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2002 Institut für Wirtschaftsforschung Interview mit Hans-Werner Sinn Über das weiß-blaue Wirtschaftsmodell Zur Diskussion gestellt Viktor Steiner, Hans-Peter Klös und Holger Schäfer, Ulrich Walwei, Sabine Dann und Martin Rosemann Kann die Einführung des Kombilohns die Lage am Arbeitsmarkt nachhaltig verbessern? Forschungsergebnisse Ronnie Schöb Das Leipziger Modell: Kommunale Beschäftigungs- gesellschaften – eine Nachbetrachtung Daten und Prognosen Volker Rußig Bautätigkeit in Europa: Ab 2003 allmähliche Rückkehr auf Expansionspfad Joachim Gürtler und Arno Städtler Leasingbranche: Erste Lichtblicke im Geschäftsklima Oscar-Erich Kuntze Österreich: Konsolidierung des Staatshaushalts Im Blickpunkt Ost-West-Wanderungen in Deutschland: Die Jungen gehen – Alte kommen Erich Langmantel Warten auf Amerika Wolfgang Nierhaus 2002: Weiterhin moderater Preisanstieg ifo Schnelldienst 55. Jg., 8.–9. KW, 27. Februar 2002 4

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2002

Institut fürWirtschaftsforschung

Interview mit Hans-Werner Sinn■ Über das weiß-blaue Wirtschaftsmodell

Zur Diskussion gestellt Viktor Steiner, Hans-Peter Klös und Holger Schäfer, Ulrich Walwei, Sabine Dann und Martin Rosemann■ Kann die Einführung des Kombilohns die Lage am

Arbeitsmarkt nachhaltig verbessern?

ForschungsergebnisseRonnie Schöb■ Das Leipziger Modell: Kommunale Beschäftigungs-

gesellschaften – eine Nachbetrachtung

Daten und PrognosenVolker Rußig■ Bautätigkeit in Europa: Ab 2003 allmähliche Rückkehr

auf Expansionspfad

Joachim Gürtler und Arno Städtler■ Leasingbranche: Erste Lichtblicke im Geschäftsklima

Oscar-Erich Kuntze■ Österreich: Konsolidierung des Staatshaushalts

Im Blickpunkt

■ Ost-West-Wanderungen in Deutschland: Die Jungen gehen – Alte kommen

Erich Langmantel■ Warten auf Amerika

Wolfgang Nierhaus■ 2002: Weiterhin moderater Preisanstieg

ifo Schnelldienst55. Jg., 8.–9. KW, 27. Februar 2002

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Herausgeber: ifo Institut für Wirtschaftsforschung e.V., Poschingerstraße 5, 81679 München, Postfach 86 04 60, 81631 München,Telefon (089) 92 24-0, Telefax (089) 98 53 69, e-mail: [email protected]: Dr. Marga Jennewein.Redaktionskomitee: Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Werner Sinn, Prof. Dr. Gebhard Flaig, Dr. Heidemarie C. Sherman, Dr. Gernot Nerb, Dr. Martin Werding,Dr. Robert Koll, Dr. Wolfgang Ochel.Vertrieb: ifo Institut für Wirtschaftsforschung e.V.Erscheinungsweise: zweimal monatlich.Bezugspreis jährlich:Institutionen EUR 225,– Einzelpersonen EUR 96,–Studenten EUR 48,–Preis des Einzelheftes: EUR 10,–jeweils zuzüglich Versandkosten. Layout: Pro DesignSatz und Druck: ifo Institut für Wirtschaftsforschung.Nachdruck und sonstige Verbreitung (auch auszugsweise): Nur mit Quellenangabe und gegen Einsendung eines Belegexemplars.

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Bayerischer Merkantilismus – Über das weiß-blaue WirtschaftsmodellHans-Werner Sinn im Gespräch mit Sven Afhüppe

Kann die Einführung des Kombilohns die Lage am Arbeitsmarkt nachhaltig verbessern?

Nach dem »Mainzer Modell» erhalten Bezieher von niedrigen Erwerbseinkommenbei Neuaufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung Zuschüssezu ihren Sozialversicherungsbeiträgen. Nach Meinung von Dr. Hans-Peter Klösund Holger Schäfer, Institut der deutschen Wirtschaft Köln, wird dies kaum zu grö-ßeren Beschäftigungseffekten führen. Für Viktor Steiner, CESifo, sind sogar nega-tive Beschäftigungseffekte des Mainzer Modells nicht auszuschließen. Dr. UlrichWalwei, IAB, warnt »vor dem Einstieg in eine flächendeckende und massive Lohn-subventionierung bei einem ansonsten unveränderten Steuer- und Transfersys-tem«. Sabine Dann und Martin Rosemann, IAW, Tübingen, plädieren für die Kom-bination von Zuschüssen mit einem Einstiegsgeld.

Kommunale Beschäftigungsgesellschaften: Nur mehr eine Nachbetrachtung?Ronnie Schöb

Vor dem Hintergrund des gescheiterten Leipziger Modells beleuchte Dr. RonnieSchöb, Universität Magdeburg und CESifo, die ökonomischen Aspekte einerkommunalen Beschäftigungsförderung durch die Einrichtung kommunaler Be-schäftigungsgesellschaften. Er untersucht die fiskalischen Anreize zur Einrichtungkommunaler Beschäftigungsgesellschaften, die das deutsche System der sozia-len Sicherung geschaffen haben sowie die arbeitsmarktpolitischen Konsequenzenund steckt die Rolle ab, die kommunale Beschäftigungsgesellschaften in einer zu-künftigen aktiven Arbeitsmarktpolitik spielen können.

Bautätigkeit in Europa: Ab 2003 allmähliche Rückkehr auf flachen ExpansionspfadVolker Rußig

Nicht überall in Europa steckt der Bausektor so tief in der Krise wie in Deutschland.Dies zeigten die Ergebnisse der 52. EUROCONSTRUCT-Konferenz, die am 6. De-zember 2001 in Rom stattgefunden hat. Für die aggregierte europäische Bauleis-tung wird nach Stagnation in den Jahren 2001 und 2002 ab 2003 eine leichte Aus-weitung und damit ein Wiedereinschwenken auf einen flachen Expansionspfad er-wartet. Der Bausektor bleibt also Bremse des gesamtwirtschaftlichen Wachstumsin (West-)Europa. 2004 wird mit knapp 950 Mrd. q Bauleistung zwar ein neuerSpitzenwert erreicht, der Bauanteil am Bruttoinlandsprodukt geht aber in Westeu-ropa noch weiter zurück.

Talfahrt der Ausrüstungsinvestitionen gebremst – erste Lichtblicke im Geschäftsklima der LeasingbrancheJoachim Gürtler und Arno Städtler

Nach den neuesten Ergebnissen des ifo Konjunkturtests Leasing zeigen die Wer-te für das vierte Quartal 2001 eine leichte Verbesserung. Bei der Beurteilung der

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Forschungsergebnisse

Daten und Prognosen

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aktuellen Geschäftslage gewannen die positiven Einflüsse etwas an Gewicht: Fastjedes dritte Leasingunternehmen bewertete die Lage als günstig. Auch die Aus-sichten hellten sich auf, die Geschäftserwartungen für das erste Halbjahr 2002wurden mit vorsichtigem Optimismus bedacht: 29% der Testteilnehmen erwarteneinen günstigeren Geschäftsverlauf. Um jedoch von einem eindeutigen Hinweisauf eine Trendwende sprechen zu können, müssen sich die Zukunftseinschätzun-gen der Unternehmen mehrmals hintereinander verbessern.

Österreich: Erstaunliche Konsolidierung des StaatshaushaltsOscar-Erich Kuntze

Auch für die österreichische Wirtschaft erfolgte 2001 eine harte Landung der Kon-junktur. Das reale Bruttoinlandsprodukt hat sich um 1,1% gegenüber 2000 erhöht.Die Arbeitslosenquote lag im Jahresdurchschnitt bei 3,9%, die Lebenshaltungs-kosten um 2,3% über dem Niveau des Vorjahres. 2002 dürfte das reale BIP um et-wa 11/2% zunehmen. Der Arbeitsmarkt reagiert erst im späteren Verlauf des Jah-res, und die Arbeitslosenquote wird sich im Schnitt des Jahres auf reichlich 4% er-höhen. Der Preisauftrieb wird mit 11/2% moderat sein. 2003 wird die Konjunkturzunehmend an Schwung gewinnen. Das reale BIP dürfte um reichlich 23/4% stei-gen, und auf dem Arbeitsmarkt wird sich die Lage verbessern. Die Konsumenten-preise dürften sich gegenüber dem Vorjahr um fast 13/4% erhöhen.

Ost-West-Wanderungen in Deutschland: Die Jungen gehen – Alte kommen

In den Jahren 1989 bis 1991 fanden starke Wanderungsbewegungen von Ost-nach Westdeutschland statt, durch die innerhalb von nur drei Jahren per saldorund eine Mill. Menschen in die alten Bundesländer kamen. Seither haben sich dieNettowanderungen von Ost- nach Westdeutschland deutlich reduziert. Selten be-achtet wird allerdings, welches Volumen an Bruttowanderungen sich hinter diesengeringen Salden verbirgt. Differenziert man die Bruttowanderungsströme und dieWanderungssalden nach Altersgruppen, so fällt auf, dass per saldo vor allem diejüngste Gruppe der Unter-25-Jährigen und darunter vor allem die 18- bis 25-Jäh-rigen aus den neuen Bundesländern abwandern, während sich geringe, aber seit1996 anhaltende Nettozuwanderungen nach Ostdeutschland für die Altersgruppeder 50-Jährigen und Älteren ergeben.

Export: Warten auf AmerikaErich Langmantel

Die konjunkturelle Abschwächung in den USA und der Schock vom 11. Septem-ber haben das Wachstum der deutschen Ausfuhr im abgelaufenen Jahr nachhal-tig gedämpft. Wann es wieder zu einer Belebung der deutschen Exporte kommt,hängt gegenwärtig hauptsächlich von der Entwicklung des konjunkturellen Klimasin den USA ab. Der Tiefpunkt könnte im Frühjahr überwunden werden.

2002: Weiterhin moderater gesamtwirtschaftlicher PreisanstiegWolfgang Nierhaus

Anders als der Verbraucherpreisindex, in dem sich auch die Preisentwicklung voneingeführten Waren und Dienstleistungen auswirkt, ist der BIP-Deflator ein Maß-stab für den binnenwirtschaftlich verursachten Preisanstieg. Im laufenden Jahrwird der gesamtwirtschaftliche Preisanstieg in Deutschland – gemessen am De-flator des Bruttoinlandsprodukts – erneut moderat ausfallen. Zugleich nähert sichdie Preisentwicklung der inländischen Produktionsleistung wieder der Entwick-lung der gesamten Lebenshaltungskosten an (Prognose für 2002: + 1,5%).

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Hans-Werner Sinn im Gespräch mit Sven Afhüppe, Wirtschaftsjournalist bei derWirtschaftswoche

Afhüppe: Herr Sinn, welche drei Schlagworte verbinden Sie spontan mit Bayern?Sinn: Laptop, Lederhose und Lust an der Arbeit.

Afhüppe: Sind das die Schlüsselbegriffe, die den wirtschaftlichen Erfolg des Süd-landes ausmachen?Sinn: Zwei davon jedenfalls. Die Bayern sind – ähnlich wie die Amerikaner – Men-schen, die zupacken, wenn es irgendwo klemmt, und keine Angst vor der Zukunfthaben. Die Selbständigenquote ist die höchste aller Bundesländer. Die Bayern ha-ben es nach dem Krieg zudem geschafft, mit einer langfristig angelegten Struktur-politik den Wohlstand des Landes wie in kaum einer anderen europäischen Re-gion zu vermehren. Oberbayern ist heute die wirtschaftliche stärkste Flächen-region ganz Europas, und immer noch geht das Wachstum ungebrochen weiter.Das, obwohl das Land in der Nachkriegszeit enorme Standortnachteile hatte –eine ganz dürftige Infrastruktur und keine natürlichen Bodenschätze. Durch dieZuweisungen aus dem Länderfinanzausgleich, die anfangs flossen, wird das nichterklärt.

Afhüppe: Womit erklären Sie dann, dass der Strukturwandel zur High-Tech-Region schneller voran kam als in anderen Bundesländern?Sinn: Andere Bundesländer haben ihre Finanzmittel mit Vorliebe verfrühstückt, al-so für konsumtive Zwecke verwendet. Dagegen investierten die bayerischen Lan-desregierungen meist in langfristig wirkende Infrastrukturprojekte – Autobahnen,Atomkraftwerke, Pipelines für Öl und Gas – sowie vor allem auch in die Hoch-schulausbildung. Auf Dauer werfen solche Investitionen höhere Renditen ab alsbeispielsweise der Bau von Schwimmbädern oder Vergnügungsparks, und damitsteigt auch das Wirtschaftswachstum.

Afhüppe: Lässt sich das bayerische Modell auf Gesamtdeutschland über-tragen?Sinn: Was die Hochschulförderung und die Technologieorientierung angeht, aufjeden Fall. Vorbildlich ist auch die Strategie, Staatsbesitz zu privatisieren unddas Geld nicht im Haushalt versickern zu lassen, sondern gezielt in die High-Tech- und Forschungsförderung zu investieren. Insgesamt sind die strukturellenVoraussetzungen der übrigen Bundesländer erheblich besser als früher in Bay-ern – das Potential der anderen Länder muss nur endlich richtig genutzt wer-den, der Strukturwandel in der Bauwirtschaft und im Bergbau vollendet werden,auch wenn eine solche Politik höchst unbequem und unpopulär ist. So lange indiese Bereiche auch in Zukunft teure und schädliche Erhaltungssubventionenfließen, bleibt das Wirtschaftswachstum in Deutschland schwächer, als es seinkönnte.

Afhüppe: Kann man sagen, dass Edmund Stoiber in seiner Heimat klassische In-dustriepolitik betreibt?Sinn: Der Staat hilft, wo es nötig ist, mischt sich bei Industrieansiedlungen ein undüberlässt nicht alles dem Markt. Das ist das bayerische Modell. Dieser bayerischeMerkantilismus ist ohne Zweifel ein Erfolgsmodell ...

Afhüppe: ... das ist aber nicht besonders marktwirtschaftlich ...Sinn: ... Richtig, aber wo Zukunftsmärkte zur Koordination der Ansiedlungsent-scheidungen fehlen, kann der Staat durch die Organisation von Industrie-

Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Werner SinnPräsident des ifo Instituts

Bayerischer MerkantilismusÜber das weiß-blaue Wirtschaftsmodell

Sven Afhüppe

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clustern helfen. Durch gezielte Standortpolitik lässt sich der Grundstein für dy-namisches Wachstum legen. Wenn ein Unternehmen bei der Wahl seiner Ge-werbefläche weiß, dass sich wichtige Zulieferfirmen problemlos in der Nähe an-siedeln können und überdies hochkarätige Wissenschaftseinrichtungen vor Ortsind, kommt es gerne. Genau das ist etwa am Biotech-Standort Martinsriedpassiert. Ein gutes Beispiel für eine solche produktive Cluster-Bildung sind – imNachbarstaat Sachsen – auch die Industrieansiedlungen in den GroßräumenLeipzig und Dresden. Ohne staatlichen Einfluss wären diese Produktionszentrennicht zustande gekommen. In einer globalisierten, vernetzten Welt müssen dieWirtschaftsstandorte viel stärker aufeinander abgestimmt sein, als das frühernötig war.

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55. Jahrgang – i fo Schne l ld ienst 4/2002

Kombilohnmodelle – Ein Weg zur Erhöhung der Beschäftigung inDeutschland?

Die Beschäftigungssituation von Gering-qualifizierten hat sich in den meistenOECD-Staaten in den letzten Jahrzehn-ten dramatisch verschlechtert. Ein wich-tiger Faktor dafür wird zum einen in denhohen Arbeitskosten bei der Beschäfti-gung von Geringqualifizierten in Deutsch-land und anderen europäischen Ländernmit hohen Lohnsteuern und Sozialabga-ben gesehen. Zum anderen werden da-für zu geringe Anreize zur Aufnahme ei-ner gering entlohnten Beschäftigung auf-grund eines relativ hohen Sicherungsni-veaus bei Arbeitslosigkeit verantwortlichgemacht. Letzteres bedingt einen effek-tiven Mindestlohn, der häufig über demdurch die individuelle Produktivität ge-rechtfertigten Marktlohn liegt. Da zusätz-liches Erwerbseinkommen weitgehendauf die Arbeitslosen- und Sozialhilfe an-gerechnet wird, bestehen keine finanziel-len Anreize zur Aufnahme einer Erwerbs-tätigkeit: Die Geringverdiener befindensich in der »Sozialhilfefalle«.

In den letzten Jahren wurden in Wissen-schaft und Politik verschiedene Vorschlä-ge zu Lohnsubventionen als ein Instru-ment zur Verbesserung der Beschäfti-gungsmöglichkeiten im Niedriglohnbe-reich diskutiert (für einen Überblick vgl.Buslei und Steiner 1999; 2000). Ein Teildieser Vorschläge bezieht sich auf Lohn-subventionen an Arbeitnehmer in Form sogenannter »Kombilohn«-Modelle, die ei-ne direkte Subventionierung von Arbeit-nehmern mit niedrigem Erwerbseinkom-men vorsehen. Auf dieser Überlegung ba-siert auch das so genannte »Mainzer Mo-dell«, das ursprünglich vom Sozialminis-ter von Rheinland-Pfalz, Florian Gerster,

in die wirtschaftspolitische Diskussion ein-gebracht worden ist. Dieses Modell, dasbisher in einigen Arbeitsamtsbezirken inRheinland-Pfalz und Brandenburg erprobtwurde, soll nun in modifizierter Form aufdas gesamte Bundesgebiet ausgeweitetwerden. In diesem Beitrag soll zum einenargumentiert werden, dass das MainzerModell keinen geeigneten Ansatz zur Er-höhung der Beschäftigung im Niedrig-lohnbereich darstellt, zum anderen sol-len die Voraussetzungen für Erfolg ver-sprechende Kombilohnmodelle im Nied-riglohnbereich aufgezeigt werden.

Das Mainzer Modell

Dieses Modell sieht eine von der Höhe desErwerbseinkommens abhängige, degres-siv gestaffelte Subventionierung der So-zialbeiträge von Arbeitnehmern im Nied-riglohnbereich vor. Subventionsberechtigtsind Alleinstehende (Verheiratete) mit ei-nem monatlichen Einkommen zwischen325 p und 897 p (1 707 p). Alleinerzie-hende werden hinsichtlich der Förder-grenze und der Subventionshöhe wie Ver-heiratete behandelt. Bei einem Arbeits-entgelt von 325 p entspricht die Förde-rung dem Arbeitnehmerbeitrag zu Sozial-versicherung und nimmt innerhalb der För-dergrenzen linear ab. Pro Kind bestehtaußerdem Anspruch auf einen degressivgestaffelten einkommensabhängigen Kin-dergeldzuschlag in Höhe von maximal75 p. Gefördert werden sollen auch bis-her geringfügig Beschäftigte bei Aufnah-me einer sozialversicherungspflichtigenBeschäftigung, sofern diese innerhalb dergenannten Einkommensgrenzen liegt unddie wöchentliche Arbeitszeit mindestens

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Arbeitsmarkt nachhaltig verbessern?Kann die Einführung des Kombilohns die Lage am

Das Bundeskabinett hat die Richtlinien zur bundesweiten Einführung des so genannten Main-

zer Modells ab März 2002 beschlossen. Danach erhalten Bezieher von niedrigen Erwerbs-

einkommen bei Neuaufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung auf drei

Jahre befristet Zuschüsse zu ihren Sozialversicherungsbeiträgen und zum Kindergeld. Sind

nachhaltige Beschäftigungseffekte zu erwarten?

Viktor Steiner*

* Prof. Dr. Viktor Steiner ist am Center for Econo-mic Studies (CES), Universität München tätig undForschungsdirektor am ifo Institut.

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Zur Diskussion gestellt

i fo Schne l ld ienst 4/2002 – 55. Jahrgang

15 Stunden beträgt. Auch ist innerhalb dieser Grenzen dieFörderung beim Übergang aus einer sozialversicherungs-pflichtigen Beschäftigung in eine andere bei Wechsel des Ar-beitgebers möglich. Die maximal mögliche Förderdauer be-trägt 36 Monate, das Modell soll bis 2006 befristet werden.

Die Bundesregierung hat im Jahr 1999 das Mainzer Modellmit einer etwas abweichenden Ausgestaltung bezüglich derFörderdauer und der Zielgruppe in Modellprojekten in einigenArbeitsamtsbezirken in Rheinland-Pfalz und in Brandenburgeingeführt. Das Mainzer Modell war ursprünglich überwie-gend auf Langzeitarbeitslose und Geringqualifizierte ausge-richtet, diese Zielgruppenorientierung wurde jedoch bereits2001 aufgehoben und ist auch bei der bevorstehenden Aus-weitung des Modells auf das Bundesgebiet nicht vorgese-hen. Der Grund dafür besteht wohl darin, dass die Beteiligungan den Modellprojekten weit hinter den Erwartungen der Be-fürworter zurückgeblieben ist. Insgesamt sind bis August 2001nur ca. 500 Anträge gestellt worden. Nur ein Teil der Geför-derten war früher arbeitslos, über ein Drittel bezog vor Ein-tritt in das Programm Sozialhilfe, jeder Zehnte der geförder-ten Teilnehmer war früher geringfügig beschäftigt (Sozialpo-litische Umschau, Ausgabe Nr. 31/2001, S. 338).

Die Bundesregierung erwartet »aufgrund der bisher ge-sammelten Erfahrungen« (mit den Modellprojekten im Rah-men des Mainzer Modells) bei veranschlagten fiskalischenKosten on ca. 40 Mill. p eine bescheidene Beschäftigungs-zunahme im Niedriglohnbereich von 20 000 bis 30 000 Per-sonen. Dies liegt auch im Bereich früherer Schätzungen zuden Beschäftigungseffekten vergleichbarer Vorschläge zurEinführung von Kombilohnmodellen in Deutschland (für ei-nen Überblick vgl. Buslei und Steiner 2000). Wie im Fol-genden begründet wird, erscheint sogar diese doch rechtbescheidene Einschätzung der durch das Mainzer Modellinduzierten zusätzlichen Beschäftigung wahrscheinlich nochzu optimistisch.

Wieso ist das Mainzer Modell kein Erfolg versprechendes Kombilohnmodell?

