IDV-Rundbrief Heft 66 (April 2001)...5 tiger) die Verabredungen über die praktische Ausführung so...

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Rundbrief Aus dem Inhalt IDV 1993-2001 oder: DaF geht in den Spagat Auf dem Weg nach Luzern Einführung in die Entwicklungsgeschichte des Schweizerdeutschen Sprache(n) in der Deutschschweiz Fremdsprachendidaktik und -methodik im Spannungsfeld von Theorie und Praxis ISSN 1431-5181 Der Internationale Deutschlehrerverband April 2001 66

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Rundbrief

Aus dem Inhalt

l IDV 1993-2001 oder:DaF geht in den Spagat

l Auf dem Weg nach Luzern

l Einführung in die Entwicklungsgeschichtedes Schweizerdeutschen

l Sprache(n) in der Deutschschweiz

l Fremdsprachendidaktik und -methodikim Spannungsfeld von Theorie und Praxis

ISS

N 1

431-

5181

Der Internationale DeutschlehrerverbandApril 2001

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Inhaltsverzeichnis

AUS MEINER SICHT

G. Westhoff: IDV 1993–2001oder: DaF geht in den Spagat 4

DIE XII. IDT IN LUZERN

M. Clalüna: Auf dem Weg nach„Luzern“ 8

H.-W. Grüninger: Luzern – eineWiederbegegnung 11

AUS DEN VERBÄNDEN

M. Astwazatrjan: Regionaltagung„Spezifik von Deutsch als Fremd-und Zweitsprache“ 23

B. Kühn: Der EcuadorianischeDeutschlehrerverband (ASEPA) 24

A. Tamilla: Der Deutschlehrer-verband von Aserbaidschanpräsentiert sich 27

VERANSTALTUNGSVORSCHAU 29

BEITRÄGE

H.-W. Grüninger: Einführung indie Entwicklungsgeschichte desSchweizerdeutschen 30

R. Schmidlin: Sprache(n) in derDeutschschweiz 40

W. Pfeiffer: Fremdsprachendidaktikund -methodik im Spannungsfeldvon Theorie und Praxis. Ein Essay 49

REZENSIONEN

Aussprachekurs Deutsch(L. Adamcová) 56

Internet für Germanisten (L. Eriksen) 59

Wer? Wie? Was? Mega 2(R. Domisch) 59

A. Steets: Robert Schneider:Schlafes Bruder (J. Tvrzniková) 61

EINGESANDTE LITERATUR 62

DER INTERNATIONALE DEUTSCHLEHRERVERBAND

Gründungspräsident: Egon Bork

IDV-RundbriefHeft 66 April 2001

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Präsident: Gerard J. Westhoff; Heidelberglaan 8; IVLOS – RUU;NL–3584 TC Utrecht; Niederlande; Tel.: (0031) 30 253 1724;Fax: (0031) 30 253 2741; E-Mail: [email protected]

Sitz des Präsidiums: IVLOS Institut für Unterrichtswissenschaft; Universität Utrecht;Heidelberglaan 8; NL-3584 TC Utrecht; Niederlande

Generalsekretärin: Helena Hanuljaková; Metodické centrum; Tomášikova 4;P. O. Box 14; SK–820 09 Bratislava; Slowakische Republik;Tel.: (00421) 7 52 222 53; Fax: (00421) 7 23 59 46;E-Mail: [email protected]

Schatzmeister: Alfred H. Schulze; 12, 2168 150A Street; Surrey, B. C.V4A 9W4 Kanada; Tel.: (001) 604 536-9253;Fax: (001) 604 536-7352; E-Mail: [email protected]

Schriftleiter a. i.: Hans-Werner Grüninger; Kalchackerstr. 47; CH–3047 Brem-garten b. Bern; Schweiz; Tel./Fax: (0041) 31 302 01 10

Beisitzer: Torvald Perman; Visasbacken 2 A; FIN–68600 Jakobstad;Finnland; Tel.: (00358) 6 72 30 540; Fax: (00358) 6 78 51 347;E-Mail: [email protected]

Experten: Rolf Stehle (Deutschland)Brigitte Ortner (Österreich)Monika Clalüna (Schweiz)

IDV-Home page: http://www.wlu.ca/~wwwidv/netz.htmlIDV-Netz: [email protected]: Herminio Schmidt; Wilfrid Laurier University; Waterloo, Ont.;

Kanada

DER INTERNATIONALE DEUTSCHLEHRERVERBAND

Der IDV-Rundbrief erscheint zweimal jährlich. ISSN 1431–5181.Herausgeber: Der Internationale DeutschlehrerverbandVerantwortlicher Schriftleiter: Hans-Werner Grüninger (ad interim)

Zuschriften, Beiträge, Besprechungsexemplare und Anzeigenwünsche bitte an dieSchriftleitung schicken.

Rundbrief 67 erscheint im Oktober 2001.Einsendeschluss für Beiträge und Anzeigen: 15. August 2001Anzeigentarif: 1 Seite sFr. 400.– (15 x 22,5 cm)

Umschlag-Innenseite sFr. 450.–Umschlag-Rückseite sFr. 500.–

Das Abonnement für 2 Jahre (= 4 Hefte) beträgt 40 DM zuzügl. Versandkosten.Abonnementsbestellungen bitte direkt an den Verlag richten.Schubert-Verlag D – 04205 Leipzig, Plovdiver Str. 32–34, Tel.: ++341 – 4 21 50 81,

Fax: ++3 41– 4 21 50 82, E-Mail: [email protected]

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Auf dem Weg nach Luzern

XII. IDT: 30. Juli bis 4. August 2001

Illustration: Daniela Grüninger

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AUS MEINER SICHT

IDV 1993–2001 oder: DaF geht in den Spagat

Am Ende meiner zweiten und letz-ten Amtsperiode liegt es auf derHand zurückzublicken. Ebenso liegtes nahe, nach einer verhältnismäßiglangen Zeit etwas Abstand zu neh-men und zu versuchen, in den Ent-wicklungen nach Tendenzen zu su-chen. Dabei kristallisiert sich ausmeiner Sicht ein Paradox heraus:Wachstum bei zunehmendem Rück-gang. Was sich in diesen acht Jah-ren vollzog, ließe sich umschreibenals: „DaF geht in den Spagat“.

Zunächst das Wachstum. Für denIDV als Organisation kennzeichnetsich diese Periode durch dauerhaf-tes Größerwerden. Vor acht Jahrenkamen 18 neue Verbände hinzu und brachten die Gesamtzahl der Mitglieds-verbände auf 70. Im Moment sind es 92, verteilt über 72 Länder. Gewachsenist auch die Zahl der Aktivitäten und die Intensität der bi- und multilateralenKontakte zwischen Mitgliedsverbänden und individuellen Deutschlehrern inaller Welt. Das ist nur zu einem Teil das Verdienst des IDV-Vorstandes. Die-ser Teil bestand erstens daraus, dass der Vorstand ein für den IDV neuesPrinzip ausgearbeitet hat: das Prinzip der „selbsttätigen Verbände“. Geradedurch das Wachstum wurde schnell klar, dass ein IDV-Vorstand nicht im Stan-de ist, selbst und von sich aus den Mehrwert des IDV zu organisieren. Dasführte zu einer veränderten Rollenauffassung des Vorstandes. Der Vorstandsah seine Aufgabe nun weniger darin, selber für mehr oder weniger ‚konsu-mierende‘ Mitgliedsverbände Dinge zu veranstalten. Vielmehr sah er seineRolle darin, die Verbände anzuregen, selber gemeinsame Aktivitäten zu ent-werfen und ihnen behilflich zu sein, für die Ausführung die günstigsten Be-dingungen zu schaffen. Aus diesem Grund wurden die alle vier Jahre statt-findenden Arbeitstreffen umfunktioniert. Sowohl in Puchberg (1995) als auchin Frankfurt a. O. (1999) waren diese Tagungen durch die Art der Vorberei-tung und Durchführung darauf angelegt, den Verbänden optimale Möglich-keiten zu geben, gemeinsame Projekte auszudenken und (vielleicht noch wich-

Gerard Westhoff

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tiger) die Verabredungen über die praktische Ausführung so zu gestalten,dass diese auch garantiert ist. Das Konzept scheint inzwischen zu funktio-nieren. Bei beiden Tagungen wurden etwa 20 Projekte definiert. Anders alsin vielen anderen Fällen wurde die Mehrheit dieser Pläne auch tatsächlichausgeführt. Das ist viel mehr, als ein IDV-Vorstand von sich aus je hättezustande bringen können. Manche davon, wie einige regionale Deutschleh-rerzeitschriften, haben sogar einen semipermanenten Charakter erhalten.

Neu waren auch die sogenannten Delegiertenseminare. Viele der neuen Mit-gliedsverbände hatten kaum Erfahrung mit der Organisation von Verbands-arbeit. Bei dieser Aktivität hat der IDV-Vorstand von Anfang an auch selbereine ausführende Rolle gespielt, obwohl auch hier die Verbände, im Rahmeneiner wachsenden Selbsttätigkeit, die führende Rolle allmählich immer mehrselbst übernommen haben. Das erste Delegiertenseminar in Berlin (1994)für Mitgliedsverbände aus MOE war noch als ein richtiges Seminar aufge-baut und dauerte mehr als eine Woche. Auch das zweite (Wien 1995) für dieMitgliedsverbände aus Afrika und Südamerika dauerte eine ganze Woche.Inzwischen haben diese Tagungen mehr den Charakter einer Arbeitssitzung,dauern meistens nicht länger als einen Tag und finden oft am Rande einerRegionaltagung statt.

Auch die IDV-Regionaltagungen sind in diesen acht Jahren entstanden, undauch sie stehen in einer gewissen Beziehung zum Wachstum des IDV alsOrganisation. Die IDTs wurden immer größer. In Wien (1989) waren etwa800 Teilnehmer, in Leipzig (1993) waren es etwa 1200, in Amsterdam (1997)schon 1600 und für Luzern rechnen manche schon mit 1800. So große Ta-gungen lassen sich nicht kurzfristig organisieren. Die Frist zwischen denIDTs wurde dadurch immer länger und das Bedürfnis der Mitgliedsverbän-de, sich in der Zwischenzeit zu treffen, wurde größer. Das, kombiniert mitder größeren Selbsttätigkeit der Verbände, führte zu der Organisation vonIDV-Regionaltagungen. Die erste in Beijing (1994), danach in Stanford (USA),Cordoba (Argentinien), Dakar (Senegal), Kuba und Armenien. Auffällig isthier, dass die Aktivitäten nicht mehr, so wie früher, ihr Epizentrum im altenEuropa hatten, sondern in den ‚neuen‘ DaF-Entwicklungsgebieten und aufanderen Kontinenten. Es wäre nur logisch, wenn sich diese Entwicklung wieauch die weltweit zunehmende Feminisierung des DaF-Lehrer-Berufs auchin der Zusammensetzung des Vorstandes widerspiegeln würde.

Eine andere wichtige Entwicklung war die Digitalisierung der Kommunika-tion. Noch in Leipzig wurde von der Vertreterversammlung beschlossen, dassdie Protokolle der Vorstandssitzungen an alle Verbände geschickt werdensollten. Jetzt scheint diese Entscheidung schon wieder so gut wie obsolet zuwerden. Es ist viel Arbeit, kostet Geld, die Post ist langsam und nicht immerzuverlässig und der IDV hat schon längst eine gute und schöne Webseite.

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Was läge näher als Veröffentlichung der Protokolle auf der Leitseite? AlleVerbände könnten dann sogar über den Text in digitaler Form verfügen unddaraus, was sie für nützlich halten, ohne einen Buchstaben abtippen zu müs-sen, in ihren eigenen Medien publizieren. Aber die digitale Revolution istnoch nicht überall in der Welt gleichermaßen fortgeschritten. Vorläufig wirdnoch eine ‚Zweispurenpolitik‘ nötig sein. Aber bald wird die Kommunikati-on zwischen Vorstand und Mitgliedsverbänden nur noch auf elektronischemWeg verlaufen. Das ist schon weitgehend der Fall zwischen den Verbänden.Die IDV-Webseite fungiert schon jetzt, dank der hervorragenden Arbeit un-seres Webmasters Herminio Schmidt, nicht nur als Informationsmedium,sondern auch als Forum für die Mitgliedsverbände. Eine wichtige Erweite-rung dieser Funktion ist durch ein in Frankfurt (a. O.) 1999 ausgearbeitetesProjekt, koordiniert von Marco Aurelio Schaumlöffel, realisiert worden. Aufder IDV-Leitseite hat jetzt jeder Mitgliedsverband Raum für seine eigeneWebseite. Darüber hinaus bietet die IDV-Liste einzelnen Kollegen in allerWelt die Möglichkeit, Ideen auszutauschen, Probleme vorzulegen, Themenzu diskutieren usw. Der IDV war beim Explorieren dieser neuen Möglich-keiten ein Pionier, aber von den wirklichen Möglichkeiten haben wir erst dieblassen Anfänge gesehen. Es wird nicht lange dauern, bis auch die IDTs anOrt und Stelle nur noch eine Phase eines zu einem größeren Teil vorher undnachher im Internet sich vollziehenden Ereignisses sein werden.

All diesem Wachstum steht ein Rückgang auf verschiedenen Gebieten ent-gegen. Zunächst finanziell. Fast alle neuen Mitgliedsverbände stammen ausden finanzschwächeren Regionen der Welt. Waren früher Beitragsermäßi-gungen verhältnismäßig selten, wurden sie im Laufe der Jahre immer häufi-ger. Das hieß, dass pro Mitgliedsverband immer weniger Geld zu Verfügungstand. Darüber hinaus hatten auch die wichtigsten Sponsoren ihre Problememit Sparmaßnahmen. Es musste also immer ökonomischer mit dem Geldumgegangen werden. Die billigsten Reisemöglichkeiten, preiswerte Hotelsin am liebsten nicht zu teuren Ländern und ein strenger Schatzmeister habenuns da sehr geholfen. Die Tagegelder für Vorstandsmitglieder sind, soweitich übersehen kann, seit 18 Jahren nicht erhöht worden. Es geht. Aber daskann nicht ewig so weiter gehen.

Zweitens steht dem Zuwachs an Mitgliedsverbänden ein Rückgang in derZahl der Deutschlerner gegenüber. Eine weltweite Erscheinung. Und obwohldas Englische in gewissen Bereichen mit Recht sich unaufhaltsam zur Lin-gua franca entwickelt, ist die Vorliebe für das Englische als Unterrichtsfachnicht immer rational. Englisch mag die Sprache des Cockpits sein, der inter-nationalen Kongresse, vieler Wissenschaftszweige und der meisten Multina-tionals, Deutsch ist und bleibt aber weitaus die größte Sprache in Europa. Inmehreren Wissenschaftsbereichen hat einen Rückstand, wer die deutschen

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Quellen nicht lesen kann und auf die Übersetzungen ins Englische wartenmuss. In den mondialen Top-Fünf der bilateralen Handelsströme ist Deutsch-land dreimal Partner (USA nur zweimal). Namentlich für die vielen Nach-barländer des deutschen Sprachraums gilt, dass Deutschkenntnisse mehr nüt-zen in Beruf und Ausbildungsmöglichkeiten als das modische Englisch. Na-mentlich für den großeuropäischen Raum könnte in der Werbung für DaFvielleicht das Konzept der konzentrischen Mehrsprachigkeit von Nutzen sein.Die Idee, dass jeder Mensch zuerst seine Muttersprache lernt, dann als ersteFremdsprache sehr früh in der Grundschule diejenige „Umgebungssprache“,die seinen Aktionsradius (für Ausbildung, Arbeit usw.) am ehesten erweitert(und das ist für sehr viele Europäer wohl eher Deutsch) und an dritter Stelleeine supranationale Lingua franca. Eine „Erste-Hilfe-bei-Begegnungen-Spra-che“: meistens wohl das Englische. Drei Sprachen als Basis. Es ist auch diePolitik der Europäischen Unterrichtsminister, die sich zu der sogenannten‚Muttersprache-plus-zwei‘-Regel verpflichtet haben. Die ersten Anzeichenscheinen da zu sein, dass auch der Europäische Markt sich selbst in dieseRichtung regulieren wird. Deutsch wird zwar seltener als Unterrichtsfachgewählt, aber wegen der engen ökonomischen Verbindungen in Industrie undWirtschaft so dringend gebraucht, dass für Deutschkenntnisse in einigen Län-dern schon höhere Gehälter bezahlt werden.Für andere Teile der Welt kommen wir damit nicht weiter. Dabei liegt dieProblematik dort sehr differenziert. In Korea wird Deutsch aus anderen Grün-den gelernt als in Senegal. Und in den USA haben DaF-Lerner andere Moti-ve als in Argentinien oder Kuba. Allerdings scheint sich eine Entwicklungweltweit abzuzeichnen: Überall, wo die Ausbildungen beim Germanistik-studium am Modell der Studiengänge in den deutschsprachigen Ländern fest-halten, sinkt das Interesse. Dort, wo man davon weggegangen ist und dasStudium zu ‚Deutschlandstudien‘ verändert und erweitert hat, wachsen dieStudentenzahlen wieder. Vielleicht liegt für DaF dort die Zukunft.Am meisten hilft uns die Haltung der offiziellen Vertreter der deutschspra-chigen Länder. So lange die im Ausland nicht konsequent Deutsch sprechenund sich auch ansonsten in Sachen Sprachenpolitik sehr bescheiden verhal-ten, wird Werbung für DaF nicht einfacher. Es war also ein hoffnungsvollesZeichen, als die deutsche Bundesregierung, dabei von der österreichischenRegierung stark unterstützt, bei der Eurotopp in Helsinki (1999) auf einerGleichberechtigung für Deutsch bestanden hat.Rückgang auch in der Zahl der Vorstandsmitglieder. Nicht strukturell, aberdarum nicht weniger bedauerlich. Unsere sehr verdiente Schriftleiterin, Mi-chelle Brenez, konnte es mit ihrem Gewissen nicht in Übereinstimmung brin-gen, dass der IDV an einer Tagung beteiligt war in einem Österreich, in demdie FPÖ mitregiert. Sie ist aus diesem Grund leider, leider zurückgetreten.Es ist uns nicht gelungen, sie kurzfristig zu ersetzen. Wir danken unserem

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DIE XII. IDT IN LUZERN

Auf dem Weg nach „Luzern“

Auf dem Weg nach „Luzern“...

laufen im Tagungssekretariat in Luzern die Vor-bereitungen für die XII. IDT auf Hochtouren. Eshat sich gezeigt, dass das Thema: „mehr Sprache –mehrsprachig – mit Deutsch: didaktische und politischePerspektiven“, das vor vier Jahren durch die starke Betonung des Mehrspra-chigen und der Mehrsprachigkeit zunächst überrascht hat, nun genau dieaktuelle Debatte trifft. Das Jahr 2001 wurde vom Europarat zum Jahr derSprachen ausgerufen und die XII. IDT ist eines der wichtigen Projekte derSchweiz dazu. Es ist inzwischen kaum mehr bestritten, dass die Zukunft desFremdsprachenlernens in der Hinführung der Lernenden zur Mehrsprachig-keit liegt. Für Deutsch heisst das, dass es nicht länger ängstlich auf das Eng-lische als Konkurrenz starrt, sondern dass es die Rolle einer zentralen zwei-ten oder sogar dritten Fremdsprache annimmt und die Konsequenzen, diesich daraus sprachenpolitisch und unterrichtsbezogen ergeben, reflektiert undkonkretisiert. An den fast 700 Beiträgen, die für die IDT eingegangen sind,zeigt sich, dass die Rahmenbedingungen dieser Erkenntnis noch wenig Rech-nung tragen und dass in vielen Bereichen – vor allem im Unterrichtsalltag –noch ein weiter Weg zu gehen ist.

An der IDT wollen wir auf diesem Weg ein Stück weiter gehen. Die Referen-ten und Referentinnen werden in allen thematischen Bereichen die Bezie-hungen von Deutsch zu Aspekten der Mehrsprachigkeit in ihren Beiträgezentral einbeziehen.

Ehrenmitglied Hans-Werner Grüninger sehr für seine Bereitschaft, als‚Schriftleiter ad interim‘ so vorzüglich auszuhelfen.

DaF geht in den Spagat. Wir erleben eine Phase voller Widersprüche. Aberich verabschiede mich hoffnungsvoll. Was mich am meisten beeindruckt hatin diesen Jahren, ist das, was die KollegInnen dort, wo die Bedingungen amschwierigsten waren, geleistet haben. In Afrika, Südamerika und nicht zu-letzt in MOE ist Unglaubliches zustande gebracht worden mit sehr, sehr wenigMitteln. Solange sich da immer wieder so ein Reservoir an Kreativität, Ener-gie und Enthusiasmus auftut, brauchen wir uns nicht wirklich Sorgen zu ma-chen.

Gerard Westhoff, Präsident IDV

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Auf dem Weg nach „Luzern“ ...

sind die Sektionsleiterinnen und Sektionsleiter dabei, ihre Sektionsprogram-me zu gestalten. Gemeinsames Ziel ist es, mit den Beiträgen in vielfältigenArbeitsformen und dem Sektionsthema angepassten Präsentationsformen dengeeigneten Rahmen und die Arbeitsatmosphäre zu schaffen, damit in denSektionen nicht nur referiert und gezeigt wird, sondern dass auch eine ge-meinsame Diskussion und das Entwickeln von Überlegungen und Positio-nen möglich wird. Das verlangt von Beitragenden wie Teilnehmenden einUmdenken. Das „Sektionenspringen“, das auch schon mit dem unbefriedi-genden Zappen auf vielen Fernsehkanälen verglichen wurde, soll abgelöstwerden durch eine aktive Teilnahme an der Sektion und einen echten Ge-winn in diesem Bereich. Die Sektionsleiter planen ihre Sektionen so, dassdie gesamte Arbeit in zwei thematische Blöcke eingeteilt wird und dass wäh-rend eines Blocks die Teilnehmer und die Beitragenden gemeinsam arbei-ten. Von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern wird mit diesem Konzeptmehr Engagement und Konstanz erwartet, sie können die Sektion nur in derMitte der Woche wechseln und sie müssen sich bei der Anmeldung bereits indie Sektionen einschreiben.

Auf dem Weg nach „Luzern“ ...

sind Referentinnen und Referenten der „Vortragsschiene“ dabei, für ihre Vor-träge grundlegende Aspekte des Tagungsthemas zu erarbeiten. Dieses sollaus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden und die Sektionsarbeitsoll daraus wichtige Impulse erhalten. In den Vorträgen werden einerseitsInnovationen und Konzepte im didaktischen Bereich vorgestellt, anderer-seits wird das Thema aus (inter)kultureller Perspektive und auf dem Hinter-grund der Bezugswissenschaften beleuchtet. Wichtig sind nicht zuletzt auchsprachpolitische und wirtschaftliche Aspekte. In einem besonderen Schwer-punkt werden sprachübergreifende Konzepte vorgestellt, die sich alle aufden „Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen“ des Euro-parats beziehen. Dabei wird auch die schweizerische Sprachenpolitik mitihren gegenwärtigen Konzepten und Ansätzen umfassend dargestellt undkontrovers diskutiert.

