Ich fliege nach Singapur, Gruß Jennifer

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Urlaubsroman von Gisela Böhne - Leseprobe

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Ich fliege nach Singapur,

Gruß Jennifer

Gisela Böhne

edition oberkassel 2016

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Alle Rechte vorbehalten. Verlag: edition oberkassel Verlag Detlef Knut, Lütticher Str. 15, 40547 DüsseldorfHerstellung: MCP, MarkiUmschlaggestaltung: im Verlag unter Verwendung eines Fotos von © Richard Goldberg | Dreamstime.comLektorat: Dr. Mechthilde Vahsen

© Gisela Böhne© edition oberkassel, 2016

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Das Werk inklusive aller Abbildungen ist urheberrechtlich ge-schützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheber-rechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages und der Auto-ren unzulässig und strafbar.

1. Auflage 2016Printed in Europe

ISBN(Print): 978-3-95813-0562ISBN(Ebook): 978-3-95813-0579

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Da-ten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

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Jennys Entschluss

Jenny stand am Küchenfenster in ihrer Zweizimmerwoh-nung und sah hinaus in den Schneeregen. War ihr dreißigs-ter Geburtstag wirklich schon fünf Jahre her? Damals hatte Alexander sie zum ersten Mal in seinem Wohnmobil mitge-nommen, im Winter an die Nordsee auf den Campingplatz in Greetsiel. Hein in der Bar hatte Akkordeon gespielt und gesungen: »My Bonnie is over the ocean, my Bonnie is over the sea …«, und Alexander hatte auf dem Nachhauseweg mit verführerischer Stimme gesagt: »Oh bring back my Bonnie to me.« Er hatte sie geküsst und »my Bonnie« genannt. Das hatte gut geklungen.

Seitdem waren sie ein Paar, ein modernes Paar, wie Alexan-der betonte, mit zwei getrennten Wohnungen. Er lobte gerne ihre Selbstständigkeit. Ja, es stimmte, sie waren von morgens bis abends in der Boutique zusammen. Trotzdem, sie hätten mehr voneinander, wenn sie zusammen wohnen würden. Wenn sie das sagte, wies er auf die schönen gemeinsamen Ur-laube hin. Als wenn das dasselbe wäre.

Wie viele Tage hatten sie seitdem im Wohnmobil in Greet-siel verbracht? Jeden Urlaub und jedes verlängerte Wochen-ende, und immer mit der Clique! Wie oft hatte sie ihm in den letzten Jahren vorgeschlagen, mal mit ihr allein in den Urlaub zu fahren, am liebsten in den Süden, wo es warm war und die Sonne schien? Tausendmal!

Als sie ihm die Prospekte mit den Last-minute-Angeboten von der Türkei, Kreta, Tunesien und von den Kanarischen Inseln gezeigt hatte und dabei darauf hinwies, dass sie bald Geburtstag hätte, hatte er gesagt: »Lass dich überraschen.« Er hatte sie mit seinem verführerischen Lachen angesehen, ihr mit beiden Händen ihre widerspenstigen Locken zer-zaust und hinzugefügt: »Du wolltest doch ein ganz besonde-res Abenteuer, meine Löwin.« Vor ein paar Tagen, als sie den Schal mit dem Tigermuster umgelegt hatte, hatte er sie damit

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aufgezogen, dass sie nun fünfunddreißig würde und deshalb was tun müsse, um sich von seinen jüngeren Verkäuferinnen abzusetzen. Dabei hatte er sie Tigerin genannt.

Jenny nahm ihre Lieblingstasse mit der Aufschrift »Geiler Tag heute« vom Regal, goss sich Kaffee ein und strich Quark und Erdbeermarmelade auf den Toast. Sie trank einen Schluck Kaffee und biss in ihren Toast. Da sah sie den Briefträger über die Straße kommen. Er winkte ihr zu. Also hatte er Post für sie. Kauend lief sie die Treppe hinunter und nahm ihre Post ent-gegen. Es war eine Ansichtskarte von Melanie aus Rom. Jenny setzte sich und las die Urlaubsgrüße ihrer Freundin. Melanie schickte die interessantesten Karten, aber demnächst würde auch sie, Jenny, ihr eine Karte schicken und von einer außer-gewöhnlichen Reise berichten können!

Noch nie hatte Alexander sie Löwin oder Tigerin genannt. Da wusste sie, dass er heute, an ihrem Geburtstag, das phä-nomenalste Geschenk aller Zeiten für sie haben würde: eine Safari in Afrika! Jenny umfasste ihre Tasse, als wollte sie diese Superidee mit beiden Händen festhalten.

Jetzt müsste sie eigentlich ihren Koffer weiter packen. An-geblich fuhren sie heute wieder nach Greetsiel. Alexander hatte gestern schon das Wohnmobil vorbereitet. Aber das war ein Ablenkungsmanöver, damit die Überraschung umso grö-ßer sein würde. Jenny hatte keine Lust, dicke Sachen einzupa-cken, denn wenn Alexander gleich käme, musste sie sowieso die warmen Pullover wieder aus dem Koffer nehmen.

In diesem Moment tauchte sein Wohnmobil auf. Alexander stieg aus. Kein Päckchen in der Hand, ein sicheres Zeichen, dass sie einen Briefumschlag bekommen würde. Jenny lief zur Tür und öffnete. Alexander umarmte sie, gab ihr einen Kuss und sagte: »Es riecht gut bei dir, nach frischem Kaffee.« Jenny stellte eine Tasse mit der Aufschrift »Schön, dass du da bist« vor ihn auf den Küchentisch und vergaß vor lauter Aufregung, Kaffee einzugießen.

Alexander holte einen länglichen, etwas dickeren Briefum-schlag aus der Tasche. Die Reiseunterlagen für Afrika! Lang-sam schob er den Umschlag über den Tisch und sagte: »Herz-lichen Glückwunsch zum Geburtstag, meine Löwin.«

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Aufgeregt griff Jenny danach und zog eine Karte und einen Prospekt heraus.

Disneys »Der König der Löwen« im Stage Theater im Hafen Hamburg.

Sie starrte darauf, konnte nicht weiterlesen, nicht denken, sich nicht bewegen. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Wie durch einen Nebel hörte sie Alexanders Stimme.

»Na? Toll, oder? Und wir haben acht Tickets! Es kommen alle mit! Das wird ein prima Tag in Hamburg. Wir haben einen Kleinbus gemietet, nur für uns. Saskia wird ihn fahren. Die trinkt sowieso keinen Alkohol wegen der Schwangerschaft. Du sagst ja gar nichts?«

Jenny drehte die Eintrittskarte für das Musical wie einen Fremdkörper hin und her. Mit einer kratzigen Stimme, die ihr selbst fremd vorkam, sagte sie: »18. Januar. Das ist schon nächste Woche - in unserem Urlaub.«

»Von Emden bis Hamburg haben wir Autobahn, und es soll kein Glatteis geben.«

»Dann, dann fahren wir wirklich wieder nach Greetsiel? Oh, neee!« Jenny haute so heftig mit der flachen Hand auf ihren Oberschenkel, dass es wehtat.

»Natürlich, die anderen sind schon unterwegs«, sagte Alex-ander und hielt ihr seine leere Tasse hin. Jenny schob ihm die Kaffeekanne hin. »Die kommen auch ohne uns klar. Ich hatte mich so auf einen sonnigen Urlaub mit dir gefreut. Ich fasse es nicht.«

»Aber es ist fest vereinbart, dass wir heute alle zusammen an die Nordsee fahren.« Alexander rührte Zucker in seinen Kaffee. Für ihn schien das Thema abgeschlossen.

»Mit allen zusammen ausgemacht – außer mit mir! Wir un-ternehmen gar nichts allein!« Jenny stand auf, holte die Reise-prospekte und schmiss sie auf den Tisch. »Du hast gesagt, ich soll mich überraschen lassen! Da war ich mir sicher, dass du eine Reise in den Süden für uns gebucht hast und mir heute den Urlaub schenken willst, den ich mir schon lange wünsche. Ich hatte mich so darauf gefreut!«

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Alexander legte beruhigend seine Hand auf ihren Arm und versicherte: »Beim nächsten Mal. Jetzt haben wir doch schon alles mit den anderen verabredet, und außerdem haben wir die schönen Musicalkarten. Freust du dich denn gar nicht da-rüber?«

»Nein, tu ich nicht. Ich bin einfach nur enttäuscht. Das Musi-cal hätten wir genauso gut von hier aus besuchen können. Von Münster nach Hamburg gibt es auch Autobahnen, die nicht vereist sind.«

»Jetzt wirst du spitzfindig. Das mag ich nicht.« Alexander legte die Prospekte sorgfältig aufeinander.

