Identität im afrikanischen Film

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Identität im afrikanischen Film 1 Zur Diversifizierung von Repräsentationstrategien * * * * * Malte Knipping

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Zur Diversifizierung von Repräsentationsstrategien

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Page 1: Identität im afrikanischen Film

Identitätim afrikanischen Film

1

Zur Diversifizierung von Repräsentationstrategien

*****Malte Knipping

Page 2: Identität im afrikanischen Film

Cover-Foto: Julien Potron

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2

Malte Knipping, Identität im afrikansichen Film - Zur Diversifizierung von Repräsentationsstrategien, Berlin, 2010

Page 3: Identität im afrikanischen Film

3

Einleitung................................................................................ 4

1. Die Diversifizierung des afrikanischen Films..................... 6

2. Zur Vielfalt des „neuen afrikanischen Films“.................... 12

3. Argumente für den „Dorffilm“............................................ 32

Fazit......................................................................................... 41

Literaturverzeichnis................................................................ 44

Page 4: Identität im afrikanischen Film

Einleitung

In einschlägigen Darstellungen zur Geschichte des

unabhängigen afrikanischen Films wird die Repräsentation einer

freien unabhängigen Identität Afrikas als zentraler

Ausgangspunkt für das kreative Schaffen afrikanischer

Filmemacher beschrieben. Das Streben danach hat nachweislich

zu einer immer weiter zunehmenden Vielfalt von Filmsprachen,

Stilen, Genres, sprich: Strategien geführt, um dieses Ziel zu

erreichen.

Zwei jüngere Betrachtungen zu diesem Thema stehen im

Mittelpunkt dieser Arbeit. Zum einen hat Melissa Thackway im

Jahre 2003 den Prozess dieser Diversifizierung unter dem

Gesichtspunkt der Repräsentation von Identität reflektiert. Zum

anderen findet sich eine Analyse von Manthia Diawara von 2010

über die Beschaffenheit des Gegenwartsfilms in Afrika unter

dem selben Gesichtspunkt.

Während Thackway eine Vielfalt gewachsener Traditionen

verschiedener Film‘schulen‘ sieht, die heute nebeneinander

existieren, betrachtet Diawara die gegenwärtige Vielfalt als das

Phänomen eines neuen afrikanischen Films, der sich in der

afrikanischen Filmgeschichte als eine neue Entwicklungsstufe

abhebt. Jenen zum Teil höchst unterschiedlichen Stilen der

Gegenwart liegt demnach ein hybrides Konzept zugrunde,

welches sie von älteren Stilen wie dem Sozial-Realismus oder

den Back-to-Source-Filmen unterscheidet. Im Gegensatz zu 4

Page 5: Identität im afrikanischen Film

Thackway betrachtet Diawara dabei nicht nur Filme von Bekolo

oder Bakupa-Kanyinda als Vertreter eines solchen hybriden

Stils, sondern auch Filme, die recht eindeutig zunächst das

Genre des Dorffilms bedienen, welche gemeinhin im Ruf stehen,

(vor-)koloniale, stereotype Selbstbilder zu zementieren. Dies

sind Filme, gegen die sich Filmemacher wie Bakupa-Kanyinda

mit ihren hybriden Filmen aber gerade abzugrenzen bemühen.

So stellt sich die Frage, ob sich die Vielfalt des gegenwärtigen

Films wirklich auf eine gemeinsames Prinzip zurückführen lässt

und es sich entsprechend um eine neue Entwicklung handelt, die

dem Ziel der Repräsentation unabhängiger afrikanischer

Identität näher kommt als Generationen zuvor oder ob es sich

nicht doch um eine Vielfalt wirklich divergenter Stile und

Identitätskonzepte handelt, die unterschiedlichen filmischen

Traditionen entstammen und darüber hinaus auch noch den

afrikanischen Gegenwartsfilm auf sehr unterschiedliche Weise

in dem genannten zentralen Aspekt des afrikanischen Kinos

bereichern können.

Wie also ist die Vielfalt des afrikanischen Gegenwartsfilms

beschaffen? Die Ausführungen münden in eine Bewertung der

Relevanz von Genres wie dem Dorffilm, wenn diese sich

entgegen Diawaras Analyse nicht als hybride Filme ausweisen

lassen.

5

Page 6: Identität im afrikanischen Film

1. Die Diversifizierung des afrikanischen Films

Diawara gibt in seinen Buch1, welches anlässlich eines

Filmfestivals2 in Berlin erschienen ist, einen Überblick über

verschiedene Kategorien des afrikanischen Gegenwartsfilms, die

er zugleich als Vertreter einer neuen Welle in der Entwicklung

des afrikanischen Films betrachtet. Diese vielfältigen Stile

verbinde ein sie alle leitendes Prinzip. „Was unser Programm

entwirft, ist die Vision eines ,neuen afrikanischen Films‘, der

sich selbst nicht mehr in den binären Gegensätzen von Afrika

und Europa begreift, sondern frei von alten Komplexen erzählt

und einen universellen Anspruch hat, insofern er an den

Diskursen anderer Länder partizipiert - und dennoch eine

afrikanische Perspektive einnimmt. So etwas gab es bisher nicht.

Denn auch Ousmane Sembène ist nicht bis zu diesem Punkt in

seiner Kunst vorgedrungen, ...“3 Einer kritischen Betrachtung

dieser These Diawaras zum ,neuen afrikanischen Film‘ soll hier

zunächst ein alternativer Blick von Melissa Thackway4 auf die

gegenwärtige Vielfalt von Stilen und Genres des afrikanischen

Film vorangestellt werden. Thackway betont ebenfalls die

wachsende Vielfalt im afrikanischen Film bis zur Gegenwart.

Auch bei ihr findet eine jüngere Entwicklung Erwähnung, die

durch ein hybrides Selbstverständnis geprägt ist. Allerdings

identifiziert Thackway die Grundsätze dieser Bewegung nicht

mit dem ganzen Spektrum des afrikanischen Gegenwartsfilms,

6

Page 7: Identität im afrikanischen Film

sondern betrachtet diese Bewegung lediglich als Teil der

gegenwärtigen Vielfalt.

Repräsentation afrikanischer Identität

Laut Thackway habe sich solch ein Wandel hin zur Vielfalt von

Stilen und Genres bereits in den 70iger Jahren vollzogen. Doch

im Gegensatz zur einsetzenden formalen Diversifizierung sei ein

für den afrikanischen Film zentraler Aspekt seit den Anfängen

bis zur Gegenwart erhalten geblieben: gegenüber den

(Neo-)Kolonialmächten eine unabhängige Identität mittels des

Mediums Film zu artikulieren. „As Francophone African

filmmakers have ,come to voice‘ and reclaimed control of their

own images and art forms, they have seized the opportunity to

provide alternative representations of their disfigured selves.

Film has become a means of constituting and interrogating the

diverse and multiple identities by which people define

themselves and their realities.“5 Weiter heißt es: „As discussions

with the directors themselves reveal, the questions of

representation, identity and voice constitute central

preoccupations in their work, providing constants in an

otherwise heterogeneous cinematic landscape.“6

Verschiedene noch gegenwärtige Filmstile

So habe zunächst der Sozial-Realismus von Ousmane Sembène

einen Trend gesetzt, der die afrikanische Filmlandschaft bis in

die 70iger dominierte, doch auch im Zuge der Diversifizierung

weiter bis in die Gegenwart hinein wirkt. „This social realist 7

Page 8: Identität im afrikanischen Film

style, which is sometimes referred as the Sembènian school after

its earliest practitioner, can still also be identified in a number of

contemporary films“7 Dazu gehörten unter anderem Clarence

Delgados Niiwam, 1991, Mahamat Saleh Harouns Maral Tanié,

1994 oder auch Issa Serge Coelos Daresalam, 2000.

In den 70igern seien dann experimentelle Stile hinzugekommen,

wie die sehr politischen Filme eines Med Hondo oder jene Filme

von Djibril Diop Mambety, die Thackway als ,formally

experimental, highly symbolic and at times surreal‘ beschreibt.

Wie Diawara, so beschreibt auch Thackway Mambety als

starken Einfluss für spätere Filmemacher wie Jean-Pierre

Bekolo, welchen Diawara als einen wesentlichen Vertreter

des ,neuen afrikansichen Films‘ sieht. Mambetys Stil bezeichnet

Thackway bereits als ,hybrid intertextual collage‘ 8 , eine

Mischung aus urbanen und traditionell senegalesischen

Einflüssen.