Auf dem Weg nach „Luzern“ ...

sind die Kultur-Spezialistinnen aus der Schweiz, aus Deutschland, Öster-reich und Liechtenstein unter der Federführung der Schweizer Kulturstif-tung Pro Helvetia dabei, ein attraktives Kulturprogramm zu erarbeiten. DasThema „Mehrsprachigkeit“ wird sich wie ein roter Faden auch durch dieRahmenveranstaltungen und das kulturelle Angebot ziehen. Das vielfältige,

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interdisziplinäre Kulturprogramm umfasst alle Kultursparten: Lesungen inder Mutter- und der Fremdsprache Deutsch, in Dialekt und „Kanak Sprak“,Diskussionen zu den „Widersprüchen der Schweiz“, Kino- und Konzertabendesowie auch die Gelegenheit zu Begegnungen mit den Menschen in der StadtLuzern. Deutschland, Österreich und die Schweizer steuern je eine Ausstel-lung bei. Die „Länderfenster“, die in Amsterdam schon ein grosser Erfolgwaren, wird es auch in Luzern geben: Österreich und die Schweiz und zumersten Mal auch Liechtenstein werden sich präsentierten.

Nicht fehlen darf an einer IDT auch der grosse Teilnehmerempfang am Mon-tagabend. Auch hier leisten die DAL-Länder eine kulinarischen und kultu-rellen Beitrag zum Empfang, den das Luzerner Komitee vorbereitet.

Auf dem Weg nach „Luzern“ ...

planen die Verbände und der IDV-Vorstand ihre Präsenz an der XII. IDT.Denn vor, neben und nach der Tagung finden ja auch die Verbandsgeschäftestatt. Wie üblich findet vor der IDT und zum Abschluss eine Vertreterver-sammlung statt, ein abtretender Vorstand ist zu verabschieden und ein neuerist zu wählen, der Ort und die Trägerschaft der XIII. IDT müssen bestimmtwerden.

In Luzern soll erstmals ein IDV-Fenster organisiert werden, das zum eigent-lichen Treffpunkt der Verbände werden soll. Dort werden abgeschlosseneProjekte vorgestellt und neue lanciert, die Vertreterinnen und Vertreter kön-nen Kontakte knüpfen und neue Verabredungen treffen. Der IDV-Vorstandberichtet über die geleistete Arbeit und die Aktivitäten der letzten vier Jahre.Die Kandidatinnen und Kandidaten für den neuen Vorstand stellen sich vor.Das IDV-Fenster soll aber auch ein Ort des Verweilens und der Erholungwerden; der Ort, an dem das IDV-Fenster geplant ist, bietet dazu eine weiteSicht auf Luzerns Hausberg, den Pilatus. Der AkDaF und die Ledafids, diebeiden Landesverbände der Schweiz, stehen dort bereit, die Verbände zu emp-fangen. Also, machen Sie sich auf den Weg nach Luzern!

Monika Clalüna, Kongressleitung IDT 2001

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Luzern – eine Wiederbegegnung

Der nachfolgende Beitrag wurde mit Blick auf die Ende Juli in Luzern statt-findende XII. IDT verfasst. Der Text soll den Kongressteilnehmern den Ta-gungsort Luzern auf eine eher unkonventionelle Weise näher bringen auseiner Sicht, die persönlich und zeitbezogen ist, aber gleichzeitig das Histori-sche einbringt. Es ist ein Blick zurück, Reminiszensen und Reflexionen, mitdenen der Autor sein Verhältnis zur eigenen Jugendzeit aufzuhellen versucht.Dadurch erhält die Darstellung einen eher intimistischen Charakter. Dochwarum eigentlich nicht?

„Wo gehen wir denn hin? – Immer nach Hause.“(Novalis)

Bin ich vor den Philistern geflohen, wie ich meinte, oder vor mir selbst da-vongerannt, wie mir heute scheint: damals vor 50 Jahren, als ich Luzernverliess? Ich wollte mich absetzen von der gewohnten Umgebung und ab-stossen, was meinem jungen Leben Form, nicht aber Sinn gegeben hatte. DieGesellschaft, in der ich aufwuchs, war auf Tradition gegründet mit ihrenRitualen und Pflichten, ihr Denken, fixiert im Obrigkeitskult, war in Sche-mata gefangen und meist in der Defensive, apologetisch, nicht kritisch. Hin-terfragen verpönt. Doch mich verlangte nach Wandel und Ungebundenheit,ich wollte nicht meine Zukunft einbinden lassen in ein Dasein, das schonvorbestimmt ist durch die Bande der Familie, Klasse, Kumpanei und durchweltanschauliche Vorgeprägtheit. So war meine Flucht Wahl, nicht auferleg-tes Schicksal wie für so viele in jener und in der heutigen Zeit. Nach meinerLust und meinem Sinn wollte ich leben, nicht mich anpassen: in Paris. Wodenn sonst? Las Sartre, Camus, Kierkegaard, liess mir einen Vollbart wach-sen, gab mich als Existenzialist und studiertenebenbei.

* * *

Dem Aufbruch folgt nun ein halbes Jahrhun-dert später die Rückkehr und mit ihr ein sichRückbesinnen auf frühere Zeiten, aus dem viel-leicht ein neues Bewusstsein erwächst. Wieseltsam ist es doch, an den Ort der Kindheitund Jugend zurückzukehren. Es ist der Ort, zudem wir gehören und der uns gehört, selbstwenn wir alle Bande gelöst haben; es ist einOrt, dem man nicht entgehen kann, selbst wennman ihm entflieht ans Ende der Welt. Welch

Luzärn – e Brugge-Stadt

E Stadt – erbouta beidne Sytevo Fluss und See,die bruucht bezytee starchi Brugg,denn hätts kei Bruggfür drübetineund au zruggso wärs kei Stadt;s gäb nur zwöi Oorteis do – und eisam andre Poort.

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eigenartiges Empfinden ist es doch, nach all den Jahren zu wissen, wohin dieStrasse führt, ihren Verlauf vorauszusehen, bevor man die nächste Biegungerreicht, ihren Namen zu kennen, ohne ihn auf dem Strassenschild zu lesen.So erwacht unversehens die Vergangenheit und sie erhält neue Formen, Far-ben, Laute, Gerüche. Was ich einst gesehen, erlebt, erfahren und wieder ver-gessen, seit langem vergessen habe, wird wieder lebendig, und was als selbst-verständlich vormals kaum wahrgenommen wurde, fällt als etwas Ausseror-dentliches ins Auge: der Einfall des Sonnenlichts in die Kastanienbäume amQuai, der Duftstaub der Blätter, das Kräuseln der Wellen, das nächtliche Spie-geln der Himmelskuppe im schlafenden See, eine verwitterte Mauer, ein weitausladendes Dach, ein Kirchenportal, die Strassenbahn, die damals als wack-liges Tram mit einem Knirschen zum Halten kam und heute als wendig,trendig geschmeidiger Bus – immer noch blauweiss in den Farben der Stadt –fast lautlos anhält und weiterfährt. Und noch immer warten die Leute gedul-dig an denselben Haltestellen: im Gespräch in Gruppen oder allein in Gedan-ken versunken, noch immer stehen oder sitzen sie im Gedränge, bleiben insich selbst verschlossen, blicken starr auf den Boden oder suchend über dieKöpfe hinweg, in Abwehrstellung verharrend, als müssten sie ihr Territoriumverteidigen. Früher fuhr ich manchmal vergnügt auf dem Trittbett mit, heuteschliessen die Türen automatisch und der Fahrgast bleibt eingepfercht. Auf-springen nicht möglich. Das Trittbrettfahren ist den Politikern vorbehalten.

So stelle ich fest, dass sich manches geändert hat, und frage mich zugleich,ob nicht alles beim Alten geblieben ist. Wo Altbekanntes zum neuen Erleb-nis wird, wo sich das Gestern mit dem Heute vermischt und sich Vorstellung

und Wirklichkeit durchdringen, werden Ver-bindungen deutlich, werden Zusammenhängebewusst und schliesslich verdichtet sich, wasein Flackern und Flitzen der Erinnerung ist,zu einer Einheit und zu einem Sinn, den ichdamals kaum geahnt habe und den ich zu er-kennen glaube heute, da ich zurück bin undversuche, mit dem Faden der Erinnerung, denich spinne, Vergangenheit und Gegenwart zuverknüpfen. Doch wie mit dem scheinbar Wi-dersprechenden und Widerstrebenden, auf dasich dabei stosse, umgehen? Wie von der Ver-gangenheit sprechen, ohne sich von ihr ein-nehmen zu lassen und darob die Fähigkeit zuverlieren, das Neue zu erkenne, es anzuerken-nen und gebührend einzuschätzen und einzu-ordnen?

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D Spreuel-Brugg

Gosch über d Bruggund wider zruggund luegsch as Dachde gsehsch en Sachvo wildem Tanzmit vil Popanzund mattem Glanz– e Totetanz!

Bisch chli erchlöpft?Wirsch nonig köpft!Docn merksch de gly,was daas sell sy:Es Mahnmol für Dischurzi Lääbe;drum tue e Bitznoch Guetem strääbe!

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Am besten: zu allererst wieder den Überblickgewinnen. Ich steige auf den Gütsch, die waldi-ge Anhöhe mit dem viktorianischen Hochzeits-kuchenschloss, die aus dem Hintergrund undetwas absetzt einen umfassenden Blick bietetauf das Weichbild der Stadt, eingebettet zwi-schen sanften Hügelarmen, doch geöffnet aufeinen langgezogenen See hin, der seinerseitssich fjordartig einfügt in eine Bergwelt: im Vor-dergrund lässig hingestreckt Rigi und Bürgen-stock daneben, schroff und zackig, der Pilatus,Luzerns Wetter- und Geisterberg, Glieder einerKette, die allmählich überleitet zu den weissenSpitzen der Schwyzer- und Urneralpen, hinterdenen sich ein Hauch südlichen Himmels erah-nen lässt, nach dem es uns, die wir hinter dem mächtigen Schlagbaum leben,hinzieht. Heute ist der Felsenriegel aufgestossen und der Weg nach Südensteht weit offen: sei es mit schneller Bahnverbindung oder auf der Autobahndurch den Gotthardtunnel. Einst, im Mittelalter, war es ein mühseliges Rei-sen mit Schiff auf dem oft föhngepeitschten See, dann zu Fuss auf gebirgigenSaumwegen oder, etwas später in der Zeit, in unbequemen Postkutschen aufholprigen Strassen. Doch immer ist Luzern Ausgangspunkt oder Ziel, Um-steige- und Umladeplatz und auch Sammelpunkt auf dem Weg von Nordennach Süden, von Süden nach Norden: ein Ankommen und Weiterziehen.

So ist Luzern zum Ort der Begegnung geworden, wo sich Gegensätzlichesangleicht und ausgleicht und schliesslich durchdringt: ins Nordische – esgibt den Grundton an – ist viel Romanisches eingeflossen zur glücklichenDurchmischung, die sich im Lauf der Jahrhunderte vollzogen und Lebensstilund Geist geprägt hat, der Stadt, die wir heute kennen, ihr unverkennbaresWesen gebend.

* * *

Ja, Durchgang und Bewegung bestimmen das Leben. Das einstige beschei-dene Fischerdorf wird zum internationalen Treffpunkt. Der Fremdenverkehrist der Lebensnerv. Er bringt Wohlstand. Wohlstand bringt Weltoffenheit.Einst war es eine Internationalität, nicht frei von snobistischer Mondanitätzwar, doch ruhig-vornehm. Heute würde sie zum modischen Tingeltangelverkommen, wäre da nicht jene luzernische bürgerliche Beharrlichkeit. Magsie auch manchmal Eigenbrötlerei sein, so weiss sie doch Mass zu haltenund ein Gegengewicht zu schaffen zum hektischen Treiben des Massentou-rismus, der in hundert Sprachen Menschen aus aller Welt auslädt, sie durchdie Gassen und Strassen treibt, den See entlang, den Berg hinauf, der sie auf

D Jesuitere

Hert a de Rüüs,do spieglet prächtige Barock-Chile,vornääm, mächtig,as wär mer inereFürschtestadt.

Mer cha au oniFürschte boue,wenn s Volch das treidmit Gottvertroueund s Byspil zeigtgrad eusri Stadt.

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Boote und Schiffe verlädt, in Zahnradbahnen, Seilbahnen, Gondelbahneneinpfercht für Halb- und Ganztagstouren, sie in Hotelpaläste, Gasthäuser,Pensionen, Restaurants, Imbissbuden, Bierhallen, Jodelkneipen, Casinosabstellt als Futter für eine Gastlichkeit, die zur Industrie geworden ist, eineIndustrie ohne Fabrikschlote, und sie zu guter Letzt wieder auflädt, verfrachtetund abstösst der fernen Heimat zu.

Wie oft sind wir als muntere Gymnasiasten ins bunte Völkergetümmel einge-taucht, haben unser dürftiges und glanzloses Englisch aufpoliert im leichtenSchäkerspiel, haben vielleicht gar verbotene Früchte genossen, die einem fer-nen Garten Eden entfallen sind. Nichts hielt uns an schönen Sommerabendenzu Hause. Treffpunkt: Luzernerhof. Jagdgründe: Seeepromenade, Reussufer,Kursaal Dancing, Stadtkeller Folklore mit Alphorn und Jodeln.

* * *

Mondäne Weltstadt im Sommer, beschauliche Kleinstadt im Winter. In derWinterzeit wird alles anders: das grossstädtische Geschiebe hat sich aufge-löst, der Wirbel ist verbrandet, man kann wieder gemächlich durch die Stras-sen schlendern. Freunde grüssen, Bekannte nicken uns zu. Die Stadt ist wie-der überschaubar geworden, hat ihre Intimität zurückgewonnen: Luzern ge-hört wieder den Luzernern.

Allerdings: es gibt Tage, da ist der tiefblaue See bleigrau geworden. Nebelhüllt die Stadt in feuchtnasse Kälte und, wenn die Sonne für einen Augen-blick den Schleier zerreisst, der sie umhüllt, schauen die nahen Berge übel-gelaunt drein und der Schnee, der in Fetzen an ihnen haftet, wirkt unsauberwie verschüttete Milch. Trotzdem behaupten die Luzerner, ihre Stadt sei dieschönste.

* * *

Ich schlendere durch das alte Luzern mit seinen hölzernen Brücken, demachteckigen Wasserturm, den Wehrmauern und Wehrtürmen im Hintergrund,mit seinen alten Brunnen, den Patrizierhäusern, dem imposanten Rathaus, indem die Oberen und gnädigen Stadtherren einstmals über die Geschicke derStadt beschlossen, den Kirchen und Kapellen und dem stets präsenten Bildeiner einzigartigen Berg- und Seelandschaft, die die Stadt geprägt hat. Ichlasse mich einnehmen von ihrem Ambiente. Ich denke an die lombardischenBaumeister, die einst über die Alpen gestiegen sind, den weltlichen und geist-lichen Bauten einen Schimmer südlicher Pracht zu verleihen, und die dazubeigetragen haben, dass die Stadt zu jenem Gesamtkunstwerk geworden ist,das Natur und Architektur harmonisch vereint, das wir heute noch bewun-dern und das Menschen aus aller Welt anzieht. Hat die Stadt auch in denletzten Jahrzehnten in mancher Hinsicht ihr Gesicht verändert – in den neue-ren Quartieren hat sie sich zur City gewandelt: Parkhäuser, Shopping-Centres,

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Discountgeschäft; Hochhäuser sind aus demBoden geschossen, Quartierläden sind ver-schwunden; das alte Pfrunder-Bauernhaus vis-à-vis dem Elternhaus im Maihof hat Museums-wert erlangt – so ist sie doch im eigentlichenKern dieselbe geblieben.

* * *

Früher überquerte ich die in aller Welt berühm-te Kapellbrücke meist im Eilschritt. Sie wardas letzte Viertel meines Schulwegs, ich warmeist in Zeitnot, denn Pünktlichkeit war nichtnur eine Tugend, sie war Pflicht. So fand ichselten Musse, mir die Bilder im Holzgebälkanzuschauen. Auch schienen mir die frommenLegenden, die sich hier bilderbuchmässig umdie Stadtheiligen rankten, oder die dramati-schen Bildgeschichten der vornehmen Patri-zier wenig aufschlussreich. Wir erlebten ja da-mals in den Vierzigerjahren selber Geschich-te, Weltgeschichte – und dies intensiv.

Da übte die Spreuerbrücke, die kleinere Holz-brücke, die etwas weiter unten über die Reussführt, eine weit stärkere Faszination aus aufmich. Denn dort tanzte mir der Tod in den drei-eckigen Giebelgemälden entgegen, seine All-macht vor Augen führend in einer Unbestech-lichkeit, die vor keinem Menschen Halt macht,ob reich, ob arm, ob hohen oder niedrigen Stan-des, ob König oder Bauer, Priester oder Welt-mann, Künstler oder Bürger, Lebemann oderBettler, ob feine Dame oder törichte Jungfrau:ein Memento mori, mit künstlerischer Kraftgestaltet, eindringlich, einprägsam, Ausdruckeiner Zeit, in der selbst auf der Friedensinsel

Schweiz das Todesbewusstsein allseits und jederzeit präsent ist, wütet dochim nahen Deutschland ein mörderischer Glaubensbürgerkrieg. Empfindenauch wir Heutigen es als Mahnung, wenn auf dem Fernsehbild die blutrün-stige Maske des Todes mit all den Abgeknallten, Abgestochenen, Zerfetztenund Verreckten in Grossaufnahme – je spektakulärer, desto höher die Ein-schaltquote – in Szene gesetzt wird, allabendlich als Reizeffekt bis zur Ab-

Stadt am Wasser

Was wär Luzärnund s hätt kei See?Es wär e Stadtwie vili meh,s hätt Hüüser, Muure,Türm as Schild,doch fäälti sWasser i dem Bild.

Chäm s Wasser nidbis ganz a Chärn;mer hätti d Stadtnid halb so gärn.

Wär s nur e Stadtund s hätt kei See,de bruuchtis aukei Brugge meh,kei Wasserturmund au kei Leischt;mer nähm i eusreStadt de Geischt.

Chäm s Wasser nidbis ganz a Chärn,so wär s nid eusesAlt-Luzärn.

...

Was wettid audie Frömde gseh,wärs nur e Stadtund gäbs kei See?Nur d Stadt und s Wassermitenandgänd doch i eusdää Ruef im Land.

Chäm s Wasser nidbis ganz a Chärn,mer gsäch kei Frömdido z Luzärn.

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stumpfung. Denn was gilt noch das Menschenleben, wenn allein der Profitzählt?

* * *

Und wenn ich darauf die grüngetönte Tür aufstosse der nahen Jesuitenkircheund in den lichtüberfluteten Raum eintrete, habe ich nur einen kleinen Schrittgemacht in der Zeit: kaum vierzig Jahre liegen zwischen dem Totentanz derSpreuerbrücke und der Vollendung dieses hochgemuten Barockbaus. Welchein Kontrast! Die runden und ovalen Formen zierlich überfeinerter Rokoko-stukkature in harmonischem Farbton führen die räumliche Weite des monu-mentalen Tonnengewölbes, in welchem Chor und Schiff verschmelzen, zu-rück in eine lieblich sanfte Intimität. Allein der Hochaltar aus rotem Marmorbringt majestätische Kraft und Wucht, zeugt von Machtstellung und Herr-schaftsanspruch. Die Jesuitenkirche war unsere Schulkirche. Frömmigkeitwar zum Obligatorium erklärt worden. Hier mussten wir – oder durften wir? –jeweils am Sonntag im Kirchenchor die Hochmesse singen, dort oben aufder hohen Orgelempore. Wie oft habe ich mich, wenn die Predigt sich allzulange dahinzog, in den Anblick der Glorie versenkt, die mir das Vedutenbildan der Kirchendecke mit seinen Elefanten, Dromedaren, Kamelen, Panthernim Triumphwagengefolge des Heiligen vorgaukelte. Ist das Luftgebilde, die

farbige Chimäre nicht Symbol der Bot-schaft, die uns von der Kanzel verkün-det wurde?, fragte ich mich.

* * *

Über den Fussgängersteg strebe ich zumanderen Ufer. Gegenüber: flusseben ge-legen die markanten Arkaden der ehe-maligen Markthallen „Unter der Egg“und steilansteigend breitangelegt dieimposante Treppe, die vom Reussuferzum Kornmakt und Rathaus führt. Dasbuckelartig vorspringende Quaderwerkseiner Fassade und die in gleichmässi-gen Reihen angeordneten Fenster lies-sen an einen römischen Renaissancepa-last denken, wäre da nicht das Walm-dach mit den abgeschrägten Giebelsei-ten eines währschaften Bauernhauses:eine eigenartige Mischung von Eleganzund Behäbigkeit.

Einmal im Jahr zur Fasnachtszeit tobtsich hier unten am Fuss der Eggstiege

Früeche Morge überem Wasser

Chum isch de jungiTaag erwacht,verdrängt är d Schättevo de Nachtmit hellem, goldgemSonneglanzund es erstrahltde zackig Chranzvo Bäärge, äne-draa am See,as wärid d Bäärgeeh und jehgrad usegwachseusem See.

Und isch de d Wältso rächt erwachtde sinnisch nocheund seisch sacht:«’S wird immer, nochde töifschte Nacht,mol wider Taagi voller Pracht.»

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und dort oben auf dem Kornmarkt inmitten eines ausgelassenen bunten Mas-kentreibens das lebensfrohe Wesen der Einheimischen in überschäumendemSinnesrausch aus. Atemlos jagen die wilden Klänge der Guggenmusige durchdie Luft, die Trommler peitschen zu rhythmischem Veitstanz auf und dienotorische Festfreude des Luzerners erreicht ihren Höhepunkt, bevor er sich –so war es einst Sitte – am Aschermittwoch Asche aufs Haupt streut. Karne-val liegt ja vor dem Fastenmonat. Er führt zu ihm hin. Alles, was dann verbo-ten sein wird, ist jetzt erlaubt. Der Mensch soll einmal im Jahr für kurze Zeitseinen Narren ablassen dürfen, damit er hernach umso williger das Joch desAlltags auf sich nehmen wird. So war es jedenfalls vormals gedacht. Dochist diese Tradition noch sinnvoll in der hedonistischen westlichen Konsum-gesellschaft von heute? Wie immer auch die Antwort ausfallen mag, so bleibtdoch die Tatsache, dass dem frommen Verlangen nach Kasteiung kaum mehrnachgelebt wird, dass aber das Bedürfnis nach Ausgelassenheit und nacheinem Ausbrechen aus dem täglichen Einerlei – im zeitgenössischen Jargonwürde man von einem periodischen Ausflippen sprechen – ungebrochen istund in erstaunlich urwüchsiger Form zu überleben scheint.

