IBA-Symposium Schlafende Riesen - Neue Zukunft für XXL-Bauten

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IBA-Symposium Schlafende Riesen - Neue Zukunft für XXL-Bauten Dokumentation

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IBA-SymposiumSchlafende Riesen - Neue Zukunft für XXL-Bauten

Dokumentation

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IBA-SymposiumSchlafende Riesen - Neue Zukunft für XXL-Bauten Dokumentation der Veranstaltung vom 23. November 2011von 15.00 Uhr bis 19.30 Uhr in der Villa Elisabeth, Berlin-Mitte

VeranstalterinSenatsverwaltung für Stadtentwicklung und UmweltJoachim GüntherAm Köllnischen Park 310179 Berlinwww.stadtentwicklung.berlin.de

Bearbeitungadrian-prozessnavigation Begleitbüro IBA Berlin 2020Rungestraße 22-2410179 Berlin

Berlin, Oktober 2012

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Schlafende Riesen - Neue Zukunft für XXL-Bauten

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Programm

Nicht nur in Berlin, sondern in vielen Städten und Metropolen wird die Zukunft großer Gebäude diskutiert, die ihre Nutzung verloren haben und leer stehen. Es geht längst nicht mehr nur um Industriegebäude, sondern auch um Bürogebäude, Stadtbäder, Krankenhäuser, Kaufhäuser, Flughäfen, Schulen und Kirchen. Manche davon gel-ten als „Altlasten“, viele sind aber vor allem Denkmale oder gar Ikonen der Architektur ihrer Zeit. Diese „schla-fenden Riesen“ haben eine große Wirkung auf Identität und Image von Quartieren und der gesamten Stadt. Ihre Wiederbelebung und Neuinszenierung kann wichtige Impulse für eine lebendige Mischung von Nutzungen und Nutzenden in den umgebenden Stadträumen geben. Somit versteht Berlin diese „XXLGebäude“ als wichtige Po-tenziale der Stadt, die einer besonderen Aufmerksamkeit bedürfen. Der Immobilienmarkt interessiert sich nur bedingt für sie. Können aber kreative Kräfte, das Engagement von Akteuren, kulturelle Strategien, Ideen zur energetischen Er-tüchtigung und architektonischen Weiterentwicklung dazu beitragen, sie neu in Wert zu setzen? Die Veranstal-tung beleuchtet die Chancen und Grenzen einer architektonischen und funktionalen Neuinterpretation. Der Blick auf ein großes Spektrum internationaler Beispiele – auf neue Nutzungskonzepte, innovative Akteurskonstellati-onen und alternative Finanzierungsmöglichkeiten – soll inspirieren und die Diskussion über die Zukunft der „schlafenden Riesen“ in Berlin befruchten.

Senatsbaudirektorin Regula LüscherBegrüßung Carsten Venus, Blauraum ArchitektenVon der Kirche bis zum Stadtbad – Ein ÜberblickFokke Moerel, MVRDV, Rotterdam*Chancen architektonischer und funktionaler NeuinterpretationBeispiele aus dem In- und Ausland�� Wohnhochhaus Lyoner Str. 19, Frankfurt am Main� Gisbert Dreyer, G. Dreyer Planungsgesellschaft mbH�� Angel Building, London Islington� Wade Scaramucci, AHMM Architects, London*�� Lingotto Fiatwerk, Turin� Dr. Paola Virano, Leiterin des Stadtplanungsamts, Stadt Turin*�� NDSM-Werft, Amsterdam� Eva de Klerk, Projekt und Konzeptentwicklerin*�� Stadtregal, Ulm� Volker Jescheck, Hauptabteilungsleiter Stadtplanung Umwelt Baurecht, Stadt Ulm�� Ehemaliges Senf Laboratorium, Dijon� Fokke Moerel, MVRDV, Rotterdam*�� Kaapelitehdas / Nokia Kabel Fabrik, Helsinki� Pia Ilonen, Architecture & Design Talli Ltd*�� where the big things are // Bildersafari zu den schlafenden Riesen Berlins� Vanessa Miriam Carlow, COBE und Dr. Sonja Beeck, Kassel UniversitySenatsbaudirektorin Regula LüscherSchlusswort Moderation: Dr. Jürgen Tietz, freier Journalist

Alle Beiträge beruhen auf dem Audiomitschnitt der Veranstaltung, wurden redaktionall überarbeitet und teilwei-se gekürzt. Englische Beiträge (*) beruhen auf dem Audiomitschnitt der Simultanübersetzung. Das Coverbild ist von Volker Kreidler, die Bilder der Veranstaltung hat Till Budde gemacht. Alle weiteren Bilder und Grafiken wur-den den jeweiligen Präsentationen bzw. Internetauftritten der Referentinnen und Referenten entnommen.

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Begrüßung

Regula Lüscher, Senatsbaudirektorin

Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Referentin-nen und Referenten, lieber Dr. Jürgen Tietz, ich freue mich sehr, Sie hier in der Villa Elisabeth von Karl-Friedrich Schin-kel begrüßen zu können. Obwohl sie – ich gebe es zu – nicht gerade ein „Riese“ ist, passt die Villa Elisabeth doch zu un-serem Thema, denn sie ist als ehemaliges Pfarr- und Ge-meindehaus heute eine zu neuem Leben erwachte Immobi-lie, ein Ort der Begegnung, ein Ort für besondere kulturelle Projekte.

Hintergrund und Anlass für die heutige Veranstaltung ist die geplante IBA Berlin 2020, eine dritte Internationale Bau-ausstellung in Berlin. Sie will neue Wege beschreiten, das Leitbild der – in vielerlei Hinsicht – gemischten Stadt umzu-setzen. Dabei geht es um eine gute und zukunftsfähige so-ziale und funktionale Mischung und es geht auch um einen klimagerechten, einen ökonomisch und gestalterisch nach-haltigen Stadtumbau. Die „großen Riesen“ spielen hier na-türlich eine besondere Rolle.

Die Frage der besseren Durchmischung monofunktionaler Orte des Wissens, der Wirtschaft und des Wohnens steht im Mittelpunkt der IBA. Im Koalitionsvertrag zwischen den neuen Regierungspartnern, der SPD und der CDU, steht: „Die IBA soll sich in räumlichen Schwerpunktprojekten mit der Rolle von urbaner Wirtschaft und Technologie, der Zu-kunft des Wohnens in der Stadt und der Organisation von Wissenschaft auseinandersetzen“. Das im Vorfeld dieser politischen Entscheidung – über die ich, ich gebe es zu, glücklich bin – von einem externen Prae-IBA-Team erarbei-tete Konzept formuliert das Ziel, dazu die spezifischen Ta-lente und Potenziale Berlins zu nutzen und experimentell neu in Wert zu setzen.

Die IBA Berlin 2020 verfolgt zwei methodische Ansätze, die sich aus den ganz besonderen Eigenarten und herausragen-

den Qualitäten Berlins ableiten. Mit der Strategie Raum-stadt will die IBA Modelle für eine nachhaltige Flächenbe-wirtschaftung erproben und neue Formen der Raumaneignung entwickeln. Dieser Ansatz wird uns heute beschäftigen, wenn es um die XXL-Gebäude geht. Mit der Strategie Sofortstadt bearbeitet die IBA Fragen der Koope-ration und der Teilhabe, der Aneignung und Zwischennut-zung in einer strategischen Allianz mit kulturellen und künstlerischen Zugängen zur Stadt – auch dieses Thema spielt bei der Umnutzung großer Bauten eine wichtige Rolle.

Die heutige Veranstaltung „Schlafende Riesen“ bildet den Auftakt zur Veranstaltungsreihe „Die gemischte Stadt ge-stalten!“ und knüpft an den bisherigen IBA-Prozess an. Wis-sen, Wirtschaft und Wohnen spielen sich in den Stadterwei-terungen der Nachkriegszeit oftmals separiert in monofunktionalen Wissens-Campi, Dienstleistungskomple-xen oder Wohn- bzw. Schlafstädten ab. In großem Zukunfts-glauben und einer großen Euphorie wurden typischerweise Großstrukturen und insbesondere auch XXL-Gebäude ent-worfen und gebaut. Viele von ihnen haben ihre Nutzung verloren und stehen heute leer. Wir kennen sie alle. Der gro-ße Maßstab dieser Bauten, ihre Baustruktur, die oft auf eine ganz bestimmte Nutzung maßgeschneidert ist, die anste-henden klimagerechten Sanierungen, das sind Herausfor-derungen, die zu bewältigen sind – und dies nicht nur in Berlin. Um diese Bauten, um diese „Schlafenden Riesen“, geht es heute. Eine zweite Veranstaltung im Februar nächs-ten Jahres wird Optionen für eine Urbanisierung monofunk-tionaler Großwohnsiedlungen zur Diskussion stellen. Die Veranstaltungsreihe zielt unter anderem darauf ab, uns in Berlin durch viele internationale Beispiele zu inspirieren. Deshalb freue ich mich sehr auf die Beiträge unserer inter-nationalen Gäste.

Zurück zur heutigen Veranstaltung: Große, leer stehende

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oder untergenutzte Bauten, die sogenannten „Elefanten“ oder „Schlafenden Riesen“, sind kein Berliner Phänomen. Europaweit stehen Industriegebäude, Brauereien, Kirchen, Krankenhäuser, Kaufhäuser, Schulen und Bürogebäude leer. Die Nutzungszyklen großer Gebäude werden immer kürzer, das ist eine Tatsache. Durch die Größe und die star-ke funktionale Widmung dieser Gebäude ist eine Umnut-zung oftmals nicht einfach. Leerstände aber sind teuer und setzen eine Abwärtsspirale im Umfeld in Gang. Umgekehrt sind enorme Chancen damit verbunden, diese markanten Riesen, oft baukulturelle Zeugnisse, die eine ganz große Be-deutung für die Identität und das Image eines Stadtteiles haben, wiederzubeleben und neu zu inszenieren. Das be-gründet das stadtentwicklungspolitische Interesse an die-sem Thema, das mich neben den architektonischen Aspek-ten bewegt.

Zahlreiche internationale Beispiele belegen den Handlungs-druck im Umgang mit solchen Gebäuden. Der Blick auf eine große Bandbreite solcher Beispiele, den wir heute wagen werden, soll inspirieren und die Diskussion über die Zukunft der leer stehenden Solitäre in Berlin befruchten. Es wird über neue Nutzungskonzepte, innovative Akteurskonstella-tionen und alternative Finanzierungsmöglichkeiten gespro-chen werden, vor allem aber über die Möglichkeiten, durch solche Konzepte Impulse für eine lebendige Mischung von Nutzungen und von Nutzenden in den umgebenden Stadt-

räumen zu setzen.

Die Nutzungs- und Finanzierungsmodelle solcher Projekte sowie deren Trägerschaft und architektonische Ausgestal-tung sind sehr verschieden, das werden wir sehen. Bei der Auswahl der Beispiele haben wir auf eine Abbildung dieser Vielfalt geachtet. Die recht häufig anzutreffende Umnut-zung solcher Gebäude in Luxuswohnungen ist allerdings ein Aspekt, der mit Blick auf die Berliner Situation nicht im Vor-dergrund steht. In der Darstellung der Praxisbeispiele sollen die Herausforderungen, auch die Leidensgeschichten der Objekte, die Probleme während der Umnutzungsprozesse, aber auch die letztendlich erreichten Resultate thematisiert werden. In diesem Zusammenhang ist natürlich die Frage nach möglicherweise wiederkehrenden Schlüsselfaktoren für erfolgreiche Projekte besonders interessant, weil wir da-raus für bevorstehende Aufgaben in Berlin lernen können.

In diesem Sinne bedanke ich mich schon jetzt bei allen Refe-rentinnen und Referenten für ihr Kommen und ihre Beiträ-ge und freue mich auf viel Anregendes, Interessantes, Wis-senswertes und Innovatives, das wir mit in unsere weitere Arbeit an der IBA Berlin 2020 nehmen können. Ich übergebe das Wort an unseren Moderator Dr. Jürgen Tietz, der uns durch den Nachmittag und Abend führen wird.

Herzlichen Dank!

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Von der Kirche bis zum Stadtrand - ein Überblick

Carsten Venus, Blauraum Architekten

Vielen Dank für die Einladung. Ich bin gebeten worden, ganz entgegen meiner sonstigen Gewohnheit nicht über Projekte zu sprechen, sondern einen allgemeinen Überblick zu ge-ben. Dabei lege ich den Schwerpunkt auf Nachkriegsbauten, mit denen ich mich im Auftrag des BBR näher beschäftigt habe. Es geht heute um die These, dass es eine neue Zu-kunft für die XXL-Bauten gibt.

Wenn man sich die Bauten allerdings anguckt, scheinen sie – unabhängig davon, von welchem Jahrzehnt man spricht – nicht aus unserer Zeit zu sein. Sie haben Elemente, die uns erst einmal abstoßen und sie sind auch nach heutigen Maß-stäben „ungesund“. Deshalb sage ich zunächst: Eine neue Zukunft für diese Gebäude gibt es nicht. Wenn wir über Ge-bäude reden, die seit 1960 gebaut worden sind, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass diese Immobilien mehr oder weniger die einzigen Elemente in unserer Umwelt sind, die noch die Botschaft von vor 30, 40 oder 50 Jahren zu uns bringen. Alles andere um uns herum ist im Zuge der Produk-terneuerung und Innovation schon längst erneuert worden und die alten Dinge werden höchstens noch irgendwo in Museen bestaunt. Die Immobilien sind das Einzige, das uns mit dieser Zeit noch verbindet.

Die 1960er-Jahre haben sich dadurch ausgezeichnet, dass alles der Utopie untergeordnet wurde, der Utopie des Rei-nen, Schönen, Neuen. Da hat man die Kopfstützen im Auto weggelassen und auch die Betonüberdeckung über der Ar-mierung. Das war aus damaliger Sicht einfach erforderlich. Das ist 50 Jahre her. Die 1970er waren eigentlich ein glorrei-ches Jahrzehnt, weil man sich von allem entledigt hat. Man konnte nach vorne schauen, hatte die Zwänge des 1950er-, 1960er-Jahre-Systems hinter sich gelassen und konnte aus dem Vollen schöpfen. Es wurde in dieser Zeit mehr oder we-niger alles probiert, was ging. Das Sick-Building-Syndrom ist – ich glaube ursprünglich in den USA – entstanden. Wir

haben Asbest, Dioxin und FCKW-Kühlschränke erfunden und plötzlich wurden Krebs und Bluthochdruck zu wichtigen Themen. Es geht also um eine Zeit, in der man „Umweltver-träglichkeit“ noch nicht buchstabieren konnte. Das war vor 40 Jahren. In den 1980ern fing dann eigentlich das an, was wir mittlerweile als die Hybris der Zivilisation bezeichnen. Es ging im Wesentlichen um „schneller, höher, weiter“. Al-les, was machbar war, wurde gemacht. Im Übrigen war in den 1980er-Jahren endlich das Geld da, um die funktionale Stadt, die in den 1970er-Jahren gedacht wurde, wirklich umzusetzen. In vielen Städten sind tatsächlich die großen innerstädtischen Magistralen in den 1980ern verwirklicht worden. Wir sprechen jetzt, 30 Jahre später, von der ge-mischten Stadt, die wir anstreben. Das alles muss man sich vor Augen führen. Das Denken aus dieser Zeit ist in den Ge-bäuden manifestiert. Dies ist offensichtlich im Großen, aber auch im Detail dieser Gebäude. Die 1990er-Jahre übersprin-ge ich. In vielen Bereichen gab es wohl noch eine Steigerung gegenüber den 1980ern.

Dann gab es irgendwann ein Umdenken. Es wurde vielleicht hervorgerufen durch den „Jahrtausendwendeschock“, re-sultierte sicher aber auch aus verschiedenen gesellschaftli-chen und kulturellen Zusammenhängen, die uns bewegt haben – sei es der ideologische Systemzerfall, sei es, dass uns die Chinesen mit ihrem Ressourcenbedarf ganz klar vor Augen geführt haben, dass unser Wirtschaften, allein öko-nomisch gesehen, keinen Sinn mehr macht. Dass unser Tun ökologisch keinen Sinn mehr macht, hatten irgendwelche Außenseiter bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren be-hauptet, nun wurde es allen klar.

Schlaue Leute haben dann nachgedacht und festgestellt, dass es bestimmte Produkte gibt, die perfekt und in der Her-stellung kaum verbesserungsfähig sind – zum Beispiel das Ei. Man kann jeden Morgen in den Stall gehen und sich Eier

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herausholen und dies funktioniert jahrelang – zumindest solange man nicht zu viele herausnimmt. Das System er-neuert sich von selbst. Darin liegt die Grundidee für das, was Life Cycle Assessment (LCA) oder Ecobalance oder Sus-tainability bzw. Nachhaltigkeit genannt wird. Das Prinzip der Nachhaltigkeit muss beim Bauen generell, aber auch bei der Auseinandersetzung mit diesen alten Gebäuden eine wichtige Rolle spielen.

Und man hat es – wie gesagt – immer mit spezifischen Sichtweisen und Einstellungen, dem gebauten Zeitgeist zu tun, nicht nur mit Baumaterie und Architektur. Man muss auf die gesamte „Haltung“ eines Gebäudes reagieren.

Der Ansatz in unserem Büro richtet den Blick auf die drei Megatrends der kommenden Jahrzehnte. Die Themen sind Energie, Demographie und Stadt. Stadt steht für uns für den Trend der Verstädterung, das heißt den Zuzug in die wach-senden Metropolen – die Stadt ist allerdings gleichzeitig für uns der Lösungsansatz für die Probleme dieses Megatrends. In den wachsenden Metropolen steigt der Wohnraumbedarf von Jahr zu Jahr – und zwar fast exponentiell. Das resultiert natürlich nicht nur aus dem Zuzug, sondern auch aus der steigenden Wohnfläche, die eine Person im Durchschnitt in Anspruch nimmt.