»Ich will mit dir in die Sonne fahren - in diesem Urlaub und nicht in irgendeiner fernen Zukunft! Beim nächsten Mal, das hast du schon so oft versprochen. Daran glaube ich nicht mehr.«

»Jennifer, in diesem Urlaub, das geht nicht, das ist viel zu kurzfristig.«

»Ist es nicht! Zu irgendeinem sonnigen Ziel hat Melanie be-stimmt noch einen Flug für zwei Personen.«

»Ist die überhaupt schon wieder zurück?«»Sie arbeitet seit zwei Tagen wieder. Ihre Ansichtskarte aus

Rom ist heute angekommen. Melanie erlebt wirklich ein tolles Abenteuer nach dem anderen!« Jenny nahm Melanies Karte, drehte sie um und betrachtete voller Sehnsucht das Foto.

»Die arbeitet in einem Reisebüro. Da gehören diese lang-weiligen Bildungsreisen zum Beruf. Ich muss nicht stunden-lang damit beschäftigt sein, in einer Gruppe einem Reisefüh-rer hinterherzulatschen.«

»Langweilig. So’n Quatsch.« Jenny zeigte ihm die Ansichts-karte und fragte: »Weißt du, was das ist?«

Alexander warf einen kurzen Blick auf die Karte und sagte: »Das Amphitheater in Rom.«

»Ich meine nicht das antike Bauwerk, sondern die moder-nen Fahrzeuge, mit denen die Personen vor dem Kolosseum auf Besichtigungstour sind.«

»Die haben sich mir noch nicht vorgestellt.«Jenny hörte den deutlichen Punkt am Ende des Satzes, als

würde er ihr in der Boutique eine Arbeitsanweisung geben.

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Aber hier war er nicht ihr Chef. Und als ihr Freund könnte er einer Karte, die sie ihm zeigte, wirklich mehr Beachtung schenken!

»Die heißen Segways«, erklärte sie. »Die hast du bestimmt schon gesehen. Die gibt es auch bei uns. Das sind Elektrorol-ler. Guck mal, du stehst auf einer Plattform zwischen zwei di-cken Rädern und hältst dich an einer Lenkstange fest. Melanie schreibt, das wäre die coolste Stadtführung, die sie je mitge-macht hat.«

»Da musst du wahrscheinlich ganz schön balancieren kön-nen, das muss ich nicht mehr haben. Wir haben unsere Fahr-räder und das Wohnmobil.«

Hatte sie richtig gehört? Fühlte er sich mit fünfundvierzig wirklich schon zu alt, um Neues auszuprobieren? Sie wollte ihm gerade diese Frage an den Kopf werfen, da schob er die Karte zur Seite und sagte: »Ich habe gedacht, du hast auch Freude am Campen gefunden.«

»Natürlich macht Campen Spaß. Aber darum geht es nicht.«Alexander zog die Augenbrauen hoch und fuhr fort: »Apro-

pos Campen. Ich habe meine Sachen gepackt. Wo ist dein Kof-fer?« Er ging ins Schlafzimmer. »Der ist ja noch nicht einmal halb voll!«

»Ich habe doch gedacht …« Jenny sprach nicht weiter. Resi-gniert und ohne jede Vorfreude auf die bevorstehenden Wie-immer-Urlaubstage setzte sie sich auf das Bett neben den halb gepackten Koffer und ließ ihre Hände auf den Pullover fallen, den sie gerade aus dem Schrank genommen hatte. Alexander lehnte sich lässig an den Türrahmen und beschäftigte sich mit seinem Smartphone.

»Wir sind spät dran. Meine Sachen sind im Wohnmobil. Ver-giss die neue Pfanne nicht«, sagte er. Dabei hob er nicht ein-mal den Kopf, murmelte: »Keine Neuigkeiten«, klappte sein Handy zu und steckte es in die Tasche.

Jenny drückte den dicken Wollpullover, als wüsste sie nicht, was sie damit anfangen sollte. Der Pullover landete wieder im Schrank.

»Den solltest du unbedingt einstecken. Es ist kalt in Greet-siel. Und denk an die Dosen mit dem Gulasch. Wir können im

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Januar nicht grillen.« Alexanders Stimme war energischer ge-worden, als wäre er mit seiner Geduld am Ende.

Jenny stand auf, ging zurück in die Küche, nahm die ge-wünschten Dosen aus dem Schrank, knallte sie auf den Tisch und verkündete: »Ich fliege dorthin, wo es warm ist, wenn du nicht mitkommst, auch allein!«

Zum ersten Mal seit Beginn des Gesprächs begegneten sich ihre Augen. Jenny hielt Alexanders Blick stand. Er sah erstaunt aus. Er hat überhaupt nichts kapiert, ging es ihr durch den Kopf, während sie die Pfanne vom Regal nahm. Alexander ver-staute die Dosen in einer Einkaufskiste.

Jenny nahm die Eintrittskarte für das Musical, legte sie auf die Gulaschdosen und sagte: »Es wäre schade, wenn die teure Karte verfiele. Ihr könnt sie bestimmt jemandem verkaufen.« Dann schob sie Alexander zur Tür. Dabei stieß er mit der Kiste gegen den Türrahmen. Schon im Hausflur, drehte er sich um und sagte: »Du kannst es dir noch einmal überlegen und mit deinem Auto nachkommen.«

Jenny sah ihm in die Augen: »Ich habe schon viel zu lange überlegt.« Lauter als gewöhnlich schloss sie die Tür hinter ihm. In der Küche stellte sie die Tassen »Geiler Tag heute« und »Schön, dass du da bist« in die Spülmaschine, näherte sich dem Fenster und sah durch den Schneeregen, wie Alexander in sein Wohnmobil einstieg und losfuhr.

Die Pfanne wanderte zurück ins Regal und Jennys Blick zu den Postkarten, die kreuz und quer an der Pinnwand befes-tigt waren. Die meisten zeigten blauen Himmel, Hotels, einen Strand und Palmen. Das Reisebüro hatte bis Mittag geöffnet, und Melanie musste an diesem Samstag arbeiten. Die würde bestimmt etwas für sie haben.

Auf dem Weg zum Schlafzimmer blieb Jenny vor ihrem Gar-derobenspiegel stehen und sah in ein Gesicht mit senkrechter Stirnfalte und zusammengepressten Lippen. Energisch kämm-te sie ihre kupferroten Locken, band die schulterlangen Haare zu einem Pferdeschwanz und schüttelte ihren Kopf, sodass die gebändigte Lockenpracht hin und her wippte. Ihre Gesichts-züge entspannten sich. Sie zog ihre Jeans über die Strumpf-hose und ersetzte Minirock und T-Shirt durch einen warmen

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Pullover. Vielleicht brauchte sie ihren Reisepass? Hoffentlich war er noch gültig. Jenny suchte und fand ihn in der untersten Schublade ihres Schreibtisches. Bis 2016, das reichte!

***

Kurz darauf kämpfte sie sich durch den Wochenendverkehr in die Innenstadt von Münster und parkte ihren Golf auf dem Geheimtipp-Platz der Freundin. Sie stellte die Scheibenwi-scher und den Motor aus. Dicke Schneeflocken wurden auf der Frontscheibe zu Regentropfen, die Sicht wurde immer schlechter.

Entschlossen verließ sie das Auto, öffnete die Eingangstür des Reisebüros und begrüßte ihre Freundin: »Hallo, Melanie. Danke für deine Karte. Sie ist heute angekommen.«

Melanie stand auf, umarmte Jenny und sagte: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag. Ich wünsch dir was, und bleib, wie du bist.«

»Danke. Das muss toll gewesen sein mit den Segways.«»Das war sensationell, du musst es unbedingt mal auspro-

bieren. Wieso bist du überhaupt noch da? Ich dachte, ihr seid auf dem Weg zur Nordsee. Schreckt euch etwa das nasskalte Wetter?« Melanie legte die Formulare, an denen sie gerade ar-beitete, zur Seite.

»Alexander fährt ohne mich.«»Habt ihr euch gestritten?«Jenny stieß einen Seufzer aus, setzte sich Melanie gegen-

über an den Beratungstisch und berichtete.»Mir scheint, dieses Mal ist es dir wirklich ernst«, stellte die

Freundin fest.»Weißt du was, mir reicht’s. Er benimmt sich, als wäre er

auch privat mein Chef. Es langt, wenn ich in der Boutique nach seiner Pfeife tanzen muss. Eine gemeinsame Urlaubsrei-se ohne die Clique täte uns bestimmt gut, aber das versteht er nicht. Ich glaube, wenn ich nicht untergehen will, muss ich mal weg. Hast du was für mich – sonnig und bezahlbar?«

»Und das kurzfristig, ich verstehe.« Melanie forschte bereits in ihrem Computer.