Verschiedene Schätzungen der »arbeitsfähigen« Sozialhil-feempfänger weisen zwischen 600 000 und 800 000 Per-sonen aus (vgl. z.B. Buslei und Steiner 1999). Dazu kom-men noch jahresdurchschnittlich ca. 1,2 Mill. Bezieher vonArbeitslosenhilfe, die definitionsgemäß als arbeitslos gel-ten. Insgesamt ergibt sich damit eine Anzahl von ca. 1,8 Mill.arbeitslosen Sozial- und Arbeitslosehilfeempfängern, dieim Prinzip für eine Arbeitsaufnahme zur Verfügung stehen(ein geringer Anteil der Bezieher von Arbeitslosen- oder So-zialhilfe ist bereits in geringem Umfang beschäftigt). Gleich-zeitig existiert jedoch eine ungefähr gleich große Anzahl un-besetzter offener Stellen, die im Jahr 2001 auf zwischen1,2 und 1,5 Mill. geschätzt wird. Das Mainzer Modell geht

implizit davon aus, dass ein großer Teil dieser offenen Stel-len zu den gegebenen Bruttolöhnen zwar mit den Arbeits-losenhilfe- und Sozialhilfeempfängern besetzt werden könn-ten, diese aufgrund zu geringer finanzieller Anreize aber aneiner Beschäftigungsaufnahme kein Interesse haben.

Die Lösung des Problems besteht aus Sicht der Vertreterdes Mainzer Modells in einer Subventionierung geringer Er-werbseinkommen, so dass bei gegebenen Bruttolöhnenim Niedriglohnbereich das Nettoeinkommen durch Er-werbstätigkeit deutlich über das Transfereinkommen ange-hoben wird. Diese Sicht setzt natürlich voraus, dass keinequalifikatorischen Profildiskrepanzen (»Mismatch«) zwischenden offenen Stellen und den Arbeitslosen besteht. Trifft die-se Annahme nicht zu, setzt eine Beschäftigungszunahmeeine Senkung der Bruttolöhne oder eine direkte Subventio-nierung der Lohnkosten der Unternehmen bei der Einstel-lung von Arbeitslosen voraus. Ersteres ist nur möglich, wenndem gestiegenen effektiven Arbeitsangebot keine gesetz-lichen Mindestlöhne oder bindende Tariflöhne entgegen-stehen, letzteres ist beim Mainzer Modell nicht vorgesehen.

Geht man davon aus, dass die Zunahme des effektiven Ar-beitsangebots nicht durch die Arbeitsnachfrage beschränktwird, stellt sich die Frage nach der Größenordnung der zuerwartenden Reaktion des Arbeitsangebots auf Einkom-mensänderungen, die sich nach dem Mainzer Modell durchdie Aufnahme einer Beschäftigung ergeben. Simulations-studien zu verschiedenen Kombilohnmodellen, die ver-gleichbare Einkommensänderungen implizieren, weisen aufsehr geringe Arbeitsangebotseffekte hin, die noch unter dervon der Bundesregierung erwarteten Größenordnung von20 000 bis 30 000 Personen liegen (vgl. Buslei und Steiner1999; 2000; Steiner 2000).

Außerdem ist zu erwarten, dass die fiskalischen Kosten desMainzer Modells deutlich höher ausfallen als durch dieBundesregierung angegeben wird. Dabei wird implizit da-von ausgegangen, dass die Lohnsubvention auf bisher nichtsozialversicherungspflichtig Beschäftigte beschränkt wer-den kann. Dies bedeutet, dass ein gegebenes Bruttoer-werbseinkommen innerhalb der Fördergrenzen mit einemindividuell unterschiedlichen Nettoeinkommen verbundenist, je nachdem ob der Arbeitnehmer vor Einführung desMainzer Modells bereits beschäftigt war oder nicht. Bereitsfrüher Beschäftigte mit geringem Einkommen können sichaber dadurch finanziell verbessern, dass sie (mit oder ohnedazwischenliegender Arbeitslosigkeit) eine Beschäftigungzum gleichen Bruttolohn bei einem anderen Arbeitgeber auf-nehmen. Will man derartige Anpassungsprozesse vermei-den, müssen Geringverdiener unabhängig von ihrem bis-herigen Erwerbsstatus die gleiche Subvention erhalten. Dieswürde jedoch ein wesentlich höheres Subventionsvolumenbedingen, das nicht in Millionen sondern in Milliarden p zubemessen sein dürfte. Kostenträchtig erscheint auch die

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Zur Diskussion gestellt

Ausnahmeregelung für bisher geringfügig Beschäftigte, dieinnerhalb der gegebenen Fördergrenzen eine Subventio-nierung der Sozialbeiträge bei einem Wechsel in sozialver-sicherungspflichtige Beschäftigung vorsieht. Insgesamt istvom Mainzer Modell also kein positiver Beitrag zur Lösungder Beschäftigungsprobleme im Niedriglohnbereich zu er-warten. Im Gegenteil: Berücksichtigt man, dass die fiskali-schen Kosten wesentlich höher ausfallen dürften als dieoptimistische Schätzung der Bundesregierung impliziert unddiese durch Kürzungen an anderer Stelle ausgeglichen wer-den müssen, so sind negative Beschäftigungseffekte desMainzer Modells nicht auszuschließen.

Wieso sind das Mainzer Modell und andere Kombilohnmo-delle mit ähnlicher Ausgestaltung für Deutschland so wenigerfolgversprechend, wo doch in den USA mit dem EITC einvergleichbares Modell anscheinend erfolgreich praktiziert wird?Übersehen wird dabei in der Regel, dass sich die sozialenSicherungssysteme und die Arbeitmarktstrukturen zwischenden beiden Ländern grundlegend unterscheiden. Relativ zumErwerbseinkommen im Niedriglohnbereich ist das soziale Exis-tenzminimum in Deutschland sehr viel höher als in den USA,die Sozialhilfe und die Arbeitslosenhilfe werden in Deutsch-land im Prinzip unbefristet gewährt, während in den USA Lohn-ersatzleistungen zeitlich befristet sind und Sozialhilfe an Ar-beitsfähige nicht gewährt wird. Darüber hinaus ist die Lohn-flexibilität in den USA wesentlich höher als in Deutschland,entsprechend ist der Abstand zwischen dem untersten 10%der Einkommen (Einkommensdezil) und dem mittleren Er-werbseinkommen dort sehr viel größer als hierzulande.

Diese Unterschiede haben erhebliche Auswirkungen auf dieEffektivität und Kosten von Kombilohnmodellen: Bei relativgeringen empirischen Arbeitsangebotselastizitäten ist für ei-ne merkliche Ausweitung des effektiven Arbeitsangebots ei-ne deutliche Reduktion der Transferentzugsrate bei der Ar-beitslosen- und Sozialhilfe erforderlich. Bei einem relativ zummittleren Erwerbseinkommen hohen sozialen Existenzmini-mum impliziert dies, dass auch ein erheblicher Teil der be-reits Beschäftigten subventionsberechtigt wird. Würde bei-spielsweise die Transferentzugsrate bei der Sozialhilfe auf50% gesenkt und bliebe diese über den gesamten Trans-ferbereich konstant, wären bei einem angenommenen so-zialen Existenzminimum von monatlich 1 500 p für eine vier-köpfige Familie noch Erwerbseinkommen von monatlich3 000 p (= 1 500/0.5) transferberechtigt. Dass dies kein fi-nanzierbares Kombilohnmodell darstellt, zeigt sich schondaran, dass dieser Wert deutlich über dem mittleren Brut-toerwerbseinkommen liegt.

Um die fiskalischen Kosten zu begrenzen, muss entwederdas soziale Existenzminimum deutlich gesenkt oder die Trans-ferentzugsrate wesentlich höher angesetzt werden. Will mandie Anreize zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit durch einegeringe Transferentzugsrate bei sehr geringen Einkommen

fördern, ein relativ hohes soziales Existenzminimum aufrechterhalten und gleichzeitig die fiskalischen Kosten begrenzen,müssen innerhalb des Subventionsbereichs extrem hoheGrenzbelastungen mit entsprechend negativen Arbeitsanrei-zen in diesem Bereich in Kauf genommen werden.

Wie müsste ein Erfolg versprechendes Kombilohnmodell ausgestaltet sein?

Ein Erfolg versprechendes Kombilohnmodell muss durch ei-ne deutliche Reduktion der Transferentzugsrate die Anreizezur Arbeitsaufnahme verbessern und gleichzeitig die fiskali-schen Kosten begrenzen. Will man extreme Grenzbelastun-gen innerhalb des Subventionsbereichs vermeiden, setzt dieseine deutliche Senkung des Sozialhilfeniveaus voraus. Auchbisher ist bereits bei erstmaliger Verweigerung der Annahmeeiner Beschäftigung eine Kürzung der Sozialhilfe um 25% vor-gesehen, bei mehrmaliger Weigerung ist auch die vollständi-ge Streichung der Hilfe zum Lebenshilfe (Regelsätze) mög-lich. Auch besteht mittlerweile weitgehend politischer Kon-sens darüber, dass die Arbeitslosenhilfe, deren Niveau vomfrüheren Erwerbseinkommen abhängt und die bezüglich derAnrechnung von Vermögen und der Zumutbarkeit einer Be-schäftigung großzügigere Regelungen vorsieht, in die Sozial-hilfe integriert werden soll. Dabei sollte aber gewährleistet sein,dass arbeitswillige Sozialhilfeempfänger zumindest das glei-che Nettoeinkommen realisieren können wie bisher. Dies lie-ße sich dadurch erreichen, dass jedem Sozialhilfeempfängereine Tätigkeit im öffentlichen Beschäftigungssektor angebo-ten wird, die entsprechend dem bisherigen Sozialhilfeniveauentlohnt wird. Dadurch wäre auch eine effektive Kontrolle derArbeitsbereitschaft aller Sozialhilfeempfänger im Sinne eines»Work test« gewährleistet. Es ist zu erwarten, dass bereits da-durch ein erheblicher Teil der arbeitsfähigen Sozialhilfeemp-fänger freiwillig aus dem Leistungsbezug ausscheidet.

Erwerbseinkommen sollte entsprechend dem in den USApraktizierten EITC bis zu einer bestimmten Höhe subven-tioniert werden. Dabei sollte vor allem die Aufnahme einerregulären Beschäftigung im »ersten« Arbeitsmarkt gefördertwerden. Der EITC sieht vor, dass in einem »Einstiegsbereich«Erwerbseinkommen durch eine Steuergutschrift (Subven-tion) aufgestockt wird, die bis zu einem Maximum mit zu-nehmendem Erwerbseinkommen steigt, dann über einenbestimmten Einkommensbereich konstant bleibt und abeiner Obergrenze des Einkommens schließlich abge-schmolzen wird (vgl. Ochel 2000, Abb. 1). Die Parameterdes EITC sollten so festgelegt werden, dass bei einer Voll-zeitbeschäftigung ein deutlicher Abstand zwischen dem Net-toeinkommen (Erwerbseinkommen plus Subvention) unddem bisherigen Sozialhilfeniveau besteht. Wichtig dabei istauch, dass hinreichende finanzielle Anreize zum Übergangvom öffentlichen Beschäftigungssektor in den ersten Ar-beitsmarkt bestehen. Dies impliziert, dass auch bereits im

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Zur Diskussion gestellt

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Niedriglohnbereich Beschäftigte auch subventionsberech-tigt werden und damit erhebliche fiskalische Kosten einesderartigen Kombilohnmodells. Hinzu kommen noch die miteiner Ausweitung des öffentlichen Beschäftigungssektorsverbundenen fiskalischen und ökonomischen Kosten.

Allerdings existiert in Deutschland bereits ein relativ großeröffentlicher Beschäftigungssektor in Form von Arbeits-beschaffungsmaßnahmen (ABM) und verschiedenen betrieb-lichen Eingliederungsmaßnahmen für sogenannte »Problem-gruppen« des Arbeitsmarktes sowie staatliche gefördertenSchulungs- und Weiterbildungsmaßnahmen (vgl. Hagen undSteiner 2000). Insbesondere bei ABM besteht ein erhebli-ches Potential zur Kosteneinsparung, wenn die Teilnahme dar-an nur mehr das bisherige Sozialhilfeniveau finanziell absichert.Die dadurch frei werdenden Ausgaben für »aktive« Arbeits-marktpolitik könnten zur Finanzierung der vorübergehendenZunahme der dem öffentlichen Beschäftigungssektor zuge-wiesenen Empfänger von Sozialhilfe verwendet werden.

Die fiskalischen Nettokosten eines derartigen Kombilohn-modells können erst nach (politischer) Festlegung der Wer-te für die Modellparameter abgeschätzt werden. Die fiska-lischen Kosten bei Einführung des skizzierten Kombilohn-modells werden zumindest kurzfristig auch bei einer zu er-wartenden nennenswerten Beschäftigungszunahme zu-mindest kurzfristig nur zum Teil durch die erwähnten Ein-sparungen bei der Sozialhilfe und den Ausgaben für »akti-ve« Arbeitsmarktpolitik ausgeglichen werden können. Län-gerfristig wird ein derartiges Kombilohnmodell umso erfolg-reicher sein, je weniger Hindernisse der Entwicklung einesprivatwirtschaftlichen Niedriglohnsektors entgegenstehen.Dazu werden auch Änderungen bei den tariflichen und ge-setzlichen Mindestlöhnen notwendig sein.

Literatur

Buslei, H. und V. Steiner (2000), »Beschäftigungseffekte und fiskalische Kos-ten von Lohnsubventionen im Niedriglohnbereich«, Mitteilungen aus der Ar-beitsmarkt- und Berufsforschung 1, 54–67. Buslei, H. und V. Steiner (1999), Beschäftigungseffekte von Lohnsubventio-nen im Niedriglohnbereich, ZEW Wirtschaftsanalysen, Bd. 42, Baden-Baden:Nomos. Hagen, T. und V. Steiner (2000), Von der Finanzierung von Arbeitslosigkeitzur Förderung von Arbeit – Analysen und Empfehlungen zur Steigerung derEffizienz und Effektivität der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland, ZEW Wirt-schaftsanalysen, Bd. 51, Baden-Baden: Nomos.Ochel, W. (2000), »Steuergutschriften und Transfers an Arbeitnehmer im Nied-riglohnbereich – der angelsächsische Weg zu mehr Beschäftigung und we-niger Armut«, ifo Schnelldienst 53 (21), 13–23.Steiner, V. (2000), »Können durch einkommensbezogene Transfers an Ar-beitnehmer die Arbeitsanreize gestärkt werden? Eine ökonometrische Ana-lyse für Deutschland«, Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- und Berufsfor-schung 33, 385–395.

Kombilöhne in Deutschland – Grundsatzreformen statt Mainzer Modell

Arbeit soll sich lohnen. Dieses Axiom ist nicht nur in derArbeitsmarktökonomie weitgehend unstrittig. Ungewiss istdagegen, ob die Botschaft auch schon bis zur herrschen-den Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik vorgedrungen ist. Denngenau an der Schnittstelle zwischen diesen beiden Poli-tikbereichen schlummert eines der größten materiellen undinstitutionellen Probleme des deutschen Arbeitsmarktes,wie folgende Zahlen belegen mögen: Im Jahresdurchschnitt2000 bezogen 1,46 Mill. Menschen Arbeitslosenhilfe und1,62 Mill. Personen im erwerbsfähigen Alter Hilfe zum Le-bensunterhalt, also die klassische Sozialhilfe. Bereinigtum Doppelzählungen und Fälle begründeter Nichter-werbsfähigkeit ergibt sich daraus ein aktivierbares Perso-nenpotential von über 2,1 Mill. Personen, das der sicht-barste Ausdruck struktureller Arbeitslosigkeit in Deutsch-land ist. Für diese Personen werden derzeit aus Steuer-oder Beitragsmitteln je nach Rechnung etwa 16,5 Mrd. pjährlich an Transfers und weitere 6 Mrd. p an Aktivie-rungshilfen aufgewendet, deren Beschäftigungseffekte ge-ring, deren Entzugseffekte für die öffentlichen Haushalteaber beträchtlich sind.

Allein die Größenordnungen zeigen, dass die Diskussion umso genannte »Kombilöhne« richtig und überfällig ist. Dennallen Überlegungen zu Kombilöhnen ist gemeinsam, niedri-gere Arbeitseinkommen durch eine staatliche Leistung soaufzustocken, dass sich die Arbeitsaufnahme für Arbeitslo-sen- und Sozialhilfeempfänger (wieder) lohnt und so mehrBeschäftigung für diese beiden Problemgruppen angebahntwerden kann. Doch die Übereinstimmung im Grundsatzendet in der Regel bereits dann, wenn es um die unter An-

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* Dr. Hans-Peter Klös ist Leiter, Dipl.-Ökonom Holger Schäfer wissen-schaftlicher Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Arbeitsmarkt im Insti-tut der deutschen Wirtschaft Köln.

Holger Schäfer*Hans-Peter Klös*

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reizgesichtspunkten entscheidenden zwei Größen geht,nämlich das durch staatliche Transfers erzielbare Einkom-men einerseits und das durch Erwerbstätigkeit erzielbareEinkommen andererseits.

Denn damit verbindet sich im Kern die Frage nach demnotwendigen Abstand zwischen dem staatlich garantiertenEinkommen bei Nichtarbeit einerseits und jenem bei Arbeitandererseits. Dass dies einen Kern des Sozialstaatsver-ständnisses in Deutschland berührt, ist evident. Um so wich-tiger ist es daher, noch einmal kurz den Status quo in Erin-nerung zu rufen:

• Der Sozialhilfeanspruch inklusive zusätzlicher Transfers(Kindergeld) beträgt bei Alleinstehenden 618 p/Monat,bei Alleinerziehenden mit 1 Kind 1 019 p und bei Ver-heirateten mit zwei Kindern 1 505 p. Dieses Einkom-men definiert einen Mindestlohn. Welches Einkommenhingegen durch Erwerbsarbeit erzielbar ist, hängt vonder Qualifikation ab. Arbeitnehmer mit geringen Quali-fikationen können entsprechend ihrer niedrigen Pro-duktivität nur geringe Erwerbseinkommen erzielen. Derdurchschnittliche Bruttomonatslohn eines Hilfsarbeitersim produzierenden Gewerbe liegt nach Angaben desStatistischen Bundesamtes je nach Branche bei 1 700bis 2 300 p. Nichtqualifizierte Arbeiter in der Landwirt-schaft kommen gar nur auf 1 500 p. Die Durch-schnittsverdienste von Frauen liegen noch 100 bis 200pdarunter. Ein verheirateter Alleinverdiener mit zwei Kin-dern, der als Hilfsarbeiter im Handwerk tätig ist, erzieltim Durchschnitt ein Einkommen von 1 800 p brutto, vondem ihm rund 1 700 p nach Abzug von Steuern undSozialabgaben zuzüglich des Kindergeldes verbleiben.Mit der Sozialhilfe erzielt er somit fast 90% des Ein-kommens aus Erwerbstätigkeit. Der Abstand für Fami-lien mit Kindern ist mithin nicht allzu groß. Nicht vielgrößer ist er für Alleinerziehende. Deutlicher ist er nur fürAlleinstehende.

• Nicht wesentlich anders beantwortet sich die Lohnab-standsfrage, wenn statt der Alternative »Arbeit statt So-zialhilfe« die Kombination »Arbeit und Sozialhilfe« be-trachtet wird. Zwar gewähren die Sozialämter Freibeträ-ge, die Sozialhilfeempfängern bei einem Hinzuverdienstbelassen werden. Doch über die Grenze von 140p hin-ausgehende Einkommen werden vollständig von der So-zialhilfe abgezogen. Daraus ergibt sich eine Anrech-nungsfalle: Trotz höheren Bruttolohns steigt das verfüg-bare Einkommen nicht an. Es besteht kein Anreiz, län-ger zu arbeiten oder eine höherwertige Tätigkeit anzu-streben. Die Grenzbelastung durch Sozialversiche-rungsabgaben und Transferentzug liegen in dem Ein-kommensbereich, der für Geringqualifizierte typisch ist,bei 100%. Verglichen mit der Alternative der Nichter-werbstätigkeit mit ausschließlichem Transferbezug wirdein Bruttoerwerbseinkommen einer Familie mit zwei Kin-

dern von 1 700 p mit 92% belastet, verglichen mit derAlternative des Transferbezugs mit ergänzender gering-fügiger Beschäftigung sind es sogar 98%.

Dieser Zustand ist unter Anreizgesichtspunkten wohl kaumzufrieden stellend. Ihn zu verbessern gibt es prinzipiell zweiMöglichkeiten, nämlich einerseits die Anhebung der Net-toverdienste, die Geringqualifizierte erzielen können, so-wie andererseits die Absenkung der Transfereinkommen.Beginnt man zunächst bei der Erhöhung der Verdiensteder Geringqualifizierten, so könnte erstens angestrebt wer-den, die Qualifikation der Geringqualifizierten soweit zu ver-bessern, dass sie höhere Einkommen erzielen können. Die-se Strategie wird vor allem von der Bundesanstalt für Ar-beit verfolgt. Im Jahr 2000 wurden für die Förderung vonAus- und Weiterbildung rund 8 Mrd. p aufgewendet, diedamit den größten Ausgabenposten der aktiven Arbeits-marktpolitik darstellt. Angesichts der ausstehenden Be-weise der Effektivität der Maßnahmen ist es allerdings mehrals fraglich, inwieweit eine Verstärkung dieser Bemühun-gen die erhoffte und für eine Arbeitsmarktintegration er-forderliche Aufstiegsmobilität der Geringqualifizierten wirk-lich erhöhen wird.

Die zweite Möglichkeit besteht in einer Anhebung der Ver-dienste für Geringqualifizierte durch eine implizite oder ex-plizite Lohnsubvention. Diese Überlegung ist konsequentund umreißt die gemeinsame Klammer der Kombilohnmo-delle: Da Qualifizierung nicht für jeden die Lösung sein kann,muss ein funktionsfähiger Arbeitsmarkt auch Geringqualifi-zierten eine Beschäftigung bieten können. Andererseits kannman kaum darauf hoffen, die Unternehmen würden freiwil-lig Löhne oberhalb der individuellen Produktivität zahlen. Ge-setzlich oder tariflich festgelegte Mindestlöhne oberhalbder individuellen Produktivität führen allenfalls zu verfestig-ter Arbeitslosigkeit.