Das Thema Energie: Wir können eine CO2-Reduktion im Im-mobilienbereich nur realisieren, wenn wir uns um den Be-stand kümmern. Da gibt es enorme Einsparpotenziale. Der Blick auf die – im Vergleich zu den Bestandswohngebäuden – extrem geringe Neubauquote macht deutlich, wie wenig Energieeinsparpotenzial wir dort haben. Und dann müssen wir auch auf die sogenannte Graue Energie blicken. Wenn wir nämlich über Ecobalance reden, dann müssen wir uns

natürlich auch damit beschäftigen, welche Energie einge-setzt worden ist, um einzelne Bauteile überhaupt herzustel-len. Wesentlich ist zum Beispiel die – nicht überraschende – Erkenntnis, dass in der Tragstruktur die meiste Energie gebunden ist, im Stahlbau beziehungsweise in der Beweh-rung im Stahlbeton.

Das Ziel ist nicht „Downrecycling“, sondern das, was heute mit „Cradle to Cradle“ gemeint ist, also ein erneuter Einsatz zur anderen Funktion. Das ist das Leitbild, dem man sich in allen Dingen unterordnen sollte. Dieses Grundprinzip gibt es schon seit ein paar Jahrhunderten oder Jahrtausenden. Natürlich kann die Erneuerung im System nicht vollständig erreicht werden, weil diesem System immer irgendetwas

zugeführt werden muss, sei es Energie, seien es andere Rohstoffe oder Ressourcen. Aber es geht um einen mög-lichst großen Prozentsatz, der einer erneuten Nutzung zu-geführt werden kann.

Wir haben uns ein bisschen eingehender mit einem Son-derthema im Bereich der Erneuerung beschäftigt, mit dem sogenannten Redevelopment, dem Refurbishment, der Wei-terentwicklung im Bestand – und zwar insbesondere mit der Umnutzung von Gewerbe- oder Büroobjekten zu Wohnge-bäuden. Wir haben in einem Forschungsprojekt in Zusam-menarbeit mit der HafenCity Universität Hamburg, Prof. Kritzmann, und dem Architekturkritiker Prof. Gert Kähler versucht herauszufinden, welche Gebäude sich dafür eig-nen und ob es überhaupt einen Bedarf dafür gibt. Dass die-ser Bedarf seitens der Bevölkerung gesehen wird, steht ver-mutlich außer Frage. Ein anderes Thema ist, inwieweit es in der Immobilienwirtschaft einen Bedarf gibt – ich komme darauf noch einmal zurück.

Wir haben acht Städte in Deutschland untersucht, die wir dann nach Größe, demografischer Entwicklung etc. katego-risiert haben. Wir haben dort Büro- und Gewerbegebäude eingehend untersucht und unter anderem ein digitales Tool, eine Art Datenbank aufgebaut. Und wir haben dann versucht, für die verschiedenen Kategorien allgemeine Aus-sagen zu treffen. Wir haben die Analyse letztendlich einge-

Lebenszyklus eines Huhns

Neustart: die drei Megatrends der kommenden Jahre

erneuerte Nutzungen

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grenzt auf die Faktoren Entstehungszeit, Mikro- und Mak-rolage, Bausubstanz und Baurecht. Das Ergebnis dieses Werkzeugs ist die „Redevelopment-Chance“. Ich könnte viele gute Beispiele zeigen, was man aus solchen Gebäuden machen kann. Vor allem in innerstädtischen Lagen gibt es natürlich einen großen Bedarf an Shopping-Fläche, an Wohnraum, an Büros.

Das Problem – diese Erfahrung haben wir in vielen Gesprä-chen gemacht – sind aber vor allem die Eigentümer. Sie stellen oft das größte Hemmnis bei der Umnutzung von Im-mobilien dar. Wir haben deshalb ein einfach gestaltetes Online-Programm entwickelt, fast wie ein App auf dem Handy. Eine Wohnimmobilie ist „immobilientechnisch“ eine vollkommen andere Welt als eine Gewerbeimmobilie. Und um überhaupt diesen Horizont zu öffnen, diese Tür zwi-schen den beiden Welten aufzustoßen, haben wir dieses Tool entwickelt. Die Eigentümer können einige Informatio-nen eingeben, die jeder Laie eingeben kann: Wie ist die Lage? Welches Baurecht liegt vor? Was ergibt eine grobe, ganz oberflächliche Schadensanalyse, zum Beispiel: Brö-ckelt die Fassade schon ab? Was ist das Ziel einer Umnut-zung, z.B. eine Nutzung als Hotel oder als Jugendherberge? Auf dieser Grundlage kann man am Schluss innerhalb der einzelnen Kategorien eine Aussage bekommen, die sich in einer gewissen Punktzahl ausdrückt. Diese sagt dann in ei-ner ersten Betrachtung aus, ob jemand etwas mit einem Gebäude machen kann.

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass dieses Online-Tool wesentlich wirksamer ist als die dicke Studie, die wir erstellt haben und die irgendwo beim Fraunhofer Institut im Akten-regal liegt. Es ist ein kleines Programm, das man per E-Mail herumschicken kann. Die meisten Eigentümer sind nicht, wie man vielleicht denkt, irgendwelche großen Immobilien-fonds, die weltweit agieren. Der Großteil der leer stehenden Gebäude aus den 1970er- und 1980er-Jahren, gerade der Büroimmobilien, sind in Händen von Privateigentümern, ir-gendwelchen wohlhabenden Familien oder Erbengemein-schaften. Es geht darum, diese zu erreichen und darauf auf-merksam zu machen, dass eine Weiterentwicklung der Gebäude überhaupt möglich ist. Dieses Phänomen wird in der Fachliteratur schon seit ein paar Jahren anhand ver-schiedener Projekte dargelegt. Diese Chancen sind aber noch immer den wenigsten Menschen begreifbar zu ma-chen. Wenn wir vor einer Wiese stehen, können wir uns vor-stellen, dass dort irgendwann einmal ein Haus gebaut wer-den wird. Aber wenn man sich ein 1970er-Jahre-Bürohaus ansieht, dann kann man sich nicht vorstellen, dass hier at-traktive Mietwohnungen entstehen könnten. Insofern glau-be ich, dass unsere Herangehensweise richtig ist, um auf das Thema aufmerksam zu machen. Soviel zu unserem For-schungsprojekt. Uns geht es darum, einen kompletten Neu-beginn zu starten, und zwar mit dem, was wir haben. Danke schön.

„Redevelopment-Chance“ Projekt Beispiel

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Chancen architektonischer und funktionaler Neuinterpretation

Fokke Moerel, MVRDV, Rotterdam

Ich möchte den Veranstaltern danken, das Thema „Schla-fende Riesen“ auf die Agenda gesetzt zu haben. Es ist wirk-lich interessant, an solchen Gebäuden zu arbeiten, und es sollte tatsächlich überall auf der Agenda stehen. Internati-onal finden diese leerstehenden Riesengebäude immer stärker Beachtung. Auf der letzten Biennale in Venedig hat Ronald Rietveld in einem der Pavillons eine sehr schöne In-stallation gemacht, in der er gezeigt hat, wie viele leerste-hende Gebäude – nicht nur Denkmale, sondern auch ande-re leerstehende Gebäude – es in den Niederlanden gibt. Und es gibt wirklich eine riesige Menge davon, die dann auch in einen Katalog übertragen wurden.

Bevor ich einige Projekte vorstelle, in denen wir schlafende Riesen wachgeküsst haben, zunächst kurz zum Architek-turbüro MVRDV. Die Buchstaben stehen für Winy Maas, Ja-cob van Rijs und Nathalie de Vries. Das Büro befindet sich in Rotterdam in einem Wohngebiet aus dem 19. Jahrhun-dert, in einer alten Druckerei. Wir arbeiten bewusst in ei-nem offenen Raum, weil man sich dadurch regelmäßig austauschen kann. Wir haben rund 65 Mitarbeiterinnen

und Mitarbeiter aus den Bereichen Architektur, Land-schaftsarchitektur und Urban Design. 20 Nationalitäten sind vertreten. Wir beginnen die Arbeit immer mit Model-len, verfolgen also einen sehr physischen Ansatz. Aber wir bauen nicht nur, sondern veröffentlichen auch Bücher.

Auf der nächsten Seite möchte Ihnen zunächst einige Fotos von Riesen zeigen, die wir gebaut bzw. geweckt haben, zum Beispiel die Villa VPRO in Hilversum in den Niederlanden (Foto 1), Geschosswohnungsbau – Silodam – in Amsterdam (Foto 2), das Wohngebäude Mirador am Stadtrand von Ma-drid, vorwiegend für einkommensschwächere Bevölke-rungsgruppen (Foto 3), ein neu entstehendes Wohngebiet in China (Foto 4), den Pavillon auf der Expo Hannover 2000 (Foto 5), ein Shopping Center in Tokio (Foto 6), die Market Hall, die in zwei Jahren im Stadtzentrum von Rotterdam stehen wird (Foto 7) und ein kleines Museum auf dem freien Feld in Matsudai in Japan (Foto 8). Andere Projekte von MVRDV sind zum Beispiel eine Bibliothek in der Nähe von Rotterdam, ein Bankgebäude in Oslo oder Seniorenwoh-nungen in der Nähe von Amsterdam (WoZoCo).

Installation von Ronald Rietveld, Architekturbiennale Venedig 2010 MVRDV, Rotterdam

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„Riesen“ von MVRDV

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Didden Village, Rotterdam

Aber zurück zu den Schlafenden Riesen. Ich werde Ihnen ei-nige Projekte zu dem Thema vorstellen, einige Riesen, aber auch ein paar Zwerge. Wir errichten nicht nur riesengroße Gebäude, wir beschäftigen uns auch mit kleinen.

Mein erstes Beispiel ist das „Didden Village“, ein Haus für eine vierköpfige Familie im Stadtzentrum von Rotterdam. Die Familie wohnte in einem historischen Gebäude und wollte dort gern bleiben, brauchte aber mehr Platz. Die un-teren beiden Geschosse des Gebäudes waren eine Werk-statt, in der unter anderem Perücken angefertigt wurden.

Die Familie wohnte im dritten Stock in einer sehr großen Wohnung, sie wollte aber einfach noch mehr Platz haben, als die beiden Jungen größer wurden. Neun von 10 Familien, die in der Stadt wohnen und Kinder bekommen, möchten gerne in der Stadt bleiben und nicht in die Vorstadt ziehen, obwohl sie dort vielleicht einen großen Garten hätten und niedrigere Mieten zahlen müssten. Die Chance dieses Hau-ses war das flache Dach. Hier gibt es spektakuläre Ausblicke auf Rotterdam, weil die meisten Häuser in der Umgebung die gleiche Höhe haben. Wir haben dann die alte Skyline des 19. Jahrhunderts verändert und ein kleines Dorf auf das

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Dach gebaut, durch zwei Löcher mit dem unteren Geschoss verbunden. Oben gibt es zudem nun eine Terrasse mit Mor-gensonne und eine mit Abendsonne. Wir haben alle Teile, auch die Treppen, vorgefertigt, angestrichen und dann vor Ort montiert. Wir haben der Familie also mehr Raum gege-ben, haben das Stadtzentrum verdichtet und die Silhouette der Stadt verändert.

Das nächste Projekt ist wieder ein Zwerg, die Tribüne in Delft. In der niederländischen Architekturfakultät hatte es im Sommer 2009 gebrannt; nichts war übrig geblieben. Für die Studierenden musste schnell ein neuer Standort gefun-den werden. In der unmittelbaren Nachbarschaft gab es ein Gebäude, das seit Jahren nicht mehr genutzt wurde, ein schönes, großes, denkmalgeschütztes Gebäude. Zuerst soll-te es nur eine Zwischenlösung sein, aber nun bleibt die Uni-versität. Das Gebäude war eigentlich ein bisschen zu klein. Man musste also kreativ sein, um mehr Platz zu schaffen.

Zudem musste die Umnutzung sehr schnell gehen. Wir wur-den gebeten, uns der Sache anzunehmen. Wir haben uns zunächst auf die Höfe konzentriert und sie zum Teil über-dacht. Dann haben wir ein riesiges „Möbelstück“ hineinge-setzt, eine große Tribüne, die vielfältig genutzt werden kann, auch für große Veranstaltungen. Man kann drinnen

Architekturfakultät Universität Delft

Lloyd Hotel, Amsterdam

und draußen arbeiten. Die Neuinterpretation dieses leerste-henden Gebäudes war eine Superchance.

Ein größeres Projekt war das Lloyd Hotel in Amsterdam. Das umgebende Hafengelände war völlig desolat. Das Gebäude war ursprünglich ein Immigrationshotel für Osteuropäer, die im 19. Jahrhundert auf dem Weg in die USA waren. Dann folgten unterschiedliche Nutzungen. Im Zweiten Weltkrieg war hier ein Archiv untergebracht, eine Zeit lang wurde es von Hausbesetzern genutzt und eine Zeit lang war es ein Jugendgefängnis. Es hatte also einen ziemlich schlechten Ruf und war auch in einem ziemlich schlechten Zustand. Das Gebiet war zwar desolat, lag aber in unmittelbarer Nähe zu wichtigen Stadtgebieten. Wir haben den Bau voll-ständig erneuert, das Gelände völlig verwandelt. Alles wur-de einmalig. Alle Hotelzimmer bekamen eine unterschiedli-che Größe und Atmosphäre und wurden unterschiedlich ausgestattet.

Wir haben das Gebäude in drei Zonen aufgeteilt. Im roten Bereich musste vor allem renoviert werden, zum Beispiel die

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Lloyd Hotel, Amsterdam

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Transitlager Reloaded, Basel

alten, zum Teil sehr schönen Holzverkleidungen, Kacheln, Treppen und so weiter. Im pinken Bereich war eine Über-gangszone mit sehr hohen Decken. Wir konnten hier eine Zwischendecke einziehen und dadurch zusätzliche Zimmer schaffen. Den orangenen Teil in der Mitte haben wir kom-plett entkernt und neu programmiert. Dort wurde die Kul-turbotschaft als Herz des Gebäudes eingefügt, deren Aufga-be es ist, Gästen und Einheimischen den kulturellen Reichtum des Landes zu vermitteln. Das verlassene Hafen-gebiet wurde also zu einem sehr attraktiven zweiten Leben erweckt.

Nun zeige ich Ihnen ein Projekt in Kopenhagen. Aus zwei

großen Betonsilos entstand die Gemini-Residenz. Wir wur-den gebeten, in die Mitte Häuser hineinzusetzen. Dann hät-ten wir natürlich Löcher bohren müssen, um Licht hineinzu-bekommen. Die Betonwand war aber sehr, sehr dick. Deshalb haben wir uns überlegt, diese Masse lieber dafür zu

nutzen, etwas davor zu hängen. Wir haben uns also für ei-nen völlig anderen Ansatz entschieden. Innen gibt es nun eine große Lobby, außen haben wir Wohnungen angehängt. Die riesigen Balkons winden sich um die Silos. Die Sicht ist wunderbar, die Wohnungen haben viel Tageslicht und wir haben viel neue Fläche dazugewonnen. Und wir konnten hier ein totgeglaubtes Hafengebiet neu beleben und besie-deln.

Das nächste Projekt, das ich Ihnen vorstelle, ist das „Tran-sitlager Reloaded“ in Basel. Den Wettbewerb haben wir lei-der nicht gewonnen. Der Standort ist ein Industriegebiet, das sich in Transformation befindet. Er liegt gefühlt ziem-lich weit vom Zentrum entfernt, tatsächlich kann man das Gebiet mit der Straßenbahn in 10 Minuten erreichen. Das Areal wird noch als Industriegebiet genutzt. Es gibt Speicher und Lagerhäuser und einige dieser Gebäude sollen umge-widmet und modernisiert werden. Es ging hier um eine Rie-senstruktur, ein großes leerstehendes Gebäude. Es sollten eigentlich drei zusätzliche Ebenen mit einem minimalen Höhenniveau entstehen. Wir fanden das schade, weil die Qualität eben diese wunderbare Höhe war, und haben uns entschieden, nur zwei zusätzliche Ebenen einzufügen und dafür effizienter in der Innengestaltung zu sein. Die Fassade wurde fragmentiert, segmentiert. Es gibt viele kleinere Ein-

Gemini-Residenz, Kopenhagen

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heiten, auch Büros, Geschäfte und Restaurants. Die Haupt-fassade liegt im Norden; es war also wichtig, hier andere Orientierungen zu bekommen, nicht nur die Expositionen nach Norden. Wir haben deshalb den Container-Ansatz ver-folgt, die Fassade geschoben und gezogen. Es entstehen Loggias, Balkone und Kombinationen daraus, sogar

Dachnutzungen sind möglich. Wir haben einen ziemlich ein-fachen Ansatz gewählt, keine bauliche Rieseninvestition geplant. Wir wollten einfach einen Stahlrahmen aufsetzen und ihn mit den vorhandenen Strukturen verbinden. Ich zei-ge Ihnen hier, wie das Gebäude hätte aussehen können: eine Verführung der Jungen und Ehrgeizigen durch flexib-len, übergroßen Raum.

Das letzte Beispiel ist aus Berlin, das Haus Cumberland. Es geht um eine Struktur von aneinandergereihten Höfen. Wir hatten vorgeschlagen, hier eine Shopping Mall, Büros und andere Einrichtungen zu schaffen. Wir haben überlegt, die Höfe einfach zu füllen und diese große, solide Struktur, die wir dann erhalten, zur Straße hin aufzuschneiden. Wir neh-men eine Scheibe heraus, so dass eine innere Passage ent-

Haus Cumberland, Berlin

Transitlager Reloaded, Basel

Bilder: MVRDV/ Rob‘t Hart (Fotograf)

steht, die einen Glasrahmen bekommen kann. Man schafft also – wie beim alten Hofsystem – wieder eine Verbindung mit der Hauptstraße und der Fassade. Die Entfaltung der Potenziale geschieht also, indem man das historische Volu-men zerschneidet.

Ich habe Ihnen einige Beispiele für die Chancen gezeigt, die in dem Thema liegen. Wir sollten wirklich diese „schlafen-den Riesen“ wachküssen. Dazu wollte ich Sie ermuntern, das ist eine gute Idee. Vielen Dank.