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»Da, das ist es, gerade aktuell reingekommen - eine Kreuz-fahrt!«

»Bist du verrückt? Die kann ich mir nicht leisten.«»Doch, kannst du«, widersprach Melanie. »Die ist nicht teu-

rer als ein Hotelaufenthalt auf den Kanaren, weil es sich um ein Last-minute-Angebot handelt.«

»Eine Kreuzfahrt. Das ist mir zu steif mit den ganzen alten Leuten und dem Captains Dinner und so.«

»Erstens sind die MAJA-Schiffe Club-Schiffe und nicht nur für Senioren, und zweitens gibt es da keine Veranstaltungen, bei denen die Damen ihre Abendkleider ausführen und die Herren im Anzug erscheinen müssen. Wie lange hast du Ur-laub?«

»Zweieinhalb Wochen.«»Das passt!«, stellte Melanie fest. »Du fliegst am Montag

nach Singapur und gehst dort auf die MAJA Blanca.«»Singapur, das ist doch in Südostasien? Das geht nicht«, pro-

testierte Jenny.»Und warum nicht?«»Das ist viel zu weit weg, und dann so allein.«»Jenny, du bist fünfunddreißig, und wenn ich mich recht er-

innere, warst du direkt nach dem Abi ein halbes Jahr als Au-pair-Mädchen in Australien. Da bist du auch allein hingefah-ren und warst viel jünger. Kontakt kriegst du auf dem Schiff ganz schnell. Man kann eine oder zwei Wochen buchen. Die erste Route geht unter anderem über Vietnam bis Bangkok. Dort bleibt das Schiff zwei Tage, weil ein Teil der Passagiere wechselt. Wenn du dir zwei Wochen leisten willst, lernst du anschließend auch Malaysia kennen und hast zum Schluss noch einen kompletten Tag für Singapur. Dieses traumhafte Angebot würde ich mir nicht entgehen lassen.«

»Klingt aufregend«, flüsterte Jenny und setzte sich gerade hin, als wollte sie sich selbst Mut machen.

»Ich rechne dir mal den Gesamtpreis aus.« Gespannt ver-folgte Jenny das konzentrierte Herumklicken ihrer Freundin.

»Es ist eine Innenkabine, aber das ist egal. An Seetagen gibt es genug Programm auf dem Schiff. Da bist du sowieso nur wenig in der Kabine«, erklärte Melanie und reichte Jenny die

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Aufstellung. »Bei dem Vorzugspreis würde ich keine Sekunde zögern und zwei Wochen buchen.«

»Und wann geht der Flug?«»Die Blanca liegt ab Montag in Singapur. Der MAJA-Flieger

geht morgen. Der ist ausgebucht, aber du kannst am Montag um 16.35 Uhr ab Frankfurt fliegen – mit dem A380 nonstop bis Singapur! Dann kommst du am Dienstag um 11.45 Uhr dort an.«

»Das sind über neunzehn Stunden Flug!«»Du vergisst die sieben Stunden Zeitverschiebung. Der ei-

gentliche Flug dauert nur zwölf Stunden – und die sind wirk-lich auszuhalten.«

»Was ist, wenn das Flugzeug Verspätung hat? Wartet das Schiff dann?«

»Du hast gut Luft. Die Blanca läuft erst am Nachmittag aus. Die Linienflüge haben selten eine erhebliche Verspätung. Et-was Risiko ist natürlich immer.«

Also würde das Schiff pünktlich ablegen und nicht warten. Ein bisschen mulmig war Jenny schon bei diesem Gedanken. Aber wahrscheinlich hatte Melanie recht. Sie hatte schließlich Erfahrung.

»Muss ich mich gleich entscheiden?«, fragte Jenny.»Am besten sofort. Last-minute-Angebote sind begehrt.«Jenny sah auf ihr Handy. Alexander hatte sich nicht gemel-

det. Er war bestimmt inzwischen auf dem Weg nach Greetsiel.»Du zitterst so. Ist alles in Ordnung?«, fragte Melanie.»Mein letzter Gedanke ließ mich frieren. Mach es fest. Ich

buche«, sagte Jenny entschlossen und legte ihren Reisepass auf den Tisch. Dann nahm sie ihr Handy und schrieb:

Hallo Alexander, ich fliege nach Singapur.GrußJennifer

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Ankunft

Wir haben unser Gepäck«, sagte die Frau, und das klang wie: »Wenn Ihr Koffer nicht bald da ist, fahren wir ohne Sie zum Schiff.«

»Meiner kommt bestimmt sofort«, versicherte Jenny und schob sich zwischen zwei Männern hindurch direkt neben das Gepäckband, um ihren Trolley nicht zu verpassen. War es denn so weit bis zum Hafen, dass sie zu spät dort ankommen könnten? Als der Flugkapitän bekannt gegeben hatte, dass man in Singapur mit zwei Stunden Verspätung landen wür-de, hatte die Frau neben ihr erschreckt gesagt: »Wolfgang, ich wusste es, wir verpassen die MAJA.« Der Mann hatte ruhig mit ihr gesprochen. Als Jenny erzählte, dass sie auch auf dieses Schiff wollte, hatte er vorgeschlagen, dass sie zusammen ein Taxi nehmen könnten.

Die Aussicht, nicht allein unterwegs zu sein, hatte etwas Be-ruhigendes. Gebannt starrte Jenny auf die vielen Gepäckstü-cke, die ein dunkles großes Maul in unregelmäßigen Abstän-den auf das Förderband spuckte. Sie hätte den roten Trolley kaufen sollen! Ihrer war dunkelblau, und Blau zählte offen-sichtlich zu den Lieblingsfarben für Reisegepäck jeder Art.

»Auf Individualgäste wartet die MAJA nicht!«, schimpfte die Frau und eilte los. Der Mann trottete mit beiden Koffern hin-terher.

»Da, mein Koffer kommt!«, rief Jenny, riss ihn vom Band und rollte ihn im Laufschritt hinter dem Ehepaar her. Erleichtert nahm sie neben der Frau im Fond des Taxis Platz. Jetzt wür-den sie es sicher noch schaffen! Voller Vorfreude schaute sie aus dem Fenster. Ein Meer von Hochhäusern, schlank, rund, eckig und sogar schräg, reckte sich in den Himmel. Blumen-rabatten säumten den Highway. Der Verkehr lief reibungslos. Sie war tatsächlich in Singapur! So recht glauben konnte sie es nicht. Sie war überhaupt nicht müde, obwohl sie vor lauter Aufregung nur wenig geschlafen hatte. Während des langen

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Fluges hatte sie sich gefragt, ob es nur die Sonne war, nach der sie sich sehnte. Wollte sie unbedingt in einem Hotel über-nachten und bedient werden? Nein, das war es nicht. Sie hätte einer Reise im Wohnmobil durch Deutschland oder vielleicht nach Italien – nur mit Alexander – sofort zugestimmt. War ihr Wunsch, mal nur zu zweit zu verreisen, so abwegig?

»Sie reisen ohne Begleitung?«, fragte die Frau.»Mein Mann ist leider beruflich verhindert«, log Jenny.»Und lässt Sie eine Kreuzfahrt machen, während er arbeiten

muss«, sagte die Frau mit einem skeptischen Blick aus den Au-genwinkeln. Zum Glück musste Jenny nicht antworten, denn in dem Moment drehte der vorne sitzende Mann seinen Kopf leicht nach hinten und sagte zu Jenny: »Singapur ist die sau-berste Millionenstadt der Welt. Das Ausspucken eines Kau-gummis zum Beispiel wird streng bestraft.« Seine Frau griff dieses Thema wortreich auf und berichtete weniger schön als anschaulich von den miserablen Zuständen in anderen Groß-städten. So brauchte Jenny nicht auf persönliche Fragen zu antworten, sondern konnte sich auf ein gelegentliches »Ach nein« oder »Ja wirklich« beschränken.

Die MAJA Blanca tauchte hinter den Hafengebäuden auf. Di-rekt darüber überquerte eine Seilbahn das Schiff.

»Irre!«, rutschte es Jenny heraus.Der Mann erklärte: »In diesen Gondeln kann man zur Frei-

zeitinsel Sentosa rüberfahren. Dazu haben Sie am letzten Tag noch Zeit, wenn das Schiff wieder in Singapur ist, oder gehen Sie schon nach einer Woche in Bangkok von Bord?«

»Nein, ich habe vierzehn Tage gebucht, sonst lohnt sich der weite Flug doch gar nicht«, entgegnete Jenny. Der Taxifahrer lud das Gepäck aus. Jenny beteiligte sich mit einem Drittel am Fahrpreis. Da bemerkte die Frau: »Sie haben gar kein MAJA-Schild an Ihrem Koffer.«

»Das muss abgegangen sein«, sagte Jenny und drehte ihren Trolley hin und her, als könnte dieses wichtige Schild an der Seite kleben. Dachte die Frau denn, sie wollte sich als blinde Passagierin einschleichen?