Bisher keine Förderungseffekte

Die vielen Förderinstrumentarien, seien es die klassischenInstrumente der Arbeitsförderung oder die neueren Kombi-lohnmodelle, mit denen in der einen oder anderen FormLohnsubventionen erprobt werden, haben jedoch eines ge-meinsam: Sie zeigen bisher nicht die Beschäftigungseffek-te, die man sich von ihnen erhofft hat. Im Falle des nun-mehr bundesweit geplanten »Mainzer Modells« hat mandie Erwartungen daher bereits im Vorfeld sehr niedrig an-gesetzt. Damit drängt sich die Frage auf, warum das, wasin der Theorie plausibel klingt, in der Praxis so schlecht funk-tioniert. Auch auf diese Frage gibt es mindestens zwei zuKontroversen führende Antworten:

• Erstens wäre es möglich, dass für die Geringqualifizier-ten keine Arbeitsplätze vorhanden sind, die sie besetzen

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könnten – selbst wenn sich für sie Arbeit lohnen würde.Dieses Argument lässt sich empirisch jedoch nicht bele-gen. Von den 485 000 gemeldeten offenen Stellen desJahres 2001 waren 48% für Arbeitnehmer ohne beson-dere Ausbildung geeignet. Unter Berücksichtigung desEinschaltungsgrades der Arbeitsämter ergibt das knappeine dreiviertel Million vakante Arbeitsplätze für Gering-qualifizierte. Untersuchungen zu berufsspezifischen Ar-beitskräfteengpässen zeigen zudem, dass ein Arbeits-kräftemangel auch in Berufen zu beobachten ist, die ge-rade nicht durch hohe Qualifikationsanforderungen cha-rakterisiert sind.

• Die zweite Antwort ist um einiges unbequemer: Die Lohn-subventionen ignorieren den Mindestlohncharakter derSozialhilfe und verlieren sich in den unscharf abgegrenz-ten Zuständigkeiten von Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik,genauer: zwischen Arbeitsämtern einerseits und Sozial-ämtern andererseits. Die Kommunen als Träger der So-zialhilfe haben unter dem langzeitarbeitslosigkeitsbe-dingten Anstieg der Sozialhilfeempfängerzahlen zu lei-den. Sie verfügen mit der Sozialhilfe aber über das Ins-trument, an dem die für ihre Klientel so wichtige Lohn-struktur im Niedriglohnbereich andockt. Sie haben aberwenig Einfluss auf die Arbeitsmarktpolitik der Arbeits-ämter und sind daher genötigt, gleichsam ihre eigene Be-schäftigungspolitik zu veranstalten. Dagegen ist dieBundesanstalt für Arbeit wegen der Umlagefinanzierungder Arbeitslosenversicherung finanziell von der Aussteu-erung der Langzeitarbeitslosigkeit in den Sozialhilfebe-zug eigentlich nicht betroffen, trägt aber gleichzeitig dieVerantwortung für die Arbeitsmarktpolitik. Dritter Akteurist der Bund, der über die Arbeitslosenhilfe finanziell be-troffen ist, aber keine direkte Verantwortung für die Ar-beitsmarktpolitik und für die Arbeitsanreize in der Sozial-hilfe trägt.

Diese fehlende Kongruenz von finanzieller Betroffenheit undVerantwortung sowie funktionaler Zuständigkeit auf den ver-schiedenen föderalen Ebenen schafft neben Reibungsver-lusten Anreize, das Problem dem jeweils anderen Akteurzuzuschieben. So entstehen soziale Verschiebebahnhöfe,die für die Betroffenen zu oftmals frustrierender Unklarheitdarüber führen, wer für ihren Fall zuständig ist. Das »Main-zer Modell« ist ein Paradebeispiel dafür, wie sich die Ideeder Lohnsubvention in dieses Bild fügt und dabei »versan-det«: Bezahlt wird die Förderung vom Bund, die Verwaltungder Förderung liegt aber in der Hand der Arbeitsämter. Ent-scheidender Akteur für die Geförderten ist aber eigentlichdas Sozialamt, da in den Einkommensbereichen, in denendie Förderung angesiedelt ist, ergänzende Sozialhilfe immereine Rolle spielt. Doch viele Sozialämter – so das Ergebnisder wissenschaftlichen Begleitforschung – kassieren dieFörderung durch Anrechung auf den Sozialhilfeanspruchwieder ein. Beispielhaft für die Problematik der unklarenKompetenzen ist, dass die Arbeitsämter als Ansprechpart-

ner der Kombilohnempfänger nicht in der Lage sind, dasletztlich erzielbare Nettoeinkommen auszurechnen. Denndie ergänzende Sozialhilfe fällt in die Zuständigkeit der So-zialämter.

Die zunächst naheliegende Änderung der Freibetragsrege-lungen in der Sozialhilfe löst vielleicht das unmittelbare, nichtaber das grundsätzliche Problem. Auch die Verbesserungder informellen Zusammenarbeit von Arbeits- und Sozial-ämtern, wie sie im Rahmen der »Mozart«-Modellprojekte er-probt wird, beseitigt nicht die Ineffizienz einer geteilten Ver-antwortung von Finanzierungs- und Ausgabenkompetenz.Eine Grundsatzreform muss sich daher der Aufgabe stel-len, Verantwortung und Finanzierung in eine Hand zu ge-ben. Vieles spricht dafür, dass dies die Kommunen sein soll-ten. Beschäftigungspolitische Erfolge (wie auch Misserfol-ge) würden sich unmittelbar auf die Finanzen der verant-wortlichen föderalen Ebene auswirken. Somit entstehen An-reize, das Problem mit eigenen Mitteln zu lösen.

Damit verbunden ist die Gelegenheit, das Konnexitätsprin-zip in der Arbeitsmarktpolitik neu zu tarieren. Gegenwärtigist der Bundesanstalt für Arbeit als Protagonisten der akti-ver Arbeitsmarktpolitik nicht bekannt, ob die eingesetztenMittel effizient verwendet wurden – nicht einmal über dieEffektivität der Maßnahmen besteht ein wissenschaftlich halt-barer Konsens. Schon gar nicht ist wegen der Inkongruenzvon Zahlern und Nutzern der Arbeitsmarktpolitik eine ge-samtfiskalische Kosten-Nutzen-Bilanz möglich. Eine Zu-sammenführung von finanzieller und funktionaler Verant-wortung könnte diese »Verflechtungsfallen« zumindest teil-weise entschärfen. Ineffiziente Maßnahmen würden un-mittelbar finanzielle Folgen für denjenigen nach sich ziehen,der die Maßnahmen veranlasst hat. Eine solche Neuordnungder Arbeitsmarktpolitik könnte erhebliche Effizienzgewinnefreisetzen.

Schließlich eröffnete ein solcher Leitbildwechsel in der Ar-beitsmarktpolitik auch eine zweite Option zur Balancierung vonArbeitseinkommen und Transfereinkommen, nämlich eine Ab-senkung des Transferniveaus. Die Kommunen haben nämlichdurch den Mindestlohncharakter der Sozialhilfe bereits jetztentscheidenden Einfluss auf die Lohnstruktur im Niedriglohn-bereich: Zwar erlegt der Bundesgesetzgeber den Kommu-nen mittelbar die Leistungshöhe auf. Doch nach dem Prinzipdes Nachrangs der Sozialhilfe gemäß § 2 Abs. 1 Bun-dessozialhilfegesetz (BSHG) erhält keine Hilfe, wer sich selbsthelfen kann. Die Hilfe soll nach § 1 Abs. 2 den Hilfeempfängerbefähigen, unabhängig von der Hilfe zu leben. Jeder er-werbsfähige Empfänger muss daher gemäß § 18 Abs. 1 BSHGseine Arbeitskraft anbieten und im Rahmen der Zumutbarkeiteinsetzen. Die Sozialämter haben demnach also darauf hin-zuwirken, dass der Hilfesuchende sich um Arbeit bemüht, Ar-beit findet bzw. einer Arbeitsgelegenheit nachkommt. Wer sichweigert, eine zumutbare Arbeit oder Arbeitsgelegenheit anzu-

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nehmen, verwirkt seine Ansprüche gemäß § 25 Abs. 1 BSHG.Es entspricht daher Wortlaut und Geist des BSHG, die An-bahnung von Erwerbsarbeit in den Mittelpunkt der Aktivitätenzu stellen und die zu diesem Zweck auch vorgesehenen An-reize und Sanktionsmöglichkeiten zu nutzen.

Negative Einkommensteuer – die bessere Lösung

Erhielten die Kommunen eine erweiterte arbeitsmarktpoliti-sche Zuständigkeit für ihre größer gewordene Klientel, könn-te die Arbeitsmarktpolitik für die oben genannten Problem-gruppen stärker als bisher an das Prinzip von Fördern undFordern gebunden werden, das sich durch drei Grundsät-ze auszeichnen sollte:

• Aktivierung: Grundsatz der Arbeitsmarktpolitik solltees sein, Empfängern von Transferleistungen frühzeitigein Arbeitsplatz- oder Ausbildungsangebot zu unter-breiten.

• Konditionalität: Die Gewährung von Transferleistungensollte generell mit der Verpflichtung verknüpft werden,vorliegende Arbeitsangebote anzunehmen oder an ar-beitsmarktpolitischen Maßnahmen teilzunehmen.

• Sanktionsbewehrung: Die Verweigerung eines Arbeits-angebotes oder einer Maßnahme sollte zu Kürzungen derTransferleistungen führen. Die Sanktionierung ist zwarschon jetzt möglich, wird aber nicht zuletzt wegen deraufwendigen Beweisführung seitens der Ämter selten an-gewandt. Deshalb ist eine Umkehrung der Beweislast insAuge zu fassen.

Aus diesen Überlegung folgt eine klare Empfehlung zu ei-ner Konvergenz von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und derarbeitsmarktpolitischen Verantwortungsübernahme für dieBetroffenen durch die Kommunen. De facto läuft dieser An-satz auf die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe hinaus. EinFesthalten an der Arbeitslosenhilfe als Zwitter von Lohner-satzleistung und Fürsorgeleistung ist ordnungspolitisch oh-nehin kaum zu begründen. Dies böte überdies die Chan-ce, den Versicherungscharakter der Arbeitslosenversiche-rung stärker zu betonen und Umverteilung dort anzusie-deln, wo sie hingehört – nämlich in das Steuersystem. Kon-sequenterweise wäre dort auch die Lohnsubvention für Ge-ringverdiener am besten aufgehoben. So erscheint die Lö-sung, Erwerbsarbeit durch eine negative Einkommensteu-er ganz aus der Sozialhilfe herauszulösen, ungleich strin-genter als – wie im »Mainzer Modell« – die Bezuschussungvon Sozialversicherungsbeiträgen, die gerade beseitigte In-kongruenzen an anderer Stelle wieder aufbaut. Es ergibtsich das Bild einer zweistufigen Reform, in der erstens Ver-antwortung gebündelt wird und zweitens der gebündeltenVerantwortung durch eine Lohnsubventionierung und ak-zentuierte Konditionalität der Leistungen ein aktivierenderCharakter gegeben wird.

Notwendige Bedingung für das Gelingen eines solchenSchrittes ist die Neuordnung der föderalen Finanzverfas-sung. Die Kommunen tragen gegenwärtig bereits einen er-heblichen Teil der arbeitslosigkeitsbedingten Transferleis-tungen. Eine Ausweitung der Verantwortung ohne Kom-pensation durch übergeordnete föderale Ebenen erscheintangesichts der angespannten Finanzlage der Kommunen il-lusorisch. Es bestünde die Gefahr, dass investive Aufgabennicht mehr wahrgenommen werden können. Andererseitssetzt die Überführung der Arbeitslosenhilfe in die Sozialhil-fe Mittel frei, die der Bund an die nunmehr zuständigen Kom-munen übertragen könnte. Überschlägige Rechnungen1 kön-nen belegen, dass das eingangs genannte Ausgabenvolu-men ausreichen würde, um einerseits Subsistenztransfersaufrechtzuerhalten und andererseits eine solche konditio-nale »Hilfe zur Arbeit« zu finanzieren.

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1 Vgl. Institut der deutschen Wirtschaft Köln, Stellungnahme zur öffentli-chen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Sozialordnung des Deut-schen Bundestages am 28. Januar 2002, Ausschussdrucksache 14/2050,190–205.

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Kombilohn: Lohnsubvention als Einstiegshilfe

Neben dem noch immer hohen globalen Arbeitsplatzde-fizites von rund 6 Mill. (Arbeitslose plus Stille Reserve) istdie Arbeitsmarktkrise durch massive Strukturprobleme ge-kennzeichnet (z.B. in Form von Langzeitarbeitslosigkeit).Sortierprozesse in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit und derWegfall einfacher Tätigkeiten erschweren zunehmend dieReintegration wettbewerbsschwächerer Arbeitnehmer, wieGeringqualifizierter oder älterer Arbeitnehmer. Die Ein-gliederungschancen der Problemgruppen des Arbeits-marktes könnten sich aber erhöhen – so wird häufig unter-stellt –, wenn über eine stärkere Lohndifferenzierung nachunten mehr Beschäftigungsmöglichkeiten auf niedrigeremNiveau von Produktivität und Arbeitskosten geschaffenwürden.

Um bei stärkerer Lohnspreizung nach unten aber das inden USA nicht von der Hand zu weisende »Working poor«-Problem zu vermeiden, werden verschiedene mehr oderweniger weitgehende Ansätze zur Subventionierung nied-riger Löhne diskutiert. Ein in diesem Zusammenhang zu-letzt viel diskutierter Vorschlag sind die sog. Kombilöhne.Unter dem Stichwort Kombilohn lassen sich alle Niedrig-lohnsubventionen an Arbeitnehmer subsumieren, die zurVerbesserung ihres Nettolohns beitragen und somit als An-reiz zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit durch Einkom-menstransfers einzustufen sind. Zur Etablierung eines durchdauerhafte Subventionen gestützten Niedriglohnsektorsgibt es zwei Vorschläge: Zuschüsse zu den Sozialversi-cherungsbeiträgen der Arbeitnehmer und eine Verbesse-rung der Zuverdienstmöglichkeiten der Bezieher von Trans-ferleistungen.

Degressive Bezuschussung des Sozialversicherungsbeitrags

Ziel des Vorschlages einer dauerhaften Bezuschussung desSozialversicherungsbeitrags der Arbeitnehmer (wie z.B. desursprünglichen »Mainzer Modells«) ist zum einen die Schaf-fung eines Marktes für Teilzeitarbeit speziell für Geringquali-fizierte (insbesondere durch das Hineinwachsen ausschließ-lich geringfügig Beschäftigter in höhere Einkommensberei-che) und zum anderen eine erhöhte Attraktivität einer Be-schäftigungsaufnahme bei Bezug von Transferleistungen.

Konkret sollten nach der ursprünglichen Intention des Main-zer Modells Beschäftigungsverhältnisse mit monatlichemEntgelt von über 325 q bis unterhalb einer Entgeltgrenzevon rund 800 q bei Alleinverdienern (bei Verheirateten je-weils das Doppelte; bei Eltern verbunden mit Kindergeld-zuschlag) auf Dauer gefördert werden. Bei Monatsentgeltenzwischen diesen Grenzen werden die Arbeitnehmerbeiträ-ge zur Sozialversicherung linear degressiv bezuschusst. Ei-ne Kürzung des Zuschusses im Falle von Teilzeitbeschäfti-gung war nicht vorgesehen. Der Vorschlag nimmt damit inKauf, dass auch höher dotierte Beschäftigungen mit gerin-gem Stundenumfang gefördert werden – soweit das erziel-te Einkommen unter der Entgeltgrenze liegt.

Die Ergebnisse der Berechnungen zu den ex-ante Wirkun-gen solcher – auf eine Dauerförderung ausgerichteten – Mo-delle lassen sich wie folgt zusammenfassen. Für die Be-zuschussung der 1997 in dem geförderten Einkommens-segment Beschäftigten (ohne Auszubildende und Mehrfach-beschäftigte) wären auf der Basis der Beschäftigtenstatistikund des Sozio-ökonomischen Panels beim Mainzer Modellrund 0,8 Mrd. q zu veranschlagen gewesen. Die Bezu-schussung beträfe zu einem großen Teil Teilzeitbeschäftigte.Zusätzliche Beschäftigungseffekte des Vorschlags dürften –selbst ohne Berücksichtigung des zu unterstellenden Gegen-finanzierungsbedarfs – eher zu vernachlässigen sein. Diesist darauf zurückzuführen, dass das durch den Zuschussnur leicht erhöhte Nettoeinkommen allenfalls einige wenigebisher nicht erwerbstätige Personen veranlassen dürfte, zu-sätzlich Arbeit anzubieten. Mit Blick auf die bisher geringfü-gigen Beschäftigten wäre aber wohl damit zu rechnen, dassdiese zumindest teilweise ihre Arbeitszeit ausdehnen dürften.Dadurch könnte das Beschäftigungsvolumen in Stunden (nichtaber in Köpfen) dann wachsen, wenn infolge der Eindäm-mung des Missbrauchs an der 325 q-Schwelle die Schat-tenwirtschaft zurückgedrängt würde.

Verbesserung der Zuverdienstmöglichkeiten vonSozialhilfeempfängern

Ausgangspunkt dieser Vorschläge ist die sog. »Sozialhilfe-falle«. Die weitgehende Anrechnung von Zusatzverdiensten

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Ulrich Walwei*

* Dr. Ulrich Walwei ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am IAB – Institut für Ar-beitsmarkt- und Berufsforschung bei der Bundesanstalt für Arbeit, Nürnberg.

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auf den Hilfeanspruch gilt als Fehlanreiz, der zur Verlänge-rung des Hilfebezugs beitragen kann. Bei einem Grenz-steuersatz von rund 85% handeln Sozialhilfeempfängerdurchaus ökonomisch rational, wenn sie keine Arbeit an-bieten (wollen). Ähnliches gilt im Übrigen auch für die Emp-fänger von Arbeitslosenhilfe. Durch eine Lockerung der An-rechnungsvorschriften von Erwerbseinkommen auf die Hil-feleistung würde man deshalb einen Anreiz zur Arbeitsauf-nahme schaffen und damit Niedriglohnbeschäftigung alsWeg aus der Erwerbslosigkeit fördern.

Die Verbesserung der Zuverdienstmöglichkeiten von Sozi-alhilfeempfängern ist im Grunde eine mögliche Variante ei-nes Negativeinkommensteuerkonzeptes. Eine Reihe jün-gerer, empirisch fundierter Untersuchungen zeigt, dass jenach Ausgestaltung allenfalls mit leicht positiven, aber even-tuell sogar negativen Arbeitsmarkteffekten solcher an Ne-gativeinkommensteuerkonzepten orientierten Ansätzen zurechnen wäre (vgl. z.B. Bassanini, Rasmussen und Scar-petta 1999). Zwei Gründe sind hierfür v.a. verantwortlich:Wenn erstens die Existenzminima in Höhe der gegenwärti-gen Sozialhilfeniveaus festgelegt werden, führen verbesserteAnrechnungsregelungen zu hohen Belastungen der öffent-lichen Haushalte und in Folge dessen auch eventuell zu ne-gativen Wirkungen auf die gesamtwirtschaftliche Arbeits-kräftenachfrage. Mehrkosten für die öffentlichen Haushalteentstünden vor allem deshalb, weil aus Gründen der Gleich-behandlung bisher nicht begünstigte Personengruppen So-zialtransfers beziehen können. Zweitens wird zwar für be-stimmte Personengruppen (vor allem bisher nicht erwerbs-tätige Sozialhilfeempfänger) der Arbeitsanreiz erhöht, für an-dere – von Sozialtransfers bisher nicht begünstigte Perso-nengruppen – aber geschwächt.

Demnach lässt sich festhalten, dass Positiveffekte einer Ver-besserung der Zuverdienstmöglichkeiten auf den Arbeits-markt als unsicher einzustufen und fiskalische Risiken be-stehen. Freilich ändert sich die Beurteilung, wenn die Ein-führung von Kombilöhnen mit einer Absenkung des Sozial-hilfeniveaus (z.B. für erwerbsfähige Empfänger) verknüpftwürde. Der Angebotsdruck würde sich für die Hilfeempfän-ger noch mehr erhöhen, und es wären Mittel für die Finan-zierung verbesserter Anrechnungsbedingungen frei. Wach-sende Armutsrisiken müssten aber bei dieser Variante in Kaufgenommen werden.

Generell unterstellen Vorschläge zur Verbesserung der Zu-verdienstmöglichkeiten von Sozialhilfeempfängern, dass weilder Abstand zwischen Lohn einerseits und Transferleistungandererseits zu gering sei, niedrig entlohnte Beschäftigungerst gar nicht entstehen bzw. sich nicht weiter aufbauen kön-ne. Diese Annahme ist nur bedingt zutreffend. Neuere Be-rechnungen zeigen, dass der Lohnabstand bei Alleinste-henden noch immer erheblich ist, bei größeren Haushalten(Alleinerziehende und Ehepaare mit jeweils mehr als einem

Kind unter 18 Jahren) aber sehr niedrig ausfallen kann. Vonden 1,26 Mill. Bedarfsgemeinschaften mit Haushaltsvorstandfielen aber 1999 lediglich 242 000 (94 000 Ehepaare und148 000 weibliche Haushaltsvorstände mit jeweils mehr alseinem Kind unter 18 Jahren) in diese letztgenannte Kate-gorie. Das wären demnach nicht einmal ganz 20% der So-zialhilfe beziehenden Bedarfsgemeinschaften. Für diesenvon seiner quantitativen Bedeutung häufig eher über-schätzten Personenkreis dürfte insbesondere die Verfüg-barkeit bezahlbarer Kinderbetreuungseinrichtung über denUmfang ihrer Erwerbstätigkeit entscheiden.

Kombilöhne als Einstiegshilfe: Erste Erfahrungenim Zuge von Modellversuchen

Während Kombilohnarrangements mit unbefristeter Aus-richtung sei es in Form von Sozialversicherungszuschüs-sen oder auch verbesserter Zuverdienstmöglichkeiten of-fenbar eine Reihe von Haken und Ösen aufweisen, könnteman alternativ auch an befristete Formen des Kombilohnsdenken. Solche auf Wiedereingliederung zielende Ansätzegewinnen in der jüngsten arbeitsmarktpolitischen Praxis zu-nehmende Bedeutung.

Herauszuheben ist dabei zum einen eine im Sonderpro-gramm des Bundes »Chancen und Anreize zur Aufnahmesozialversicherungspflichtiger Beschäftigung« (CAST) er-probte Variante des bereits erwähnten Mainzer Modells unddie in einigen Regionen eingesetzten Arbeitnehmerzuschüssenach BSHG (z.B. das sog. »Einstiegsgeld«).