Tradition eines Genres: Dorffilm

Von besonderem Interesse ist darüber hinaus hier noch eine

Entwicklung, die Thackway zufolge in den späten 70igern

einsetzte. Es handele sich dabei um Filme, die sich im

Gegensatz zu den bisher genannten Formen im besonderen mit

der Vergangenheit Afrikas auseinander setzten. Thackway

beschreibt sie als Filme, die Lösungen für die Gegenwart und

Zukunft suchen, indem sie die Vergangenheit reflektieren. Die

Filme nähmen thematisch vorkoloniale Traditionen in den Blick, 8

Page 9: Identität im afrikanischen Film

ohne sie im Namen der Modernität systematisch zu verdammen.

Hierin unterschieden sie sich von einem sozialistischen

Realismus eines Sembène, darüber hinaus aber auch von dessen

didaktischem Anspruch, welchen Sembène, interessanterweise,

wiederum dem klassischen afrikanischen Verständnis vom

Künstler-sein entliehen habe. Filme von Ouedraogo, Cissé oder

Sissoko seien aber keinesfalls entsprechend unpolitisch, wie

ihnen oft vorgeworfen werde. Sie seien tatsächlich in ihrem

po l i t i s chen An l i egen a l l ego r i s che r, sub t i l e r und

bedeutungsoffener, wohingegen ihnen immer wieder unterstellt

werde, mit ihren Bildern vom traditionellen Afrika lediglich die

westlichen Bedürfnisse nach einem exotistischen Afrika-

Klischee zu befriedigen.9

Nachdem der Euphorie der ersten Jahre afrikanischer

Unabhängigkeit die Ernüchterung über Fortschritte eines

modernen Afrikas gefolgt sei, habe sich eben auch der Blick für

komplexere Analysen der afrikanischen Situation geweitet.

Thackway bezeichnet die Dorffilme auch als Back-to-Source-

Filme und betont: „...its stylistic influences also remain strong

today, as can seen in recent films such as Dai Kouyaté‘s Keita!

L‘Heritage du Griot (Burkina Faso, 1995) and Sia, le rêve du

python (Burkina Faso, 2001) Cheick Oumar Sissoko‘s Guimba

(Mali, 1995), and Adama Drabo‘s Taafe Fanga (Mali,

1997), ...“10

9

Page 10: Identität im afrikanischen Film

Hybrider Stil // Hybrides Genre

Schließlich habe sich die Diversifizierung in den 90igern weiter

fortgesetzt, womit wir bei jenen Filmen angekommen sind, die

als unangefochtene Vertreter in Diawara Beschreibung der

neuen Welle betrachtet werden können. Verschiedene Stile

wären gemischt worden. „Many filmmakers have increasingly

experimented with styles and forms, making it impossible to

class their work in a single category.“11 Die Filme reflektieren

Thackway zufolge stilistisch wie inhaltlich kulturelle Synthesen

urbaner Zentren in Afrika, in denen afrikanische und

internationale kulturelle Werte gleichermaßen beständen. Sie

verweist auf Bekolos Quartier Mozart, in dem urbane

Jugendkultur mit traditionellem übernatürlichem Glauben in

einer schnellen, hybriden Form verwoben würde. Entsprechend

würde afrikanisches Leben hier als eine hybride, internationale

Kultur dargestellt, in der das Moderne mit dem Traditionellen

koexistiere. Damit bildet diese hybride Art Film aber auch einen

Gegenentwurf zum Dorffilm, der sich allein mit der

traditionellen Lebensweise der Afrikaner auseinandersetzt.

„These and other recent urban films […], all tend to develop

their different characters‘ multiple stories in a fragmented style

that reflects the chaotic pace of life in African urban centres.“12

Die Repräsentation einer zeitgenössischen afrikanischen

Identität, so betonen Diawara wie Thackway, sei nach wie vor 10

Page 11: Identität im afrikanischen Film

ein wesentliches Anliegen afrikanischer Filme. Die

Gemeinsamkeiten in der vielfältig gewordenen afrikanischen

Filmlandschaft gehen Thackway zufolge über diesen Aspekt

aber nicht hinaus: „However, the communalities and shared

preoccupations in the work of these filmmakers who come from

highly divergent backgrounds and cultural spheres, can never be

placed above their pronounced diversities and individual

creative agendas.“13

11

Page 12: Identität im afrikanischen Film

2. Zur Vielfalt des ,neuen afrikanischen Films‘

Demgegenüber betrachtet Diawara die gegenwärtige Vielfalt

von Stilen und Genres als Ausdruck der Fortentwicklung des

afrikanischen Films hin zu einem, in dem die Repräsentation

von Identität nun in hybrider14 Weise die ,Dichotomie von Afrika

und Europa überwinde‘. Ihnen sei eine radikalere an Frantz

Fanon geschulte postkoloniale Kritik zu eigen, während sich

Sembène aber auch Souleymane Cissé eher auf eine anti-

neokoloniale Kritik beschränkten. „Wichtig scheint mir, diese

Kr i t ik am Neoko lon ia l i smus von de r Kr i t ik des

Postkolonialismus zu unterscheiden.“15 Der Unterschied sei

wohl darin zu sehen, dass die Generation Sembènes in ihrem

Bemühen um eine durch Abgrenzung vom „Westen“

unabhängige Identitätskonstruktion Afrikas die binären

Gegensätze zwischen dem modernen Europa und dem

traditionellen Afrika und die damit verbundenen Stereotypen

von Afrika letztlich stabilisierten. Der ,neue afrikanische Film‘

hingegen würde sich nicht aus dem Widerstand gegenüber dem

Westen definieren.16

Interessant ist nun Diawaras Systematisierung dieses neuen

Films. Es gebe drei wesentlich zu nennende Gruppen: den Arte-

Film, Filme der ,Gilde‘17 sowie das Erzählkino, welches

Diawara auch als Populärkino kennzeichnet. Interessant ist dies,

weil die Beispiele, die Diawara anführt, in zwei der drei

12

Page 13: Identität im afrikanischen Film

Kategorien Filme sind, denen man schon auf den ersten Blick

schwerlich eine hybride Beschaffenheit attestieren mag.

Vielmehr mag man sie als Dorffilme einordnen, welche von

ihren Kritikern abwertend auch als ,Kalebassenkino‘ bezeichnet

werden. Im Folgenden werden diese drei Kategorien und

Diawaras Beispiele einer genaueren Betrachtung unterzogen. Es

wird deutlich werden, warum Diawaras Systematisierung des

afrikanischen Gegenwartsfilms nicht haltbar ist, um an- und

abschließend darzustellen, warum aber gerade deshalb all seine

Beispiele berechtigte Vertreter eines afrikanischen

Gegenwartsfilms sind.

Zur Gruppe der Gilde zählen Filmemacher wie Jean-Pierre

Bekolo oder Balufu Bakupa-Kanyinda. Die Gilde ist eine

Bewegung junger afrikanischer Filmemacher in Paris (!).

„Zweck der Bewegung ist es, den Film Afrikas und der

afrikanischen Diaspora um neue politische und ästhetische

Inhalte zu bereichern. Die Mitwirkenden haben sich von

Féderation Panafricaine des Cinéastes (FEPACI) losgesagt, weil

sie ihnen veraltet und ineffizient erschien. Nicht zuletzt soll die

Gilde Interessen von Filmemachern aus Afrika und afrikansicher

Herkunft in Europa besser vertreten.“18 Hier zeigt sich in der

Programmatik also nochmals deutlich das Interesse dieser

Filmemacher, sich dem „Westen“ zu öffnen und zugleich die

eigenen Interessen zu wahren. Aus der Verknüpfung der Öffnung

Afrikas zur Welt und der damit verknüpften Überwindung 13

Page 14: Identität im afrikanischen Film

ausgrenzender und abwertender Stereotypien Afrikas mit dem

Wunsch der Filmemacher, neue politische und ästhetische

Inhalte zu produzieren und sich zugleich von der alten

panafrikanischen Interessenvertretung, der FEPACI,

abzugrenzen, erwächst gemäß Diawara wesentlich neuen

afrikanischen Films insgesamt, der sich damit auch von älteren

Generationen abgrenzen lässt. Diawara stellt anhand der Filme

von Bekolo und Bakupa-Kanyinda ein Prinzip dieser neuen

Ästhetik dar. Bei diesen Filmemachern handelt es sich eben um

jene, welchen bereits Thackway einen hybriden, urbanistischen

Stil attestiert. Betrachtet man nun Diawaras plausible

Ausführungen zu dieser Filmkategorie, kann man daraus

Kriterien für die Hybridität von Filmen entnehmen, welche die

weiteren von Diawara genannten Kategorien des hybriden Films

jedoch fragwürdig erscheinen lassen.

