Phänomen in derInnenpolitik der KP Chinas geblieben. Als umso bemerkenswerter nehmen sichdemgegenüber die Kampfmaßnahmen der Partei im Hinblick auf die Erosion ihrer Autoritätinnerhalb der urbanen Gesellschaft aus. Im Ausland namentlich bekannte, also prominenteOppositionelle wurden immer wieder zu besonders hohen Haftstrafen verurteilt oder auchohne einen Hinweis auf ihren Verbleib auf unbestimmte Zeit festgenommen, um nach innenund nach außen die uneingeschränkte Souveränität der Herrschaftselite zu demonstrieren.

Bei Bedarf, wie im Falle Wei Ching-shengs oder Wan Tans, wurden sie aber auch mitRücksicht auf ein außenpolitisches Interesse jäh wieder aus Haft und Arrest entlassen undexpatriiert. Westliche Politiker mochten sich hernach untereinander über die Frage ereifern,wem dieser Erfolg ihrer Politik im Interesse der Menschenrechte in China gelungen war.

Seit inzwischen mehr als zwei Jahren bilden in der Wahrnehmung der KP Chinas indes nichtmehr allein eine Anzahl von vereinzelten Individuen und kleine Zirkel von Oppositionellen,die christlichen Untergrundkirchen, die der Partei ihre Botmäßigkeit verweigern, undseparatische Untergrundbewegungen in den von nationalen Minderheiten bewohnteninnerasiatischen Randgebieten der VR China (Tibet, Ch'inghai und Sinkiang)Herausforderungen an den kommunistischen Führungsanspruch, sondern auch innerweltlicheMassenbewegungen, namentlich die Fa-lun kung und Chung-kung, die aus der Mitte derhan-chinesischen Bevölkerung heraus entstanden sind und angeblich mehrere zehn MillionenAnhänger zählen, zusammengenommen womöglich mehr Anhänger als die KP ChinasMitglieder hat. Es handelt sich nach deren eigener Darstellung um reineMeditationsbewegungen, die traditionalchinesische Praktiken der Körperertüchtigung mitNormen der Lebenshaltung verbinden, die von anderen als Marx, Engels, Lenin, Stalin undMao Tse-tung formuliert worden sind. Die KP Chinas verbannt einfache Anhänger dieserBewegungen zu Tausenden in Umerziehungs- und Zwangsarbeitslager und verurteilt derenlokale Anführer ebenso wie hochrangige Anhänger der Bewegungen in Staatsverwaltung,Partei und Armee der VR China zu wiederum hohen Haftstrafen mit dem Ziel, denUngetümen die Köpfe abzuschlagen.

Es lässt sich in der Tat nicht ausschließen, dass diese Bewegungen Frontorganisationen vonpolitischen Oppositionellen sind bzw. von politischen Oppositionellen als Unterschlupfbenutzt werden. In jedem Falle sind sie Phänomene der inneren Desintegration der VR Chinaund der organisatorischen Verdichtung eines Vorgangs, den ich in einem anderen

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Zusammenhang als die Verselbstständigung der gesellschaftlichen Basis von ihrer Führungbezeichnet habe. Mit diesem Hinweis möchte ich mich den wirtschaftlichen und sozialenProblemen zuwenden, welche die innere Lage der VR China am Beginn des neuenJahrhunderts charakterisieren.

2. Die Auswirkungen der wirtschaftlichen Reformen

Die Politik der wirtschaftliche Reformen bewirkte in der VR China nicht allein einbeeindruckendes Wachstum, sondern auch eine Reihe bedenklicher Erscheinungen.

Als Erstes ist auf die rapide Vergrößerung der Einkommensunterschiede zwischen Stadt undLand, unterentwickelten und sich entwickelnden Regionen sowie zwischen den verschiedenenEinkommensgruppen in den Städten und Dörfern zu verweisen. 1979 verhielt sich dasPro-Kopf-Einkommen in den Städten zu demjenigen auf dem Land wie 3,14 zu 1. AlsErgebnis der Entkollektivierung der landwirtschaftlichen Produktion war diese Relation 1985auf 1,89 zu 1 zurückgegangen. 1988 lag sie jedoch wieder bei 2,05 zu 1 und 1998 hatte sie2,63 zu 1 erreicht. Das Pro-Kopf-Einkommen Shanghais, der einkommensstärkstenVerwaltungseinheit, hatte 1982 das 3,81 fache desjenigen der einkommensschwächstenEinheit, der Provinz Kueichou, betragen. Diese Relation war 1997 auf 8,43 zu 1 angestiegen.Der Gini-Koeffizient für die VR China, der 1979 zwischen 0,38 und 0,43 geschätzt wurde,dürfte 1998 zwischen den Werten 0,47 und 0,49 gelegen haben.

Die überhitzte Konjunktur bewirkte in den Jahren 1993 und 1994 eine hohe Inflationsrate.Offiziell wurde sie für 1993 mit 14,7 Prozent und für 1994 mit 24,1 Prozent angegeben.Tatsächlich lag sie 1994 in den Städten bei 30 bis 35 und auf dem Lande bei rund 25 Prozent.Seit 1995 ist sie jedoch rückläufig. 1998 lag sie nurmehr bei 4,3%.

Die Zahl der Arbeitslosen schnellte in die Höhe. Nach einer chinesischen Quelle betrug sieEnde 1994 230 Millionen, eine Zahl, die zwischen 25 und 30 Prozent der arbeitsfähigenBevölkerung entspricht. Ende 1999 waren laut offiziellen Angaben 3,1% oder 6,4 Millionender 210 Millionen städtischen Arbeiter arbeitslos, zu denen bis Ende 2000 auf Grund derSchließung von unrentabel arbeitenden Staatsbetrieben weitere 5 Millionen kommen könnten.Diese Zahlen sind jedoch stark untertrieben. Sie schließen weder die Arbeiter ein, die aufDauer Kurzarbeit leisten, noch jene, die seit Monaten entweder gar nicht entlohnt werden odermit einer Minimalabfindung heimgeschickt worden sind. Die UNO nimmt in ihrenBerechnungen eine Arbeitslosenquote von 7,9 bis 8,3% an und schätzt damit die Zahl derArbeitslosen in den Städten auf 15,4 bis 16 Millionen. Die Zahl der "überzähligenArbeitskräfte" auf dem Lande, die in den chinesischen Statistiken nicht auftauchen, weilBauern und Landarbeiter keine Staatsangestellten sind, wird gegenwärtig auf 120 bis 200Millionen geschätzt.

In jüngster Zeit sind zunehmend "Zwischenfälle" bekannt geworden, Zusammenrottungenvon Bauern auf dem Lande und ebenso Proteste von jeweils mehreren 10 000 Arbeitern, dieihre Löhne und die Sicherung ihrer Arbeitsplätze einfordern. Viele Staatsbetriebe haben ihrePensionsfonds geplündert oder am Aktienmarkt verspekuliert, sodass sie auch Renten undArbeitslosenhilfe nicht mehr auszahlen können. Eine weitere kritische Erscheinung stellt dasAusmaß der Binnenwanderung dar. Ende 1998 wurde die Zahl der ständig auf Arbeitssuchebefindlichen Wanderarbeiter im Lande offiziell auf 80 bis 120 Millionen, von westlichenBeobachtern sogar auf bis zu 180 Millionen geschätzt.

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Im Gefolge der Binnenwanderung, zu der auch das Phänomen der Straßenkinder zählt, habenäußerst brutale Gewaltkriminalität einschließlich Menschenhandel, Auseinandersetzungen mitWaffen zwischen Familien und Dörfern, sowie Anschläge von Untergrund-Gruppierungen umsich gegriffen. Gleichzeitig engagierten sich Angehörige von Armee und Polizei massiv inillegalen Waffengeschäften sowie im Hotel- und Vergnügungsgewerbe, dieStrafvollzugsbehörden und mit ihnen kooperierende Krankenhäuser im Handel mit denOrganen exekutierter Häftlinge innerhalb Chinas und auch über die Landesgrenzen hinaus.

Das Stichwort "Korruption" verweist auf ein weiteres, zunehmend dramatischer werdendesProblem in der VR China. Die Zollbehörden machen ihrem aus vorkommunistischer undzumal kaiserlicher Zeit stammenden Ruf, käuflich zu sein, die größte Ehre. DieBestechlichkeit innerhalb des Partei- und Staatsapparates hat solche Ausmaße angenommen,dass kaum eine Leistung der öffentlichen Hand mehr ohne besondere Zahlungen in Anspruchgenommen werden kann. 1998 wurden nach offiziellen Angaben mehr als 73.000Korruptionsfälle aufgedeckt. Wegen Korruptionsverdacht wurde im Oktober 1999beispielsweise gegen 400 Beamte der Provinzregierung in Kuanghsi ermittelt. Weitere 1.500Beamte verloren hier ihre Positionen auf Grund von erwiesener Bestechlichkeit. Ende Januardieses Jahres wurde einer der bisher größten Korruptionsfälle aus der südchinesischenHafenstadt Hsiamen/Provinz Fukien bekannt. Hier sollen seit Mitte der Neunzigerjahre unterMitwirkung von rund 200 Funktionären, unter ihnen auch der Vizebürgermeister der StadtWaren (Öl, Autos, Computer, Zigaretten und Waffen) im Werte von rund zehn Mrd. DollarUS ins Land geschmuggelt worden sein. In diesem Zusammenhang, wurde Frau Lin Yu-fangunter Hausarrest gestellt. Sie ist Vorsitzende der Import-Export Gesellschaft der ProvinzFukien und Gemahlin von Chia Ch'ing-lin, Mitglied des Politbüros der KP Chinas undProtegee – von Chiang Tse-min, Generalsekretär des ZK der Partei, Vorsitzender derMilitärkommission und Präsident der VR China.

Anfang März wurde der ehemalige stellvertretende Gouverneur der Provinz Kiangsi, HuCh'ang-ch'ing, hingerichtet. Hu hatte von Mai 1995 bis August 1999 Bestechungsgelder in derHöhe von rund 5,4 Mio. Yüan (rund DM 1,2 Mio.) angenommen, selber 80.000 Yüan anBestechungsgeldern ausgegeben, um sich Vorteile zu verschaffen, und war außer Standegewesen zu erklären, wie er Liegenschaften im Werte von 1,6 Mrd. Yüan ( rund DM 400Mio.) erwerben konnte. Nach Angaben der Medien der VR China nahm Hu Geschenke, u.a.Uhren und Diamanten, von Personen an, die Bankdarlehen aufnehmen, Geschäftslizenzengenehmigt haben und nach Hongkong umsiedeln wollten. Zwei weitere Korruptionsfälle vonbesonderen Dimensionen wurden in ersten Halbjahr 2000 im Zusammenhang mit dem Baudes Drei-Schluchten-Staudamms am Yangtzu Fluss bekannt. Einer der leitenden Manager derDrei-Schluchten- Industriegesellschaft, die zwei Drittel der bisherigen Bauten ausführte, eingewisser Tal Lan-sheng, wurde im Januar angeklagt, durch den Import veralteten BaugerätsMilliarden von Yüan veruntreut zu haben. Im Mai berichtete die Hongkonger Tageszeitung"South China Morning Post" über den Fall eines gewissen Chin Wen-ch'ao, Leiter derEntwicklungsgesellschaft des Staudamms. Chin hatte sich um rund eine Viertelmilliarde DMbereichert, indem er Arbeitsplätze verkaufte und den Namen des Prestigeprojektes benutzte,um Stahl und andere Materialien günstig einzukaufen und mit hohen Gewinnenweiterzuverkaufen. Er wurde deswegen 1999 zwar festgesetzt, aber konnte entkommen.Angeblich war er des Lesens und Schreibens kaum kundig und ursprünglich der Leiter eineskleinen Wasserwerks in Henan gewesen. Hier wurde er jedoch von einem ehemaligenVizeminister für Wasserkonservierung auf einer Inspektionstour entdeckt und umgehend zumLeiter der Entwicklungsgesellschaft befördert.

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Eine solche Geschichte deutet selbstverständlich darauf hin, dass der Delinquent nicht alleinüber eine gehörige Portion an Bauernschläue, sondern auch über eine Reihe von stillenTeilhabern in höchsten Positionen von Staat und Partei verfügt.

Mit dem Drei-Schluchten-Staudamm habe ich das Stichwort für ein weiteres Problemgegeben, das in der VR China gigantische Dimensionen annimmt. Gemeint ist das derUmweltzerstörung. Von vielen in- und ausländischen Umweltspezialisten wird dasStaudamm-Projekt für eine einzige Maßnahme der Umweltzerstörung gehalten. Während derBeweis dafür noch aussteht. leidet vor allem der Norden Chinas schon heute auf Grund vonDürren, hemmungsloser Industrialisierung und Verschwendung unter einem akutenWassermangel. Nach Angaben des Ministers für Wasserressourcen, Wann Shu-ch'eng, sindüber die Hälfte der 670 Städte Festlandchinas von dem Wassermangel betroffen. Ein Fünftelder landwirtschaftlichen Nutzfläche leidet unter Dürren, In den bewässerten Gebieten fehltenim letzten Jahr 30 Mrd. Kubikmeter Wasser. Der Huanghe, die Hauptwasserader Nordchinas,ist seit Jahren streckenweise ausgetrocknet und hatte 1997 an 226 Tagen die Mündung nichtmehr erreicht. Der Grundwasserspiegel Pekings ist in den letzten 30 Jahren um 60 Metergesunken. Die Wasserreserven pro Kopf der Einwohner der Hauptstadt sind auf ein Dritteldes gesamtchinesischen Durchschnitts zurückgegangen und stellen nur noch den 30sten Teildes weltweiten Durchschnitts pro Kopf dar. Nur 40% der Abwässer werden geklärt, sodassHaushalts- und Industrieabwässer unmittelbar in Grundwasser und Gewässer gelangen. DieHälfte der 700 großen Flüsse im ganzen Land sind angeblich verseucht. Ebenso sind auch dieHälfte aller Grundwasservorräte toxisch belastet, sodass rund 64% der Bevölkerung Chinasverunreinigtes Wasser zu sich nehmen. Nach Angaben des Ministers für Wasserressourcenwird das vorhandene Wasser zum überwiegenden Teil nicht rentabel genutzt. DieIndustrieproduktion verschlingt hier das Zehn- bis Zwanzigfache der in den Industrieländernbenötigten Wassermenge. Übrigens ist China von seinen natürlichen Vorgaben her wie keinzweites Land in der Welt mit Wasser gesegnet.