* * *

Kann man von einem Luzerner Geist sprechen? Ich glaube wohl. Es ist einGeist, der Beschaulichkeit mit heiterer Geselligkeit vereint, ein Geist, wieich ihn sonst nirgendwo getroffen habe. Er findet eine stilvoll vornehme Aus-prägung in den Musikfestwochen: alljährlich im August und September zie-hen sich Luzernerinnen und Luzerner das lange Abendkleid, den dunklenMassanzug an. Sie fühlen sich high society und geben sich international.Luzern ist zur weltbekannten Festspielstadt geworden. Toscanini und BrunoWalter haben den ersten Anstoss dazu gegeben, damals 1938, als es galt,einen freien Raum zu schaffen für die Musik in einer Zeit, da das repräsenta-tiv Kulturelle vom Geist der Unfreiheit nur allzu gern in Dienst genommenwurde. So hatten die Luzerner Festwochen von Anfang an ihr eigenes Ge-sicht. Sie haben es bewahrt durch die Kriegsjahre hindurch und über sie hin-aus bis in unsere Tage. Im Laufe der Jahre hat sich das Repertoir geöffnet aufdie Moderne hin: die Musik der Klassik und der Romantik steht in Ausein-andersetzung mit den schöpferischen Werken der jüngeren Vergangenheitund der Gegenwart und findet dadurch eine neue Ausstrahlung.

Das ehemalige Kunsthaus, ein Bauwerk aus den Dreissigerjahren, ausgewo-gen, schlicht, wohlgegliedert, hat Platz gemacht dem neuen Kultur- und Kon-gresszentrum des französischen Architekten Jean Nouvel. Wenn ich heutevor diesem einmaligen Meisterwerk moderner Architektur mit dem gewaltigausholenden dunklen Dach und der klar strukturierten Glasfassade stehe,wenn ich oben von der grossen Terrasse aus den Blick schweifen lasse überdie Stadt, die sich bilderbuchmässig vor mir ausbreitet, ihn darauf gleiten

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lasse über die Seefront mit der langen Reihe der Hotelpaläste, einer bomba-stischen Bernsteinkette gleich hingelegt von der altmodischen Dame ausQueen Victorias Zeiten, und zuletzt mich in den Anblick des mit Segelboo-ten und altertümlichen Raddampfern weiss gesprenkelten blauen Sees undder nahen und weiten Berge verliere, und wenn dann im weissgetönten Kon-zertsaal die Klänge von Schostakowitschs Neunter Symphonie in vollende-ter Akustik emporsteigen zur dritten Empore – dort sind die erschwingli-chen Plätze –, wird mir bewusst, dass diese so festfreudigen Luzerner auseigener Kraft etwas Grossartiges zustande gebracht haben. Alle Achtung!Alle Achtung für diese Stadt, die eine Kleinstadt von Sechzigtausend geblie-ben ist und sich nicht zum mächtigen Industriezentrum oder zur reichen Han-delsmetropole entwickelt hat. Ich denke dann auch an die Zeit, als ich alsGymnasiast Ende der Vierzigerjahre, mir als Platzanweiser Zutritt verschafftezu den Konzerten und einmal sogar den grossen Wilhelm Furtwängler, derauf dem hohen Podest stand wie eine vom Blitz getroffene deutsche Eiche,als Kofferträger zum nahen Bahnhof begleiten durfte, nachdem der brausen-de Beifall verebbt war.

* * *

Kontrast: Werfe ich den Blick über die Seebucht auf die gegenüberliegendeSeite, sehe ich, wenn ich genau hinschaue, etwa auf der Höhe des Kursaalsdie alte Badeanstalt, eine Art hölzerner Pagodenbau im besten Heimatstil.Sie ist also immer noch da, die alte Badi, ja, es scheint, sie ist sogar erneuertworden. Erinnerungen aus der frühen Schulzeit sind an sie gebunden. Hiererhielten wir als Primarschüler den ersten Schwimmunterricht. Geschlossenmarschierten wir hinunter zum Nationalquai. Meist in der Morgenfrüh. Er-reichte die Wassertemperatur 17 Grad, gab’s kein Entrinnen. Wer nicht frei-willig das Treppchen hinuntersteigen wollte oder gar mutig hineinsprang insmit Holzlatten ausgezimmerte Schwimmbek-ken, wurde eingetaucht ins kalte Nass. DennAbhärtung war geboten. Das gehörte zur kör-perlichen und geistigen Hygiene. Doch Läusefingen wir gleichwohl ein, und der Lauskammerwies sich als wirkungslos. So standen wiralle bald mit kahlgeschorenen Köpfen da.

* * *

Auf dem Rückweg zum Schulhaus kamen wirjeweils am Löwendenkmal vorbei. Nachüberstandenem Schwimmschlauch fühlten wiruns dem sterbenden Löwen nahe. Ja, der be-rühmte Löwe von Luzern: direkt in die Fels-

Am Obig

Wie Altgold, mit emenezaarte Glanz,stohd d Sonne überDach und Zinne

und zaubereti See es Band,as hätts nur luuterGold do drinne.

Wie wirsch do glücklich;im Verglychwirsch trotz de lääreSäcke – rych!

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wand gehauen, liegt er da, die eine Pranke dem Betrachter entgegengestreckt,kraftlos und schlaff in die Leere hängend, die andere schützend auf das fran-zösische Lilienschild gelegt, den majestätischen Kopf mit der wallendenMähne dem Schweizerkreuz zugewandt, einen angebrochenen Speer in derFlanke. Ein Denkmal zu Ehren der Schweizergarde, 1792 hingemetzelt inden Tuilerien. Helvetische Treue und Ergebenheit mit Blut besiegelt glorifi-ziert im Sinnbild des sterbenden Löwen. An einem Wendepunkt in der Ge-schichte der Menschheit, im Kampf der neuen gegen die alte Ordnung, stan-den die Schweizer auf der Seite des Königs von Frankreich, um ihn vor demZorn des Volks zu schützen. Als Söldner hatten sie ihm nach alter Traditionihre Dienste verkauft. „Point d’argent, point de Suisse“, sagt ein französi-sches Sprichwort. Und nun stehen wir Nachkömmlinge da und sind versucht,uns stolz auf die Brust zu klopfen in patriotischem Nachempfinden und Hoch-gefühl. Und wenn wir vielleicht an einem milden Augustabend anlässlichder Mozartserenaden vor dem erleuchteten Denkmal den lieblich ernstenKlängen der Kleinen Nachtmusik, komponiert noch zur höfischen Zeit, nach-lauschen, lassen wir uns gerne erheben und stellen uns keine Fragen. Wer hatsich denn schon gefragt, wie es komme, dass ausgerechnet die freiheitlichgesinnten Schweizer dem französischen Absolutismus ihr Leben zu opfernhatten? Keiner unserer Lehrer hatte uns je auf die Problematik hingewiesen,und selbst wenn wir selber den Widerspruch erkannt hätten, so hätten wir ihnwohl verdrängt, waren wir doch zu Gehorsam und Respekt erzogen worden.Und überhaupt: neigen wir nicht auch heute noch dazu, unsere Dienste denMächtigen anzubieten, den Mächtigen aus Politik und Finanz? Dann wärealso die Unabhängigkeit, die wir mit so viel Selbstgefallen preisen, Hörig-keit. Dann wäre wohl das Denkmal ein Mahnmal.

Solch skeptische Nachdenklichkeit nahm in der Folge der Schüler auf seinenLebensweg. Sie ist das Kennzeichen jener Generation, der ich angehöre.

* * *

Dieser Weg hat mich zurückgeführt an den Ausgangspunkt, wenn auch nurfür einige Tage, denn bald werde ich der Leuchtenstadt, wie sie sich selberstolz bezeichnet, wieder den Rücken kehren. Soll ich mir, dem Urtrieb desTouristen folgend, das eine oder andere Souvenir erstehen? Beim Löwen-denkmal – Gedenkstätten und Heiligtümer haben die fatale Eigenschaft, denKitschhandel anzuziehen – werden sie reichlich, vielfältig und sündhaft teu-er feilgeboten: geschnitzte Bären, Kühe, Sennenhunde und Alphornbläser,Keramiktassen und -teller mit aufgemaltem Edelweiss, Alpaufzug, Gletscher-firn – wenn er noch nicht weggeschmolzen ist –, mit blutroten Sonnenauf-und -untergängen, und gut schweizerische Kuckucksuhren aus dem Schwarz-wald oder Tirol – Orson Wells und der Dritte Mann lassen grüssen! –: Mas-senware, Industrieprodukt das meiste, made in Taiwan oder Tschaina – Neu-

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‘D Stadt im Sommer

Chond äntli Sommermol is Land,so änderet sichdo allerhand.

Jetz gsehsch do Lüüt,vergnüegt bis toll,es gäb es ganzesTobu voll.

Si chömid usde wyte Wältmit Bahn, mit Wääge,gar mit Zält,

wend eusi Stadtund d Bäärge gsehund zwüschet-innde blaui See,

Jetz isch mitWinterschlof verby,d Stadt ghöört de Frömde;hindedry

seisch numeas e chlyne Held:«Säb nimmsch i Chaufes bringt doch Gäld.»

tralität verpflichtet. Nein! Ich überlasse denTouristen aus aller Welt, den Grandhotelheng-sten und -stuten, auch den sympathischenTrampelbrüdern und -schwestern, den ganzenRamsch. Mögen sie ihr Geld ausgeben für Be-langlosigkeiten und Geschmacklosigkeiten,die bald zu Hause verstauben werden, auchwenn ein Stück Erinnerung daran hängt. Lu-zern, die Touristenstadt, muss schliesslich auchgelebt haben.

* * *

Das Andenken, das ich mit mir nehme, ist dieschliessliche Erkenntnis, dass diese Stadt amVierwaldstättersee eine Stadt ist, die, in undaus und mit der Geschichte lebend, es verstan-den hat, aus den Schätzen der Vergangenheiteine Gegenwart schöpferisch zu gestalten, diein die Zukunft weist. Hier trägt das Gesterndie Verheissung des Morgen in sich. In ihremVerhältnis zur Zeit findet die Stadt ihren ganzeigenen Lebensstil: eine heitere Weise, zusam-menzuleben, zu arbeiten und Feste zu feiern,eine besondere Art, mit Leben und Tod umzu-gehen, und die Kunst, Veränderungen zu wi-derstehen und trotzdem Veränderung zu schaf-

fen, kurz: ihr eigenes Wesen zu bewahren und sich selbst zu sein und sichgleichzeitig auf die Welt hin zu öffnen.

* * *

Jetzt kann ich den Schreibtisch wieder aufräumen. Vielleicht war es Nostal-gie, was mich zum Schreiben veranlasste. Doch es ging mir nicht darum, auseinem Empfinden des Unbehagens an der Gegenwart heraus die Vergangen-heit sentimental zu verklären, mag auch das Bewusstsein der Vergänglich-keit – das wäre dann wohl eine Alterserscheinung – eine Rolle gespielt ha-ben. Dann wäre meine vorübergehende Rückkehr nach Luzern letzten Endesdoch die Heimkehr, von der Novalis gesprochen hat: „Wo gehen wir dennhin? – Immer nach Hause.“

Hans-Werner Grüninger, Bern

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Zu den MundartgedichtenDie im Beitrag eingestreuten Gedichte sind im April 1978 zum Anlass der800-Jahr-Feier der Stadt Luzern in einer kleinen Jubiläumsschrift herausge-geben worden. Ihr Autor, der Jurist Hans Schriber, war ehemaliger Kom-mandant der Luzerner Kantonspolizei und ein bekannter Eliteschwimmer undTaucher.

Die Gedichte sind in luzerndeutscher Mundart verfasst. Damit bei der Über-mittlung des phonetischen Lautbilds die Lesbarkeit nicht allzu sehr erschwertwird, ist die Schreibweise der Schriftsprache so weit wie möglich beibehal-ten worden. Für ein breiteres Publikum, das mit dem Schweizerdeutschennicht vertraut ist, sind die vorliegenden Auszüge zusätzlich ins Hochdeutscheübertragen worden. Es handelt sich dabei um eine „Umsetzung“, die keinepoetischen Ansprüche erhebt. Sie dient allein dem besseren Verständnis.

Die Jesuitenkirche

Hart an der Reuss,da spiegelt sich prächtigeine Barockkirche,vornehm, mächtig,als wären wir ineiner Fürstenstadt.Man kann auch ohneFürsten bauen,Wenn das Volk es trägtmit Gottvertrauen –und dies Beispiel zeigtgerade unsre Stadt.

Stadt am Wasser

Was wäre Luzern,wenn es keinen See hätte?Es wäre eine Stadtwie viele mehr,es hätte Häuser, Mauern,Türme als Schild,doch fehlte das Wasserin diesem Bild

Käme das Wasser nichtbis ganz an den Kern,wir hätten die Stadtnicht halb so gem.

Wär’s nur eine Stadtund es hätte keinen See,

Luzern – eine Brückenstadt

Eine Stadt – erbautauf beiden Seitenvon Fluss und See,die braucht bei Zeiteneine starke Brücke,denn hätt’ es keine Brück,um ‘rüber zu gehenund auch zurück –,so wär es keine Stadtes gäbe nur zwei Orte –der eine da – und der andreauf der andern Seite dort.

Die Spreuerbrücke

Gehst du über die Brück’und wieder zurückund blickst hinauf zum Dach,da siehst du eine Sachvon wildem Tanzmit viel Popanzund mattem Glanz– einen Totentanz!Bist wohl erschrocken?Wirst noch nicht geköpft!Doch merkst du gleich,was dies soll sein:ein Mahnmal für deinkurzes Leben;drum tu ein bisschennach dem Guten streben!

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dann brauchte es auchkeine Brücken mehr,keinen Wasserturmund auch keinen Steg:man nähme unsrer Stadtden Geist.

Käme das Wasser nichtbis ganz an den Kern,so wär es nicht unserAlt-Luzern.

...

Was wollten auchdie Fremden sehen,wär es nur eine Stadtund gäb’s keinen See?Nur die Stadt und das Wassermiteinandergeben uns dochdiesen Ruf im Land

Käme das Wasser nichtbis ganz an den Kern,sähe man keine Fremdenhier – in Luzern.

Früh am Morgen über dem Wasser

Kaum ist der jungeTag erwacht,verdrängt er dieSchatten der Nachtmit hellem, goldigenSonnenglanzund es erstrahltder zackige Kranzder Berge dortüber dem See,als wären die Bergeseit eh und jeherausgewachsenaus dem See.Und ist dann die Weltso recht erwacht,dann denkst du nach,sagst leis und sacht:„Es wird immer auchnach tiefster Nachteinmal wieder Tagin voller Pracht.“

Am Abend

Wie Altgold,mit einem zarten Glanz,steht die Sonne überDach und Zinneund zaubertin den See ein Band,als hätt’ es nur lauterGold da drinnen.Wie wirst da glücklich;im Vergleichwirst trotz der leerenTaschen reich.

Die Stadt im Sommer

Kommt endlich der Sommermal ins Landdann ändert sichhier allerhand

Jetzt sieht man da Leute,vergnügt bis toll,es gäbe ein ganzesTobel voll.

Sie kommen ausder weiten Weltmit Bahn, mit Wagen,gar mit dem Zelt,

wollen unsre Stadtund die Berge sehenund zwischen drinden blauen See.Jetzt ist’s mitdem Winterschlaf vorbei,die Stadt gehört den Fremden;und hintendrein,da sagst du nurals kleiner Held:„Das nimmst du in Kaufes bringt ja Geld.“

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AUS DEN VERBÄNDEN

Regionaltagung„Spezifik von Deutsch als Fremd- und Zweitsprache“

Vom 23.–24. Oktober 2000 fand in Jerewan die Regionaltagung „Spezifikvon Deutsch als Fremd- und Zweitsprache“ statt und am 25. Oktober imAnschluss daran das Delegiertenseminar für Deutschlehrerverbände. Veran-staltet wurde die Regionaltagung vom armenischen Deutschlehrerverband.Unterstützt und gefördert wurde sie vom Internationalen Deutschlehrerver-band, vom Goethe-Institut München und Tbilissi sowie von der DeutschenBotschaft Jerewan, vom Brjussov Institut für Fremdsprachen, vom DeutschenLehr- und Kulturzentrum, von der Vertretung der Zentralstelle für Auslands-schulwesen in Jerewan.

Eröffnet wurde die Tagung im Saal des Regierungsgebäudes. Grußworte spra-chen die Generalsekretärin des IDV, die stellvertretende Ministerin für Bil-dung und Wissenschaft, der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland,der Rektor des W. Brjussow Instituts für Fremdsprachen, der Präsident derdeutschen Gemeinde der Republik Armenien u. a. Die Generalsekretärin desIDV, Frau Helena Hanuljaková, die als Beraterin und Beobachterin und nach-her als Leiterin des Delegiertenseminars mitwirkte, begrüßte alle Anwesen-den im Namen des IDV-Vorstandes, indem sie über die Hauptrichtungen derIDV-Tätigkeit in der Gegenwart sowie über die bevorstehende XII. Interna-tionale Deutschlehrertagung in Luzern sprach. Aus Deutschland war HerrDr. Prof. Wilhelm Grieshaber (Westfälische Wilhelms-Universität Münster)als Referent gekommen und sprach während der ersten zwei Tage der Konfe-renz über „Erwerb und Vermittlung von Deutsch als Fremdsprache“.

An der Konferenz nahmen auch die Kolleginnen aus Kasachstan teil: diePräsidentin des Kasachischen DLV, Frau Bahim Spikbajeva und Vorstands-mitglied Frau Dr. Zhibek Mukascheva und eine Kollegin aus Berg-Karabach.Ein Zitat aus dem Bericht von Frau Spikbajeva: „Wir haben gesehen, wie derarmenische Deutschlehrerverband funktioniert, wie das Deutsche Lehr- undKulturzentrum organisiert ist. Da gibt es für uns etwas zu lernen. Besonderslieb und niedlich war das Kinderprogramm „Singende Fibel“, das uns imRahmen der Tagung angeboten wurde. Da wird es einem warm ums Herz,dass wir nicht umsonst arbeiten.“

Mit 120 Teilnehmern war die Regionaltagung gut besucht, es kamen vorallem Deutschlehrerinnen aus allen Regionen Armeniens. Für sie waren diezwei Tage Fortbildung im DaF- Bereich besonders sinnvoll und bereichernd.

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An den Seminaren und Gesprächskreisen haben sich alle interessiert undangeregt beteiligt.

Es war geplant, dass an der Regionaltagung auch Teilnehmer von anderenDeutschlehrerverbänden der benachbarten Länder teilnehmen. Trotz langerVorbereitungszeit und anfänglichen Zusagen kamen jedoch nur Vertreter ausKasachstan und Berg-Karabach. Das Grußwort des Vorsitzenden des Ver-bandes der Deutschlehrer und Germanisten der Republik Tadschikistan, desLeiters des Lehrstuhls für Deutsch, Herrn Hairullo Seifulaev, wurde vorgele-sen. Dabei ist es besonders bedauerlich, dass die Teilnehmer aus Georgiennicht anwesend waren.

Während des Delegiertenseminars am Mittwoch diskutierten die Vertreterder einzelnen Deutschlehrerverbände u. a. auch über die Fortführung dergemeinsamen Arbeit. Dabei wurden als Ergebnis der Tagung mehrere Pro-jekte beschlossen:

– In Zusammenarbeit mit den anderen Ländern der Region wird eine über-regionale Zeitschrift „Deutsch ohne Grenzen“ erscheinen.

– Für den Bereich Methodik/Didaktik wird eine Referentenkartei angelegtmit fähigen Referenten im Fremdsprachenbereich, die bei Tagungen undKonferenzen zur Mitwirkung bereit sind.

– Es wird ein Veranstaltungskalender herausgegeben.– Für 2002 wird eine regionale Tagung „Deutsch interkulturell“ für asiati-

sche Deutschlehrer in Kasachstan geplant, zu der auch Kolleginnen ausChina und aus der Mongolei eingeladen werden.

Es bleibt abzuwarten, ob bei der nächsten Regionaltagung in Kasachstan(geplant für 2002) der Gedanke des „Regionalen“ durch die stärkere Teil-nahme und Einbindung der benachbarten Länder verwirklicht wird. Geradeim gegenseitigen Austausch und im Miteinander-Sprechen liegt für alle diegroße Chance, gemeinsame Probleme zu erkennen, den eigenen Standort zudefinieren, dadurch mögliche Lösungen zu finden, Unterschiede in den ein-zelnen Ländern aufzuzeigen und darüber zu diskutieren, interkulturelle An-sätze zu verwirklichen.

Melanja Astwazatrjan, Präsidentin des armenischen DLVKatarina Meuss, Fachschaftskraft des ZFA in Armenien

Der Ecuadorianische Deutschlehrerverband (ASEPA)

Ecuador ist ein kleines Land in Südamerika, ein wunderschönes Stück Erdemit den hohen Bergen der Anden, einer traumhaften Küste, einer interessan-ten Urwaldregion und den einmaligen Galapagosinseln, die vielleicht zuerstmit dem Land in Verbindung gebracht werden. Seit vielen Jahren wird hier

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auch Deutsch unterrichtet, vor allem in der Hauptstadt Quito und der Küsten-stadt Guayaquil. Es gibt in beiden Städten deutsche Schulen und deutsch-ecuadorianische Kulturinstitute mit langjähriger Tradition. Vor fast drei Jah-ren haben sich nun mehr als 30 Deutschlehrer zusammengetan und das ersteMal in Ecuador einen Verband gegründet. Es sind auch viele Mitglieder ausanderen Orten sowie Institutionen dabei. Im letzten Jahr wurde unser Ver-band in den IDV aufgenommen.

Vor fünf Monaten erschien unsere erste Verbandszeitschrift, im Februar die-ses Jahres fand eine zweitägige Fortbildungsveranstaltung statt. Auf zweinationalen Arbeitstagungen wurden verschiedene Projekte besprochen undorganisiert, wie z. B. eine generelle Erfassung der Situation DaF in Ecuador,weitere Fortbildungsveranstaltungen sowie ein Schülerwettbewerb.