Kriterium 1: Das neue Dritte eines hybriden Films

Gemäß Diawara kann man den neuen afrikanischen Film auch

als eine Reaktion auf ein afrikanisches Kino verstehen, welches

er als Weltkino bezeichnet. Solche Filme kämen in Europa gut

an, weil sie einer linksliberal eingestellten Kulturszene

entsprächen. Diawara selbst sieht sich als einen Vertreter dieser

Zielgruppe, die sich ein zeitgenössisches, globales

Kunstverständnis angeeignet habe. Aufgrund der hohen Kosten

von Filmproduktionen und der damit einhergehenden

14

Page 15: Identität im afrikanischen Film

finanziellen Abhängigkeit afrikanischer Filmemacher vom

„Westen“ entstehe ein Druck, sich dieser ,Sicht auf die

Gegenwart‘ anzuschließen. „Insofern sie dem nachkommen,

machen sie eben ein Weltkino. Dessen Kehrseite ist, wie gesagt,

die Entfremdung vom afrikanischen Kinopublikum.“19 Denn

diese könnten sich in solchen Filmen nicht wiedererkennen. Das

Weltkino ist also als ein solches zu verstehen, dass bereits an

einen globalen Kunstmarkt partizipiert, dabei allerdings auch

dessen stereotype Fremdbilder und Vorstellungen über Afrika

bedienen muss. Die eigene Stimme der Afrikaner bleibe dabei

auf der Strecke. Filmemacher der Gilde bemühten sich nun,

dieses Weltkino zu überwinden, ohne dabei hinter dessen

Offenheit zurückzufallen. Dies ist ein ausgesprochen wichtiger

Aspekt zum Verständnis der hybriden Filme. Ihnen geht es

darum, eine afrikanische Identität zu formulieren, die sich weder

aus einer essentialistischen Abgrenzung vom „Westen“, also

einem Rückzug in vorkoloniale afrikanische Traditionen, noch

aus einer Assimilation westlich-moderner Kultur zu definieren

versucht. Will man den hybriden Stil im afrikanischen Kino

identifizieren, ist es also dringlich, ihn von solchen Filmen zu

unterscheiden, die sich ebenfalls der westlichen Kultur öffnen

und durch die Aufnahme fremder Elemente jedoch eine eigene

unabhängige Stimme (bzw. Sprache) zu verlieren scheinen.

Filmemacher wie Bekolo oder Bakupa-Kanyinda scheinen

diesen Anspruch gerecht zu werden, indem sie in ihren Filmen 15

Page 16: Identität im afrikanischen Film

„westliche“ und afrikanische Elemente miteinander zu etwas

neuem Drittem verschmelzen. Dies gelingt ihnen, indem sie das

zu integrierende Fremde dekonstruieren und dadurch

(an-)verwandeln. Hier zeigt sich die Distanz zu Filmen des so

genannten Weltkinos, welche Diawara deutlich heraus stellt. Auf

der Ebene der filmischen Grammatik gilt ein kreativer Umgang

mit den aufgenommenen Elementen. „Bekolos bevorzugte

Filmsprache ist die Dekonstruktion konventioneller

Dramaturgien des Geschichtenerzählens. [...] Das Unterhaltsame

an den Werken von Bekolo sind nicht die Geschichten, die sie

erzählen, sondern die politischen Unterbrechungen ihrer

Erzählweise“20 wie beispielsweise bei der Dekonstruktion der

aristotelischen Dramaturgie. „Das Beispiel von Bekolos Le

complot d‘Aristide und seinen anderen Filmen zeigt: Die

Filmemacher der neuen afrikanischen Welle erlangen ihre

Eigenschaften nicht dadurch, dass sie die Machart der

Hollywood-Plots kopieren oder auf den Primitivismus des

afrikanischen Kalebassenkinos zurückgreifen. Bekolo

improvisiert neue und alte Stile. [...].“21 Und: „Für Bakupa-

Kanyinda führt die Wiedergewinnung eines authentischen

Afrika-Bildes nur über den Weg einer Dekonstruktion der

westlichen Afrika-Ikonografie. Er weiß, dass ein afrikanischer

Filmemacher Hollywood nicht einfach ignorieren und sich bei

der Arbeit am Film nur auf die eigenen Traditionen verlassen

kann. Denn dann ist die Gefahr groß, dass er nur die aus dem 16

Page 17: Identität im afrikanischen Film

Westen stammenden und mittlerweile von Afrikanern selbst

verinnerlichten Afrika-Klischees wiederholt.“22

Kriterium 2: Gesamtheit des Films in Form und Inhalt

Filmemachern wie Bekolo geht es aber dezidiert nicht nur

darum, eine hybride Filmsprache zu entwickeln. Vielmehr ist sie

nur konsequenter Ausdruck einer eigenen hybriden

Lebensweise; Konsequenz ,seiner Geschichte, die nur er

erzählen könne‘23 und selbst erzählen will. Summa summarum

geht es also um den Film insgesamt als Möglichkeit, (hier:

diasporische afrikanische) Identität zu repräsentieren. Es geht

nicht allein um das Medium, sondern auch um die Mitteilung.

„Es gibt also einen Imperativ der Dekonstruktion und der

Dokumentation, dem afrikanische Filmemacher gerecht werden

müssen.“24 Die Dekonstruktion auf der formalen Ebene ignoriert

nicht die Wichtigkeit der Bedeutungsebene der Filme. Eine

solches Zusammenwirken scheint das entscheidende Kriterium

für die Identifizierung der Hybridität von afrikanischen Filmen

in Bezug auf ihre Funktion zu sein, afrikanische Identität zu

repräsentieren: Filme nicht nur auf der Ebene der Filmsprache

zu untersuchen, sondern zu reflektieren, was die Form erzählt

bzw. bewirkt.

Unter diesen beiden Prämissen soll nun ein Blick auf die

anderen von Diawara vorgeschlagenen Kategorien des hybriden

Stils geworfen werden.

17

Page 18: Identität im afrikanischen Film

Eine non-hybride Arte-Welle: ,La vie sur terre‘

Diawara stellt drei Filme von Abderrahmane Sissako vor, den er

als Galionsfigur der Arte-Welle25 betrachtet. Bamako (2006), das

dritte Beispiel entpuppt sich Diawara zufolge als für Sissako

ungewöhnlich experimenteller und politischer Film, dessen

besonderes Merkmal sein dekonstruktiver Stil sei. Dieser Film

wäre nun demnach besser in der Kategorie der Gilde-Filmer

einzuordnen, der Sissako Diawara zufolge tatsächlich auch

angehört. Seine früheren Filme, La vie sur terre von 1998 und

Heremakano von 2002, charakterisiert Diawara hingegen durch

deren poetische Filmsprache.

Auffällig bleibt Diawaras Abgrenzung Sissakos von Sembènes

Filmsprache, dessen Realismus dem Poetischen bei Sissako

gegenüber stehe, sowie das Prinzip der Identifikation in Sissakos

Filmen, welche ebenfalls ein besonderes Merkmal der neuen

Welle sei. Allerdings stellt Diawara an keiner Stelle einen

Zusammenhang her zwischen der poetischen Filmsprache und

wie die Filme Sissakos die binären Gegensätze zwischen Afrika

und Europa überwänden. Es wird bei Diawara nicht explizit

formuliert, worin die hybride Qualität einer solchen Bildsprache

zu sehen ist.

La vie sur terre dokumentiert in essayistischer Weise Sissakos

Besuch seines Vaters in dessen afrikanischen Heimatdorf. Die

Einstellungen des Films würden dabei ,noch jenseits der

Montage‘ wie Plansequenzen funktionieren und je eigene 18

Page 19: Identität im afrikanischen Film

Geschichten erzählen, die in loser Verbindung ein Portrait des

Dorflebens böten. Der Blick auf das Dorf sei ein nostalgischer.

Zugleich trete aber die Inszeniertheit dieses poetischen,

filmischen Zugangs durch den Aufbau der Szenen selbst explizit

zutage. Einen Kontrapunkt zu dieser nostalgischen Darstellung

des Dorflebens bildeten jene Szenen, die jenseits jeder

nostalgischen Ästhetisierung die Härte dieses Lebens im

afrikanischen Dorf zeigten, welches sich mühe, das 20.