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Wohnhochhaus Lyoner Straße 19, Frankfurt am Main

Gisbert Dreyer, G. Dreyer Planungsgesellschaft mbH

Guten Abend, meine Damen und Herren. Zum Thema „Schlafende Riesen“ habe ich einen persönlichen Bezug. Wir hatten Gelegenheit hier in Berlin zwei wirklich große Riesen einer neuen Nutzung zuzuführen: Das eine sind die ehema-ligen Elektro-Apparate-Werke in Treptow – Sie werden sie vielleicht als „Treptowers“ kennen. Sie sind heute Sitz der Allianz. Das andere große Projekt waren die ehemaligen Gründungswerke von Osram in der Oberbaum-City. Beide Objekte, die wir fast auf Stadtviertelgröße umgebaut ha-ben, verdienten den Namen „Schlafende Riesen“ wirklich.

Was ich Ihnen heute zeige, ist vielleicht kein Zwerg, aber auch nichts Besonderes. Es ist ein Hochhaus aus den 1970er-Jahren in Frankfurt-Niederrad. Diejenigen, die Frankfurt ein bisschen besser kennen, wissen, dass Nieder-rad eine Bürostadt im Südwesten von Frankfurt ist, ein Pro-dukt der Stadtplanung aus den 1960er- und 1970er-Jahren, als die Trennung von Wohnen und Arbeiten auf die Spitze getrieben wurde.

Natürlich gibt es ein paar schöne Häuser, zum Beispiel die Olivetti-Hochhäuser. „Unser“ Haus ist dagegen ein eher tri-viales Gebäude aus den 1970er-Jahren, das von der IG Me-tall genutzt wurde. Anfang 2000 wurde es von jeglicher Nut-zung verlassen, weil die technischen Voraussetzungen nicht mehr gestimmt haben, brandschutzrechtliche Bestimmun-gen nicht mehr erfüllt werden konnten und so weiter. Ich habe das Gebäude damals im Rahmen eines größeren Grundstücks-Deals quasi als Dreingabe mitkaufen müssen, aus eigenen Stücken hätte ich es nicht gekauft. Aber dann hatten wir es eben und mussten überlegen, was daraus zu machen ist.

Natürlich hätten wir aus dem Bürohaus wieder ein Büro-haus machen können. Aber in Frankfurt ist der Leerstand von Büroflächen von 2002 bis 2010 von 4% auf 17% gestie-

gen. Derzeit stehen etwa 1,9 Mio. m² Büroflächen leer. In Randlagen wie in Niederrad kann man in Bestandsgebäu-den Mieten von vielleicht 10 €/m² erzielen. Höhere Mieten sind nur bei höheren Ausbaustandards möglich, die aber in solchen Gebäuden kaum umzusetzen sind, zum Beispiel we-gen der zu niedrigen Geschosshöhen. Auch Abriss und Neu-bau kam bei den erzielbaren Büromieten in einer solchen Randlage nicht in Betracht. Also wollten wir gern Wohnun-gen in das Gebäude bringen. Vor allem von 1- oder 2-Perso-nenhaushalten gibt es eine starke Nachfrage nach Wohn-raum gehobenen Standards.

Die Hauptproblematik dieses Projekts war, dass die Stadt Frankfurt jahrelang eine Umnutzung des Bürogebäudes, dieser Bürostadt nicht wollte, nicht einmal denken konnte. Aber in den letzten vier, fünf Jahren gab es ein Umdenken. Heute ist die Stadt Frankfurt bereit, aus diesem sogenannte Lyoner Viertel, aus diesem dysfunktionalen Bürostandort – er ist mit einer Leerstandsquote von fast 40 Prozent geseg-net – etwas Neues zu machen. Das Projekt passt also durch-aus zum Thema des heutigen Nachmittags.

Neben den Substanzeigenschaften der Immobilie lag eine große Problematik in der planungsrechtlichen Situation. Entgegen aller anders lautender Behauptungen ist die Um-nutzung eines solchen Gebäudes in ein Wohngebäude ein planungsrechtlicher Vorgang von außerordentlicher Kom-plexität. Man begibt sich damit nämlich in andere Kapitel der Baunutzungsverordnung, des Baugesetzes und der di-versen Landesbauordnungen. Es ist sehr schwierig, mit den Planungsbehörden der Kommune über die spezifischen Be-sonderheiten im Altbaubestand ins Gespräch zu kommen. Man muss mit Ausnahmen operieren, also Abweichungen von Vorschriften zulassen. Wenn Sie die Baunutzungsver-ordnung im Bereich Wohnen und im Bereich gewerblicher Nutzung kennen, zum Beispiel die Vorschriften zu Ab-

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pe herausnehmen und die Fläche für die notwendigen Schächte, aber zum Beispiel auch für innenliegende Bäder nutzen.

Ein wichtiger Gesichtspunkt bei dieser Investitionsentschei-dung war natürlich die Vermarktbarkeit. Es gab bisher in Frankfurt-Niederrad, einem Stadtviertel mit vermutlich rund 150.000 Arbeitsplätzen, keine einzige Wohnung – wenn man von der einen oder anderen Hausmeisterwoh-nung absieht. Die große Frage war natürlich, ob es dort für Wohnungen überhaupt eine Nachfrage gibt.

Wir haben einerseits auf die beträchtliche Arbeitsbevölke-rung vor Ort spekuliert, andererseits darauf, dass die Ar-beitsbevölkerung in Frankfurt generell relativ flexibel, mobil ist. Das ist hier vielleicht eine Besonderheit: Es gibt wenig Menschen, insbesondere jüngere Menschen, die in Frank-furt länger als zwei, drei, vier, fünf Jahre leben. Die meisten ziehen dann mit Blick auf ihre berufliche Karriere wieder weiter. Wir haben für dieses nomadisierende Völkchen – vie-le sind Wochenendpendler – dieses Haus umgebaut und ein Zwischending zwischen Hotel, Boarding House und privater Wohnung geschaffen. Wir haben die Wohnungen so weit ausgebaut, dass solche Berufsnomaden im Prinzip mit der Seekiste und vielleicht einem Stuhl und einer Matratze dort einziehen und leben können. Wir bieten eine Varianz in den Wohnungsgrößen an: Sie reicht von Kleinappartements um

standsflächen, erkennen Sie schnell, welche Probleme eine Umnutzung verursacht.

Wir konnten dieses Problem aber schließlich doch lösen und das Bürohaus in ein Wohnhaus mit 98 Wohneinheiten um-wandeln. Ein Grund dafür war die günstige städtebauliche Konfiguration der Bürostadt Niederrad. Wir hatten große Abstände und vor allem einen fast quadratischen Grundriss. In Scheibenhochhäusern tut man sich bei der Umnutzung außerordentlich schwer – das Verhältnis zwischen Kosten bzw. Aufwand und Ertrag ist dort eigentlich nicht mehr zur Deckung zu bringen.

Wir fanden hier aber einen quadratischen Grundriss vor. Das Gebäude hatte einen tiefen Kern mit mehreren Fahr-stühlen, Belüftungsschächten und so weiter. Wir haben uns nach Abwägung der wirtschaftlichen und ästhetisch- archi-tektonischen Aspekte für eine Aufstockung des Gebäudes entschieden. Dies erforderte natürlich eine sehr genaue Prüfung der Tragfähigkeit der Struktur – die Statik-Berech-nungen stammten aus den 1960er-Jahren. Die Statik wurde dann mit sparsamen Mitteln verstärkt. Das funktionierte vor allem deshalb, weil die anzusetzenden Lasten bei Wohn-gebäuden niedriger sind als bei Bürogebäuden.

Weil die Vertikalbewegung in Wohngebäuden niedriger ist als in Bürogebäuden, konnten wird dann eine Aufzugsgrup-

Vor dem Umbau (Foto Juli 2008) Nach dem Umbau (Foto Juni 2010)

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die 50, 60 Quadratmeter bis hin zu Penthäusern bis zu 182 Quadratmetern. Wir sind heute – und die Entwicklung war sicher ein großes Experiment und Abenteuer – mit dem Pro-dukt, mit diesem Haus sehr glücklich, weil es sich letztlich doch sehr gut vermieten ließ. Die Vermietungsquote beträgt derzeit ungefähr 85%.

Aber zurück zur generellen Diskussion über die Umnutzbar-keit von Bürogebäuden zu Wohnungen: Unter wirtschaftli-chen Gesichtspunkten ist es ein Rückschritt. Bei der Wohn-nutzung haben wir nur eine Flächeneffizienz von rund 72 Prozent pro Geschoss erreicht. Bei einer Büronutzung kön-nen wir mit einer Flächeneffizienz von 85, fast 90 Prozent

rechnen. Die Umnutzungskosten sind gegenüber den Kos-ten eines Neubaus natürlich in keiner Weise vorteilhaft. Wir mussten das Gebäude – die Struktur stammt wie gesagt aus den 1960er-Jahren – ohnehin im Prinzip neu bauen. Es ge-nügte natürlich den Ansprüchen an moderne Gebäude nicht mehr. Ich spreche hier über die Energieeinsparverordnung, die Frage der Tragfähigkeit, die Frage des Schallschutzes und insbesondere des Brandschutzes. Die Kosten für eine solche Umbaumaßnahme sind mindestens so hoch wie bei einem Neubau. Die Frage der Umnutzung von Bürogebäu-den wird sich letztendlich nicht daran entscheiden, ob ei-nem die Architektur gefällt, sondern an wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Man muss überlegen, ob sich das wirklich lohnt. Der einzige Grund, warum wir uns für die Umnutzung und gegen einen Neubau entschieden haben, war die Bau-zeit. Natürlich haben wir eine Vergleichsrechnung ange-stellt. Wir hätten an dieser Stelle in der gleichen Zeit ein solches Haus nicht bauen können. Die Genehmigungspro-zesse, die Zeiten für den Abbruch und den Neubau wären deutlich länger gewesen. Wir haben uns dies alles erspart und konnten dieses Haus innerhalb von 18 Monaten um-bauen.

Ich will sie nicht mit Details zur Statitik und zu gesetzlichen Vorgaben langweilen. Verkürzt gesagt sind wir bewusst un-ter der 60-Meter-Grenze geblieben, weil sonst die Frankfur-ter Hochhausrichtlinien gegriffen hätten. Wenn wir diese Grenze überschritten hätten, wären die Anforderungen an Fluchtwege, Standfestigkeit und so weiter noch einmal deutlich gestiegen. Dennoch gab es eine Menge zu tun, um das Projekt genehmigungsfähig zu machen. Es ging um Fluchtwege, die bei Hochhäusern immer eine entscheidende Rolle spielen, um die Druckbelüftung, um den Trittschall etc.

Wir haben die Wohnungen, wie bereits angesprochen, fast

Wohnungsgrößen zwischen 46 m² und 68 m²

Wohnungsgröße 182m²

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bezugsfertig ausgebaut. Wir wollten einen hohen Standard anbieten und damit eine besondere Attraktivität an diesem doch sehr isolierten Standort schaffen. Allerdings war es uns aus mietrechtlichen Gründen nicht erlaubt, die Woh-nungen als möblierte Wohnungen zu vermieten.

Heute ist das Projekt vielleicht wirtschaftlich erträglich, aber ich würde das alles nicht noch einmal tun. Es war ein komplexer Vorgang. Die Investition lag bei etwa 18 Millio-nen Euro, die zu einem großen Teil natürlich fremdfinan-ziert werden musste. Wir haben wirklich hart kämpfen müs-sen, bevor wir eine Bank gefunden haben, die überhaupt bereit war, so ein Bauvorhaben mitzufinanzieren. Norma-lerweise können Sie heute ein Wohnhaus mit 30 Prozent Eigenkapital und 70 Prozent Darlehen finanzieren. Die Ban-ken waren bei diesem Experiment aber nur bereit, ein Darle-hen von maximal 50 Prozent zu geben. Allein die geringe Wirtschaftlichkeit des Eigenkapitals spricht also gegen sol-che Vorhaben. Weiterhin ist die Rentabilität eines solchen Projektes – bei hohen Baukosten – nicht besonders befriedi-gend: Wir müssen relativ hohe Mieten verlangen, die Durch-schnittskaltmiete liegt bei etwa 12,50 bis 13,00 Euro pro Quadratmeter. Insbesondere für Berliner Verhältnisse ist das natürlich sehr teuer. Dennoch erreichen wir damit nur Renditen von rund vier, fünf Prozent. Das ist für Investoren nicht besonders attraktiv.

Wir haben versucht, aus diesem sehr einfachen Bürogebäu-de eine moderne Architektur zu schaffen, die Horizontalität zu betonen. Das Büro Forster aus Frankfurt hat das für uns sehr schön gelöst. Nach meinem Wissensstand ist dieses Vorhaben das einzige große Umbau- und Umnutzungspro-jekt dieser Art in Deutschland. Ich glaube, dass es auch eine Ausnahme bleiben wird. Allein mit Blick auf den Städtebau von Hochhäusern, die für gewerbliche Zwecke gebaut wor-den sind, werden sich die Behörden sehr schwer tun, Wohn-nutzung zu genehmigen. Es stehen dem einfach die Vor-schriften der Baunutzungsverordnung und andere Bauvorschriften entgegen.

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Anzahl Einheit Anzahl Einheit Anzahl Einheit1 2 3 4 5 6 7 8

1 Grundstücksfläche 4.100 m² 4.100 m² 0 m²2 Bruttogrundfläche (BGF) oberirdisch 8.500 m² 10.077 m² 1.577 m²3 Geschossanzahl oberirdisch 15 St. 18 St. 3 St.4 Mietfläche (MF) oberirdisch 6.500 m² 6.919 m² 419 m²5 Flächeneffizienz (MF/oberirdische BGF) 76,47 % 68,66 % -7,81 %6 Stellplätze 97 St. 97,00 St. 0,00 St.

Differenz [5 - 3]

BüroNr. Objektangaben

Wohnen

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Flächenvergleiche Lyoner Straße 19

Spezifische Brutto-Kosten

Netto-Anfangsrendite in Abhängigkeit der Brutto-Hochbaukosten und der Netto-Kaltmiete

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Es gibt aus meiner Sicht also keinen Grund zur Euphorie, wenn man über die Umnutzungsmöglichkeiten von Büroge-bäuden in Wohngebäude diskutiert. Es sind damit sehr viele Probleme verbunden. Aber um mit einem positiven Zungen-schlag zu enden: Ich denke, unser Projekt zeigt, dass es machbar ist. Die Entscheidung, ob weitere Projekte dieser Art umgesetzt werden sollten, überlasse ich dann den je-weiligen Akteuren in den unterschiedlichen Städten. Ich danke Ihnen sehr herzlich.

Dr. Jürgen Tietz, Moderation: Gibt es ähnlich große Proble-me, wenn ein leerstehendes Bürogebäude für eine neue Bü-ronutzung aktiviert werden soll?

Gisbert Dreyer: Nein, wenn Sie in der gleichen Nutzungsart bleiben, gibt es vielleicht technisch-architektonische Her-ausforderungen, aber es sind nicht wirklich schwierige Pro-jekte. Und ich sehe hier „gleiche Nutzungsart“ sehr weit: Natürlich können Sie aus einer Kirche eine Moschee machen oder ein Museum, können Sie in einem Fabrikgebäude Bü-ros schaffen oder kulturelle Nutzungen umsetzen. Sobald Sie aber aus der Nutzungsart herausgehen – und das hängt natürlich ganz eng mit den deutschen Bau- und Planungs-gesetzen zusammen – kommen Sie an Grenzen, die Sie nicht leicht durchbrechen können. Ich meine das gar nicht kritisch, oft können die Behörden Ausnahmen einfach nicht genehmigen, zum Beispiel, wenn man bei Gebäudetiefen von 30 Metern durchgesteckte Wohnungen realisieren will, die vielleicht nicht mal einen Notausgang hätten. Bei der Umnutzung von gewerblichen Gebäuden in Wohnen muss man einfach sehr vorsichtig sein und gut überlegen, ob sich das lohnt und ob das auch schöne Wohnungen werden. Und wenn Sie Mieten von 13 oder 15 Euro verlangen müssen, können Sie damit in Berlin nicht landen. Hier zahlt niemand mehr als 10, vielleicht auch 12 Euro pro Quadratmeter. In-sofern ist die immer wieder öffentlich diskutierte Möglich-keit solcher Umnutzungen meistens eine Illusion.

Dr. Jürgen Tietz, Moderation: Welche Instrumente wären nötig, um das zu ändern? Könnte man durch Modifikatio-nen im Baurecht, durch gezielte Fördermaßnahmen oder kreative Lösungen solche Umnutzungen von Büro- in Wohn-gebäude möglich machen?

Gisbert Dreyer: Ich bin der Meinung, dass die meisten Büro-gebäude nicht zu Wohngebäuden umgenutzt, sondern – wenn sie ihren Lebenszyklus hinter sich haben – einfach abgerissen und durch etwas anderes ersetzt werden sollten. Diese Umnutzungsdiskussion geht von der Illusion aus, dass solche Maßnahmen sinnhaft sind. Ich halte sie in der Regel nicht für sinnhaft.

Carsten Venus: Ich möchte Ihnen recht geben und gleichzei-tig widersprechen. Unsere Erfahrung ist, dass es so viele Wahrheiten gibt wie Objekte. Jedes Objekt bedarf einer indi-viduellen Prüfung und erfordert individuelle Antworten. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Umnutzung vom Bürobau zum Wohnungsbau – auch rechnerisch – sehr gut klappen kann, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Vieles haben Sie bereits angesprochen: Es könnte zum Bei-spiel ein kleineres Objekt in innerstädtischer Lage, in einer dichten, guten Wohnlage sein, zum Beispiel eines der klassi-schen Objekte aus den 1970er-Jahren in Stahlbetonskelett-bauweise, 40 Meter lang, 12 Meter tief. Solche Objekte, be-sonders wenn sie auch noch eine Tiefgarage haben, lassen sich sehr gut umnutzen. Aber natürlich ist der Gewerbebau erst einmal renditeträchtiger – wenn er funktioniert.