Das CAST-Variante des Mainzer Modells wird seit Juli 2000in den beiden brandenburgischen Arbeitsamtsbezirken Ebers-walde und Neuruppin sowie in vier Arbeitsamtsbezirken inRheinland-Pfalz (Koblenz, Mayen, Montabaur, Neuwied) er-probt. Es zielt zwar vorrangig auf (formal) gering Qualifizierteund Langzeiterwerbslose, nichtsdestotrotz ist die befristeteFörderung nicht auf diesen Personenkreis beschränkt. Vor-aussetzung ist vielmehr die Begründung eines tariflich bzw.ortsüblich vergüteten sozialversicherungspflichtigen Be-schäftigungsverhältnisses mit einer Arbeitszeit von mindes-tens 15 Stunden und einem Einkommen von 325 q bis ca.800 q. Bei Ehepaaren verdoppeln sich die untere und obe-re Einkommensgrenze. Erkennbare Akzeptanzprobleme ha-ben Mitte 2001 zu einer Modifikation der Förderkonditionen(insbesondere einer Verlängerung der Förderhöchstdauer von18 auf maximal 36 Monate) geführt, mit der Folge einer leich-ten Erhöhung der Förderzahlen. Von Juli 2000 bis Ende De-zember 2001 gab es in den beteiligten Arbeitsamtsbezirken838 Bewilligungen, zum Stichtag Ende Dezember wurden inder Statistik 526 Förderfälle gezählt.

Wenngleich seit der Richtlinienänderung zum 1. Mai 2001eine leichte Zunahme der Inanspruchnahme beim Mainzer

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Modell festzustellen ist, bleibt die Inanspruchnahme insbe-sondere in Ostdeutschland hinter den ursprünglichen Er-wartungen weit zurück. Anscheinend sind die neuen Bundes-länder nicht zuletzt aufgrund des breiten Einsatzes alternati-ver Förderkonzepte nach SGBIII (z.B. diverse Lohnkosten-zuschüsse) kein gutes Pflaster für Kombilohnarrangements.

Nach dem BSHG können seit dem 1. August 1996 Sozial-hilfeempfänger, die eine Erwerbstätigkeit auf dem ersten Ar-beitsmarkt aufnehmen, einen befristeten Arbeitnehmerzu-schuss erhalten. Eine z.B. in verschiedenen Regionen Ba-den-Württembergs erprobte Variante ist das sog. »Ein-stiegsgeld«. Die Hilfeempfänger dürfen für einen Zeitraumvon zwölf Monaten (teilweise auch 18 Monate) bis zu 50%des zuverdienten Erwerbseinkommens behalten. Die Inan-spruchnahme dieses und anderer ähnlich gelagerter För-derkonzepte in anderen Bundesländern liegt bei gegenwärtigrund 1 000 Förderzugängen.

Von der Politik favorisiert wird gegenwärtig das Mainzer Mo-dell. Ab 1. Januar 2002 wurde es auf ganz Rheinland-Pfalzausgedehnt, vorgesehen ist inzwischen eine darüber hin-ausgehende Ausweitung auf das gesamte Bundesgebiet abdem 1. April 2002. Eine Analyse der Inanspruchnahme unter-schiedlicher Kombilohn-Modelle in Deutschland ist kürzlichzu dem Schluss gekommen, dass eine Ausweitung desMainzer Modells auf der Basis der Inanspruchnahme inRheinland-Pfalz zu bundesweit jährlich rund 34 000 För-derfällen führen könnte (Kaltenborn 2001). Angesichts derhohen Arbeitslosigkeit in Deutschland würde es sich damitum einen eher bescheidenen Beitrag zur Verbesserung derBeschäftigungsprobleme handeln. Eine der offenen Fragenist dabei, inwieweit der im Wesentlichen als Teilzeitförderungzu betrachtende, befristete Sozialversicherungszuschuss ei-nen realistischen Weg aus der Arbeitslosigkeit ebnen kann.Zudem sind die geschätzten 34 000 Förderfälle allenfallsals Obergrenze des möglichen Arbeitsmarkteffektes zu se-hen. Vor zu großen Erwartungen und einem eventuell über-zogenen Mitteleinsatz ist vor allem deshalb zu warnen, weilsich auch bei dieser Fördervariante ähnlich wie bei arbeit-geberseitigen Lohnkostenzuschüssen die Nettobeschäfti-gungseffekte in engen Grenzen halten werden. Aufgrund vonMitnahmeeffekten (z.B. weil Arbeitslose eventuell auch oh-ne Förderung Beschäftigung gefunden hätten), Substitu-tionseffekten (z.B. weil geförderte Personen nicht-Geförderteverdrängen können) und Crowding-out-Effekten (z.B. weildie dafür eingesetzten finanziellen Mittel auch anderweitighätten eingesetzt werden können) dürfte der Zusatzeffektniedriger ausfallen als die Zahl der Förderfälle.

Fazit

Eine stärkere Lohndifferenzierung kann zur Erschließungarbeitsintensiver Produkte und Dienste beitragen. Würde

diese realisiert, könnten sich zumindest für den leistungsfä-higeren Teil der wettbewerbsschwächeren Arbeitnehmer Ein-stiegs- und Dauerpositionen ergeben. Gleichzeitig soll aber– anders als in den USA – Niedriglohnarmut unter Gering-verdienern vermieden sowie fiskalische Risiken mit Blickauf die mittel- und längerfristig notwendige Konsolidierungöffentlicher Haushalte erst gar nicht entstehen. Dadurchkommt es zu einem nur schwer auflösbaren Zielkonflikt:Großzügige Hilfe- und Lohnersatzleistungen auf der einenSeite und wirksame Arbeitsanreize auf der anderen Seitesind mit Blick auf die Erschließung eines niedrig produkti-ven Beschäftigungssektors inkompatible Ziele.

Während daher vor dem Einstieg in eine flächendeckendeund massive Lohnsubventionierung bei einem ansonstenunveränderten Steuer- und Transfersystem angesichts dervorliegenden Erkenntnisse nur eindringlich gewarnt wer-den muss, sind befristete Eingliederungshilfen für Arbeit-nehmer schwerer zu beurteilen. Solche Zuschüsse könnenals Ergänzung oder Alternative zu anderen auf Wiederein-gliederung zielenden Instrumenten wie z.B. ABM oder LKZgesehen werden. Die finanziellen Mittel dafür wären gut an-gelegt, wenn sich Arbeitnehmer mit Aufnahme einer Be-schäftigung aus der Abhängigkeit von Lohnersatzleistungenbefreien könnten. Dies setzt Einkommenssteigerungen (wiehöhere Stundenlohnsätze oder eine Ausweitung der Ar-beitszeit) voraus, die den Wegfall der Lohnsubventionen nachEnde der Förderdauer kompensieren können. Die laufendenEvaluationen werden zeigen, ob dies für geförderte Arbeit-nehmer eine realistische Perspektive ist. Hoffnung in dieserHinsicht machen neuere Längsschnittuntersuchungen zurLohnmobilität in Westdeutschland, wonach die Chancen fürGeringverdiener im Zeitraum 1984 bis 1996 zugenommenhaben, das unterste Einkommenssegment zu verlassen (vgl.Kaltenborn und Klös 2000).

Literatur

Bassanini, A., J.H. Rasmussen und S. Scarpetta (1999), »The Economic Ef-fects of Employment-Conditional Income Support Schemes for the Low-Paid:An Illustration from a CGE Model applied to four OECD Countries«, WorkingPapers No. 224, Paris: OECD, Economics Department. Kaltenborn, B. (2001), »Kombilöhne in Deutschland – Eine systematischeÜbersicht«, IAB Werkstattbericht Nr. 14 / 5.12.Kaltenborn, B. und H.-P. Klös (2000), »Arbeitsmarktstatus- und Lohnmobi-lität in Westdeutschland 1984/86«, iw-trends (2).

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Zur Diskussion gestellt

Negative Anreize in wesentlichen Einkommensbereichen

Seit zwei Jahrzehnten ist Deutschland von Massenarbeits-losigkeit betroffen. Zwar sind die Arbeitslosenzahlen in denletzten Jahren leicht rückläufig gewesen, doch wird für dasJahr 2002 ein durchschnittlicher Wert von 4 Mill. Arbeitslo-sen prognostiziert. Der Anteil der Langzeitarbeitslosen an al-len Arbeitslosen ist deutlich höher als noch Anfang der neun-ziger Jahre. Im September 2001 betrug er 33,5%. Insbe-sondere gering Qualifizierte und Ältere sind überdurch-schnittlich von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen. Mit zu-nehmender Dauer der Arbeitslosigkeit wird es für sie immerschwieriger einen Arbeitsplatz zu finden.

Die Ursachen für die hohe Arbeitslosigkeit sind vielschich-tig. Eine Ursache besteht in einem teilweise leistungsfeind-lichen Transfersystem. Insbesondere fehlen aufgrund derweitgehenden Anrechnung von eigenem Erwerbseinkom-men auf die Arbeitslosen- und Sozialhilfe Arbeitsanreize fürTransferempfänger (Arbeitslosen- und Sozialhilfefalle). MitKombieinkommen und Kombilöhnen, die seit Ende der neun-ziger Jahre auch in Deutschland erprobt werden, sollen An-reize geschaffen werden, niedrig entlohnte Arbeitsplätze zubesetzen, neue Arbeitsplätze zu schaffen und die relative At-traktivität von Schwarzarbeit zu senken. Kombieinkommenrichten sich in erster Linie an Personen, deren Arbeitspro-duktivität nicht ausreicht, um mit ihrem Erwerbseinkom-men auf Anhieb den Sprung über die Transferschwelle zuschaffen.

Das Bundeskabinett hat jüngst die Richtlinien zur bundes-weiten Einführung des so genannten Mainzer Modells ab

März 2002 beschlossen. Danach sollen Bezieher von nied-rigen Erwerbseinkommen bei Neuaufnahme einer sozial-versicherungspflichtigen Beschäftigung auf drei Jahre be-fristet Zuschüsse zu ihren Sozialversicherungsbeiträgen undzum Kindergeld erhalten. Die bundesweite Regelung orien-tiert sich am Mainzer Modell, das bisher im Modellversuchin Rheinland-Pfalz und in Brandenburg getestet wird. Aller-dings nehmen die Zuschüsse, anders als im Modellversuch,nicht linear, sondern in Stufen ab. Ferner werden die Zu-schüsse nicht auf die Sozialhilfe angerechnet.

Wie groß sind die Beschäftigungseffekte, die vom MainzerModell zu erwarten sind? In welchem Verhältnis stehen zu-sätzliche Beschäftigung und Kosten? Besteht eine Chancezur dauerhaften Integration von Arbeitslosen in Beschäfti-gung? Und wie steht es mit den Aussichten für Transfer-empfänger, die Arbeitslosen- und Sozialhilfe auf längere Sichtganz zu überwinden?

Ziele

Es ist zu beachten, dass zwei verschiedene Ziele in der Dis-kussion um die Einführung von Kombieinkommen klar von-einander getrennt werden sollten:

1. Die Schaffung von Arbeitsanreizen für langzeitarbeitslo-se Transferempfänger durch Beseitigung von Arbeitslo-senhilfe- und Sozialhilfefallen.

2. Die Schaffung eines dauerhaft subventionierten Niedrig-lohnsektors durch eine allgemeine Subventionierung vonniedrigen Erwerbseinkommen.

Während Zuschüsse für Geringverdiener, wie jetzt durchdie Bundesregierung mit der bundesweiten Einführung desso genannten Mainzer Modells beschlossen, eher der Ein-führung eines generellen staatlich unterstützten Niedrig-lohnsektors dienen können, ist eine vorübergehende Ab-senkung der Transferentzugsrate für spezielle Zielgruppen,wie sie im Rahmen des Modellversuchs »Einstiegsgeld inBaden-Württemberg« derzeit erprobt wird, besser geeignet,nachhaltige Arbeitsanreize für Transferempfänger zu schaf-fen und Mitnahmeeffekte zu vermeiden.

Entsprechend muss bei der Bewertung verschiedener Mo-delle von Kombieinkommen beachtet werden, welches Zielsie im Wesentlichen verfolgen. Eine allgemeine Kombiein-kommens- und Niedriglohnstrategie kann nur dann erfolg-reich sein, wenn sie auch Arbeitsanreize für Transferemp-fänger setzt. Sie kann sich jedoch nicht nur auf besondersarbeitsmarktferne Zielgruppen, wie beispielsweise langzeit-arbeitslose Sozialhilfeempfänger, beschränken. Daher ist ei-ne allgemeine Kombieinkommens- und Niedriglohnstrate-gie aber immer mit dem Risiko von Mitnahmeeffekten be-

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Sabine Dann* Martin Rosemann*

* Sabine Dann und Martin Rosemann sind wissenschaftliche Referenten amInstitut für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) in Tübingen. Die Au-toren danken Andrea Kirchmann, Harald Strotmann und Jürgen Volkert fürwertvolle Hinweise.

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Zur Diskussion gestellt

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haftet, die nur durch besonders hohe Beschäftigungseffek-te gerechtfertigt werden können.

Arbeitsanreize und Beschäftigungseffekte

Mitnahmeeffekte spielen eine zentrale Rolle bei der Bewer-tung der Beschäftigungswirkungen von Kombieinkommen.Sie treten immer dann auf, wenn Personen eine Subven-tion erhalten, die auch ohne diese eine Beschäftigung auf-nehmen würden oder sogar bereits beschäftigt sind. Ob sichtrotzdem eine angemessene Kosten-Nutzen-Relation ergibt,ist insbesondere von der Arbeitsangebotsreaktion der Haus-halte auf die Subvention abhängig (Schneider 2002). ImExtremfall kann sich durch die Subvention für bestimmtePersonen sogar ein Anreiz ergeben, das Arbeitsangebot zureduzieren.

Schneider et al. (2000) haben Schätzungen für Ost-deutschland auf der Basis mikroökonometrischer Arbeits-angebotsmodelle durchgeführt. Untersucht wurden Kom-bilöhne und Kombieinkommen ohne Zielgruppenbindung,unter anderem das Mainzer Modell, wie es in Rheinland-Pfalz und Brandenburg bislang erprobt wurde. Dabei hatsich gezeigt, dass es im günstigsten Fall zu einer Nettozu-nahme der Beschäftigung von knapp unter 20 000 kommenwürde. Bezogen auf den Adressatenkreis – beim MainzerModell sind dies alle Personen, die entweder Sozialhilfe be-ziehen oder deren Einkommen unterhalb der Fördergrenzenliegt – ergibt sich eine Größenordnung von etwa 1%. Diesegeringen Arbeitsangebotswirkungen führen dazu, dass diefiskalischen Wirkungen negativ sind, da zahlreiche Perso-nen unterstützt werden, die auch ohne das Mainzer Modelleine Beschäftigung aufgenommen hätten. Für das MainzerModell wird daher eine Selbstfinanzierungsquote von nur9% geschätzt (Schneider 2002).

Die Arbeitsanreize beim Mainzer Modell sind aus zwei Grün-den gering:

1. Aufgrund des relativ großen Adressaten-kreises lässt sich nur ein vergleichsweise ge-ringer Subventionsbetrag pro Teilnehmer fi-nanzieren. Bei Konzepten mit engerer Ziel-gruppenbindung besteht bei gleichem Sub-ventionsvolumen ein Spielraum für stärkereArbeitsanreize. Damit kann ein relativ höhe-rer Arbeitsangebotseffekt erzeugt werden.Allerdings führt die Zielgruppenabgrenzungzu einer geringeren Reichweite des Instru-ments (Schneider 2002). Simulationsrech-nungen von Kempe und Schneider (2001)ergeben für das Einstiegsgeldkonzept vonSpermann (1996/2001) bei einer Absenkungder Transferentzugsrate auf 50% für alle ar-

beitslosen Sozialhilfeempfänger immerhin einen positivenPartizipationseffekt von 8,7%. Würde man das Mainzer Mo-dell auf arbeitslose Sozialhilfeempfänger beschränken, sokäme nur in 0,3% aller Haushalte eine zusätzliche Beschäf-tigung zustande (Schneider 2002). Auch dies macht diegeringen Arbeitsanreize des Mainzer Modells deutlich. Mit-nahmeeffekte können bei einer engen Zielgruppenbindungbesser begrenzt werden. Dies macht sich auch bei den fis-kalischen Nettoeffekten bemerkbar, die für Modelle mit ei-ner engen Zielgruppenbindung durchweg positiv sind (Kem-pe und Schneider 2001).

2. Die größten Hemmnisse zur Aufnahme gering bezahlterBeschäftigungsverhältnisse bestehen im Bereich der Sozi-alhilfe. Dabei spielt die Belastung mit Sozialversicherungs-beiträgen eine untergeordnete Rolle. Entscheidend ist dieleistungsfeindliche Anrechnung des Erwerbseinkommensauf die Sozialhilfe. Beim bisherigen Mainzer Modell verlas-sen Zuschussempfänger die Sozialhilfe zwar bereits bei ei-nem geringeren Einkommen als im Status quo, der Me-chanismus der Sozialhilfefalle bleibt aber grundsätzlich er-halten. Eine Subventionierung von Sozialversicherungs-beiträgen wie im Mainzer Modell geht an den Sozialhil-feempfängern weitgehend vorbei, solange die Nettoein-kommen durch die Zuschüsse zwar erhöht, jedoch weiter-hin nahezu vollständig auf den Sozialhilfeanspruch ange-rechnet werden.

Am Beispiel eines Paares mit zwei Kindern zeigt die Ab-bildung, wie sich das verfügbare Monatseinkommen in Ab-hängigkeit vom monatlichen Bruttoerwerbseinkommen fürverschiedene Kombieinkommensvarianten im Vergleichzum Status quo entwickelt. Dabei werden die durch-schnittlichen Regelsätze und Sozialhilfebedarfe des Jah-res 2001 für die alten Bundesländer zugrunde gelegt. Fürden Status quo gelten die Anrechnungsregelungen, wie siein Baden-Württemberg praktiziert werden. Für das Main-zer Modell werden die Zuschüsse gemäß den Richtlinien

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Zur Diskussion gestellt

zur bundesweiten Einführung des Mainzer Modells zu-grunde gelegt. Für das Einstiegsgeld wird eine Transfe-rentzugsrate von 50% angenommen, sofern sich ein Hil-feempfänger dadurch nicht schlechter stellt als im Statusquo. Einstiegsgeld wird so lange gezahlt, bis das Er-werbseinkommen die Sozialhilfeschwelle des Status quoübersteigt.2

Es ist zu erkennen, dass beim Mainzer Modell das Pro-blem der Sozialhilfefalle auch nicht dadurch gelöst werdenkann, dass, wie von der Bundesregierung jetzt beschlos-sen, die Zuschüsse von der Anrechnung auf die Sozialhil-fe ausgenommen werden. Dies hat nämlich zur Folge, dassdas verfügbare Einkommen für arbeitende Sozialhilfeemp-fänger ab einem bestimmten Bruttoeinkommen (737 p.) so-gar abnimmt. Sobald sie sich in der Sozialhilfefalle befinden,wird das zusätzliche Erwerbseinkommen voll auf die Sozi-alhilfe angerechnet. Die Summe aus eigenem Erwerbsein-kommen und ergänzender Sozialhilfe bleibt dann konstant.Gleichzeitig nehmen die Zuschüsse, die im Rahmen desMainzer Modells gezahlt werden, ab 737 p mit steigen-dem Bruttoerwerbsentgelt ab. Damit sinkt auch das ver-fügbare Einkommen. Es entsteht ein negativer Arbeitsan-reiz. Um das verfügbare Einkommen zu maximieren, ist esfür Sozialhilfeempfänger dann sinnvoll, weniger statt mehrzu arbeiten.

Dieser Effekt ließe sich weitgehend vermeiden, wenn die Zu-schüsse, die im Rahmen des Mainzer Modells gezahlt wer-den, mit einem Einstiegsgeld kombiniert würden. Dabei wirdangenommen, dass die Summe aus Nettoerwerbseinkom-men3 und Zuschüssen zu 50% auf die Sozialhilfe ange-rechnet wird. Die Abbildung verdeutlicht, dass sich für die-sen Fall positive Arbeitsanreize für Sozialhilfeempfänger er-geben, mit Ausnahme der Stellen, an denen die Zuschüs-se nach dem Mainzer Modell sprunghaft abnehmen. Die-ser Nachteil ließe sich vermeiden, wenn die Zuschüsse nichtwie von der Bundesregierung beschlossen in Stufen, son-dern linear abnehmen würden.

Auch die Kombination von Mainzer Modell und Ein-stiegsgeld weist an der Sozialhilfeschwelle eine extremeSprungstelle auf, weil das Einstiegsgeld nur solchen Be-schäftigten gewährt wird, bei denen auch im Status quonoch ein Sozialhilfeanspruch besteht. Der Vorteil des Ein-stiegsgeldes besteht aber darin, dass die Arbeitsanreizefür Transferempfänger bis zu dieser Schwelle über dengesamten Tarifverlauf positiv sind. Die Überwindung der

Sozialhilfe ist in der Regel ein Prozess, bei dem das er-zielte Einkommen mit zunehmender Beschäftigungsdau-er anwächst. Dieser Prozess wird durch das Einstiegsgeldbegünstigt, durch das jetzt von der Bundesregierung be-schlossene Zuschussmodell hingegen nicht. Die sprung-hafte Reduzierung des verfügbaren Einkommens beimEinstiegsgeld an der Transfergrenze selbst führt kaum zunegativen Anreizen, da ein Transferempfänger, der bereitseine solche Einkommenshöhe erreicht hat, weniger Pro-bleme haben dürfte, die Sozialhilfeschwelle zu übersprin-gen, sobald das auf ein Jahr befristete Einstiegsgeld aus-läuft. Der Befristung liegt insbesondere die Idee zugrun-de, dass ein schrittweiser Einstieg in den Arbeitsprozessmit einem Ansteigen der Produktivität und damit auch deserzielten Erwerbseinkommens verbunden ist. Außerdemsind die Mitnahmeeffekte um so geringer, je kürzer die Be-fristung ist.

Dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt?