Jahrhundert zu erreichen. „In meinen Augen ist La vie sur terre

gerade wegen solcher widersprüchlicher Bilder von der Heimat

des Autors so überzeugend. Manche Dinge sind darin

ästhetisiert, wie es nur der romantische Blick des lange

exilierten Heimkehrers vermag. An anderen Stellen überwiegt

der dokumentarische Impuls, die Dinge so zu zeigen, wie sie

sind.“26 Hier wird ein Widerspruch in Diawaras Darstellung

deutlich, der sich einerseits bemüht, den neuen poetischen Stil

von Sembènes Realismus deutlich abzugrenzen. Nun aber

entdeckt er gerade in der Kollision des Poetischen mit dem

Realistischen innerhalb des selben Films eine besondere

Qualität. Da Diawara sich hier nicht explizit ausdrückt, kann

man nur spekulieren, dass er mit der Abgrenzung von der

Filmsprache Sembènes als eine afrikanische, die poetische als

eine „westliche“ Form betrachtet. Der nostalgisch verklärte

Blick des Heimkehrers (oder eines uninformierten Besuchers)

konterkariert dann die Erfahrung der Härte des Alltags im 19

Page 20: Identität im afrikanischen Film

afrikanischen Dorf. Erinnert sei an dieser Stelle nochmals daran,

dass es Diawaras Hauptthese zufolge nicht einfach nur um

irgendwelche heterogenen Filmsprachen geht, die verschiedene

bestehende Genres oder Stile mischen, sondern um Hybridität in

einem postkolonialen Kontext, d.h. um die ,Überwindung von

Binaritäten zwischen Afrika und Europa‘, mithin die

Überwindung afrikanischer Stereotypen. Deshalb ist bei einer

kritischen Betrachtung seiner Ausführungen hier auf diesen

Aspekt besonders sorgfältig zu achten. Erinnert sei deshalb an

Filmemacher wie Mambety, Bekolo, etc., an Filme, die in

urbanen afrikanischen Lebensräumen angesiedelt sind, die

formal wie inhaltlich urbane Kultur wie Hip-Hop, Comicstrips

mit afrikanisch-traditionellen Elementen vermischen und in

einem kreativen Akt zu einer neuen Einheit verschweißen.

Daran gemessen: Welches Bild von Afrika spiegelt sich in einem

Film wie La vie sur terre? Sissako zeigt uns ein Dorf, das an der

Welt nur insofern angeschlossen ist, dass es abhängig ist von

den Geldsendungen aus dem Westen; dass es im Radio das

Weltgeschehen verfolgen kann, ohne sich selbst Gehör

verschaffen zu können. Wir sehen nostalgische Bilder von

diesem Dorf, die Sissako bewusst durch ,dokumentarische‘

Zugriffe bricht, welche die ,ungeschminkte Wahrheit‘ hinter den

Postkartenidyllen entlarvt. Wir sehen einen Filmemacher als

Protagonisten im Film, der im Film Césaires Rede Über den

Kolonialismus liest und Schwierigkeiten hat, über die 20

Page 21: Identität im afrikanischen Film

Infrastruktur des Dorfes eine Telefonverbindung nach Paris

herzustellen. Hier verbindet sich der schwärmerische Blick des

Heimkehrenden auf seine Heimat mit dem Bewusstsein für die

realen Probleme derselben. Zum Bild, dass Sissako von dem

Dorf zeichnet, passt dann auch die Art und Weise der

Darstellung. Die langen Einstellungen, welche schon jenseits der

Montage kleine Geschichten erzählen, bilden eher einen

Kontrapunkt zu modernen Filmsprachen. Es erinnert, pointiert

formuliert, eher an die ersten Filme der Gebrüder Lumière, die

in den 1890iger Jahren in Plansequenzen den Pariser Alltag

dokumentierten. Die Montage solcher Sequenzen zu einem

Portrait eines Lebensraumes lässt seinerseits an einen Pionier

des afrikanischen Films denken: Paulin S. Vieyra. L‘Afrique sur

Seine allerdings zeigt die afrikanische Diaspora auf der Höhe

ihrer Zeit in Paris, nicht ein afrikanisches Dorf des 21.

Jahrhunderts, welches in frühmodernen Zeiten stecken geblieben

ist.

Sissakos portraitiert sein Heimatdorf nicht als ein zeitgenössisch

hybrides, sondern zeichnet ein differenziertes Bild eines vom

Fortschritt des „Westens“ abgehängten Lebensstils. Es zeigt ein

Dorf, das sich keineswegs der modernen Welt des 21.

Jahrhunderts öffnet, sondern eines das von dieser Welt zwar

abhängig, aber weit abgeschlagen ist; das Mühe hat, das 20.

Jahrhundert zu erreichen. Er übt Kritik an der Rückständigkeit,

ohne das Schöne dieses Lebens zu unterschlagen oder den 21

Page 22: Identität im afrikanischen Film

Portraitierten ihre Würde zu nehmen. Darin erinnert Sissako

allerdings vor allem an Sembène, an Le Mandat beispielsweise.

Eine postkoloniale hybride Lebensweise, wie sie Sissako als in

Paris lebender Filmemacher selbst praktiziert, vermag der Film

nur indirekt als eine für das Dorf mögliche Zukunft zu

evozieren. Dargestellt ist im Film aber der Ist-Zustand eines

schönen, „exotischen“ Dorflebens, über dem die Sonne trotz

aller Probleme nicht aufzuhören scheint. Und zu diesem Bild

passt eben, wie schon beschrieben, auch die gedehnte, langsame

und in Bezug auf die plansequenzhaften Szenenkompositionen

malerische Filmsprache, die so gar nicht Assoziationen an die

westliche Moderne zu evozieren vermag, außer durch deren

konsequente Nicht-Präsenz, durch die Distanz zu dieser, in die

der Film den Zuschauer vermittels der Identifikation mit jenen

aus der Ferne auf die Welt schauenden Protagonisten versetzt.

Dies ist kein hybrider Film, denn er konstatiert lediglich den

Mangel an Öffnung gen „Westen“ und einer hybriden

Lebensweise. Dieser Film spiegelt gerade nicht eine

afrikanische Identität, die sich bereits vom Neuen wie vom

Alten das nimmt, was sie braucht, so wie es das Credo eines

Bekolo ist.

Macht man sich Thackways Position zu eigen, könnte man zu

der Einsicht gelangen, dass auch jenseits eines postkolonial-

hybriden Ansatzes afrikanische Filme wie Sissakos La vie sur 22

Page 23: Identität im afrikanischen Film

terre dennoch einen wichtigen Beitrag zum Gegenwartsfilm in

Afrika leisten, auch wenn sie inhaltlich wie formal wohl eher die

Tradition des Dorffilms fortsetzen. Diawaras assoziative

Verbindung zwischen Sissako und Ouedraogos Tilai ist da

durchaus „verräterisch“27... Denn in der Tat erinnert Sissakos

Stil eher an Ouedraogo als an Mambety und steht in der

Tradition dieser Back-to-Source-Filme. Wie bei Tilai fehlt es

auch Sissakos poetisch-nostalgischen Blicken auf das

traditionell geprägte ländliche Leben Afrikas gleichermaßen

nicht an offenem Interesse wie kritischem Bewusstsein,

wenngleich Sissakos La vie sur terre anders als Tilai eben doch

die Anbindung an die moderne Welt indirekt fordert.

Interessanterweise ist es Diawara selbst, der darauf aufmerksam

macht, dass viele Kritiker oft den kritischen und politischen

Impact der Dorffilme übersehen, sie als Kalebassenfilme

herabstufen, die lediglich Negativ-Stereotypen von Afrika

reproduzierten, sich zumindest aber in weltfremden

vorkolonialen Traditionen Afrikas verfangen würden. Solchen

vorverurteilten Filmen dann den Stempel der Hybridität

aufzudrücken, verdeckt möglicherweise aber die ganz eigenen,

unverzichtbaren Qualitäten dieser Filme. Dazu mehr im dritten

Kapitel.

Ein non-hybrides Erzählkino: ,Le Prix du Pardon‘

Auch Diawara kann eben Filme in dieser Tradition als

zeitgenössisch relevant, d.h. als Teil des neuen afrikanischen 23

Page 24: Identität im afrikanischen Film

Films nur gelten lassen, wie die Betrachtung seiner

Ausführungen zeigen, sofern sie ihm in ihrer Anlage hybrid

erscheinen. Besonders deutlich wird dies bei dem Beispiel der

dritten Kategorie, das ich nun als letztes etwas ausführlicher

besprechen möchte. An diesem Beispiel lässt sich auch

besonders deutlich zeigen, was das Besondere an der

Beschaffenheit der Dorffilme ist und warum ihre Notwendigkeit

für den afrikanischen Gegenwartsfilm gerade aus der

Ermangelung einer Hybridität in Form und Inhalt hervorgeht.

Zunächst erfolgt nun eine kritische Betrachtung der Kategorie

des Erzählkinos, um aufzuzeigen, warum auch Diawara

wichtigstes Beispiel in dieser Kategorie, Le Prix du Pardon,

kein hybrider Film ist, sondern ebenfalls eher an die Tradition

der Dorffilme anschließt.

