Identität und Persistenz - phil-fak.uni-duesseldorf.de · John Locke (1632-1704) Lockes berühmte...

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Identität und Persistenz Teil I Der philosophiehistorische Hintergrund I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke? Allgemeines zur Veranstaltung 1 Webseite des Seminars: http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/philo/persistenz.htm

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Identität und Persistenz

Teil I

Der philosophiehistorische

Hintergrund

I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

Allgemeines zur Veranstaltung 1

Webseite des Seminars:

http://www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/philo/persistenz.htm

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I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

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Auf der Webseite des Seminars erhalten Sie

a) den Syllabus mit den jeweiligen Textstellen,

b) eine Literaturliste mit zusätzlichen Texten zu den behandelten Themen,

c) alle PowerPoint-Präsentationen als Webpräsentation und als PDF-Datei.

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Für Fragen zum Seminarthema wenden Sie sich bitte an

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Als einführende Literatur zum Thema empfehlen wir:

1. Harold Noonan: Personal Identity, Routledge 1991.

2. John Perry: A Dialogue on Personal Identity and Immortality, Hacket Pub 1978

3. John Perry: Identity, Personal Identity, and the Self. MIT 2002 (Kopievorlage)

4. John Perry (ed.): Personal Identity. UCP 1975

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Veranstaltungsverlauf

Das Seminar hat fünf thematische Hauptteile:

I. Der philosophiehistorische Hintergrund

II. Der sprachphilosophische Hintergrund

III. Der ontologische Hintergrund

IV. Lösungen der analytischen Philosophie

V. Lösungen der indischen Philosophie

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I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

Lesen

Zu jeder Sitzung wird mindestens ein Text besprochen, der im Seminarordner der Fachbibliothek vorhanden ist und von allen vorbereitet werden muss.

Zur Einführung in die Thematik empfehlen wir jedem Studierenden, innerhalb der ersten beiden Wochen Perrys Dialogue zu lesen.

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Was ist das Problem?

Das Problem personaler Identität über die Zeit ist das Problem, logisch hinreichende und notwendige Bedingungen dafür anzugeben, wann eine Person P2 zu einem Zeitpunkt t2

identisch ist mit einer Person P1 zu einem früheren Zeitpunkt t1.

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Wofür braucht man das?

Wissen um diachrone Personenidentität ist beispielsweise die Grundlage für• eigeninteressiertes Handeln,• die Zuschreibung von Verantwortung

und Schuld,• die Feststellung des Todes einer Person,• die korrekte Zuweisung von

Eigennamen zu Personen.

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Rechtfertigung

Könnte man daher angeben, worin und wannpersonale Identität durch die Zeit besteht, könnten all diese Dinge an sich und in bestimmten Fällen gerechtfertigt werden.

(Warum sollte man eigeninteressiert handeln? Warum ist dies eine Handlung im Eigeninteresse?)

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Erklärung

Gegeben eine solche Definition, könnte man außerdem vielleicht erklären, warum personale Identität (und damit unser eigenes Überleben im wörtlichen Sinne) für uns so wichtig ist.

(Ähnliches gilt für alle anderen zuvor genannten Dinge. Zumal Rechtfertigungen im Sinne rationaler Rekonstruktionen in gewisser Weise Erklärungen sind.)

I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

Veranstaltungsverlauf 2

Teil I: Der philosophiehistorische Hintergrund

1. Alles Fußnoten zu Locke?

2. Leibniz, Butler, Reid

3. Hume

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I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

I. Der philosophiehistorische Hintergrund

1. Alles Fußnoten zu Locke?

I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

Alles Fußnoten zu Locke?

John Locke (1632-1704)

Lockes berühmte Behandlung des Problems findet sich in Of identity and diversity in seinem Essay Concerning Human Understanding (Buch II, Kap. 27 - Kopieordner)

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Historische Motive

Um Lockes Theorie angemessen beurteilen zu können, muss man zunächst das Problem rekonstruieren, vor dem Locke stand. Oder – um es modern auszudrücken – es muss rekonstruiert werden, welche AdäquatheitsbedingungenLocke an seine eigene Theorie stellte.

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Möglichkeit der Wiedergeburt

Die Möglichkeit der menschlichen Wiedergeburt muss durch die Theorie erklärt werden.