Die Aufzählung von Problemkomplexen und ebenso die Liste von Beispielen zu derenVerdeutlichung könnten beliebig lange fortgesetzt werden. Lösungen für Probleme lassen sichim Übrigen wesentlich seltener finden als Umstände, die Problemlösungen zusätzlicherschweren. So verhält es sich beispielsweise mit der Aufnahme der VR China in dieWelthandelsorganisation, die in greifbare Nähe gerückt ist. In diesem Zusammenhang wirddie seit Jahren überfällige Reform und Sanierung des Bankenwesens im Lande unumgänglich.Damit sind insbesondere die Eliminierung der so genannten "faulen Kredite" und dieUnterbindung weiterer Kredite an Staatsunternehmen gemeint, die längst bankrott sind undinfolgedessen ihre Kreditaufnahmen niemals bedienen können. Westliche Spezialistenschätzen die Summe solcher Kredite, die wegen Insolvenz nicht mehr zurückgezahlt werdenkönnen, auf rund 200 Mrd. US $. Das entspricht ungefähr 20% des Bruttosozialprodukts(BSP) der VR China. Die Kosten für eine durchgreifende Reform des Bankenwesens wirdvon der Rating Agentur Moody's auf rund 12% des volkschinesischen BSP geschätzt. Wieimmer nun mit den "faulen Krediten" verfahren wird, ist eine wirksame Lösung des Problemsohne die rigorose Schließung von maroden Staatsbetrieben und Massenentlassungen, was einemassive Verschärfung des Arbeitslosenproblems impliziert, nicht denkbar. Die Ausweitungder Arbeitslosigkeit muss sich absehbar auf die Kriminalitätsrate bzw. auf den Umfang vonBestechung und Korruption belastend auswirken. Ebenso absehbar ist, dass der allgemeineKampf gegen Korruption in jedem Einzelfall einerseits Bemühungen fördert, dieVorkehrungen vor Entdeckung zu verfeinern, und andererseits zur Erhöhung der Preise fürGeschenke sowie zur Erweiterung des Kreises der mit Geschenken zu bedenkenden Personenführt.

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Die Kontinuität sozialer Praktiken umfasst in China mehrere Jahrtausende. Für jedenEinzelnen ist infolgedessen vorhersehbar, wie Herrschende und Beherrschte unter welchenUmständen auf einander reagieren. Missstände sind deshalb allenfalls durch das Auswechselnder Herrschaftselite zeitweilig abstellbar. Unter ein und derselben Herrschaftselite pflegenBestände auf Grund des sozialen Rituals, einander immer wieder an Raffinesse zuübertrumpfen, im Allgemeinen zu eskalieren.

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3. Chinas Außenpolitik

Die innere Lage der VR China scheint mir auf Grund dieser Skizze, die sehr grob bleibenmusste, als fragil gleichwohl erkennbar zu sein. Die gewaltsame Aufrechterhaltung deskommunistischen Hegemonieanspruches über das Ende von Verheißungen wieWeltrevolution, materiellen Überfluss und Klassenlosigkeit im Stadium derGeschichtserfüllung sowie Absterben von Herrschaft hinaus lässt das Verhältnis zwischenHerrschaftselite und Beherrschten ein solches bestenfalls der feindseligen Koexistenz, dochregional, wenn wir etwa an Tibet und Sinkiang denken, und punktuell, zum Beispiel in derBegegnung mit von der KP Chinas nicht kontrollierten Massenbewegungen, auch schon einsolches des latenten Bürgerkrieges sein.

Unter den Voraussetzungen der inneren Zerbrechlichkeit und des permanentenGesellschaftskonflikts versucht die Führung in Peking, möglichst häufig auf derinternationalen Ebene präsent zu sein und gegenüber der Außenwelt wie gegenüber dereigenen Bevölkerung den Eindruck zu erwecken, dass es zu ihr keine Alternative gebe. Inallen Fragen der nationalen Souveränität gibt sie sich dabei von jener radikalenKompromisslosigkeit, die westliche Beobachter bereits seit Mitte der Fünfzigerjahre und allenKatastrophen, die mit ihr einhergegangen sind, zum Trotz als Ausdruck von nationalem Stolzund Selbstbewusstsein Chinas zu bezeichnen pflegen. Dazu zählt sie ihren beliebigenUmgang mit dem Menschen innerhalb ihres aktuellen Kontrollbereichs ebenso wie die Frageder Zugehörigkeit von Inseln und Atollen an ihrer Pazifikküste und im Südchinesischen Meeroder die Frage der Befreiung Taiwans mit mehr oder weniger friedlichen Mitteln.

Zentrale Mittel zur Demonstration internationaler Präsenz sind seit Anfang derNeunzigerjahre nicht mehr – fast erscheint dieser Hinweise schon als antiquiert –Entwicklungshilfe von Aufsehen erregenden Dimensionen bzw. bewunderungswürdigerBescheidenheit oder befreiungsideologische Propaganda bzw. die Unterstützung vonTerrorbewegungen in fremden Ländern und Kontinenten – sondern eine rege Reisediplomatiechinesischer Spitzenpolitiker, in den letzten Jahren vor allem von Staatspräsident ChiangTse-min, sowie Raketenübungen und sonstige militärische Marinemanöver vor der eigenenKüste.

Zunächst galt es für Peking, die außenpolitische Isolierung der VR China als Folge derMassaker vom Juni 1989 zu überwinden. In den Jahren 1993 und 1994 diente dieReisediplomatie Pekings darüber hinaus der Liquidierung von Restproblemen des KaltenKrieges im Verhältnis mit der Sowjetunion, der Neuregelung der Beziehungen zwischen derVR China und den Nachfolgestaaten der Sowjetunion sowie der dezenten Wiederaufnahmeeiner engen Zusammenarbeit mit Russland vor allem auf militärischem Gebiet. Mit Indienwurden vertrauensbildende Maßnahmen entlang der Himalaya-Grenze vereinbart und mit derkommunistischen Führung in Hanoi ein Übereinkommen zwischen der VR China undVietnam über "grundlegende Prinzipien für die Beilegung von Grenz- undTerritorialstreitigkeiten" unterzeichnet. Im Zeichen des internationalen sozialistischenNiedergangs rückten Pekings Führer im Übrigen auch wieder mit Fidel Castro und Kubazusammen.

Das Verhältnis der VR China zu den Staaten Europas und zur EU normalisierte sich ab Mitteder Neunzigerjahre rasch. Anlässlich des 25. Jahrestages der Aufnahme diplomatischerBeziehungen zwischen Bonn und Peking deutete der damalige deutsche Außenminister ineiner gemeinsamen Erklärung mit seinem chinesischen Amtskollegen 1997 sogar an, dieDeutschen könnten hier und da von der VR China lernen.

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Zwiespältig, kompliziert und schwierig, gleichzeitig aber auch sehr speziell bliebdemgegenüber das Verhältnis zwischen der VR China und den Vereinigten Staaten vonAmerika (USA).

Partielle diplomatische Kooperation zwischen Washington und Peking etwa zur Vermeidungerratischer Zwischenfälle auf der koreanischen Halbinsel, fast vertraulich anmutendeBegegnungen zwischen amerikanischen und chinesischen Militärs sowie ein großzügigerTechnologietransfer von den USA in die VR China stehen immer wieder im Wechsel mitjähen Spannungen wie anlässlich der Aufdeckung chinesischer Spionageerfolge im Bereichder amerikanischen Raketenentwicklung und der mehr oder weniger versehentlichenBombardierung der Botschaft der VR China in Belgrad durch amerikanische Flugzeugewährend des NATO-Einsatzes gegen Serbien im Laufe der ersten Hälfte 1998 und sogarmilitärischen Krisen wie in den Wochen unmittelbar vor den Präsidentenwahlen in derRepublik China auf Taiwan im Frühjahr 1996 und im Frühjahr 2000. In diesem Auf und Abschlägt sich die Tatsache nieder, dass das menschenreichste Entwicklungsland der Welt nichtnur seit Mitte der Sechzigerjahre Nuklearmacht ist und zu den auf Grund eines besonderenVetorechts privilegierten Staaten im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zählt, sondernauch nach wie vor im unmittelbaren Wortsinn auf Kriegsfuß mit den politischen undterritorialen Gegebenheiten im asiatisch-pazifischen Raum lebt.

Die VR China ist nach wie vor eine anti-Status-quo – Macht. Diese Tatsache bezieht sichnicht allein auf Taiwan und andere Inseln, welche die Führung in Peking sich vorbehält,nötigenfalls mit militärischen Mitteln an sich zu bringen, sondern auch und zweifellos sogarprimär auf die westlich dominierte Weltkultur unserer Tage. Es ist nicht die BevölkerungChinas in ihrer überwiegenden Mehrheit, sondern eine kleine Minderheit, die dieserWeltkultur feindselig gegenübersteht und ihre Feindseligkeit auch immer wieder inKampagnen gegen die westliche Verschmutzung von Geist und Herzen der chinesischenMenschen zum Ausdruck bringt. Die überwiegende Mehrheit der chinesischen Menschen teiltauf Grund ihrer historisch-kulturell eher kosmopolitischen denn isolationistischen Neigungdiese Feindseligkeit gegenüber der westlichen oder auch jeder anderen Kultur in der Weltnicht. Elitäres anti-Westlertum in China hat eben deshalb wiederum etwas mit Herrschaft zutun und eine innenpolitische Dimension. Außenpolitisch ist dieses anti-Westlertumhinreichend prägend um die VR China nach dem Zusammenbruch des so genanntensozialistischen Weltsystem zwar mit den anderen Staaten und Kulturkreisen im asiatischenRaum koexistieren, aber nicht wirklich längerfristig kooperieren zu lassen. China hat nichtnur keine Feinde mehr, wie eingangs gesagt, sondern auch keine Freunde und Verbündeten.

An diesem Punkt möchte ich versuchen, die Fragen zu beantworten, die ich zur Diskussiongestellt habe: Wird die VR China das neue Jahrhundert wirtschaftlich und politisch für sichentscheiden können? Sind die Staaten und Regierungen Europas gut beraten, gegenüber denderzeitigen Führern in Peking möglichst Wohlverhalten zu üben? und: Was können wirinternational von der VR China erwarten?

Die Erste dieser drei Fragen zeugt m. E. ebenso von historischer Unkenntnis wie voninsgeheimer Bewunderung totalitärer Macht. Auf jeden Fall spricht aus ihr jene notorischeÜberschätzung der wirtschaftlichen und politischen Leistungsfähigkeit der chinesischenKommunisten im Westen, die wir bereits aus den Tagen des so genannten "Großen Sprungsnach vorn" bzw. der so genannten "Kulturrevolution" hinlänglich kennen. In derAuseinandersetzung mit diesem Phänomen hat der leider viel zu früh verstorbene britischeChinaspezialist Gerald Segal auf folgenden Sachverhalt hingewiesen:

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Im Jahre 1800 brachte das damals kaiserliche China rund 33% aller manufakturellenProduktion in der Welt hervor. Europas Anteil machte im selben Jahr 28% aus, derjenige derUSA betrug 0,8%. Im Jahre 1900 war der Anteil Chinas an der manufakturellen Produktion inder Welt auf 6,2% gesunken. Europas Anteil betrug jetzt 62% und derjenige der USA lag bei23,6%. Bis zum Jahre 2000 ist der amerikanische Anteil unwesentlich gestiegen. Er liegt beietwa 25,6%, Chinas Anteil aber hat sich gegenüber 1900 noch einmal fast halbiert. Er liegtheute bei etwa 3,5%.

Der Weg von jener wirtschaftlich und politisch mittleren Macht, welche die VR China heutetatsächlich nur ist, in eine Spitzenposition wird von einer Vielzahl von Hindernissen verstellt.Das Erste und wichtigste unter diesen bildet nach meinen Erkenntnisse eben jenekommunistische Einparteiherrschaft, von der fast alle westlichen Regierungen irrtümlichmeinen, sie garantiere Stabilität und damit zugleich Wachstum und Prosperität. Die zentraleFrage zu Beginn des neuen Jahrhunderts ist in Wirklichkeit, ob China dieseEinparteiherrschaft noch schnell genug abwerfen kann, um nicht mit ihr ein weiteres Mal ineinem Chaos zu versinken.