»Nehmen Sie das von Ihrem Handgepäck«, schlug ihr Mann vor.

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»Gute Idee«, murmelte Jenny erleichtert und befolgte sei-nen Rat. Trotzdem verkrampften sich ihre Hände vor Anspan-nung, als sie die Kontrollen passierte. Doch es ging alles glatt.

Die drei verließen das Hafengebäude. Jenny blieb sprachlos vor dem Kreuzfahrtschiff stehen. Langsam wanderte ihr Blick die einzelnen Decks empor. Sie legte ihren Kopf in den Na-cken, bis sie hoch oben, sozusagen im dreizehnten Stockwerk dieses schwimmenden Hotels, Menschen erkennen konnte, die dort über die Reling schauten und winkten. Jenny winkte spontan zurück. Hier durfte sie es sich jetzt zwei wunderba-re Wochen lang beim Sonnen und Schwimmen und an einem Schlemmerbüffet gut gehen lassen!

Eine junge Frau mit angeheftetem Namensschild begrüßte sie freundlich, eine andere machte ein Foto. Jenny lächelte in die Kamera. Dann bekam sie eine Plastikkarte mit ihrem Namen, ihrer Kabinennummer und der Telefonnummer des Schiffes. Langsam ging sie auf der Gangway nach oben. Das Ehepaar aus dem Taxi war einige Schritte vor ihr. Die beiden drehten sich nicht nach ihr um.

Auf dem Schiff begrüßte sie ein Uniformierter mit einem freundlichen »Herzlich willkommen auf der MAJA Blanca.« Er steckte ihre Bordkarte in ein Lesegerät, warf einen prüfenden Blick auf seinen Monitor, der ihm bereits das soeben erstellte Erkennungsfoto zeigte, und Jenny bekam ihre Karte zurück. Ihr Handgepäck legte sie auf ein Förderband. Ohne Beanstan-dung durfte sie es nach dem Durchleuchten wieder an sich nehmen. Jetzt musste sie nur noch ihre Kabine finden, und das Abenteuer Kreuzfahrt konnte beginnen.

»Ich bin Scout Regina. Kann ich Ihnen helfen?«, sprach eine junge Frau im orangenen Poloshirt sie an. Jenny nannte ihre Kabinennummer, und Regina erklärte ihr den Weg dorthin. Jenny bedankte sich und fuhr mit dem Lift ein Deck höher. Dann ging sie in einem langen Gang an unzähligen Türen vor-bei. Ihre Kabine lag offensichtlich am anderen Ende des Schif-fes, war aber nicht schwer zu finden.

Neugierig betrat Jenny ihre Kabine. Der größte Teil des Rau-mes war ausgefüllt mit einem Himmelbett für zwei Personen. Im Schrank und in einem offenen Regal würde genug Platz für

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ihre Garderobe sein. An der Wand hing ein Fernseher. Darun-ter stand ein schmaler Schreibtisch mit einem Stuhl davor. In dem kleinen Badezimmer befanden sich Dusche, Waschbe-cken und Toilette. Was brauchte sie mehr.

Auf dem Bett lag das Programm mit den Veranstaltungen des Tages. Jenny nahm es in die Hand. Ein dick gedruckter Satz fiel sofort auf: »Die Teilnahme ist für alle Gäste Pflicht, die in Singapur aufgestiegen sind.« Gemeint war eine Seenot-rettungsübung. »Die Durchsagen von der Brücke können Sie auch über TV-Kanal 13 hören.« Sie stellte den Fernseher an, suchte Kanal 13 und befasste sich weiter mit den Informati-onen der Bordzeitung zum Tagesprogramm und zu den Re-staurants. Sie zählte. Acht Restaurants. Wie und wo sollte sie herausfinden, in welchem sie sich am wohlsten fühlen würde? Sie entschied sich für das Restaurant Belami auf Deck 9, weil ihr der Name ‚Schöner Freund‘ gefiel.

Und was sollte sie zum Abendessen anziehen? Ihre Stan-dardgarderobe aus der Modeboutique war sicher nicht ver-kehrt. Alexander legte Wert darauf, dass seine Verkäuferinnen in Rock und Bluse mit einem passenden Seidentuch und High Heels auftraten.

Jemand klopfte an die Kabinentür. Ihr Trolley mit dem Schild vom Handgepäck wurde gebracht. Schwungvoll beför-derte Jenny ihren Koffer auf das Bett, öffnete ihn und sah – ein sorgfältig zusammengelegtes dunkelblaues Sakko! Jenny atmete tief ein, hielt die Luft an und starrte mit offenem Mund auf die Garderobe eines Fremden.

»Nein! Bitte nicht, nein!«, rief sie verzweifelt aus. Das konn-te nicht wahr sein! Das durfte nicht wahr sein! Wo war ihr Trolley? Sie hatte absolut nichts zum Anziehen.

Jenny hob das Sakko leicht an, sah Krawatten und fühlte steife Kragen von Oberhemden. Das war der Koffer eines Ge-schäftsmannes. Sie klappte den Deckel zu. Der Trolley sah ge-nauso aus wie ihrer. Unwillkürlich glitten ihre Hände über den kostbaren Stoff des Sakkos. Von Stoffen verstand sie schließ-lich etwas. Sie nahm das Jackett und legte es auf ihr Bett. Da-bei rutschte ein Briefumschlag heraus, noch zugeklebt, mit der Aufschrift »Jaguar«, kein Absender. Ein Spitzname? Wer

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nannte sich denn Jaguar? Fuhr der Trolleybesitzer einen Ja-guar?

Auf Kanal 13 ertönte ein Gong: »Hier spricht der Kapitän. Ich begrüße alle neu angekommenen Gäste und wünsche Ih-nen eine wunderschöne Reise! Alle Passagiere sind an Bord. Wir werden in Kürze ablegen und die beeindruckende Skyline der Fünf-Millionen-Einwohner-Metropole Singapur hinter uns lassen. Vor uns liegen …«

Jenny war nicht in der Lage, weiter zuzuhören. Sie beför-derte die fremde Herrenjacke samt Brief wieder in den Koffer, zog den Reißverschluss zu und richtete den Trolley auf, um ihn vom Bett zu heben. Dabei fiel ihr Blick auf den Fernseher. Die Bugkamera zeigte eine fantastische Aussicht auf Singapur. Wenn sie jetzt mit dem falschen Gepäck zur Rezeption ginge, dann würden die viele Fragen stellen. Wieso hatte sie den Trolley überhaupt öffnen können? Andere Leute schlossen normalerweise ihre Koffer ab. Mist, dort würde man sie mit den Formalitäten aufhalten, bis von Singapur nichts mehr zu sehen war.

Jenny haute mit der Faust in die Luft, als wollte sie einen imaginären Feind vertreiben. Koffer hin oder her. Das Aus-laufen des Schiffes durfte sie sich nicht entgehen lassen. Sie hängte sich ihre Bordkarte, die zugleich als Schlüssel für ihre Kabine diente und an einem breiten Band befestigt war, um den Hals, suchte die nächste Treppe und stürmte hinauf, bis sie das oberste Deck erreicht hatte. Noch ganz außer Puste ergatterte sie einen Platz direkt an der Reling. Unten auf dem Kai standen Hafenarbeiter und warteten offensichtlich auf das Kommando, die Gangway wegziehen zu dürfen. Irgendetwas schien nicht in Ordnung zu sein. Jenny spürte einen Stoß an ihrer Schulter. Ein dicker Passagier mit einem wahren Mons-trum von Fotoapparat in der Hand versuchte, sich an ihr vor-beizudrängen. Dabei war er viel größer als sie und konnte gut über sie hinweg fotografieren! Sie lehnte sich über die Reling und verteidigte erfolgreich ihren Platz.

Eine ältere Passagierin sagte mit piepsiger Stimme: »Es wird doch wohl nichts passiert sein. Ich habe es schon mal erlebt, dass …« Was diese Dame erlebt hatte, hörte Jenny nicht

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mehr, denn einige Passagiere machten sich gegenseitig darauf aufmerksam, dass aus dem Terminal ein Mann kam und mit Riesenschritten die Rolltreppe hinaufeilte. Ihm folgte unmit-telbar ein Crewmitglied mit einem Trolley. Kaum hatten die beiden das Schiff betreten, holten die Hafenarbeiter die Gang-way ein.