Diawara sieht das Erzählkino als eine Form der populären Kunst

an. Es handele sich dabei um Genrefilme nach amerikanischen

Muster: „ Sie erzählen ihre Geschichten, indem sie afrikanische

Zutaten und Gewürze in den alten Genretöpfen zubereiten.“28 Es

würden afrikanische Geschichten mit afrikanischen

Schauspielern erzählt. Dabei folgten die inszenatorischen

Strategien im allgemeinen aber dem Ideal des Hollywood-Films

eines ungestörten Erzählflusses. „Die Regisseure versuchen hier

nicht wie Ousmane Sembène, das Bewusstsein anzusprechen,

und sie bewegen sich auch nicht auf einer meta-filmischen und 24

Page 25: Identität im afrikanischen Film

intellektuellen Ebene wie Bekolo oder Bakupa-Kanyinda.“29

Populärfilme gäben den afrikanischen Zuschauern die

Möglichkeit, sich in diesen Filmen wiederzuentdecken und ihre

bestehende Identität gespiegelt zu bekommen. „Was die oben

genannten Filme in diesem Sinne populär macht, sind ihre

Erzählstrukturen und Motive, ebenso wie die emotionalen

Erwartungshaltungen der afrikanischen Populärkultur, an die sie

anknüpfen: Volks- und Aberglaube, Brauchtum und überlieferte

Lebensweisheiten. […] Sie holen afrikanische Kinogeher dort

ab, wo diese stehen.“30 Diawara unterscheidet hier wohl

zwischen einer den kritischen Blick des Betrachters

aktivierenden Ästhetik des Films und einer, die bereits

bestehende Identitätsbilder lediglich aufgreifen und bestätigen.

Auch letzteres sei aber ungemein wichtig, weil es die einzige

Form sei, den afrikanischen Zuschauer ernst zu nehmen. Die

anderen Kategorien könnten dies nicht leisten, so Diawara.31

Entsprechend richteten sich die Angriffe der der Gilde besonders

gegen diese Filme. Sie „werfen den Vertretern des populären

Films oft genau das vor, was sie auch am westlichen Film

kritisieren: die essentialistische Darstellung Afrikas, die

exotischen Bilder und den Primitivismus, den Mangel an

Reflexion und das Festhalten am Bild eines Afrika, das so

archaisch ist, dass es die Moderne nicht versteht.“32 Diawara

bestätigt deren Distanz zum afrikanischen Genrekino, indem er

d iesem beschein ig t , wenig gemein zu haben mi t 25

Page 26: Identität im afrikanischen Film

den ,eklektischen, experimentellen und avantgardistischen

Stilformen‘33 eines Diop Mambety, der ja seinerseits ein

wesentlicher Wegbereiter für Bekolo war.

Denselben Populärfilm betrachtet Diawara nun dennoch als

ebenso hybrid wie die Kategorie der Gilde-Filmer und Le Prix

du Pardon von Mansour Sora Wade entsprechend als ein

wichtiges Beispiel für das hybride Erzählkino. Es sei zugleich

der senegalesischste Film, denn er habe den wohl am meisten im

Denken der Négritude verankerten Film Senegals geschaffen.

Wade habe auf volkstümliches Brauchtum zurückgegriffen, um

seinen Erzählstil zu entwickeln. Er schaffe also ein populäres

Genrekino, das Rhythmen, Gefühle, Farben einsetze, wie es

Senghor in seiner ästhetischen Theorie der Négritude

vorschwebte. „Die Filmemacher der neuen Welle im

senegalesischen Film - Moussa Séne Absa, Joseoph Ramaka

Gaye, Mansour Sora Wade und andere - haben aus dem

ästhetischen Denken Senghors gelernt, dass eine nationale

Filmsprache auf volkstümlichen, mündlichen Traditionen und

Ritualen voller Rhythmus, Poesie und Fantasie aufbauen kann.

[…] Sie nutzen Puls und Rhythmus ihrer Kultur und lassen

beide ihre Erzählweisen und deren filmtechnische Umsetzung

weitgehend bestimmen.“34

Der Film spielt in einem durch und durch vom traditionellen

Leben geprägten senegalesischen Fischerdorf. Diawara nimmt

Bezug auf Szenen innerhalb der dargestellten Handlung, in 26

Page 27: Identität im afrikanischen Film

denen Ringkämpfe und Tänze aufgeführt stattfinden.

Entsprechend der Vorstellungen Senghors sei Kunst nichts

Statisches. Kunst sei hier ein sich in Bewegung realisierendes

System, in das Zuschauer wie Akteure und über die rituellen

Handlungen auch die Verbindung zu den Ahnen einbezogen

würde. „Afrikanische Kunst zu verstehen bedeutet, das rituelle

Handeln zu betrachten, in dem alle diese Elemente in Bezug

zueinander und zu dem sie umgebenden Bedeutungssystem

treten. Afrikanische Kunst erwacht zum Leben, sobald der

Rhythmus die Aktion durchdringt und zum Geist jenes Ahnen

wird, der die Akteure mit den Zuschauern verbindet […]

Rhythmus ist Dichtung. Rhythmus ist Kunst. […] Die Tänze

und Ringkämpfe in Le Prix du Pardon machen sich diese

Kunstauffassung zu eigen.“35 Yatma, einer der Protagonisten im

Film, führt vor der Dorfgemeinschaft einen Tanz auf, bei dem er

in die Rolle seines Totems, dem Löwen, schlüpft. „Auch die

Maske des Löwen ist für sich genommen nur ein Gegenstand.

Yatma muss sie erst tragen und sie zum Leben erwecken, damit

die Kraft seiner Ahnen durch ihn hindurch strömt. Mit anderen

Worten: Erst wenn Yatma die Maske des Löwen, seines Totems,

aufsetzt und mit ihr tanzt, kann Kunst entstehen.“36 Man kann

diese Szene ohne weiteres nur als Teil der Handlung des Films

verstehen und darüber hinaus auch als eine Reflektion des

Filmemachers über das négritude Kunstverständnis des

senegalesischen Dorfes. 27

Page 28: Identität im afrikanischen Film

Diawara geht aber einen Schritt weiter, indem er die filmische

Repräsentation einer künstlerischen Handlung zur Präsentation

négrituder Kunst erklärt und den Zuschauer im Film gleichsetzt

mit dem Zuschauers des Filmes. Er überträgt, ohne dies

argumentativ weiter zu stützen, die von Wade dargestellte

Kunstauffassung (in lediglich einer einzigen Szene des Films)

auf das Medium Film. „Die Ringkampfszene in Le Prix du

Pardon ist aber mehr als eine Übertragung von Senghors

Kunstauffassung auf das Medium Film. Sie zeigt auch, wie sehr

diese Theorie Afrikas Filmsprachen noch bereichern könnte.

Zum Beispiel wechselt der Rhythmus der Montage im Übergang

vom Tanz zum Ringkampf von schnell zu langsam und danach

zu einer Art krampfartigen Bilderzucken. Der Film nimmt auf

mimetische Art und Weise die Kultur der Ringkämpfe in

Senegal, Gambia und im übrigen Westafrika in seine

Bildsprache auf.“37 An dieser Stelle muss man Diawaras

Ausführungen zu diesem Film ganz entschieden widersprechen.

Die Szene des Tanzes geht zunächst einmal nicht in einen

Ringkampf über! Der Rhythmus der Montage verändert sich

nicht signifikant während dieser Szene. Vielmehr wird in

gleichbleibend ruhigen Montagerhythmus dieses Ereignis

erzählt. Entscheidend ist aber, dass Diawara die Ebenen der

Repräsentation und Präsentation unbegründet vermischt, die

Form des dargestellten Tanzes mit der Form der Darstellung

dieser Handlung gleichsetzt. Wades Kamera wird aber nicht zum 28

Page 29: Identität im afrikanischen Film

Auge der anwesenden Dorfbewohner. Sie zeigt das gesamte

Ereignis: die Kamera zeigt die theatrale Situation, in der Yatma

für die anderen Bewohner des Dorfes diesen rituellen Tanz

aufführt. Folgte man im übrigen der Argumentation Diawaras,

wonach das Medium Film in diesem rituellen Rhythmus selbst

zum négrituden Kunstereignis würde, dann drängte sich auch

eine vielleicht naiv klingende, aber berechtigte Frage auf: Es

handelt sich bei der von Diawara angesprochenen um eine

einzige Szene in einem ,abendfüllenden‘ Spielfilm. Was ist also

mit dem Rest des Films. Versinkt dieser wieder in kunstloses

Genrekino? Seiner eigenen Argumentation zufolge wäre der

Rest des Films entsprechend kein hybrides Konstrukt aus

Négritude und „westlichem“ Genrekino.