Alle westlichen Regierungen sind m. E. gut beraten, sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen und darauf hinzuwirken, dass Demokratie als Alternative in China nicht ihreAnziehungskraft verliert. Für keine westliche Industrienation ist die VR China inwirtschaftlicher Hinsicht von einer nennenswerten Bedeutung. Für die VR China sindhingegen die westlichen Volkswirtschaften unverzichtbar geworden. Es gibt aus westlicherSicht objektiv keinen Zwang zur Rücksichtnahme auf vermeintliche Empfindlichkeiten derkommunistischen Herrschaftselite. Alle westlichen Länder haben hingegen Anlass zufürchten, dass anhaltende Repression im Inneren Chinas zu einer Emigrationsbewegunggrößeren Ausmaßes führt, und der Versuch einer militärischen Eroberung Taiwans, alsoKrieg, einen regelrechten Exodus aus der VR China auslöst. Die stärkeren Argumentesprechen eindeutig gegen ein europäisches Wohlverhalten gegenüber der Führung der VRChina.

Was wir von diesem Land im neuen Jahrhundert international zu erwarten haben, wird sichunter der Bedingung fortgesetzter kommunistischer Herrschaft bestenfalls nicht wesentlichvon dem unterscheiden, was wir im Laufe der Letzten zwei Jahrzehnte erfahren haben:

− Befristete anti-westliche Zweckbündnisse in begrenzten Sachfragen wie etwa im Hinblickauf die Menschenrechtsproblematik mit Burma, Malaysia, Singapore und Indonesien, mitRussland im Hinblick auf die Unterwerfung Tschetscheniens, mit Serbien in derKosovo-Frage, mit Pyongyang im Viermächte – Entspannungsdialog auf der koreanischenHalbinsel oder auch mit Pakistan gegenüber Indien;

− Duldung von einzelnen UNO-Interventionen zur Friedenssicherung; sowie− die Fortsetzung einer massiven militärischen Aufrüstung und eines Rüstungswettlaufs in

Ostasien.

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Günter Kast

China und Amerika – Schwierige Partner

China und Amerika werden zwar nicht in einen Kalten Krieg Teil II eintreten, sie werdenandererseits aber auch keine strategische Partnerschaft aufbauen, sondern die beiden Nationenwerden schwierige Partner bleiben und ihre bilateralen Beziehungen werden von einemständigen Auf und Ab gekennzeichnet sein. Dieser Zustand kann jedoch kein dauerhafter sein,denn die Volksrepublik China wird von einer Regionalmacht zur Großmacht aufsteigen undin Folge dessen die militärische Präsenz der USA in Fernost nicht länger akzeptieren.

Die Lösung dieses Dilemmas kann nur in einem schrittweisen Disengagement der USA ausder Region verbunden mit dem Aufbau einer multilateralen Sicherheitsarchitektur liegen.

1. Prolog

Ende gut, alles gut? Der bevorstehende Beitritt der Volksrepublik zurWelthandelsorganisation nach zähen Verhandlungen mit den USA lässt vergessen, dass diesino-amerikanischen Beziehungen dieses Jahr bereits einen neuen Tiefpunkt erreicht hatten:Nach dem Bombardement der chinesischen Botschaft in Belgrad war von einer strategischenPartnerschaft lange Zeit keine Rede mehr gewesen. Die Situation erinnert an die diversenTaiwan-Krisen der vergangenen Jahre: Nach einer Tauwetterperiode hatte es jedes Mal einengravierenden Rückschlag gegeben: die Rückgabe Hongkongs, Menschenrechtsfragen, derStatus Tibets, der Verkauf von Raketentechnologie an Pariah-Staaten oder die endlosenDebatten im US-Kongress um die Meistbegünstigung Chinas im Handel mit den USA –Gründe für neuerlichen Streit gab und gibt es genug.

Das wirft die Frage auf, ob es nur diese bilateralen Probleme sind, die das zwischenstaatlicheVerhältnis belasten. Oder ob es unter der Oberfläche nicht einen strukturellen Konflikt gibt,der immer dann aufbricht, wenn eine etablierte Groß- oder Supermacht von eineraufstrebenden Regionalmacht herausgefordert wird.

2. Die Machtbasis der Kontrahenten

Die USA sind und bleiben die nächsten zehn bis 15 Jahre die einzige Supermacht, was ihreökonomischen, militärischen und strukturellen Ressourcen angeht. Wichtiger jedoch ist derauch nach dem Ende des Ost-West-Konflikts vorhandene Wille zur Macht, den ich alsleadership-Mythos bezeichnen möchte: die Überzeugung, dass eine Welt, die ohne denFührungsanspruch Amerikas auskommen müsste, wesentlich unsicherer, unfreier und wenigerlebenswert wäre. Mit den Worten Newt Gingrichs, des Ex-Sprechers im US-Repräsentantenhaus: "Amerika muss führen. Punktum. Wenn wir den Planeten nicht führen,wird er führerlos bleiben. Wir sind im klassischen Sinne ein Hegemon." Dies ist beileibe nichtdie bizarre Meinung eines inzwischen politisch Kaltgestellten, sondern durchaus Konsens impolitischen Establishment Washingtons. Die nach dem Kalten Krieg entstandenen DefensePlanning Guidances des Pentagons sprachen hier eine deutliche Sprache: Sie plädierten dafür,den Aufstieg eines neuen Herausforderers der USA mit allen Mitteln zu unterdrücken – eineAussage, die in Peking mit Interesse zur Kenntnis genommen wurde. TheoretischesFundament war immer die so genannte "hegemonic stability" – eine Theorie, die besagt, dass

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eine internationale Ordnung nur dann stabil ist, wenn sie eine eindeutig identifizierbareFührungsmacht besitzt.

Diese Logik ist der Grund dafür, dass die USA in Ostasien auch nach dem Ende des KaltenKrieges präsent bleiben wollen. Begründet wird die Militärpräsenz mit der unsicherenSituation in der Straße von Taiwan, der noch offenen Koreafrage, dem Bündnis mit Seoul undTokio sowie dem schwelenden Territorialkonflikt im Südchinesischen Meer. Kritik löst diesvor allem in Peking aus, da die anderen beiden Großmächte der Region – Russland und Japan– entweder nicht willens, oder nicht in der Lage sind, eine prominentere sicherheitspolitischeRolle in Fernost zu spielen. Peking hingegen, das die militärische Präsenz der USA in Japannoch vor nicht allzu langer Zeit begrüßt hat, weil sie die massive Aufrüstung des ErzrivalenJapan verhindert, ist das US-Militär vor der eigenen Haustür zunehmend ein Dorn im Auge.

Dass es bisher nicht zu noch gravierenderen Krisen im sino-amerikanischen Verhältnisgekommen ist, liegt daran, dass Peking derzeit noch nicht über die militärische Machtbasisverfügt, um die USA – zum Beispiel in der Taiwan-Straße – herauszufordern. Wann das derFall sein wird, hängt primär davon ab, wie sich die Volksrepublik ökonomisch entwickelnwird. Einige Kommentatoren in den USA kritisierten denn auch, der Beitritt Chinas zur WTObeschleunige nur das Heranwachsen eines militärischen Rivalen. Fest steht allerdings, dassdie Volksrepublik irgendwann im neuen Jahrhundert über das militärische Potenzial verfügenwird, um für die USA zu einem ernst zu nehmenden Gegner zu werden.

Derzeit gibt es in der chinesischen Führung jedoch keinen Konsens über den künftigenaußenpolitischen Kurs. Nur ein Teil der politischen und militärischen Elite denkt in den altenKategorien von Machtgleichgewichten und Hegemonie – von mir das Pax Sinica-Modellgenannt. Viele Militärexperten und Wissenschaftler, die über Kontakte zu westlichen ThinkTanks oder Instituten verfügen, propagieren stattdessen längst ein interdependentesStaatenmodell, in dem nicht eine Nation über andere dominiert, sondern Konflikte imRahmen multilateraler Strukturen gelöst werden und intensive Handelsbeziehungen zwischenden Akteuren bestehen.

Damit sich diese moderne Auffassung internationaler Beziehungen in Pekings Führungdurchsetzen kann, bedarf es einiger Voraussetzungen, die die USA mitbeeinflussen können.Der immer stärker präsente chinesische Nationalismus, gespeist aus jahrhundertelangerDemütigung durch den Westen, darf nicht zu einer Gefahr für die Stabilität der Regionwerden. Das gelingt aber nur, wenn die USA es vermeiden, die Volksrepublik mit ihrerMilitärpräsenz oder einer Vertiefung der US-japanischen Allianz zu provozieren. Langfristigwird das jedoch nicht genügen: Peking wird nur dann davon zu überzeugen sein, dass dieUSA ihren Führungsanspruch in der Region tatsächlich aufzugeben bereit sind, wennWashington seine Militärpräsenz von derzeit rund 100.000 Mann schrittweise reduziert,gegenüber Peking eine ehrliche Politik der Einbindung verfolgt und parallel zummilitärischen Disengagement den Aufbau einer multilateralen Sicherheitsarchitektur ähnlichwie in Europa nicht nur nicht behindert, sondern aktiv fördert.

3. Eindämmung oder Einbindung?

Die Befürworter eines Containment, geprägt von den Tiananmen-Ereignissen, führenfolgende Argumente ins Feld: Ein autoritär regiertes, expansiv orientiertes China sei primäran der Wiederherstellung einer präkolonialen Vormachtrolle durch Konsolidierung im Innernund der Rückgewinnung verlorener Gebiete interessiert. Um diesem Ziel näher zu kommen,

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beharre Peking kompromisslos auf seiner staatlichen Souveränität und blockiere deshalb dieErörterung bilateraler Problemfelder wie Rüstungsexporte und Menschenrechte. Da keine derin Peking um Einfluss ringenden Fraktionen es sich leisten könne, einen US-freundlichenKurs zu fahren, sei der Versuch der Einbindung zum Scheitern verurteilt und laufe aufgefährliches Appeasement hinaus. Clinton werfen die Eindämmungsbefürworter vor, erbringe den Mut zu einem Kurswechsel nicht auf, obwohl die zahlreichen Versuche zurEinbindung der Volksrepublik eigentlich gescheitert seien. Vor allem in der Frage derMenschenrechte sei der erhoffte Wandel durch Handel bisher nicht zustandegekommen. DieContainment-Advokaten sehen ein China, das Taiwan immer unverhohlener mit einemAngriff droht, Hongkongs demokratische Institutionen bedroht, seine maritime Präsenz viaBirma ausbaut, Konflikte im Südchinesischen Meer schürt, kräftig aufrüstet und sichansonsten uninteressiert an den Reaktionen der Außenwelt zeigt. Sie werfen der Clinton-Administration vor, zu lange auf den Rat von Experten gehört zu haben, die darauf insistieren,dass China anders sei, dass dessen Führung nicht öffentlich konfrontiert werden dürfe, weilsie sonst Gesicht verliere. Menschenrechtlern wie Harry Wu, die das System staatlicherRepression in der Volksrepublik aus eigener Erfahrung kennen, sei dagegen keineAufmerksamkeit geschenkt worden. China watcher wie der Ostasienexperte des LondonerIISS, Gerald Segal, fordern deshalb seit einiger Zeit eine härtere Gangart der USA gegenüberPeking. Seine Kritik: Die Mehrheit der sinophilen China watcher zeichne ein zu positives Bilddes Riesenreiches und unterschätze die Expansionsgelüste der VBA.

Als Elemente einer neuen Containment-Doktrin fordern deren Befürworter: Ausbau der US-Militärpräsenz in Ostasien, Vertiefung der US-japanischen Sicherheitspartnerschaft, guteBeziehungen zu Moskau, Neu-Delhi, den ASEAN-Staaten und zu Chinas Erzfeind Vietnam,Unterstützung von in China inhaftierten Regimegegnern, logistische Hilfe für dieUnabhängigkeitsbewegungen in Sinkiang, Tibet und der Inneren Mongolei sowie für dieDemokraten in Hongkong, Garantie der nationalen Sicherheit Taiwans und Aufgabe der Ein-China-Politik, Ausbau der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit Australien, enormstrenge Auflagen für den WTO-Beitritt Chinas, Verweigerung der Meistbegünstigung,Unnachgiebigkeit bei Handelskonflikten, Sanktionen bei Verstößen gegen Urheberrechte undRüstungskontrollbestimmungen, Installation eines umfassenden Systems zur Abwehrballistischer Raketen in Ostasien, scharfe Verurteilung der Menschenrechtsverstöße ininternationalen Gremien, Unterminierung der KPCh mittels Radio Free Asia und Internetsowie Eindämmung der maritimen Ambitionen Pekings in Südostasien. Weiteres Argumentder "Eindämmer": Ökonomische Interdependenz allein (APEC, WTO) werde PekingsVormachtstreben nicht zügeln. Auch sei es nicht angebracht, Pekings unkooperativesVerhalten zu belohnen. Noch sei der Hinweis beruhigend, ein mit der Konsolidierung seinerinnenpolitischen Reformen beschä ftigtes China stelle keine Gefahr dar: Schließlich kenne dieGeschichte zahlreiche Beispiele instabiler Regimes, die durch militärische Abenteuer voninnenpolitischen Krisen abzulenken versuchten.