Zur Untersuchung der Beschäftigungseffekte, die Kom-bieinkommen in der Realität mit sich bringen, sind die lau-fenden Modellversuche von zentraler Bedeutung. Dabei sollinsbesondere untersucht werden, ob durch die Einführungvon Kombieinkommen eine nachhaltige Integration in denArbeitsmarkt gelingen kann. Längerfristige Verbleibsanaly-sen liegen bisher noch zu keinem der in Deutschland er-probten Ansätze vor. Erste Analysen beim »Einstiegsgeldin Baden-Württemberg«4, das seit Ende 1999 in neun Mo-dellkreisen unter der wissenschaftlichen Begleitung desInstituts für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) Tü-bingen erprobt wird, haben jedoch gezeigt, dass von denbis März 2001 ausgeschiedenen Modellteilnehmern fast ei-nem Viertel der Sprung aus der Sozialhilfe durch eine Stei-gerung des Erwerbseinkommens gelungen ist. Weitere 17%gehen trotz Ablauf des Einstiegsgeldes weiterhin einer Be-schäftigung nach und beziehen noch ergänzende Sozial-hilfe. Es zeichnet sich ab, dass der schnelle Ausstieg ausder Sozialhilfe nicht allen Hilfeempfängern gleichermaßengelingt. Besonders erfolgreich waren bislang vor allem al-lein stehende Hilfeempfänger (Dann et al. 2002). Dies legtnahe, dass ökonomische Anreizinstrumente alleine nichtzwingend ausreichen, um Hilfeempfänger langfristig überdie Sozialhilfeschwelle zu heben. Vielmehr sind dazu flan-kierende Maßnahmen notwendig. Dazu gehören Qualifi-zierungsmaßnahmen aber auch Maßnahmen, die das so-ziale Umfeld der Transferempfänger berücksichtigen, wieinsbesondere Kinderbetreuung.

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2 Es wird von einem proportionalen Steuersatz von 20% ausgegangen. Fahrt-und Werbungskosten werden nicht berücksichtigt. Diese Vereinfachun-gen sind jedoch ohne Einfluss auf die zentralen Ergebnisse der Modell-rechnungen.

3 Das Nettoerwerbseinkommen ergibt sich aus dem Bruttoerwerbsein-kommen abzüglich Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen und zu-züglich der Kindergeldzahlungen.

4 Soziodemographische Merkmale und Tätigkeiten der Teilnehmer beim Main-zer Modell sind mit denen des Einstiegsgeldes vergleichbar, allerdingssind beim Mainzer Modell nicht nur langzeitarbeitslose Sozialhilfeempfän-ger vertreten, sondern auch Personen, die bereits vor Beginn der Förde-rung beschäftigt waren (Bittner et al. 2001).

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Zur Diskussion gestellt

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Fazit und Ausblick

Die Dimension zusätzlicher Beschäftigungspotentiale durcheinen so genannten Niedriglohnsektor in Deutschland istunklar. Aufgrund der wachsenden Zahl tariflich nicht ge-bundener Beschäftigungsverhältnisse sind auch inDeutschland ausgesprochene Niedriglöhne bereits heutekeine Seltenheit mehr. Eine Übertragung US-amerikani-scher Konzepte auf die deutsche Arbeitsmarkt- und Sozi-alpolitik ist nicht ohne weiteres möglich (Volkert 2002).Damit ist nicht ausgeschlossen, dass in Deutschland einegrößere Lohnspreizung in bestimmten Bereichen sinnvollist, die durch Kombieinkommensmodelle sozial abgefedertwerden kann.

Große Beschäftigungseffekte sind durch Kombieinkom-men nicht zu erwarten. Sie können einen kleinen Beitragzum Abbau der Massenarbeitslosigkeit leisten, wenn siegezielt Anreize zur Aufnahme einer Beschäftigung fürTransferempfänger setzen. Subventionen ohne Zielgrup-penbindung können aufgrund der erwarteten Mitnah-meeffekte zu hohen Kosten führen, denen nur unzurei-chende oder sogar negative Beschäftigungseffekte gegen-über stehen.

Das jetzt von der Bundesregierung beschlossene MainzerModell führt zu negativen Arbeitsanreizen in einem wesent-lichen Einkommensbereich. Nur ein Modell, das zu einerÜberwindung der Sozialhilfefalle führt, kann wirklich mehrArbeitsanreize für Transferempfänger setzen. Deshalb isteine temporäre Veränderung der Transferentzugsrate wiebeim Einstiegsgeld einer Zahlung von Zuschüssen wie beimMainzer Modell vorzuziehen. Auch eine Kombination ausbeidem ist denkbar. Es stellt sich jedoch die Frage, ob derErtrag den bürokratischen Aufwand rechtfertigt, der mit derZahlung von Zuschüssen nach dem Mainzer Modell ver-bunden ist.

Letztlich müssen sich die Beschäftigungseffekte von Kom-bilohnmodellen in der Realität beweisen. Die laufenden Mo-dellversuche sind noch nicht ausreichend evaluiert, um hier-zu abschließende Aussagen zu treffen. Die bundesweiteEinführung eines bestimmten Modells ist zum jetzigen Zeit-punkt daher fragwürdig. Der Vergleich der Modellversu-che, wie er auch von Seiten der Bundesregierung vorge-nommen wird, orientiert sich ausschließlich an absolutenTeilnehmerzahlen. Dies ist jedoch vor dem Hintergrund derunterschiedlichen Struktur und Größe der Zielgruppen inden verschiedenen Modellversuchen unzulässig. Nur eineUntersuchung mittels Kontrollgruppen kann garantieren,dass die Wirkung eines Modells auf die Beschäftigung unddie entstehenden Mitnahmeeffekte verlässlich festgestelltwerden können. Daher kann man auf die Ergebnisse derlaufenden Modellversuche und ihre wissenschaftliche Aus-wertung gespannt sein.

Literatur

Dann, S. et al. (2002): »Das Einstiegsgeld – eine zielgruppenorientierte ne-gative Einkommensteuer: Konzeption, Umsetzung und eine erste Zwi-schenbilanz nach 15 Monaten in Baden-Württemberg«, in: S. Dann, A. Kirch-mann, A. Spermann und J. Volkert (Hrsg.), Kombi-Einkommen – Ein Weg ausder Sozialhilfe?, (erscheint demnächst im Nomos-Verlag).Bittner, S. et al. (2001), Ein Jahr Erfahrungen mit dem arbeitsmarktpolitischenSonderprogramm CAST, 1. Zwischenbericht, September 2001, Hrsg. Bun-desministerium für Arbeit und Sozialordnung.Kempe, W. und H. Schneider (2001), »Lohn- und Einkommenssubventio-nen für Sozialhilfe- und Arbeitslosenhilfebezieher«, Wirtschaft im Wandel (16),415–423.Schneider, H. (2002), »Kombi-Einkommen: Arbeitsangebotseffekte mit undohne Zielgruppenbindung«, in: S. Dann, A. Kirchmann, A. Spermann, und J.Volkert (Hrsg.), Kombi-Einkommen – Ein Weg aus der Sozialhilfe?. (erscheintdemnächst im Nomos-Verlag).Schneider, H. et al. (2000), Die Effizienz der Arbeitsmarktpolitik in den neuenBundesländern – Eine Bilanz der Vergangenheit und Ansätze für künftigeReformen, IWH-Sonderheft 3, Halle (Saale).Spermann, A. (1996), »Das ›Einstiegsgeld‹ für Langzeitarbeitslose«, Wirt-schaftsdienst 76, 240–246.Spermann, A. (2001), »Negative Einkommensteuer, Lohnsubvention undLangzeitarbeitslosigkeit«, in: W. Albers, G. Krause-Jungk, K. Littmann, A.Oberhauser, D. Pohmer und K. Schmidt (Hrsg.), FinanzwissenschaftlicheSchriften 104, Frankfurt: Lang.Volkert, J. (2002), »Lohnabstandsgebot, Verpflichtung zur Arbeit und Sozial-hilfefallen«, in: S. Dann, A. Kirchmann, A. Spermann und J. Volkert (Hrsg.),Kombi-Einkommen – Ein Weg aus der Sozialhilfe?, (erscheint demnächst imNomos-Verlag).

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Die Beiträge sind auszugsweise in englischer Sprache im CESifo InternetForum auf unserer Website www.cesifo.de zu finden.

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Das Leipziger Modell: »Arbeit odernichts«

Wenn man auf die Homepage des Leip-zigers Betrieb für Beschäftigungsförde-rung (BfB) geht, so findet man nur nocheinen lapidaren Hinweis, dass aufgrundder Reorganisation und Neustrukturierungdes Betriebes die Internetseiten bis aufweiteres deaktiviert wurden. Deaktiviertwurden jedoch nicht nur einige Internet-seiten, sondern ein kommunales Be-schäftigungsprogramm, das bundesweitfür Schlagzeilen sorgte und in den neun-ziger Jahren viele Nachahmer fand. Mitdem Programm »Hilfe zur Arbeit« hatteLeipzig den ambitionierten Versuch unter-nommen, alle erwerbsfähigen Sozialhil-feempfänger aus der Sozialhilfe zu holenund eine neue Arbeit zu beschaffen. Auchwenn es die ursprüngliche Motivation war,die Ausgaben für die Sozialhilfe zu sen-ken, so beschritt Leipzig damit den Wegeiner kommunalen Beschäftigungsför-derung.

Das Leipziger Modell wurde 1995 aus derTaufe gehoben. Es sieht vor, jedem ar-beitsfähigen Sozialhilfeempfänger vomSozialamt eine Arbeitsmöglichkeit im städ-tischen »Betrieb für Beschäftigungsför-derung« (BfB) anzubieten. Lehnt der Hil-fesuchende ab, so wird ihm die Sozialhil-fe in drei Stufen gekürzt, bis sie schließ-lich ganz wegfällt. Nimmt der Hilfesu-

chende das Angebot dagegen an, wirdihm ein auf ein Jahr befristeter Zeitver-trag angeboten, der ihm ein Gehalt er-bringt, das zwar über dem Sozialhilfeni-veau liegt, jedoch nur etwa 80% desuntersten Tariflohnes im öffentlichenDienst entspricht. Nicht herangezogenwerden Personen, die selbst körperlichoder geistig arbeitsunfähig sind, Alleiner-ziehende, wenn dadurch die Erziehung ei-nes Kindes gefährdet ist oder wenn diekünftige Ausübung einer bisher überwie-gend ausgeübten Tätigkeit erheblich er-schwert wird.

Anders als beim Mainzer Modell entstehtim Leipziger Modell der Arbeitsanreiznicht durch das Versprechen, den Net-tolohn genügend weit über das Sozial-hilfeniveau hinaus anzuheben, sonderndurch die Androhung, die Sozialhilfe zustreichen, wenn man die Arbeit ablehnt.Bei diesem drastischen Vorgehen wen-det die Stadt Leipzig die im Bundesso-zialhilfegesetz vorgesehenen Richtlinienfür die Gewährung von Sozialhilfe kon-sequent an. So heißt es in §18 BSHG,dass darauf hinzuwirken ist, »dass derHilfesuchende sich um Arbeit bemühtund Arbeit findet. Hilfesuchende, die kei-ne Arbeit finden können, sind zur An-

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Nur mehr eine Nachbetrachtung?

Ronnie Schöb*

Kommunale Beschäftigungsgesellschaften:

Dieser Artikel möchte vor dem Hintergrund des gescheiterten Leipziger Modells und der ak-

tuellen Diskussion um den Kombilohn, der ja ebenfalls darauf abzielt, Sozialhilfeempfängern

wieder Arbeit zu beschaffen, die ökonomischen Aspekte einer kommunalen Beschäftigungs-

förderung durch die Einrichtung kommunaler Beschäftigungsgesellschaften beleuchten. Un-

tersucht werden die fiskalischen Anreize zur Einrichtung kommunaler Beschäftigungsge-

sellschaften, die das bestehende deutsche System der sozialen Grundsicherung geschaffen

haben sowie die arbeitsmarktpolitischen Konsequenzen.

Die Tatsache, dass das Leipziger Modell aufgrund von Betrugsvorwürfen, offenbar falschen

Abrechnungen mangelnder Finanzplanung des Betriebs für Beschäftigungsförderung in sei-

ner bisherigen Form nunmehr abgebrochen wird, bedeutet noch lange nicht das Aus für kom-

munale Beschäftigungsgesellschaften. In diesem Sinne ist diese Nachbetrachtung zugleich

ein Versuch, die Rolle abzustecken, die kommunale Beschäftigungsgesellschaften in einer

zukünftigen aktiven Arbeitsmarktpolitik, die das Ziel verfolgt, Sozialhilfe- und Arbeitslosen-

hilfeempfänger wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren, spielen können und sollten.

* PD Dr. Ronnie Schöb ist Lehrstuhlvertreter am Ins-titut für Volkswirtschaftslehre I, insbesondere Fi-nanzwissenschaft, an der Universität Magdeburgund wissenschaftlicher Referent am CESifo.

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Forschungsergebnisse

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nahme einer für sie zumutbaren Arbeitsgelegenheit ...verpflichtet.« Die den Kommunen zur Verfügung stehen-den Sanktionsmittel sind in §25 BSHG festgelegt: »Wersich weigert, zumutbare Arbeit zu leisten ..., hat keinen An-spruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt.« Die Sozialhilfe istdemnach als Hilfe zur Arbeit und nicht als Hilfe zum Mü-ßiggang angelegt. Die Stadt Leipzig hat dies auf einen Nen-ner gebracht: »Arbeit oder nichts«.

Im Rahmen des Modells wurde versucht, soweit als mög-lich, die Wünsche und Fähigkeiten der Hilfesuchenden zuberücksichtigen, doch die überwiegende Zahl der Tätig-keiten waren bislang Arbeiten, wie Brachflächen baufä-hig zu machen, Teiche zu entschlammen, oder Asbest-sanierungen vorzunehmen. Der BfB betreibt eine Wä-scherei, eine Druckerei, verschiedene Werkstätten undeine Baumschule. Ein Arbeitsplatz im BfB kostet die StadtLeipzig etwa das Dreifache des Sozialhilfesatzes. Dochsind mit diesen einmaligen Mehrkosten Einsparungen in-folge wegfallender Hilfebezieher aufzurechnen. Wer dieArbeitsaufnahme verweigerte, dem wurde die Sozialhilfegekürzt oder ganz gestrichen. Von den 1996 zur Arbeitaufgeforderten Personen entschieden sich 38% gegeneine Arbeit im BfB, in Jahr 1999 waren es durchschnitt-lich noch 17%, wobei bei dieser Zahl zu berücksichtigenist, dass viele nicht arbeitswillige potentielle Sozialhilfe-empfänger überhaupt keinen Antrag auf Sozialhilfe mehrstellten. Als Gründe für das Ausscheiden aus dem Hilfe-bezug werden häufig die Schwarzarbeit angeführt oderdie Unterstützung durch Angehörige. Vor die Wahl ge-stellt, im BfB zu arbeiten oder aber auf staatliche Unter-stützung zu verzichten, wurden für so manchen arbeits-fähigen Sozialhilfeempfänger nun aber auch niedrig ent-lohnte (Teilzeit-)Beschäftigungsverhältnisse, etwa imDienstleistungsbereich, interessant, die sich vorher auf-grund der hohen Transferentzugsraten bei der Sozialhil-fe finanziell nicht auszahlten.

Die langfristig bedeutsamste Einsparungdurch die »Hilfe zur Arbeit« entsteht der StadtLeipzig aber nicht durch die Ausscheider,sondern dadurch, dass die Beschäftigtendes BfB nach Ablauf des Jahresvertragesnicht mehr (oder zumindest nicht mehr indem Maße wie zuvor) die Gemeindekassebelasten. Die einjährige sozialversiche-rungspflichtige Beschäftigung im Rahmendes Modells sichert den ehemaligen Sozi-alhilfeempfängern Ansprüche auf die Leis-tungen der gesetzlichen Arbeitslosenversi-cherung. So erhält er zunächst für bis zu156 Kalendertage Arbeitslosengeld in Höhevon 60 bis 67% des Nettoarbeitsentgelts.Darauf folgt gegebenenfalls die Arbeitslo-senhilfe, die zwar an verschiedene Bedin-

gungen, wie etwa die Meldung beim Arbeitsamt oder dieVerfügbarkeit des Arbeitslosen zur Vermittlung geknüpft ist,aber ohne zeitliche Befristung zwischen 53 und 57% desNettoarbeitsentgelts ausmacht. Egal ob Arbeitslosengeldoder Arbeitslosenhilfe bezahlt wird, sobald die Hilfebedürf-tigen Ansprüche an das Sozialversicherungssystem stel-len können, wird der Gemeindehaushalt entlastet. Die ein-zige dauerhafte finanzielle Belastung, die der Kommune ver-bleibt, sind die ergänzenden Sozialhilfezahlungen, die zuzahlen sind, sofern die anderen Transferzahlungen nichtausreichen, das Existenzminimum des Arbeitslosen abzu-sichern.

Die fiskalische Seite

Die Ausgaben der Stadt Leipzig für einen in der Beschäf-tigungsgesellschaft tätigen ehemaligen Sozialhilfeempfän-ger sind im ersten Jahr in etwa dreimal so hoch wie die füreinen Sozialhilfeempfänger. Die langfristigen Vorteile erge-ben sich aus der Befristung der Arbeitsverhältnisse in derBeschäftigungsgesellschaft, denn nach der einjährigen Be-schäftigung hat der ehemalige Sozialhilfeempfänger An-spruch auf Arbeitslosenunterstützung und fällt der Ge-meinde nicht mehr zur Last. Den einmalig höheren Kos-ten im Jahr der Beschäftigung stehen demnach dauerhafteEinsparungen in der Sozialhilfe gegenüber, selbst wenn dieArbeitslosenunterstützung nicht ausreicht und die Entlas-senen einen Anspruch auf ergänzende Sozialhilfe haben.Tabelle 1 vergleicht die fiskalischen Sozialhilfezahlungen füreinen alleinstehenden, 25-jährigen Sozialhilfeempfängersowie einen verheirateten, 35-jährignen Sozialhilfeemp-fänger mit zwei Kindern mit den Belastungen, die entste-hen, wenn der Sozialhilfeberechtigte eine befristete Be-schäftigung in einer kommunalen Beschäftigungsgesell-schaft aufnimmt.

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Tab. 1Sozialhilfe versus Hilfe zur Arbeit (Ostdeutschland)

Alleinlebend,25 Jahre

Verheiratet, 35Jahre, 2 Kinder

Jährliche Sozialhilfe 10 020 22 572

Beschäftigung in kommunaler Be-schäftigungsgesellschaft im erstenJahr

30 120 38 268

Mehrkosten im ersten Jahr 20 100 15 696

Folgejahre: ergänzende Sozialhilfep.a.

318 8 892

Einsparungen in den Folgejahren p.a. 9 702 13 680

Legende: Die Sozialhilfe entspricht der zu zahlenden jährlichen Hilfe zumLebensunterhalt in den neuen Bundesländern. Die Kosten einer Beschäfti-gung entsprechen 80% des Tarifentgelts BMT-G Lohngruppe 1. Die ergän-zende Sozialhilfe ist für den Fall zu zahlen, dass der Beschäftigte nach demJahr arbeitslos wird und AFG-Leistungen erhält.Quelle: Deutscher Bundestag, Drucksache 13/10759 vom 22. Mai 1998,Tabelle 29. Die Angaben wurden in Euro umgerechnet.

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55. Jahrgang – i fo Schne l ld ienst 4/2002

Forschungsergebnisse

Bei einem Alleinverdiener übersteigt der von der Kommunezu zahlende Bruttolohn in der kommunalen Beschäfti-gungsgesellschaft die Sozialhilfeausgaben für einen Sozial-hilfeempfänger um 200%. Für die Kommune kommen alsoim ersten Jahr rund 10 000 p Mehraufwendungen für denbetreffenden Sozialhilfeempfänger hinzu. Dafür spart sie sichab dem zweiten Jahr die Sozialhilfe fast vollständig. Die Aus-gaben für einen Beschäftigten entsprechen für einen Zeit-raum von drei Jahren den Ausgaben für die entsprechendeSozialhilfe. Bei einem verheirateten Sozialhilfeempfängerkommt es im gleichen Zeitraum bereits zu Nettoeinspa-rungen.

Dabei unterschätzen die zwei Modellrechnungen der Ta-belle 1 das tatsächliche Einsparungspotential, denn sie be-rücksichtigen nicht die Einsparungen, die sich daraus er-geben, dass ein gewisser Prozentsatz der aufgefordertenSozialhilfeempfänger eine Arbeit in der kommunalen Be-schäftigungsgesellschaft ablehnt und dementsprechend Kür-zungen bei der Sozialhilfe hinnehmen muss. Würden wie inLeipzig ein Drittel der Sozialhilfeempfänger lieber aus der So-zialhilfe ausscheiden, als das sie eine Arbeit annehmen, soamortisieren sich die Mehrkosten des ersten Jahres schonin deutlich weniger als zwei Jahren.

Neben den Einsparungen bei der Sozialhilfe ist schließlichauch noch die Wertschöpfung in der kommunalen Be-schäftigungsgesellschaft mit in die Rechnung einzubezie-hen. Sanierungsarbeiten, Verschönerungen der Parkanla-gen und der Bau von Spielplätzen sind in der kommunalenKosten-Nutzen-Rechnung mit Marktpreisen bewertet an-zusetzen.

Gegeben die Vor- und Nachteile kommunaler Beschäfti-gungsgesellschaften, stellt sich die Frage, auf welche Artund Weise eine Kommune wie Leipzig einekommunale Beschäftigungsgesellschaft be-treiben sollte. Natürlich lohnt es sich für dieKommune, die Beschäftigungsgesellschaftzunächst einmal als Verschiebebahnhof zubetreiben, auf dem Sozialhilfeempfänger indie Sozialversicherung abgeschoben wer-den. Dies gilt selbst dann, wenn die Arbeitin der Beschäftigungsgesellschaft völlig un-produktiv ist. Doch was soll mit der kom-munalen Beschäftigungsgesellschaft pas-sieren, nachdem alle Sozialhilfeempfänger ei-nen befristeten Vertrag erhalten haben undnach einem Jahr als Arbeitslosengeldemp-fänger wieder ausgeschieden sind? Lang-fristig lohnt es sich für die Kommune, diekommunale Beschäftigungsgesellschaft wieein privates Unternehmen zu führen, das ge-nau das Beschäftigungsniveau wählt, beidem ein zusätzlicher Arbeiter die Beschäfti-

gungsgesellschaft genau so viel kostet, wie er erwirtschaf-tet. Dabei kann sich die Kommune allerdings den Vorteil nut-zen, dass sie anders als private Unternehmen Löhne zah-len kann, die weit unter dem Tariflohn liegen.

Die langfristigen jährlichen Einsparungen, die sich für eineKommune ergeben können, die eine kommunale Beschäf-tigungsgesellschaft gründet und weiter betreibt sind in Ab-bildung 1 systematisch dargestellt.