Unser Verband unterstützte auch tatkräftig die Gründung von Deutschlehrer-verbänden in den Nachbarländern Kolumbien, Peru und Bolivien. Auch indiesen Ländern bestehen nun Verbände, so dass wir das erste Mal als „An-denregion“ bei der IDT 2001 auftreten können, dabei auch den Verband inVenezuela nicht zu vergessen, der wiederum uns viel bei der Gründung ge-holfen hat. Auf der Regionalkonferenz in Kuba im März dieses Jahres wurdebeschlossen, in Quito erstmalig eine Regionalkonferenz durchzuführen. Nachdem Motto „Einigkeit macht stark“ freuen wir uns, dass unsere Region nunauch international präsent ist, und wir hoffen auf eine weitere fruchtbare Zu-sammenarbeit, um die deutsche Sprache und Kultur auch auf diesem FleckErde weiter zu pflegen und zu fördern.

Dazu die nachfolgenden Reflexionen einer Ortskraft:

Seit fast 25 Jahren versuche ich meinen Lebensunterhalt mit Deutschunter-richt in einem der kleinsten Andenländer Südamerikas zu verdienen, in ei-nem Land, das von meiner deutschen Heimat mehr als 10 000 km entferntliegt, dessen Name immer wieder falsch geschrieben und das von manchemLandsmann auch in Afrika gesucht wird. Ecuador – das ist ein bezauberndesStück Erde mit 6 000 m hohen Bergen, einem magischen Regenwald undeiner Küstenregion, die vielleicht der deutschen Vorstellung eines afrikani-schen Landes am nächsten kommt, ein Land mit 12 Millionen Einwohnern.

Vor einem Viertel Jahrhundert ließ ich meine Heimat und ein unabgeschlos-senes Hochschulstudium in Fremdsprachen zurück. In der ecuadorianischenHauptstadt Quito erhielt ich kurz nach meiner Ankunft sofort eine Stelle alsDeutschlehrerin an einer Universität – undenkbar in Deutschland ohne zwei-tes Staatsexamen und Referendarjahr. Mit Schulz-Griesbach stand ich mei-nen Mann (meine Frau), mir machte die Arbeit großen Spaß, und die Schü-ler/innen lernten gut. In der Deutschen Schule Quito nahm man es genauer,dort bekam ich ein halbes Jahr Probezeit und blieb dann 15 Jahre als Orts-

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kraft, die niedrigste Kaste der Deutschlehrer/innen. Diese Jahre aber warenmeine Lehrzeit und die Referendarjahre, ich unterrichtete Primar- und Se-kundarstufe, lernte viele Lehrwerke kennen und erhielt wertvolle Hilfe gleichzu Beginn von dem damaligen Fachleiter für Deutsch, Johannes Greiner ausFreiburg. Im Laufe der Zeit wurde es schwierig, sich mit „ortsüblichen“ Ge-hältern in Landeskunde oder Literatur zu aktualisieren, da deutsche Bücherhier sehr teuer sind, von Reisen in die Heimat ganz zu schweigen. Glückli-cherweise erhielt ich bald die Möglichkeit, in den Abendstunden Deutschun-terricht für Erwachsene zu geben, manche Nachhilfestunde besserte auch dieSituation.Nach 15 Lehrjahren stieg ich bei der Deutschen Schule aus und wurde miteinem interessanten Fotoband und einem geschmackvollen Blumenstraußverabschiedet. Seit einigen Jahren nun diene ich, dank meiner gesammeltenErfahrungen, dem Sprachinstitut der Humboldt-Gesellschaft, das mit demGoethe-Institut in einer Art Ehe existiert, wobei das Auswärtige Amt die Ali-mente zahlt. Die Verbreiter/innen der deutschen Sprache und Kultur sind aus-schließlich Ortskräfte, die mit viel Engagement und ortsüblichen Stundenho-noraren meist schon mit der dritten oder vierten Lehrwerksgeneration arbei-ten. Ich frage mich manchmal, warum eigentlich die Ortskräfte, die der Lan-dessprache und der soziokulturellen Unterschiede bestens kundig sind, dasErsatzrad am DaF-Mercedes sind? Es mangelt oft auch an der simplen Aner-kennung ihres Einsatzes.Den Deutschunterricht an Instituten oder Universitäten bestreiten – zumindest,wie ich in unserer Region beobachtete – hauptsächlich Ortskräfte, bei denendie vielen einheimischen Kolleg/innen nicht zu vergessen sind, die sich eben-falls bemühen, in vielen Zusatzstunden einen aktuellen und interessanten Un-terricht vorzubereiten. Es fehlt für alle Kollegen/innen der Region ein praxis-verbundenes, effektives Training; wobei Fortbildungsveranstaltungen die Notzwar lindern, aber nicht beseitigen. Es fehlt Zugang zu deutschen Kommunika-tionsmitteln; trotz Zuwendung des Auswärtigen Amtes kann sich z. B. unserInstitut kein Abonnement einer deutschen Zeitung leisten. Veraltete Brigitte-Zeitschriften werden unter meinen Kolleginnen wie Gold gehandelt.Die größten Zweifel kommen mir in diesem Zusammenhang am computer-gestützten Fremdsprachunterricht, worüber ich schon viele interessante Arti-kel gelesen habe. Die meisten Institutionen der Region haben überhaupt kei-ne Computer für ihre Kursteilnehmer/innen oder müssen sich wenige Exem-plare mit fünf anderen Fremdsprachen teilen, wenige Lehr(orts)kräfte kön-nen sich einen Internet-Anschluss leisten. Bettelgänge zur deutschen Wirt-schaft stoßen in der heutigen „Krisenzeit“ auf taube Ohren. Ich habe festge-stellt, dass unsere Schüler/innen auf diesem Gebiet oft Meilensteine voraussind und sich längst in Cyber-Cafés auf der Leitseite des Goethe-Institutsumgesehen haben. So habe ich das Gefühl, immer zu spät zu kommen, und

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„den bestraft das Leben“, wie schon Gorbatschow treffend kurz vor demMauerfall sagte. Ich hoffe trotzdem auf mildernde Umstände bei all den Be-mühungen im DaF-Unterricht in der dritten Welt, in einer Region, die vonschweren sozialen Problemen geschüttelt ist, in der mehr als 60 % der Bevöl-kerung unter dem Existenzminimum lebt und zu Fremdsprachen fast keinenZugang hat. Es bedarf eines dringenden Überdenkens der Stellung von Deutschund seiner Lehrer/innen in der Region.

Ein Anfang ist meiner Meinung nach aber gemacht – wir haben uns vor nun-mehr fast zwei Jahren zusammengetan und einen Verband in Ecuador ge-gründet, um gemeinsam an einer Glocke zu läuten, damit man uns weit hört.Die bürokratischen Hürden sind genommen, auch international hört man schonunsere Schritte. Wir haben uns zu Arbeitstagungen und einem zweitägigenFortbildungsseminar getroffen, unsere erste Zeitschrift ist erschienen. DerStein ist auch in unsere Nachbarländer gerollt, es wurden dort ebenfallsDeutschlehrerverbände gegründet. Auf einer ersten internationalen Konfe-renz der Andenländer im kommenden Jahr wollen wir uns treffen – unter-stützt vom Internationalen Deutschlehrerverband und dem Goethe-Institutund hoffentlich von vielen schon lange bestehenden Verbänden, die uns ihreErfahrungen vermitteln können. Ich hoffe auch, es kommen schnell noch vie-le Mitglieder zu unseren Verbänden dazu; damit wir nicht zu spät sind, denndie meisten von uns werden in der Andenregion bleiben, mit Stolz auf ihredeutsche Kultur und Liebe zur südamerikanischen – so wie ich. Am liebstenhätte ich sogar zwei Pässe, den ecuadorianischen müsste ich aber wahrschein-lich kaufen – nicht einfach, mit ortsüblichem Salär.

Bettina KühnPräsidentin des Ecuadorianischen Deutschlehrerverbandes

Der Deutschlehrerverband von Aserbaidschanpräsentiert sich

Bezüglich der bisherigen Tätigkeit unseres Verbandes können wir folgendesfesthalten.

Wir haben 11 Mitglieder des Vorstandes im Verband:– Vorsitzende des Verbands: Tamilla Abdullajewa, Deutschlehrerin in einer

Mittelschule in Baku

– Stellvertretende Vorsitzende: Gasimsade Lejla, Deutschlehrerin in Sum-gait

– Sekretärin: Mursalowa Tamilla, Deutschlehrerin in Baku

– Schatzmeisterin: Aslanowa Elmira, Deutschlehrerin im Bezirk Chatai

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– Kulturleiterin: Allahwerdijeva Elnura, Deutschlehrerin in Mardakan, unddie Methodikerin Musajewa Sijatel

– Schriftleiterin: Abdullajewa Irada, Methodikerin des Fortbildungsinstituts

– Zuständige für Öffentlichkeitsarbeiten sind Nuschaba Mamedowa undHidjran Rasulova

– Berater: Professor Versalow

– Ehrenmitglied des Verbandes: Prof. Dr. Ramis Mamedsade, der Leiter derAbteilung des Wissenschaftlich-Methodischen Zentrums

Die wichtigste Aufgabe unseres Verbandes ist die Erhebung der Lage und dieVerbesserung des Deutschunterrichts in verschiedenen Regionen unsererRepublik sowie die Unterstützung der Zusammenarbeit der deutschen undaserbaidschanischen Lehrer und Lehrerinnen.

Was wir bisher getan haben:

1. Organisation der Vertretungen des Verbandes in verschiedenen Orten undBezirken Aserbaidschans,

2. Organisation der Teilnahme der Lehrer(innen) an den kulturell-wissen-schaftlichen Veranstaltungen,

3. Entwicklung von Partnerschaftsverhältnissen zwischen den Städten undBezirken Aserbaidschans und Deutschlands,

4. Deutsche Woche in Aserbaidschan,

5. Gestaltung und Festigung eines breiten Dialogs und vielseitiger Zusam-menarbeit,

6. Festigung der Freundschaftsbeziehungen zwischen den Lehrern und Leh-rerinnen unserer Völker.

Die bevorstehenden Aufgaben des Verbandes:

1. Veranstaltung einer Olympiade der Deutschkenntnisse unter den Schü-lern der Republik,

2. Erweiterung der Vertretungen des Verbandes in allen Bezirken der Repu-blik,

3. Veranstaltung des 10-jährigen Jubiläums der Wiedervereinigung der BRD,

4. Vertragsabschluss mit Verbänden in verschiedenen Staaten,

5. Fahrt in die Städte Aserbaidschans, in denen früher die Deutschen gelebthaben,

6. Entwicklung der wissenschaftlich-literarischen Tätigkeit.

Abdullajewa TamillaVorsitzende des Verbandes

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2001

24. bis 26. Mai, Kiel, Deutschland29. Jahrestagung DaFThema: „Mehrsprachigkeit in Europa “Information: [email protected]; Internet: http://www.fadaf.de

15./16. Juni, Graz, Österreich5. Grazer Tagung Deutsch als Fremdsprache/Deutsch als ZweitspracheThema: „Textkompetenz“Information: Karl-Franzens-Universität Graz, Institut für Germanistik,

Universitätslehrgang DaF, Mozartgasse 8/II, A-8010 Graz,E-Mail: [email protected]

4. Juli bis 6. Juli, České Budejovice, TschechienVII. Internationale Tandem-TageThema: ,,Für viele Sprachen sensibel – Tandem“Information: Gaudeo CB, Trebizského 1010, CZ-37006 České Budejo-

vice, Fax: ++42 038 7410151, E-Mail: [email protected]

30. Juli bis 4. August, Luzern, SchweizXII. Internationale Tagung der Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer(IDT)Thema: ,,mehr Sprache – mehrsprachig – mit Deutsch.

didaktische und politische Perspektiven“Information: Tagungssekretariat: wbz cps, Bruchstrasse 9a, Postfach,

6000 Luzern, Tel.: 041 2 49 99 11, Fax: 041 2 40 00 79E-Mail: [email protected]: www.idt-2001.ch; www.idt-2001.com

Das 3. Vorprogramm ist gerade erschienen. Bestellen Sie es beimTagungssekretariat und informieren Sie sich auf den Web Seiten:

www.idt-2001.ch

26. bis 29. September, Passau, Deutschland32. Jahrestagung der GAL (Gesellschaft für angewandte Linguistik)Thema: „Sprache interdisziplinär“Information: http://www.germanistik.uni-halle.de/gal/aktuell.htm

VERANSTALTUNGSVORSCHAU

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Schweizerdeutsch – Geschichte und Gebrauch

Im kommenden Spätsommer wird in Luzern die XII. IDT durchgeführt wer-den. Es ist dies in der mehr als dreissigjährigen Geschichte des IDV erst zumzweiten Mal, dass sich dessen Mitglieder in der Schweiz zu ihrem periodi-schen Zusammentreffen Stelldichein geben. Das erste Treffen hatte 1986 inBern stattgefunden. Es hatte sich damals gezeigt, dass für manche Kon-gressteilnehmer die Bekanntschaft mit dem Schweizerdeutschen eine sprach-liche Erfahrung besonderer Art und vielleicht gar ein milder Kulturschockwar. Darum ist es wohl angebracht, dieses Idiom, das in seiner Eigenartig-keit als Ausdruck helvetischer Eigenwilligkeit verstanden – oder eben nichtverstanden – werden kann, den Lesern des RUNDBRIEFS, ob sie nun nachLuzern pilgern oder nicht, etwas näher zu bringen. Dies geschieht in zweiBeiträgen:

Der erste Beitrag will einen Einblick geben in die Entwicklungsgeschichtedes Schweizerdeutschen. Er stützt sich auf Arbeitsblätter, die Prof. RudolfZellweger, der verstorbene Initiator der VII. IDT von Bern und Ehrenmit-glied des IDV, für seine Studenten an der Universität Neuchâtel/Neuenburgerarbeitet hatte. Das Material, das sie enthalten, entspricht zwar nicht mehrdem neuesten Forschungsstand, es bietet aber, leicht fassbar dargebracht,einen guten Einblick in die entwicklungsgeschichtliche Perspektive und rücktgleichzeitig einige grammatikalische Aspekte ins Blickfeld.

Der zweite Beitrag geht auf die aktuelle deutschschweizer Sprachsituationein. Er zeigt das Neben- und Miteinander von Standardsprache und Dialektin der Deutschschweiz, hebt die Unterschiede zur Sprachsituation in Deutsch-land hervor und legt die Einstellung der Deutschschweizer zur Hochsprachedar.

Einführung in die Entwicklungsgeschichtedes Schweizerdeutschen

Zur Hinführung auf die Problematik mögen zwei Aussagen dienen, die mirbedeutsam scheinen, nicht zuletzt deshalb, weil sie von deutschen Dichternstammen, die im weiteren Sinne auch hervorragende Sprachforscher sind:Johann Gottfried Herder und Jacob Grimm.

Herder weist in seiner fragmentarischen Schrift „Von den Lebensaltern einerSprache“ ausdrücklich darauf hin, dass sich der wahre und eigentliche Kern

BEITRÄGE

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der deutschen Sprache im Schweizerdeutschen erhalten habe: „Man mussden Schweizern wirklich das Recht lassen, dass sie den Kern der deutschenSprache mehr unter sich erhalten haben. So wie überhaupt in ihrem Landesich die alten Moden und Gebräuche länger erhalten, da sie durch die Alpenund den helvetischen Nationalstolz von den Fremden getrennt sind, so istihre Sprache auch der alten deutschen Einfalt treuer geblieben.“ (JohannGottfried Herder, Von den Lebensaltern einer Sprache, 1767)

Und Jacob Grimm hält in der Einleitung zum „Deutschen Wörterbuch“ fest,dass das Schweizerdeutsche mehr als ein bloßer Dialekt sei. Er hebt seinenselbstständigen Charakter hervor und sieht in ihm eine mögliche Quelle derBereicherung für die Schriftsprache: „Die Schweizerische Volkssprache istmehr als ein bloßer Dialekt, wie es schon aus der Freiheit des Volkes sichbegreifen lässt; noch nie hat sie sich des Rechts begeben, selbstständig auf-zutreten und in die Schriftsprache einzufließen, die freilich aus dem übrigenDeutschland mächtig zu ihr vordringt.“ (Jacob Grimm, Deutsches Wörter-buch. Einleitung, 1854)

In beiden Aussagen klingt das Politische an. Bei Herder, wenn er vom helve-tischen Nationalstolz und vom schweizerischen Konservatismus spricht, einKonservatismus, der – das sei nebenbei vermerkt – in nicht unbedeutendemMaße auch heute noch das eidgenössische Dasein prägt; bei Grimm, wenn erauf den Zusammenhang zwischen Bewahrung der Mundart und der Bewah-rung der Unabhängigkeit hinweist.

Wie stark und bedeutsam dieser Zusammenhang in Wirklichkeit ist, machtFriedrich Staub, der Gründer des „Idiotikons“, des Schweizerdeutschen Wör-terbuchs, eines Monumentalwerks der Dialektologie, deutlich, wenn er dieSchweizer warnt, dass der Verlust ihrer „eigentümlichen Sprache“ die Aufga-be der schweizerischen Denkart bedeuten würde und dass sie aufhören wür-den, sie selbst zu sein. So lange sie an ihrer Sprache festhielten, so lange haltedie Sprache sie als Nation zusammen.

Die Dialektfrage wird also als Identitätsfrage betrachtet. Damit erhält sie einenicht zu unterschätzende psychologische und staatspolitische Bedeutung.

Die drei festgehaltenen Aussagen können uns als Ausgangspunkt dienen fürdie nachfolgenden Erläuterungen zur Entwicklungsgeschichte des Schwei-zerdeutschen und zur Frage der spezifischen Eigentümlichkeit dieses Idioms:Wie hat sich das Schweizerdeutsche im Laufe der Jahrhunderte entwickelt?Was ist alt daran? Und: Worin besteht die Selbstständigkeit, von der JacobGrimm spricht? Welches sind die hervorstechenden Merkmale des schwei-zerdeutschen Dialekts im Vergleich zur deutschen Hochsprache?

Folgen wir den einzelnen Entwicklungsphasen des Schweizerdeutschen:

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Sprachgeschichtlicher Überblick

Erste Phase: Die frühgeschichtliche Entwicklung. Die romanisch-deut-sche Sprachdurchdringung

Die erste Phase der Entwicklungsgeschichte des Schweizerdeutschen sei instarker Verkürzung zusammengefasst: Mit einem etwas bombastischen Bildausgedrückt, ist das sprachliche Ahnenblut des Schweizerdeutschen durchmannigfache Verzweigungen vom Indogermanischen über das Germanische –Westgermanische – Deutsche zum Oberdeutschen und von dort zum Ale-mannischen geflossen.

Die Alemannen trugen in der Mitte des 3. nachchristlichen Jahrhunderts ihreSprache in jenen Sprachraum hinein, der ungefähr dem Gebiet der heutigendeutschen Schweiz entspricht. Dabei kam sie mit den im Lande bereits vor-handenen keltischen und romanischen Elementen in Begegnung, hatte sichdoch im Verlaufe der Jahrhunderte das Römisch-Romanische über viel ältereSchichten vor allem keltischer Kulturen gelegt. Bis ins 5. Jahrhundert bildetedie heutige Schweiz einen Teil des römischen Weltreichs. Im Verlaufe derZeit bildete sich eine eigenartige germanisch-romanische Mischzone, in dereine außerordentlich fruchtbare, gegenseitig empfangende wie auch gebendeAuseinandersetzung zwischen den beiden Sprach- und Kulturbereichen statt-finden konnte. Die alemannisch-romanische Sprachdurchdringung ist einwesentliches Merkmal der schweizerischen Sprachsituation. Sie kommt imstarken Anteil von Wörtern romanischen Ursprungs sowie in der singendenIntonation der Deutschschweizer zum Ausdruck. Die letztere Erscheinung istdurch die weitgehende Übernahme der musikalischen Betonung der romani-schen Nachbarsprachen erklärbar. Schweizerdeutsch ist bis zu einem gewis-sen Grad ein Deutsch mit romanischem Akzent.

Zweite Phase:Vom Mittelalter bis zum 17. Jahrhundert. Beibehaltung desalten Lautstandes. Verlust der Schriftsprache

Obschon das Schweizerdeutsche vom Romanischen beeinflusst ist, ist es trotz-dem alt und deutsch geblieben. Es hat die meisten Neuerungen der neuhoch-deutschen Sprachentwicklung, die um 1500 einsetzte, nicht mitgemacht undist – vereinfacht ausgedrückt – sozusagen auf dem Niveau des Mittelhoch-deutschen des 13. Jahrhunderts, z. T. sogar auf der Stufe des Althochdeut-schen stehen geblieben. Vor allem hat es den ursprünglichen Lautstand weit-gehend bewahrt:

– Die langen Monophtonge i – u – ü wurden beibehalten und nicht in Di-phtonge umgewandelt. So sagt der Schweizer Wib und nicht Weib, Husund nicht Haus, Hüser anstatt Häuser.

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– Andererseits sind die neuhochdeutschen Dehnungen in lieb und gut alsfallende Diphtonge liëb und guët erhalten geblieben,

– wie auch die kurzen Vokale in offener Silbe beibehalten wurden: Vat(t)er,Vogel, Stube.

Ebenfalls sind die auslautenden Vokale, die so charakteristisch sind für dasAlthochdeutsche, nicht ganz verschwunden: Für auf oder hinauf sagt derSchweizer ufe, für hinab: abe.

Das gesprochene Wort ist von der neuhochdeutschen Sprachentwicklung dem-nach nicht in entscheidender Weise mitgeprägt worden. In dieser Hinsicht istdas Schweizerdeutsche wohl eine recht altertümliche Mundart, ein charman-ter Anachronismus.

Es muss aber ein weiterer, sehr wichtiger Faktor in dieser Entwicklungsge-schichte in Betracht gezogen werden: die Trennung vom gesprochenen undgeschriebenen Wort. Hierin liegt die eigentliche Problematik des Schwei-zerdeutschen: Im Mittelalter bildet sich vorerst eine Schriftsprache schweizeri-scher Prägung heraus. Diese ist in den Aufzeichnungen der Mönche des Klo-sters Sankt Gallen, die zu den ältesten deutschen Sprachdokumenten gehören,und ebenfalls in alten Urkunden erhalten. Diese altschweizerische Schriftspra-che ist mit der Mundart nicht völlig identisch, steht ihr aber noch sehr nahe.