Mit einem tiefen, langgezogenen Tuten verabschiedete sich das Schiff von Singapur. Das riesige schwimmende Hotel setz-te sich in Bewegung. Aus dem Bordlautsprecher erklangen die sphärischen Klänge von »Orinoco Flow«. »Sail away, sail away«. Die Skyline von Singapur mit ihren zum Teil bizarr wirkenden Hochhäusern, die Hafengebäude und eine park-ähnliche Landschaft in der Nähe des Ufers wurden allmählich kleiner. »Sail away, sail away …« Sie würde Freunde finden, auf Ausflügen eine ganz andere Welt kennenlernen. Träumte sie oder war es Wirklichkeit?

Die anderen Mitreisenden verließen nach und nach das Deck. Direkt neben dem Schiff tauchte ein Boot auf und fuhr, immer schneller werdend, zum Hafen.

»Der Lotse ist von Bord«, sagte ein erfahrener Passagier und nickte ihr freundlich zu.

Jenny hielt sich an der Reling fest. Der Traum hatte einen Kratzer bekommen. Irgendwo dort in dieser Millionenstadt befanden sich jetzt ihre Sachen, die T-Shirts, die Tops, die Schuhe, einfach alles – und entfernten sich von ihr, unaufhalt-sam.

Bald würde sie nur von Wasser umgeben sein, und das nicht mit Alexander und der Clique auf einem Krabbenkutter auf der Nordsee, sondern auf dem Südchinesischen Meer auf ei-nem Schiff mit zweitausend fremden Passagieren.

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Die Notlösung

Jenny löste sich von der Reling. Auf dem Lageplan neben der Treppe entdeckte sie den Hinweis: MAJA Shop Deck 9. Dort könnte sie sich neu einkleiden, wenigstens das Nötigste. Notgedrungen machte sie sich auf die Suche nach der Bou-tique. Drei Decks tiefer entdeckte sie neben der Treppe auf der einen Seite das Restaurant Belami und gegenüber den Shop. Genau genommen gab es eine Boutique für Kleidung und eine Parfümerie.

Die Eingangstüren waren geschlossen. Durch die Glaswän-de, die die Shops umgaben, erkannte Jenny, dass vor allem Markenware verkauft wurde. Wehmütig dachte sie an ihre für die Reise wohlüberlegt zusammengestellte Garderobe. Zu Hause konnte sie sich diese Sachen nur wegen des Rabatts als Verkäuferin leisten. Aber hier? Hier müsste sie ihr Geld für neue Sachen ausgeben, das Geld, das sie für die wunderbaren Ausflüge geplant hatte. Alles in ihr sträubte sich dagegen.

Langsam ging sie die Treppe hinunter, bis ihr eine große »4« anzeigte, dass sie ihr Deck erreicht hatte. In ihrer Kabine goss sie sich Mineralwasser ein und trank es Schluck für Schluck. Sie sah auf den Trolley, der ihrem so ähnelte, und dachte: Jetzt muss ich dich zur Rezeption bringen. Wahrscheinlich werden sie dich bei der nächsten Möglichkeit zu einem Flughafen und von dort aus nach Singapur schicken. Auf jeden Fall werden sie dich behalten. Aber wie und wann bekomme ich meinen Trolley wieder?

Melanie hatte mal erzählt, dass man seinen Koffer später an die Heimatadresse gebracht bekäme. Aber was nützte ihr das jetzt? Alexanders Gesicht tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Sie hörte seine Stimme: »Das hast du nun davon. Wärst du mit mir mitgekommen …« Unwillkürlich hielt sie sich die Ohren zu. War es nicht genau das, was sie nicht mehr wollte, Tag für Tag das tun, was er von ihr erwartete? Sie musste allein ent-scheiden, wie es weitergehen sollte.

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Was wäre, wenn sie sich mit dem fremden Herrn direkt in Verbindung setzen könnte? Jenny öffnete den Trolley erneut und griff nach dem Umschlag. Durfte sie ihn aufmachen? Nein. Entschlossen legte sie ihn zur Seite. Sie las keine fremden Briefe.

Und wie war das mit einem fremden Koffer? Ein Briefge-heimnis musste man respektieren, aber gab es auch so etwas wie ein Koffergeheimnis? Vielleicht würde sie durch den Kof-ferinhalt etwas Wichtiges über Mister Jaguar herausbekom-men. Sie musste weiterforschen! Voller Hochachtung vor der teuren Kleidung packte sie weiter aus: eine schwarze Hose mit Bügelfalten, einen grauen Nadelstreifenanzug, eine ein-farbig dunkelrote und eine blaue Krawatte mit Golfschläger-motiv, beide aus reiner Seide, akkurat mit dünnem Papier zu-sammengelegte Oberhemden, dann einen Herrenschlafanzug aus einem kuschelig weichen Stoff.

Melanie hatte gesagt, die MAJA wäre ein Clubschiff ohne Captains Dinner und ohne Anzugzwang. Also handelte es sich um die Garderobe eines Geschäftsmannes, der sicher nicht auf einem Clubschiff Urlaub machen wollte. Der unbekannte Mann war jetzt wahrscheinlich irgendwo in Singapur. Im Mo-ment war also die Rückgabe des Koffers an den Eigentümer sowieso nicht möglich.

Vermutlich hatte der fremde Reisende ihr gutes Stück we-gen des Aussehens gegriffen. Und starrte genauso ratlos auf ihre Sachen wie sie auf seine. Na bravo!

Wie würde er sich verhalten, wenn er ihren Trolley mitge-nommen hatte? Würde er sich ihre Sachen ansehen? War Ja-guar sein richtiger Name?

Ihr Blick fiel auf einen kleinen Schlüssel mit einem Anhän-ger, einem Pferdekopf. War dieser Mister Jaguar ein Pferde-liebhaber oder besaß er gar ein eigenes Pferd? Sie drehte den Anhänger um. Auf der Rückseite waren die Buchstaben S. J. aufgedruckt. Waren das seine Initialen? Das half ihr nicht wei-ter.

Jenny probierte den Schlüssel aus. Er passte. Den hatte er bestimmt gesucht und nicht gefunden, genau wie sie. Sollte sie das an der Rezeption erzählen? Nein, besser nicht. Man

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würde es sicher kritisch registrieren, dass sie die fremden Sa-chen untersucht hatte.

Nach dem Schlafanzug beförderte Jenny einige Oberhem-den zutage und zwei Poloshirts mit Emblem: Krokodil und Golfspieler. Wahrscheinlich spielte ein Mann in seiner Positi-on wirklich Golf. Schuhe, nicht in Plastiktüten wie in ihrem Koffer, nein, jeder Schuh einzeln in einem Leinenbeutel, wah-re Elbkähne! Der Mann musste sehr groß sein. Eine hellgraue Freizeithose, sportlich, dreiviertellang, und farbige Slips, schmal geschnitten. So alt war er nicht – nach den sexy Unter-hosen zu urteilen.

Diesen Koffer hatte eine Frau gepackt. Dafür sprach auch das Seidenpapier. War er verheiratet oder nur liiert? Außer-dem hatte so ein Anzugträger keine Zeit, den Koffer selbst zu packen.

Dieser Mann war definitiv reich genug, um sich sofort neu einzukleiden. Vermutlich hatte er ihren Trolley längst in eine Ecke geschoben und nervte eine Verkäuferin in einem dieser exquisiten Läden in Singapur. Jenny kannte diese Herren, die es eilig hatten und erwarteten, dass eine Verkäuferin ihre Wünsche schon erriet, kaum dass sie die Boutique betreten hatten. Ihr Blick wanderte über die Hemden und Shirts. Bei ih-ren Kunden verstand sie es, auch langweilige Kleidungsstücke durch passende Accessoires so zu arrangieren, dass es pfiffig aussah. Warum sollte sie diese Fähigkeit nicht bei sich selbst anwenden können?

Ein durchdringender Alarm ließ sie zusammenzucken. Die Seenotrettungsübung! Sechs weitere kurze und ein langer Ton folgten. Eine männliche Stimme forderte die Passagiere auf: »Bitte begeben Sie sich mit Ihrer Rettungsweste zu Ihrer Sammelstation auf Deck 5.« Jenny nahm die Weste aus dem Schrank, warf einen Blick auf die Wegbeschreibung an der Kabinentür und steuerte ihre Station an. Immer mehr Passa-giere versammelten sich auf dem fünften Deck unterhalb der Rettungsboote.

Jenny fummelte noch am Gurt ihrer Rettungsweste herum, als ein großer, schlanker, sonnengebräunter Mann neben ihr sagte: »Na, aufgeregt? Kann ich helfen?«

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»Nein, danke, geht schon«, antwortete Jenny und war froh, dass sie den Gurt gerade in die richtige Position gebracht hat-te. Das fehlte noch, dass sie nicht mal in der Lage war, eine Rettungsweste anzulegen.