Redebeitrag Publikum: Ich bin Architekt und möchte hier auf ein paar Projekte in Berlin hinweisen. Es wurde hier zum Beispiel ein Gefängnis in Wohnungen umgebaut, es wurde ein ehemaliges Gerichtsgebäude als Wohngebäude umge-nutzt und ich selbst habe unter anderem eine alte, unter Denkmalschutz stehende Schule in Wohnungen umgebaut. Bei all diesen Projekten ist die Kosten-Nutzen-Relation her-vorragend ausgefallen. In der umgebauten Schule werden die Wohnungen zu einer Nettokaltmiete von 8,00 bis 10,00 Euro pro Quadratmeter vermietet. Eigentümer und Mieter sind zufrieden. Insofern würde ich mich Herrn Venus an-schließen: Es kommt wirklich auf das Gebäude an und auf die Standards, die man anstrebt. Insofern sehe ich Ihre ver-allgemeinernde Aussage mit Skepsis, dass man bei solchen Büroumnutzungen prinzipiell zum Misserfolg verdammt ist.

Gisbert Dreyer: Natürlich ist es völlig richtig, was Sie sagen. Ich habe mich auf die Frage bezogen, die mir hier gestellt wurde, nämlich die Umnutzung großer Bürohochhäuser, „schlafender Büroriesen“, in Wohnraum. Bei einer Schule oder einem Gefängnis – das beherbergt ja letztlich auch eine Wohnnutzung – ist ein Umbau und eine Umnutzung ungleich leichter. Das gleiche würde natürlich für ein klei-nes, viergeschossiges Gewerbegebäude mit 20 Metern Tiefe irgendwo in der Maxvorstadt in München gelten. Natürlich würden das wunderbare Wohnungen, eine Delikatesse für den Architekten und auch für die Leute, die sich das dann hinterher leisten können. Aber wenn Sie zum Beispiel aus dem Thyssen-Hochhaus in Düsseldorf Wohnungen machen wollten, dann würden Sie scheitern. Und über solche Objek-te habe ich gesprochen.

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Angel Building, London Islington

Wade Scaramucci, AHMM Architects, London

Ich werde über das Angel Building in London sprechen. Es war bereits das fünfte Projekt, das unser Büro mit diesem Kunden – Derwent London – realisiert hat. Beim Angel Buil-ding ging es um eine Neuerfindung. Es ist ein ganz wichtiger Teil der Aufgabe von uns Architekten, zu überlegen, wie wir alte ungenutzte oder untergenutzte Gebäude für moderne Zwecke revitalisieren können. Es geht nicht nur um Abriss und Neubau.

Das Angel Building wurde in den 1980er-Jahren für British Telecom errichtet. Wenn ich ganz ehrlich bin, glaube ich nicht, dass es besonders schön war, als es 1982 eröffnet wurde. Als wir 2006 mit unserem Projekt begonnen haben, hatte es seine Nutzung verloren. Es wurde überlegt, ob es nicht abgerissen werden sollte. Aber es gab einiges, das uns interessant erschien. Es gab sehr viel Raum, der – wie Sie wissen – im Stadtzentrum von London sehr wertvoll ist. Es gab einen großen Hof in der Mitte dieses Gebäudes, der aber ungenutzt blieb, weil sich das Gebäude auf eigenartige Weise davon abgewendet hat. Der stadträumliche Gesamt-eindruck war etwas unklar, auch weil das Gebäude straßen-seitig zurückgesetzt ist. Das hat mit einer Planung zur Er-

weiterung der Straße zu tun, die aber nicht umgesetzt worden ist.

Schnell war klar, dass wir den bestehenden Betonrahmen beibehalten konnten. Es gab noch sehr viel Kapazität, Neu-es darauf aufzubauen und die Gebäudegrenzen hinauszu-schieben. Die Verkleidung des Betongerüstes haben wir weggenommen und recycelt, diese und darauf folgende Schritte sind auf der folgenden Seite in Foto 1-5 dargestellt.

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Neue vertikale Umgänge wurden eingebaut. Wir haben überlegt, wie das Gebäude auf die Straße reagieren könnte und die sanfte Kurve in der St John Street aufgegriffen. Wir haben die bestehenden Kapazitäten erweitert, um die neu-en Büros zu realisieren. Auf der Foto 4 ist blau dargestellt, wo wir Raum hinzugefügt haben. Eine wichtige Frage war auch, wie wir diesen Innenhof zum neuen Kern des Gebäu-des machen können. Letztendlich haben wir die Fläche von 150.000 auf 265.000 Squarefeed erhöhen können. Wir ha-ben mehr Platz geschaffen, eine höhere Ausnutzung erzie-len können. Auf Foto 6 ist ersichtlich, dass wir dafür den Rahmen von 1980 um einen neuen Stahlrahmen ergänzt haben.

Durch die Beibehaltung des alten Rahmens haben wir 30.000 Tonnen Schutt eingespart, das ist eine ganze Men-ge. Man spricht sehr viel darüber, dass es zu viel kostet, alte Gebäude zu renovieren. Wir haben errechnet, dass die Kos-ten für dieses Gebäude etwa 15 Prozent unter dem liegen, was es uns gekostet hätte, alles abzureißen und neu zu bauen. Das liegt vor allem auch daran, dass wir drei Monate Bauzeit eingespart haben.

Dann haben wir uns Gedanken zur neuen Gestalt, zur neuen Hülle gemacht und dazu, wie sich das neue Gebäude in das Umfeld einpassen könnte. Auf Foto 7 sehen Sie eines meiner Lieblingsgebäude in New York City. Die Idee dieses Gebäu-des setzt auf Qualitäten wie Großzügigkeit, richtige Propor-tionen, Tiefe, Schatten, Transparenz, Transluzenz. Wir ha-ben darüber nachgedacht, was wir daraus für unser Projekt in London lernen können.

Vorne, an der St John Street, konnten wir zahlreiche große, ausgewachsene Platanen erhalten. Es ist wunderbar bei ei-nem solchen Projekt, wenn es direkt am Gebäude so große Bäume gibt.

Wichtig war die Frage, wie wir mit Licht umgehen könnten. Sollte es widergespiegelt, sollte es gebrochen werden? Und natürlich war eine entscheidende Frage, wie wir einen neu-en Haupteingang gestalten könnten. Wie gesagt war der stadträumliche Eindruck vorher etwas wirr. Deshalb haben wir uns für einen neuen, starken Haupteingang entschie-den.

Nun zum großen Atrium, dem Kern des Gebäudes: Es ging darum, einen öffentlichen Raum zu schaffen, der benutzt werden kann und soll. Es sollte dort nicht ruhig sein wie in einer Kathedrale. Es gibt jetzt einen Bereich mit Kunstwer-ken, verschiedene Bereiche für Pausen, ein Café, es gibt Em-poren, auf denen man Meetings abhalten kann, einen Emp-

fangsbereich und eine Art Galerie, in der man Präsentatio-nen zeigen kann. Und wir wollten die Aufzüge nicht verste-cken. Sie sollten sichtbar sein, damit man die Höhe wahrnimmt und die Bewegungen der Leute nach oben und unten.

Durch verschiedene energetische Maßnahmen oder das Sammeln von Regenwasser haben wir eine gute Ökobilanz erreicht und erhielten unter anderem eine ausgezeichnete Bewertung durch das Gebäudezertifizierungslabel BREEAM.

Zum Schluss zeige ich Ihnen noch einige Bilder zu den Sui-ten im oberen Bereich und der Dachterrasse, wo die Leute, die dort arbeiten, zusammenkommen können. Vielen Dank.

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Dr. Jürgen Tietz, Moderation: Es gibt Beispiele für „Schla-fende Riesen“, die ein positives Image besitzen. Beim Angel Building war das anders. Wie hat sich das Image verändert und wie wirkt sich das auf die Umgebung aus?

Wade Scaramucci: Es hat eine spürbare Verbesserung im Umfeld gegeben. Wenn man mit alten Gebäuden arbeitet und sie neu erfindet und wenn man das richtig umsetzt, er-findet man auch das Umfeld neu. Dieses Gebäude war her-untergekommen, stand leer. Es ist ein großes Gebäude und deshalb hatte der Leerstand auch negative Auswirkungen, führte zum Beispiel auch zu Ladenleerständen im Umfeld. Jetzt ist es als Architekt und auch als Bürger schön zu se-hen, dass das Gebäude wieder voller Menschen und voller Leben ist.

Dr. Jürgen Tietz, Moderation: Hätten Sie sich dort auch eine Wohnnutzung vorstellen können oder war von Anfang an klar, dass es wieder ein Bürostandort würde?

Wade Scaramucci: Es gibt Gebäude, die so robust sind, so groß und so flexibel, dass man für viele verschiedene Nut-zungen eine Lösung findet. Natürlich hätte die große Tiefe des Gebäudes eine Herausforderung dargestellt, wenn man Wohnungen dort hätte realisieren wollen, aber wir beschäf-tigen uns viel mit schwierigen Gebäuden in London.

Dr. Jürgen Tietz, Moderation: Kannten Sie vor Beginn der Arbeiten schon den zukünftigen Mieter?

Wade Scaramucci: Nein, die Entwickler haben spekulativ ein Bürogebäude realisieren wollen. Aber das ist immer ein Teil der Aufgabe der Architekten, ein Gebäude so zu planen, dass es für unterschiedliche Nutzer attraktiv ist.

Dr. Jürgen Tietz, Moderation: Das Gebäude war ja nur 20, 25 Jahre alt, bevor es wieder komplett umgebaut werden musste. Müssen wir uns auf solch extrem kurze Nutzungs-zyklen einstellen oder können wir irgendwie vorbeugen, Herr Dreyer?

Gisbert Dreyer: Man muss zunächst dem deutschen Publi-kum sagen, dass in London natürlich andere Gesetzmäßig-keiten gelten als bei uns. Solche Bürotiefen, Gebäudetiefen würden schon an den deutschen Arbeitsrichtlinien schei-tern. Außerdem sind in London die Boden- und Mietpreise um ein Vielfaches so hoch wie in unseren Städten. Aber zur generellen Frage nach Lebenszyklen: Ja, bei Bürogebäuden sinken sie stetig, weil die Anforderungen stetig steigen oder sich verändern. Die Energiefrage beschleunigt diesen Pro-zess. Es bedarf eines riesigen Aufwands, die jeweils gültige

Energieeinsparverordnung zu erreichen. Ein solcher Umbau ließe sich in Deutschland bei Gebäuden aus den 1970ern oder 1980er-Jahren mit vertretbaren Mitteln im Grunde nicht machen.

Dr. Jürgen Tietz, Moderation: Das heißt, wir reden über Nachhaltigkeit, weil aber die Nutzungszyklen immer kürzer werden, steigt der Energieverbrauch zumindest im Bereich der grauen Energie permanent an?

Gisbert Dreyer: Das ist einfach ein normaler Prozess, dass bei den Ansprüchen, die man heute an Gebäude stellt, alte Bauten in der Regel nicht mithalten können und ausge-tauscht werden. Im Mittelalter sind die Städte alle 100 Jahre abgebrannt und dann neu aufgebaut worden. Heute ist die-ser Prozess der Erneuerung in Mitteleuropa immer noch etwas Negatives. Amerika tut sich damit leichter.

Redebeitrag Publikum: Mein Name ist Rosa Gilardi, ich kom-me aus Turin. Es ging bei den Beispielen in Frankfurt und London ja nicht um historische Gebäude oder Gebäude von hoher Qualität. Warum haben Sie diese denn nicht einfach abgerissen und neu gebaut?

Wade Scaramucci: Der Umbau war am Ende deutlich billiger, nicht zuletzt deshalb, weil er viel schneller ging als es bei Abriss und Neubau der Fall gewesen wäre. Wir haben drei Monate Zeit gespart. Ein Umbau muss nicht notwendiger-weise teurer sein. Und um auf die Frage der Budgets zurück-zukommen: Wir haben auch gute Ergebnisse in Projekten erzielt, in denen weniger hohe Mieten zu erzielen waren. Wenn man keine guten Ergebnisse erzielt, liegt es vielleicht eher am mangelnden Ehrgeiz des Entwicklers oder daran, dass der Architekt zu wenig Talent hat.

Gisbert Dreyer: Wie es Herr Scaramucci gesagt hat: Man spart Zeit. Der Planungs- und Bauprozess war bei uns ver-mutlich rund ein Jahr kürzer als er es bei Abriss und Neubau gewesen wäre. Und das spart Kosten. Denken Sie allein an die Zinsen der Kredite. Dennoch war ich kurz davor, das Ge-bäude abzureißen, weil natürlich einem umgebauten Ge-bäude immer auch das Image des alten Baus anhängt. Zu-dem muss man planerische Kompromisse machen, die man bei einem Neubau nicht eingehen muss. Und nach der ers-ten Euphorie, nach den ersten zwei, drei Jahren, haben Sie dann ein ältliches Gebäude mit Grundrissen, die einen mehr oder weniger guten Kompromiss darstellen. Und das ist nicht unbedingt nachhaltig.

Fotografen: Tim Soar, Rob Parrish

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Lingotto Fiatwerk, Turin

Dr. Paola Virano, Leiterin des Stadtplanungsamts, Stadt Turin

Guten Tag. Zuallererst möchte ich mich im Namen der Stadt Turin für Ihre Einladung bedanken. Wir freuen uns, dass wir heute hier sein können, um über unsere Erfahrungen im Zu-sammenhang mit dem Erwecken großer Riesen zu spre-chen.

Turin liegt in Norditalien, am Rand der Alpen, an der Schnitt-stelle wichtiger europäischer Bahnlinien. Die Stadt hat ca. 900.000 Einwohnerinnen und Einwohner. Insgesamt gibt es in Turin eine ganze Reihe brachgefallener Industriebereiche und sanierungsbedürftiger Gebiete.

Das Lingotto-Areal liegt mitten in der Stadt. Auf der West-seite gibt es Eisenbahngleise, die das Gelände vom Lingot-to-Bahnhof trennen. Im Osten fließt der Po und dazwischen liegen Wohnviertel des Lingotto-Distrikts. Das Fabrikgebäu-de von Fiat gilt als Symbol der Industriegeschichte des 20. Jahrhunderts. Das damals hochmoderne Automobilwerk wurde 1923 eröffnet. In den 1980er-Jahren kam es zur end-gültigen Schließung.

Das Hauptgebäude besteht aus zwei Längskörpern, jeweils fünfgeschossig, 570 Meter lang und 24 Meter tief, die durch Quergebäude miteinander verbunden sind. Auf dem Dach gibt es noch die historische Autoteststrecke, einen Kilome-ter lang, die zum Symbol für den Standort geworden ist.

In den 1980er Jahren wurde beschlossen, das Gebäude zu sanieren und zu revitalisieren. 1983 wurde ein internatio-naler Wettbewerb ausgeschrieben. Renzo Piano hat den Wettbewerb gewonnen. Er schlug vor, es umzunutzen in ein Multifunktionszentrum im Dienstleistungsbereich. Renzo Piano hat den Umbau geleitet, der im Jahr 2000 weitgehend abgeschlossen war. In dem Gebäudekomplex gibt es nun unter anderem ein großes Konferenzzentrum, eine Kunst-galerie im nördlichen Turm, einen großer Konzertsaal – be-

reits 1994 mit einem Konzert der Berliner Philharmoniker eingeweiht, ein Business-Hotel mit einem tropischen Gar-ten, ein Service Center, ein Shopping Center, Büros und ein Institut der Technischen Hochschule mit dem Schwerpunkt Kraftfahrzeugentwicklung. Auf dem Dach des Gebäudes, neben dem Heliport, gibt es die „Bubble“, einen Konferenz-saal, der 1990 gebaut wurde.

Die Revitalisierung des Fiat-Werks löste eine sehr positive Entwicklung in den benachbarten Bereichen aus. Neue Ge-werbe- und Industriebetriebe siedelten sich an, neue Büros und Verwaltungszentralen sowie Hotels wurden gebaut, die Wohngebiete bekamen neue Impulse.

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Ein besonders wichtiges Projekt war dann der Bau des Me-diendistrikts während der Olympischen Spiele Turin 2006. Eine Fußgängerbrücke mit dem Olympischen Bogen, einem der größten Symbole der Stadt, überwindet nun die Gleisan-lagen und verbindet die Stadtquartiere.

Die Revitalisierung des Fiat-Werks stieß auch Sanierungen anderer Industriegebäude an. Zum Beispiel gibt es in einem davon nun das Wine- & Food-Center „Italy“ mit Angeboten von höchster Qualität. Es geht um gutes Essen und gute Weine, man kann dort aber auch Workshops durchführen. Es gibt dort zudem ein Museum und die Möglichkeit, Konfe-renzen zu veranstalten.

Zusammenfassend war und ist die Entwicklung von Lingot-to ein wichtiges, positives Zeichen für Turin und Ausgangs-punkt für umfassende Modernisierungs- und Sanierungs-maßnahmen in der Stadt. Ein Erfolgsfaktor war: Hier wurden sehr hohe architektonische Standards gesetzt. Es war also wichtig, den Riesen zu erwecken, aber die Aufgabe endet damit noch nicht. Das Projekt ist als Beginn einer um-fassenden Stadterneuerung in diesem Stadtteil, aber auch in der gesamten Stadt zu sehen. Auch nach der Revitalisie-rung des Fiat-Werks war dieses neue Zentrum noch immer isoliert. Es war daher notwendig, eine Metrostation zu bau-en, um den Standort anzubinden. Zudem ist ein weiterer Bahnhof geplant, der eine Ost-West-Verbindung schafft und einen besseren Zugang ermöglicht. Auch soll eine wei-tere Brücke gebaut werden. Es wurde sehr viel getan, aber es müssen noch mehr Dinge getan werden, um alles zu ei-nem guten Abschluss zu bringen. Vielen Dank.

Dr. Jürgen Tietz, Moderation: Wie wurde dieser komplexe Prozess finanziert?