Ohne Beschäftigungsgesellschaft muss Sozialhilfe an alleSozialhilfeberechtigten bezahlt werden. Die Gesamtausga-ben entsprechen der Zahl der Hilfeempfänger multipliziertmit dem Sozialhilfesatz FE. Dies entspricht der Fläche 0EFK.Betriebswirtschaftlich lohnend ist es, dauerhaft 0B Arbeiterin der Beschäftigungsgesellschaft zu beschäftigen, da beidiesem Beschäftigungsniveau die Wertschöpfung des letz-ten noch eingesetzten Arbeiters genau seinen Lohnkostenentspricht. Bei dem Beschäftigungsniveau 0B erwirtschaf-tet die Beschäftigungsgesellschaft einen Überschuss in Hö-he AB0.

Der Teil BD der ehemaligen Sozialhilfeempfänger wurdedurch die kurzfristige Beschäftigung in den Vorjahren indie Sozialversicherung abgeschoben und erhält nun dievon der Sozialversicherung oder vom Bund zu zahlendeArbeitslosenunterstützung. Abstrahiert man vereinfachendvon ergänzenden Sozialhilfezahlungen, so spart die Kom-mune durch die Abschiebung dieser Sozialhilfeempfän-ger in die gesetzliche Arbeitslosenversicherung jährlichAusgaben in Höhe der Fläche BDGI. Der Teil DE der So-zialhilfeempfänger verzichtet auf Sozialhilfe. Ihr Aus-scheiden entlastet die Gemeindekasse jährlich um einenweiteren Betrag in Höhe der Fläche DEFG. Die dauerhaftejährliche Gesamteinsparung gegenüber dem reinen So-zialhilfesystem beträgt für die Gemeinde somit ABEFK.

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Abb. 1

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Forschungsergebnisse

i fo Schne l ld ienst 4/2002 – 55. Jahrgang

Dieser Betrag übersteigt die gesamten bisherigen Sozi-alhilfeaufwendungen 0BA, d.h. das für andere kommu-nale Ausgaben zur Verfügung stehende Budget steigt umden in der Beschäftigungsgesellschaft erwirtschaftetenÜberschuss.

Aus Sicht einer einzelnen Kommune hat die Entscheidung,eine Beschäftigungsgesellschaft zu gründen, kaum Einflussauf den pauschal gewährten Bundeszuschuss, denn diedurch sie verursachten Kürzungen beim Bundeszuschusswerden auf alle Gemeinden gleichmäßig verteilt. Wenn aberalle Kommunen Beschäftigungsgesellschaften gründen,dann werden langfristig die Bundeszuschüsse genau in demUmfang sinken, in dem die Ausgaben der Bundesanstaltfür Arbeit ansteigen, d.h. der Zuschuss sinkt um die derBundesanstalt für Arbeit aufgebürdeten Mehrkosten im Um-fang BDGI.

Das ändert jedoch nichts an den Anreizen für die einzelneKommune. Trotz des geringeren Bundeszuschusses bleibtdie kommunale Beschäftigungsgesellschaft für die Kom-mune lohnend, da ihr die jährliche Nettoeinsparung aufgrunddes Aussortierungseffekts DEFG bleibt und die 0B dauer-haft beschäftigten ehemaligen Sozialhilfeempfänger einenÜberschuss von 0BA erwirtschaften. Insgesamt beträgt derEntlastungseffekt damit mindestens ABIK + DEFG. In die-sem Umfang tragen kommunale Beschäftigungsgesell-schaften gesamtwirtschaftlich dazu bei, die öffentlichenHaushalte zu entlasten.

Gegenüber dem bestehenden System der Sozialhilfe ist daseine klare Verbesserung. Effizient ist das System jedoch nochlange nicht. Im bestehenden System haben die Kommu-nen einen Anreiz, zu viele Sozialhilfeempfänger in die ge-setzliche Arbeitslosenversicherung abzuschieben und lang-fristig zu wenigen arbeitsfähigen und -willigen Sozial-hilfeempfängern in Beschäftigungsgesellschaften Arbeit zugeben.

Würden die Gemeinden nicht wie bisher nur zur Zahlungder Sozialhilfe, sondern auch – bei entsprechend höhe-rem Zuschuss des Bundes – zur Zahlung der Arbeitslo-senunterstützung herangezogen, dann würde sich das Kal-kül jeder einzelnen Gemeinde ändern. In diesem Fall wür-de eine Kommune das Beschäftigungsniveau dauerhaftnur auf ein Niveau 0C zurückfahren, bei dem die Netto-kosten eines zusätzlichen Arbeiters gerade der einge-sparten Sozialhilfeleistung entsprechen. Die verbliebenenCD Sozialhilfeberechtigten, die nicht auf ihren Anspruchverzichtet haben und grundsätzlich zur Arbeit in der Be-schäftigungsgesellschaft bereit sind, erhalten weiterhin ih-re Sozialhilfeleistung.

Im Vergleich zu einer kommunalen Beschäftigungsgesell-schaft im bestehenden System werden zusätzlich BC Ar-

beiter beschäftigt. Diese erhaltene keine Sozialhilfe mehr,was zu Einsparungen von BCHI führt. Da die Bruttolöhnebei dieser Gruppe von Arbeitern das Grenzprodukt der Ar-beit jedoch übersteigen, entstehen der Gemeinde zusätzli-che Kosten aus der Beschäftigungsgesellschaft in Höhe derFläche BCH. Bei einer »Sozialhilfe aus einer Hand« stellt sichder Fiskus gegenüber der Gründung von Beschäftigungs-gesellschaften im bestehenden deutschen System der so-zialen Grundsicherung – über die Einsparung DEFG hinaus– um den Betrag BHI, der der blauen Fläche entspricht, bes-ser. In diesem Umfang sinken die gesamtwirtschaftlichenKosten der Sozialhilfe.

Die Gründung von kommunalen Beschäftigungsgesell-schaften kann also nur ein erster Schritt bei der Reform dersozialen Sicherung sein. Bei der bestehenden Verteilung derLasten verbleiben zu viele Anspruchsberechtigte im klassi-schen System der sozialen Sicherung, das anstelle des Ar-beitens das Nichtstun belohnt und zugleich im umfangrei-chen Maße Humankapital vernichtet. Eine Zusammenlegungvon Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe, wie sie gegenwärtigwieder in der Diskussion steht, würde die öffentliche Be-schäftigungsgesellschaften jedoch fiskalisch noch attrakti-ver machen und weitere dauerhafte Arbeitsplätze schaffen.Wer diese Beschäftigungsgesellschaften betreibt, hängtdann jedoch davon ab, wer die integrierte Leistungen ver-waltet.

Arbeitsmarktpolitische Konsequenzen

Die bisherige Diskussion hat gezeigt, dass die einzelne Kom-mune alleine aus fiskalischen Erwägungen heraus einen An-reiz hat, arbeitsmarktpolitisch tätig zu werden. Im Folgen-den wenden wir uns der Frage zu, welche Konsequenzeneine bundesweite Ausweitung des Leipziger Modells für dendeutschen Arbeitsmarkt hätte.

Laut Statistischem Bundesamt erhielten im Jahr 2000 et-wa 2,7 Mill. Empfänger in Deutschland im Rahmen der So-zialhilfe finanzielle Hilfe zum Lebensunterhalt. Eine Entlas-tung der kommunalen Sozialhilfekassen durch die Be-schäftigung von Sozialhilfeempfängern in kommunalen Be-schäftigungsgesellschaften ist jedoch nur in dem Maße mög-lich, als die Sozialhilfeempfänger grundsätzlich als arbeits-fähig eingestuft werden können. Eine Schätzung des Ar-beitskräftepotentials der Sozialhilfeempfänger Ende 1999zeigt, dass etwa ein Drittel der Sozialhilfeempfänger für dasHilfe zur Arbeit Programm in Frage kommen. Tabelle 2 lis-tet die Ausschlussgründe und deren zahlenmäßige Bedeu-tung auf.

Das Arbeitskräftepotential der Sozialhilfeempfänger liegt al-so bei etwa 870 000. Geht man davon aus, dass von dereinen Mill. erwerbsfähigen Sozialhilfeempfänger etwa ein

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Forschungsergebnisse

Viertel lieber aus der Sozialhilfe ausscheidet, als dass es inkommunalen Beschäftigungsgesellschaften arbeitet, so ver-bleibt ein effektives Arbeitsangebot von ca. 650 000 So-zialhilfeempfänger.

In Abbildung 2 wird der Arbeitsmarkt für geringqualifizierteArbeitskräfte dargestellt. Die fallende Arbeitsnachfragekur-ve gibt die Grenzproduktivität der Arbeit in Abhängigkeit vonder Beschäftigung an. Bei dem durch die Tarifparteien fest-gesetzten Tariflohn, der entsprechend dem Lohnabstands-gebot oberhalb des Sozialhilfesatzes liegen muss, werdengerade einmal B0 Arbeiter beschäftigt. Wie oben angeführtstehen jedoch mindestens 650 000 arbeitsfähige Sozialhil-feempfänger dem Arbeitsmarkt zur Verfügung, finden jedochzum gegebenen Tariflohn keine Arbeit auf dem freien Ar-beitsmarkt. Entsprechend übersteigt das Arbeitsangebot dierealisierte Beschäftigung B0.

Kommunale Beschäftigungsgesellschaftenkönnen nun Sozialhilfeempfänger einstellenund, anders als private Unternehmen, unter-halb des Tariflohns bezahlen. Da die Arbeits-nachfrage der kommunalen Beschäftigungs-gesellschaften jedoch nur ein Teil der ge-samtwirtschaftlichen Arbeitsnachfrage aus-macht, verläuft die effektive Arbeitsnachfra-gekurve unterhalb des Tariflohns (rechts vonPunkt C) steiler als die gesamtwirtschaftliche.Zahlen die kommunalen Beschäftigungsge-sellschaften beispielsweise einen Lohn, dergenau der Sozialhilfe entspricht, so würdendie kommunalen Beschäftigungsgesellschaf-ten im gegenwärtigen System der sozialen Si-cherung langfristig B1 – B0 Sozialhilfeempfän-ger beschäftigen. Bei B1 entspricht der Sozi-alhilfesatz gerade dem Grenzprodukt der Ar-beit eines Sozialhilfeempfängers.

Das System der kommunalen Beschäftigungsgesellschaf-ten ist damit jedoch noch lange nicht kosteneffizient. ZurErinnerung: Aus gesamtfiskalischer Sicht betragen die Op-portunitätskosten der Beschäftigung Null. Solange ein So-zialhilfeempfänger noch einen positiven Beitrag zu seinemEinkommen beiträgt, reduziert sich aus Sicht der öffentlichenHand die Ausgaben der Sozialen Sicherung. Fiskalisch op-timal wäre es demnach, das Beschäftigungsniveau B2 zu re-alisieren. Eine Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe undSozialhilfe würde den Anreiz für die Kommunen stärken, überB1 hinweg die Beschäftigung in kommunalen Beschäfti-gungsgesellschaften auszuweiten.

Doch die Ausweitung die Beschäftigung durch die Be-schäftigung von Sozialhilfeempfängern in kommunalen Be-schäftigungsgesellschaften schöpft nicht sämtliche Vor-

teile des Beschäftigungszuwachses aus.Dies kann man in Abbildung 2 erkennen,wenn man sich das mit dem Beschäfti-gungsanstieg mögliche zusätzliche Sozial-produkt ansieht, das durch die jeweiligenFlächen unterhalb der Arbeitsnachfrage-kurven bestimmt wird. Würde der Beschäf-tigungszuwachs B1 – B0 beispielsweisedurch eine Tariflohnsenkung erreicht, so be-trüge der Zuwachs an SozialproduktCFB1B0. Durch die Beschäftigung dieserB1 – B0 zusätzlichen Arbeiter in kommuna-len Beschäftigungsgesellschaften lässt sichdas Sozialprodukt hingegen nur um CHB1B0

steigern, d.h. das Sozialprodukt ist um CFHkleiner als bei einem effizienten Einsatz derArbeit.

Dieser effiziente Beschäftigungszuwachslässt sich beispielsweise durch eine Lohn-

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Tab. 2Arbeitskräftepotential der Sozialhilfeempfänger

Sozialhilfeempfänger im engeren Sinn 2 792 000 100%

davon sind im erwerbsfähigen Alter(15-59)

1 460 000 52,3%

- nicht erwerbsfähig wegen häusli-cher Bindung

- 276 000 9,9%

- nicht erwerbsfähig wegen Krank-heit, Behinderung oder Arbeits-unfähigkeit

- 121 000 4,3%

= Arbeitskräftepotential (brutto) 1 063 000 38,1%

- Erwerbstätige in Voll- oder Teil-zeit

- 145 000 5,2%

- nicht erwerbstätig wegen Aus-oder Fortbildung

- 52 000 1,9%

= Arbeitskräftepotential (netto) 867 000 31,1%

Quelle: Statistisches Bundesamt (2001, S. 379).

Abb. 2

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Forschungsergebnisse

i fo Schne l ld ienst 4/2002 – 55. Jahrgang

subvention erreichen, die den von den Arbeitgebern zu zah-lenden Bruttolohn absenkt. Um die Beschäftigung auf B1

auszudehnen, müsste eine Lohnsubvention in Höhe vonDF bezahlt werden. Dem dadurch erzielten Effizienzgewinnvon CFH in Form eines höheren Sozialprodukts stehen je-doch staatliche Aufwendungen in Höhe von ADFE gegen-über, die der Staat für eine umfassende Lohnsubvention auf-bringen müsste.

Vergleicht man die Kosten einer Lohnsubvention mit derfür eine kommunale Beschäftigungsgesellschaft, so zeigtsich, dass die Beschäftigungsausweitung durch die kom-munale Beschäftigungsgesellschaft den Fiskus billigerkommt. In beiden Fällen, bei der kommunalen Beschäfti-gungsgesellschaft wie auch bei einer Lohnsubvention, ver-bunden mit der Androhung, bei Ablehnung einer Arbeit dieSozialhilfe zu streichen, werden zunächst einmal Sozialhil-fezahlungen in Höhe von GHB1B0, zuzüglich der Einspa-rungen bei denjenigen, die die Sozialhilfe verlassen, einge-spart. Doch während bei der kommunalen Beschäfti-gungsgesellschaft netto ein Überschuss in Höhe von CHGentsteht, kommt es bei Lohnsubvention für den Staat zuzusätzlichen Aufwendungen in Höhe von ADFE (s.o.). EineBeschäftigungsausweitung durch kommunale Beschäfti-gungsgesellschaften kostet den Staat also um ADFE + CHGweniger als eine entsprechende Beschäftigungsausweitungdurch Gewährung von Lohnsubventionen. Dem effiziente-ren Arbeitseinsatz mit Hilfe der Lohnsubvention stehen al-so fiskalische Mehraufwendungen gegenüber, die ange-sichts der angespannten Haushaltslage durchaus ins Ge-wicht fallen können.

Eine Zukunft für die kommunalen Beschäftigungsgesellschaften?

Das Modell Hilfe zur Arbeit in Leipzig scheint gescheitert zusein. In diesem Jahr plant die Stadt Leipzig einen radikalenUmbau des Betriebs für Beschäftigungsförderung. Die Zahlder Hilfebedürftigen, die unter dem Motto »Hilfe zur Arbeit«Arbeit statt Sozialhilfe erhielten, soll auf nur noch 800 Frau-en und Männer zurückgefahren werden (siehe SächsischeZeitung vom 22. Dezember 2001). Welche Gründe, abge-sehen von individuellem Fehlverhalten, können wohl dafürverantwortlich gemacht werden? Entscheidend ist wohl,dass die Idee kommunaler Beschäftigungsgesellschaftennicht mit der Rückendeckung von Kommunalpolitikern undder ortsansässigen Wirtschaft rechnen kann. Aus diesenKreisen wird immer wieder der Vorwurf erhoben, dass dieMitarbeiter in der Beschäftigungsgesellschaft reguläre Ar-beitsplätze im freien Arbeitsmarkt verdrängen würden. Die-se Verdrängung könnte sich sowohl auf die Arbeit öffent-licher Bediensteter in niedrigen Tarifgruppen beziehen, alsauch auf Arbeitsplätze, die von öffentlichen Aufträgen an denlokalen privaten Sektor abhängen.

Aus kommunalpolitischer Sicht sind diese Befürchtungendurchaus begründet. Es ist in der Tat vorstellbar, dass pri-vate Gewerbetreibende wie etwa Gartenbaubetriebe öf-fentliche Aufträge verlieren und dadurch Arbeitsplätze vorOrt verloren gehen. Aber die vom Stadtkämmerer einge-sparten Mittel können anderweitig nachfragewirksam wer-den. Verstärkt die Stadt ihre Bautätigkeit, so profitieren da-durch die lokalen Bauunternehmen. In diesem Falle kommtes netto nicht zu einer Verdrängung von Arbeitsplätzen vorOrt. Anders sieht es jedoch aus, wenn die Kommune z.B.ihren Fuhrpark aufstockt. Dies schafft Arbeitsplätze in Ei-senach, Wolfsburg oder Ingolstadt, nicht aber in der ei-genen Kommune. Und wenn eingespartes Geld zur Ver-ringerung der kommunalen Verschuldung verwendet wer-den sollte, so werden diese Mittel letztlich über den Kapi-talmarkt nachfragewirksam. Aus gesamtwirtschaftlicherSicht ist also keine Verdrängung von Arbeitsplätzen imersten Arbeitsmarkt zu befürchten, wohl aber unmittelbarvor Ort.

Natürlich können lokale Arbeitsplätze in dem Maße erhal-ten bleiben, wie kommunale Beschäftigungsgesellschaftensich drauf beschränken, öffentliche Güter zu produzieren,die nicht von heimischen Firmen angeboten werden. Docheine solche Abgrenzung ist schwierig, und es verwundertdeshalb nicht, dass kommunale Beschäftigungsgesell-schaften auf wenig Gegenliebe stoßen. So viel Beachtungdas Leipziger Modell in den letzten Jahren fand, aus denSchlagzeilen ist es schnell wieder verschwunden. Gegen-über den Vorschlägen von Lohnsubventionen im Niedrig-lohnbereich können kommunale Beschäftigungsgesell-schaften kaum mehr auf politische Unterstützung hoffen,denn Lohnsubventionen sind für die private Wirtschaft injedem Fall vorteilhafter.

Doch sollte man deshalb die Idee, mit Hilfe kommunalerBeschäftigungsgesellschaften Arbeitsmarktpolitik zu be-treiben, zu den Akten legen? Auch wenn die Bundesre-gierung mit der bundesweiten Ausweitung des MainzerModells nun einen ersten, wenn auch kaum erfolgver-sprechenden Versuch unternommen hat, Lohnsubventio-nen im Niedriglohnbereich einzuführen, bleibt mindestenstemporär Bedarf für einen öffentlichen Arbeitsmarkt, dernicht in Konkurrenz zum ersten Arbeitsmarkt steht, waszugegebenermaßen nicht einfach zu realisieren ist. Diesemöffentliche Arbeitsmarkt sind dabei von vornherein Gren-zen gesetzt, denn in ihm können nur arbeitsfähige Sozial-hilfeempfänger beschäftigt werden, die anderswo keine Ar-beit finden können. Da unter Tarif bezahlt wird, besteht fürsie jedoch immer der Anreiz, in die Privatwirtschaft zu wech-seln, sobald sich etwas anbietet. Schafft es die Bundes-regierung durch eine wirksame Subvention der Löhne imNiedriglohnsektor, die Arbeitsnachfrage nach geringquali-fizierten Arbeitskräften auszuweiten, so werden in kom-munalen Beschäftigungsgesellschaften langfristig nur noch

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Forschungsergebnisse

diejenigen beschäftigt, die zu dem im regulären Arbeits-markt bestehenden Lohnniveau trotz Lohnsubvention kei-ne Arbeit finden können. Dem nunmehr bundesweit ein-geführten Mainzer Modell wird es jedoch kaum gelingen,eine nennenswerte Zahl neuer Arbeitsplätze für Sozialhil-feempfänger zu schaffen. Laut Schätzung der Bundesre-gierung könnten mit der Einführung des Mainzer Modellsgerade einmal 3% des arbeitsfähigen und -willigen Sozial-hilfeempfänger eine Arbeit im ersten Arbeitsmarkt finden.In dem Maße, indem es die Politik in den nächsten Jahrennicht vermag, den privaten Arbeitsmarkt im Niedriglohn-bereich durch Lohnsubventionen wiederzubeleben, kön-nen kommunale Beschäftigungsgesellschaften eine be-achtenswerte Rolle in der Arbeitsmarktpolitik für sich be-anspruchen. Dies gilt insbesondere auch im Hinblick aufdie mit der Massenarbeitslosigkeit verbundenen Belas-tungen der öffentlichen Haushalte.

Literatur

Feist, H. und R. Schöb (1998), »Workfare in Germany and the Problem ofVertical Fiscal Externalities«, Finanzarchiv 55, 461–480.Statistisches Bundesamt (2001), Wirtschaft und Statistik (5).

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Bauvolumen in Europa 2000: Klare Dominanz der »Big 5« ...

Die Abschwächung des Wirtschafts-wachstums in vielen Weltregionen, ins-besondere die unerwartet »harte Lan-dung« in den USA (verschärft durch dieEreignisse am 11. September; vgl. Nier-haus 2002), hatte im vergangenen Jahrgravierende Auswirkungen auf die ge-samtwirtschaftliche Entwicklung in Eu-ropa. Dies gilt insbesondere für Westeu-ropa aufgrund seiner engen Verflechtungmit der Weltwirtschaft und der hohen Ex-portquoten. Viele Länder in dieser Regionschrammten knapp an der Rezessionvorbei; vor allem in Deutschland ist dasBruttoinlandsprodukt (BIP) weit schwä-cher gestiegen als noch vor rund einemJahr erwartet wurde (vgl. z.B. Sinn, Nier-haus und Meister 2001). Deutlich andersstellen sich Lage und Entwicklung inMittelosteuropa (MOE-Staaten) dar, aberauch dort sind die Anpassungslastennach dem Systemzusammenbruch spür-bar geworden.