»Gut gemacht«, sagte der Fremde mit lachenden braunen Augen und zeigte mit dem Daumen nach oben, als hätte sie wer weiß was für eine Leistung vollbracht. Grinsend fügte er hinzu: »Steht Ihnen gut, diese orangene Rettungsweste zu Ih-ren kupferroten Haaren.«

Der macht sich lustig über mich, dachte Jenny empört und strafte ihn mit dem hochnäsigsten Blick, den sie zur Verfü-gung hatte.

Die für die verschiedenen Stationen Verantwortlichen begannen, die Kabinennummern aufzurufen. Ein Mann ne-ben Jenny sagte zu einem anderen Passagier: »Auf früheren Kreuzfahrten wurden bei der Rettungsübung manchmal Wit-ze gemacht und alles wurde nicht so ernst genommen, aber seit der Costa Concordia gibt es wohl keinen, der in diesem Augenblick nicht daran denkt.« Der Angesprochene ergänzte leise: »Der erste Alarm soll drei Stunden nach dem Ablegen des Schiffes von der Hafenstadt in der Nähe von Rom einge-gangen sein.« Seine Frau fügte hinzu: »Sie waren beim Abend-essen, als das Schiff den Felsen rammte.«

Jenny stellte sich vor, wie sie reagieren würde, wenn in drei Stunden plötzlich der Alarm wiederholt würde. Bei diesem Gedanken beschlich sie ein mulmiges Gefühl. Zum Glück kam in dem Augenblick die Durchsage, dass alle zugestiegenen Passagiere anwesend wären. Damit wurde die Übung für be-endet erklärt. Eine Fotografin machte von jedem, der wollte, ein Foto mit Rettungsweste. Jenny wollte nicht – von wegen Weste passend zur Haarfarbe. Wichtigtuer!

Zurück in der Kabine beschloss sie, erst einmal zu duschen. Das tat gut. Wenn man das Problem »falscher Trolley« doch einfach wegspülen könnte. Dann Haare föhnen. Ach du liebe Zeit, sie hatte gar keine Rundbürste, mit der sie dem langen Pony den nötigen Schwung geben konnte. Und der Locken-stab lag auch im Trolley. Wie sollte sie bloß bei ihrer Natur-krause die sanften Wellen hinkriegen, die ihre Haare so schön

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leuchten ließen? Sie nahm den vorhandenen Föhn und ver-suchte, mit ihren Fingern etwas zu zaubern. Vergeblich. Alex-ander würde sagen: »Du siehst aus, als kämst du gerade vom Schwimmen und hast deine Haare an der Luft trocknen las-sen.« Dieses Mal hätte er sogar recht. Jenny seufzte.

Ihr leerer Magen machte sich bemerkbar. Sie musste sich zum Abendessen umziehen. Die Cargohose ginge vielleicht noch, aber das Shirt, das sie während der Reise unter ihrem Pulli angehabt hatte – und das bei der ganzen Aufregung und den schwülen Temperaturen –, das war total durch. In ihrem Handgepäck hatte sie nur den breiten Lackledergürtel, den sie vergessen hatte einzupacken. Sollte sie vielleicht …?

Das weiße Herrenoberhemd lachte sie an. Sie konnte es ja anprobieren, ganz unverbindlich. Vorsichtig nahm sie es aus dem Seidenpapier, öffnete den obersten Knopf und zog es über den Kopf. Geschickt krempelte sie die Ärmel hoch, als wäre das so vorgesehen. Dann schlang sie ihren glänzenden schwarzen Gürtel locker um die Taille. Gut, dass sie nicht grö-ßer war. Dadurch wirkte das Oberhemd wie ein Minikleid. Jen-ny zog den Gürtel enger. Zu viel Oberweite und zu viel Bein? Sie stand vor dem großen Spiegel, der neben der Tür hing, und wiegte den Kopf hin und her. War das zu gewagt? Unwillkür-lich sagte sie zu ihrem Spiegelbild: »Sie können es sich doch leisten, und mit einem schwarz-weißen Outfit, meine Dame, sind Sie auf jeden Fall auf der sicheren Seite, besonders bei Ihrer Haarfarbe!«

Blass sah sie aus, so ohne Make-up. Wenigstens den Eye-liner, die Wimperntusche und das Rouge hatte sie in ihrem Kosmetiktäschchen – und natürlich den Lippenstift, terrakot-tafarben. Der war wirklich in der Farbe ihrer Haare – im Ge-gensatz zur Rettungsweste.

Jenny schminkte sich sorgfältig mit ihren wenigen Utensili-en. Dabei musste sie an ihre Kindheit denken, an die Zeit, als ihre Mutter sie ins Theater mitnahm, wenn der Vater Proben hatte. Was hatte sie für einen Spaß daran gehabt, sich zu ver-kleiden, während ihre Mutter den Schauspielern die Kostüme anpasste. Manchmal durfte sie sich sogar die Lippen anmalen. Da war sie noch im Kindergarten und wurde von allen benei-

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det. Später in der Schule waren Klassenkameradinnen aner-kannt, die sich Markenware leisten konnten, oder wenigstens so rumliefen wie alle anderen. Sie war ausgelacht worden we-gen der von ihrer Mutter selbst genähten Kleidung. War es ihr deshalb so wichtig, immer richtig und passend angezogen zu sein?

Jenny nahm ihren grüngoldenen Schal, der während der Rei-se über dem dunkelgrünen Pulli kaum aufgefallen war, legte ihn doppelt um den Hals, zog ein Ende durch die entstandene Schlaufe und verknotete es mit dem anderen Schalende. Auf diese Weise konnte man nicht erkennen, dass das Hemd zu groß war und die Knopfleiste zu einem Herrenhemd gehörte. Sie redete sich ein, dass der Schal und die grünen Turnschuhe als Pendant dazu wie Absicht aussahen.

Wenn sie tatsächlich so zum Abendessen gehen würde, würden dann die anderen Gäste über sie schmunzeln oder die Nase rümpfen wie damals die Klassenkameradinnen? Hatte sie überhaupt eine Alternative?

»Auf geht’s«, sagte Jenny zu ihrem Spiegelbild, hängte sich ihre Bordkarte um, pustete den zu langen Pony aus dem Ge-sicht und steuerte mutig das Belami an.

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Schlaraffenland

Am Eingang zum Restaurant begrüßte ein Empfangschef Jenny routiniert mit einem Lächeln, das jedem Smiley alle Ehre gemacht hätte. Ihm schien an ihrem Aussehen nichts aufzufallen. Sie betrat einen Raum, der trotz seiner Größe ein-ladend wirkte wegen der hier und da aufgestellten brustho-hen Raumteiler und der grünen Palmen in der Mitte. Breite Panoramafenster gaben den Blick frei auf den Abendhimmel und das Meer.

An den kleinen quadratischen und großen runden Tischen waren noch viele Plätze frei. Die Passagiere schlenderten an einem überdimensionalen Büfett entlang. Manche bewunder-ten zunächst das enorme Angebot, andere steuerten zielsi-cher auf das bunte Salatbüffet, die Platten mit den Vorspeisen, die riesigen Pfannen mit diversen Fleischgerichten oder auf die Beilagen zu.

Jenny blieb staunend vor den Antipasti stehen. Sie versuch-te, sich zu orientieren. Schließlich nahm sie einen der großen Teller, entschied sich für eine mit Schafskäse gefüllte rote Pa-prika als Vorspeise und positionierte je einen Löffel Brokko-li, Mais und Artischockenherzen darauf. Dann stellte sie sich dort an, wo ein Koch frische Steaks briet. Es sah verlockend aus und roch auch so. Ihr leerer Magen signalisierte unbän-dige Vorfreude. Was ging es ihr gut! Nur sieben Steaks waren vor ihr, dann war sie an der Reihe.

»Solche Schlangen habe ich auf keinem Schiff erlebt«, em-pörte sich eine weibliche Stimme hinter ihr.

»Sie leben im Schlaraffenland und meckern herum«, rutsch-te es Jenny heraus.

Die ungeduldige Passagierin im weißen Hosenanzug und mit auffallenden Silberlöckchen auf dem Kopf musterte Jenny von oben bis unten und konstatierte: »Das Publikum auf der MAJA ist auch nicht mehr das, was es einmal war.«

»Da haben Sie recht«, bestätigte ein Mann in Jeans und ei-

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nem verknitterten Oberhemd mit hochgekrempelten Ärmeln. »Die Passagiere sind interessanter geworden. Jetzt ist sogar eine Diva mit rotgoldenen Locken unter ihnen.«

Das war doch der Wichtigtuer von der Rettungsübung. Wie meinte er das?

»Die Bezeichnung Diva passt nicht zu mir«, protestierte Jen-ny.