Während in modernen Ansätzen die Möglichkeit der Wiedergeburt nur als Gedankenexperiment in Betracht gezogen wird, war diese zu Lockes Zeiten eine Tatsache, die eine Theorie personaler Identität zu erklären hatte.

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Leib-Seele-Problem

Die Theorie soll gegenüber dem Leib-Seele-Problem neutral sein.

Locke hielt den Materialismus zwar für die unwahrscheinlichere Variante, zweifelte aber an der Überzeugungskraft des CartesischenArguments für die Immaterialität der Seele. Sein Ansatz sollte entsprechend auch eine materialistische Variante der Wiedergeburt möglich machen.

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Selbstwissen

Die Theorie soll erklären können, weshalb wir uns so sicher sind, dass wir dieselben Personen sind wie die, über deren Handlungen wir uns bewusst sind sie durchgeführt zu haben.

Diese Adäquatheitsbedingung, die Locke alle Ansätze ablehnen ließ, die die Identität einer Person in der Identität irgendeiner Substanz suchten, war im Grunde sehr Cartesisch. Die Erste-Person-Perspektive wird als ein privilegierter Standpunkt zur Beurteilung von Aussagen über das Selbst betrachtet.

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I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

Ein erster Schritt zur Relevanzthese

Bereits Lockes Definition des Selbsts und der darauf aufbauenden Definition einer Person erklärt also, warum wir um unsere Vergangenheit und Zukunft besorgter sind, als um die Vergangenheit und Zukunft anderer.

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Selbst und Person[Self is] that conscious thinking thing which is sensible or conscious of pleasure and pain, capable of happiness or misery, and so is concerned for itself as far as that consciousness extends.Person is the name for this self. This personality extends itself beyond present existence only by consciousness; whereby it becomes concerned and accountable, owns and imputes to itself past actions, just for the same ground and for the same reason that it does the present. All which is founded in a concern for happiness, the unavoidable concomitant of consciousness: that which is conscious of pleasure and pain desiring that that self that is conscious should be happy.

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AdäquatheitsbedingungenLocke wollte also eine Theorie diachroner

Personenidentität entwickeln, diea) Wiedergeburt und menschliche Unsterblichkeit

auf ontologisch neutrale Weise verständlich macht,

b) konsistent mit der Tatsache ist, dass wir eine besondere Form des Wissens über unsere eigene Identität über die Zeit haben,

c) erklären kann, dass unsere zukünftigen und vergangenen Selbste (ihre Taten und Schicksale) uns in einer Weise wichtiger sind, als die (Taten und Schicksale der) Selbsteanderer.

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Principium individuationis

x ist mit y identisch genau dann, wenn (gdw) x und y von derselben Art sind und denselben Beginn ihrer Existenz haben. (hinreichend & notwendig)

x ist dann identisch mit y, wenn x und y von derselben Art sind und zu (mindestens) einem Zeitpunkt denselben Ort einnehmen. (hinreichend)

x ist nur dann mit y identisch, wenn x und y von derselben Art sind und zu keiner Zeit verschiedene Orte einnehmen. (notwendig)

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Lockes Theorie ist kein Beispielfall einer generellen Theorie der Identität

Locke glaubt, dass gerade im Fall der Wiedergeburt eine Person zwei Anfänge ihrer Existenz hat. Diese Inkompatibilität spricht dafür, dass sein pricipium individuationis nur eingeschränkte Gültigkeit besitzt, eingeschränkt auf (1) Gott, (2) endliche Verstande/Geister, (3) Körper.

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Fundamentale Substanzen – die Grundlage des Lockeschen Reduktionismus

Diese drei Sorten von Entitäten sind für Locke fundamentale Konstituenten der Realität und nicht weiter reduzierbar. Für sie gilt entsprechend das starke principium individuationis. Organismen (Pflanzen, Tiere, Menschen) und Personen sind in diesem Sinne nicht fundamental. Die gesamte Geschichte einer solchen Entität kann im Prinzip auch durch bloße Referenz auf die sie konstituierenden fundamentalen Substanzen angegeben werden.