Die Clinton-Regierung hat diesen Argumenten bisher immer eine Absage erteilt und trotzvieler Rückschläge zumindest offiziell an der Politik der Einbindung festgehalten. IhrArgument: Ein China, das sich selbst in die Enge getrieben fühlt, werde im Sinne einer self-fulfilling prophecy tatsächlich zu einer Bedrohung für die Stabilität der Region. Außerdemhabe China dank seiner ökonomischen Reformen enorme Fortschritte auf dem Weg zu eineroffenen Gesellschaft gemacht. Allerdings sind die USA nicht so naiv zu glauben, eineausschließliche Einbindungsstrategie werde ausreichen, um den nicht zu leugnendenGrundantagonismus zwischen der Ordnungsmacht Amerika und der aufstrebendenRegionalmacht China vollständig zu entschärfen. Sie setzen deshalb auf einen Policy-Mix –constrainment oder conditional engagement genannt – aus neoliberalen Elementen und

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klassischer Machtpolitik. Diese wegen ihrer Realitätsnähe begrüßenswerte Politik wird jedochnur dann Erfolge produzieren, wenn ihre Defizite behoben werden. So muss z.B. dasWechselspiel zwischen Konzessionsbereitschaft und Druckausübung multilateralisiertwerden. Gegenwärtig ruht die ganze Last der Einbindung und/oder Eindämmung Chinas aufden Schultern der USA, wobei sich Washington durch sein Insistieren auf einer unipolarenWeltordnung allerdings selbst in diese Lage manövriert hat. Andere Nationen erwartendeshalb von den USA, dass sie bei der Formulierung einer adäquaten China-Politik eineFührungsrolle übernehmen. Die Vereinigten Staaten laufen dadurch Gefahr, von Peking alsHauptantagonist wahrgenommen zu werden, der Chinas Großmachtambitionen im Wegesteht, während die anderen Staaten von den handelspolitischen Konzessionen profitieren, zudenen Peking auf amerikanischen Druck hin bereit war und ist. Gleichzeitig wird es für Japanund andere Nationen Ostasiens immer schwieriger, sich zwischen Loyalität zu Amerika undRücksichtnahme auf Chinas Interessen zu entscheiden.

Ein weiteres Problem einer gemischten Strategie besteht darin, dass sie von Peking schnell alsverdeckte Eindämmung wahrgenommen wird. Schon der Begriff "engagement" (fürEinbindung) erweckt in Peking Argwohn. Dort ist man davon überzeugt, dass Einbindung inerster Linie auf die Destabilisierung des politischen Systems der Volksrepublik abzielt. EinUS-Präsident, der öffentlich den Untergang des KP-Regimes in China für so unvermeidlichwie den Fall der Berliner Mauer hält, gibt dieser Perzeption zusätzlich Nahrung. "Außerdemsehen die Chinesen", so schreibt der frühere US-Botschafter in Peking, James Lilley, "wieAmerika sich an Indien anschmiegt und Pakistan ans Schienbein tritt, wie es Vietnamanerkennt, F-16-Jets an Taiwan verkauft, mit Japan Hand in Hand ins 21. Jahrhundertmarschiert und ein vereintes Korea unter Führung Seouls als Verbündeten wünscht."

Der beschriebene carrot-and-sticks-Approach der Amerikaner ist also per se schonproblematisch. Endgültig an seine Grenzen stößt er jedoch beim Thema US-Militärpräsenz.Denn nicht nur für die Containment-Befürworter, sondern auch für die Advokaten einesPolicy-Mix oder einer ehrlichen Einbindungs-Doktrin bleibt die Anwesenheit der US-Truppen in Fernost eine unverzichtbare Rückversicherung gegen potenzielleExpansionsbestrebungen Pekings. Sollte nämlich das Experiment der Einbindung Chinasscheitern, verfügen die USA immer noch über einen ausreichend großen Vorrat an hartenMachtwährungen, um beispielsweise Taiwan beizustehen oder einem ASEAN-Staat zur Hilfezu kommen. Diese Sichtweise ignoriert jedoch den Meinungsumschwung führender Kreiseder Volksbefreiungsarmee, die sich immer deutlicher gegen eine US-Militärpräsenz inFernost aussprechen. Bereits 1995 forderte Peking die USA auf, sie sollten aufhören, denRetter des Ostens zu spielen und nach Hause gehen. Offensichtlich scheint China dieMöglichkeit eines sicherheitspolitischen Alleingangs Japans inzwischen weniger zu stören,als die Nachteile, die ihm aus einer fortgesetzten US-Militärpräsenz im Westpazifikerwachsen.

Als Washington und Tokio vor kurzem ihre militärische Zusammenarbeit vertieften, sandtensie zwar hochrangige Diplomaten nach Peking, um die chinesische Führung von denVorteilen des neuen Arrangements zu überzeugen. Doch China reagierte negativ und warf denEmissären vor, noch immer in Kategorien des Kalten Krieges zu denken und dieVolksrepublik eindämmen zu wollen. Da dies in der Tat einer der Gründe für die engereamerikanisch-japanische Militärkooperation ist, ist schwer ersichtlich, wie in diesem Klimades Misstrauens eine Politik der Einbindung Erfolg haben soll.

Wenn die Amerikaner mit ihrer Politik der Einbindung von den Chinesen ernst genommenwerden wollen, kommen sie deshalb nicht umhin, über ein graduelles militärisches Dis-

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enangement aus Fernost ernsthaft nachzudenken. Nur so könnte ein multipolares, vonInstitutionen unterfüttertes Staatensystem in der Region entstehen, das nicht länger aufbilateralen Bündnissen wie dem amerikanisch-japanischen basiert. Und nur wenn sich Pekingals gleichberechtigte Großmacht ernst genommen fühlt und ihr die USA Raum für regionalenund globalen Prestigezuwachs lassen, wird sie sich mittel- bis langfristig in die internationaleStaatenwelt einbinden lassen.

4. Gesucht: Eine alternative US-Strategie gegenüber China und derasiatisch-pazifischen Region

Warum eine neue Strategie, wo die USA mit ihrer derzeitigen Politik doch so gut fahren?

Japan wird nur dann im sicherheitspolitischen Bereich zu einer "normalen" Nation (so wieDeutschland nach dem 2. Weltkrieg), wenn Washington und Tokio ihre Vater-Sohn-Beziehung in eine gleichberechtigte Partnerschaft transformieren. Der derzeitige sicherheits-politische Bilateralismus in der Region behindert den Aufbau neuer multilateraler Strukturen.

Es ist ein verhängnisvoller Fehler Washingtons, anzunehmen, eine Mixtur aus Einbindungund Eindämmung gegenüber China sei praktikabel. Die US-Regierung kann nicht Peking dierechte Hand reichen, gleichzeitig mit der linken Hand eine Pistole auf Peking richten, unddann hoffen, dass die Volksrepublik das nicht merkt. Kooperative und konfrontativeStrategien sind nur bedingt kompatibel.

Natürlich wäre es naiv, eine isolationistische US-Strategie zu fordern, die ein unverzüglichesmilitärisches Disengagement und eine sofortige Aufkündigung der bilateralenSicherheitsverträge in der Region vorsieht. Ein solch abrupter Strategiewechsel würde in derTat destabilisierend wirken. Ebenso naiv ist es allerdings zu fordern, es müsse erst einemultilaterale Sicherheitsarchitektur entstehen, ehe die USA über einen Rückzug nachdenkenkönnen. Denn ohne Disengagement der Amerikaner fehlt der Impuls, diese Architektur zügigaufzubauen.

Natürlich setzt dies voraus, dass Peking ein hinreichend kooperativer Partner beim Aufbaudieser Strukturen ist. Ich bin in meiner Untersuchung zu dem Ergebnis gekommen, dass diesder Fall ist, obschon Peking ein schwieriger Partner bleiben wird, der die ganze Geduld derAmerikaner fordert. Man darf jedoch nicht vergessen: Auch die USA strapazieren die Nervender Pekinger Führung: Washington berauscht sich an der Autorität, die mit dem Statuseinhergeht, die einzige verbliebene Supermacht zu sein. Die Volksrepublik hegt zurechtZweifel, ob es den USA gelingen wird, in Ostasien und auf globaler Ebene zu einer Strategieder Selbstbescheidung zurückzufinden.

Es wäre deshalb vor allem ein Signal an Peking, wenn die USA endlich damit begännen, übereine neue Ostasien-Strategie nachzudenken. Eine Strategie, die weg von der Sicherheits-Hegemonie, und hin zu einem von Institutionen unterfütterten balance-of-power-Systemführt, in dem die USA nicht mehr vor Ort militärisch präsent sind, sondern sich auf die Rolleeines "distanzierten Gleichgewichtsherstellers" beschränken.

Die Herausforderung für Washington besteht darin, der amerikanischen Öffentlichkeit zuerklären, dass es auch im Interesse der USA wäre, China eine eigene Einflusszone in Fernostzuzugestehen.

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Peter J. Opitz

Szenarien einer militärischen Konfrontation

1. Neue Spannungen zwischen Peking und Taipei

Zu Beginn der 90er-Jahre sah es für einige Zeit so aus, als würde einer der gefährlichstenKrisenherde der Welt – die Kontroversen der Regierungen in Peking und Taipei über dieZukunft von Taiwan – auf friedliche Weise beseitigt werden können. Nicht nur intensiviertensich die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Taiwan und der Volksrepublik China,nachdem die Regierung in Taipei 1991 das Verbot von Investitionen der taiwanesischenWirtschaft auf dem Festland gelockert hatte. In Peking und Taipei waren auch Arbeitsgruppengebildet worden, die im April 1993 in Singapur erste offizielle Gespräche über die Gestaltungder zukünftigen Beziehungen aufnahmen. Doch der politische Frühling war nur von kurzerDauer. Gleich zu Beginn der zweiten Hälfte der 90er-Jahre erfuhr die Situation in der Taiwan-Straße erneut eine deutliche Verschärfung. Anlass war ein Besuch des taiwanesischenPräsidenten Lee Teng-hui bei seiner Alma Mater, der Cornell-University in Ithaca/USA imJuni 1995. Während Präsident Lee ihn als einen Privatbesuch ausgab, sah die Führung inPeking in der Reise ein kalkuliertes politisches Manöver, nämlich den Versuch der RepublikChina, die diplomatische Containment-Politik Pekings zu durchbrechen und ihreninternationalen Handlungsspielraum auszudehnen. Dementsprechend harsch fielen auch dieReaktionen der chinesischen Führung aus: Während die amerikanisch-chinesischenBeziehungen auf einen Gefrierpunkt absanken und der chinesische Botschafter demonstrativaus Washington zurückberufen wurde, führte die Volksbefreiungsarmee (VBA) in derTaiwan-Straße umfangreiche Manöver und Raketentests durch.

Auch im Frühjahr 1996 hatten sich die Wogen der Erregung in Peking noch nicht gelegt: Fürden 23. März 1996 waren in Taiwan Präsidentschaftswahlen angesetzt. Offenbar in derHoffnung, die Bevölkerung der Insel einschüchtern zu können, führte die VBA imunmittelbaren Vorfeld der Wahlen erneut große Militärmanöver gegenüber von Taiwan durchsowie Raketentests, wobei die Geschosse dicht unter der Küste Ta iwans einschlugen.

Ziel- und Manövergebiete der VR China

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In dieser Situation zeigte nun auch die amerikanische Regierung Flagge. Sie entsandte zweiFlugzeugträgergruppen in die Taiwan-Straße und demonstrierte so ihre Entschlossenheit,einen eventuellen Angriff auf Taiwan zu verhindern; es war die größte amerikanischeFlottendemonstration nach dem Vietnam-Krieg. Allerdings ist fraglich, ob ein Angriff aufTaiwan überhaupt geplant war. Vermutlich ging es der chinesischen Führung vor allemdarum, noch einmal nachdrücklich ihre Entschlossenheit zum Ausdruck zu bringen, dass sienicht bereit ist, eine Unabhängigkeit der Insel, die sie als abtrünnige Provinz Chinas betrachtetund deren Rückgewinnung nach der Rückgliederung Hongkongs 1997 und Macaos 1999unter chinesische Souveränität nun höchste politische Priorität genießt, hinzunehmen.Zugleich sollten in diesem Zusammenhang auch die Reaktionen der Schutzmacht Taiwans,der USA, getestet werden. Für eine solche Deutung der Ereignisse spricht sowohl dieTatsache, dass die bei den Test verwendeten Raketen keine Gefechtsköpfe trugen, wie auchdie Ansicht fast aller Experten, dass die VBA noch gar nicht über die für eine erfolgreichemilitärische Aktion gegen Taiwan erforderlichen militärischen Kapazitäten verfügt.19

Größere Waffenkäufe in Russland, offenbar mit dem Zweck, den Aktionsradius der Marineund Luftwaffe Chinas zu erweitern, signalisierten freilich, dass man sich in Peking dieserSchwäche nicht nur bewusst war, sondern auch entschlossen, sie möglichst schnell zuüberwinden. Nachdem die VBA schon in der ersten Hälfte der 90er-Jahre Kampfflugzeugevom Typ SU-27, Transportflugzeuge vom Typ IL-76, S-300 Sam-Raketen sowie U-Boote derKilo-Klasse gekauft hatte, die auch auf den Manövern im März 1996 eingesetzt wurden,meldeten westliche Medien im Sommer 1999, dass Peking mit Moskau erneut über den Kaufvon 40 Kampfflugzeugen vom Typ SU-30 verhandelten. 20

19 Zur Krise von 1995-96 siehe: Porch, Douglas: The Taiwan-Straits Crisis of 1996: Strategic Implications for

the United States Navy, in: Naval War College Review, Vol.52, No.3, Summer 1999, S.15-48.20 FAZ, 2. Juli 1999.