Des Weiteren würde sich auch die Frage aufdrängen, wozu das

alles gut sein sollte. Denn selbst wenn: Würde mit solch einem

Film, wie ihn Diawara zu erkennen glaubt, der binäre Gegensatz

zwischen Afrika und Europa sinnstiftend überwunden? Allein

die afrikanische Négritude als filmsprachliches Mittel in einem

„westlichen“ Genre-Muster zu identifizieren, erspart nicht, das

Zusammenwirken dieser Elemente zu betrachten und zu

bewerten. Diawara selbst hatte auf den Unterschied zwischen

Weltkino und dem ,neuen afrikanischen Film‘ hingewiesen. Die

Übertragung eines traditionell négrituden Kunstverständnisses

auf das neue Medium Film würde ohne weiteres nicht mehr

leisten, als ,alten Wein in neuen Schläuchen anzubieten‘. Man 29

Page 30: Identität im afrikanischen Film

würde sich dem „westlichen“ Genremuster von Hollywood

bedienen, um solche Vorstellungen von Afrika zu verbreiten,

denen Filmemacher wie Bekolo gerade den Kampf angesagt

haben; von breitenwirksamen Filmen, wie sie laut Diawara

bereits die FEPACI förderte, um afrikanisches Publikum dem

Hol lywood-Impor ten zu en t re ißen . Die négr i tude

Kunstauffassung würde sich dann in den unkritischen,

konsumistischen Erzählfluss der Genreunterhaltung integrieren

und sie ihrerseits ebenso wenig stören, wie sich afrikanische

Schauspieler in afrikanischen ,Hollywood‘-Produktionen à la

Blood Diamond38 integrieren, ohne gängige westliche

Stereotypen zu durchbrechen. In einer solchen Mischung

entsteht kein hybrides Drittes, wie es Diawara eigentlich selbst

fordert, weil in Bezug auf die Repräsentation afrikanischer

Identität keine synthetische Transformation ihrer Teile

stattfindet. Es handelt sich entsprechend nicht um eine Synthese,

um ein neues Drittes, sondern um ein heterogenes, binäres

Konstrukt wie beispielsweise dem Hybridmotor eines Autos.

Auf den Inhalt des Films und ein Zusammenwirken beider

Ebenen geht Diawara nicht weiter ein. Wie schon bei La vie sur

terre kann Diawara auch hier nicht plausibel machen, wie dieser

Film zur Repräsentation einer hybriden Identität beiträgt.

Vielmehr handelt es sich um einen typischen Genre-Vertreter

des Dorffilms, der im Vergleich zu La vie sur terre auch nur

geringste Hinweise auf eine „westlich-moderne“ Welt erkennen 30

Page 31: Identität im afrikanischen Film

lässt. Der ungestörte Erzählfluss des Genrekino trägt seinen Teil

zur Immersion des Zuschauers in die Welt der Négritude bei.

Hier bestätigt sich die Thackways Blick auf eine zeitgenössische

Filmkultur Afrikas, zu der gleichermaßen der junge hybride

Film eines Bekolo wie auch ein Dorffilm eines Sissako oder

eines Mansour Sora Wade gehören. Bleibt noch die Frage zu

beantworten, was dem Dorffilm neben dem hybriden Film

überhaupt noch Relevanz verleiht.

31

Page 32: Identität im afrikanischen Film

3. Argumente für den ,Dorffilm‘

Es ist deutlich geworden, dass Sora Wade entgegen der

Einschätzung von Diawara keineswegs die Kunstauffassung der

Négritude auf das Medium Film überträgt und dieser

entsprechend auch nicht als Ritual funktioniert. Höchstens kann

man die Négritude als Teil des verhandelten Filminhalts

betrachten, wenn Le Prix du Pardon das traditionelle Leben in

einem senegalesischen Dorf darstellt und dabei unter anderem

die sich innerhalb der Erzählung vollziehende theatrale

Darbietung von Yatma, der in Verbindung zu seinem Totem

einen Tanz vor der Dorfgemeinde vorführt. Wenn ich im

Folgenden nun noch mal genauer auf die Erzählung des Films

eingehe, soll deutlich werden, dass man den Film durchaus als

einen populären Genrefilm auffassen kann, der aber ein

differenziertes Bild vom traditionellen Leben in einem

senegalesischen Fischerdorf zeichnet. Vordergründig reflektiert

der Film im Rahmen eines Liebesdramas den Umgang mit

Schuld und Sühne. Darüber hinaus reflektiert er aber die

Beschaffenheit des traditionellen Dorf-Lebens.

Erzählt wird die Geschichte von zwei Fischern, Mbanick und

Yatma, die miteinander befreundet und zugleich in dieselbe

Frau, Maxoye, verliebt sind. Die Erzählung beginnt damit, dass

ein dichter Nebel sich über das Meer und das Dorf gelegt hat

und es den Fischern unmöglich erscheint hinaus zu fahren, um

ihre Arbeit zu machen.39 Der anhaltende Nebel wird dadurch zu 32

Page 33: Identität im afrikanischen Film

einer existentiellen Bedrohung, welche die Bewohner des

Dorfes ängstigt. Mbanick ist der Sohn des Marabuts im Dorf,

welcher zu diesem Zeitpunkt im Sterben liegt. Ein Hexenmeister

wird geholt, um durch Opfergaben die Götter milde zu stimmen,

jedoch ohne Erfolg. Mbanick lehnt das Wissen seines Vaters und

die Praktiken des Hexenmeisters gleichermaßen ab. Anstatt

untätig zu warten, fällt er schließlich den heiligen Baum, unter

welchem der inzwischen gestorbene Vater begraben liegt und

welcher symbolträchtig seitdem seine Blätter verloren hat.

Mbanick schnitzt aus dem Holz ein Boot und fährt damit aufs

Meer. Bei seiner Rückkehr ist der Nebel verschwunden und

Mbanick wird als Held gefeiert. Auch Maxoye bewundert ihn

und ihre Liebe scheint ihm sicher. Yatma erträgt dies nicht und

erschlägt Mbanick eines Nachts heimtückisch. Maxoye rächt

sich an Yatma, indem sie ihn zum Mann nimmt, um ihn täglich

ihre Verachtung spüren zu lassen. Viele Jahre später wird sie ihm

allerdings vergeben und sich ein zartes Band zwischen den

beiden geknüpft haben. Doch Yatma ist dann ebenfalls ein

anderer geworden und bereut nicht nur seine Tat, sondern sucht

auch verzweifelt nach seinem inneren Frieden. Yatmas Totem ist

der Löwe, Mbanicks war der Hai. Eines Tages bittet Yatma, in

der Brandung des Meeres stehend, Mbanick um Erlösung. Eine

Antwort bekommt er nicht. Ein anderes Mal wendet er sich an

den Hexenmeister, um zu erfahren, wie er Buße tun kann, um

seinen Frieden wiederzuerlangen. Der Zorn des Meeres sei ihm 33

Page 34: Identität im afrikanischen Film

sicher, Vergebung gebe es nicht. Yatma möge sich für eine

bestimmte Zeit vom Meer fern halten und so dem Zorn zu

entgehen. Maxoye trug bereits Mbanicks Kind aus, als Yatma

diesen erschlug. Als Mbanicks Sohn schließlich erfährt, dass

Yatma seinen Vater erschlagen hat, fährt der kleine Junge im

Schmerz darüber aufs Meer hinaus. Yatma verwirft die

Ratschläge des Hexenmeisters, um dem kleinen Mbanick aufs

Meer zu folgen und ihn zu bergen. Er bemüht sich, seinen

Respekt vor sich selbst und vor dem kleinen Mbanick

zurückzuerlangen, indem er vor dessen Augen ins Meer springt

und wütend den toten Mbanick herausfordert, mit ihm zu

kämpfen.

Die Geschichte ist gerahmt durch den Erzähler, der als Sohn des

damaligen Griots Zeuge dieser Geschehnisse war. Der Film

endet mit seinen Worten, wonach alle drei bis zum Ende ihren

Leidenschaften gefolgt seien. Maxoyes Hass auf Yatma wandelt

sich schließlich in Liebe. Yatma liebt Maxoye und bricht immer

wieder die Regeln, um seiner Liebe gerecht zu werden. Er

verstößt gegen die Regeln der Gemeinschaft, indem er Mbanick

ermordet. Er verstößt schließlich auch gegen die Auflagen des

Hexenmeisters und fordert die höheren Kräfte zum Kampf

heraus. Auch Mbanick selbst hatte diese Kräfte herausgefordert

bzw. infrage gestellt, indem er allen Befürchtungen des Dorfes

zum Trotz und entgegen der Tradition nicht auf rituelle

Opfergaben, sondern auf Pragmatismus setzte und hinaus fuhr, 34

Page 35: Identität im afrikanischen Film

um zu fischen. Der Erzähler des Films verweist am Ende auf

genau diesen Umstand, dass alle drei ihr Verhalten nicht nach

äußeren Zwängen ausrichten, die traditionell normativ sind,

sondern ihren ganz eigenen Bedürfnissen folgen. Am

deutlichsten zeigt sich dies an der Fortführung der Würde des

Marabuts durch dessen Sohn Mbanick, der den heiligen,

verdorrten Baum fällt und damit die Möglichkeit des Wandels

im traditionellen Leben des Dorfes überdeutlich versinnbildlicht.