Dr. Paola Viano: Der Umbau des Werks ist natürlich privat-wirtschaftlich finanziert worden und das Werksgelände ist auch noch immer in privatem Besitz. Öffentliche Gelder sind vor allem in Stadterneuerungsmaßnahmen, in Infrastruktu-ren, öffentliche Räume, öffentliche Parks und so weiter ge-flossen.

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NDSM-Werft, Amsterdam

Eva de Klerk, Projekt- und Konzeptentwicklerin

Nach meinem Studium der Psychologie und der Kommuni-kationswissenschaften wusste ich zunächst nicht, was ich machen sollte. Ich habe mich dann mit Künstlern zusam-mengetan und wir sind Aktivisten geworden, die sich um „Schlafende Riesen“ in Amsterdam gekümmert haben. In Amsterdam gibt es viele davon. In meiner Präsentation wer-de ich über unser Hafengelände in Amsterdam sprechen und insbesondere über die Rolle der „Endnutzer“. Das sind die Menschen, die dort tatsächlich arbeiten und leben, die diese Gebäude unterhalten.

Viele der leer stehenden Gebäude im Hafengelände und in der Innenstadt, viele Schlafende Riesen, wurden zwischen 1980 und 1996 zunächst illegal besetzt. Meist kamen die Leute aus der Nachbarschaft. Sie haben die Gebäude be-kannt gemacht, verschönert, in Wert gesetzt. Das war gut für die Gegend. Wir haben schon 1997 ein Buch darüber und über die Rolle der Nutzerinnen und Nutzer geschrieben. Ir-gendwann haben wir einen Verein gegründet; seit 2002 bin ich Vorsitzende dieses Vereins. Ich habe also Erfahrungen mit der Sanierung und Revitalisierung von Industriegebäu-den, insbesondere von solchen, die unter Denkmalschutz stehen.

Ein frühes Projekt war der ehemalige Speicher Wilhelmina. Eine Gruppe von jungen Künstlern fragte die Regierung, ob sie das leer stehende Gebäude nutzen können. Es ist ein wunderbares, inspirierendes Beispiel dafür, wie eine große Zahl von Nutzerinnen und Nutzern zur Bank gegangen ist, einen Kredit, der auf der Miete basiert, den die Künstler für ihre Räume zahlen, aufgenommen und das Gebäude von 10.000 m² gekauft und selbst saniert hat. Dieses Vorhaben wurde vor allem von Carolien Feldbrugge gelenkt. Ein weite-res Beispiel ist „Kalenderpanden“, ebenfalls ein großes Ge-bäude, das zunächst besetzt wurde. Die Nutzerinnen und

Nutzer konnten sich allerdings nicht so gut organisieren, darum ist es dann anderweitig verkauft worden und wird jetzt zur Gentrifizierung des Gebiets beitragen.

Irgendwann wurde dieses Gelände für Projektentwickler und Banken interessant und wir wurden aus unseren Ge-bäuden herausgeworfen. Da habe ich mit der Mobilisierung begonnen. Wir haben uns zusammengetan und eine Gruppe gebildet, Skateboarder, arbeitslose Mütter, Künstlerinnen und Künstler, all diejenigen, die interessiert waren. Dann haben wir diese stillgelegte Werft, ganz im Norden der Stadt für uns entdeckt. Wir dachten, das ist toll, das sollten wir besetzen, mal sehen, was passiert. Wir wollten mit dieser Basisbewegung einen Beitrag zur Stadtentwicklung leisten, an Stadtentwicklung teilnehmen und eine alternative Pla-nungsstrategie entwickeln; wir wollten den großen Projekt-entwicklern etwas entgegensetzen.

Wir haben uns in einem Verein organisiert und 1996 das Manifest „de Stad als Casco“ verfasst. Casco ist die Hülle, der Rahmen eines Schiffes. Bisher war es so: Wenn Gebäude ihre gewerbliche Nutzung endgültig verloren haben, werden sie von Künstlern entdeckt, dann tauchen Galerien auf und schließlich kommen die Yuppies, für die dann schicke Woh-

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nungen gebaut werden. Die Botschaft unseres Manifestes ist, dass es einen anderen Weg gibt, wir beschreiben damit also eine alternative Strategie der Stadtplanung, eine „bot-tom-up“ Strategie. Diese alten Gebäude sind praktisch ab-geschrieben, sind meistens nichts mehr wert. Durch die feh-lende Instandhaltung haben sie sogar oft einen negativen Wert. Unsere Werft hatte einen Negativwert von acht Milli-onen Euro, da zum Beispiel kein Dach vorhanden war, die Böden verunreinigt waren und wir die Wände in einem schlechten Zustand vorfanden. Das Manifest sagt nun: Man könnte solche Gebäude als Gemeinschaft von Nutzenden dennoch für einen Euro kaufen und dann als Kollektiv über einen langen Zeitraum entwickeln, eine Atmosphäre dafür schaffen, dass die Leute Lust haben, selbst zu investieren und zu sanieren, ihr Geld dort hineinzustecken. Die Nutze-rinnen und Nutzer hätten dann eben auch einen Nutzen von der Wertsteigerung des Gebäudes. Denn der Wert des Ge-bäudes steigt ja über die Zeit und so ginge diese Wertsteige-rung wieder zurück in die Gemeinschaft und die Nachbar-schaft und nicht an die Developer, die das Geld nur einstecken. Die alten Gebäude haben in der Regel nachhal-tige, flexible Strukturen, die viele Nutzungen ermöglichen. Und es gibt in Amsterdam eine große Tradition im Hinblick auf Eigeninitiativen, Hausbesetzung, Menschen, die die Din-ge selbst in die Hand nehmen. Mit diesen Potenzialen muss man arbeiten! Wir haben gesagt: Das wäre der bessere Weg.

Trotz des großartigen Manifestes, das wir geschrieben ha-ben, und trotz der vielen großartigen Beispiele für erfolgrei-che Revitalisierungen von Schlafenden Riesen durch Nutze-rinnen und Nutzer wurden wir dennoch herausgeworfen. 1998 gab es viele Räumungen von besetzten Gebäuden, woraufhin es viele Proteste und Demonstrationen in der Stadt und auch internationale Kritik an der Politik Amster-dams gab. Die Künstler sind weggezogen, nach Berlin oder Rotterdam gegangen. Es wurde sehr teuer, in Amsterdam zu wohnen. Man konnte sich das gar nicht mehr leisten. Amsterdam ist eine sehr kompakte Stadt, in der es nicht vie-le Flächenpotenziale gibt.

Wir haben also protestiert und verschiedene Kampagnen durchgeführt, Plakate aufgehängt, uns an die Presse ge-wandt. „The Guild of Industrial Buildings along the river IJ“, eine Gesellschaft, die sich 1996 vor dem Hintergrund der Aufwertungspläne für die Ufergegend als Joint-Venture gründete, vergrößerte sich in diesem Zusammenhang von 12 auf 24 Mitglieder. Schließlich hat die Regierung einge-lenkt und einen Fond eingerichtet, um hier zu unterstützen. Es wurde beschlossen, einige Gebäude aus dem Markt zu nehmen und sie den Künstlern zu übergeben, damit diese sie entwickeln, selbst sanieren und nutzen können. Damit die junge kreative Klasse, die Subkultur im teuren Amster-dam bleibt, sollten Mieten gestützt werden. Ich weiß nicht, wie es in Berlin ist, aber in Amsterdam, in den Niederlanden gibt es sehr viele interessante Gebäude, die sich noch in staatlichem Besitz befinden. Das ist natürlich ein Vorteil für uns.

1999 hat die Kommune dann für die NDSM-Werft einen Wettbewerb ausgelobt. Gesucht wurden temporäre Mieter, Zwischennutzer, die diese Werft entwickeln wollten. Ich habe gedacht: Warum eigentlich nicht durch die Vordertür gehen, die Räume legal mieten, offensiv daran arbeiten, die Stadt attraktiv zu machen, auch für Touristen?

Wir hatten allerdings kein Geld. Ich habe damals für eine Theatergruppe gearbeitet, war teilweise arbeitslos. Wir mussten also eine Lösung finden, da der Eigentümer eigent-lich nicht an uns verkaufen wollte. Wie macht man dann also einen guten Plan für den Wettbewerb? Ich habe alle möglichen Leute, Freunde, Verwandte gefragt, ob sie Geld für ein tolles Vorhaben spenden wollen. Ich habe auch Ar-chitekten, Experten gebeten, uns ehrenamtlich zu helfen. Und wir haben den Wettbewerb tatsächlich gewonnen. Was haben wir gewonnen? Zunächst einmal eine Ruine, ein Rie-sengebäude von 20.000 Quadratmeter Fläche, mit Altlas-ten, ohne Sozialräume, ohne Toiletten, mit einem Negativ-wert von etwa acht Millionen Euro. Und wir hatten natürlich kein Geld. Eine Machbarkeitsstudie, die von dem Geld be-

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zahlt wurde, das wir von Freunden bekommen hatten, kam zum Schluss, dass es nicht machbar ist – zumindest nicht in einem Zeitraum von fünf Jahren. Schließlich haben wir ei-nen Vertrag aushandeln können, das Gebäude für 25 Jahre zu mieten. Leider waren unsere Verhandlungsversuche, das Gebäude zu kaufen nicht erfolgreich. Es ist in staatlichem Besitz geblieben, also nach wie vor nicht unser Gebäude. Die Kommune selbst wollte aber kein Geld investieren. Wir haben dann durch Lobby-Arbeit 10 Millionen Euro aus ver-schiedenen Subventionstöpfen eingeworben, um das Ge-bäude erst einmal grundzusanieren, die Altlasten zu entfer-nen, Dach, Wände und Infrastruktur in Ordnung zu bringen und so weiter. Wir fanden das spannend. Wir hatten diese große Nutzergruppe und der Ansatz, mit ihr einen Teil der Stadt zu sanieren, war sehr innovativ. Wir haben eine Art Preisgeld von der nationalen Regierung bekommen, letzt-lich weil wir etwas gemacht haben, das eigentlich gar nicht den Vorschriften und Gesetzen entsprach. Wir haben auch Geld bekommen, weil wir ein nachhaltiges Energiesystem installieren wollten. Wir wollten Brunnen einbauen, kleine Windmühlen für die Stromerzeugung und so weiter. Ent-

scheidend war, dass wir von Anfang an alles „von unten“ gemacht haben: das Konzept, die Machbarkeitsstudie, die Einwerbung der Gelder etc.

Wie haben wir dann angefangen? Wir haben erst einmal die wunderbaren Entwürfe und Pläne weggeworfen, denn man kann Projekte nur mit den Nutzerinnen und Nutzern entwi-ckeln. Wir haben gewartet, bis genug Leute mitmachen wollten. Dann haben wir zusammen in diesen 20.000 Quad-ratmetern Kreidelinien gezogen und sozusagen die Claims abgesteckt. Es wurden dann auf diesen Claims Busse ge-parkt, Material abgestellt etc. Anschließend haben wir die Planung gemacht. Wir haben einen Workshop durchgeführt. Wir baten einen Philosophen, einen Architekten, einen Stadtplaner, uns zu helfen. Wir haben die „Stadt“ dann selbst entworfen: Außenfenster, Eingang, Innenarchitektu-ren. Wir hatten dieses Bild einer Kathedrale. Wir hatten vie-le Inspirationen durch die Künstlerinnen und Künstler in der Gruppe. Und so haben wir dann unsere eigene Planung ge-macht. Und diese haben wir dann dem Architekten überge-ben, damit er dafür eine Baugenehmigung erwirkt. Der Ar-chitekt, der sehr angetan war von unseren Ideen, hat uns sehr geholfen und Hand in Hand mit uns gearbeitet.

Wir haben auch einen operativen Plan, eine Art Business-Plan mit drei Schwerpunktthemen gemacht: Das erste The-ma war die Projektentwicklung einschließlich Finanzierung, Organisation und so weiter. Ein zweiter Punkt betraf die Unterhaltung des Projekts in der Nutzungsphase, also die Instandhaltung, die technischen Dienste oder die Organisa-tion der Mietzahlungen. Schließlich gab es noch ein künst-lerisches Programm, weil es einfach sehr viele Künstlerin-nen und Künstler in der Gruppe gab. Es war sehr wichtig für

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uns, solch einen gemeinsamen „Business-Plan“ zu haben. Er ist sehr umfangreich und fast wie unsere Bibel. Er hilft uns, unsere Ziele auch langfristig im Blick zu behalten. Hier-in ist alles eingegangen, auch der Skatepark oder das Res-taurant, das arbeitslose Mütter aus wiederverwertbarem Material gebaut haben, auch die Kunststadt mit den unter-schiedlichen Studios oder das Theater. Es gibt unterschied-liche Zonen, die von den jeweiligen Untergruppen selbst organisiert werden. Innen haben wir dann eine Rahmen-konstruktion eingebaut. Das war sehr preiswert. Die einzel-nen Kunstschaffenden, Mieterinnen und Mieter haben ihre eigenen Studios gebaut, ihre eigenen Werkstätten. Wir ha-ben es zusammen geplant, entwickelt und finanziert.

Der Finanzplan. 30 Millionen Euro hat uns alles zusammen gekostet, dafür standen uns dann 28.000 m² Fläche zur Verfügung. Insgesamt konnten wir 10 Millionen Subventio-nen einwerben. Zwei Drittel wurden bzw. werden durch die Endnutzerinnen und -nutzer finanziert. Wir zahlen Miete, nur 33 Euro pro Quadratmeter im Jahr. Mit dieser Miete konnten wir über die Kommune einen Kredit von fünf Milli-onen von der Zentralregierung bekommen. Insgesamt 20 Millionen werden also von den Nutzerinnen und Nutzern über die Jahre selbst bezahlt und es sind wirklich keine rei-chen Menschen.

Miete/m² pro Jahr nach Bauprojekten- ± 20 €/m² pro Jahr für den Skaterpark (Bauprojekt 1 „Youth Cluster“, bisher nur teilweise entwickelt, 4.000 m² stehen noch aus)- ± 35 €/m² pro Jahr für eine eingeschossige Atelierfläche in neuem Stahlrahmen (Bauprojekt 2 „Kunststad“)- ± 45 €/m² pro Jahr für den Ostflügel, welcher 8 Meter hoch ist (Bauprojekt 3 „Oostvleugel“)- ± 60 /m² pro Jahr für eine zweigeschossige Fläche im Bau-projekt Projekt 4 „Vrije Kavel“

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Jetzt haben wir natürlich große Aufmerksamkeit für das Projekt. Früher wollte niemand hierhin, jetzt ist die Werft einer der berühmtesten Orte Amsterdams. Viele große Projektentwickler und Investoren haben alles um uns her-um aufgekauft. Allerdings passiert aufgrund der Krise im Augenblick wenig. Sie wollten auch unser Gebäude kaufen, aber wir wollen es behalten.

Wie organisieren wir uns? Wir sind eine große Nutzergrup-pe, 250 Leute. Wir könnten langfristig 500 werden. Wie organisiert man 500 Leute? Das ist ziemlich kompliziert. Meine Erfahrung mit diesen großen, alten Gebäuden ist, dass die kritische Masse bei 80 Mitgliedern liegt. Deshalb organisieren sich die unterschiedlichen Cluster, zum Bei-spiel die Jugendlichen, die Skater, oder die Künstler, also die unterschiedlichen Nutzergruppen, jeweils selbst. Der Verein Kinetisch Nord ist eine Art Dachorganisation.

Natürlich sind wir immer wieder in der Presse. Wir waren

zum Beispiel im „Spiegel“, im niederländischen Jahrbuch der Architektur, in der „Zeit“. Ganz offensichtlich gibt es ein großes Interesse an solchen Initiativen, an solchen selbstor-ganisierten Prozessen. Unterdessen haben wir bei uns eines der besten Restaurants in Amsterdam, in dem man immer reservieren muss, wenn man einen Platz haben will. Der Skatepark ist einer der berühmtesten in Europa. Und wir haben auch unser eigenes Energieunternehmen. Wir haben ein Geschäftsmodell für unsere eigene Energieversorgung entwickelt, die Genehmigung für eine Windmühle bekom-men, und nun verkaufen wir Anteile.

Es war schwierig, die Regierungsbehörden zu überzeugen, mit Leuten von der Straße, mit arbeitslosen Müttern zu ar-beiten. Aber wir sind der Meinung, dass man mit dem arbei-ten muss, was da ist. Wir haben gezeigt: Man kann ein Pro-jekt mit einem großen Entwickler machen oder eben doch mit 250 Endnutzern, Jugendlichen, Künstlern, Arbeitslosen. Ich sage: Es ist unmöglich, aber machbar! Vielen Dank.

weitere Informationen: www.evadeklerk.com

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Dr. Jürgen Tietz, Moderation: Wie viel Geduld braucht man, um ein solches Projekt, ein solches Nutzungskonzept zu entwickeln, von dem man am Anfang noch nicht weiß, in welche Richtung es sich entwickeln wird? Warum macht man das?

Eva de Klerk: Zunächst einmal hat das Projekt Spaß ge-macht. Wenn ich vorher gewusst hätte, wie viel Arbeit es ist, hätte ich es vielleicht nicht begonnen. Man weiß am Anfang einfach nicht, wie steil der Berg ist, man klettert einfach und klettert. Aber man fühlt sich großartig, wenn man den Gip-fel erreicht hat. Das Problem ist, dass man 50, 60 Stunden pro Woche daran arbeiten muss. Ich hatte einen Job beim Theater, aber das ging nicht gleichzeitig. Ich bin also zum Sozialamt gegangen. Heute würde ich das nicht noch ein-mal machen, weil ich einfach Geld verdienen muss und die Zeit nicht mehr hätte. Ich bin 12 Jahre älter als damals und ich habe Kinder. Aber ich glaube an die Kraft der armen, der einkommensschwachen Menschen. Wichtig ist, sich richtig zu organisieren. Wir brauchen in Amsterdam einfach Raum. In anderen Städten funktionieren solche Ansätze vielleicht weniger gut, weil es nicht immer genug Leute gibt, die aktiv werden. In Amsterdam gibt es diese Menschen. Letztlich geht es nicht um Geduld, sondern um Engagement.