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Tab. 1: Chinesische Waffenkäufe in Russland

Equipment Type Units Supplier Order Delivery Date Comment DateInter-continental ballistic missile DF-31/41 Domestic 1985 1998 Development begun 1985Submarine-launched balistic missile JL-2 Domestic 1985 2003 DevelopmentMaritime patrol aircraft radar 8 UK 1996 Searchwater to be fitted to Y-8Airborne early warning aircraft IL-76 4 Israel 1997Fighter, ground-attack F-10 Domestic 1989 2003 Development; requirement for

300Fighter, ground-attack Su-27 72 Russia 1990 1995 Licensed production for

further 150Training aircraft K-8 Collab. 1987 With PakistanMain battle tank Type-90-II Domestic 1990 1997 Development, of Type 85IIM;

trials 1996Armoured personnel carrier Type-90 2,000 Domestic 1990 1995 Family of 12 armoured

fighting vehicles; 400 delivered1996

Landing platform helicopter 1 Domestic 1996 2000Destroyer with area surface-to-air missile Sovremennyy 2 Russia 1997Defence mobilisation ship 1 Domestic 1997Frigate Luhu-class 3 Domestic 1991 1996 Second of class commissioned

in 1996Submarine Song-class 3 Domestic 1985 1996Submarine Ming-class 6 Domestic 1992 1996 1 delivered 1996Submarine Kilo 636 4 Russia 1993 1995 Deliveries to 1998Nuclear-fuelled ballistic-missile submarine Type 094 1 Domestic 1985 2000 Development; to carry

JL-2SLBMNuclear-fuelled submarine with dedicatednon-ballistic missile launchers

Type 093 1 Domestic 1985 2002 Similar to Russian Victor 3

Quelle: IISS, The Military Balance 1997/98The Limits of Sino-Russian-Strategic Partnership

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Dass die chinesische Führung im Falle eines militärischen Konflikts mit Taiwan auch eineKonfrontation mit den USA in Rechnung zieht, ging aus einem Geheimpapier des höchstenMilitärorgans Chinas, des Militärausschusses des Zentralkomitees der KPCh, vom August1999 hervor. In diesem Papier, das im Frühjahr 2000 auszugsweise in westlichen Medienveröffentlicht wurde, hieß es, dass die chinesische Führung eine friedliche Wiedervereinigungmit Taiwan zwar noch immer für die Beste aller Möglichkeiten halte, dass die von Lee Teng-hui propagierte These von zweiten Staaten aber die Grundlage für einen friedlichen Dialogzwischen beiden Seiten zerstört und dass damit die Gefahr militärischen Maßnahmendramatisch zugenommen habe. Ein militärisches Eingreifen der USA wurde in dem Papier fürwahrscheinlich gehalten. Allerdings zeigte man sich zuversichtlich, in einer solchen Situationauch den USA militärisch gewachsen zu sein und verwies zugleich selbstbewusst auf diechinesische Fähigkeit zu einem Zweit- und Drittschlag im Falle eines Atomkrieges.3

Mit dem Geheimpapier reagierte die chinesische Führung zunächst einmal auf eineFeststellung Lee Teng-huis. In einem Interview mit deutschen Journalisten hatte dieser zumErsten Mal von "speziellen zwischenstaatlichen Beziehungen" zwischen Taiwan und der VRChina gesprochen – für Peking ein weiterer Beweis für die "spalterischen Aktivitäten" desehemaligen taiwanesischen Präsidenten und zugleich ein weiterer Schritt auf dem Wege zurUnabhängigkeit Taiwans. Zu den unmittelbaren Reaktionen der chinesischen Führung gehörtedie offizielle Meldung, dass China über einsatzfähige Neutronenwaffen verfüge; zudem kames zu demonstrativen Verletzungen des taiwanesischen Luftraums durch chinesischeFlugzeuge. Aber es gab noch einen weiteren Anlass für das Papier: Für den 18. März 2000standen in Taiwan erneut Präsidentschaftswahlen an, und zumindest einer der Kandidaten, derFührer der größten Oppositionspartei, der Democratic Progressive Party (DPP), Chen Shui-bian, war in der Vergangenheit wiederholt offen für die Unabhängigkeit Taiwans eingetreten.Vermutlich stellte das den westlichen Medien zugespielte chinesische Geheimpapier somitauch eine weitere Warnung an die drei Präsidentschaftskandidaten dar, sich nicht zuunüberlegten Schritten in Hinblick Unabhängigkeit hinreißen zu lassen.

Offenbar hielt Peking die Präsidentschaftswahlen für wichtig genug, um noch einmal dieeigene Position zur Taiwan-Frage ausführlich darzulegen. Jedenfalls veröffentlichte das Amtdes Staatsrates für Angelegenheiten Taiwans am 21. Februar 2000 ein Weißbuch mit demTitel: Das Ein-China-Prinzip und die Taiwan-Frage. Außer einer detaillierten historischen undvölkerrechtlichen Begründung der eigenen Position markierte die chinesische Führung indiesem Papier auch noch einmal sehr genau die rote Linie, deren Überschreiten militärischeAktionen gegen Taiwan auslösen würde: "Würde es zu einem schwer wiegenden Ereigniskommen, sodass Taiwan unter irgendeinem Vorwand von China abgespalten würde, fiele eineausländische Macht in Taiwan ein oder lehnte Taiwan auf Dauer eine Einigung der beidenSeiten der Taiwan-Straße zu friedlichen Verhandlungen ab, so müsste chinesische Regierungjedoch alle möglichen drastischen Maßnahmen, die zu erwägen sind, Gewaltanwendung nichtausgeschlossen, ergreifen, um die Souveränität und territoriale Integrität Chinas zu wahrenund das Einigungswerk Chinas zu realisieren."4

Zu den Adressaten dieses Weißbuches gehörten auch die USA, insbesondere deramerikanische Kongress. Denn am 1. Februar 2000 hatte das amerikanischeRepräsentantenhaus mit deutlicher Mehrheit einen Taiwan Security Enhancement Actangenommen, der eine stärkere militärische Zusammenarbeit der USA mit Taiwan vorsieht.Verstärkte amerikanische Militärhilfe oder gar eine Aufwertung der Sicherheitsgarantien 3 Sieg in großen Schlachten, in: Der Spiegel, 8/2000, S.232.4 Deutscher Text in: Beijing Rundschau, 10/2000, S.21-32 (27).

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Washingtons – so fürchtet man in Peking – würden die Bereitschaft der taiwanesischenFührung zu ernsthaften Verhandlungen über die Wiedervereinigung zu den BedingungenChinas deutlich dämpfen. Der zentrale Punkt des Weißbuches war denn auch die Feststellung,dass Peking auch eine "auf Dauer" abzielende Verzögerung von Verhandlungen als CasusBelli ansehen würde.

Tab. 2: Amerikanische Waffenlieferungen an Taiwan

Order date Delivery date Units Designation1989 1993-98 7 Perry frigate1990 1993-97 7 CH-47 helicopter1992 1993-97 63 AH-1W helicopter1992 1997- 150 F-16A/B groundattack fighter1993 1997-98 6 Patriot surface-to-air missile1993 1995- 12 C-130 transport1994 1998 4 S-70C search-and-rescue helicopter1994 1997 2 Newport tank-landing ship (leased)1995 1997 32 S-T reconnaissance vehicle1995 1996- 300 Ex-US M-60A3 main battle tanks1995 1998 28 M-109A5 artillery1996 1998 74 Avenger surface-to-air missile1996 1998 30 TH-67 helicopter1996 1998 1,299 Stinger surface-to-air missile1997 2000 21 AH-1W helicopter1997 1997-99 5 Knox frigate1998 2001 13 OH-58D helicopter1998 58 Harpoon anti-surface ship missile1999 2002 9 CH-47SD helicopter1999 2002 4 E-2T airborne early-warning aircraft1999 2003 4 Aegis TMD-capable destroyer

Quelle: IISS

Sofern das Weißbuch die Bevölkerung Taiwans einschüchtern sollte, verfehlte es seinenZweck: Eine Mehrheit der Wähler entschied sich bei den Präsidentschaftswahlen für denFührer der DPP, Chen Shui-bian, der allerdings – wie im Übrigen auch die beiden anderenKandidaten – schon im Wahlkampf jede Äußerung über die Unabhängigkeit der Inselvermieden hatte. Weder sollte die chinesische Führung gereizt, noch ängstliche Wählerabgeschreckt werden. Doch auch nach gewonnener Wahl war Chen bestrebt, Zeichen desguten Willens und der Verständigungsbereitschaft zu setzen. Dazu gehörte vor allem dieErnennung des bisherigen Verteidigungsministers Tang Fei zum neuen Premier. Tang Fei istMitglied der in den Wahlen geschlagenen Kuomintang (KMT), die im Parlament über dieMehrheit verfügt. Beobachter werteten die Ernennung Tang Feis, der noch auf dem Festlandgeboren wurde, denn auch als einen geschickten Schachzug: Er bindet die KMT in die neueRegierung ein und er beruhigte durch die Ernennung eines gebürtigen Festländers zumRegierungschef zugleich auch Peking. Dennoch können die Spannung jederzeit wiederaufflackern.

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2. Konfliktszenarien

Vor diesem Hintergrund drängen sich nun zwei Fragen auf. Zum einen: Wie ernst sind dieWarnungen der Führung in Peking zu nehmen? Wie groß ist das Risiko, dass die chinesischeFührung, ungeachtet der unkalkulierbaren Folgen für die Stabilität der gesamten Region,gewaltsam gegen Taiwan vorgeht? Sofern man diese Fragen bejaht – was zahlreiche Expertentun –, stellt sich die Frage nach der Form, die solch ein gewaltsames Vorgehen annehmenkönnte, wenn die chinesischen Führung die Hoffnung auf eine friedliche Wiedervereinigungzu ihren Konditionen aufgegeben hat. Die im Weißbuch verwendete Formulierung zeigt, dass"Gewaltanwendung" nur eine Option in einem breiteren Spektrum darstellt, das unter demBegriff "drastische Maßnahmen" gefasst ist. Was aber sind "drastische Maßnahmen" – undwelche stehen der chinesischen Führung im Hinblick auf Taiwan zur Verfügung?

Bei näherem Hinsehen zeigt es sich, dass Peking eine Vielzahl von Eskalationsschritten zurAuswahl hat und dass die Invasion der Insel, die gemeinhin im Zentrum derKrisendiskussionen steht, nur eine von vielen Stufen auf dieser Eskalationsleiter ist, und nichteinmal die wahrscheinlichste.5 Im Wesentlichen sind es sieben Maßnahmenkomplexe, die sichwiederum in vielfältigster Weise kombinieren und variieren lassen, mit denen die chinesischeFührung Taipei unter Druck setzen und zum Einlenken auf ihreWiedervereinigungsbedingungen zwingen kann.

Eine erste Gruppe bilden Maßnahmen, die sich gewissermaßen auf den äußeren Rahmenbeziehen, die taiwanesisches Territorium selbst aber noch nicht unmittelbar in Mitleidenschaftziehen. Dabei handelt es sich zum einen um Maßnahmen, die die Zufahrtsrouten und HäfenTaiwans betreffen. Zu ihnen gehören Blockaden unterschiedlicher Intensität ebenso wie dieVerminung der Zufahrten zu den beiden wichtigsten Häfen Taiwans, Keelung und Kaohsiung.Die Folgen für die taiwanesische Wirtschaft könnten überaus schmerzlich sein und würden –konsequent durchgeführt – den Lebensnerv der Wirtschaft der Insel treffen. Allerdings gäbees eine Reihe von Gegenmaßnahmen – sowohl durch die taiwanesische Flotte wie aber auchvon Seiten der USA, die den Handelsschiffen Geleitschutz geben könnten. Angesichts derBedeutung, die Washington der freien Schifffahrt zuweist, und möglicher zukünftigerPräzedenzwirkungen im Hinblick auf die Südchinesische See wäre ein solches Eingreifensogar wahrscheinlich. Darüber hinaus bliebe Taiwan die Möglichkeit, Teile ihresSchiffsverkehrs, speziell ihre Energietransporte, auf andere Routen umzuleiten, die jenseitsdes Aktionsradius der chinesischen Marine liegen.

Eine zweite Maßnahme wären Sabotage-Unternehmen gegen wichtige wirtschaftliche undmilitärische Einrichtungen der Insel, aber auch Attentate auf führende Politiker undWirtschaftsführer, um die Regierung gesprächsbereit zu machen und die Bevölkerungeinzuschüchtern. Es gilt als sicher, dass Peking auf Taiwan über ein weit verzweigtes Netzvon Agenten verfügt, die für solche Aktivitäten eingesetzt werden könnten, ohne dass eineVerbindung zur chinesischen Führung ohne weiteres nachweisbar wäre. Gegen solcheAktionen wären nur erhöhte Sicherheitsmaßnahmen möglich – andererseits würden sie kaumdie Regierung in Taipei in die Knie zwingen. Denkbar wäre – drittens – eine Unterbrechungder Versorgung der dicht vor dem chinesischen Festland liegenden, aber unter taiwanesischerKontrolle stehenden Inseln Jinmen (Quemoy) und Mazu (Matsu). Obwohl die Garnisonen der

5 Eine detailliertere Darstellung der Krisenszenarien findet sich in Shambaugh, David: Taiwan's Security:

Maintaining Deterrence Amid Political Accountability, in: The China Quarterly, No.148 (December 1996),S.1303-1318 sowie Roy, Denny: Tensions in the Taiwan Strait, in: Survival, The IISS Quarterly, Vol.42,No.1, Spring 2000, S.76-96.