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Noonan: Das principium individuationis ist zirkulär

Wenn die diachrone Identität fundamentaler Substanzen aber darin besteht, dass ihre Identität immer durch ihre Relation zum Zeitpunkt und Ort ihrer Existenz determiniert ist, sagt uns das praktisch nichts.Worin sonst könnte diese Relation nämlich bestehen, außer darin, mit der an diesem Ort zu jenem Zeitpunkt zu existieren begonnen Entität identisch zu sein?

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Pflanzen, Tiere und Menschen

Ein notorisches Problem der Identität von Organismen ist bekanntlich, dass sich ihre substantielle Grundlage ständig wandelt. Ein lebender Organismus zeichnet sich gerade durch seinen Metabolismus, seinen Stoffwechsel aus. Worin kann dann seine Identität bestehen?

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Die Organisation des Lebens

Für Locke besteht die diachrone Identität von Organismen in ihrem kontinuierlichen Funktionieren (in der Identität des Lebens). Dieses Funktionieren kann auch dann aufrecht erhalten werden, wenn sich die konstituierende Materie ändert.Analog dazu will Locke die diachrone Identität von Personen erklären:So wie die Identität von Organismen zur Identität eines Lebens steht, steht die Identität von Personen zu der Identität des ...

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...Bewusstseins

[D]ifferent substances by the same consciousness being united into one person, as well as different bodies by the same life are united into one animal, whose identity is preserved in that change of substance by the unity of one continued life. For, it being the same consciousness that makes a man be himself to himself, personal identity depends on that only, whether it be annexed to one individual substance, or can be continued in a succession of several.

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Metaphysisch –theologische Motive dieser Theorie

Dadurch, dass Locke die Einheit der Person im Bewusstsein verankert, kann er einerseits die Wiedergeburt bei Wegfall der materiellen Grundlage erklären, ohne dabei andererseits auf den Dualismus festgelegt zu sein.

Personale Identität besteht nicht in der Identität einer denkenden Substanz, sondern in der Identität eines Bewusstsein, dass auch bei einer etwaigen Änderung der konstituierenden denkenden Substanz dasselbe bleiben kann.

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Erkenntnistheoretische Motive dieser Theorie

Gleichzeitig kann er ein erkenntnistheoretisches Motiv für die Identifizierung von Bewusstsein und Person angeben: Ich kann mir zwar nicht sicher sein, dass ich dieselbe denkende Substanz bin, wie die deren Handlungen mir in bewusster Erinnerung sind, ich kann mir aber sicher sein, dass ich mir dieser Handlungen bewusst bin.

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Praktische Motive dieser Theorie

Schließlich erklärt dies auch unser besonderes praktisches Interesse an personaler Identität:

Wäre ich mit Nero bloß materiell kontinuierlich, sollte mich das genauso wenig stören, wie herauszufinden, dass Nero und ich dieselbe denkende Substanz sind. Sollte ich aber plötzlich (erste-Person-) Bewusstsein von Neros Taten erhalten würde mich das sicherlich nicht mehr indifferent lassen.

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„Person“ als forensischer Begriff

Locke ist in gewisser Weise ein „begrifflicher Pragmatist“, da er der Überzeugung ist, dass wir unsere begrifflichen Klassifikationen entsprechend unseren Interessen gewählt haben. (Entsprechend sieht bereits Locke begriffliche Grenzfälle als Entscheidungsfragen an.)Wenn Locke daher sagt, dass der Begriff der Person eine forensischer Begriff ist, drückt er damit aus, dass die Interessen, die diese Methode der Klassifikation am besten erklärt, die der Moral und des Rechts sind.

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Personale Identität und Recht

Nach Locke ist personale Identität (also Identität des Bewusstseins) sowohl hinreichend als auch notwendig, um jemanden für eine begangene Tat zur Verantwortung zu ziehen.

I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

Inkompatibilität von Recht und Theorie

Lockes Theorie kollidiert allerdings an mehreren Stellen mit unseren Intuitionen und rechtlichen Prinzipien.

Zunächst halten wir personale Identität nicht für hinreichend für eine Bestrafung. Unser Rechtssystem kennt entschuldigende Umstände.

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Lockes Rettungsversuch

Wir akzeptieren diese Umstände auch dann, wenn wir absolut der Überzeugung sind, dass es sich um dieselbe Person (im Lockeschen Sinne) handelt.