Redebeitrag Publikum: Mein Name ist Jürgen Fissler, ich bin Architekt. Im deutschen Baurecht gibt es viele Auflagen, zum Beispiel im Hinblick auf die Energieeffizienz. Das kostet viel Geld. Ist das in Finnland oder in den Niederlanden kein Problem? Hatten Sie solche Auflagen nicht? Ging es nur um einen niedrigen Mietpreis für die Künstlerinnen und Künst-ler, die Nutzer dieser Gebäude?

Eva de Klerk: Ja, es gibt auch viele Regeln in Amsterdam und wir haben sie auch eingehalten. Das war für mich aufre-gend, denn ich kam aus der Hausbesetzer-Szene, wo man vieles macht, das nicht erlaubt ist. Es war eine große Her-ausforderung für uns, alles innerhalb der Regeln zu ma-chen. Vor allem aber hat es uns Spaß gemacht, etwas zu tun, wofür es zum Teil noch gar keine Regeln gab. Wie baut man eine Stadt in einem Industriegebäude? Wir haben drei Jahre gebraucht, um die Baugenehmigung zu bekommen, denn es gab keine vergleichbaren Bauprojekte in den Nie-derlanden oder sogar weltweit. Nach drei Jahren hatten wir die Baugenehmigung – ohne irgendwelche Änderungen. Wir haben also offenbar am Anfang gute Arbeit geleistet, als es darum ging, gute Berater zu finden. Wir haben Pionierarbeit geleistet für andere Hallen, die in den Niederlanden umge-baut werden sollen. Wir haben kluge, innovative Lösungen für den Feuerschutz entwickelt und einen Preis für unser Energiekonzept bekommen. Es dauert natürlich eine Weile,

aber alles ist zu schaffen innerhalb der Gesetze.

Pia Ilonen: Auch in Finnland müssen wir eine Vielzahl von Regeln einhalten, vor allem im Hinblick auf die Belüftung muss man strenge Regeln befolgen. Das war bei uns das größte Problem. Natürlich muss man aber auch die Vorga-ben bezüglich der Energieeffizient einhalten, wenn man Ge-bäude saniert.

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Stadtregal, Ulm

Volker Jescheck, Hauptabteilungsleiter Stadtplanung Umwelt Baurecht, Stadt Ulm

Nach dem Bottom-up-Ansatz von Eva de Klerk komme ich nun zum Stadtregal Ulm, eher ein Top-down-Ansatz. Ich freue mich, Ihnen das Projekt vorstellen zu können. Es geht um ein altes Industriegebäude aus den 1950er-Jahren. Die-ses Gebäude hat nun schon seine zweite Umnutzung erlebt, der Riese wurde also zum zweiten Mal wachgeküsst.

Ulm ist eine Stadt mit 120.000 Einwohnerinnen und Ein-wohnern; mit Neu-Ulm – schon in Bayern liegend – kommen wir ungefähr auf 170.000. Für Berliner Maßstäbe ist das sehr klein, aber es gibt keine größere Stadt um uns herum, so dass dieses Zentrum für die Region sehr wichtig ist. Wir haben eine exzellente Wirtschaft und eine sehr gute Univer-sität, eine gute Wissenschaftslandschaft. Dadurch kann Ulm Dinge stemmen, die in anderen Städten nicht möglich sind.

Der „Geist“ von Ulm bewegt sich irgendwo zwischen der Go-tik und Richard Meier. In den 1980er-Jahren hat man ge-merkt, dass man mit dem langweiligen Wiederaufbau der mageren Jahre keinen Staat machen kann und hat dann gesagt: Wenn wir ein Stadthaus bauen, und zwar direkt ne-ben dem Münster, dann kann der Architekt kein geringerer sein als Richard Meier.

Zurück zum Stadtregal. Es liegt inmitten einer ehemaligen Industriezone. In der guten Industriezeit wurden dort Moto-ren für LKWs gebaut. In den 1980er-Jahren fiel Ulm in eine ziemlich tiefe Krise und im Zuge dessen verlor das Gebäude seine Nutzung. Die erste Wiederbelebung geschah Mitte der 1990ger-Jahre durch die Firma Abt, ein traditionsreiches Unternehmen in Ulm mit einem Haushaltswarenladen am Münsterplatz. Es realisierte dort einen Großhandel, mit dem es eigentlich sein Geld verdiente. Es wurde viel Geld inves-tiert, zum Beispiel ein Anbau vorgenommen. Dieser Kasten

hat uns in der folgenden Umnutzungsphase vor große Pro-bleme gestellt.

2002 war die Firma pleite. Der Hauptgläubiger war die Spar-kasse Ulm, der Aufsichtsratsvorsitzende also der OB der Stadt. Die Sparkasse hat sehr schnell gemerkt, dass man das Gebäude nicht einfach abreißen kann. Was aber konnte man tun mit einem Gelände, auf dem es Altlasten gab, in dem die Kosten immer weiter aufliefen und dessen Umfeld ernsthafte Zweifel daran aufwarfen, ob dort je wieder In-vestments getätigt würden.

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In dieser Situation sprang – und das war sehr wichtig – die städtische Projektentwicklungsgesellschaft PEG ein. Sie hat im Grunde kein Kapital, aber sie bietet eben die 100-prozen-tige Sicherheit, dass sie ein Investment stemmt – auch dann, wenn vieles schiefgeht. Ein privater Bauträger wie Herr Dreyer hätte sich an das Projekt nicht wagen können, wahrscheinlich hätte er auch keinen Kredit von einer Bank bekommen. Die PEG war also ein wesentlicher Erfolgsfak-tor. Dazu kam, dass es mein Chef, der Baubürgermeister der Stadt, geschafft hat, dieses Projekt samt dem umgebenden Areal in die Städtebauförderung hineinzubringen. Über das Programm „Stadtumbau West“ haben wir in der Größen-ordnung von einer Million Euro Mittel bekommen, um Ab-brüche zu tätigen, Infrastrukturen zu verbessern und die Umgebung etwas aufzuwerten.

`60er – `80er Jahre Produktionsstätte zur Herstellung von LKW´sMitte `80er Jahre bis Anfang `90er Jahre Industriebrache Mitte `90er bis `02 Umnutzung zu Großhandel mit Lagernutzung und extensiver Flächennutzung`02 bis Herbst `06 IndustriebracheUm welche Größenordnung ging es? Das Gebäude hatte eine Bruttogeschossfläche von 40.000 Quadratmetern, ge-stapelt in mehreren Etagen. Teile davon hat man dann al-lerdings abgebrochen, weil die Belichtung einfach zu schlecht war oder man die Flächen aus anderen Gründen nicht recht nutzen konnte. Die Kernsubstanz dieses Gebäu-dekomplexes wurde aber erhalten.

Das Gebäude, aus dem das Stadtregal geworden ist, liegt ungefähr zwei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt; das ist für die Verhältnisse in Ulm relativ weit. Einen Straßen-bahnanschluss gab es nicht. Insofern war es wirklich sehr mutig, sich an das Projekt heranzuwagen. Im Umfeld gab es eine große Shopping Mall – 34.000 Quadratmeter Verkaufs-

fläche – und einen grauenvollen Marktkauf aus den 1960er-Jahren sowie verschiedene gewerbliche Nutzungen und Brachflächen.

Und nun gab es die Überlegung, in diesem Gebäude einen Nutzungs-Mix aus Gewerbe und Wohnen zu realisieren. Na-türlich hat man sich gefragt, wer bitte in Ulm in einer sol-chen Gegend wohnen will. Gibt es genügend „coole“ Leute in dieser Stadt, die es wagen, dort dickes, schwäbisches Geld zu investieren? Werden sie es nicht lieber in ein Einfa-milienhaus stecken oder in irgendein Investment, in Contai-ner-Schiffe oder sonst etwas? Aber das Wunder geschah.

Doch zunächst zum Plan: Das Stadtregal wurde nicht als Einzelmaßnahme entwickelt, sondern war ein Baustein in der Entwicklung des gesamten Gebietes. Zum Beispiel sollte das Flussufer aufgewertet werden – ich zeige Ihnen später, was aus den „Blauterrassen“ geworden ist. Es sollten zwei Appartementhäuser mit kleineren Wohnungen neu gebaut werden. Einige Gebäude wie der Marktkauf sollten städte-baulich besser integriert werden und so weiter.

Wie war der Weg zum Stadtregal? Zunächst einmal musste gesichert werden, dass das Gelände nicht einfach verscher-belt wird und dass man überhaupt Zugriff auf die Immobilie hatte. Die Stadtspitze fand das vernünftig und auch – als Hauptgläubiger – die Sparkasse Ulm. Es gab also von An-fang an eine gute Zusammenarbeit. Anschließend wurde – das hatte ich bereits angesprochen – eine städtische Gesell-schaft mit der Projektentwicklung beauftragt. Und dann wurden die Architekten mit der tiefergehenden Planung beauftragt. Einen Wettbewerb gab es nicht; es sollte be-wusst mit lokalen Leuten umgesetzt werden.

Das Gebäude ist sehr groß und hat eine ungeheure Trag-kraft. Deswegen entstand die Idee, einige Wohnungen mit einem Carlift zu versehen, so dass man auch im zweiten und dritten Stock mit dem Auto direkt vor die Wohnung fah-ren kann. Dadurch sollte etwas Ungewöhnliches, Interes-santes in das Projekt hineingebracht werden.

Quelle: Stadt Ulm, Abteilung Vermessung

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Der Grundgedanke für die Revitalisierung war das „Auf-schneiden“ des Riegels. Der Baukörper wurde viermal auf-geschnitten, so dass fünf Abschnitte entstanden. Die Idee war, dass man auf diese Weise die Erschließungszonen dort durchstrecken konnte. Der Eingang wurde auf die – norma-lerweise „schlechte“ – Nordseite verlegt, weil dort ein klei-ner Fluss, die Blau, fließt. Hier sollte langfristig die „Adres-se“ für das gesamte Gebiet gebildet werden. Das war die Kernidee.

Die Aufteilung in Bauabschnitte war auch deshalb wichtig, weil man nicht alle Flächen gleichzeitig auf den Markt brin-gen konnte. Das hätte diese kleine Stadt einfach überfor-dert. Die Einheiten werden nun häppchenweise angeboten: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Die Ersten, die kamen, haben sehr günstig gekauft; damals gab es noch regelrech-te „Kampfpreise“. Inzwischen ist es dort richtig teuer, schick geworden. Die Kulturbürgermeisterin hat dort eine Dach-wohnung gekauft, ein Kunstsammler aus dem Oberland ist eingezogen.

Ebenso wichtig für das Gelingen des Projektes war der Nut-zungsmix. Es wird in dem Gebäude gewohnt, es wird dort gearbeitet, man kann sich die Privatsammlung des Kunst-sammlers ansehen, Sport treiben. Der Mix hat sich im Übri-gen Bauabschnitt für Bauabschnitt in Richtung Wohnen verschoben. Am Anfang betrug der Wohnanteil nur 30%; es schien schwierig, Menschen zu finden, die dort wohnen wol-len. Im 5. BA sind es 60%. Heute muss sich der Chef der Projektentwicklungsgesellschaft nicht mehr groß anstren-gen mit der Vermarktung. Die Leute fragen schon, wann die nächsten Wohnungen auf den Markt kommen.

Im direkten Umfeld des Stadtregals entstanden weitere Ge-

bäude. Die PEG hat am Kopf des Stadtregals ein Bürogebäu-de für einen Fertighausvermarkter gebaut. Außerdem sind die beiden Punkthäuser mit den kleineren Wohnungen ge-baut worden, von denen ich anfangs gesprochen hatte. Sie wurden von einem Ulmer Bauträger realisiert und auch die-se Wohnungen gehen sehr gut weg. Es ist eigentlich fast unglaublich, dass in einer so kleinen, normalen Stadt wie Ulm ein solches Projekt funktioniert hat.

Alles in allem beträgt das Investment – wenn man den Neu-bau abzieht – ungefähr 60 Millionen Euro auf einer Fläche von 30.000 Quadratmetern. Zum Teil sind natürlich sehr edel ausgebaute Wohnungen entstanden und ein besonde-rer Clou dabei sind die sechs Meter Raumhöhe. Da kann man sich große Kunstwerke in die Wohnungen hängen!

Was waren die Erfolgsfaktoren? Der Standort war es bei die-sem Projekt nicht, er war eher suboptimal. Es war die Ein-zigartigkeit der Immobilie. Das Haus spricht für sich. Diese Qualitäten gibt es nicht oft, zumindest nicht für das Geld. Und heute gibt es die Adresse an der Nordseite, die „Blau-Terrassen“, von denen ich sprach. Der Fluss ist zugänglich gemacht worden. Es ist ein schöner, lebendiger Raum ent-standen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

Dr. Jürgen Tietz, Moderation: Wäre in Ulm auch ein Bottom-up-Ansatz möglich gewesen? Oder hat eben doch jeder Schlafende Riese spezifische Rahmenbedingungen, die un-terschiedliche Lösungen erfordern?

Volker Jescheck: Ja, dieser Riese wäre vermutlich für Frau de Klerk nicht interessant gewesen. Zudem gab Schulden und Altlasten. Es ist immer die Frage, ob man ein Dornröschen oder einen wilden Wolf wachküsst. Aber sicherlich gibt es in Ulm auch wenig Menschen, die an Bottom-up-Ansätzen in-teressiert sind. Fast alle haben Arbeit, gute Jobs. Und die Sparkasse hätte dabei vermutlich auch nicht mitgespielt und das Gebäude lieber für zwei Millionen Euro abgerissen. In diesem speziellen Fall war der Top-down-Ansatz der Kommune sicherlich der richtige, um das Gebäude zu ret-ten.

Dr. Jürgen Tietz, Moderation: Stehen in Ulm nun die Pro-jektentwickler Schlange, weil sie Ähnliches machen wollen?

Volker Jescheck: Die allermeisten Bauträger wollen am liebsten neu bauen. Herrn Dreyer hat das nachvollziehbar geschildert. Zudem prosperiert Ulm und deshalb steht dort nicht viel leer. Vielleicht werden in 20 Jahren die Einkaufs-zentren leer stehen.

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Ehemaliges Senf Laboratorium, Dijon

Fokke Moerel, MVRDV, Rotterdam

Der Vortrag von Eva de Klerk war so lebendig, war so posi-tiv, hat gezeigt, dass eigentlich alles möglich ist, wenn Men-schen sich zusammentun. Nun komme ich mir mit meinem Thema unheimlich langweilig vor, zumal ich ein Projekt vor-stelle, in dem es darum ging, mit sehr, sehr wenig Geld zu agieren und sehr nah an den Wünschen des Kunden zu blei-ben. Insofern hatten wir als Architektinnen und Architekten hier wenig Freiheiten.

Es geht um den Umbau eines Senflabors in Dijon, Frank-reich. Dijon ist eine wunderbare kleine Stadt. Alle kennen Dijon wegen des Senfs. Im Jahr 2004 hatte man sehr, sehr viel Geld investiert, um ein neues Labor für die Senffabrik zu bauen, nicht weit entfernt vom Stadtzentrum. Schon nach ein, zwei Jahren wurde es aber nicht mehr benutzt, weil sich das Unternehmen außerhalb der Stadt einen Standort ge-sucht hat. Wir sind gefragt worden, ob wir das Gebäude für einen Interessenten, der dort ein Callcenter betreiben woll-te, umbauen könnten. Das Unternehmen wollte selbst nicht in den Umbau des Gebäudes investieren, sondern nur die Miete bezahlen. Es ging um 600 zusätzliche Arbeitsplätze und das war für eine Stadt wie Dijon natürlich sehr attrak-tiv. Deshalb hat man diesem Interessenten sozusagen die Füße geküsst.

Der Standort des Gebäudes ist sehr schön, es liegt zwischen dem Kanal und einer Grünfläche mit einem Fluss, sehr nah am Stadtzentrum und am Bahnhof. In der Nähe steht die Senffabrik, die ebenfalls ihre Nutzung verloren hat. Ein tol-ler Standort. Aber das Gebäude selbst hatte überhaupt kei-ne Ausstrahlung. Den Eingang konnte man kaum sehen, Lastwagen und Autos standen davor, drumherum war viel Asphalt. Im Gebäude waren zwei Etagen für das Abstellen von Autos reserviert. Die Qualität des Gebäudes lag vor al-lem in den großen, leeren Räumen, von denen aus man eine sehr schöne Aussicht auf die grüne Fläche im Norden hatte.

In diesen Hallen waren früher die Labore untergebracht.

Wie haben wir eine Idee für den Umbau gefunden? Die Um-nutzung eines Senflabors in ein Callcenter – das war eine Herausforderung. Die Kernidee war, die Rückseite und die Vorderseite neu zu definieren. Die ehemalige Vorderseite sollte zur Rückseite werden und umgekehrt. Die Autos soll-ten von hinten kommen. Und für die Fußgänger sollte eine Verbindung zwischen den beiden Wasserwegen geschaffen werden. Durch den Park könnten die Mitarbeiter dann von der Bushaltestelle den neuen Eingang erreichen. Die As-phaltlandschaft sollte umgewandelt werden in einen Pick-

zentrale Lage in Dijon

Lage zwischen Wasser und Grünfläche

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nick-Bereich mit viel mehr Grünflächen. Wir mussten bei dem Projekt mit einem sehr geringen Budget arbeiten, mussten also alles reduzieren, minimieren.

Wir haben Granitstein benutzt und verschiedene Grünflä-chen angelegt mit Bäumen und Sträuchern, die sich mit den Jahreszeiten verwandeln, und wir haben besondere Be-leuchtungseffekte eingesetzt, damit sich die Menschen hier gerne aufhalten.