Massiv betroffen von der weltweiten, inWesteuropa besonders stark ausge-

prägten Wirtschaftsschwäche war und istanhaltend der europäische Bausektor, derwegen der langen Planungsfristen undNutzungszeiträume von Bauwerken so-wie der hohen Kapitalbindung besonderssensibel auf Verschlechterungen der Rah-menbedingungen und eingetrübte Er-wartungen reagiert (Deutsche Bundes-bank 2002). Regelmäßig hat die Bauwirt-schaft in gesamtwirtschaftlichen Rezes-

auf flachen ExpansionspfadWeitere Ergebnisse der 52. EUROCONSTRUCT-Konferenz am 6. Dezember 2001 in Rom

Volker Rußig

Bautätigkeit in Europa: Ab 2003 allmähliche Rückkehr

Nicht überall in Europa steckt der Bausektor so tief in der Krise wie in Deutschland. Aber

auch in Finnland, Irland, Norwegen und Österreich sowie in Polen geht das Bauvolumen 2002

zurück. Für die aggregierte europäische Bauleistung wird nach Stagnation in den Jahren 2001

und 2002 ab 2003 eine leichte Ausweitung und damit ein Wiedereinschwenken auf einen –

allerdings wohl nur sehr flachen – Expansionspfad erwartet. Der Bausektor bleibt also Brem-

se des gesamtwirtschaftlichen Wachstums in (West-)Europa. 2004 wird mit knapp 950 Mrd. p

Bauleistung zwar ein neuer Spitzenwert erreicht, der Bauanteil am Bruttoinlandsprodukt geht

aber in Westeuropa (und damit insgesamt) noch weiter zurück.

Dies sind in knapper Zusammenfassung die wichtigsten Ergebnisse der 52. EUROCONSTRUCT-

Konferenz1, die am 6. Dezember 2001 in Rom stattgefunden hat.2 Differenzierte Prognosen

der wert- und mengenmäßigen Entwicklung der Bautätigkeit in Europa stehen traditionell und

standen auch in Rom im Mittelpunkt dieser zweimal jährlich an wechselnden Orten durchge-

führten Tagungen. Für jedes der einbezogenen 15 west- und vier mittelosteuropäischen Län-

der und damit auch für die europäischen Aggregate wird bei den Wertgrößen nach den Bauspar-

ten Wohnungsbau, Nichtwohnbau und Tiefbau sowie jeweils nach den Bauleistungskatego-

rien Neubau und Altbauerneuerung differenziert. Das Schwerpunktthema dieser Konferenz

beschäftigte sich in mehreren Beiträgen mit der Bedeutung des Internet für die europäische

Bauwirtschaft. Über ausgewählte Ergebnisse zur wertmäßigen Bautätigkeit in (West- und Mit-

telost-)Europa und in den 19 einbezogenen Ländern wird nachfolgend berichtet.3

1 In dem bereits 1975 gegründeten europäischenPrognose-, Forschungs- und BeratungsnetzwerkEUROCONSTRUCT arbeiten Institute mit spezifi-schem Know-how im Bausektor aus 15 westeu-ropäischen sowie aus vier mittelosteuropäischenLändern zusammen. Die Halbjahreskonferenzenbilden den Kern der EUROCONSTRUCT-Aktivitä-ten; außerdem werden gemeinsame Spezialstudi-en zu den längerfristigen Perspektiven und zu struk-turellen Entwicklungen im europäischen Bausektorerstellt.Das ifo Institut ist Gründungsmitglied und deut-sches Partnerinstitut des EUROCONSTRUCT-Netz-werkes.

2 Die 53. EUROCONSTRUCT-Konferenz findet am6. und 7. Juni 2002 in Dublin statt. Die Vorberei-tungen für die 54. EUROCONSTRUCT-Konferenz,die am 5. und 6. Dezember 2002 in München statt-finden und vom ifo Institut organisiert wird, sind be-reits angelaufen. Interessenten können sich wegender Programme und Anmeldeunterlagen an das ifoInstitut wenden.

3 Über die Wohnungsfertigstellungen (mit Differen-zierung nach Gebäudearten) als meist beachteter

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Daten und Prognosen 27

sionsphasen zum Teil extrem starke Rückschläge zu ver-kraften.

Noch 1999 war das Bauvolumen in Europa4 kräftig und mitrund 31/2% nach einer längeren »Durststrecke« wieder ein-mal schneller gestiegen als das Bruttoinlandsprodukt bzw.die Summe der übrigen BIP-Komponenten. Auch im Jahr2000 (dem Basisjahr der hier vorgestellten Vorausschät-zungen) hat das europäische Bauvolumen stark expandiert(mehr als + 21/2%); mit fast 915 Mrd. pwurde ein neuer Spit-zenwert erreicht.

Mit über 70% entfiel der Löwenanteil am europäischen Bau-volumen auch im Basisjahr 2000 auf die fünf großen west-europäischen Länder (»Big 5«), also auf Deutschland(Schwergewicht mit rund 24%) sowie Frankreich, Großbri-tannien, Italien und Spanien (vgl. Abb. 1); die vier skandi-navischen Länder erreichten weniger als 8% und die übri-gen westeuropäischen Länder knapp 18%.

... und nur kleine Beiträge dermittelosteuropäischen Staaten

Die vier hier einbezogenen mittelosteuropäi-schen Länder, Polen, Slowakei, Tschechienund Ungarn, brachten es zusammen nicht ein-mal auf 4%, also auf einen weit geringeren An-teil als die wesentlich kleineren Niederlandeoder als die deutschen Bundesländer Nord-rhein-Westfalen bzw. Bayern. Diese Größen-relationen gilt es im Auge zu behalten, wennman als Bau- oder Zulieferunternehmen aufdie »rasch expandierenden Bauleistungs-märkte« in diesem Gebiet setzen will. Im Zu-ge der EU-Osterweiterung wird der Zugang zudiesen Bauleistungsmärkten zwar wesentlicherleichtert, der Konkurrenzdruck aus diesenLändern wird aber ebenfalls stark zunehmen.

Bereits 2001 wurde die Aufwärtsentwicklungim europäischen Bausektor abrupt gestoppt;

insgesamt wurde beim Bauvolumen der 19 Länder im ver-gangenen Jahr gerade Stagnation erreicht. Ausschlagge-bend für die selbst für Experten überraschend ungünstigeEntwicklung5 war die schwere Baukrise in Deutschland, aberauch andere westeuropäische Länder sind (teilweise uner-wartet) ins Minus gerutscht, so dass sich 2001 für Westeu-ropa nur noch ein minimaler Zuwachs ergab (vgl. Tab. 1). InPolen, dem mit Abstand größten MOES-Bauleistungsmarkt,schrumpfte das Bauvolumen um fast 8%, was das Teilag-gregat dieser vier Länder deutlich zurückgehen ließ.

Bis 2004 steigt das europäische Bauvolumen nurleicht auf 950 Mrd. p

Nach den jüngsten Konjunkturprognosen der EUROCONS-TRUCT-Partnerinstitute (Stand: November 2001) ist in Euro-pa auch 2002 nur mit einem stagnierenden oder allenfallsganz schwach wachsenden Bauvolumen zu rechnen (vgl.Tab. 1).6 Zwar wird für die Mehrzahl der 19 Länder für dieses

Fortsezung Fußnote 3:Mengenvariable der Bautätigkeit wurde in Heft 3/2002 des ifo Schnell-dienstes berichtet (Rußig 2002). Beim Nichtwohn(hoch)bau und – soweitnach Datenlage möglich – beim Tiefbau wird außerdem noch nach Ge-bäude- bzw. Bauwerkskategorien untergliedert.

4 Das den nachfolgenden Ausführungen zugrunde liegende »EUROCONS-TRUCT-Gebiet« (hier abgekürzt als »Europa« bezeichnet) umfasst ganzWesteuropa mit Ausnahme von Griechenland und einigen Kleinstaaten(insgesamt 15 Länder) sowie vier mittelosteuropäische Länder (vgl. dieLänderliste in Tab. 1). Trotz der fortbestehenden gravierenden Unterschiedezwischen West- und Mittelosteuropa bei (Daten-)Lage und wirtschaftlicherEntwicklung werden hier Gesamtergebnisse für »Europa« präsentiert, eswerden aber auch Zwischenadditionen zu den beiden großen Teilgebie-ten sowie einzelne Länder angesprochen.Wegen der besseren Vergleichbarkeit der Länderangaben und zur Ver-besserung der Planungsgrundlagen für die Unternehmen verwendet EU-ROCONSTRUCT durchgängig Wertangaben des (realen) Bauvolumens,aus denen die in den einzelnen Ländern unterschiedlich hohe Mehrwert-steuer heraus gerechnet wurde. Preisbasis ist durchgängig das Jahr 2000.

Abb. 1

5 Bei der EUROCONSTRUCT-Konferenz im Juni 2001 in Kopenhagen warfür das Bauvolumen in den 19 Ländern noch mit einer Zunahme in 2001um fast 11/2% und damit nur mit einer leichten Abflachung der konjunktu-rellen Aufwärtsentwicklung gerechnet worden (vgl. Rußig 2001 b). Bereitszuvor mussten die Prognosen für den europäischen Bausektor in mehre-ren Stufen nach unten korrigiert werden (vgl. z.B. Gluch 2000). Gelegenheit zur Überprüfung und kritischen Diskussion der Bauprogno-sen für Deutschland besteht außer bei den nächsten EUROCONSTRUCT-Konferenzen in Dublin und München auch beim zweiten ifo Branchen-Dia-log 2002, der am 24. Oktober 2002 in München stattfindet.

6 Die Einzelergebnisse mit ausführlichen Erläuterungen und Begründungenkönnen den umfangreichen Tagungsunterlagen entnommen werden, dieaußer den 19 Länderberichten mit Analysetexten und standardisierten Ta-bellen auch Zusammenfassungen für die drei großen Baubereiche und dasaggregierte Bauvolumen in Europa sowie Informationen zum Schwer-punktthema enthalten. Die beiden Tagungsberichte können beim ifo Insti-tut bezogen werden.

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Daten und Prognosen

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Jahr ein steigendes Bauvolumen prognostiziert, wobei sichSchweden mit + 41/2% an die Spitze setzt, aber außer inDeutschland (voraussichtlich mit einer wesentlich niedrigerenMinusrate) geht es auch in Finnland, Irland (nach einer übermehrere Jahre hinweg stürmischen Expansion), den Nieder-landen und Österreich sowie in Polen weiter bergab.7

Erst im Verlauf von 2003 dürfte sich im europäischen Bau-sektor die Stabilisierung deutlicher und auf breiter Front

durchsetzen; im Jahresverlauf scheint einemoderate Ausweitung möglich. Bis aufFrankreich, das ganz leicht ins Minus rutscht,und anhaltend in Irland wird für alle Länderein steigendes Bauvolumen erwartet. Derprozentuale Zuwachs bleibt in Westeuropamit reichlich 1% aber noch sehr verhalten;für Mittelosteuropa wird ein wieder kräftige-rer Anstieg prognostiziert, weil Polen zwarnoch schwächelt, aber nicht mehr so starknach unten zieht.

Die Entwicklung im Bausektor gewinnt 2004in den vier mittelosteuropäischen Ländernvoraussichtlich noch weiter an Dynamik; un-ter den verwendungsseitigen BIP-Teilaggre-gaten wechselt das Bauvolumen wieder aufdie Überholspur. Die Erwartungen für West-europa bleiben aber gedämpft, weil Deutsch-land und Frankreich die Talsohle nur müh-sam hinter sich lassen und die Zuwachsra-ten in Italien nochmals kleiner werden; fürPortugal wird sogar ein Rückgang voraus-geschätzt – ein erneuter Hinweis darauf, dassdie Bauzyklen in Europa auch in den nächs-ten Jahren asynchron bleiben werden.

Mit fast 950 Mrd. p dürfte 2004 trotzdem einneuer »europäischer Baugipfel« erreicht wer-den, die Zunahme gegenüber dem Basisjahr2000, also im Zeitraum 2001 bis 2004, be-trägt aber lediglich rund 33/4% (zum Ver-gleich: das gesamte BIP wächst im gleichenZeitraum mit fast 9% mehr als doppelt soschnell). Das Bauwachstum wird stark vonden MOE-Staaten getragen (Zunahme2004/2000: rund 71/2%), der Anteil dieservier Länder am europäischen Bauvolumenbleibt aber auch 2004 noch unter 4% (zum

Vergleich: der Bevölkerungsanteil erreicht rund 15%).

Länderbeiträge zum Bauwachstum bis 2004:Deutschland zieht kräftig nach unten, Groß-britannien wirkt als Gegengewicht

Dass sich die Baukonjunktur in den 19 europäischen Staa-ten (und teilweise auch innerhalb der einzelnen Länder) nichtparallel entwickelt, lässt sich schon an der Spannweite derJahresveränderungsraten ablesen: Sie betrug 2000 knapp10 Prozentpunkte (= PP), schnellte 2001 auf fast 20 PP hoch,verringert sich ab 2002 zwar wieder, bleibt aber bis 2004(dann vor allem aufgrund der hohen Werte in Mittelosteu-ropa) bei einer Größenordnung von 10 PP. Die 19 europäi-schen Länder befinden sich also jeweils an ganz unter-schiedlichen Positionen im Bauzyklus.

Tab. 1 Entwicklung des realen Bauvolumensa) in Europab) 2000 bis 2004

2000 2001 c) 2002 d) 2003 e) 2004 e)

Belgien 3,2 -3,7 0,0 2,5 4,3

Dänemark 2,6 -3,8 1,7 2,8 2,9

Deutschland -2,5 -5,2 -1,3 0,8 2,0

Finnland 6,5 -1,0 -2,0 1,0 3,0

Frankreich 7,3 1,5 0,2 -0,1 2,1

Großbritannien 1,6 3,4 2,4 2,8 2,5

Irland 6,3 1,6 -5,8 -1,0 5,5

Italien 5,6 4,1 1,9 0,9 0,6

Niederlande 3,3 -2,0 -1,6 2,4 2,8

Norwegen 4,2 -1,0 0,3 1,9 1,1

Österreich 1,3 -3,0 -2,0 1,0 1,5

Portugal 6,3 1,7 2,7 2,4 -1,4

Schweden 1,9 2,9 4,5 3,5 1,8

Schweiz 2,1 1,3 2,0 2,0 1,6

Spanien 6,5 5,1 2,5 1,0 0,4

Westeuropa 2,7 0,1 0,5 1,3 1,8

Polen -0,3 -7,8 -5,5 1,8 7,1

Slowakei 3,7 2,5 6,8 8,4 8,9

Tschechien 4,7 11,5 5,4 5,3 5,4

Ungarn 4,7 7,0 6,4 8,0 8,0

Mittelosteuropa 1,3 -2,2 -1,1 3,9 7,0

Europa (EC-19) 2,6 0,0 0,4 1,4 2,0a) Veränderung gegenüber Vorjahr (in %); in Preisen von 2000.b) EUROCONSTRUCT-Gebiet: 15 west- und 4 mittelosteuropäische Länder.c) Schätzwerte.d) EUROCONSTRUCT-Prognose.e) EUROCONSTRUCT-Projektion.

Quelle: EUROCONSTRUCT/ifo Institut (Dezember 2001).

7 Wenn man berücksichtigt, dass die Vorausschätzungen für Deutschlandinzwischen nochmals deutlich nach unten korrigiert wurden (vgl. Sinn, Nier-haus und Meister 2001), ergibt sich unter der Annahme, dass in den übri-gen Ländern keine kompensatorischen Korrekturen nach oben, aber auchkeine Verschlechterungen eingestellt werden müssen, allein schon hier-aus ein Rückgang des Bauvolumens in Europa in 2002 um rund 11/2%.Der »negative Länderbeitrag« von Deutschland zum europäischen Bau-wachstum im Zeitraum 2002 bis 2004 (vgl. Abb. 2) fällt dementsprechend(absolut) noch größer aus.

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Daten und Prognosen 29

Aussagekräftiger für die regionale Streuung der Zuwächsebeim europäischen Bauvolumen sind die Absolutbeträge,mit denen das unterschiedlich große Gewicht der 19 Län-der berücksichtigt wird. Wegen der bereits angesprochenenZyklenverschiebungen werden hier die absoluten Zuwäch-se bzw. Rückgänge im Zeitraum 2001 bis 2004 zu-sammengefasst. Das reale europäische Bauvolumen dürf-te in diesen vier Jahren absolut um über 35 Mrd. p zuneh-men. Richtet man bei den Beiträgen der einzelnen Länderzum Bauwachstum den Blick zunächst ans Ende der Ska-la (vgl. Abb. 2), so wird deutlich, dass Deutschland mit sei-nem großen Anteil und dem in zwei der vier Jahre kräftigschrumpfenden Bauvolumen stark nach unten zieht; bis2004 ist hier kein voller Ausgleich für die »ausgefallene« Bau-leistung zu erwarten.

Auch in Polen und Österreich sinkt das Bauvolumen in die-sem Zeitraum, allerdings bleibt der Negativbeitrag wesent-lich kleiner als der von Deutschland. Die übrigen der »Big 5«in Westeuropa, allen voran Großbritannien mit einem Zu-wachs von über 13 Mrd. p, aber auch Italien sowie – mitAbstand – Spanien und Frankreich, können dagegen miteinem beachtlich großen Anstieg ihres Bauvolumens rech-nen. Vor allem diese Länder sorgen dafür, dass das aggre-gierte europäische Bauvolumen in diesen vier Jahren signi-fikant ansteigt.

Auf Schweden und die Schweiz folgen mit Ungarn undTschechien schon zwei der mittelosteuropäischen Länder,was angesichts der niedrigen Ausgangsbasis Beachtungverdient. Etliche der »mittelgroßen« westeuropäischen Län-der mit wesentlich größeren Bauleistungsmärkten werdendamit glatt übertroffen. Die übrigen der west- und mittel-osteuropäischen Länder bleiben für das Bauwachstum imZeitraum 2001 bis 2004 ohne Bedeutung, es scheint aber

doch bemerkenswert, dass das kleine, in der letzten Deka-de mit einem enorm gestiegenen Bauvolumen aufwarten-de Irland in diesem Zeitraum ganz leicht im negativen Be-reich anzutreffen ist (vgl. Kuntze 2001).

Wohnungsbau bleibt in Westeuropa mit Abstanddie größte Bausparte, ...

Eine noch wesentlich stärkere Auffächerung der Wachs-tumsbeiträge bzw. der Veränderungsraten ergibt sich, wennman zusätzlich zur Differenzierung nach Ländern und Einzel-jahren auch noch nach Bausparten und Bauleistungskate-gorien untergliedert. Seit einigen Jahren legt EUROCONS-TRUCT hierzu eine (von der in Deutschland üblichen bzw. nachder amtlichen Statistik möglichen abweichende) zweistufigeUntergliederung zugrunde:

• Bausparten bzw. -bereiche: – Wohnungsbau

– Nichtwohnbau (Hochbau)

– Tiefbau

• Bauleistungskategorien: – Errichtung neuer Bauwerke

(Gebäude und Tiefbauten)

– Altbauerneuerung

(= R&M = Renovierung und

Modernisierung).

Auf den Wohnungsbau entfielen im Basisjahr 2000 in den19 Ländern etwas mehr als 427 Mrd. p, was einem Anteil ameuropäischen Bauvolumen von fast 47% entspricht (vgl.Abb. 3). Damit war der Wohnungsbau (Neubau und Altbau-erneuerung) mit Abstand die größte Bausparte in Europa. Die-se Dominanz besteht allerdings nur in Westeuropa, wo dieAnteilswerte im Basisjahr 2000 zwischen rund 58% inDeutschland und etwa 33% in Schweden streuten; insge-

samt werden fast 48% erreicht. Demgegen-über entfallen auf den Wohnungsbau in denvier mittelosteuropäischen Ländern nur etwa221/2% des Bauvolumens (zwischen rund30% in Ungarn und bloß 14% in Tschechien).

Das Verhältnis zwischen Neubau (Errichtungneuer Eigenheime und Mehrfamiliengebäu-de) und Altbauerneuerung (Baumaßnahmenim und am Wohnungsbestand) liegt in Eu-ropa etwa bei 50 zu 50. Schwankungen beiden Anteilswerten ergeben sich dadurch,dass der Neubau, und hier vor allem der Ge-schosswohnungsbau, starke zyklische Aus-schläge aufzuweisen hat, wohingegen dieBestandsmaßnahmen relativ stetig ausge-weitet werden. Während der Neubauanteilim Basisjahr 2000 (einem noch relativ »Neu-bau-starken« Jahr) in dieser Bausparte inWesteuropa bei über 51% lag, erreichte erin Mittelosteuropa rund 65%.

Abb. 2

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... erlebt aber in etlichen Ländern zwischen-zeitlich einen massiven Einbruch

In den Jahren 1999 und 2000 expandierte der Wohnungs-bau mit über 3% und rund 21/2% sowohl in West- als auchin Mittelosteuropa fast im Gleichschritt mit den beiden an-deren Baubereichen. Parallel zur gesamtwirtschaftlichen Ab-schwächung (und damit bei den Wohnungsbaugenehmi-gungen mit einer klaren »Vorahnung«) verzeichnete der Woh-nungsbau 2001 in den meisten der 15 westeuropäischenLänder, aber auch in Polen und in der Slowakei, deutlicheRückgänge. Verschont blieben lediglich Großbritannien, Ita-lien, Norwegen, Schweden und Spanien. In ganz Europaschrumpfte der Wohnungsbau im abgelaufenen Jahr umfast 2%.

Obwohl für 2002 in Mittelosteuropa bereitswieder ein leichter Anstieg prognostiziert wird(rund + 11/2%), dürfte die Talfahrt im euro-päischen Wohnungsbau in diesem Jahr nochanhalten (vgl. Abb. 4), da der Tiefpunkt inDeutschland (und hier vor allem in den neu-en Ländern) noch nicht erreicht ist und fürweitere westeuropäische Länder ein Minuserwartet wird.

Erst im nächsten Jahr wird sich die Erho-lung im Wohnungsbau auf breiter Frontdurchsetzen, die Zuwächse bleiben jedochallenthalben gering (Europa insgesamt: we-nig über + 1%); nur für Polen sowie für Por-tugal wird ein (anhaltend) rückläufiges Woh-nungsbauvolumen vorausgeschätzt. Der Auf-schwung dürfte sich zwar 2004 fortsetzen,er bleibt aber mit rund 11/2% ziemlich ver-halten, was daran liegt, dass jetzt andere

Länder in einen zyklischen Abschwung ge-raten und die Expansion in den übrigen Län-dern nur schwach ausfallen dürfte. Dämp-fend wirkt vor allem der Neubau. Der Neu-bauanteil in dieser Bausparte dürfte bis 2004in Westeuropa voraussichtlich unter 48% undin Mittelosteuropa auf rund 62% sinken (vgl.unten).

Nichtwohnhochbau gönnt sich einelängere »Verschnaufpause«, ...