Ebenso zeigt sich auch eine Wandlungsfähigkeit der beiden

verbliebenen Protagonisten Maxoye und Yatma in Bezug auf

ihre Gefühle und ihre Verhaltensweisen.

Das Besondere an Sora Wades Film ist also, dass seine Figuren

in ihrem Verhalten nicht determiniert sind; weder durch die

gesellschaftlichen Normen, noch durch eine höhere Kraft, die in

der traditionellen Lebensweise des Fischerdorfes sehr präsent

scheint.

Das Meer habe ihnen vergeben, so berichtet der Griot am Ende

des Films. Auch Yatma glaubt bis zum Schluss an die

übernatürlichen Kräfte, welche er herausfordert. Während Wade

die gesamte Geschichte aus der Sicht eines Augenzeugen, des

noch jungen Griots, erzählen lässt, nimmt er nie eindeutig

Stellung dazu, in wieweit die mythischen Kräfte wirklich

existieren. Er nutzt nicht die Möglichkeiten des Mediums aus,

um dem Zuschauer das Phantastische im Film als ,objektive‘

Realität darzustellen. Es obliegt dem Zuschauer, zu 35

Page 36: Identität im afrikanischen Film

interpretieren, ob Mbanick den Nebel vertrieben hat oder ob er

nicht einfach nur fischen ging und es eben Zufall war, dass

zugleich der Nebel verschwand. Immerhin stellt Wade Mbanick

explizit als jemanden dar, der nicht an Zauber glaubt, sondern an

die Tatkraft der Menschen, sich selbst zu helfen. Es gibt keine

eindeutigen Zeichen, die die Existenz einer höheren Macht

belegen, aber auch keine, die eindeutig ihrer Existenz

widersprechen. Wir sehen nicht, dass das Meer etwas vergibt.

Wir sehen keine unwiderlegbare kausale Verbindung zwischen

dem eigenwilligen Verhalten der Menschen und einer direkten

Reaktion höherer Kräfte wie beispielsweise dem Meer auf ein

solches „Fehl“-Verhalten. Wir sehen nur zu den Worten des

Griots den Anblick eines mild wogenden Meeres in der

Schlusseinstellung. Auch die Opferrituale zur Vertreibung des

Nebels zeitigen keine erkennbare Wirkung. Wade zwingt durch

seine Erzählweise den Zuschauer nicht dazu, die traditionelle

Sicht der Dorfbewohner zu teilen und er macht auf diese

Offenheit des interpretatorischen Zugriffs auf die Geschehnisse

durch die konterkarierende Haltung Mbanicks, dem Sohn des

Marabuts, sehr deutlich aufmerksam.

Wenn Wade in seiner Darstellung der Geschehnisse nicht Partei

ergreift und die Möglichkeiten der Interpretation in der Schwebe

hält, könnte man das Ende des Films in Bezug auf Yatma

durchaus so interpretieren, dass er im Meer ertrinkt und damit

letztlich seiner gerechten Strafe zugeführt wird und hierin der 36

Page 37: Identität im afrikanischen Film

Preis der Vergebung liegt. Man kann aber das Ende auch im

Zusammenhang mit Yatmas nagendem Gewissen verstehen.

Sein mögliches Ertrinken ist die Folge seines Handelns aus der

Notwendigkeit heraus, Achtung vor sich selbst und damit seinen

inneren Frieden wiederzuerlangen. Denn Maxoye hatte ihm

bereits vergeben. So zeigt der Film, wie das Meer letztlich zur

Projektionsfläche für die Menschen wird: für Mbanick und die

ängstlichen Dorfbewohner im Nebel, wie schließlich auch für

Yatma. Und daraus erwächst eben die Freiheit und der

Handlungsspielraum dieser Menschen, ohne dass der

Naturglaube deshalb gänzlich abgelegt werden müsste. Jeder

hört eben die Nachrichten, die er hören will. Und: „Alle folgten

ihren Leidenschaften bis zum Ende.“40

Damit zeigt Wade eine traditionelle Dorfgemeinschaft, die nicht

in statischer Ordnung gefangen ist. Besonders über Mbanick

zeigt er die traditionelle Ordnung als eine, die dem Wandel in

dem Maße offen steht, wie auch ihre Protagonisten frei in ihrem

Verhalten agieren. Wade selbst hat sich dazu wie folgt geäußert:

„Was mich an dieser Geschichte vor allem interessiert hat, war

das Phänomen, dass eine Person nicht ein für alle Mal ein

vorweg bestimmtes Verhalten haben muss. Sie kann sich

entwickeln und oft widersprüchlich oder zwiespältig sein.“41

Ich habe den Inhalt des Films so ausführlich besprochen, um

damit zu zeigen, dass ein Film, der zunächst wie ein

herkömmlicher Dorffilm erscheint, welcher schnell im Verdacht 37

Page 38: Identität im afrikanischen Film

steht, übliche Stereotypen eines provinziellen, in Traditionen

erstarrten afrikanischen Landlebens zu reproduzieren, durchaus

das Klischee der Statik afrikanischer Traditionen gerade infrage

zu stellen vermag. Der Film zeichnet ein Bild der Offenheit und

Wandlungsfähigkeit menschlichen Verhaltens, ohne dafür

hybride, durch ein westliches Moderneverständnis geprägte

Szenarien eines urbanen afrikanischen Fortschritts bemühen zu

müssen. Er zeigt eine Dorfgemeinschaft, in der Menschen wie

Mbanick ihr Verhalten den Situationen und ihren konkreten

Bedürfnissen anpassen und sich aus eigener Kraft und Initiative

modernisieren können. Er zeigt insofern eine alternative

Begrifflichkeit von Moderne, als sie sich nicht auf dessen

„westliche“ Definition zurückzieht, und afrikanische Traditionen

gerade nicht als Gegenteil der Moderne versteht, sondern

Moderne als eine je spezifische Moderne: als gewandelte

Tradition. „Man sollte auch nicht vergessen, dass im Grunde

genommen der Gegensatz von ,modern‘ nicht ,traditionell‘ ist,

sondern ,altertümlich‘. Indem man jedoch afrikanische

Traditionen als Gegensatz zur Moderne versteht, wird ein neuer

Bezugsrahmen hergestellt, der die fortgesetzte Projektion eines

narzisstischen (ver)westlich(t)en Selbstbildes erlaubt.“42

Mbanick teilt seinem Vater am Sterbebett mit, dass er das

Wissen des Vaters ablehne. Dieser verlangt nicht von ihm, einer

bestimmten Tradition entsprechend zu handeln, er teilt ihm aber

mit, dass sein Wissen längst in ihn, in seinen Sohn übergegangen 38

Page 39: Identität im afrikanischen Film

sei. Man kann das auch so verstehen, dass Mbanicks Vater ihm

damit bedeutet, dass es nicht auf die Fortführung bestimmter,

konkreter Tradi t ionen ankommt, sondern auf den

identitätsstiftenden Mythos, der durch sich wandelnde

Traditionen weiter fortbesteht.

Wades Film kann man damit durchaus in der Tradition Filmen

von Yeelen sehen, der seinerseits die Erstarrung afrikanischer

Tradition kritisch hinterfragt und damit nicht auf die Tradition

als identitätsstiftendes Element setzt, sondern auf die

Kontinuität des Mythos, der dem Wandel der Tradition zugrunde

liegt; mit Filmen also die danach fragen, wie man Tradition für

die Gegenwart transformieren kann. Dies scheint ein weit

verbreitetes Missverständnis von solchen Filmen zu sein, dass

sie in Bezug auf die Identitätsdebatte als Aufruf verstanden

werden, afrikanische Tradition oberflächlich zu rekonstruieren

und nicht als Plädoyer für eine Transformation der Tradition in

etwas zeitgenössisch adäquates, das man Moderne nennen kann,

ohne dabei automatisch auf technologischen Fortschritt zu

rekurrieren.