Zur Zeit Luthers ändert sich jedoch die Situation. Der sprachliche Einfluss,der von Luthers Bibelübersetzung ausging, war auch in der Eidgenossen-schaft so groß, dass die spezifisch schweizerische Sprache ihm auf die Dauernicht widerstehen konnte. Zwar hatten Zwingli und die Zürcher Reformato-ren ihre eigene Bibelübersetzung in alemannischer Sprache herausgegeben,doch die „Zwinglibibel“ wurde in den Neubearbeitungen sprachlich immermehr der „Lutherbibel“ angenähert. Denselben Weg geht die schweizerischeAmtssprache, die schließlich im 17. Jahrhundert dem Neuhochdeutschen vielnäher steht als dem Alemannischen. So ist die im Mittelalter noch durchausbestehende Möglichkeit, eine alemannische Schriftsprache zu schaffen, nichtwahrgenommen worden. Diese Tatsache führt zur heutigen Sprachsituation,die durch die Trennung von Schriftsprache und Mundart gekennzeichnet ist.

Dritte Phase: 18. Jahrhundert. Die Epoche der französischen Dominanz

Das Spannungsverhältnis zwischen Schriftsprache und Mundart führt im18. Jahrhundert zu einem Gefühl sprachlicher Unsicherheit, das vielerorts –vor allem in Bern – ein Ausweichen auf das Französische bewirkt. Franzö-sisch ist in der Zeit des „siècle des lumières“ nicht allein in der Schweiz,sondern auch im übrigen Europa vor allem bei den Gebildeten vorherrschend.Denken wir an den Einfluss Voltaires auf Friedrich II., den Preußenkönig, derfranzösisch dachte, sprach und schrieb; denken wir an Diderots Wirken amHof der Zweiten Katharina in Petersburg.

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In der Schweiz ist der französische Einfluss vor allem im Berngebiet beson-ders stark. Bis in die neuere Zeit gehört es in den Kreisen der Berner Aristo-kratie zum guten Ton, französisch zu parlieren, und auch in der Volkssprachewirkt der französische Einfluss weiter, und zwar vor allem in jenem sprachli-chen Grenzbereich, in dem das Nebeneinander von Deutsch und Welsch zueinem gegenseitigen Austausch von Wortmaterial geführt hat. Dieser Aus-tausch kann so weit gehen, dass sich Deutsch und Französisch geradezu durch-dringen. Einige typische Ausdrücke mögen diese Tatsache nach beiden Sei-ten hin veranschaulichen:

Lehnwörter im Schweizerdeutschen aus dem Französischen:

äxgüsi excusez Verzeihung‘s Billet le billet die Fahrkarted’ Bagage le bagage das Gepäckdr Kondukteur le conducteur der Schaffnerdr Perron le perron der Bahnsteigd’ Buewärli les pois verts die Zuckererbsensich trompiere se tromper sich irren

Lehnwörter im Romand aus dem Alemannischen:

les bats dr Batze der Batzen, 15 Rappenle bour dr Bur der Bauer (Spielkarte)les reuchti d’ Röschti gebratene Kartoffelnle chlouc dr Schluck der Schluckchmollits Schmollis Schmollis machen, sich duzen

und vor allem und bezeichnenderweise das Verb:

poutser butze putzen, reinigen; ebenfalls: gewinnen

Vierte Phase: 19. Jahrhundert. Dominanz der Hochsprache

Im 19. Jahrhundert ändert sich die Situation grundlegend. Die Tendenz zumHochdeutschen wird immer ausgeprägter – vor allem in den Städten der Nord-und Ostschweiz: Basel, Zürich, Sankt Gallen. Diese Entwicklung wird vonder Präsenz zahlreicher deutscher Emigranten beeinflusst, die zur Zeit derpolitischen Unruhen um 1848 in der Schweiz Zuflucht fanden und in derFolge wirtschaftlich und kulturell einflussreiche Positionen besetzten, so dasssich die Hochsprache im öffentlichen wie auch im privaten Umgang so weitdurchsetzen konnte, dass allen Ernstes das Aussterben der schweizerdeut-schen Mundart prophezeit wurde: „Wer könnte die Verwesung aufhalten, undwer wollte so töricht sein, seine Kraft gegen einen gewaltigen Naturprozesszu stemmen.“

Dies schrieben – man staune – die Verfasser des Schweizerischen Idiotikonsin einer Voranzeige im Jahre 1880. Dazu wird es jedoch nicht kommen. Wie

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die Entwicklung im 20. Jahrhundert zeigen wird, beweist die Mundart eineungeahnte Widerstandskraft.

Fünfte Phase: 20. Jahrhundert. Die Gegenbewegung: der Wiederaufstiegdes Schweizerdeutschen

Bereits um 1900 setzt, getragen von einer mächtig aufblühenden berndeut-schen Mundartliteratur, in der ganzen deutschsprachigen Schweiz eine Be-wegung ein, die sich gegen die kulturelle und sprachliche „Überfremdung“durch die so genannten „Reichsdeutschen“ wendet und den allgemeinen Ge-brauch der Mundart als Symbol schweizerischer Eigenart und demokrati-scher Gesinnung verteidigt. Die Mundart wird als Ausdruck schweizerischerEigenständigkeit betrachtet und sie wird in der Folge zur Zeit der beidenWeltkriege eine sehr große Rolle spielen. Angesichts der Bedrohung von au-ßen wird sie gewissermaßen zum geistigen Sammelpunkt. Dies ist besonderszur Zeit des Nationalsozialismus der Fall: die Mundart soll abgrenzen gegendas, was dem eigenen Wesen fremd ist, und gleichzeitig zusammenfügen undinneren Halt geben. Damit wird das Schweizerdeutschsprechen zur Identi-tätsfrage. Es ist es bis heute geblieben.

Schweizerbürger sein ist halt eben etwas Besonderes, wenn wir Julian Dillierglauben wollen, der in einem Gedichtchen zum 1. August, dem Nationalfei-ertag, schreibt:

Zum erschtä Aigschtä Zum ersten August

Der liëb Gott Der liebe Gottcha froo sy, kann froh sein,as er a Schwyzer dänkd hed, dass er an Schweizer dachte,wo n er de Mänsch erfundä hed als er den Mensch erfunden hat

Die Selbstironie ist nicht zu überhören. Sie weist auf die potentielle Gefahreiner Entwicklung hin, die leicht zur provinziellen Selbstisolierung führenkann. Ein selbstgenügsamer und selbstgefälliger Helvetismus äussert sichgerade in der heutigen Europapolitik als eine ernst zu nehmende politischeKraft. Wir finden hier die Kehrseite eines Selbsterhaltungswillens, der glaubt,sich auf sich selbst zurückziehen zu müssen. Damit dieser Rückzug auf sichselbst nicht zu einer negativen Bewegung der Abkehr wird, muss er immerwieder den Weg zur Weltoffenheit suchen, die ja ihrerseits nicht ohne einefeste Grundlage auskommen kann.

Bereits Gottfried Keller hat sich mit diesem Paradoxon intensiv auseinan-dergesetzt, „Der grüne Heinrich“ legt dafür in eindrücklicher Weise Zeugnisab. Auch Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch haben diese Problematik er-fahren. Bei Frisch findet sie beredten Ausdruck in seinem Roman „Stiller“.

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Einige Hinweise auf phonetische, grammatikalische und lexikalische Be-sonderheiten des Schweizerdeutschen mögen den geschichtlichen Überblickergänzen. Sie sind in leicht gekürzter Form den mimeographierten Lesetex-ten „Zur Einführung ins Wesen der alemannischen Mundarten“ von RudolfZellweger entnommen.

Eine Erzählung der Brüder Grimm ist als „zweisprachiger“ (schweizer-deutsch-standarddeutsch) Übungstext den sprachtechnischen Erläuterungenvorangestellt:

’S Bürli im Himmel

S’isch emol es arms, frommsBürli gstorbe und chunnt do vord’Himmelspforte. Zur gliche Zitisch au e riche, riche Herr do gsi undhet au i Himmel welle. Do chunnt derheilig Petrus mit em Schlüssel undmacht uf und lot der Herr ine; dasBürli het er aber wies schint nid gsehund macht d’Pforte ämel wieder zue.Do het das Bürli vorusse ghört, wie deHerr mit alle Freude im Himmel ufgnoworde-n-isch und wie sie drin musiziertund gsunge händ. Äntli isch es dowieder still worde und der heilig Petruschunnt, macht d’Himmelspforte ufund lot das Bürli au ine.

’S Bürli het do gmeint, ’s werd jetztau musiziert und gsunge, wenn eschömm, aber do isch alles still gsi; mehets frili mit aller Liebi ufgno, undd’Ängeli sind em etgäge cho, abergsunge het niemer.

Do frogt das Bürli der heilig Petrus,worum dass me bi im nid singi wiebi dem riche Herr, ’s geng schintsim Himmel au parteiisch zue wie uf derErde.

Do seit der heilig Petrus: „Näi, wäger,du bisch is so lieb wie alli andere,und muesch alli himmlische Freudegniesse wie de rich Herr; aber lueg,so armi Bürli, wie du äis bisch,chömme alli Tag in Himmel, sone riche Herr aber chunnt nume allihundert Johr öppe-n-äine.“

Es starb einmal ein armes, frommesBäuerlein und kam (kommt) da vordie Himmelspforte. Zur gleichen Zeitwar auch ein reicher, reicher Herr da undwollte auch hinein. Da kommt derheilige Petrus mit dem Schlüssel (und)macht auf und lässt den Herrn herein; dasBäuerlein sah er aber, wie es scheint,nicht und machte die Pforte jedenfalls wie-der zu. Da hörte das Bäuerlein draußen,wie der Herr voller Freude im Himmelaufgenommen wurde und wie sie drinnenmusizierten und sangen. Endlich wurdees dann wieder still (und) der heilige Pe-trus kommt und macht die Himmelstüreauf und lässt das Bäuerlein auch herein.

Da glaubte das Bäuerlein, es werde jetztauch musiziert und gesungen (wenn eskomme), aber alles war still; mannahm es freilich mit aller Liebe auf (und)die Engelein kamen ihm entgegen, aberniemand sang.

Da fragte das Bäuerlein den heiligen Pe-trus, warum man bei ihm nicht singe, wiebei dem reichen Herrn, man sei, scheinees, im Himmel auch parteiisch wie aufder Erde.

Da sagt der heilige Petrus: „Nein wahr-lich, du bist uns so lieb wie alle andernund sollst alle himmlischen Freudengenießen wie der reiche Herr; aber sieh,so arme Bäuerlein, wie du eines bist,kommen alle Tage in den Himmel, solchein reicher Herr aber kommt nur allehundert Jahre etwa einer.“

Brüder Grimm: Das Pürli im Himmel. In: Grimms Märchen, Manesse Bibliothek. Bd. II.

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Einige Merkmale der schweizerdeutschen AusspracheEs gibt kein einheitliches, standardisiertes Schweizerdeutsch. Zum besserenVerständnis sind den nachfolgenden Beispielen mehr oder weniger wörtlicheÜbersetzungen in die Schriftsprache gegenübergestellt.

Aus praktischen Gründen wird bei der Wiedergabe des Dialekts auf eine pho-netische Umschrift verzichtet und das schweizerdeutsche Schriftbild wirdmöglichst dem hochdeutschen angeglichen.

Schriftdeutsch Schweizerdeutsch

VOKALE

Langer Vokal in offener Silbe: Kurzer Vokal in offener Silbe:aber, Vater, wieder, entgegen = aber, Vater, wieder, e(n)tgäge

Kurzer Vokal in geschlossener Langer Vokal in geschlossenerSilbe (besonders vor „r“): = Silbe (besonders vor „r“):arm, auf, gehört, zwar, gestorben= arm, uf, ghört, zwor, gstorbe

Diphtonge (im Wortinneren): Monophtonge (im Wortinneren):„ei“: gleich, Zeit, reich = „i“: glich, Zit, rich„au“: auf, draußen = „u“: uf, vorusse„äu“ (eu): Bäuerlein, Häuslein = „ü“: Bürli, Hüsli

Monophtonge: Diphtonge:„ie“: Liebe, Brief, spazieren = „ië“: Liëbi, Briëf, spaziëre„u“: zu, gut, Bube, („look“) = „ue“: zue, guet, Bueb, (luege)„ü“: Bücher, Güte = „üe“: Büecher, Güeti

Helle Vokale: Dunkle Vokale (nur teilweise):„a“: zwar, einmal, fragt, warum = „o“: zwor, emol, frogt, worum„o“: kommt, Sommer, Sonne = „u“: chunt, Summer, Sunne„e“: entgegen, endlich = „ä“: etgäge, ändlig

KONSONANTEN

Auslaut „-n“: (final) fällt ab:einmal, denn, nein = emol, de, nei

Anlaut „k-“: (initial) meist „ch-“kommt, Katze = chunt, Chatz

„st“, „sp“: „scht“, „schp“ (auch im Inlaut)sterben, ist = schtärbe, ischtspielen, Visp = schpile, Vischp

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ZUSAMMENZIEHUNG

es ist – gewesen = s’ischt – gsi (gesein)mit dem – bei dem (= beim) = mitem – bimmit einem – bei einer = miteme – bineredie Himmelstür, die Frau = d’Himmelstür, d’Frau (= Pfrau)gekommen, gegangen = cho, ggangeaufgenommen, hereinlassen = ufgno - inelo

Häufig werden Verb und Prono- i ha, i bimen oder Präposition und Artikel aber: ha-n- = hani, bi-n-i = binizusammengezogen, wobei ein S’Buech wo-n-i (= woni) gläse ha„-n-“ als Bindeglied dient. Wo-n-i (= woni) hei cho bi(n).

Auffallende grammatikalische Formen

Einige auffallende Eigenheiten der schweizerdeutschen Grammatik:

Regel Beispiel

Der Akkusativ wird (wie im Fran- Nom.: de Herr ischt im Himmelzösischen) nicht vom Nominativ ufgno wordeunterschieden (außer bei Personal- Akk.:Petrus macht uf und lotpronomina). de Herr ine.

Der Genitiv wird durch den Dativ De Schluss vo de Gschichtumschrieben. Em Petrus sini Antwort

(= dem P. seine A. = die A. des P.)

Vor Eigennamen steht immer der De Petrus, de Hans, de Ruedi;bestimmte Artikel. d’Trudi (fem.) = s’Trudi (neutr.)

Das Relativpronomen heißt „wo“. S’Bürli wo gstorbe-n-ischt.De Herr, wo de Petrus ine lo het.

An die Stelle des Imperfekts und des S’ischt emol es arms Bürli gsi.Plusquamperfekts, die es nicht gibt, S’Bürli het gmeint, s’werditritt das Perfekt. bi-n-im au gsunge.

VERBALPARTIKEL:

hinauf – herauf: ufe hinab – herab: abehinein – herein: ine hinaus – heraus: use

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WortschatzAus dem reichen Wortschatz der Mundart wählen wir eine Anzahl typischer,fast überall gebräuchlicher Schweizer Dialektausdrücke, deren Sinn nicht ohneweiteres zu erraten ist oder die im Schweizerdeutschen nicht die gleiche Be-deutung haben wie im Hochdeutschen:

Auf den Web-Seiten der IDT (www.idt-2001.ch) stellen Luzernerin-nen und Luzerner sich selbst und ihre Stadt vor – die Gelegenheit, sichin ihren Dialekt einzuhören!

abe hinab, herabächt vielleichtafe, efang einstellenalange, alänge berührenallpot jeden Augenblickänet (+ Dat.) jenseitsbhüetis! Gott behüte unsbitzli bisschenbriegge weinenCheib (adj. cheibe) Aas (Schimpfwort)Chile KircheChriesi Kirschefärn letztes JahrFinke PantoffelnFüfliber Fünffrankenstückgäch steilGötte, Gotte Pate, PatinHafe TopfGrind Kopfgspässig seltsam

Güggel (coq) Hahngumpe springenhebe haltenine hinein, hereinkeie fallenlätz falschlisme strickenlose (zu)hören, horchenluege schauen, sehenlupfe hebenMeitli, Meitschi Mädchen, Magdniemert niemandniene nirgendsnümme nicht mehröppe etwaöppis etwasplange (sehnsüchtig) wartenring leichtschaffe, wärche arbeitenStäge Treppe

Vor allem im Bereich des sinnlich Wahrnehmbaren übertrifft das Schweizer-deutsche die Schriftsprache durch seinen Reichtum an bunten, bildhaftenAusdrücken. Als Beispiel soll der Begriff des Sterbens herausgegriffen wer-den, für welchen das Idiotikon auf 14 enggedruckten Seiten unter hundertanderen folgende Umschreibungen aufzählt, die alle aus verschiedenen Lan-desteilen zusammengetragen sind und von denen jede aus einer bestimmtenSozial- und Gefühlssphäre stammt:

abfaare – abreise – abschiebe – abspaziere – abchraze – ewäg cho – himmle –ufgeiste – umstecke – verräble – es het en – es nimmt en – es chlepft en – ewigverschnufet ha – zum Gugger sy – go Bire schüttle – Härd sueche – vergessez’schnufe – mit em Petrus einig werde – zu üsem Hergott ga – go Grund träge – demPfarrer d’Henne heitue – dr Löffel ablegge – d’Ore hindere litze – s’Redli mache –d’Bei i d’Hechi stitze – nümme zum Migros ga – dr Barebli (= den Schirm) zuetue –i d’Holz-bire go – übers Steckli springe – usw.(Schweizerisches Idiotikon, Frauenfeld, [seit 1881], Bd. 11)

Hans-Werner Grüninger, Bern

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Sprache(n) in der Deutschschweiz

Zum Gebrauch von Hochdeutsch und Mundart

0. Einleitung

Die kulturelle und sprachliche Vielfalt innerhalb des deutschsprachigen Rau-mes erfreut sich auch im DaF-Unterricht zunehmender Berücksichtigung.Dass die deutsche Sprache in verschiedenen Regionen Deutschlands, Öster-reichs und in der Schweiz unterschiedlich klingt und eigene Wortvariantenaufweist, dürfte allen DaF-Lernenden bekannt sein. Was aber weiss man imAusland über die deutschschweizer Sprachsituation? Diese wird oft als er-stes mit „Schwyzertütsch“ in Verbindung gebracht. Ich werde zunächst aufdie weit verbreiteten, teilweise falschen Vorstellungen vom Schweizer Dia-lekt zu sprechen kommen. Im zweiten Teil werde ich darauf eingehen, wannund wie Standardsprache und Mundart in der Deutschschweiz nebeneinan-der verwendet werden. Der dritte Teil wird mit Bemerkungen zum Erwerbder Standardsprache in der Deutschschweiz meinen Beitrag abschliessen.

1. Gängige Einschätzungen der Deutschschweizer Sprachsituation

Sucht man das Internet via Suchmaschinen (z. B. Google oder Altavista) nachdem Begriff „Schwyzertütsch“ (auch „Schwyzertüütsch“ geschrieben) ab,ergibt sich eine Auswahl von Texten unterschiedlicher Niveaus, die die gan-ze Bandbreite von populären Vorstellungen über die DeutschschweizerSprachsituation im Allgemeinen und den Dialekt im Besonderen abdeckt.Diese Vorstellungen und ihr Zustandekommen sind zwar nachvollziehbar,entsprechen aber nicht immer der Realität, auch wenn man solche Meinun-gen (nicht nur im Internet)1 immer wieder lesen oder hören kann. Sie werdenin den folgenden (konstruierten) Aussagen zusammenfassend wiedergege-ben und kommentiert.

– „Wenn man Deutsch als Fremdsprache gelernt hat und zum ersten Mal indie Deutschschweiz reist, macht man die Erfahrung, dass einem die Hoch-deutsch-Kenntnisse nichts nützen: Weder versteht man, was die Leute sagen,noch sind diese bereit, selber mit Ausländern Hochdeutsch zu sprechen.“

Richtig ist, dass die Schweizer Mundarten für jemanden, der zunächst nurdie Standardsprache versteht, gewöhnungsbedürftig sind. Hält man sich je-doch länger im Land auf, ergibt sich eine gute passive Kompetenz innerhalbweniger Wochen bis Monate. Dass sich die Deutschschweizer generell wei-gern, mit Ausländern die Standardsprache zu sprechen, muss zurückgewie-

1 Vgl. z. B. Scholz 2001:91, 95 und 106.

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sen werden, auch wenn es viele Deutschschweizer gibt, die von sich sagen,sie sprächen nur ungern Hochdeutsch. Ein Mythos ist auch, dass Deutsch-schweizer mit Ausländern, die gut Hochdeutsch sprechen, generell lieberauf Französisch, Englisch oder Italienisch kommunizieren als auf Hoch-deutsch; auch wenn durch das Nebeneinander der vier Landessprachen so-wie durch das Hin- und Herschalten vom Dialekt in die Standardsprache undzurück eine gewisse, im Vergleich zu weitgehend monoglossischen Sprach-gebieten grössere sprachliche Flexibilität und Offenheit für Fremdsprachenzu beobachten sein mag – man wird kaum einen (einsprachigen) Deutsch-schweizer antreffen, der besser Französisch und Englisch als Hochdeutschspricht. Und es beherrschen nicht alle Schweizerinnen und Schweizer alleLandessprachen – schon gar nicht das Rätoromanische!

– „Das Schweizerdeutsche, das man am Radio und im Fernsehen hört, istleicht zu verstehen.“

Diesem Irrtum sind schon viele Gäste gerade aus dem Norden Deutschlandsunterlegen. Aber es geht meistens nicht lange, bis sie herausfinden, dass dieSprache, die sie in den Medien hören und leicht verstehen können, nichtSchweizerdeutsch ist, sondern Hochdeutsch, wie man es in der Schweizspricht – nicht nur in den Medien, sondern auch in anderen öffentlichen,formellen Situationen. Dieses Schweizerhochdeutsch ist identisch mit demHochdeutsch in Deutschland, abgesehen von einer Reihe v. a. lexikalischerBesonderheiten und von systematischen Ausspracheunterschieden. So wirdbspw. das /r/ im Auslaut in der Regel nicht vokalisiert, man sagt also imSchweizerhochdeutschen oft nicht [fa:ta] für „Vater“, sondern „buchstaben-getreu“ [fa:ter]. Charakteristisch für das /r/ im Schweizerhochdeutschen istzudem, dass es selten uvular (d.h. mit vibrierendem Halszäpfchen), sondernöfters apikal (mit am Zahndamm vibrierender Zungenspitze, „(vorne) rol-lend“) ausgesprochen wird – so wie in der Mehrheit der Dialekte übrigensauch. Gerade das rollende /r/ wird neben krachenden glottalen Frikativen(„Chuchichäschtli“) bekanntlich von Nichtschweizern eingesetzt, um denSchweizer Dialekt zu karikieren.

– „Die deutschschweizer Dialekte sind so verschieden, dass man, wenn maneinen davon versteht, beim nächsten schon wieder grosse Verständnis-schwierigkeiten hat.“

Die Variation der Mundarten in der Deutschschweiz ist zwar tendenziell klein-räumiger als in Deutschland. Die Dialektgrenzen2 in der Schweiz umfassen

2 Isoglossen sind Grenzlinien zwischen zwei dialektalen Realisationen eines sprachli-chen Phänomens. Diese Sprachgrenzen kommen durch die Erhebung des Wort- undLautbestands zustande.