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Inseln über umfangreiche Vorräte verfügen6, wäre die Unterbrechung der Versorgungsfahrtenein drohendes Signal für weitere Maßnahmen. Ob sich die taiwanesische Armee gegen solcheAktionen unmittelbar in der Nähe der chinesischen Küste auf die Dauer erfolgreich wehrenkönnte, ist allerdings wenig wahrscheinlich.

Eine zweite Gruppe bilden militärische Maßnahmen, die sich direkt gegen taiwanesischesTerritorium richten. Dabei droht – viertens – eine Eroberung von Jinmen und Mazu. Obwohlbeide Inseln stark befestigt sind, dürfte es schwer fallen, sie auf Dauer gegen eine feindlicheÜbermacht zu halten. Der Fall der Inseln und die Gefangennahme der auf ihnen stationiertenTruppen dürfte auf die Bevölkerung Taiwans deprimierende Auswirkungen haben und denDruck auf die Regierung, in Verhandlungen mit Peking einzutreten, verstärken. Andererseitshaben die Inseln, seit der Aufgabe der Pläne für eine Rückeroberung des chinesischenFestlands durch die republikanische Regierung, nur noch symbolische, aber keine strategischeBedeutung mehr. Andere Maßnahmen wären – fünftens – Raketenangriffe auf unbewohnteTeile Taiwans bzw. auf ein oder mehrere zivile oder militärische Objekte mit hohemSymbolwert. Dass Peking zu solchen Raketenschlägen in der Lage wäre, ohne dass Taiwansich gegen sie wehren könnte, haben die Manöver von 1995 und 1996 gezeigt. Ob solcheAngriffe ausreichen würden, die Regierung in Taipei zum Einlenken zu bewegen und dieBevölkerung einzuschüchtern, sei allerdings dahingestellt.

Eine weitere Option wären – sechstens – umfangreiche Raketenangriffe gegen strategischwichtige Ziele auf Taiwan. Diese Gefahr hat sich in den letzten Jahren deutlich erhöht. Sobezeichnete das Verteidigungsweißbuch der Republik China vom April 1998 die Bedrohungder Insel durch chinesische Raketenangriffe als "the most serious type of operations the PRCmay chose to invade Taiwan by the use of force."7 Nach Schätzungen des Londoner Instituteof International Strategic Studies hat China derzeit in den Küstenregionen gegenüber vonTaiwan 150 –200 Mittelstreckenraketen der Typen DS-15 (CSS-6, M9), DS-11 (CSS-7, M11)und DS-21 (CSS-5) disloziert.8 Die Experten gehen davon aus, dass China in den kommendenJahren nicht nur die Zahl der Raketen erhöhen und ihre Qualität verbessern wird, sonderndiese auch durch land-attack cruise missiles ergänzt.

Vor diesem Hintergrund versteht es sich von selbst, dass Taiwan, das bislang nur über sechsPAC-2-Batterien zum Schutz von Taipei sowie über die selbstentwickeltenFlugabwehrraketen vom Typ T'ien Dong verfügt, sich um den Aufbau geeigneterRaketenabwehrsysteme bemühen muss.9 Dabei bieten sich zwei Optionen an: dieEntwicklung eigener land- und seegestützter Trägersysteme oder der Kauf amerikanischerSysteme bzw. der Beitritt zu dem von den USA und Japan in Aussicht genommene TMD-System. Beide Optionen sind allerdings mit einer Reihe schwieriger Probleme verbunden: Mitimmens hohen Entwicklungskosten zum einen; mit der Tatsache, dass die betreffendenSysteme erst in einigen Jahren einsatzbereit sein werden zum anderen; sowie last but not leastmit dem erbitterten Widerstand der chinesischen Führung, die den Aufbau eines TMD-Systems in der Region generell als einen destabilisierenden Faktor ablehnt und speziell vonder Einbeziehung Taiwans in ein solches System negative Auswirkungen auf den 6 Jinmen wird von vier Infanteriedivisionen mit ca. 35.000-40.000 Mann, Mazu von einer Infanteriedivision

mit 8.000-10.000 Mann verteidigt, IISS, The Military Balance, 1999, S.205.7 The Ministry of National Defense, 1998, National Defense Report, Republic of China, April 1998.8 IISS, The Military Balance, 1999/2000, S.171.9 Siehe dazu im Einzelnen: Wagener, Martin: Theatre Missile Defense und die sicherheitspolitische Lage

Taiwans (unveröffentlichtes Manuskript) sowie Hermann, A.: Chinas sicherheitspolitischeHerausforderungen im 21. Jahrhundert. Taiwan und TMD, in: ÖMZ, Nr.2, März-April 2000.

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Wiedervereinigungsprozess befürchtet. Um genau solche zu verhindern, könnte derEntschluss der taiwanesischen Regierung zur Aufstellung solcher Systeme das Risiko einespräventiven Raketenangriffes vom Festland steigern. Ein solcher würde dann die Gefahr einermilitärischen Konfrontation Chinas mit den USA dramatisch erhöhen, für die die chinesischeFührung allerdings militärisch derzeit noch nicht gerüstet ist, die sie aber auch auswirtschaftlichen Gründen vermeiden muss.10

Alle diese Maßnahmen könnte Peking durchführen, ohne dass ein einziger chinesischer Soldattaiwanesischen Boden betritt. Erst an letzter Stelle steht schließlich das Szenario einerEroberung der Insel durch eine chinesische Invasionsstreitmacht. Dabei sind zwei Variantendenkbar: ein Überraschungsangriff durch Kommandounternehmen, die Flugplätze und Häfenauf Taiwan besetzen und halten, bis die chinesische Hauptstreitmacht eintrifft,11 sowie eineInvasion nach klassischem Muster. Beide Varianten wären allerdings für die VR China miterheblichen Problemen und Risiken verbunden. Einmal abgesehen von den außenpolitischenund wirtschaftlichen Folgen einer solchen Invasion, auf die hier nicht weiter eingegangenwerden kann, besteht eine Vielzahl technischer und taktischer Hindernisse:

− Orientiert man sich an den verschiedenen Phasen, die ein solches Unternehmendurchlaufen würde, so tauchen die ersten großen Schwierigkeiten schon imAnfangsstadium auf: Die Bereitstellung der erforderlichen Truppen würde nach Ansichtvon Militärexperten mehrere Monate in Anspruch nehmen und würde sich weder vor dersatellitengestützten elektronischen Aufklärung der USA noch vor den auf demchinesischen Festland operierenden taiwanesischen Sicherheitsdiensten geheim haltenlassen. Damit aber bliebe der taiwanesischen Armee genügend Zeit, sich auf den Angriffeinzustellen und die ohnehin schon starken Befestigungen weiter auszubauen.

− Ein zweites Problem bilden die Transportkapazitäten Chinas, die noch längst nichtausreichen, um die ca. 700.000 Mann starke Invasionsstreitmacht, die vermutlicherforderlich wäre, überzusetzen. Zwar besteht die Möglichkeit, die fehlenden Kapazitätendurch die Umrüstung von Schiffen der Handelsflotte und die Einsetzung vonFischerbooten auszugleichen, doch wäre der Einsatz ungepanzerter Schiffe miterheblichen Risiken verbunden; hinzu kommt, dass sie für die eigentlichen amphibischenUnternehmen nicht verwendbar sind.

− Ein drittes Problem ergibt sich aus der Verwundbarkeit einer so großen Streitmacht beimÜbersetzen; immerhin beträgt die Entfernung ca. 200 km und ist damit dreimal so großwie die Mehrenge zwischen Dover und Calais. Voraussetzung für ein solchesUnternehmen wäre die Lufthoheit, von der China derzeit aber noch weit entfernt ist.Während die chinesische Luftwaffe noch zu einem erheblichen Teil aus veralteten Typensowjetischer Produktion besteht – insbesondere aus MIG-17 und MIG-19 –, und die Zahlder modernen Flugzeuge noch sehr niedrig ist, verfügt die taiwanesische Luftwaffe über60 französische Mirage-2000-5, 150 amerikanische F-16 sowie 130 moderne Ching-kuoKampfflugzeuge aus eigener Produktion. Einen weiteren wichtigen Trumpf bilden vier E-2T Awacs-Flugzeuge mit einer Aufklärungsreichweite von 640 km. – Nicht viel andersfällt ein Vergleich der Marinen beider Seiten aus. 18 Zerstörern der LUHU und derLUDA-Klasse stehen auf taiwanesischer Seite 16 modern ausgerüstete amerikanischeKnox-Zerstörer und französische Lafayette-Fregatten gegenüber. Lediglich im Bereich

10 Siehe dazu: Shambaugh, David: Sino-American Strategic Relations: From Partners to Competitors, in:

Survival, Vol.42, No.1, Spring 2000, S.97-115.11 Ein solches Szenario findet sich bei Jencks, Harlan W.: Wild Speculations on the Military Balance in the

Taiwan Straits, in: Lilley, James R./Downs, Chuck (ed.): Crisis in the Taiwan Straits, Washington DC,National Defense 1997.

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der U-Boote ist China Taiwan bislang noch deutlich überlegen. Insgesamt wird derLuftwaffe und Marine Taiwans ein besserer Ausbildungsstand attestiert. Solange Pekingseine Potenziale sowohl quantitativ als auch qualitativ nicht deutlich verstärkt hat,erscheint jedes Invasionsunternehmen schon vom Ansatz her zum Scheitern verurteilt.

− Doch selbst wenn es den chinesischen Streitkräften gelingen würde, diese Hindernisse zuüberwinden und Truppen auf Taiwan zu landen, stände ihnen dort eine gut ausgerüsteteund ausgebildete Armee in Stärke von 376 000 Mann gegenüber, die zudem auf 1,6 Mio.Reservisten zurückgreifen könnte. Die taiwanesische Armee würde zudem über denVorteil der inneren Linie verfügen und wäre in der Lage, über ein gut ausgebautesVerkehrsnetz schnell Verstärkungen an jeden bedrohten Ort zu werfen.

Angesichts dieser Situation ist es wenig wahrscheinlich, dass sich Peking in absehbarer Zeitfür die Option einer Invasion entscheidet. Sowohl die menschlichen Verluste wie auch diepolitischen und wirtschaftlichen Kosten wären unkalkulierbar hoch und das Scheiterngeradezu vorprogrammiert – zumal auch die logistischen und militärischen UnterstützungenTaiwans durch die USA einkalkuliert werden müssen.12

Insgesamt lässt sich die Situation in der Taiwan-Straße wie folgt zusammenfassen: Einerseitsverfügt Peking über ein breites Spektrum von Mittel und Möglichkeiten, Taiwan bei einerkonfrontativen Verschärfung der Beziehungen wirtschaftlich zu schaden und militärisch unterDruck zu setzen. Andererseits können bei einer realistischen Einschätzung der Interessen alleBeteiligten und Betroffenen – die VR China, Taiwan und die USA – bei einem größerenKonflikt nur verlieren. Eine solche Einschätzung wird zwar den weiteren Aufbau dermilitärischen Kapazitäten und Potenziale nicht beeinträchtigen, lässt in unmittelbarer Zukunftjedoch verstärkte Bemühungen um eine Erhaltung des Status quo als wahrscheinlicherscheinen. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass der neue taiwanesische Präsident nichtsunternimmt, was Peking als Provokation auffassen könnte, insbesondere keine Schritte inRichtung Unabhängigkeit. Nötig wären stattdessen diplomatische Initiativen, um dieRahmenbedingungen für die Wiederaufnahme der Sondierungsgespräche über eine friedlicheEinigung zu verbessern. Allerdings wären dafür auch erhebliche Zugeständnisse Pekingsunverzichtbar. Nicht minder wichtig wie diplomatische Initiativen ist die Erhaltung dermilitärischen Machtbalance in der Taiwan-Straße, da sie wesentlich dazu beiträgt, riskanteAktionen zu verhindern und einen stabilen Rahmen für die Verhandlungen auf der politischenEbene zu erhalten. Die Hauptverantwortung dafür liegt zwar vor allem bei den USA, dochauch die anderen westlichen Mächte sollten sich fragen, ob nicht auch sie geeignete Beiträgedazu leisten könnten. Denn die Auswirkungen einer Konfrontation in der Taiwan-Straßewürden nicht nur Japan und die Länder Südostasiens treffen, sondern bis nach Europareichen.

12 Zur amerikanischen Taiwan-Strategie siehe Bernkopf-Tucker, Nancy: China-Taiwan: U.S. Debates at

Policy Choices, in: Survival, Vol.40, No.4, Winter 1998-99, S.150-167; Möller, Kay: Taiwan als Probleminternationaler Sicherheit, SWP, S-AP 3121, März 2000.

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Joachim Glaubitz

China – Stabilität und Wandel in den Beziehungen zu seinen Nachbarn

Die folgenden Bemerkungen beschränken sich auf das Verhältnis der VR China zu ihren inAsien und in der Welt einflussreichsten Nachbarn Japan, Russland und Indien. Außer Achtbleibt hier der schwer bestimmbare Einfluss Chinas auf die Region über multilateraleOrganisationen.

Für die Zukunft der Region Nordostasien ist das Verhältnis Chinas zu Japan grundlegend. Eserhält jedoch durch die seit 1952 vertraglich fixierte Einbindung Japans in einSicherheitsbündnis mit den USA besondere strategische Bedeutung. Zwei Faktorenbestimmen Chinas Haltung gegenüber Japan:

− die historischen Erfahrungen, vor allem seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts miteinem expansiven, militaristischen Japan und

− die hohe technologische, industrielle und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Nachbarnals Ergebnis eines sich über ein Jahrhundert erstreckenden Modernisierungsprozesses.