»Wäre Ihnen der Vergleich mit Pumuckl lieber?«Jenny versuchte, mit der linken Hand ihre Haare zu bändi-

gen, was nicht gelang. Also stimmte sie zu: »Okay, was meine heutige Frisur angeht, kann ich nicht widersprechen. Ansons-ten kommt es darauf an, was Sie mit Pumuckl verbinden.«

»Zum Beispiel, dass ihm niemand böse sein kann, was er auch anstellt.«

»Ich werde Sie daran erinnern«, sagte Jenny. Was redete sie denn da? Das klang, als würde sie selbstverständlich davon ausgehen, dass sie in Kontakt blieben. Dabei würde sie ihn bei den vielen Passagieren wahrscheinlich nie wiedersehen.

Da spürte sie einen deutlichen Stups von Silberlöckchen mit dem ungeduldigen Hinweis: »Sie sind an der Reihe.«

Jenny bekam ihr medium gebratenes Steak und entschied sich für einen Platz an einem Tisch für vier Personen, an dem ein sympathisch wirkender weißhaariger Herr in schwarzem Oberhemd und weißer Hose mit seiner Vorspeise beschäftigt war. Auf Jennys Frage, ob noch ein Platz für sie frei wäre, nick-te der Senior freundlich. Jenny setzte sich. In dem Moment rückte der Weißhaarige einer Frau den Stuhl neben sich zu-recht – dem Silberlöckchen! Das passte ja wieder prima!

Jenny bemühte sich um ihr im beruflichen Alltag erprobtes Was-kann-ich-für-Sie-tun-Lächeln. Da fragte eine männliche Stimme: »Ist der Platz im Schlaraffenland neben Ihnen noch frei?«

»Wenn Sie keine Angst davor haben, dass Pumuckl Ihnen einen Streich spielt. Schließlich handelt es sich um einen Ko-bold«, warnte sie.

»Ich werde auf der Hut sein«, versicherte der vorlaute Pas-sagier. Dann zeigte er mit einem fragenden Blick auf die Ka-raffe mit Rotwein. Jenny nickte. Er schenkte ihr Wein ein und

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begann das Gespräch mit der Standardfrage: »Sind Sie schon länger an Bord?«

»Nein, heute angekommen.«»Mit dem MAJA-Flieger?«»Nein, mit dem A380. Ein Riesenflugzeug. Es war ein phäno-

menales Erlebnis!«»Ich auch, ich musste lange auf mein Gepäck warten und bin

gerade noch rechtzeitig vor dem Ablegen an Bord gewesen«, sagte der Passagier mit den lachenden Augen.

»Das kenne ich«, mischte sich Silberlöckchen in diebeginnende und sofort wieder endende Unterhaltung ein,

denn von nun an erzählte das Ehepaar von seinen bisherigen Kreuzfahrten. Vier seit Beginn der Pensionierung. Da hatte man schon so viel erlebt. Jenny und ihr Tischnachbar hörten höflich zu.

»Haben Sie schon Ausflüge gebucht?«, fragte Silberlöck-chen. Beide verneinten.

»Die Ausflüge sind sehr schön«, versicherte die erfahrene Kreuzfahrerin. »Aber in manchen Häfen kann man sich gut ein Taxi nehmen und seine eigene Route planen.«

»Oder ein Auto mieten«, ergänzte ihr Mann.»Oooh ja, wie damals in Malaga, als wir uns gefragt haben,

warum Gibraltar noch nicht ausgeschildert ist, obwohl wir schon neunzig Kilometer gefahren waren«, sagte Silberlöck-chen.

»Es waren achtzig«, verbesserte der Senior.»Du musst es immer so genau nehmen. Auf jeden Fall bist

du so schnell gefahren, dass ich die Schilder nicht lesen und mit der Karte vergleichen konnte.«

»Ich fahre nicht zu schnell«, protestierte der Mann.»Ich weiß, Liebling«, sagte seine Frau und puffte ihn leicht

mit der Faust in die Seite.Jenny musste lächeln. Da bemerkte sie, dass ihr Tischnach-

bar sie beobachtete. Verlegen beschäftigte sie sich damit, die letzten Maiskörner mit ihrer Gabel vom Teller zu picken.

Silberlöckchen nahm den Faden wieder auf: »Wir haben uns so verfahren, dass wir drei Stunden später als geplant in Gib-raltar ankamen.«

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»Schatz, du weißt doch, dem Glücklichen schlägt keine Stun-de«, sagte der Mann mit einem Augenzwinkern, schenkte sei-ner Frau Wein nach und prostete ihr zu.

»Aber das versprochene Foto von uns und den Berberäff-chen auf dem Felsen von Gibraltar konnten wir den Kindern simsen. Wir haben nämlich drei Enkelkinder.« Damit gab Sil-berlöckchen ihren Erzählungen eine neue Wendung. Jenny tauschte mit ihrem ebenfalls aufmerksam zuhörenden Tisch-nachbarn vielsagende Blicke.

Er deutete ihre Mimik richtig, denn er fragte spontan: »Ha-ben Sie die wirklich sehr gute Auswahl an Käsesorten ent-deckt?«

»Nein, aber ein Stück Camembert zum Abschluss würde mich reizen«, erklärte Jenny glaubwürdig. Wie auf Komman-do schoben sie gleichzeitig ihre Stühle zurück, nickten dem älteren Ehepaar freundlich zu und gingen gemeinsam zur Kä-setheke.

»Das sind zwanzig Sorten«, stellte Jenny bewundernd fest.»Es sind achtzehn«, verbesserte ihr Begleiter im Tonfall des

älteren Herrn.»Sie nehmen es aber auch sehr genau«, konterte Jenny in

der Stimmlage von Silberlöckchen und versicherte: »Außer-dem schaffe ich in Wirklichkeit kein Stück Käse mehr. Ich gehe zum Dessertbüffet.«

Das Eis war sehr begehrt. Jenny musste einen Moment war-ten, bis ihr der Eislöffel zur Verfügung stand. Dann nahm sie sich vier Kugeln.

»Sagten Sie nicht, dass Sie satt sind?«, fragte der Käseliebha-ber mit ernster Miene.

»Eis schmeckt immer«, verteidigte sich Jenny und dachte, irgendwie schaffte es dieser Mann, seriös zu wirken und den-noch mit den Augen strahlende Funken zu versprühen.

Als beide wieder am Tisch Platz genommen hatten, beugte sich Silberlöckchen vor, um Jennys Bordkarte zu studieren.

»Kabine Nummer 4466, also Deck 4.«»Welche Nummer?«, fragte spontan Jennys Tischnachbar. Es

klang, als wunderte er sich, dass es auf Deck 4 auch Passagier-kabinen gab.

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»Das ist ziemlich weit hinten. Na, hoffentlich werden Sie nicht seekrank. In der Nähe von Bug und Heck merkt man bei Seegang das Schaukeln am meisten«, warnte die mehrfache Kreuzfahrerin.

»Ich habe Kautabletten gegen Übelkeit eingesteckt. Die ha-ben mir bei der Kutterfahrt auf der Nordsee geholfen«, versi-cherte Jenny.

»Innen- oder Außenkabine?«, wollte Silberlöckchen wissen.»Innenkabine«, antwortete Jenny.»Aha, das sind die billigsten.« Eindeutig kein Kompliment.»Und Sie sind auf Deck 8«, erkannte die wissbegierige Frau

mit einem Blick auf die ebenfalls um den Hals baumelnde Bordkarte ihres jüngeren Mitpassagiers.

»Außenkabine«, kam er ihrer Frage zuvor.»Mit oder ohne Balkon?«»Mit.«»Das ist gut, denn wenn man einen Balkon hat, dann …« Es

folgte eine ausführliche Beschreibung ihrer bisherigen Bal-konkabinen und deren Vorzüge. Irgendwann verabschiedete sich das Ehepaar mit den Worten: »Passen Sie bei Ausflügen gut auf Ihre Bordkarte auf. Die ist im Notfall mehr wert als der Personalausweis.«

In welchem Notfall?, fragte sich Jenny. Nachdenklich kratzte sie die letzten Spuren ihres Desserts vom Teller.

»Ich hole Ihnen gern noch ein paar Kugeln von dem lecke-ren Eis«, schlug der Passagier von Deck 8 vor.

»Wenn Sie riskieren wollen, dass ich platze«, reagierte Jen-ny lachend.

»In diesem Punkt bin ich genauso gefährdet wie Sie«, versi-cherte er. »Aber vielleicht sollten wir das lieber oben an Deck tun.«

»Wenn man eine Innenkabine hat, muss man versuchen, sie soweit es geht zu meiden, und sich möglichst oft an Deck aufhalten.« Gekonnt ahmte Jenny die leicht affektierte Stimme von Silberlöckchen nach.