Locke versucht diese Akzeptanz allerdings auf Fälle einzuschränken, in denen die Kontinuität des Bewusstseins verletzt wurde.

I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

In dubio pro reo 1

Ein weiteres Problem besteht darin, dass Lockes Ansatz jeden zu entschuldigen scheint, der vorgibt sich an seine Tat nicht erinnern zu können.

Locke gibt an, dass wir einen Schlafwandler und einen Betrunkenen trotzdem für seine Taten bestrafen würden, da wir nicht überprüfen können, ob sein Erinnerungsreport den Tatsachen entspricht.

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In dubio pro reo 2

Zunächst war es bereits zu Lockes Zeiten so, dass Schlafwandler für ihre Taten nicht bestraft wurden.

I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

In dubio pro reo 3

Außerdem wird seit Beginn der Rechtsstaatlichkeit niemand bestraft, weil nicht sicher erwiesen ist, ob er vielleicht unschuldig ist! Es muss vielmehr hinreichend erwiesen sein, dass er schuldig ist.

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I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

In dubio pro reo 4

Schließlich ist Trunkenheit (in der Regel) nicht deshalb keine Entschuldigung für eine Tat, weil spätere Erinnerungsreporte unzuverlässig sein können, sondern weil Trunkenheit im Gegensatz zu Schlafwandeln oder Geisteskrankheit vom Willen kontrolliert werden kann.

Als Theorie der moralischen Zurechnung von Strafe und Schuld ist Lockes Theorie demnach ein Reinfall.

I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

Zusammenfassung 1

Bei Locke findet sich die wohl wichtigste erste systematische Überlegung zum Problem der diachronen Personenidentität.

Die Idee, personale Identität als psychische Kontinuität zu verstehen, hat sich bis heute als fruchtbarer Ansatz erwiesen. Schon bei Locke finden wir ein reduktionistisches Programm und eine gewisse Form von begrifflichem Pragmatismus. Beides gehört zum festen Bestandteil praktisch aller ernstzunehmenden modernen Ansätze.

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I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

Zusammenfassung 2

Wichtig bleibt auch die Betonung und Weiterentwicklung der Relevanzthese (Personale Identität ist das, worauf es beim Überleben ankommt), sowie eine genaue Analyse des Erinnerungskriteriums (und damit eine Analyse des Erinnerungsbegriffs). Gerade an dieser Stelle hatte der Lockesche Ansatz mit argen Problemen zu kämpfen, wie schon seine Zeitgenossen erkannten.

I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

I. Der philosophiehistorische Hintergrund

2. Leibniz, Butler, ReidLockes frühe Kritiker

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I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

Leibniz, Butler, ReidLockes frühe Kritiker

Gottfried Wilhelm Leibniz

(1646-1716)

Joseph Butler

(1692-1752)

Thomas Reid

(1710-1796)

I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

Leibniz

Leibniz hat sich an zwei bemerkenswerten Stellen zum Problem der diachronen Personenidentität geäußert. Zuerst im Discours de Métaphysique und später – als direkte Reaktion auf Lockes Theorie – in den Nouveaux Essais Sur L'Entendement Humain.

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I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

Discours de Métaphysique 1

In der kurzen Stelle im Discours (Abschnitt 34) werden sowohl Gemeinsamkeiten mit Locke, als auch zwei grundsätzliche Unterschiede deutlich:

Gemeinsamkeiten:– Leibniz hält personale Identität ebenfalls für einen

forensischen Begriff.

– Bewusste psychische Kontinuität ist eine notwendige Bedingung personaler Identität.

I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

Discours de Métaphysique 1

Unterschiede zu Locke (laut Noonan):– Die Identität von Substanzen ist ebenfalls eine

notwendige Bedingung personaler Identität.

– Gott erlaubt nicht die Trennung von psychischer Kontinuität und ihrem Träger (der Seele).

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I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

Nouveaux Essais Sur L'Entendement Humain.

In seiner späteren Arbeit distanziert sich Leibniz allerdings weiter von Locke. Zunächst wird Erinnerung anscheinend als notwendiges Kriterium für personale Identität verabschiedet. Manche Stellen scheinen sogar im direkten Widerspruch zum Discours zu stehen:

I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 1. Alles Fußnoten zu Locke?