Diawara behauptet die Notwendigkeit für Afrika, durch die

(„westliche“) Moderne gehen zu müssen43 und meint dabei eine

hybride Konstruktion, die Einflüsse aus dem Westen aufnimmt

und mit afrikanischer Tradition vermischt. Diese Haltung liegt

seiner Idee des neuen afrikanischen Films zugrunde, die eine 39

Page 40: Identität im afrikanischen Film

Hybrid i tä t in a l len Kategor ien des af r ikanischen

Gegenwartsfilms konstatiert. Nicht in der Hybridität als solcher,

sondern genau in dieser imperativen Formulierung einer

hybriden Kultur, hier am Beispiel des „neuen afrikanischen

Films“, liegt eine eurozentristische Haltung verborgen. Denn

eine unabhängige afrikanische Moderne kann dann nicht mehr

ohne den Einfluss eines westlichen Moderneverständnisses

gedacht werden. Ein Fortschritt Afrikas, der den Einfluss der

westlichen Moderne als obligatorisch betrachtet, hebt die

binären Gegensätze nicht auf, sondern bestätigt sie zunächst

einmal. Denn modern wäre ja demnach nur das, welches sich

der Welt bzw. dem ,Westen‘ öffnet und dessen Einflüsse

integriert. Dies schwingt unausgesprochen in einer imperativen

Hybridität immer mit; selbst dann, wenn sie auf eine

Transformation fremder Einflüsse abzielt. Eine alternative

Moderne zu formulieren muss darüber hinaus nicht bedeuten,

sich von der Welt abzuwenden. Aber wenn Freiheit und damit

auch die Freiheit, eine eigenständige Identität zu definieren aus

der Möglichkeit zu wählen hervorgeht, dann entsteht doch aus

der Ablehnung eines Exklusivrechts des „Westens“, Standards

für Moderne zu definieren, genau diese Freiheit zur eigenen

unabhängig formulierten Identität.

Das Besondere des afrikanischen Gegenwartsfilms scheint

entsprechend gerade in dieser Vielfalt zu bestehen, wie sie

Thackway beschrieben hat: eine diversifizierte Filmkultur, in der 40

Page 41: Identität im afrikanischen Film

Platz ist für hybride Identitätsbilder, wie sie ein Bekolo entwirft

und Dorffilme, die alternative moderne afrikanische Identitäten

behaupten, indem sie ein nicht westlich geprägtes Dorfleben

nicht automatisch als Sackgasse in erstarrte Traditionen

begreifen. Erst durch beide zusammen wird letztlich das reale

Spektrum afrikanischer Lebensweisen zwischen weltoffenen,

urbanen Zentren und traditionellen Lebensweisen gespiegelt, mit

der Aussicht, nicht auf ideologische Haltungen akademischer

Trends reduziert zu werden. Im Ideal postkolonialer Realität

wird auch die hybride Identität erst durch die Möglichkeit ihrer

Wahl zu einer selbstbestimmten Identität. Deshalb sollten auch

ältere, aber immer noch vitale Kategorien wie der Dorffilm, die

eine andere als die westlich-geprägte urbane Welt Afrikas

repräsentieren, nicht geringer geschätzt werden als jene

hybriden Stile.

Fazit

Die hybriden Filme vermögen afrikanische und „westliche“

Kultur miteinander zu vermischen und in einem kreativen

Vorgang etwas neues Drittes daraus zu gestalten. Manche wie

Bakupa-Kanyinda oder Diawara sehen darin einen neue

afrikanische Identität repräsentiert, die sich dem „Westen“

öffnet, ohne sich darin zu verlieren. Andere wie Keita fragen

nach dem verbleibenden Sinn von Zuschreibungen wie

„afrikanisch“ angesichts der globalen Verflechtungen. Ihr Credo, 41

Page 42: Identität im afrikanischen Film

sich von allem das zu nehmen, was brauchbar erscheint, führt zu

Filmen, in den Elemente afrikanischer Tradition Platz finden

und interagieren mit einem westlich-urbanen Lebensstil.

Dennoch sollte die Hybridität nicht dazu verleiten, in ihr die

umfassende Repräsentation einer afrikanischen Vielfalt

unterschiedlichster Lebensweisen gespiegelt zu sehen. Solche

Filme repräsentieren doch zunächst nur das Leben jener in

urbanen afrikanischen Zentren, die dem „westlichen“ Lebensstil

aufgeschlossen gegenüber stehen. Jener Teil der Afrikaner, die in

weitgehend traditionsgebundenen ländlichen Regionen leben,

oder wie der Film La vie sur terre anschaulich zeigt, nahezu

abgekoppelt von der Moderne des 21. Jahrhunderts sind, dürfte

sich in Filmen eines Bekolo kaum repräsentiert fühlen.

Die kritische Lektüre von Diawaras Darlegungen zum

afrikanischen Gegenwartsfilm haben gezeigt, dass es aber in der

Tat divergente Filmtraditionen in Afrika jenseits der hybriden

Avantgarde gibt, die in der Lage sind, kritisch aber differenziert

solche non-hybriden Lebensweisen ins Bild zu setzen. Das

Genre des Dorffilms erweist sich dabei auch in der Gegenwart

noch als äußerst relevant. Denn entgegen allen Vorurteilen, die

diesem immer wieder entgegen gebracht wird, ist er durchaus in

der Lage, Identität zu formulieren, welche die Stereotypisierung

Afrikas als einer zum Stillstand verurteilten Kultur überwindet,

indem er einen westlich geprägten Moderne-Begriff nicht als

Gegensatz zur afrikanischen Tradition versteht, also dieses 42

Page 43: Identität im afrikanischen Film

Begriffspaar als zu überwindende Dichotomie betrachtet,

sondern Moderne als je spezifische Wandlung einer spezifischen

Tradition versteht. Dies als Chance sehen zu können, war ein

Anliegen dieser Arbeit.

43

Page 44: Identität im afrikanischen Film

Literatur

+ Diawara, Manthia, Neues afrikanisches Kino - Ästhetik und

Politik, München, 2010

+ Akudinobi, Jude, Tradition versus Moderne - Scheingefechte,

in: Gutberlet, Metzler, Afrikanisches Kino, Bad Honnef, 1997

+ Thackway, Melissa, Africa Shoots Back - Alternative

Perspectives in Sub-Saharan Francophone African Film,

Oxford, 2003

Sekundärliteratur

+ Balet, Olivier, Afrikanische Kinowelten, Bad Honnef, 2001

+ Gutberlet, Marie-Hélène, Auf Reisen - Afrikanisches Kino,

Frankfurt am Main, 2004

+ Gutberlet, Marie-Hélène; Metzler, Hans-Peter, Afrikanisches

Kino, Bad Honnef, 1997

+ Kaboré, Gaston, L‘image de Soi, Un Besoin Vital, in: FEPACI

(ed.) L‘Afrique et le Centenaire du Cinema, Paris/Dakar, 1995

+ Rosenstein, Johannes, Die schwarze Leinwand - Afrikanisches

Kino der Gegenwart, Stuttgart, 2003

44

1 Diawara, Manthia, Neues afrikanisches Kino - Ästhetik und Politik, München, 20102 Filmfestival African Screens im Haus der Kulturen der Welt, Berlin, 20083 Diawara, 2010, S.2024 Thackway, Africa Shoots Back - Alternative Perspectives in Sub-Saharan Francophone African Film, Oxford, 20035 Thackway, 2003, S.36 ebd.7 ebd., S.9

Page 45: Identität im afrikanischen Film

45

8 ebd., S.109 Thackways Darstellung der Dorffilme: vergleiche ebd., S. 1110 ebd., S.1111 ebd., S.1212 ebd.13 ebd., S.414 Der Begriff der Hybridität wird von Diawara nicht explizit benutzt, findet zur sprachlichen Vereinfachung in dieser Arbeit aber Verwendung und bezieht sich in diesem in erster Linie auf Diawaras Ausführungen zu dem Sachverhalt, den er auf die Formel der ,Überwindung binärer Gegensätze zwischen Afrika und Europa‘ bringt. 15 Diawara, 2010, S. 198-19916 ebd., siehe S.94-95, aber auch 199 ff17 Guilde des Cinéastes18 Diawara, 2010, S.12019 ebd., S.20020 ebd., S.12221 ebd., S. 12522 ebd., S. 127 23 Darstellung Bekolos über seine Arbeit: siehe ebd., S.20424 ebd., S.12725 Dabei handelt es sich um Filme, die vom Sender Arte ohne „künstlerische Einflussnahme“ in Auftrag gegeben wurden.26 Diawara, 2010, S.10527 ebd., S.10128 ebd., S.14229 ebd., S.14430 ebd., S.14331 siehe ebd., S.144 (Solche Formulierungen werfen Fragen auf. Wenn es sich so verhält, warum spricht Diawara dann überhaupt noch über die anderen Kategorien...)32 ebd., S.14433 ebd., S. 14634 ebd., S.14935 ebd., S. 14736 ebd.37 ebd., S.14838 Blood Diamond, USA, D, 2006, Regie: Edward Zwick (Diawara nennt diesen Film als Negativbeispiel für den fremden Blick auf Afrika. siehe Diawara, 2010, S.)39 Die Darstellung dieser Situation und ihrer Auflösung nimmt einen beträchtlichen Umfang im Film ein.40 Worte der Griot-Figur am Filmende

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46

41 am 14.4.2011: https://www.trigon-film.org/de/shop/DVD/Le_prix_du_pardon_-_Ndeysaan42 Akudinobi, Jude, Tradition versus Moderne - Scheingefechte, in: Gutberlet, Metzler, Afrikanisches Kino, Bad Honnef, 1997, S.17643 Diawara, 2010, S.127