Nun zu den Fassaden. Der Kunde hatte anfänglich immer wieder betont, dass er QR-Codes benutzen wollte, um die Menschen in der Nachbarschaft informieren zu können. Ein Callcenter hat eigentlich keinen großen Charme, es ist rela-tiv langweilig. Aber der Kunde wollte eine Verbindung zur Öffentlichkeit herstellen, ein besseres Image schaffen. Das war sehr interessant. Also haben wir diesen Code benutzt in der Fassadengestaltung. Man kann den Code jederzeit än-dern, zum Beispiel jemandem zum Geburtstag gratulieren. Wir wollten das verwenden als eine Art Tapete, denn wir hatten, wie gesagt, wirklich nicht sehr viel Geld. Manche der Codes sind sehr groß. Man kann diese Botschaft tatsächlich sehen.

Baulich wollten wir an den bestehenden Fassaden gar nicht viel ändern. Wir haben zum Park hin in die – aufgrund der Bäume etwas angeschnittene – Fassade ein großes Fenster eingebaut, damit die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei

ehemaliges Senflaboratorium vor dem Umbau

Potenzial: große Räume

Konzept und Organisation

der Arbeit hinausschauen können. Und wir haben den Haupteingang verlegt auf die andere Seite des Gebäudes. Den alten Eingang haben wir etwas attraktiver gemacht. Sonst haben wir im Grunde genommen an den Fassaden nichts geändert.

Innen war das Gebäude schon aufgeteilt in verschiedene Bereiche. Manche waren sehr niedrig, zum Beispiel die Bü-ros, manche waren hoch, zum Beispiel die Labore. Wir woll-ten diese vorgegebenen räumlichen Einteilungen wieder nutzen. Wir haben eine Tribüne zum großen Fenster einge-baut, also mit Blick in Richtung Grün und Wasser. Im Kern ist die Lobby. Unser erster Vorschlag für den Lobbybereich sah vor, auch hier den QR-Code aufzugreifen und so eine Verbindung zu schaffen. Das hielt man allerdings für etwas zu verrückt. Wir haben dann eine ruhigere Lösung gefun-den. Wie gesagt, wir hatten sehr wenig Geld zur Verfügung. Dann gibt es die Pavillons, eine offene Fläche, in die wir ei-nige „Schachteln“ eingebaut haben, in denen man sitzen kann. Es gibt kaum Tageslicht, nur Licht von oben. Wir ha-ben auch den „Kokon“ in einen Bereich mit doppelter Raum-höhe eingebaut. Und es gibt nach wie vor relativ normale Büros; in diesem Bereich haben wir relativ wenig verändert. Es gibt also verschiedenen Typologien von Räumen, in de-

ehemaliges Senflaboratorium nach dem Umbau mit QR-Code-Fassade

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Copyright by MVRDVFotograf: Rob‘t Hart

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nen Arbeitsbereiche untergebracht werden können. Unten im Gebäude liegen noch immer Stellflächen für Autos.

Insgesamt hätten wir natürlich in diesem Projekt gern mehr Freiheiten und ein größeres Budget gehabt, um unsere Ide-en umzusetzen. Wichtig für Dijon ist, dass es nun 600 zu-sätzliche Arbeitsplätze gibt. Vielen Dank!

Pavillons

Tribüne

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Pia Ilonen, Architecture & Design Talli Ltd

Ich werde im Unterschied zu meinen Vorrednerinnen und Vorrednern einen romantisch angehauchten Vortrag hal-ten. Ich zeige Ihnen Bilder von der ehemaligen Nokia Kabel-fabrik und diese Bilder werden eine eigene Geschichte er-zählen, für sich selbst sprechen. Es ist an der Zeit, hier und heute über Atmosphäre zu reden, über Stimmung und Aus-strahlung, denn das sind die eigentlichen Qualitäten der Gebäude. Das ist in der Architekturdebatte bislang aus mei-ner Sicht zu wenig thematisiert, kaum analysiert worden. Architektinnen und Architekten denken eher an andere Qualitäten, an Form, Geometrie und so weiter.

Die Identität der Kabelfabrik verbindet zwei Aspekte: Einer-seits ist der Komplex, entstanden ab dem Jahr 1939, ein Zeugnis der lokalen Industriegeschichte. Andererseits be-zieht das Gebäude seine Identität aus der Geschichte des Umbaus und der Inszenierung durch neue Nutzer. Man spürt ganz deutlich den Kontrast und die Spannung zwi-schen der funktionellen Fabrik, der lebendigen Erinnerung an eine andere Zeit, und der gegenwärtigen Situation. Die-ser Kontrast ist umso größer, je größer die Fläche ist.

In diesem Fall hatten die Architekten weniger mit Gestal-tung zu tun, sie wollten vielmehr ein neues Gefühl für den Raum schaffen. Die Leere ist ein wichtiger Bestandteil des Raumes. Ein leerer Raum, bar jeglicher Funktion, ist ganz wichtig. Seit 20 Jahren ist dieser Raum leer. Das bedeutet natürlich nicht, dass dort nichts passiert.

Kaapelitehdas / Nokia Kabel Fabrik, Helsinki

Die Fabrik war früher mit 55.000 Quadratmetern Fläche die größte Finnlands. Das Areal befindet sich westlich des Stadtzentrums von Helsinki am Rande eines neuen Wohn-gebiets. Der Hafen wurde nach außen verlegt und hier ent-steht nun in den nächsten zehn Jahren ein sehr großes Wohngebiet, in unmittelbarer Nähe zum Stadtzentrum von Helsinki.

Vor rund 20 Jahren hat Nokia die Fabrik an die Stadt Helsin-ki verkauft. Die Planungen sahen vor, hier öffentliche Dienstleistungen für das zukünftige Wohnquartier unterzu-bringen. Die Verwaltung erarbeitete Detailpläne zur zu-künftigen Nutzung und teilte das Areal dabei in drei ge-

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trennte Einheiten ein.

Aber im Sommer des Jahres 1989, hat Nokia angefangen, die Flächen zu vermieten, die sie selbst nicht nutzen wollte – ein Jahr bevor die Stadt die Fabrik übernommen hat. In-nerhalb sehr kurzer Zeit, innerhalb von nur vier Monaten, eigneten es sich verschiedene Künstler, Sportvereine und so weiter an.

Ich war auch vor Ort mit meinem Architekturbüro. Es gab überhaupt keinen Plan. Jeder mietete einfach ein Stück, konnte dort machen, was er wollte, errichtete irgendwelche Wände, finanzierte das selbst. Es herrschten mehr oder minder die Regeln der Anarchie. So entwickelte sich die Fa-brik schrittweise, fast zufällig, zu einem Multifunktions-Kulturzentrum.

Als die Stadt dann das Gebäude abreißen wollte, haben sich die Künstler sehr schnell organisiert und die „Pro Kaapeli Bewegung“ gegründet. Zwei Jahre lang kämpfte man gegen die Pläne der Stadt, erarbeitete Alternativen, betrieb viel

Lobby-Arbeit. Es wurden viele Leute eingeladen in die Fab-rik, es wurde viel diskutiert. In diesen zwei Jahren haben wir es geschafft, dass die Stadt schließlich alle Planungen auf-hob.

Dann hat die Stadt entschieden, eine Immobiliengesell-schaft mit der Bewirtschaftung des Gebäudes zu beauftra-gen, und zwar als das, was es unterdessen geworden war, mit uns. Der Auftrag war schlicht und einfach, die Flächen

zu vermieten, dauerhaft oder temporär.

Die Fabrik ist also eine Art Kulturzentrum, aber es gibt keine bestimmte Vision zu Inhalten oder Entwicklungen. Die Flä-chen werden einfach vermietet. Es ist auch möglich, be-stimmte Dinge zu fördern, Mieten zu subventionieren und so weiter. So hat die Gesellschaft eine aktive Rolle im finni-schen Kulturleben übernommen.

Finanziell trägt sich das Zentrum selbst. Kosten, Investitio-nen und Einnahmen halten sich die Waage Die Stadt hat nichts investiert, gar nichts. Von größter Wichtigkeit ist die Vielfalt. Es gibt 100 Kunstschaffende, 150 Musikgruppen, Galerien, Sportclubs, Museen und vieles mehr. Wichtig ist, möglichst viele Mieterinnen und Mieter zu haben, um diese Vielfalt zu erreichen.

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Ein wichtiger Punkt ist für uns das Gleichgewicht zwischen nicht-öffentlichen Arbeitsflächen und öffentlichen Flächen. Wir haben ein Verhältnis von 50% zu 50%. Wenn zu viele Flächen an Museen und Galerien abgegeben werden, pas-siert das, was Eva de Klerk beschrieben hat, dass nämlich irgendwann die Reichen kommen und die Künstler vertrei-ben. Wir haben zwar einmal eine Krise durchlaufen, danach aber wieder unser Gleichgewicht gefunden. Man muss das

steuern und eine Art Zonierung vornehmen. Wichtig ist, dass Künstlerinnen und Künstler hier weiter arbeiten kön-nen. Etwa 60% der Flächen werden dauerhaft vermietet. 10% sind Darstellungsflächen, die temporär, meist tagewei-se vermietet werden. Wichtig sind einerseits berechenbare Mieteinnahmen, andererseits auch eine gewisse Fluktuati-on. Veranstaltungsmöglichkeiten gibt es vor allem in den Erdgeschossen und in der Kabelhalle und es gibt kleinere Räume für Ausstellungen oder Tanzevents.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass Renovierung und Nut-zung nicht voneinander getrennt werden. Normalerweise ziehen alle aus, es wird alles perfekt gestaltet, dann ziehen wieder Nutzer ein. Das wäre für diesen Ort das Ende gewe-sen, hätte die Atmosphäre getötet. Die Kabelfabrik ist in kleinen Schritten umgebaut und saniert worden. Man darf dabei die Gemeinschaft nicht stören. Es ist eine dauerhafte Geschichte, die sich Schritt für Schritt weiterentwickelt; es hat also nie eine große Eröffnungsfeier gegeben.

Dann gibt es noch die praktischen Dinge, auf die man ach-ten und in die man investieren muss: die Belüftung, den Feuerschutz und so weiter. Die Anforderungen sind in Finn-land sehr hoch. Bisher ist es gut gelungen, den Standard auf einem „normalen“ Niveau zu halten, aber wir müssen dar-auf achten, dass wir diese rauhe, ungehobelte Atmosphäre nicht verlieren. Das ist ein extrem prägender Faktor für die Identität des Gebäudes. Und das ist auch ihr wirtschaftli-ches Potenzial. Die Kabelfabrik ist anders als die bestehen-den Kultureinrichtungen. Sie spricht ein anderes Publikum an, lockt andere Mieter an, hat ein anderes Programm. Die

Erdgeschoss wird für Veranstaltungen vermietet

Kesselanlage

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finnische Architektur ist bekannt für ihre großen, weißen, glatten Strukturen. Die Kabelfabrik bietet dazu einen schö-nen Kontrast. Vielen Dank

Dr. Jürgen Tietz, Moderation: Die Kabelfabrik ist offenbar auf ein großes Interesse in der Bevölkerung gestoßen. War ein Erfolgsfaktor, dass die Liegenschaft in kommunaler Hand ist?

Pia Ilonen: Ja, das Kulturzentrum ist ein extrem beliebter und belebter Ort geworden. Es hat eben nicht die typische Entwicklung genommen wie in SoHo, dass also im Endeffekt die ursprünglichen Nutzer, die Künstlerinnen und Künstler wieder vertrieben wurden. Ein Grund ist sicher, dass die Stadt die Eigentümerin ist. Helsinki besitzt viele solcher Lie-genschaften. Natürlich ist es leichter mit der Stadt umzuge-hen als mit privaten Eigentümern.

Dr. Jürgen Tietz, Moderation: Frau Morel, auch bei Ihnen war die Stadt die entscheidende Akteurin. Das ist natürlich in Zeiten der Wirtschaftskrise mit Problemen behaftet. Wel-che Rolle hat das gespielt und welche Rolle hat der neue Nutzer gespielt, der aus dem Senflabor ein Callcenter ma-chen wollte? Welche Spielräume haben sich für ein gutes Design in diesem eher spröden Gebäude ergeben?

Fokke Morel: Ja, die Atmosphäre war sehr spröde, eigentlich hatte das Gebäude keine Atmosphäre. Ich stimme zu, dass es helfen kann, die Stadt als Auftraggeberin zu haben. Aber in unserem Projekt hat wirklich der Nutzer alles bestimmt – obwohl er die Investition nicht einmal bezahlt hat. Es ging nur darum, im Budget zu bleiben und den Wünschen des Nutzers zu entsprechen. Also, es ist wirklich gut, die Stadt als Kunden zu haben, aber die Stadt hat eben oft auch nicht so viele Ideen.

Redebeitrag Publikum: Für mich ist die Frage der künstleri-schen Gestaltung wichtig. Die Vorträge waren sehr inspirie-rend. Schaffen wir neue Kunstwerke aus den alten Riesen? Wie viel Intervention und Nicht-Intervention brauchen sie? Welche sozialen Aspekte können sie beinhalten? Vor allem die Frage der „Schönheit“ interessiert mich, auch wenn man darüber nicht gern spricht. Ich habe viel Schönheit in den Projektbeispielen gefunden. Bitte erzählen Sie mehr dazu.

Fokke Morel: Die Frage der Schönheit hängt sehr stark am Kunden. Beim Lloyd Hotel war der Auftraggeber gleichzeitig der Nutzer, er hat von Anfang an mit am Tisch gesessen und zum Teil verrücktere Ideen eingebracht als wir es selbst ge-tan haben. Dadurch ist wirklich etwas Neues entstanden. Man muss für jeden Raum, den man vorfindet, kluge Lösun-

gen finden. Dafür ist der Standort wichtig, der Auftraggeber und der Prozess der Konzeptentwicklung.

Eva de Klerk: Unser Schwerpunkt lag auf dem Prozess und nicht auf dem Endprodukt, auf der Schönheit des Produkts. Es ging um die grundsätzliche Frage, wie man solch einen Prozess organisiert. Es ging darum, Regeln aufzustellen, um diese 30.000 Quadratmeter Fläche zu entwickeln. Wie fi-nanzieren wir das? Wie kommen wir an 30 Millionen Euro? Wie können wir in diesem vorgegebenen Rahmen des Ge-bäudes unsere Stadt realisieren? Wie können wir dabei möglichst viel Kreativität zulassen? Das Schöne bei uns ist, dass wir in dieser Hülle des Gebäudes eine Art Stadt ge-schaffen haben, in der jede und jeder seine eigene Fläche gestalten kann. Alles ist sehr bunt, sehr spielerisch und un-orthodox. Innerhalb der Regeln, die man braucht, können die Leute selbst kreativ weden und ihre eigenen Bedürfnisse befriedigen. Wir wollten den Prozess professionell organi-sieren, gleichzeitig aber das Chaos und möglichst viele Frei-heiten für die Nutzerinnen und Nutzer zulassen. Der Pro-zess ist für mich viel interessanter als das Endprodukt.

Volker Jescheck: Bei uns musste im Grunde erst einmal eine neue Architektur, eine neue Schönheit erfunden werden. Man hat das Gebäude ausgebeint auf sein Tragwerk, hat Zutaten, die falsch waren, weggenommen und hat dann da-rauf wieder aufgebaut. Es ging hier sicher nicht um eine möglichst verrückte, coole Architektur. Es ging darum, die Stärke dieser Großform aufzunehmen und eine intelligente Lösung zu finden. Eine entscheidende Idee war, das Gebäu-de in Richtung des Flusses zu orientieren, die Potenziale des Ortes zu erkennen und zu nutzen. Ein anderer wichtiger An-satz war: slicing the giant – wie Fokke Morel es ausdrückte. Wir wollten die Architektur des Gebäudes nicht verleugnen, aber seine Rigorosität aufbrechen und Durchgänge schaf-fen.

Pia Ilonen: In Finnland sind viele dieser schönen Riesen ab-gerissen worden. Bei der Kabelfabrik waren wir der Mei-nung, dass es nicht abgerissen und es auch nicht zu Tode gestaltet werden sollte. Manchmal ist es gut, wenn Archi-tekten sich zurückhalten. Wir wollten herausposaunen, dass es einen anderen Weg gibt. Die Rezession Anfang der 1990er-Jahre hat uns damals geholfen.

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where the big things are // Bildersafari zu den schlafenden Riesen Berlins

Vanessa Miriam Carlow, COBE Dr. Sonja Beeck, Universität Kassel

Vanessa Miriam Carlow: Guten Abend. Wir möchten Ihnen zum Schluss gerne ein paar Gedanken aus Berliner Perspek-tive anbieten. Es ist zweifellos so, dass eine der größten un-genutzten Ressourcen unserer Stadt die vermutlich vielen Hunderttausend oder gar Millionen Quadratmeter leerste-hender Gebäudefläche sind.

Im Sommersemester 2011 habe ich zusammen mit rund 40 Studierenden der Technischen Universität Berlin begonnen, einen ersten Überblick über die Raumpotenziale dieser Stadt zu erarbeiten. Wir sind wir dabei vorgegangen? Etwa 50 Prozent der Fläche Berlins ist bebaut. Ein großer Teil die-ser Fläche ist sehr gut erschlossen durch ein engmaschiges System aus S- und U-Bahnlinien. Wenn man um jeden der 306 Bahnhöfe Berlins einen 10-Minuten-Radius zieht – 850 Meter sind ungefähr die Strecke, die man innerhalb von 10 Minuten zu Fuß zurücklegen kann – dann ergibt sich das hier gezeigte Bild des exzellent erschlossenen Stadtraums.

Gemeinsam sind wir 100 solcher 2,2 Quadratkilometer gro-ßen Areale abgelaufen, Straße für Straße, und haben somit ungefähr 40 Prozent der bebauten Fläche Berlins gesehen. Weil wir alle als Erstes rund um die eigene U- oder S-Bahn-station gelaufen sind, ergab sich ein Untersuchungsgebiet, das vor allem das Stadtzentrum abdeckt. Man sieht, wo Ar-chitekturstudierende heutzutage wohnen. Zunächst hatten wir Brachen, Baulücken und Restflächen in der Stadt ge-sucht. Irgendwann ist uns aufgefallen, dass es auch un-glaublich viele leere Bauten gibt, unkonventionelle und nor-male, kleine und große.