Discours Ÿ Nouveaux Essais

Nehmen wir an, dass irgendein Individuum plötzlich König von China werden sollte, unter der Bedingung jedoch, das zu vergessen, was es gewesen ist, so als ob es ganz von neuem geboren worden wäre –ist das nicht in der Praxis oder hinsichtlich der Wirkungen, die man wahrnehmen kann, genau dasselbe, als ob es vernichtet werden sollte und ein König von China sollte an seiner Stelle im gleichen Augenblick geschaffen werden? Dieses Individuum hat aber keinen Grund, dies zu wünschen.

Und wenn ich alle vergangenen Dinge vergessen hätte und gezwungen wäre, mich von neuem bis auf meinen Namen und bis aufs Lesen und Schreiben belehren zu lassen, so könnte ich immer von anderen mein vergangenes Leben in meinem vorhergehenden Zustand erfahren, wie ich meine Rechte bewahrt habe, ohne dass es notwendig wäre, mich in zwei Personen zu teilen und mich zum Erben meiner selbst zu machen.

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I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

Auflösung der Widersprüche

Es scheint, als sei Leibniz der Auffassung, dass Substanzidentität notwendig und hinreichend für personale Identität sei, die diachrone Identität dieser Substanz ihrerseits aber in der psychischen Verknüpfung ihrer zeitlichen Stadien bestünde. Die König von China-Situation ist dann unmöglich.

Eine Alternative Interpretation wäre, das König von China-Gedankenexperiment nicht als ontologisches Argument zu verstehen. Dann würde aber Leibniz bereits die Relevanzthese in Frage stellen.

I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

Das erste Verdoppelungsargument

Leibniz scheint außerdem das erste Verdoppelungsargument vorgebracht zu haben, ein Gedankenexperiment, in dem Lockes Theorie per Transitivität der Identität die Inkompatibilität mit unseren Intuitionen nachgewiesen wird.

Derselbe Gedanke wurde 1956 von Bernard Williams wiederholt und führte zu einer ganz neuen Debatte über personale Identität.

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I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

Butler und Reid

Butler und Reid sind eigentlich für den sogenannten Zirkularitätsvorwurf berühmt geworden, der in der Tat eine Herausfordeung für jeden psychischen Ansatz darstellt, von ihnen jedoch sehr wahrscheinlich nie vorgebracht wurde (ihre Argumente klingen so ähnlich, zielen aber auf etwas gänzlich anderes). An dieser Stelle soll daher nur Butlers Paradox of the Gallant Officer sowie der tatsächlicheZirkularitätsvorwurf besprochen werden.

I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

Paradox of the Gallant Officer 1

Suppose a brave officer to have been flogged when a boy at school for robbing an orchard, to have taken a standard from the enemy in his first campaign, and to have been made a general in advanced life; suppose also that, when he took the standard, he was conscious of having been flogged at school, and that, when he made a general, he was conscious of his taking the standard, but had absolutely lost the consciousness of his flogging ...

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I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

Paradox of the Gallant Officer 2

Gemäss dem Wortlaut der Lockeschen Theorie ist der General zwar identisch mit dem Standartenräuber, nicht aber mit dem Schuljungen. Da der Standartenräuber aber mit dem Schuljungen identisch ist, sollte mit der Transitivität der Identitätsrelation ebenfalls gelten, dass der General mit dem Schuljungen identisch ist (Widerspruch). Ein Problem, dem die Lockesche Theorie durch die Einführung des Begriffs der psychischen Kontinuitätleicht begegnen kann:

I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

Paradox of the Gallant Officer 3

P2 zu t2 ist psychisch kontinuierlich mit P1 zu t1 gdw. P2 das letzte Glied in einer bei P1 zu t1

beginnenden Kette von Personenstadien ist, die sich alle der Taten und Handlungen ihres direkten Vorgängers in der Kette bewusst sind.