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kleinere Gebiete. Jedoch unterscheiden sich die Dialekte untereinander we-niger stark als die Dialekte in Deutschland! Die grosse Mehrheit der deutsch-schweizer Dialekte werden einer einzigen „Dialektfamilie“, dem Hochale-mannischen, zugerechnet.3 Hat man Berndeutsch verstehen gelernt, wird esnicht lange dauern, bis man auch mit Zürichdeutsch keine Probleme mehrhat.

– „Schweizerdeutsch unterscheidet sich stark von anderen deutschen Dia-lekten.“

Das Gesamt der deutschen Mundarten kann in nieder-, mittel- und oberdeut-sche Dialekte eingeteilt werden. Die Dialekte im Raum Basel, Freiburg i. B.bis „hinauf“ nach Stuttgart sind einander recht ähnlich.4 Sie gehören nichtnur zur selben Grossfamilie, zum Oberdeutschen (wozu übrigens auch derBairisch-Österreichische Dialektraum gehört5); sie können sogar derselbenUntergruppe, dem Alemannischen, zugeordnet werden. Das Hochalemanni-sche (also Schweizerdeutsche) gehört ebenso zum Alemannischen Dialekt-raum wie das Schwäbische. Man kann also davon ausgehen, dass sich einSchwabe und eine Baslerin, wenn sie beide Dialekt sprechen, recht gut ver-stehen, währenddessen eine Sprecherin aus dem westfälischen Dialektraummit demselben Schwaben Verständigungsprobleme haben dürfte, sprächensie beide ihren Dialekt.

– „In der Deutschschweiz spricht man Deutsch. Viele Leute sprechen abernoch Mundart.“

Die Vorstellung, dass sich der Dialekt in der Deutschschweiz länger gehaltenhat als in weiten Teilen Deutschlands, ist zwar nicht ganz unrichtig, impli-ziert aber fälschlicherweise, dass es nicht mehr lange geht, bis auch in derDeutschschweiz alle nur noch Standardsprache sprechen. Standardspracheund Dialekt bilden in der Deutschschweiz jedoch eine stabile funktionaleDiglossie6, die sich wahrscheinlich noch lange halten wird: Die Verwendung

3 Mit wenigen Ausnahmen: Bspw. spricht man im Kanton Wallis höchstalemanni-schen Dialekt, während der Basler Dialekt wiederum niederalemmanische Merkma-le aufweist (z. B. /k/ im Anlaut – man sagt in Basel also [kind] für „Kind“ und nicht[chind]).

4 Die Isoglossen fallen nicht mit den Schweizer Staatsgrenzen zusammen! Vgl. Haas2000:57.

5 Daher verstehen sich Österreicher und Schweizer, die Dialekt und nicht Hoch-deutsch miteinander sprechen, recht gut. Norddeutsche, die Dialekte aus dem Südendes deutschsprachigen Raumes selten hören, verstehen Dialekt sprechende Schwei-zer oder auch Österreicher oft schlecht. Daher werden dialektsprachige Filme mitUntertiteln versehen.

6 Vgl. Ferguson 1976 (1959).

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von Dialekt und Standardsprache ist nicht an einzelne Sprecher und ihrenBildungsstand, sondern an unterschiedliche Kommunikationssituationengebunden. Dies ist einer der Hauptunterschiede zwischen der Sprachsituati-on in der Deutschschweiz und der Sprachsituation in Deutschland.

– „Die gebildeten Leute sprechen auch in der Deutschschweiz (nur) Hoch-deutsch.“

Das ist falsch. Man spricht unabhängig von Bildung und sozialem StatusDialekt – es kommt allein auf die Kommunikationssituation an. Im Alltagwir von SprecherInnen aller sozialer Schichten Dialekt gesprochen. Die Stan-dardsprache wird unter Landsleuten auch dann nicht für alltägliche Kommu-nikation verwendet, wenn es sich um Fachgespräche handelt. Auch einedeutschschweizer Universitätsprofessorin wird, nachdem sie ihre Vorlesungim Standard gehalten hat, die Sprechstunde – sofern sie es mit einem deutsch-schweizer Studierenden zu tun hat – im Dialekt abhalten; DeutschschweizerParlamentarier sprechen in der Wandelhalle des Bundeshauses untereinan-der Dialekt, nachdem die Debatte auf Hochdeutsch geführt worden ist.7 DieParlamentarier werden die politische Debatte im informellen Rahmen pro-blemlos im Dialekt weiterführen; als „Ausbausprache“ ist der Dialekt füralle Gesprächsthemen anwendbar, da er unter phonologischer Anpassung dieganze Standardlexik und bis zu einem gewissen Grad auch ihre Syntax insich aufnehmen kann; in der Folge ist der Dialekt für alle kommunikativenDomänen verwendbar, so zum Beispiel auch für Fachgespräche unter Ärz-ten.

– „Schweizerdeutsch wird von Region zu Region unterschiedlich verschrift-licht.“

Dies ist zwar richtig, erweckt aber den falschen Eindruck, dass es eine ausdem Dialekt herausgebildete, weit verbreitete Schriftsprache gäbe. Geschrie-ben wird in der Deutschschweiz, wie im übrigen deutschsprachigen Raumauch, in der Standardsprache. Geschriebenem Dialekt begegnet man relativselten. Wenn, dann vorwiegend in der Korrespondenz unter Jugendlichen, inLiedertexten, in Mundartliteratur oder in persönlichen Erlebnisberichten, wieder folgende (berndeutsche) Textausschnitt zeigt: „Wo mer am Tannesee acho

7 Der Gebrauch des Hochdeutschen erklärt sich einerseits durch die Öffentlichkeit undFormalität der Kommunikationssituation, andererseits wird aber auch den Kollegenund Kolleginnen zuliebe, die aus der französisch- oder italienischsprachigen Schweizstammen, Hochdeutsch gesprochen. Parlamentssitzungen finden in einigen Kanto-nen allerdings im jeweiligen Dialekt statt, z. B. im Kanton Baselland. Die Mundartwird also zunehmend auch für formelle Situationen verwendet. So hat der Gebrauchder Mundart in den letzten Jahrzehnten auch für Informationssendungen in Radiound Fernsehen zugenommen.

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si, hei mer de z’grächtem Hunger gha. Es schöns Bänkli am See het is iglade,drufe abzhocke. Hie hei mir du z’Mittag gässe. Es isch schön gsi, uf dä ruhigSee z’luege.“ (Bäärgfruehlig uf dr Frutt, 2001, Internet)8

Eine normierte, kodifizierte, eigene Schriftsprache hat man in der Deutsch-schweiz aber nicht.9

– „Schweizer sprechen langsam.“

Weil sie es nicht täglich verwenden und ihnen somit die Routine fehlt, spre-chen manche Deutschschweizer langsamer Standarddeutsch als norddeut-sche Sprecherinnen und Sprecher.10 In der Regel sprechen sie in ihrem Dia-lekt aber schneller und – dies ist v. a. bei Schulkindern zu beobachten – mitdynamischerer Intonation als im Standard.

Einige Menschen, seien dies Lernende von Deutsch als Fremdsprache oderDeutschsprachige aus anderen Gebieten des deutschen Sprachraums, belu-stigt das Schweizerdeutsche. Wenn das auch dann so bleibt, nachdem sieerfahren haben, dass man im Schweizerdeutschen nicht an jedes Substantiv-li hängt, muss man das Terrain linguistischer Erklärungsversuche verlas-sen. Ebenso wenige Argumente lassen sich der Meinung entgegenhalten, dievielen glottalen Frikativlaute („chch“) liessen die Schweizer Mundarten hartund hässlich tönen, wie der Homepage einer australischen Reiseagentur zuentnehmen ist: „It’s all in the throat. ... It’s the „chhhhhh“ or „kkkkkk“noise that baseball players make before they deposit tobacco juice on theinfield grass. Go ahead try to pronounce ... „Chäs-Chüechli“ without losingyour dignity. You’ll understand why humorist George Mikes once said ofSwiss-German dialect, „it is as though the Venus of Milo were to belch sud-denly in public.“ (Goswitzerland, 1997, Internet).

2. Nebeneinander von Standard und Dialekt in der Deutschschweizim Unterschied zur Sprachsituation Deutschlands

Standarddeutsch oder Hochdeutsch wird in der Deutschschweiz vorwiegendals Schriftsprache gebraucht. Gesprochen wird es nur in formellen, öffentli-chen Situationen, bspw. in der Schule, an der Universität, im National- undStänderat, in den Medien (in überregionalen Nachrichtensendungen), in der

8 „Als wir am Tannensee ankamen, hatten wir dann wirklich Hunger. Ein schönesBänklein am See lud uns ein, uns hinzusetzen. Hier assen wir dann zu Mittag. Es warschön, auf diesen ruhigen See zu schauen.“

9 Es gibt zwar Grammatiken bspw. für das Basel-, Zürich- und Berndeutsche. Man hältsich beim Verschriftlichen des Dialekts aber in seltenen Fällen daran.

10 Dies dürfte ein Grund für die stereotype Vorstellung vieler Deutscher sein, dieSchweizerinnen und Schweizer seien langsam – nicht nur im Sprechen, sondernauch im Denken und Handeln.

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Kirche und im Gespräch mit Fremdsprachigen sowie Deutschsprachigen,von denen man annimmt, dass sie keinen Dialekt verstehen. Von der Mehr-heit der deutschschweizer Bevölkerung wird Standarddeutsch also relativselten gesprochen. Überdies gibt es keine Zwischenformen, keine überre-gionale, historisch aus den Dialekten entstandene eigene Schweizer Varietätals Umgangssprache bzw. Alltagssprache11. Dialekt und Standard werdenstrukturell klar auseinandergehalten und funktional konsequent getrennt. ImGegensatz dazu können deutsche Sprecherinnen und Sprecher, sofern sieüberhaupt noch einen Dialekt sprechen, den Grad der Dialektalität je nachKommunikationssituation anpassen und sich einer Umgangssprache i. S. ei-nes Ausgleichsdialekts bedienen. Sie können ihre Sprache stufenlos zwischenden Polen Dialekt und Standardsprache einstellen, da sie über ein „Dialekt-Standard-Kontinuum“ verfügen.

Ein weiterer wichtiger Unterschied zwischen der deutschen und der deutsch-schweizer Sprachsituation besteht darin, dass der Dialekt in der Schweiz, imGegensatz zum weitverbreiteten niedrigen Prestige des Dialekts in Deutsch-land, sozial unmarkiert ist; alle sprechen Dialekt, unabhängig vom sozialenStatus und der Bildung. Deshalb kann auch niemand allein aufgrund der Tat-sache, dass er oder sie Dialekt spricht, diskriminiert werden. In Deutschlandhingegen gibt es Sprecherinnen und Sprecher, die nur Standard sprechen(wollen), da der Dialekt gegenüber der Standardsprache sozial markiert ist:Dialekt und Standard werden zu Soziolekten, zu Aushängeschildern, vondenen man annimmt, dass sie etwas über die soziale Herkunft des Sprechersoder der Sprecherin verraten. In der Deutschschweiz ist der Dialekt abergeradezu ein Nationalsymbol. Dazu gehört auch, dass beim „Durchschnitts-schweizer“ stereotype negative Einstellungen gegenüber dem Standard zubeobachten sind. Diese sind im allgemeinen durch Unsicherheit, Angst, Ab-lehnung, bestenfalls „Respekt ohne Liebe“ (Sitta 1979) bestimmt. Allerdingsgilt es hier medial zu differenzieren: negative Einstellungen gegenüber demHochdeutschen betreffen lediglich den gesprochenen Standard. Und wennes damit Probleme gibt, sind diese nicht sozialer Art, sondern werden alskollektive Probleme erlebt, da der Gebrauch von Dialekt und Standard ebengerade nicht von der jeweiligen Arbeits- und damit verbundenen Lebenswei-se determiniert wird, sondern situationsabhängig ist. Das Verhältnis derDeutschschweizer zum Hochdeutschen als Schriftsprache ist hingegen pro-blemlos.

11 Ausnahmen bilden das „Radiodeutsch“ (direkte Übersetzungen aus dem Standard inden Dialekt unter Beibehaltung der standardsprachlichen Syntax und Lexik), derEinsatz von Dialektwörtern in Werbung und Boulevardjournalismus und die Lerner-sprache, wie man sie in Texten von Schulanfängern findet und die tatsächlich eine ArtKontinuum zwischen Dialekt und Standardsprache bildet.

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3. Zum Erwerb des Hochdeutschen in der Deutschschweiz und zurEntwicklung der Einstellungen zum Hochdeutschen

Den Hochdeutscherwerb in der Deutschschweiz insgesamt als Fremd- oderZweitspracherwerb zu bezeichnen, wäre m. E. unangemessen, auch wennbei Primarschulkindern gewisse Zweitsprach-Erwerbsstrategien12 zu beob-achten sind. Mundart und Standard sind einander strukturell zu ähnlich, alsdass man sie als verschiedene Sprachen bezeichnen könnte. In lexikalischerHinsicht ist der Hochdeutscherwerb weitgehend in den Mutterspracherwerb(also in den Erwerb des jeweiligen Dialektes, in den das Kind hineinwächst)eingebunden. Der im Dialekt stattfindende Wortschatzausbau kann grössten-teils direkt auf die Standardsprache übertragen werden und umgekehrt. Dasder Mundart und dem Standard gemeinsame Lexikon macht den grösstenTeil des Wortbestandes aus.

Trotzdem ist es so, dass, bedingt durch die funktionale Einschränkung desStandards, Schweizer Kinder weniger selbstverständlich und weniger flies-send Hochdeutsch sprechen lernen als deutsche Kinder. Dabei ist nicht nur diemangelnde Gelegenheit, den gesprochenen Standard zu üben, ein erschweren-des Moment im Standardspracherwerb; es ist auch der normative Zwang derSchriftsprache, der sich negativ auf das Sprechen des Standards auswirkt.

Gesprochene Standardsprache ist für Schweizer Kinder eine Sonderform derMündlichkeit. Ihr Erwerb setzt aber nicht erst in der Schule ein. Als Rezipi-enten werden sie via Medien täglich mit dieser Sprachform konfrontiert. Ihrepassive und bereits im Vorschulalter durchaus in Ansätzen vorhandene akti-ve Standardkompetenz wird oft unterschätzt. Wenn Vorschulkindern hoch-deutsche und schweizerdeutsche Geschichten vorgelesen bzw. abgespieltwerden, sind nur minimale Unterschiede im Verstehen festzustellen. Sie nut-zen ihr Wissen über phonologische und morphologische Transformationen,um Hochdeutsch so zu verstehen, dass sie ihr mundartliches Lexikon voll-umfänglich für den Verstehensprozess gebrauchen können (Stern 1988:139,142-153). Der Hochdeutscherwerb ist dem Dialekterwerb also nicht einfachnachgeschaltet, sondern findet zwischen sechs und acht Jahren weitgehendungesteuert in nichtschulischen Situationen statt.

12 Stern (1988:148f, 154) stellt bei Schweizer Kindern eine „beschränkte aktive hoch-deutsche Erzählfähigkeit“ fest und deutet diese als Indiz dafür, dass die Hochsprachenach Fremdsprach-Ewerbsstrategien gelernt werde. Sie erscheinen bspw. als negati-ve Transfers von der Mundart in den Standard. Im Bereich der Morphologie, in derHochdeutsch und Schweizerdeutsch beträchtliche Differenzen aufweisen, könnentypische Zweitsprach-Lernstrategien, d. h. eine graduelle Näherung an die Ziel-Form, beobachtet werden, so z. B. beim Erwerb des Präteritums: die Form „ging“entwickelt sich über „gehe“, „gangt“; „setzte“ über „setzt“, „sitzt“; „ass“ über „esst“,„isst“.

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Der Dialekt wird in der Deutschschweiz in der Regel assoziiert mit: persön-lich, vertraut, locker, frei, einfach, gefühlvoll, farbig, ausdrucksstark, sym-pathisch, lustig etc. Die Standardsprache dagegen wird empfunden als: un-persönlich, unvertraut, steif, kompliziert, wenig emotional, gepflegt, geho-ben etc. (Sieber/Sitta 1986:122). Diese Einstellungen sind in der funktiona-len Verteilung der beiden Varianten begründet und haben nichts mit demWesen der Sprachsysteme zu tun. Sogar innerhalb der Schule werden diebeiden Varietäten funktional verteilt: Kopf- bzw. Leistungsfächer werden aufHochdeutsch unterrichtet; in den Herz- und Handfächern (z. B. Musik, Wer-ken, Sport) wird Mundart gesprochen. Manchmal wird aber auch in den Lei-stungsfächern Mundart gesprochen, nämlich dann, wenn es um Informellesoder Organisatorisches (Schulreisen, Material, Fensterschliessen etc.), Zu-rechtweisungen, Bekundungen von emotionaler Bewegtheit, spontane An-weisungen und Bekräftigungen von Aussagen geht sowie bei Unsicherheitvon Seiten der Lehrkraft (bei ungeplanten Unterrichtsphasen) und der Klas-se, kurz: wenn es menschelt.

Die Einstellung von Kindergartenkindern gegenüber dem Standard kann nochals neutral bezeichnet werden (Häcki Buhofer/Studer 1993:196). In der er-sten Klasse, wenn also der gesteuerte Standardspracherwerb einsetzt, bevor-zugen die Kinder sogar den Standard. Sie verfügen in diesem Alter bereitsüber ein beträchtliches Sprachdifferenzbewusstsein und können die Varietä-ten durchaus auseinander halten (Häcki Buhofer/Studer 1993:10). BereitsZweitklässler bevorzugen wiederum die Mundart (Häcki Buhofer/Studer1993:196f.), und diese Einstellung, also die Bevorzugung der Mundart ge-genüber dem Standard, vertieft sich mit zunehmendem Alter der Kinder. DieFreude am Hochdeutschsprechen nimmt nach der Einschulung kontinuier-lich ab, das Fremdeln beginnt.

Die Prägung der negativen Einstellung gegenüber der gesprochenen Stan-dardsprache beginnt also ein Jahr nach der Einschulung. Die Entwicklungder negativen Einstellung zum Standard scheint mit dem Zeitpunkt zusam-menzufallen, zu dem die Kinder die deutschschweizer Sprachsituation alsDiglossie-Situation zu erfassen beginnen. Je höher die Kinder den Unter-schied zwischen Dialekt und Standard einschätzen, desto negativer wird ihreEinstellung zum Standard. Schülerinnen und Schüler scheinen diesen Unter-schied nicht nur höher einzuschätzen als Kindergartenkinder, sondern auchals Erwachsene.

Es ist keineswegs sicher, aber zumindest möglich, dass Deutschschweizerlieber und leichter Hochdeutsch sprächen, wenn sie als Schulkinder ihre Freu-de am Hochdeutschen im Verlauf der Primarschuljahre nicht verlören. Zudiskutieren bliebe, was die Lehrkräfte dazu beitragen könnten.

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4. Zitierte und weiterführende Literatur

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Ferguson, Ch.A. Diglossia. I976. In: Language Structure and Language Use. Stanford:Standford University Press, 1–26 (der Aufsatz erschien zuerst 1959 in: Word 15).

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Regula Schmidlin, Universität Fribourg

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Fremdsprachendidaktik und -methodik im Spannungsfeldvon Theorie und Praxis

Ein Essay

1. Entwicklung der Fremdsprachendidaktik zur Wissenschaft

Die rasche Entwicklung des Fremdsprachenunterrichts im institutionalisier-ten Schulsystem einerseits und die Entwicklung der Wissenschaften, die die(Fremd-)Sprache als Forschungsobjekt untersuchen, andererseits bildeten dieGrundlage für die Entwicklung der Fremdsprachendidaktik als einer wissen-schaftlichen Disziplin. Sie wurde zu einem universitären Fach nobilitiert.Damit erhielt sie das wissenschaftliche Subjekt (d. h. den Forscher, Theore-tiker) als Institution sowie die materiellen Voraussetzungen für die wissen-schaftliche Fundierung, um die man sich besonders bemühte, zumal andereDisziplinen, besonders die so genannten Grundlagenwissenschaften (Lin-guistik, Psychologie, Didaktik u. a.) weitaus stärker entwickelt waren.

In der Phase der Formulierung grundlegender Theoreme und der allgemein-methodologischen Selbstbestimmung als souveräner Wissenschaftszweigschuf die Fremdsprachendidaktik ihren eigenen und unabhängigen For-schungsgegenstand (den Lehr- und Lernprozess von Fremdsprachen), ihreeigenen Forschungsziele (die Ausarbeitung eines optimalen Lehr- und Lern-systems) und ihre eigenen Forschungsmethoden (die Verallgemeinerung derbesten Ergebnisse der Praxis, das didaktische Experiment, die Verwertungvon sprachdidaktisch relevanten Errungenschaften der benachbarten Grund-lagenwissenschaften u. a.).

Die Fremdsprachendidaktik musste diese Etappe erst zufriedenstellend be-enden, um sich frei von Minderwertigkeitsgefühlen mit größerer Aufmerk-samkeit der Lösung praktischer Fragen zu widmen.

Über den Stellenwert einer Fachdidaktik für den Fremdsprachenunterrichtbestehen in der Forschung noch große Divergenzen. Manche fassen sie alsdidaktische, andere als linguistische Disziplin auf. Die unterschiedlichenMeinungen reichen dabei von einer völligen Verneinung der linguistischenRelevanz bis hin zur Auffassung des Fremdsprachenunterrichts (nicht derFremdsprachendidaktik!) als des angewandten Teils der Linguistik. Ohnehier auf die einzelnen Argumente für und wider im einzelnen eingehen zukönnen, muss doch festgestellt werden, dass die Fachdidaktik der Fremd-sprachen mittlerweile wie jedes andere Lehrfach auch als eine didaktischeDisziplin aufzufassen ist. Zugleich wird sie jedoch von vielen linguistischenund anderen Theorien beeinflusst, da sie ihrer Natur nach einen ausgespro-chen interdisziplinären Charakter aufweist. Der Fremdsprachenunterricht

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unterscheidet sich von den meisten anderen Unterrichtsfächern durch seineSpezifik, die darin liegt, dass die Fremdsprache den Unterrichtsgegenstand,das Unterrichtsmittel und das -ziel zugleich bildet. Im Fremdsprachenunter-richt geht es nicht – wie in den meisten anderen Fächern – um die Vermitt-lung von Kenntnissen, sondern um die Entwicklung von Sprachfertigkeiten.Dieser Tatsache muss auch in der Sprachlehrforschung Rechnung getragenwerden.