Der chinesisch-japanische Krieg 1894-95, die darauf folgende 50-jährige Besetzung Taiwansund das Vordringen der japanischen Armee auf das asiatische Festland, ab 1910 zunächstnach Korea, Ende der 20er-Jahre in die Mandschurei und schließlich ab 1937 die offeneAggression gegen China sind Stationen eines leidvollen Jahrhunderts, die in China nichtvergessen sind. Die Erinnerung an diese Vorgänge wird sogar bewusst wach gehalten undinstrumentalisiert.

Damit strebt die Führung in Peking zwei Ziele an: sie will

− verhindern, dass Japan erneut zu einer Bedrohung werden kann;− Japans Potenzial so wirksam und intensiv wie möglich für den eigenen Aufbau und die

Modernisierung des Landes nutzen.

Um diese Ziele wirksam zu verfolgen, braucht China eine im Großen und Ganzen freundlicheAtmosphäre. Tatsächlich erscheinen die Beziehungen zu Japan auf den ersten Blick eng undintensiv. Bei genauerer Betrachtung aber wird erkennbar, wie China gelegentlich versucht,Japan als Werkzeug zur Erreichung anderer Ziele zu benutzen.

Dazu nur ein Beispiel: Als China in den 70er-Jahren seinen Hauptfeind in der Sowjetunionsah, appellierte es an die Adresse der japanischen Regierung, die Verteidigungsanstrengungenbeträchtlich zu verstärken. Sogar Deng Xiaoping rief 1977 zu einer Stärkung der japanischenVerteidigungskraft auf und äußerte sich positiv über Japans Beziehungen zu den USA. 21

Hohe chinesische Militärs empfahlen sogar eine Verdoppelung des japanischenVerteid igungsetats.

Hinter diesen Äußerungen stand die Absicht, die sowjetische Führung zu irritieren und imjapanisch-sowjetischen Verhältnis, dessen Verbesserung in Peking unerwünscht war,Misstrauen zu säen. Von diesen Appellen war in der zweiten Hälfte der 80er-Jahre, als für 21 Mainichi, 15.9.1977, zit. in: DSJP, 22.-26.9.1977, S.17.

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Peking die Entspannung mit Moskau Vorrang bekommen hatte, nichts mehr zu vernehmen.Im Gegenteil: Deng Xiaoping reagierte mit unverhohlener Besorgnis, als Japan mit seinemVerteidigungsbudget 1987 den auf das BSP bezogenen üblichen Ein-Prozent-Rahmengeringfügig durchbrach. Gradlinigkeit und Prinzipienfestigkeit chinesischer Außenpolitikgehören zu den Mythen, die häufig über Chinas Politik verbreitet werden. Allmählich hattenauch die Regierungen in Tokyo die chinesische Strategie durchschaut. Die eigentlicheErnüchterung kam aber mit der Niederschlagung der Demokratiebewegung im Juni 1989; siehält bis heute an.

Nach 1989 waren beide Seiten daran interessiert, die Abkühlung der Beziehungen zumindestäußerlich bald zu überwinden. Der symbolische Akt der Rehabilitierung Pekings nach"Tiananmen" war der Besuch des Tenno Ende 1992 in China. Die chinesische Seite nahm mitGenugtuung auf, dass der japanische Kaiser "tiefe Trauer" ausdrückte über "die unglücklichePeriode, in der unser Land dem chinesischen Volk viele große Leiden zugefügt hat". 22 Dochneben dem Schuldbekennen, das die Verursacher und Verlierer des Zweiten Weltkriegs – unddas gilt nebenbei auch für Deutschland - inzwischen zum Ritual stilisiert haben, standsogleich das Interesse an einer Wiederbelebung der kommerziellen Aktivitäten.

Wie stark die Vergangenheit die Gestaltung der gegenwärtigen Beziehungen mitbestimmt,wurde erst in jüngster Zeit wieder sichtbar, als Ende November 1998 Chinas Staatspräsidentzum ersten Mal Japan besuchte. Eines der politischen Ziele Jiang Zemins war, eine über dasbisher Gesagte hinausgehende schriftliche Entschuldigung Tokyos für die von der japanischenSoldateska in den 30er und 40er-Jahren in China verübten Gräuel zu erhalten. JapansRegierungschef lehnte eine schriftliche Entschuldigung, wie er sie Südkorea gewährt hatte,ab. Das Äußerste, zu dem er sich bereit erklärte, war eine mündliche Entschuldigung und derbereits standardisierte Ausdruck des Bedauerns in einem Kommuniqué. Offenbar glaubteMinisterpräsident Obuchi, Rücksicht nehmen zu müssen auf Rechtskonservative undNationalisten im eigenen Land und in der eigenen Partei. Wichtiger aber ist wohl, dass Japanunterscheiden will zwischen der kolonialen Unterwerfung Koreas und dem Krieg gegenChina.23

Bekanntlich kommt es immer wieder zu verbalen Entgleisungen japanischer Politiker, dieJapans Aggressionspolitik in den 30er und 40er-Jahren in Asien bagatellisieren oder garbeschönigen. Japans Wahrnehmung seiner jüngeren Geschichte bleibt nicht ohne Folgen. Mandarf wohl die These wagen, dass Japans Umgang mit seiner imperialistischen Vergangenheitseine künftige Rolle in Asien entscheidend mitbestimmt. Den Führern in Peking ist bewusst,dass sich damit das Image Japans bei seinen Nachbarn dauerhaft beeinflussen lässt. Sie nutzendie Chance und halten die Vergangenheit lebendig. Japans politische Zukunft in der Region,seine Rolle und sein Ansehen und damit die Chancen, Macht und Einfluss auszuüben, sollenbegrenzt bleiben.

Es ist darum keineswegs sicher, ob China tatsächlich ein starkes Interesse an einer formellenschriftlichen Entschuldigung Japans hat. China hält sich die Möglichkeit offen, immer wiederauf die von Japan verursachten Wunden der Geschichte hinzuweisen. Die Art und Weise, wieChina mit der Erinnerung umgeht, ist nicht dazu angetan, ihm besonderen Respekt vor derhistorischen Wahrheit zuzubilligen. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind die Zahlender von Japan verursachten Opfer wiederholt nach oben korrigiert worden: Zunächst sprachdie nicht-kommunistische chinesische Regierung von 1,75 Millionen Soldaten, die im Kampf 22 Yomiuri, 24.10.1992.23 International Herald Tribune, 30.11.1998.

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gegen Japan gefallen seien; nachdem die Kommunisten 1949 an die Macht gekommen waren,hieß es über viele Jahre, 9,32 Millionen Chinesen seien getötet worden; in einer Rede 1995schließlich nannte Staatspräsident Jiang 35 Millionen Tote. Diese Zahl gilt seither alsoffiziell.24

Der Besuch des japanischen Ministerpräsidenten Obuchi in China im Sommer 1999vermochte die ein Jahr zuvor entstandene Trübung in der Atmosphäre weit gehend zubeseitigen. Die chinesische Seite schaltete nach anfänglicher massiver Konfrontation mit derGeschichte von einem Tag auf den anderen auf einen freundschaftlichen Ton um und sprachdavon, beide hätten "die Beziehungen der Zukunft zu skizzieren". Das Ergebnis der China-Reise Obuchis war bemerkenswert: China und Japan einigten sich in ihren bilateralenVerhandlungen über die Bedingungen für einen Beitritt der Volksrepublik zurWelthandelsorganisation. Damit wurde Japan zum ersten Mitglied der Gruppe der wichtigstenIndustrieländer (G-7), mit dem sich China über einen WTO-Beitritt verständigen konnte.25

Wieder einmal war es die Kraft der Wirtschaft, die das chinesisch-japanische Verhältnisbestimmte.

Es ist nicht zu leugnen, dass Japans bedeutendes wirtschaftliches Gewicht seit den 60er-Jahren in der Region eine positive politische Wirkung hatte und hat – trotz der kritischen Lageder Wirtschaft heute. Aber es ist ebenso fest zu halten, dass Japan auf absehbare Zeit keineChance haben wird, die politisch führende Macht des asiatisch-pazifischen Raumes zuwerden. Japan, das seit Jahren politisch schwach geführt wird, ja, zeitweilig wie führerloswirkt, ist nicht in der Lage, seine Vorstellungen von einer politischen Gestaltung der Regiondurchzusetzen – falls es solche Vorstellungen überhaupt hat.

Es ist unrealistisch zu erwarten, dass Japan in absehbarer Zeit in Asien eine Rolle spielenkann, wie sie heute zum Beispiel von Deutschland beim KFOR-Einsatz auf dem Balkanbereits wahrgenommen wird. Eine internationale Truppe, die in einem Konflikt in Asien aufder Grundlage eines UNO-Mandats unter dem Oberbefehl eines japanischen Generals denFrieden sichert, ist in naher Zukunft undenkbar.

Das zweite Ziel chinesischer Politik gegenüber Japan ist die Nutzung japanischerTechnologie, Finanz- und Wirtschaftskraft für den eigenen Aufbau. China braucht Japan fürdie Modernisierung seines Wirtschaftssystems, für den Ausbau seiner unterentwickeltenInfrastruktur und für die Finanzierung all der Aufgaben, die sich daraus ergeben. Japanseinerseits ist in hohem Maße am chinesischen Markt, an chinesischen Rohstoffen und anChina als kostengünstiger Fertigungsbasis für seine Produkte interessiert. Das bisherGeleistete weist Japan als einen der wichtigsten externen Träger der chinesischenModernisierung aus. Japan nimmt unter den Handelspartnern Chinas seit 1993ununterbrochen Platz eins ein – erstaunlicherweise mit einem chinesischenHandelsbilanzüberschuss. Ferner ist China der größte Einzelempfänger japanischerEntwicklungshilfe. Allerdings gibt es Anzeichen für eine Abschwächung des japanischenEngagements in China: 1998 fiel Japan als Investor in China auf den fünften Rang zurück –hinter Hongkong, den USA, den Virgin Islands und Singapore.26 Japans Direktinvestitionen inChina fielen 1998 auf 3,2 Mrd.$, d.h. sie verringerten sich um 27% gegenüber dem Vorjahr.Auch die japanischen Banken kürzten im zweiten Halbjahr 1998 die Kredite in China um

24 International Herald Tribune, 30.11.1998.25 NZZ, 10.-11.7.1999.26 NZZ, 8.7.1999, S.9.

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15% auf 15,12 Mrd.$. Dieser Rückzug wird damit erklärt, dass die Qualität der chinesischenBankenkredite schwierig einzustufen sei. Von den schätzungsweise 10.000 japanischenUnternehmen, die sich in China engagiert haben, zogen sich 1998 etwa 100 aus demchinesischen Markt zurück.27

Angesichts dieser Beobachtungen stellt sich im Blick auf die Zukunft die Frage: Wie wirdsich das Verhältnis dieser beiden asiatischen Hauptmächte gestalten?

Es scheint offenkundig, dass China nach einer Führungsposition in der Region und nachglobalem Einfluss strebt. Der einzige ernst zu nehmende Rivale bei diesen Bemühungen ist inAsien Japan, auf globaler Ebene sind es die USA. Deshalb und nicht zuletzt wegen seinerhistorischen Erfahrungen mit Japan wünscht China, dass sich Japan auf seine wirtschaftlicheRolle beschränke. Sie kommt auch China in seinem Reformprozess zugute. Tokios politischerEinfluss sollte so gering wie möglich bleiben.

China ist bestrebt zu verhindern, dass Japan militärisch stark wird und eines Tages seineMacht auf seine Umgebung projizieren kann; m.a.W.: dass Japan erneut Asien bedrohenkönnte. Darum kritisiert China so vehement die zwischen Washington und Tokio vereinbartenPräzisierungen des Sicherheitsbündnisses, wie sie im Sommer 1999 in so genannten Guide-lines niedergelegt sind. Zwar handelt es sich im Grunde lediglich um eine lange überfälligeFestlegung der logistischen Unterstützung von US-Streitkräften durch japanische Streitkräfteim Krisenfall, aber China befürchtet, dass "Japan mit Hilfe der Stärke der amerikanischenSupermacht seinen Traum von einer großen politischen und militärischen Machtverwirklichen könnte". 28 Ferner attackiert Peking auf das heftigste amerikanisch-japanischePläne für ein Theater Missile Defense System (TMD) in Nordostasien. Peking sieht auchdarin Schritte in Richtung auf eine unabhängige Militärmacht Japan. Solange das Bündniszwischen Washington und Tokio hält, besteht zu dieser Sorge kein Grund. Sollten sich dieUSA aber eines Tages aus Asien-Pazifik zurückziehen, würde eine neue Lage entstehen. MitBlick auf diese Vorhaben ist China interessiert, in Asien die Erinnerung an japanischenMilitarismus und Imperialismus wach zu halten. China bedient sich der Vergangenheit Japansum dessen Zukunft mitzubestimmen.