»Dann ist die Ocean Bar bestimmt das Richtige für eine luft-hungrige Innenkabinenbesitzerin.«

»Ich heiße Jenny. Das ist kürzer als Innenkabinenbesitzerin.«

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»Gestatten, Bastian, das klingt auch besser als Außenkabi-nenbesitzer.«

»Mit Balkon.«»Mit Balkon, ohne würde ich überhaupt keine Kreuzfahrt

machen.« Bastian hatte die Äußerungen des Ehepaars auch gut drauf.

***

Jenny und Bastian suchten sich einen Platz an einem Tisch direkt an der Reling, etwas entfernt von den anderen Passa-gieren. Bastian bestellte zweimal den Cocktail des Tages, den »Big Wave«, der als »verführerisch blaue Welle mit Ananas und Mandel« beschrieben wurde.

Der Barkeeper brachte die mit einem Ananasstückchen ver-zierten Gläser. Bastian hob sein Glas. »Auf dein Wohl, Jenny.«

»Zum Wohl, Bastian.«Jenny steckte sich das Stück Ananas in den Mund, probierte

den Cocktail und sagte: »Danke, schmeckt gut.« Gedanken-verloren verfolgte sie mit den Augen die lange von den Bord-lampen angestrahlte Welle am Heck des Schiffes, deren Ende (oder Anfang?) im dunklen Meer nicht mehr zu sehen war.

»Warst du schon oft auf einem Schiff?«, fragte Bastian.»Nicht auf so einem großen, nur auf einem Krabbenkutter

und auf Fähren in der Nordsee von Emden nach Borkum und von Norddeich nach Juist.«

»Und was gefällt dir besser?«Jenny überlegte. Bastian unterbrach ihre Gedanken nicht.

Nur das leise Schlagen der Wellen und die Stimmen der ande-ren Passagiere waren zu hören.

»Das ist nicht leicht zu beantworten«, sagte Jenny, atmete tief durch und wiederholte die Erkenntnis von Silberlöck-chen: »Ob einem ein Schiff gefällt oder nicht, das kommt auf die Passagiere an, mit denen man es zu tun hat.«

»Und gefallen dir die Passagiere?« Bastian legte seine Hand auf ihre und sah sie fragend an.

»Manche sind einem näher als andere.«»Das sagst du aber schön durch die Blume«, stellte er fest.

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Dabei spürte Jenny einen leichten Druck seiner Hand. Einen Augenblick genoss sie diese Berührung. Dann zog sie ihre Hand unter seiner hervor, bildete mit allen zehn Fingern eine Rose, die sich langsam öffnete, schaute hindurch und sagte: »Man kann Redewendungen wunderbar mimisch darstellen, zum Beispiel Silberlöckchens Bemerkung: ,Unsere Enkelkin-der halten uns auf Trab. Flöhe hüten ist leichter‘.« Jenny ließ ihre Zeigefinger abwechselnd tanzen und verfolgte mit den Augen scheinbar fasziniert die Sprünge eines unsichtbaren Flohs von Hand zu Hand.

»Du kullerst so mit deinen blauen Augen, dass man sieht, wie der Floh in der Luft einen Purzelbaum schlägt«, stellte Bastian fest. Immer mehr Redewendungen fielen ihm ein, die Jenny mit Begeisterung spontan darstellte.

Später, als sie sich eine gute Nacht wünschten, fragte Bastian: »Von wem hast du dein schauspielerisches Talent?«

Jenny antwortete lachend: »Erzähl ich ein anderes Mal. Je-denfalls habe ich lange nicht mehr so viel Spaß gehabt wie heute Abend.«

»Ich auch nicht«, sagte Bastian und wollte sich mit einem Kuss von Jenny verabschieden. Doch Jenny entwischte und sprang die Treppen hinunter zu ihrer Kabine.

Als sie gegen Mitternacht bester Stimmung das Shirt, den BH und ihren Slip durchwusch und alles in der Dusche zum Trocknen aufhängte, fragte sie sich, warum sie den ganzen Abend ihre eigene Garderobe nicht vermisst hatte. War es, weil der Empfangschef sie freundlich begrüßt hatte, ohne sich über ihr Aussehen zu wundern? Sie hätte eigentlich auffallen müssen mit ihren wilden Haaren und dem ungewöhnlichen Outfit. Oder war es, weil niemand die Augenbrauen hochzog und bei ihrem Anblick tuschelte? Hatte sie sich ungezwungen benommen, gerade weil sie so angezogen war? Zu Hause war es ihr wichtig, passend gekleidet und perfekt geschminkt zu sein. Es tat ihr gut, wenn Alexander ihr morgens, wenn sie die Boutique betrat, zuflüsterte: »Du siehst wieder stark aus.«

Überhaupt. Alexander. Sie hatte seit Stunden nicht mehr

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an ihn gedacht. Jenny öffnete ihr Handy. Er hatte nicht ge-schrieben. Sie stellte ihn sich beim Lesen ihrer SMS vor. Wahrscheinlich hatte er bei der Erwähnung von Singapur den Kopf geschüttelt und ihre Nachricht nicht ernst genom-men. Und selbst wenn. Hätte ein Mann, der sie liebte, nicht irgendwie reagiert? Erstaunt, wütend, ironisch, wie auch im-mer. Aber Alexander hatte offensichtlich nicht das Bedürfnis zu antworten.

Ihr Handy klingelte.»Alexander?«»Hallo Jennifer. Wann kommst du?«»Überhaupt nicht. Hast du denn meine SMS nicht erhalten?«»Die mit Singapur? Natürlich. Ich habe verstanden, dass du

vorhast, morgen direkt in Hamburg einzufliegen. Ich wollte dir nur sagen, wir fahren schon früh an die Elbe, damit wir noch etwas von der Stadt haben, bevor wir ins Musical gehen.«

»Ich komme nicht nach Greetsiel.«»Du kannst ruhig direkt nach Hamburg kommen. Wir wollen

um neunzehn Uhr an den Landungsbrücken sein, um rechtzei-tig mit dem Boot zum Stage Theater überzusetzen. Der ‚König der Löwen‘ beginnt um zwanzig Uhr.«

»Alexander, du verstehst nicht. Ich komme überhaupt nicht«, wiederholte Jenny und setzte sich auf die Bettkante.

»Wie? Ich habe die Eintrittskarte noch. Willst du dir das Mu-sical entgehen lassen – aus lauter Bockigkeit?«

»Ich bin nicht bockig! Ich bin auf einem Kreuzfahrtschiff auf dem Südchinesischen Meer.«

»Jennifer, du machst mir was vor. Du bist nicht wirklich da unten hingeflogen!«

»Doch, bin ich.«Er reagierte nicht, aber er war noch am Apparat. Sie hörte

seinen Atem. Es war unheimlich still in der Kabine. Nahm sie die Motorengeräusche nicht wahr oder glitt das Schiff wirk-lich lautlos durchs Wasser? Sie zog ihre Knie an und kauerte wie ein Häschen auf ihrem Bett.

Dann sagte er: »Allein? Das passt nicht zu dir.«Wenn er jetzt vermutete, dass sie mit einem heimlichen Ge-

liebten hier war, dann, dann, ja, was dann? Jenny richtete sich

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auf. Sie spürte, wie sich ihr Körper anspannte, als wäre das Häschen bereit zum Sprung.

»Natürlich allein. Wenn du mit mir auf eine Reise gegangen wärst oder wir zusammenwohnen würden, dann wüsstest du, was zu mir passt. Ich genieße die Sonne an Bord des Schiffes mitten auf dem Meer.«

Jenny hörte Gemurmel im Hintergrund und dann wieder Alexanders Stimme: »Saskia hat gerufen. Wir wollen zum Abendessen zu Hein gehen. Du wirst fehlen. Deine Karte für morgen lassen wir verfallen oder verkaufen sie weiter.«

»Tut das. Ich wünsche euch einen schönen Tag in Hamburg. Und grüß alle.« Hatte er das jetzt noch gehört oder vorher auf-gelegt?

Mechanisch zog sie sich aus, ging in ihr kleines Badezim-mer und schminkte sich ab. »Du wirst fehlen«, hatte er gesagt. Meinte er, dass sie ihm fehlen würde oder der Clique?

Von wegen »du kannst nicht alleine verreisen.« Sie würde es ihm zeigen!

Dann griff sie nach der weichen Schlafanzugjacke des un-bekannten Mannes, zog sie an und krempelte die Ärmel hoch - nur die Jacke, die Hose war viel zu groß. Gut, dass Alexander sie so nicht sehen konnte. Sie bewegte sich vor dem Spiegel im Kreis, als wäre sie ein Model, das am Ende des Laufstegs mit einem Schwung die Richtung wechselte.

Was für ein Tag!

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