Gefunden haben wir in unserem Untersuchungsgebiet tat-sächlich mehr als 200 Gebäude oder Gebäudekomplexe, die größer als 1.000 Quadratmeter BGF und derzeit ungenutzt oder nur teilweise genutzt sind. 1000 Quadratmeter BGF –

das sind natürlich noch keine wirklich großen Bauten, aber viele der Gebäude, die wir gefunden haben, sind tatsächlich viel, viel größer. Wir haben auch Gebäude berücksichtigt, für die schon ein Antrag auf Abriss gestellt worden war und auch Gebäude, von denen wir aus der Tagespresse wussten, dass sie demnächst ihre Nutzung verlieren werden, zum Beispiel die Museen in Dahlem oder den Flughafen Tegel.

Im „Raumstadtmodell“ haben wir dann all die verschiede-nen Voids und leeren Bauten Berlins dargestellt. Das Modell

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ist übrigens noch bis Monatsende in der Württembergi-schen Straße zu sehen. Im Hintergrund werden ab jetzt eini-ge Bilder von Gebäuden gezeigt, die wir gefunden haben. Es ist alles dabei, von der Fabrik bis zur Kirche, vom Stadtbad bis zum Bürogebäude. Einige davon sind Denkmale.

Es wird niemanden verwundern: Je weiter man sich aus dem Stadtzentrum, aus den klassischen Gründerzeitquartieren herausbewegt, desto mehr dieser leeren XXL- Bauten findet man und desto größer werden sie. Es gibt ganze „Land-schaften“ dieser Leerstände in Berlin, zum Beispiel aufge-gebene Industrieareale – etwa in Oberschöneweide – oder Konglomerate aus unterschiedlichen DDR-Plattenbauarchi-tekturen, etwa in Lichtenberg. Im Stadtzentrum gibt es hin-gegen vorwiegend die aufgegebenen Verwaltungsbauten der 1960er- und 1970er-Jahre, durchsetzt mit nicht mehr genutzten öffentlichen Infrastrukturen, zum Beispiel Post-ämtern, Bahnhöfen, Stadtbädern, aber auch aufgegebenen Kinos. Und natürlich gibt es als ganz eigene Größenkatego-rie die beiden Flughäfen Tempelhof und Tegel.

Extrapolierte man unsere Funde auf die Gesamtstadt, so käme man sicher auf weit mehr als 500 große leere Bauten mit weit mehr als einer Million, ich denke eher zwei Millio-nen Quadratmetern ungenutzter Bruttogeschossfläche, da-runter auch viele Immobilien des Bundes, des Landes und der Bezirke.

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Um diese wirklich unglaubliche Berliner Ressource, dieses „Stadtkapital“ produktiv zu machen – und das sollte unser Ziel sein – bedarf es unserer Meinung nach wirklich eines ganz eigenen Berliner Modells des Managements und des Umgangs mit diesem Massenphänomen. Denkbar ist zum Beispiel ein Kataster der derzeit nicht genutzten Bauten als Qualifizierung des schon bestehenden Baulückenmanage-ments. Wir brauchen auch vernünftige Indikatoren zur Be-wertung dieser Substanz. Vor allen Dingen brauchen wir eine ganz neue Haltung. Es ist zum Beispiel im Grunde nicht akzeptabel, dass Bauten, die im öffentlichen Besitz sind, nicht genutzt werden, obwohl sie eigentlich nutzbar wären. Vor allem ist ein qualifizierter Dialog mit den verschiedenen Parteien notwendig, die an einem solchen Prozess der Revi-talisierung der Bauten beteiligt sein müssen – von Finanz-dienstleistern bis hin zu zukünftigen Nutzerinnen und Nut-zern. Offensichtlich gibt es hier Defizite.

Dr. Sonja Beeck: Neben der quantitativen Erfassung all die-ser Schätze haben wir auch ein paar weitergehende Überle-gungen dazu angestellt, warum man diese Riesen anfassen sollte. Es geht nicht nur um Quantität – eine Million Quad-ratmeter sind natürlich eine riesige Ressource –, sondern natürlich auch um Qualität.

Nicht zuletzt sind diese Giganten ganz wichtige, eingeführ-te Adressen in Berlin. Hier hat sich Geschichte abgespielt, haben sich Geschichten abgespielt. Wenn man allein an die beiden Flughäfen denkt: Wie oft hat man dort jemanden verabschiedet, einen Abschiedskuss gegeben oder bekom-men? Denken Sie an all die Skandalgeschichten, die sich um solche Gebäude gerankt haben. Zum Steglitzer Kreisel kann ein ganzer Wirtschaftskrimi geschrieben werden. So hat je-des einzelne Gebäude seine Story und wahrscheinlich wird es viel Geschick erfordern, diese Storys umzukodieren. Nicht einfach wird dies insbesondere bei den stigmatisierten Ge-bäuden sein, etwa der großen Stasi-Zentrale. Es wird schwierig werden, hier einen neuen Code zu finden, der die-ses Gebäude positiv bewertet. Weiterhin sind die Bauten natürlich sichtbar im Stadtraum. Sie sind Orientierungs-punkte, Landmarken. Sie haben sich in unsere „mental map“ der Stadt eingeschrieben. Aus diesen Orientierungs-punkten müssen wieder Bezugspunkte werden.

Eine sehr wichtige Aufgabe ist es also, am baulichen Design und an der Nutzung zu arbeiten, an der Reprogrammie-rung, an der Reintegration der Riesen. Vielleicht braucht diese Aufgabe neue Fertigkeiten. Wir sind der Meinung, dass es sich lohnt, die Riesen zu reintegrieren. Sie hatten bereits einmal ein Leben und vielleicht können sie wieder ein neues bekommen.

Vanessa Miriam Carlow: Ich will kurz aufnehmen, was Herr Venus gesagt hat: Natürlich ist es auch mit Blick auf die Life-Cycle-Bilanz absolut unvernünftig, große leere Bauten nicht zu nutzen oder sie gar abzureißen. Wir wissen, dass die Energiewende eigentlich nur im Zusammenhang mit enormen Energieeinsparmaßnahmen gelingen kann. Die in den Gebäuden bereits gebundenen Energien und Stoffkos-ten werden bei einer konventionellen Bewertung der Bau-substanz in der Regel gar nicht abgebildet – und auch nicht die volkswirtschaftlichen Kosten und Chancen. Dies aber müssen wir lernen: Vollständige Kostenrechnungen bein-halten eben auch die Kosten von damals. Die eine Aufgabe ist es, heute recyclebare Bauten für morgen zu errichten. Die viel größere Herausforderung ist jedoch, Ideen für die nicht genutzten Gebäude von gestern zu entwickeln.

Darüber hinaus ist natürlich auch klar, dass – mit Blick auf die Energiewende, aber auch mit Blick auf die Vision von lebenswerteren, gerechteren, schöneren, besseren Städten – die Innenentwicklung und vor allem die Revitalisierung der lokalen Konversionsflächen der richtige Weg ist. Wir denken, dass die großen leeren Bauten in Berlin das Poten-zial für eine nachhaltige Nachverdichtung sind.

Dr. Sonja Beeck: Wir haben natürlich großes Verständnis für Rechnungen, wie sie Herr Dreyer aufgezeigt hat. Es ist nicht einfach für einen Immobilienentwickler oder für einen Bau-herren, die Umnutzung eines solch großen Gebäudes zu stemmen. Wahrscheinlich sind hier aber wirklich andere Re-chenmodelle und möglicherweise auch andere Finanzie-rungsmodelle notwendig. Wir brauchen prozessuale Ent-wicklungsmodelle, die das Risiko splitten. Es ist nicht einfach, das auf viele Schultern zu verteilen. Die Bottom-up-Lösung von Frau de Klerk war ein Modell dafür.

Wir haben allerdings auch in Deutschland in der Historie ganz interessante Finanzmodelle entwickelt. Denken Sie an den § 7e des Einkommensteuergesetzes: Dieses Gesetz, das damals die Abschreibung bei innerstädtischen Immobilien ermöglicht hat, war eines der Finanzinstrumente, die die IBA ´87 sehr weit nach vorne gebracht hat. Vielleicht könn-te es ähnliche Modelle auch für die großen Riesen geben. Weiterhin lohnt es sich, auch in Städte wie Amsterdam oder Kopenhagen zu gucken, auf das „Kraken“ oder die „Bree-ding Agencies“, also auf den Umgang mit Zwischennutzun-gen, auf das Management von anderen oder niedrigschwel-ligeren Zugängen. Dies kann ebenfalls ein wichtiges Instrumentarium im Zusammenhang mit der Revitalisie-rung von schlafenden Riesen sein.

Vanessa Miriam Carlow: Gerade in Berlin gibt es im Augen-

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blick Diskussionen darüber, dass es auf der einen Seite zu einer deutlich wahrnehmbaren Verknappung von Wohn-raum gekommen ist und es auf der anderen Seite diese un-genutzten Megaflächen gibt. Wer sagt eigentlich, dass diese leeren Bauten in Zeiten von Ressourcenknappheit nicht eine wirklich gute Ergänzung des städtischen Immobilienbestan-des wären? Wir haben in Berlin die coolen Leute, haben wirklich eine großartige, produktive Gelassenheit darin ent-wickelt, mit Temporärem und Überraschendem umzuge-hen. Das ist ein besonderes Markenzeichen unserer Stadt. Warum sollten wir das nicht zu einem Ansatz für das syste-matische „Warmspielen“ von Adressen machen? Und dabei sollten wir auch einen Blick auf die zum Teil stigmatisierten Nachbarschaften jenseits des S-Bahnrings werfen. Wir müs-sen natürlich auch über Standards reden. Ist es nicht ver-nünftiger, ein Gebäude zu erhalten, indem man es nutzt, als abzuwarten, bis es nicht mehr genutzt werden kann, weil es bestimmte Standards nicht erfüllt? Wir denken, dass auf-grund der besonderen Umstände in Berlin, aufgrund der Fülle dieser Bauten vielleicht andere Gesetzmäßigkeiten gelten könnten, Ausnahmezustände erlaubt sein sollten. Denn klar ist, dass auf dem „zweiten Arbeitsmarkt“ für Im-mobilien einige dieser Bauten doch sicher noch einmal bril-lieren könnten.

Dr. Sonja Beeck: Eine letzte Anmerkung möchte ich in mei-ner Rolle als Hochschullehrerin noch gerne anbringen. Wir brauchen für diese Zukunftsaufgabe sehr viel Know-how und vielleicht auch in der Ausbildung andere Schwerpunkte, die Schulung anderer Fertigkeiten. Vieles wird an den Hoch-schulen noch nicht gelehrt. Das kann man nur anhand rea-ler Projekte lernen. Man muss die Studierenden auf all die Überraschungen, Unwägbarkeiten, Unbekannten in solchen Prozessen vorbereiten und ihnen natürlich auch Themen wie Finanzmanagement oder Denkmalpflege nahebringen, die bei der Entwicklung der schlafenden Riesen wichtig sind.

Wir glauben, dass es in Berlin viel zu tun gibt in diesem Feld. Wir würden gerne viele ermutigen, sich der Aufgabe zu stel-len, dieses Stadtkapital zu heben, mit dem gebotenen En-thusiasmus und vielleicht manchmal mit einer gewissen Unvernünftigkeit. Danke schön.

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Schlusswort

Regula Lüscher, Senatsbaudirektorin

Herzlichen Dank für die wunderbaren Vorträge. Herzlichen Dank an Carsten Venus, der gezeigt hat, dass Redevelop-ment gute Tools braucht und dass wir mit einem Cradle-to-Cradle-Denken auf dem richtigen Weg sind.

Herzlichen Dank an Fokke Morel, die uns vor Augen geführt hat, dass der „Widerstand“ von Bestandsbauten schluss-endlich unglaublich neue und schöne architektonische Kon-zepte hervorbringen kann. Ohne diesen Widerstand macht eigentlich Entwerfen keinen Spaß. Gerade das Spezifische vor Ort regt die Phantasie und Kreativität an, lässt uns wie-der etwas Besonderes für genau diesen Ort entwickeln.

Ich danke Gisbert Dreyer, der uns darauf aufmerksam ge-macht hat, dass man die Träume, die man hat, ganz genau anschauen muss, dass sich eben nicht jedes Gebäude für jede Nutzung eignet und dass es tatsächlich neben den schönen Beispielen einfach auch Baustrukturen gibt, insbe-sondere aus den 1960er- und 1970er-Jahren, die in ihrer Grundsubstanz wenig geeignet sind für eine Umnutzung und Revitalisierung, nicht zuletzt auch in ökonomischer Hinsicht.

Ich danke Wade Scaramucci dafür, dass er uns ein Beispiel gezeigt hat, in dem aus einem fast hoffnungslosen Fall ein wunderbares Gebäude entstanden ist. Vielleicht ist ein Grund für den Erfolg, dass aus einem Bürohaus wieder ein Bürohaus geworden ist. Ganz sicher ist dabei aber eine völ-lig neue Arbeitswelt produziert worden und das Gebäude in diesem Sinne auch wirklich neu erfunden worden. Es wurde gezeigt, dass es manchmal notwendig ist, den Zeitgeist aus einem Gebäude auszutreiben – was mir manchmal wehtut. Aber hier ist ein neuer Zeitgeist hineingekommen und dies hängt nicht nur mit der neuen Art des Arbeitens und der Gestaltung zusammen, sondern auch sehr stark mit der

Auseinandersetzung mit Fragen des schonenden Umgangs mit Ressourcen im Betrieb eines solchen Gebäudes.

An vielen Beispielen, die heute vorgestellt worden sind, hat sich bestätigt, dass die Entwicklung und die Neuinszenie-rung solcher Riesen einen großen Einfluss auf das Umfeld haben können. Besonders deutlich wurde dies im Beitrag von Paola Virano. Die Neuerfindung, die Neuinterpretation des Lingotto-Gebäudes hat einen riesigen Impuls für das Stadtquartier und die gesamte Stadt gesetzt.

Eva de Klerk, auch Ihnen danke ich für Ihren Beitrag, der uns daran erinnert hat, dass manchmal Politik einfach nur zu-lassen, ermöglichen muss, weil dann nämlich die Energien, die in den Individuen, in den Initiativen der Stadtgesell-schaft stecken, zum Vorschein kommen und unglaublich überzeugende, innovative Lösungen hervorbringen können.

Volker Jescheck, Sie hingegen haben gezeigt, dass Politik manchmal auch wollen muss, um ein Projekt erfolgreich zu entwickeln. Danke dafür. Interessant war zu sehen, dass diese unterschiedlichen Strategien, nämlich des Zulassens und des Wollens, ganz unterschiedliche Produkte und Archi-tekturen produzieren. Auch das ist eine wichtige Erkennt-nis.

Am Beispiel des Senflabors in Dijon haben wir dann gese-hen, was kluge Architektur aus einem hässlichen Entlein machen kann, auch mit wenig Mitteln. Vielen Dank Fokke Morel, denn das gibt uns Hoffnung. Sie alle wissen, dass wir in Berlin nicht mit viel Geld gesegnet sind.

Am Schluss hat Pia Ilonen am Beispiel der Kabelfabrik ge-zeigt, dass wir manchmal Architekten brauchen, die sagen, dass wir keine Architekten brauchen. Auch hier war noch-

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mal sehr deutlich zu sehen, dass die unterschiedlichen Pro-zesse wirklich auch unterschiedliche Architekturen und Ar-chitektursprachen, unterschiedliche Nutzungskonzepte produzieren. Das hat einmal mehr meine These bestätigt, dass der Prozess schlussendlich immer das Produkt be-stimmt, man sich den Prozess also ganz genau überlegen muss, um dann das richtige Produkt zu bekommen. Dafür danke ich ganz herzlich.

Ausgangspunkt der Vorträge war eigentlich immer die Fra-ge: Wie gelingt es eigentlich, das Unmögliche möglich zu machen? Es ging dann um Standorte, um Atmosphäre, um Finanzierungsfragen, aber auch um die Frage, wie man Menschen aktiviert. Jedes Beispiel war anders, hat andere Lösungen gefunden, andere Ergebnisse hervorgebracht. Die Aufgaben waren unterschiedlich und mit ihnen auch die Prozesse, die zum Produkt geführt haben. Ich glaube, dass eine Internationale Bauausstellung ein gutes Instrument sein kann, Schlafende Riesen neu in Wert zu setzen, denn es geht bei all diesen Vorhaben schlussendlich um einzelne Ex-perimente. Eine IBA ermöglicht es, dass wir Dinge auspro-bieren, dass wir Neues wagen, dass wir anders denken und auch anders handeln, dass wir in diesem Ausnahmezustand auch Vorschriften, tägliche Praxisgewohnheiten hinterfra-

gen und verändern, vielleicht auch über die IBA hinaus lang-fristig verändern. Wenn das gelingt, dann werden nicht nur gute Projekte entstehen, sondern auch etwas Nachhaltiges für die Zukunft. Das wünsche ich mir. Und Sonja Beeck und Vanessa Carlow haben gezeigt, welchen unglaublichen Reichtum Berlin an Raum und insbesondere auch an Schla-fenden Riesen hat. An spannenden Aufgaben mangelt es uns also nicht.

Es bleibt, Sie ganz herzlich einzuladen zu unseren nächsten zwei Veranstaltungen im Februar und April. Bevor ich Sie entlasse, bedanke ich mich nochmals ganz herzlich bei allen Gästen und ganz besonders auch bei unserem Moderator Jürgen Tietz, der diese Diskussion sehr zielführend geleitet hat. Nicht zuletzt möchte ich mich für die Vorbereitung und Organisation der Veranstaltung bei adrian-prozessnaviga-tion, Frau Adrian, Frau Zahn und Frau Pätzold, bedanken. Herzlichen Dank auch an alle anderen, die wichtige Inputs dafür gegeben haben, zum Beispiel an die Mitglieder des ehemaligen Prae-IBA-Teams. Ich glaube, es war ein sehr in-haltsreicher Nachmittag. Nach den letzten Wochen, in de-nen wir viel verhandelt haben, freue ich mich darauf, vor-wärts zu schauen und Dinge zu bewegen. Einen schönen Abend, herzlichen Dank!