Die Etappe der wissenschaftlichen Selbstbestimmung führte zu einer immergrößer werdenden Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis, auf die im ein-zelnen noch einzugehen ist. Letztere muss ihre komplexen und komplizier-ten Probleme in jeder Schule, jeden Tag und jede Stunde bewältigen. In ge-wissem Sinne hat sich daher die Unterrichtspraxis unabhängig von der Theorieentwickelt und sie auf gewissen Gebieten sogar hinter sich gelassen. Außer-dem kam hinzu, dass sich die Theorie um die Standortbestimmung und Klä-rung ihres Verhältnisses zu den Nachbarwissenschaften sowie um die Über-nahme der Ergebnisse und Erkenntnisse dieser Wissenschaften bemühte undihrem eigentlichen Forschungsobjekt, d. h. dem praktischen Lehr- und Lern-prozess von fremden Sprachen, weniger Interesse widmete und sich statt-dessen auf Einzeluntersuchungen und -beschreibungen beschränkte. Nachwie vor fehlt es daher an einer übergreifenden Theorie, die die meisten wich-tigen Aspekte des Fremdsprachenunterrichts integrieren würde.

Weder die erwähnten Einzelleistungen noch die inzwischen massenhaft ent-wickelten Materialien und Medien, die die Praxis sehr wohl verwerten kann,können diese noch ausstehende theoretische Leistung ersetzen. Mit anderenWorten: Es fehlt das wichtige Bindeglied zwischen der reinen Theorie undder Praxis, und zwar eine angewandte Theorie der Fremdsprachendidaktik,die synthetische, praxisbezogene, methodisch-organisatorische Lehr- undLernsysteme liefern würde.

2. Braucht der Deutschlehrer eine spezielle Fachmethodik?

Im folgenden soll kurz dargelegt werden, was im Bereich der Fremdspra-chendidaktik und -methodik bisher geschaffen wurde und worauf sich – be-sonders im Hinblick auf die Fremdsprachenmethodik – in der weiteren Ent-wicklung aufbauen lässt.

Die Fremdsprachendidaktik unterteilt sich in die allgemeine und die speziel-le Fachdidaktik. Die allgemeine Fachdidaktik beschäftigt sich mit allgemei-nen Problemen der Theorie und Praxis des Unterrichts aller Fremdsprachen,die spezielle Fachdidaktik (z. B. Deutsch als Fremdsprache) mit den Proble-men einer bestimmten Fremdsprache, in der Regel ohne auf die entspre-chenden Ausgangssprachen Bezug zu nehmen.

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Analog zu der allgemeinen und speziellen Fachdidaktik gibt es die allgemei-ne und die spezielle Fachmethodik. Erstere befasst sich mit der Vermittlungaller Fremdsprachen, erforscht gemeinsame Eigenschaften und formuliertaus ihren Erkenntnissen allgemeine Sprachlehrtheorien. Letztere beschäfti-gen sich mit der Vermittlung einer konkreten Sprache an Schüler einer kon-kreten Nationalität (z. B. Deutsch für Polen) und setzen die ihr geliefertenTheorien in ein konkretes Lehrsystem um.Wie bereits angedeutet, weist die spezielle Fachmethodik einen angewand-ten praxisbezogenen Charakter auf. Als konkretes Unterrichtsmittel in derHand des Fremdsprachenlehrers basiert sie auf:1. der kontrastiven Analyse der Ausgangs- und Zielsprache,2. der psychosozialen Charakteristik der Lernenden,3. den konkreten Unterrichtsbedingungen.Die linguistische Basis der speziellen Fachmethodik bilden die kontrastivenStudien und die komplementär zu ihnen entwickelten Fehleranalysen. IhrZiel ist es, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der beiden Sprachen undsomit die potentiellen Interferenzquellen zu untersuchen. Die kontrastiveLinguistik schafft damit einen Ansatz für die didaktische Grammatik, dieeine Basis für die entsprechende Selektion, Graduation, Präsentation undWiederholung des lexikalischen und grammatikalischen Materials in densprachdidaktischen Materialien bildet.Unserer Auffassung nach sind die rein linguistischen kontrastiven Studienfür die spezielle Fachmethodik unzulänglich, da sie nicht alle Aspekte dersprachlichen Kommunikation umfassen. An Bedeutung gewinnen daher dievergleichenden psycholinguistischen Studien des Erst- und Zweitsprachen-erwerbs, die kontrastiven sprechakttheoretischen Analysen der Bildung undFunktion einer sprachlichen Nachricht sowie Analysen von Gesprächsstrate-gien, aber auch von Interimssprachen u. a. Des weiteren geraten auch paralin-guistische (Gestik, Mimik etc.) und landeskundliche Aspekte immer stärkerin den Blickpunkt, die auf die gewachsene Bedeutung der interkulturellenKommunikation verweisen.Die Landeskunde spielt in der speziellen Fachmethodik eine besondere Rol-le. Eine fremdsprachlich bezogene Landeskunde fußt u. a. auf kontrastivenkulturanthropologischen, soziopsychologischen und soziolinguistischenUntersuchungen, die zum Ziel haben, die konstitutiven Bestandteile und un-terschiedlichen Elemente der Zielkultur im Vergleich zur Ausgangskulturherauszuarbeiten. Ein besonderes Merkmal der speziellen Fachmethodik isteben die Integration der sprachbezogenen interkulturellen Landeskunde inden Fremdsprachenunterricht.Wie aus dem oben Dargelegten folgt, braucht der Fremdsprachenlehrer einespezielle Fachmethodik. Eine solche Methodik, verstanden als ein geschlos-

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senes, fachübergreifendes und wissenschaftstheoretisch fundiertes organisa-torisch-methodisches Lehrsystem, existiert bis jetzt noch nicht. Einstweilenmuss der Fremdsprachenlehrer aus den vielen verschiedenen Ansätzen undTeilergebnissen ein eigenes Lehrsystem ausarbeiten. Dabei hat er im Unter-richtsprozess ganz besondere Aufgaben zu erfüllen. Mit der Verschiebungdes Schwerpunktes vom Lehren auf das Lernen gewinnen – neben der übli-chen Lehrtätigkeit – die Kontroll- und Steuerungsfunktionen an Bedeutung.Der Lehrer plant und steuert den Unterrichtsprozess, individualisiert denLernvorgang, motiviert die Schüler und hilft ihnen, ihre eigene Lernstrategiezu entdecken. Dies führt uns zu der Erkenntnis zurück, dass die Effizienz desfremdsprachlichen Unterrichts nicht allein von den Methoden abhängt – sowichtig die spezielle Fachmethodik auch sein mag –, sondern von den amUnterrichtsprozess beteiligten Komponenten (Lehrer, Schüler, Unterrichts-materialien und -bedingungen). Und in dieser Erkenntnis liegen die Ansätzefür die Optimierung aller Komponenten und somit des gesamten Unterrichts-prozesses.

3. Die Entwicklung von Lehr- und Lernmethoden

Das grundsätzliche Ziel der Fremdsprachenmethodik, verstanden als ange-wandte Theorie der allgemeinen Fremdsprachendidaktik, ist die Erarbeitungvon praxisbezogenen methodisch-organisatorischen Lehr- und Lernsystemen.Wir bezeichnen ein solches System als Methodik und unterscheiden es vonder Methode, die Teil einer Methodik ist und spezielle Lehr- und Lernver-fahren beschreibt. Eine Lehrmethode ist eine Lehrkonzeption. Sie ist theo-riebezogen, indem sie wissenschaftliche Erkenntnisse über den Sprachauf-bau, die Sprachfunktion und den Spracherwerb verwertet. Sie ist praxisbe-zogen, indem sie Faktoren dieser Ebene – Adressatenspezifik, Unterrichts-bedingungen u. a. – berücksichtigt. Aber auch dann ist eine Lehrmethodekein fertiges, anwendungsbezogenes Lehrsystem. Sie muss in den Rahmeneiner Lehrmethodik eingebettet werden. Diesen Rahmen bildet das didakti-sche Gefüge, das die folgenden didaktischen Größen umfasst: Lehrer, Ler-ner, Sprache, Lehrmaterialien, Lehr- und Lernmethoden und Unterrichtsbe-dingungen. Eine auf einem solchen Gefüge aufgebaute Methodik bildet einmethodisch-organisatorisches System von Maßnahmen und Direktiven, dasdie mannigfaltigen Tätigkeiten des Lehrers zur Auslösung, Regulierung undKontrolle der Lerntätigkeiten der Schüler bestimmt.

Die Bemühungen, den Fremdsprachenunterricht zu optimieren, konzentrie-ren sich zunächst einmal auf das Zur-Verfügung-Stellen von exakten Lehr-materialien und die Erarbeitung von geeigneten Lehrtechniken, Übungsfor-men usw. Diese pragmatische Orientierung resultiert vor allem aus dringen-den praktischen Bedürfnissen. So hat beispielsweise der Mangel an lingui-

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stisch fundierten angewandten Beschreibungen von Fachsprachen zur Folge,dass eine Methodik der Fachsprachenvermittlung noch nicht entwickelt wer-den konnte. Es fehlt auch eine metatheoretische Reflexion über diese Ver-mittlung. Somit kann auch keine Rede von einer umfassenden wissenschaft-lichen Fremdsprachendidaktik sein. Beide Teildisziplinen der weitgefasstverstandenen Fremdsprachendidaktik müssen erst auf wissenschaftlich fun-dierter Basis entwickelt werden, um den wachsenden Erfordernissen der Pra-xis gerecht zu werden.

Obwohl, wie gesagt, eine geschlossene Methodik des Fremdsprachenunter-richts noch nicht existiert, fehlt es nicht an gelungenen Einzelbeiträgen, dieeinen hohen didaktisch-methodischen Wert haben und somit die wissenschaft-liche Fundierung einer Fachsprachenmethodik und -didaktik ermöglichen.Eine Lehrmethode sei in diesem Zusammenhang folgendermaßen definiert:Eine Lehrmethode ist ein Komplex von Prinzipien und Lehrverfahren, diesich aus der Natur der Sprache und deren Funktion im Kommunikationspro-zess sowie aus der Natur der Sprachaneignung ergeben. Sie wird jeweils vonden Lehrzielen und Lehrbedingungen sowie den psychosozialen Eigenschaf-ten der Lernenden bedingt.

Nach dieser Definition hat die Methode einen angewandten Charakter. Siestützt sich auf Erkenntnisse und Errungenschaften benachbarter Disziplinenund greift auf die pragmatische Ebene zurück, um für konkrete Schülergrup-pen und Unterrichtsbedingungen adäquate Lehrverfahren festzulegen. DieLehrverfahren werden dabei von entsprechenden Lehrprinzipien abgeleitet.Daraus kann gefolgert werden, dass es keine universelle Unterrichtsmethodegibt und geben kann. Aus der Gesamtheit der existierenden und potenziellenLehrprinzipien werden diejenigen ausgewählt, modifiziert und integriert, diedie Realisierung festgelegter Lernziele in optimaler Weise garantieren.

Für die Entwicklung einer Lehrmethode sind die Kenntnis der Beschaffen-heit der Fremdsprache (im Kontrast zur Muttersprache), deren Funktionie-ren und Verwendung in der menschlichen Kommunikation sowie die Kennt-nis der psycholinguistischen Voraussetzungen und der Prozesse des gesteu-erten Spracherwerbs entscheidend. Für die didaktische Praxis muss die Me-thode den konkreten Lernbedingungen (Zusammensetzung der Schülergruppe,Unterrichtsbedingungen etc.) angepasst werden. Demnach gibt es keine uni-verselle, wohl aber eine optimale Methode für jede betreffende Adressaten-gruppe. Die gegebene Methode muss als Lehrkonzept in den breiteren Rah-men des fremdsprachentheoretischen Gefüges eingebettet werden, welchesfolgende methodische Größen sowie die Wechselbeziehungen zwischen ih-nen umfasst: ADRESSAT und seine LERNBEDÜRFNISSE – ZIELE – IN-HALTE – METHODEN – MEDIEN – BEDINGUNGEN des Unterrichts-prozesses.

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Die Beschreibung und Erklärung der Eigenschaften der einzelnen Kompo-nenten und des Funktionierens dieses methodischen Gefüges bildet eine un-abdingbare Voraussetzung, um konkrete, angewandte Theorien (darunter auchdie Lehr- und Lernmethoden) zu entwickeln. Zu diesem Zweck müssen nochdie Erkenntnisse benachbarter Disziplinen integriert werden. Der Weg vonder Theorie zur Praxis ist also recht weit. Deshalb ist auch die Diskrepanzzwischen ihnen relativ groß. In vielen Fällen sind praktische Lösungen sogarweiter fortgeschritten als die Theorie, deren primäre Aufgabe darin liegt, dieUnterrichtspraxis zu beobachten, zu analysieren, zu beschreiben und zu er-klären.

4. Zum Verhältnis von Theorie und Praxis des Fremdsprachen-unterrichts

Wenn es zutrifft, dass die Wissenschaft die Praxis zunächst beschreiben underklären soll, um so und mittels des integrierten Wissens auf die Praxis rück-koppelnd einzuwirken, dann ist die Praxis der Theorie in gewisser Weiseimmer einen Schritt voraus. Erstens ist die Widerspiegelung der Praxis nievollständig, zweitens ist die Praxis nie vollständig voraussagbar, und sie ver-ändert sich ständig in ihrer Mannigfaltigkeit, schneller als die Wissenschaftdies erkennen kann. Darüber hinaus verifiziert die Unterrichtspraxis die theo-retischen Erkenntnisse und Direktiven, indem sie jeden Tag unvorhersehbareProbleme ohne direkte Hilfe von Seiten der Theorie lösen muss. Von derTheorie kommen Impulse, Teillösungen, Optimalisierungsvorschläge, gele-gentlich umfangreichere Theorien. Sie müssen mit Hilfe der angewandtenTheorie in die Unterrichtspraxis integriert werden, wobei die Theorie dasPrinzip des fremdsprachlichen Filters berücksichtigen muss. Daraus folgt,dass die Theorie nicht alle praktischen Probleme zu lösen vermag, sie istaber imstande, die Praxis in qualitativer Weise zu beeinflussen. Erforderlichist somit eine interdisziplinäre Integration der Fremdsprachendidaktik mitden Nachbarwissenschaften und die Integration von Theorie und Praxis desFremdsprachenunterrichts.

Aus diesen skizzenhaft dargelegten Gedanken zum Verhältnis zwischen Theo-rie und Praxis können verschiedene Schlussfolgerungen gezogen werden.Zunächst einmal die, dass Theorie und Praxis nicht im Widerspruch stehen,sondern als zwei Seiten einer Medaille einer ständigen Kommunikation undIntegration bedürfen. Es kann weiter geschlussfolgert werden, dass es dieMethode gar nicht gibt und geben kann. Vielmehr geht es darum, Methodenunter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus Theorie und Praxis adressaten-spezifisch zu entwickeln.

Im Hinblick auf das nicht vollständig und plausibel geklärte Verhältnis derFremdsprachendidaktik zu den Grundlagenwissenschaften einerseits und der

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Theorie und Praxis des Fremdsprachenunterrichts andererseits entstehen vieleKlischeevorstellungen und Vorurteile, die im folgenden näher beschriebenwerden sollen.

Das erste Klischee kommt von den Theoretikern und Praktikern, die vielfachdem Glauben anhängen, die Theorie könnte alle Probleme der Praxis lösen.Die Wissenschaft hat aber in erster Linie neue Erkenntnisse über das unter-suchte Objekt zu liefern. Die angewandte Theorie setzt sich zum Ziel, diePraxis positiv zu verändern, von ihr kann zwar viel, aber nicht alles erwartetwerden.

Das zweite Klischee ist ein Pendant zum ersten und besagt in etwa, das Fremd-sprachenlernen unterliege keinen wissenschaftlichen Gesetzen und könnevon der Theorie nicht beeinflusst werden; Lehren sei reine Kunst und müssedem Geschick des Lehrers überlassen werden. Nach dieser These dürftenallein das Talent, die Intuition und die Erfahrung des Lehrers die Faktorenbilden, die die Effizienz des fremdsprachlichen Unterrichtsprozesses bestim-men.

Das dritte Klischee stammt von vielen Methodikern, die glauben, dass es dieMethode sei, die den größten Einfluss auf die Effizienz des Unterrichtspro-zesses ausübe. (Sie bringen immer wieder neue Methoden in die fachlicheDiskussion ein, als ob die Praxis nicht längst bewiesen hätte, dass es auf dieMethode eigentlich nicht ankommt.) Je nach Moderichtungen und Durch-setzungskraft des einen oder anderen Methodikers sind einmal die Lernmo-tivation, ein anderes Mal die Individualisierung des Lernprozesses, wieder-um ein anderes Mal die Infrastruktur, die Unterrichtsmaterialien und -bedin-gungen (heute z. B. die Rolle des Computers wie früher die des Sprachla-bors) der Faktor, der in seiner Rolle und Funktion in der Praxis verabsolu-tiert und so zum Fetisch gemacht wird.

Uns scheint es hingegen, dass ein gutes Lernklima, eine positive Lernein-stellung der Schüler, dass vor allem Faktoren wie Motivation, Fleiß und Aus-dauer sowie die Kenntnis der Lerngesetzmäßigkeiten die Gedächtniskapazi-tät und -leistung weitaus mehr beeinflussen als andere Faktoren.

Das vierte Klischee ist am gefährlichsten, da es kaum erkannt und dennochvon vielen geteilt wird. Es ist die offensichtliche Einseitigkeit und die zeitli-che Begrenztheit der oft von Modetrends abhängigen Hypothesen, die ver-absolutiert werden und so den Unterrichtsprozess stark beeinflussen. Wirantworten darauf mit einer eigenen These zur Effizienz des Lernens:

Die Effizienz des fremdsprachlichen Unterrichtsprozesses ist von allen andiesem Prozess beteiligten Komponenten, d. h. dem Lehrer, dem Schüler, derUnterrichtsmethode und den -materialien sowie den Unterrichtsbedingun-gen abhängig.

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An die Stelle von analytischen Ansätzen tritt so ein synthetisches Konzepteiner Integration von sämtlichen Faktoren und Komponenten der Unterrichts-praxis. Vor allen Dingen geht es um die Entwicklung einer Bildungs- undSprachenpolitik, die den mannigfaltigen Zielen der Praxis gerecht werdenkann und die u. a. die zeitgemäße Ausbildung der Lehrer, die Versorgung mitder nötigen medialen Infrastruktur und die Schaffung einer adäquaten Me-thodik umfasst.

Waldemar Pfeiffer, Poznań

Aussprachekurs Deutsch. Ein komplettes Übungsprogramm zur Verbesse-rung der Aussprache für Unterricht und Selbststudium (mit 6 CDs). Text- undÜbungsbuch. Von Ulrike A. Kaunzner. 183 Seiten. Heidelberg: Julius GroosVerlag 1997. ISBN 3-87276-809-3. Besprechung von Lívia Adamcová.

Das vorgelegte Lehrbuch von U. Kaunz-ner ist vor allem für Deutschlehrer geeig-net, die ein vollständiges Übungsmaterialzur deutschen Phonetik suchen, um diemarkantesten Besonderheiten der norm-gerechten deutschen Aussprache einzuüben,zu erklären, evtl. zu korrigieren. Es istaber auch für alle Deutschlerner bestimmt,die im Rahmen ihres Selbststudiums ihreAussprache verbessern möchten.

Wenn es sich um Fremdsprachler handelt,so empfiehlt die Autorin diesen Ausspra-chekurs für Lernergruppen der Mittelstufeund für Fortgeschrittene, die bereits ge-wisse Vorkenntnisse des Deutschen undkeine großen semantischen Probleme ha-ben. Die genannte Vorentlastung galt alsRichtlinie bei der Auswahl von Übungen,Beispielen, Sätzen und Dialogen. UnsererMeinung nach ist das Buch auch für Ler-ner der Grundstufe geeignet, die unter fach-licher Anleitung das Buch und die CDsbenutzen können. Die ganze Gestaltungdes Buches lässt zu, dass man es an Uni-versitäten, bei Fortbildungskursen, anSprachschulen, beim Selbststudium unddgl. verwenden kann.

Zu Beginn des Buches finden wir ein Ka-pitel zu methodisch-didaktischen Grund-sätzen, die der besseren Orientierung die-nen. Die Lehrer finden hier wertvolle In-formationen zur Zielgruppe, zum Aufbaudes Kurses, zum richtigen Umgang mitdem Übungsmaterial usw. Ein Vorteil desBuches ist, dass sich der Benutzer in derEinführung in das deutsche Lautsystemsowie in den kurzen theoretischen Ab-handlungen zu Beginn jedes Kapitels leichtauch ohne tiefere Vorkenntnisse orientie-ren kann.

Beim Aufbau des Kursbuches gehtU. Kaunzner von drei Prinzipien aus (S. 4):

– Die normgerechte Aussprache beginntmit der korrekten Perzeption.

– Erst durch wiederholtes Nachsprechenin unterschiedlichen Zusammenhängenwird eine korrekte Aussprache aufge-baut.

– Ein Wechsel von Imitation und kogniti-vem Reflektieren ist notwendig, um an-dere Situationen übertragen zu können.

Um diesen drei Prinzipien nachzukom-men, wurde der „Aussprachekurs“ als Text-und Übungsbuch mit begleitendem Hör-

REZENSIONEN

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material auf 6 CDs konzipiert. Das Lehr-buch enthält sowohl eine Einführung indas deutsche Lautsystem und Erläuterun-gen zu den einzelnen Kapiteln als auchsämtliche Übungstexte. Diese wurden soaufgespielt, dass der Lerner rezeptiv undproduktiv arbeiten und gleichzeitig sichselbst im Sprachlabor kontrollieren kann.

Die Autorin bevorzugt in ihrem Buch beider Einübung von segmentellen und su-prasegmentellen Aussprachephänomenendie Methode „learning by doing“, wobeider Lerner aktiv an der Aneignung seinerKenntnisse und Fertigkeiten beteiligt istund gezwungen ist, nicht nur passiv zuzu-hören, sondern auch mitzuarbeiten. DasLernen erfolgt also durch das praktischeÜben und auf diese Weise kann man sichdas Erlernte besser einprägen.

Eine Besonderheit des Buches, die wirpositiv beurteilen, sind die Hinweise aufdie regionalen Ausspracheunterschiede undumgangssprachliche Varietäten des Deut-schen. Dabei wurde darauf geachtet, dassdie im Duden „Aussprachewörterbuch“(1990) bzw. im „Großen Wörterbuch derdeutschen Aussprache“ (1982) geltendenNormen eingehalten werden.