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I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

Paradox of the Gallant Officer 4

Psychische Verknüpfung

t1 t5t4t3t2

Psychische Kontinuität

I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

Der Zirkularitätsvorwurf 1

Bekanntlich gibt es so etwas wie scheinbare Erinnerungen, die keine zuverlässigen Informationen über die Vergangenheit enthalten. Für das Lockesche Kriterium brauchen wir aber Erinnerungen, die zumindest insofern zuverlässig sind, dass wir selbst das Subjekt der Handlungen und Erfahrungen waren (die wir dann möglicherweise falsch erinnern).

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I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

Der Zirkularitätsvorwurf 2

Wollen wir nun wissen, ob wir in diesem Sinne zuverlässige Erinnerungen haben, müssen wir zunächst feststellen, ob wir mit dem Subjekt der erinnerten Handlungen identisch sind.

Wir wollten aber ja gerade herausfinden, ob wir mit dem Subjekt der erinnerten Handlungen identisch sind.

I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

Der Zirkularitätsvorwurf 3

Personale Identität über das Haben von veritablen Erinnerungen zu definieren ist dann zirkulär: zu wissen, dass und wann eine Erinnerung veritabel ist, setzt voraus dass man den Begriff personaler Identität bereits anwenden kann.

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I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

Persons are thinking, intelligent beings 1

Ein Vorwurf an Locke, den wir ebenfalls zunächst außer Acht lassen müssen, ist der folgende (Rekonstruktion Shoemaker):

Locke defines 'person' as meaning 'a thinking, intelligent being'. If persons are thinking things and thinking things are substances then persons are substances. And it follows from the definition of a 'person' that a person is a substance, it is surely self-contradictory to say that the identity of a person does not involve the identity of a substance.

I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 2. Leibniz, Butler, Reid

Persons are thinking, intelligent beings 2

Aus diesem Einwand lässt sich ein tatsächliches Problem generieren, dass wir aber im Ontologieteil noch näher besprechen werden und das sicherlich ebenfalls nicht Gegenstand der Überlegungen von Butler oder Reid war.

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I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 3. Hume

Hume

David Hume (1711-1776)

I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 3. Hume

Hume

In seinem Treatise of Human Natureverteidigte Hume die für seine Zeit wohl radikalst Auffassung bezüglich des Problems personaler Identität: personale Identität ist eine pure Fiktion!

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I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 3. Hume

Of Personal Identity& Second Thoughts

Seine Argumentation ist im Ganzen absolut nicht stichhaltig, und Hume hält sie selbst in einem später angefügten Appendix für inkonsistent. Dennoch enthält sie die Grundidee des Reduktionismus und seine Theorie hat enorme Ähnlichkeiten mit modernen Theorien des Selbsts (wie beispielsweise Daniel Dennetts).

I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 3. Hume

Whatever is distinct, is separabel by thought or imagination.

Offenbar versteht Hume sein obiges Vorstellbarkeitsprinzip als hinreichend und notwendig. Da er sich kein Selbst bar jeder Wahrnehmung vorstellen kann, ist das Selbst nichts anderes als ein Bündel kausal miteinander verknüpfter Wahrnehmungen.

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I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 3. Hume

Bündeltheorie des Selbsts

When I turn my reflection on myself, I never can perceive this self without some one or more perceptions; nor can I ever perceive any thing but the perceptions. 'Tis the composition of these, therefore, which forms the self.

I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 3. Hume

Das Selbst als Fiktion

Zwischen den einzelnen Wahrnehmungen gibt es keine wahrnehmbare Verbindung. Was sie zusammenhält, ist ein Gefühl des Zusammengehörens, aus dem der Geist die Idee eines Selbsts als Fiktion bildet.

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I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 3. Hume

Humes Zweifel

Hume selber sah es bereits als problematisch an, wie der Geist wohl imstande sei eine solche Idee zu bilden.

I. Der philosophiehistorische Hintergrund - 3. Hume

Humes Erbe

Allerdings wurde sowohl a) seine Auffassung, dass Erinnerung alleine

personale Identität nicht konstituieren kann, sondern nur ein Teil verschiedener, kausal verknüpfter psychischer Verbindungen von früheren und späteren Selbsten ist, sowie

b) seine Auffassung, dass das Selbst zu seinen Wahrnehmungen in einem solchen (ontologischen) Verhältnis steht, wie der Staat zu seinen Bürgern, fester Bestandteil moderner reduktionistischer Ansätze.