Es ist interessant, wie angesehene japanische Wissenschaftler den Nachbarn und die Rolle deseigenen Landes sehen. Der Sinologe Eto Shinkichi schrieb 1995: "Über zwei tausend Jahrelang existierte Japan an der Peripherie der chinesischen Zivilisation. Das Han-Volkentwickelte als erstes in Ostasien die Landwirtschaft und errichtete auf dem damit erzeugtenReichtum eine große Zivilisation. Für Japan war China stets Gegenstand von Bewunderungund Neid, eine Zivilisation von unübertroffener Weisheit. Japan litt unter einem ernstenMinderwertigkeitskomplex, kämpfte aber gleichzeitig mit einem starken Gefühl der Rivalität:die Japaner waren entschlossen, sich nicht von den Chinesen übertreffen zu lassen. Diesebeiden einander entgegengesetzten Gefühle waren im japanischen Bewusstsein unauflöslichmiteinander verbunden". 29

Für diese Rivalität scheint mir Japan nicht besonders gut ausgestattet. Die führende japanischeSoziologin Nakane Chie sagte einmal auf die Frage nach Japans Zielen in der internationalenArena: "Allein in diesen Kategorien zu denken, ist unjapanisch. Japanisches Denken beruht 27 NZZ, a.a.O.28 Financial Times, 7.6.1999.29 Eto, Shinkichi: Continuity and Discontinuity in Postwar Japan, The Japan Foundation Newsletter XXIII,

No.2 (September 1995), S.3-4.

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auf der Situation, weniger auf einem Prinzip. Während es bei den Chinesen umgekehrt ist. DieChinesen haben die Klassiker hervorgebracht, darum können sie nichts tun, ohne sich aufPrinzipien zu stützen. Wir Japaner aber haben keine Prinzipien. Einige Leute meinen, wirverbergen unsere Absichten; aber wir haben keine Absichten, die wir verbergen könnten."30

Die Frage, die sich stellt, lautet: Sollte China in den nächsten Jahrzehnten die politischeFührungsmacht Ostasiens werden, wird sich Japan dann mit einer zweitrangigen Positionbegnügen? Wird es das innenpolitisch akzeptieren? Oder wird es versuchen, sich aus dennoch existierenden verfassungsmäßigen und sicherheitspolitischen Beschränkungen zu lösen,um ein "normaler" Staat zu werden?

Einen völlig anderen Charakter haben Chinas Beziehungen zu Russland. Ihre Bedeutung seitdem Ende des Zweiten Weltkriegs beruht auf zwei Faktoren:

− die geografische Nähe der beiden Mächte und die daraus resultierenden historischenErfahrungen;

− die zeitweilig konvergierenden, überwiegend aber konkurrierenden strategischenInteressen beider Mächte.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass die Zeit gemeinsamer ideologischer Grundlagen undZielvorstellungen, d.h. die Zeit marxistisch-leninistischer Gemeinsamkeit, abgesehen voneiner kurzen Phase der "ewig unverbrüchlichen Freundschaft", eine Zeit schärfsten Konfliktsund offener Machtrivalität war. Der Wegfall der gemeinsamen ideologischen Basis ab 1990hingegen ließ ein eher entspanntes Klima im Umgang miteinander entstehen.

Der derzeitige Zustand wirft dennoch Fragen nach der weiteren Entwicklung der Beziehungenauf. Eines aber lässt sich mit Sicherheit vorab sagen: Russland ist auf lange Sicht für Chinakein Rivale mehr um Macht und Einfluss im asiatisch-pazifischen Raum.

Die geopolitische Grundlage der Beziehungen ist die gemeinsame Grenze. Sie erstreckt sichüber 4000 km; weitere 3000 km betreffen Chinas Grenze mit den einst im sowjetischenStaatsverband vereinten, heute selbstständigen Republiken Kasachstan, Kirgisistan undTadschikistan. Diese Tatsache erzwingt Entscheidungen über die Frage des Umgangsmiteinander. Konflikte sind für die Beteiligten ökonomisch kostspielig und militärisch riskant.Wie die Geschichte lehrt, ist die Regelung von Grenzfragen für eine konfliktfreie Gestaltungder Beziehungen eine wichtige Voraussetzung.

Obwohl im Februar 1992 die Parlamente in Peking und Moskau ein Abkommen über denVerlauf des größten und problematischsten Teiles der gemeinsamen Grenze ratifiziert hatten,steht bis heute für einige kleine, strategisch wichtige Abschnitte eine Einigung noch aus. Dassbeide Seiten sich aber im Wesentlichen haben einigen können, lässt auf das gemeinsameInteresse an einer Lösung schließen. Dabei dürfte für China der Aspekt der Sicherheitentscheidend für die Bereitschaft zur Zusammenarbeit gewesen sein und voraussichtlich auchweiterhin bleiben.

Sicherheitsinteressen sind auch das entscheidende Motiv für das ebenfalls im April 1996unterzeichnete Abkommen zwischen China, Russland und den drei zentralasiatischen StaatenKasachstan, Kirgisistan und Tadschikistan über militärische Vertrauensbildung (gegenseitigerNichtangriff, Manöverankündigung, Beobachteraustausch etc.) an den gemeinsamen Grenzen.

30 Zit. in: Fuess, Harald: The Japanese Empire in East Asia, S.238-239.

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Damit hat China an der insgesamt 7.000 km langen Grenze mit seinen vier Nachbarn imNorden und Nordwesten seine Sicherheit erhöht und kann Streitkräfte für Aufgaben inanderen Gebieten freisetzen. Vertrauensbildung in Zentralasien hat für Peking aber auch eineninnenpolitischen Aspekt: Unterstützung bei den Bemühungen um Kontrolle überseparatistische Strömungen im nordwestlichen Grenzgebiet, insbesondere in Sinkiang.

Ursprünglich waren auch die Erweiterung des Handels und die qualitative Verbesserung derWirtschaftsbeziehungen ein Motiv für die chinesisch-russische Entspannung. Doch derHandel stagniert seit 1993 auf niedrigem Niveau mit starker Tendenz zu der archaischen Formdes Tauschgeschäfts.

Wirtschaftsbeziehungen zum russischen Nachbarn haben für China vor allem einenmilitärischen Aspekt: Mit dem Zerfall der Sowjetunion eröffneten sich Möglichkeiten eineskostengünstigen Erwerbs von Waffensystemen aus sowjetischer, heute russischer Produktion.Die Modernisierung der Streitkräfte ist Chinas vorrangiges Ziel. Auf Grund derGeschäftschancen für seine Rüstungsindustrie leistet Russland dabei tatkräftige Hilfe. Ausden gleichen Motiven liefert auch Israel seit einigen Jahren im Wert von Milliarden von US-Dollar Rüstungsgüter an China.

Hohe chinesische Offiziere sprachen im Zusammenhang mit der militärischen Kooperationmit Russland von einer "strategischen Partnerschaft für das 21. Jahrhundert". Diesen imGrunde nichts sagenden Begriff führen auch russische Politiker gern im Munde, wenn sie aufscheinbar gemeinsame Sicherheitsinteressen und übereinstimmende internationale politischePositionen anspielen. Vor allem die generelle Ablehnung amerikanischer Dominanz oder diespezielle Zurückweisung der NATO-Erweiterung nach Osten bietet Anlass für dieVerkündung der "strategischen Partnerschaft".

Der weitere Ausbau der militärischen Zusammenarbeit wurde erneut im Januar 2000anlässlich des Besuchs des chinesischen Verteidigungsministers in Moskau bekräftigt. Auchbei diesem Treffen waren sich beide Seiten in der Kritik an den USA, diesmal insbesonderean amerikanischen Plänen einer Modifizierung des ABM-Vertrags, einig.

Diese Bewegungen spielen sich bislang aber unterhalb der Entwicklung eines formellenBündnisses ab. China hat immer wieder erklärt, dass beide Mächte kein Bündnis eingehenwerden. Da Entscheidungsfreiheit und Bindungsfeindlichkeit seit langem ChinasAußenpolitik kennzeichnen, ist diese Erklärung wahrscheinlich ernst zu nehmen.

In Moskau haben einige Politiker vor Jahren schon erkannt, dass sich der Machtstatusbegonnen hat, zu Gunsten Chinas zu verschieben. Diese Sorge wird durch das Einsickernchinesischer Siedler in den russischen Fernen Osten verstärkt. Genaue Zahlen werden vonrussischer Seite nicht genannt. Wahrscheinlich kennt sie auch niemand. Für Spekulationen istdas billige Nahrung. Wie dem auch sei, die Tatsache, dass Chinesen auf russischemTerritorium siedeln und dass diese Migration von Peking nicht ausdrücklich unterbundenwird, ist nicht zu leugnen. Erst Ende Oktober 1999 wurde der Gouverneur von Chabarowsk,Viktor Ischajew, mit der Bemerkung zitiert, Peking betreibe ein klar umrissenes Programm,um seinen Bevölkerungsüberschuss in Russisch-Fernost anzusiedeln. Peking hat m.W. aufdiese Vorwürfe nicht reagiert.31

31 FEER, 28.10.1999, S.11.

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Wahrscheinlich ist die Behauptung einer "friedlichen Eroberung" Sibiriens und des russischenFernen Ostens durch die Chinesen, die von russischen Politikern und Historikern in die Weltgesetzt worden ist, eine Übertreibung. Aber das demografische Ungleichgewicht zwischendem bevölkerungsreichen Nordchina und dem außerordentlich schwach besiedelten Russlandöstlich des Urals könnte bei einem rasch wachsenden chinesischen Bedarf an Rohstoffen,Energieträgern und Nahrungsmitteln zu einem Problem für Russland werden.

Dass ein Teil der heute russischen Fernostgebiete bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhundertszu China gehörte, ist dort nicht vergessen. Zwar gibt es bisher keine erkennbarenRevisionsabsichten Chinas, aber die Annahme, dass das Kapitel über die chinesisch-russischeGrenze für immer abgeschlossen ist, widerspricht historischer Erfahrung.

Der dritte große Nachbar Chinas ist Indien. Die Beziehungen zwischen diesen beidenMächten sind seit der Aggression Chinas 1962 im Himalaja gestört. Indien hat die damalserlittene Niederlage und damit verbundene Demütigung nie vergessen. Zwar gab es ab 1988eine vorsichtige Annäherung als deren Ergebnis bis Mitte der 90er-Jahre eine Reihevertrauenbildender Maßnahmen vereinbart wurde, doch das Problem der umstrittenen Grenzeist bis heute ungelöst. Ein nicht unwesentlicher Faktor in den kühlen chinesisch-indischenBeziehungen war nach 1962 die klare Unterstützung Indiens durch die Sowjetunion, währendPakistan, Indiens Hauptfeind auf dem Subkontinent, sich der Freundschaft Chinas und derHilfe seitens der USA gewiss sein konnte. Dieses strategische Muster verblasste nach demEnde des Kalten Krieges. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion gestaltete sich dasrussisch-indische Verhältnis neutraler und verlor im Zuge der russisch-chinesischenWiederannäherung seinen anti-chinesischen Akzent; die chinesisch-pakistanischenBeziehungen blieben jedoch unverändert eng.

Eine dramatische Verschlechterung des Verhältnisses zwischen China und Indien entstand, alsIndien am 11. und 13. Mai 1998 in der Wüste von Rajasthan insgesamt fünf unterirdischeNukleartests durchführte. Da die indische Seite ihre Entscheidung ausdrücklich mit dernuklearen Bedrohung durch China begründete – der indische Verteidigungsministerbezeichnete China sogar als "Indiens potenzielle Bedrohung Nummer eins" – hatte Pekinghinreichend Anlass für einen massiven Protest.32 In der Folge sah China die sich allmählichverbessernde Atmosphäre in den Beziehungen der beiden Nachbarn als ernsthaft gestört an.Als zwei Wochen nach den indischen Tests Pakistan mit der Zündung von fünf nuklearenSprengköpfen antwortete, reagierte China mit "tiefem Bedauern". Es differenzierte jedoch,indem es Indien als Verursacher der damit entstandenen Spannungen bezeichnete.33 Pakistanblieb für China weiter Partner für militärische Zusammenarbeit.

Nach Jahresfrist schien sich das chinesisch-indische Verhältnis wieder ein wenig aufzuhellen.Ausdruck dafür war der Besuch des indischen Außenministers Jaswant Singh in China imJuni 1999. Chinesischen Aussagen zufolge soll dabei Singh betont haben, Indien sehe Chinanicht als Bedrohung an. Angesichts der chinesischen Wahrnehmung, die USA würdenzunehmend die Rolle einer die Welt dominierenden Macht übernehmen, scheint daschinesische Interesse zu wachsen, zu Indien zumindest keine feindseligen Beziehungen zuunterhalten. 34

32 Beijing Review, June 1-7, 1998, S.7.33 Beijing Review, June 22-28, 1998, S.4.34 Far Eastern Economic Review, 24.6.1999, S.19.

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Eine neuerliche Belastung des chinesisch-indischen Verhältnisses bahnte sich um dieJahreswende 1999/2000 an, als bekannt wurde, dass sich ein ranghoher von Pekinganerkannter Würdenträger des lamaistischen Buddhismus aus Tibet mit Begleitern heimlichnach Indien abgesetzt habe. Die Flucht des 17. Karmapa Lama ist eine internationaleBloßstellung der chinesischen Tibet-Politik, die offenbar auch von denjenigen abgelehnt wird,die die Führer in Peking bereits als ihre Marionetten ansehen. 35 Sollte Indien dem FlüchtlingAufenthalt gewähren, wird dies für einige Zeit Chinas Beziehungen zu Indien beeinträchtigen.Unabhängig davon aber bleibt Misstrauen auch in Zukunft das bestimmende Element in denBeziehungen zwischen den beiden rivalisierenden bevölkerungsreichsten Ländern Asiens. FürEntspannung in der Region sind die Chancen nicht gestiegen.

35 International Herald Tribune, 8.-9.1.2000; Neue Zürcher Zeitung, 17.1.2000.