Der Kurs stellt einen komplexen und um-fangreichen Übungskatalog dar und ist fürkeine Ausgangssprache konzipiert. DieAutorin wendet sich mit ihrem Ausspra-chekurs an alle DaF-Lerner, die ihre Aus-sprache verbessern wollen. Selbst die Mut-tersprachler, wenn sie mit dialektgefärbterAussprache Probleme haben, können vondem Buch profitieren. Eine große Hilfesind dabei die CDs mit den Aufnahmendeutscher Muttersprachler.

Das Übungsbuch ist so aufgestellt, dassvor dem Übungsteil eine kurze Einfüh-rung in das deutsche Lautsystem zu findenist. Hier werden theoretische und metho-dische Prinzipien und Grundlagen der Or-thoepie behandelt. Zu Beginn jedes Kapi-tels finden wir eine kurze Erklärung oderInformation zum phonetischen Thema, überdie hier ausgewählten und geübten phone-

tischen Erscheinungen. Bei den Einzel-lauten geht es um die Beschreibung ihrerkorrekten Bildung, Hinweise zur Ortho-graphie, Transkription. Weitere Kapitel ent-halten im theoretischen Teil Erklärungenund Regeln zum Stimmeinsatz, zu dennichtvokalischen Endungen, zu den Wort-grenzen, prosodischen Merkmalen des Deut-schen usw. Das ganze Übungsbuch behan-delt also theoretisch eine fast vollständigeBeschreibung der Ausspracheprobleme desdeutschen Vokal- und Konsonantensystemsund der Konsonantenverbindungen. Zu ei-nigen Lauten finden wir jedoch keineneigenen Übungsteil (z. B. zu den Konso-nanten l, m, n), weil sie, nach Meinung derAutorin, den Lernern keine Probleme be-reiten. Wir sind aber der Meinung, dassbesonders der L-Laut für die Fremdsprachler(Chinesen, Slawen) ein problematischerLaut ist (im Slowakischen gibt es z. B.eine palatalisierte und eine nichtpalatali-sierte Variante, wie in der Wörtern ľad –lúka). Für jede fremde Sprache sind alsoandere Ausspracheprobleme des Deutschentypisch, darum sollten unserer Meinungnach der Vollständigkeit halber alle Seg-mente in Übungen enthalten sein.

Ansonsten ist für das Buch typisch, dassbei jedem Laut alle Möglichkeiten seinerStellung im Wort geübt werden: initial,medial, final, in den Fremdwörtern. Nachden Segmenten werden auch die Supra-segmentalia erörtert: Wortakzent, Satzak-zent, Rhythmus, Melodieverlauf. Den Ab-schluss bildet ein Kapitel, in dem Dialogemit verschiedenen Alltagssituationen vor-zufinden sind, die sozusagen eine Zusam-menfassung aller Übungen darstellen. DieDialoge bieten am Ende der Übungsein-heiten und im letzten Kapitel gute Mög-lichkeiten für Rollenspiele und für denkreativen Umgang mit der Sprache. Siedienen auch (ähnlich wie die Frage-Ant-wort-Übungen) der Annäherung an alltäg-liche Sprachsituationen, weil sie monolo-gisch und auch dialogisch anwendbar sind.

Die Übungen sind klar, verständlich undübersichtlich konzipiert und durch theo-

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retische Erläuterungen ergänzt. Es werdengebräuchliche Wörter ohne schwierige Kon-struktionen verwendet, sie belasten die Ler-ner nicht mit ihrem Inhalt. Ungebräuchli-che Ausdrücke werden mit einem Stern-zeichen markiert und in der Wortliste amEnde des Lehrbuches erklärt. Diese Wort-erklärungen verfolgen zwei Ziele:

– Es ist nicht gut, wenn Wörter und Sätzeimmer wiederholt, aber nicht verstan-den werden.

– Das Übungsmaterial dient auch der Er-weiterung des Wortgutes.

Die Autorin empfiehlt, die Wörter, Wort-gruppen und Sätze zuerst anzuhören unddann nachzusprechen. Die Sätze soll mansich zweimal anhören, bevor man sie nach-spricht. Kurztexte und Dialoge werden immerzuerst als Ganzes angehört, um die kom-munikative Absicht zu erfassen. Zum Schlusshört man die Texte in Abschnitten mitPausen, dann spricht man sie nach. Mankann den Text entweder mitlesen oder sichauf den Höreindruck konzentrieren, ohnemit dem Buch zu arbeiten. Diese Vorge-hensweise und didaktische Anweisung fin-den wir effektiv und wirksam.

Interessant finden wir den Übungsteil mitden Wortgrenzen, wo solche Fälle behan-delt werden, bei denen in den nachfolgen-den Wörtern die gleichen Konsonanten alsWortauslaut und -anlaut erscheinen, z. B.

strittig – stritt ich, sie schrie pausenlos –sie schrieb pausenlos, zwei Maler ken-nen – zweimal erkennen usw.

Zum Schluss noch ein paar zusammenfas-sende Bemerkungen: Der AussprachekursDeutsch gibt einen interessanten Einblickin die problematischen Aussprache-schwerpunkte des Deutschen und ist da-mit auch für Lehrende und Lernende vonDeutsch als Fremdsprache wertvoll undträgt bestimmt zur Förderung der Sprach-kompetenz der Deutschlerner bei.

Insgesamt erfüllt das Buch seine Zielstel-lung in vollem Maße. Der Lerner findethier ein komplettes Angebot aller mögli-chen Erscheinungsformen der deutschenLaute und der Intonation. Mit Hilfe derangebotenen Übungen kann der Lerner seinerworbenes Regelwissen überprüfen undfestigen (z. B. „Achten Sie auf die Positi-on des Wortakzents“, S. 139–141). Es ent-hält aber auch Aufgaben, die sich auf gram-matische oder semantische Zusammenhängebeziehen (z. B. „Stammbetonung – Prä-fixbetonung“ S. 142–143, „Komposita: Sub-stantive, Adjektive“ S. 137–140).

Ganz abschließend können wir konstatie-ren, dass das Übungsbuch für verschiede-ne Deutschlerner nützlich ist und dass esanregt, sich weiter mit phonetischen Schwer-punkten zu beschäftigen.

Internet für Germanisten. Eine praxisorientierte Einführung. Von HartmutSchönherr und Paul Tiedemann. 163 Seiten. Darmstadt: Primus-Verlag 1999.ISBN 3-89678-133-2. Besprechung von Lars Eriksen, Sønderborg.

Wer sich heute als Germanist nur auf dieErzeugnisse der ersten IT-Revolution Gu-tenbergs stützt, kann riskieren, eine dergrößten Chancen im Bereich des DaF unddes grenzüberschreitenden Lernens zu ver-passen. Die Verfasser dieses Buchs beab-sichtigen, Germanisten als Einführung ei-nen nützlichen Leitfaden für das neue Me-dium des Internets an die Hand zu geben.Die Idee, eine fachspezifische Einführungin das Internet zu verfassen, ist gewiss nicht

neu, denn bereits 1996 entstand mit demWerk von Kröger/Clasen/Albrecht: Inter-net für Juristen ein zuverlässiger Leitfadenfür den Gebrauch der Rechtswissenschaft-ler. Interessierte Germanisten sollten aberauch Borrmann/Hentschel: Germanistik undInternet, in: Mitteilungen des deutschen Ger-manistenverbandes, Heft 3/1998 kennen.Schönherr arbeitet an der Universität Tü-bingen an einem Projekt zur Vermittlungvon Gegenwartsliteratur über das Internet.

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Tiedemann kann als ausgewiesener Kennerdes World Wide Web bezeichnet werden.Sein Werk Internet für Juristen (1999) prä-sentiert viele Möglichkeiten der juristischenInformationsrecherche im WWW. Zudembieten seine weiteren Werke mit und fürFachkollegen der Orientalistik, der Sozio-logie, der Archäologie, der Pädagogik undder Kunsthistorie Facheinführungen fürweitere besondere Fachgruppen.Das hier vorzustellende Werk bietet aberdarüber hinaus unzählige weitere Quellenaus dem Internet an. Hier soll insbesonde-re die Nutzbarkeit für den im Bereich DaF/Interkulturelle Germanistik Tätigen erläu-tert werden. Der etwas geübtere Internet-surfer kann den ersten Teil des Werkesüberspringen (S. 1–44). Themen wie In-ternet und dessen Struktur, Funktion derE-Mail, Mailing-Lists und Newsletterswerden für den Anfänger anschaulich,gründlich und mit vielen Beispielen erläu-tert. Der zweite, umfangreichere Teil (S.45–117) enthält Wichtige Adressen für dieGermanistik. Hier wird die gezielte An-wendung germanistischer Suchmaschinenund Internetadressen erläutert und auchdie Nutzbarkeit dieser Adressen kommen-tiert. In zwei Abteilungen mit insgesamt16 Rubriken werden Internet-Adressen vongermanistischer Relevanz vorgestellt. Auf-grund der Fülle der Informationen könnensowohl Praktiker aus dem Bereich derDeutschdidaktik als auch Kollegen aus Lehreund Forschung zu anspruchsvollsten For-schungsschwerpunkten recherchieren. Esfinden sich viele Hinweise auf Tagungen,auf Möglichkeiten der Büchersuche in elek-tronischen Archiven, mehrere Online-Zeit-schriften und natürlich Hinweise auf dasProjekt Gutenberg u. a. m. Selbstverständ-

lich entdeckt man auch eine – allerdingsm. E. etwas kurz geratene – Kommentie-rung der Startseite des IDV (http://www.wlu.ca/~wwwidv).Im dritten Teil des Buches über das Publi-zieren im Internet (S. 119–144) werdenzunächst Urheberrecht und Urheberschutzerörtert, einschließlich eines Leitfadens fürdie Erstellung von Dokumenten für dasWWW. Dieser Leitfaden erweist sich imWesentlichen als eine praktische Program-mieranleitung für das HTML. Jedoch sindauch andere sehr hilfreiche Winke vorhan-den, wie Hinweise auf die nur-elektroni-schen Verlage im Internet (z. B. rocket-book.com) oder auf die Zitationsregelndes Internets (Nachname, Vorname: Titel,URL, Abfragedatum).Sehr hilfreich und interessant ist der klei-ne Anhang über weiterführende Literatur,die – jetzt gibt es kein Zurück mehr fürden Internetmuffel! – zu fast 50 % ausWebsites besteht.Das Internet bietet heute Informationenfür Germanisten in nahezu unbegrenztemUmfang. Johann Heinrich Zedlers 64-bän-diges Großes vollständiges Universal-Le-xicon aller Wissenschaften und Künste von1732–1754 mit dem Gesamtstand des da-maligen Wissens seiner Zeit erscheint da-neben dünner als ein Reclam-Heftchen.Allerdings gehören Werke in ihre Entste-hungszeit und das hier vorgestellte Werkhat durchaus seine Berechtigung als gutesStep-by-Step-Handbuch mit Erläuterungenzu einem neuen Hilfsmedium für sowohlden Unterricht als auch die Lehre und dieWissenschaft. Alles in allem ein empfeh-lenswertes Werk für den im DaF-Bereichtätigen Germanisten.

Wer? Wie ? Was? Mega 2. Schülerbuch Stufe 2. ISBN 3-86035-120-6. Wer?Wie? Was? Schülerarbeitsheft 1 und 2. ISBN 3-86035-121-4, ISBN 3-86035-122-2. Köln: VUB-Gilde Verlag 1998. Besprechung von Rainer Domisch,Helsinki.

Was erwarten DaF-Lehrer von einem Mega-Lehrwerk für den Anfängerunter-

richt kurz vor der Jahrtausendwende? Undwas für ein Deutschbuch schlagen zehn-

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bis zwölfjährige Schüler täglich gerne undohne übermäßiges Seufzen und Murrenauf?

Hier sind einige Kriterien für so ein Lehr-werk, die wenigstens theoretisch bereitsweltweit die Runde gemacht haben:

– Spaß muss es machen. Wobei „Spaß“zu verstehen ist als Spaß am Lernen,also Befriedigung dabei empfinden, dassman im Unterricht Schritt für Schrittsichtbar etwas gelernt hat. Und dass imUnterricht etwas passiert, kurz – inter-aktives Lernen stattfindet.

– Die Inhalte müssen Kinder interessie-ren. Sie müssen aus ihrer Erfahrungs-welt stammen und gleichzeitig so at-traktiv geboten werden, dass sie Neu-gier erwecken und zum Umgang mitihnen anregen.

– Sprachkönnen steht vor Sprachwissen.Von Anfang an lernen Schüler Inhalte,Meinungen, Wünsche mitzuteilen. Unddie mündlichen Fertigkeiten haben da-bei Vorrang.

– Produktive und reproduktive Fertigkei-ten werden gleichermaßen entwickelt,und zwar kleinschrittig. Die Grundfer-tigkeiten Hören, Sprechen, Lesen undSchreiben werden folgerichtig gelernt.

– Die Lehrbuchsprache ist authentisch undwird nicht in vorgegebene grammati-sche und starre Muster gepresst. Den-noch werden grammatische Hilfen ge-geben, wo nötig.

– „Kultur lernen“ bezieht von der erstenStunde an Fakten, kommunikatives Ler-nen und kulturvergleichende Aspekteein.

Das ist nicht wenig verlangt. Und dochgibt es ein Lehrwerk für Kinder, dessenAutoren sich wohl all dieser Maßstäbebewusst waren: Wer? Wie? Was? Mega 2.

Schon die Vorstellung der Inhalte machtneugierig. In der Wir-Form werden denSchülern Tätigkeiten versprochen: „Wirinterviewen, wir kaufen ein, wir fahren

nach ..., wir schreiben und telefonieren,wir singen.“ Und es sind keine leeren Ver-sprechungen. Sie werden tatsächlich ein-gelöst. Begleitet von authentischen Farb-fotos und lustigen Zeichnungen – wie mansie seit Jahren nur von Marlene Pohle kennt –wird die neue Sprache in verschiedenenTextsorten eingeführt: Dialoge, Briefe, Ta-gebucheinträge, Berichte, E-Mails und Faxe,Mitteilungen, Bastelanleitungen, Anzeigen,Zeitungsartikel, Erläuterungen zu Fotos undBildern, Gedichte, Liedtexte und Comics.Die Themen sind Teile der Erfahrungsweltder Schülerzielgruppe: Freunde, Sport undSpiel, Einkaufen, Reisen, Kontakte überGrenzen hinweg, Freizeit, Musik, Auto,Medien und Umwelt.

Mit Unterthemen, Informationen und Ak-tivitäten wird in jeder der 10 Lektionenschrittweise ein Themenkreis aus verschie-denen Blickwinkeln betrachtet, beleuchtetund exemplarisch erarbeitet. Zum BeispielReisen: Auf die Orientierung auf derDeutschlandkarte, die minidialogische Ein-führung verschiedener Orte und Landschaf-ten, die Aktivierung und Festigung durchweitere Minidialoge, auf das Kofferpackenmit dem Wortfeld „Kleidung“ folgen Feri-enziele mit allen möglichen Aktivitäten –Essen im Restaurant, Tagebucheinträgemachen und Briefe und Ansichtskartenschreiben.

Die mündlichen Übungen sind geschicktmit den Texten verknüpft, in die Progres-sion eingewoben und lassen den Schülernbereits auf einer einfachen Kommunikati-onsebene individuelle und z. T. auch krea-tive Auswahlmöglichkeiten. AdaptierteSprachmuster kommen auf direktem Wegzur aktiven Anwendung im Klassenraum,in der Partnerarbeit, in der Gruppenarbeitoder bei der individuellen Beschäftigung.

Die grammatische Bewusstmachung, alsodie Einsicht, warum was wie funktioniert,erfolgt praktisch und einfach. Die langeund lustige Dackelfigur auf jeder Text-buchseite erinnert den Lehrer in Form vonStichwörtern an die jeweils nebenbei ein-

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zuübenden grammatische Häppchen. Dazukommen farbliche Hilfen und viele klareSprechimpulse. Gekonnt ist die Trennungvon automatisierender Übung in der Lek-tion und der später zu erfolgenden über-legenden Einsicht am Ende des Textbu-ches.

Die Schülerarbeitshefte ergänzen das Schü-lerbuch durch eine Vielfalt von Übungsty-pen: aktiv mit Wörtern und Sätzen umge-hen, Wörterrätsel lösen, Lücken auf intel-ligente Art ausfüllen, Zuordnen, Rollenübernehmen, Minidialoge sprechen undschreiben, Geschichten verfassen.

Und das Vokabellernen geschieht nichtauf einem jener Vokabelfriedhöfe, wie wirsie von früher zur Genüge kennen, wo sichdeutsche Wörter und die jeweiligen mut-tersprachlichen Übersetzungen anöden undnur auf den Abruf beim nächsten Vokabel-

test warten. Lektionsbegleitend werden dieneuen Wörter auf der linken Seite angege-ben, auf der rechten Seite – z. T. illu-striert – in einen sinnvollen sprachlichenKontext eingebettet, und in der Mitte bleibtRaum für die mögliche Eintragung dermuttersprachlichen Bedeutung. So soll essein. Denn Schüler lernen eine Spracheaktiv nicht nur durch bloßes Wiedererken-nen sich entsprechender Bedeutungsinhalte,sondern durch immer wiederkehrendes undübendes Einprägen von eben solchen sprach-lichen Versatzstücken.

Wer? Wie? Was? Mega ist eine möglichstweite Verbreitung auch außerhalb der deut-schen Auslandsschulen zu wünschen. Dennauch Lehrende mit einer anderen Mutter-sprache als Deutsch werden damit ihreFreude haben. Und motivierte und aktiveSchüler lernen leichter und besser.

Angelika Steets: Robert Schneider: Schlafes Bruder. Oldenbourg Inter-pretationen, Band 69, ISBN 3-486-88695-9. München: Oldenbourg VerlagGmbH 1999. Besprechung von Jana Tvrzniková, Regensburg.

Es ließe sich lange diskutieren, was besserwurde – ob der Roman „Schlafes Bruder“selbst oder seine Verfilmung durch denFilmemacher J. Vilsmaier. (Da erlaube ichmir die Bemerkung, dass einige Szenenaus dem Film mit André Eisermann in derHauptrolle in meinem Heimatland gedrehtwurden.) Abgesehen von pädagogisch-di-daktischen Aspekten bietet uns der Filmjedenfalls ein künstlerisches Erlebnis.

Der Problematik filmischer Adaptationwidmet das von mir rezensierte Buch einganzes Kapitel. Die übrigen sechs Kapitelpräsentieren den Autor, seine Geschichteeines Vorarlberger Dorfes mit seinen Be-wohnern, analysieren die ästhetischenGrundsätze der Entstehung des Werkesund dessen Darstellungsweisen, befassensich mit der Sprachkunst, musikalischenStrukturen und erzählerischen Effekten desRomans. Diese sieben Kapitel dienen alsGrundlagen für die Unterrichtshilfen (di-

daktische Aspekte, Unterrichtsreihen, Un-terrichtssequenz, Klausurvorschläge), dienoch mit zusätzlichen Materialien ergänztwurden. Zu bemerken ist, dass die 23 Un-terrichtssequenzen für den Grund- undLeistungskurs konzipiert sind. Neben di-daktischem Aspekt und methodischer Rea-lisierung wird jeder Stunde eine Hausauf-gabe hinzugefügt. Damit ist aber nicht aus-geschlossen, mit diesen Unterrichtsvorschlä-gen variabel umzugehen. Im Gegenteil –es wird erwünscht.

Notwendige Voraussetzungen für die Ler-nenden, die diese packende Schülerlektü-re behandeln sollen, sind hervorragendeSprachkenntnisse und eine gewisse Sensi-bilität für Kunst.Wer mit der Sprache nicht vertraut ist odermit der Postmoderne nichts anfangen kann,sollte zu einem anderen Buch greifen.Dies weist auf die Tatsache hin, dass dieInterpretation von Angelika Steets für Lehrer

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und Lektoren bestimmt ist, die mit Schü-lern (eventuell Studenten) mit entwickel-ter Sprachkompetenz zu tun haben. Werkein Sprachlehrer ist, sich aber für Ästhe-tik der literarischen Postmoderne, Para-beln in der deutschsprachigen Literaturge-schichte oder den deutschen Film interes-siert zeigt, eventuell intellektuelles Ver-gnügen sucht, kommt in der interpretie-renden Publikation ebenfalls auf seineKosten.

Wenn man vom sprachlichen Niveau derDaF-Lernenden ausgeht (wenigstens mei-nen Erfahrungen nach), würde ich diesenRoman erst in der Oberstufe einsetzen un-ter der Voraussetzung, dass die Schülerüber sehr gute Sprachkenntnisse verfügen,reif genug sind sowie ein Gefühl für die

Art des Romans haben. Geeignet finde ichden Einsatz vor allem an den Universitäten.

Zu guter Letzt lasse ich die Autorin Ange-lika Steets sprechen:

„Robert Schneider wird 1961 in Bregenz,Österreich, geboren. Wer seine leiblichenEltern sind, lässt er im Ungewissen. Nichtzu wissen, woher man kommt, hat auchetwas Magisches. Nach der Geburt wird erin ein SOS-Kinderdorf gebracht. Ein Vor-larberger Landwirtehepaar nimmt ihn aufund zieht ihn, zusammen mit drei weiterenAdoptivkindern, in Meschach groß, einemgottverlassenen, föhngepeitschten Nest mitachtundsechzig Einwohnern, dem er sichnie wirklich zugehörig fühlt ...“ (Der Aus-schnitt wurde gekürzt.)

EINGESANDTE LITERATUR

Deutsch global. Neue Medien – Herausforderung für die deutsche Sprache. Hrsg. vonHilmar Hoffmann. Köln, DuMont, 2000. ISBN 3-7701-5264-6.

Der Vorleser. Von Bernhard Schink. Interpretiert von Juliane Köster. Oldenbourg Inter-pretation Band 98. München, Oldenbourg, 2000. ISBN 3-486-88745-9.

Tangram. Best-of-Tangram-Raps. Das Beste aus dem Erfolgswerk. Mit Bandinfo, dengrössten Hits und CD. Ismaning, Max Hueber Verlag, 2000.

Unterrichten mit Internet & Co. Methodenhandbuch für die Sekundarstufe I und II. VonHartmut Koch und Hartmut Neckel. Berlin, Cornelsen Verlag, 2001. ISBN 3-589-21455-4.

Kopiervorlagen und Materialien zu „Harry Potter und der Stein der Weisen“:5.–7. Schuljahr. Von Katrin Nothdorf. Berlin, Cornelsen Verlag, 2001. ISBN 3-589-21530-5.

Die hier aufgeführten Bücher sind der Schriftleitung von den Verlagen zugeschicktworden. Sie stehen zur Besprechung zur Verfügung. Bitte schreiben Sie dem Schrift-leiter a. i., falls Sie bereit sind, für den RUNDBRIEF den einen oder anderen Titel zubesprechen. Er schickt Ihnen das Buch gerne zur freien Verfügung zu.