Auf den Nichtwohnbau entfiel im Basisjahr2000 rund ein Drittel des europäischen Bau-volumens (vgl. Abb. 3); die beiden Hoch-bausparten bringen es also zusammen aufetwa vier Fünftel der in den 19 Ländern ins-gesamt erbrachten Bauleistungen. In West-europa ist der Anteil des Bauvolumens, der

auf die Errichtung neuer und die Erhaltung bzw. Moderni-sierung vorhandener Gebäude für die Unternehmen der Wa-ren produzierenden Branchen und des Dienstleistungssek-tors sowie für den Staat entfällt, wesentlich kleiner (zwischen19% in Portugal und über 46% in Großbritannien) als in Mittel-osteuropa, wo 2000 über 45% erreicht wurden.

Insbesondere 1999, aber auch noch 2000 wurde der Nicht-wohnbau in Europa kräftig ausgeweitet, was als Zeichen fürdie erwartete Fortsetzung der hohen wirtschaftlichen Dy-namik vor allem im »bau-intensiven« Produzierenden Sek-tor zu werten ist. In den MOE-Staaten war der Anstieg 1999noch etwas kräftiger ausgefallen, die Entwicklung schlugaber schon 2000 um, weil die Slowakei, insbesondere aberPolen ins Minus rutschten; in Westeuropa erreichte die Zu-

Abb. 3

Abb. 4

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Daten und Prognosen 31

wachsrate im vergangenen Jahr nochmals über 3% (nachfast 41/2% in 1999), obwohl das gewichtige Deutschlandbereits rückläufige Nichtwohnbauleistungen aufzuweisenhatte.

Die Zuwachsrate im Nichtwohnbau halbierte sich 2001 (we-niger als + 11/2%), obwohl das Expansionstempo in wichti-gen Ländern (u.a. in Frankreich, Großbritannien und Italien)zunächst noch gehalten werden konnte. Außer in Deutsch-land ging es aber auch in den Niederlanden sowie in Nor-wegen, Österreich und Schweden bergab; mit über – 10%brachte Polen die mittelosteuropäischen Länder insgesamtins Minus.

Für das laufende Jahr wird für Europa mit einem stagnie-renden (Westeuropa) oder sogar deutlich rückläufigen (MOE-Staaten) Nichtwohnbauvolumen gerechnet, und auch 2003dürfte die »Verschnaufpause« in diesem Baubereich nochnicht beendet werden (Jahresveränderungsrate insgesamtrund + 1/2%; vgl. Abb. 4). Erst für 2004 werden wieder et-was kräftigere Nachfrageimpulse von den Unternehmen er-wartet, aber auch in diesem Baubereich bleibt das Wachs-tum ziemlich verhalten. In Westeuropa reicht die Spanne derVeränderungsraten von mehr als – 1% in Norwegen bis rund+ 41/2% in den Niederlanden. Für die mit einem Anteil amgesamten Nichtwohnbau von knapp 70% die Gesamtent-wicklung in Europa bestimmenden »Big 5« werden für 2004leichte Rückgänge (Italien) oder nur moderate Zuwächsezwischen rund 11/2 und 21/2% erwartet.

... der Tiefbau bleibt aber weiterhin auf stabilemExpansionskurs

Tiefbauleistungen werden vor allem für den Neu- oder Aus-bau der Verkehrsinfrastruktur (Straßen-,Schienen- und Kanalnetz sowie Flughäfenund Hafenanlagen), für die Ver- und Entsor-gung sowie für die Energieversorgung unddie Telekommunikationsnetze erbracht. ImBasisjahr 2000 entfiel auf diesen Baubereichrund ein Fünftel des europäischen Bauvolu-mens (vgl. Abb. 3), wobei die Anteilswertein Westeuropa zwischen rund 15% inDeutschland und Großbritannien und über30% in der Schweiz streuen; in Mitteloste-uropa entfällt fast ein Drittel des Bauvolu-mens auf den Tiefbau.

Trotz einiger »markanter« zweistelliger Aus-rutscher nach unten (1999 in Dänemark undin der Slowakei; 2001 in Belgien) wurdendie Tiefbauleistungen in Europa in den letz-ten Jahren ziemlich stetig ausgeweitet. Nachder leichten Abschwächung im vergangenenJahr (auf etwas über + 2%) wird schon für

2002 eine erneute Beschleunigung des Wachstums auf fast3% erwartet (mit Deutschland und Polen als einzigen»Bremsklötzen«). Der stabile Expansionskurs dürfte sich auchin der mittelfristigen Projektion bis 2004 fortsetzen, allerdingswird auch hier keine überschäumende Ausweitung unter-stellt (Zuwachsraten von etwas über bzw. unter 3%; vgl.Abb. 4). Der Anteil des Tiefbaus am gesamten europäischenBauvolumen steigt aber bis 2004 auf fast 22%.

Altbauerneuerung behält mit kontinuierlicherAusweitung ihre Stabilisierungsfunktion

Untergliedert man das gesamte Bauvolumen in Europa nachden Bauleistungskategorien Neubau und Altbauerneuerung,so wird deutlich, dass die heftigen Konjunkturschwankun-gen im Bausektor von den Ausschlägen bzw. von den pe-riodisch wiederkehrenden Abschwächungen bei der Er-richtung neuer Bauwerke bestimmt werden (vgl. Abb. 5):

• Die gesamten Neubauleistungen gehen in den Jahren2001 und 2002 deutlich und 2003 voraussichtlich nochweiter zurück, sie dürften sich aber 2004 kräftig erholen.

• Demgegenüber wird der Umfang der Baumaßnahmenin und an bestehenden Bauwerken (= Altbauerneuerung)zwischen 1998 und 2004 kontinuierlich ausgeweitet, eskommt also insgesamt weder zu starken Einbrüchen nochzu markanten Beschleunigungen; diese Bauleistungska-tegorie behält also ihre Stabilisierungsfunktion für den eu-ropäischen Bausektor.

Der Anteil der Altbauerneuerung am gesamten Bauvolu-men, der 1999 erst bei rund 41,8% lag, steigt wegen derstarken Abschwächung im Neubau im laufenden Jahr aufetwa 43,1% und bis 2004 weiter auf rund 43,7%. Von ei-

Abb. 5

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ner »Parität« der beiden Bauleistungskateg-orien bleibt man also beim Gesamtaggregatein ganzes Stück entfernt. In der längerfris-tigen Perspektive ist jedoch mit tendenziellweiter steigenden Atbauanteilen zu rechnen,weil einerseits der zu erhaltende Bauwerks-bestand zunimmt und andererseits Bedarfan und Nachfrage nach zusätzlichen neuenBauwerken (zumindest in Westeuropa) al-lenfalls langsam ansteigen werden.

Bei dieser über die Bausparten und die19 europäischen Länder aggregierten Be-trachtung der beiden Bauleistungskategorienwerden – auch für die Planungspraxis – wich-tige Unterschiede verdeckt, was hier aller-dings nur bezüglich der Spartendifferenzie-rung ansatzweise korrigiert werden kann (vgl. Tab. 2):

• Der höchste Anteil der Bestandsmaßnahmen wird für denWohnungsbau nachgewiesen; er steigt insbesondere inden Jahren 2001 und 2002 sehr stark an, und er nimmtbis zum Ende der Projektionsperiode voraussichtlich nochweiter zu; gegenüber 1999 klettert der Anteilswert derAltbauerneuerung in dieser Sparte bis 2004 um 3,6 Pro-zentpunkte.

• Rund 10 Prozentpunkte niedriger ist der Anteil der Alt-bauerneuerung im Nichtwohn(hoch)bau, und er steigtzwischen 1999 und 2004 zwar ebenfalls an, allerdingsnur um 2,1 Prozentpunkte.

• Nochmals 10 Punkte niedriger liegt der Anteil der Be-standsmaßnahmen im Tiefbau8, er geht dort aber von30,8% (2000) bis 2003 um über einen Prozentpunkt zu-rück, um erst 2004 wieder ganz leicht anzusteigen.

Bemerkenswert an der Entwicklung im Tief-bau (weil von den beiden Hochbauspartenabweichend) ist, dass in einzelnen Jahrenund Ländern hohe Rückgänge für die Alt-

bauerneuerung nachgewiesen werden (Schweiz 1999:– 111/2%; Frankreich und Belgien 2001: – 141/2 bzw. über– 18%) und dass die gesamten Bestandsmaßnahmen 2001in Westeuropa stagnierten und in Mittelosteuropa zurück-gingen, während der Neubau um insgesamt über 3% aus-geweitet wurde.

Fazit: Trotz erkennbarer Erholungsansätze wirkt der Bausektor in Europa bis 2004 alsWachstumsbremse

Seit jeher sind die konjunkturellen Ausschläge in der euro-päischen Bauwirtschaft besonders stark ausgeprägt. Der-zeit durchläuft dieser Schlüsselsektor – bei Unterschiedenim Detail – neuerlich eine tiefe Krise, wobei insbesondereDeutschland, dessen Bauwirtschaft zusätzlich mit massi-ven Struktur- und Niveauanpassungsproblemen in den neu-en Ländern fertig werden muss, kräftig nach unten zieht.

Tab. 2 Anteil der Altbauerneuerung am realen Bauvolumena) nach Sparten

in Europab) 1998 bis 2004c)

1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004

Wohnungsbau 48,4 48,4 48,5 50,0 51,1 51,7 52,0

Nichtwohnbau 40,1 39,3 39,5 39,9 40,7 41,3 41,4

Tiefbau 30,8 30,7 30,8 30,1 29,9 29,7 29,8

Bauvolumen insgesamt 42,1 41,8 41,9 42,5 43,1 43,5 43,7a) Basiswerte in Preisen von 2000.b) EUROCONSTRUCT-Gebiet: 15 west- und 4 mittelosteuropäische Länder.c) 2001: Schätzwerte; 2002: EUROCONSTRUCT-Prognose; 2003 und 2004:

EUROCONSTRUCT-Projektion.

Quelle: EUROCONSTRUCT/ifo Institut (Dezember 2001).

Abb. 6

8 Die Renovierungs- und Modernisierungsmaßnahmenim Tiefbau werden in manchen Ländern so niedrig aus-gewiesen, dass man Untererfassungen bzw. Abgren-zungsprobleme nicht völlig ausschließen kann.Generell besteht für den Tiefbau, aber auch für denNichtwohnhochbau unverändert eine gravierende Da-tenlücke, weil – anders als im Wohnungssektor – vonder amtlichen Statistik keine aktuellen und vollständi-gen, auch die Altersstruktur berücksichtigenden An-gaben zu den Bauwerks- bzw. Gebäudebeständen er-hoben bzw. zur Verfügung gestellt werden. Damit ent-fällt die Möglichkeit, den Umfang der Bestandsmaß-nahmen mittels auf den vorhandenen Bestand anzu-wendenden Instandhaltungskoeffizienten zu schätzen.Die auf eine EUROCONSTRUCT-Initiative zurückge-hende Erhebung des Bestands an Nichtwohngebäu-den für die fünf großen westeuropäischen Länder konn-te diese gravierende Datenlücke nur unvollständig undnur für ein Basisjahr auffüllen (vgl. BIPE/ifo Institut1998/99).

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Aus der Sicht der betroffenen Unternehmen des Bauge-werbes, vor allem aber der stark auf Europa ausgerichte-ten Zulieferindustrien und der Finanzierungsinstitute, ist essogar positiv zu werten, dass es bislang noch nicht zu ei-ner stärkeren Angleichung der nationalen Bauzyklen ge-kommen ist.

Zuletzt hatte die Wachstumsrate des Bauvolumens die (derübrigen Komponenten) des Bruttoinlandsprodukts im Jah-re 1999 wieder einmal übertroffen; seitdem blieb sie deut-lich dahinter zurück. Vor allem der Wohnungsbau ist in Eu-ropa in eine ausgeprägte Rezession geschlittert, aus der ersich nur ganz allmählich und voraussichtlich mit nur mode-raten Zuwachsraten wieder lösen kann.

Trotz gewisser Erholungsansätze in den beiden Hochbau-sparten und leicht beschleunigter Expansion im Tiefbau ver-ringert sich der Abstand zwischen dem Bau- und dem ge-samtwirtschaftlichem Wachstum 2002 nur wenig (vgl.Abb. 6). Selbst im ab 2003 erwarteten relativ kräftigen Kon-junkturaufschwung dürfte die prozentuale Ausweitung desBauvolumens in Europa hinter der Steigerungsrate des Brut-toinlandsprodukts zurückbleiben, allerdings verringert sichdie »Bauwachstumslücke« bis 2004 deutlich.

Diese Entwicklungsunterschiede zwischen Bausektor undGesamtwirtschaft werden von den 15 hier einbezogenenLändern Westeuropas bestimmt, weil das Gewicht der viermittelosteuropäischen Länder noch immer sehr klein istund weit hinter ihrem Bevölkerungsanteil zurückbleibt.Außerdem mussten einige der MOE-Staaten im Zuge ih-res Systemumstellungs- und Aufholprozesses ebenfallsRückschläge hinnehmen; die Rezession im Bausektor war2001 und bleibt 2002 dort sogar stärker ausgeprägt alsin Westeuropa. Der Anteil des Bauvolumens geht demzu-folge in diesen Ländern zeitweilig deutlich zurück (vgl.Abb. 7).

Während aber für die Länder Mittelosteuro-pas mit ihrem im Durchschnitt ohnehin umetwa zwei Prozentpunkte höheren Bauan-teil ab 2003 wieder eine überproportionaleZunahme des Bauvolumens prognostiziertwird, bleibt das Bauwachstum in Westeu-ropa voraussichtlich noch bis 2004 hinterdem aller übriger Komponenten des Brut-toinlandsprodukts weit zurück. Der Bauan-teil am BIP sinkt folglich hier und damit inganz Europa noch weiter ab. Der Bausek-tor behält seine »Bremserrolle« noch bis2004.

Literatur

BIPE/ifo Institut (Hrsg.) (1998/99), EUROPARC – Der Ge-bäudebestand in Europa: Deutschland, Frankreich, Groß-

britannien, Italien und Spanien, Boulogne-Billancourt und München (nicht ver-öffentlicht).Deutsche Bundesbank (2002), »Der Wohnungsmarkt in den neunziger Jah-ren«, Monatsbericht der Deutschen Bundesbank 54 (1), 29–39.EUROCONSTRUCT (Ed.: CRESME/Rom) (2001 a), The Outlook for the Euro-pean Construction Sector – Summary Report, 52nd EUROCONSTRUCT con-ference, Rom, Dezember 2001 (nicht veröffentlicht).EUROCONSTRUCT (Ed.: CRESME/Rom) (2001 b), The Outlook for the Euro-pean Construction Sector – Country Reports, 52nd EUROCONSTRUCT con-ference, Rom, Dezember 2001 (nicht veröffentlicht).Gluch, E. (2000), »Baukonjunktur in Europa: Abschwächung der Nachfrage2001 und 2002«, ifo Schnelldienst 53 (21), 33–37.Kuntze, O.-E. (2001), »Irland: Die Tigersprünge werden kürzer«, ifo Schnell-dienst 54 (15), 30–36.Nierhaus, W. (2002), »Deutsche Konjunktur 2001: Prognose und Wirklich-keit«, ifo Schnelldienst 55 (2), 32–34.Rußig, V. (2002), »Wohnungsfertigstellungen in Europa: Erst 2004 steigt dieZahl der Neubauwohnungen wieder an«, ifo Schnelldienst 55 (3), 26–31.Rußig, V. (2001 a), »Wohnungsbau in Europa bis 2003: Stabilisierung bei 2 Mil-lionen fertiggestellten Wohnungen«, ifo Schnelldienst 54 (15), 20–25.Rußig, V. (2001 b), »Anhaltend schwache Baukonjunktur bremst Wirt-schaftswachstum in Europa bis 2003«, ifo Schnelldienst 54 (14), 36–43.Sinn, H.-W., W. Nierhaus und W. Meister (2001), »Vor der Talsohle«, ifo Schnell-dienst 54 (24), 27–42.

Abb. 7

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Mobilien-Leasing: Erster Hoffnungsschimmer, moderatesWachstum beim Neugeschäft geplant

Die markante Verschlechterung desweltwirtschaftlichen Umfelds hat alle

Wirtschaftsbereiche erfasst und hinter-lässt auch in der Leasingbranche ihreSpuren. Die Stimmung verschlechtertesich im Verlauf des Jahres 2001 erd-rutschartig, das Geschäftsklima ist imdritten Quartal auf den niedrigsten Wertseit Einführung der Konjunkturumfragegefallen. Inzwischen gibt es aber ersteAnzeichen, dass sich ein Wendepunktin der deutschen Leasingbranche ab-zeichnen könnte. Das Geschäftsklimahat sich erstmals seit einem Jahr wie-der leicht verbessert (vgl. Abb. 1). Beider Beurteilung der aktuellen Ge-schäftslage gewannen die positiven Ein-flüsse etwas an Gewicht. Fast jedes drit-te Leasingunternehmen bewertete imJahresschlussquartal (4. Quartal 2001)die Lage als günstig, 60% als befriedi-gend, und mittlerweile 8% der Testteil-nehmer empfanden ihre augenblicklicheSituation als schlecht. Auch die Aus-sichten hellten sich auf, die Geschäfts-erwartungen für das erste Halbjahr 2002wurden mit vorsichtigem Optimismusbedacht: 29% der Testteilnehmer er-warten einen günstigeren Geschäfts-verlauf, aber immerhin rund jeder fünf-te ist noch pessimistisch. Um jedochvon einem eindeutigen Hinweis auf ei-ne Trendwende sprechen zu können,müssen sich nach langjährigen ifo Er-fahrungen die Zukunftseinschätzungender Unternehmen mehrmals hinterein-ander verbessern.

Die Nachfrage hat zwar zum Jahresendehin angezogen, insgesamt hat aber dasNeugeschäft im Verlauf des vergangenenJahres deutlich an Schwung verloren. Nurnoch wenige Unternehmen übertrafen imvierten Quartal 2001 das vergleichbare Vor-jahrsgeschäft (per Saldo + 3%). Nach denErgebnissen der jüngsten Leasingumfra-

Lichtblicke im Geschäftsklima der Leasingbranche

Joachim Gürtler, Arno Städtler

Talfahrt der Ausrüstungsinvestitionen gebremst – erste

Der ifo Konjunkturtest Leasing wird seit 1998 vierteljährlich in Zusammenarbeit mit dem BundesverbandDeutscher Leasing-Gesellschaften (BDL) durchgeführt. Gemessen am gesamten Neugeschäft repräsen-tieren die erfassten Mobilien-Leasingunternehmen rund 85%. Die Ergebnisse für das 4. Quartal 2001zeigen nach dem Tiefstwert im 3. Quartal eine leichte Verbesserung. Nach der überaus dynamischenEntwicklung 2000 schwächte sich das Wachstumstempo der Leasinginvestitionen signifikant ab, das Neu-geschäft wuchs aber dennoch um rund 5%. Angesichts der immer noch sehr verhaltenen Autokonjunk-tur, der rückläufigen gesamtwirtschaftlichen Investitionen, der anhaltenden Flaute auf dem ostdeut-schen Leasingmarkt sowie des durch Steuerrechtsänderungen und die schwere Krise in der Luftfahrt aus-gelösten Einbruchs beim Großmobilien-Leasing ist das Plus dennoch als großer Erfolg zu werten.

Abb. 1

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ge im Rahmen des ifo Investitionstests dürfte das Plus beimMobilien-Leasing 2001 lediglich gut 3% betragen haben, dieWachstumsrate hat sich damit binnen Jahresfrist mehr alshalbiert (Städtler 2001). Hierfür ist aber die Sonderentwick-lung bei den Großmobilien verantwortlich, im Breitengeschäftbetrug das Wachstum immerhin 9%. Für die nächsten Mo-nate erhofften sich die Testteilnehmer beim Neugeschäft ei-ne weitere Aufwärtstendenz, jedoch nach wie vor in be-scheidenem Umfang. Per Saldo nur jedes zehnte Unterneh-men gab ein positives Urteil ab, nahezu jede zweite Lea-singgesellschaft rechnet für das erste Quartal 2002 mit Stag-nation.

Das Neugeschäft im Kraftfahrzeug-Leasing – das ist diegewichtigste Sparte in der Leasingbranche – entwickeltesich im vierten Quartal weiter rückläufig. Auch gegenüberdem vergleichbaren Vorjahreszeitraum ist ein leichtes Mi-nus zu erkennen. Die aktuelle Geschäftslage (im Kraftfahr-zeug-Leasing) ist zwar nach wie vor noch als gut zu be-zeichnen, eine deutliche Verschlechterung ist aber nicht mehrzu übersehen: Meldete zu Jahresbeginn noch per Saldo fastjede zweite Leasinggesellschaft eine günstige Geschäfts-lage, waren es im vierten Quartal lediglich 18%. Eine grund-legende Wende zum Besseren ist nicht in Sicht, bei denPerspektiven für das erste Halbjahr 2002 hielten sich posi-tive und negative Stimmen nur die Waage. Die Auftragsbü-cher vieler Leasinggesellschaften lassen zu wünschen übrig,das Neugeschäft wird sich auch in den nächsten Monatenabschwächen, das Tempo dürfte sich aber verlangsamen.

Mageres Beschäftigungswachstum

Die Ernüchterung in der deutschen Leasingbranche schlugsich auch bei der Personalbeschaffung nieder, die Unter-nehmen schalten bei der Nachfrage nach qualifizierten Lea-sing-Experten einen Gang zurück. Schon zur Jahresmitte2000 hatte das Beschäftigungswachstum eindeutig an Tem-po verloren, diese Entwicklung setzte sich bis zum Herbst2001 unvermindert fort. Eine leichte Besserung ist zum Jah-resende hin zu beobachten, der Beschäftigungszuwachsdürfte in einer Größenordnung von rund 11/4% gelegen ha-ben. Dabei fällt auf, dass insbesondere die kleineren Ge-sellschaften überdurchschnittlich häufig neues Personal ein-gestellt haben. Insgesamt schlug aber der Beschäftigungs-zuwachs (im Jahresdurchschnitt 2001) mit einem Plus vonrund 1% kaum zu Buche. Die Erwartungen für die nächsteZeit sind unverkennbar von Vorsicht geprägt (vgl. Abb. 2).

Über Behinderungen der Geschäftstätigkeit berichteten imBerichtszeitraum 56% der Unternehmen, geringfügig weni-ger als zuvor. Schwach gefüllte Auftragsbücher stehen mit22% der Nennungen unverändert an erster Stelle. Die An-zeichen einer schwierigen Auftragslage zeichneten sich schonvor gut einem Jahr ab, Ende 1999 klagten lediglich 3% der

Unternehmen über Nachfragemangel. Trotz nachlassendemBeschäftigungswachstum brennt vielen Unternehmen dasThema Fachkräftemangel immer noch unter den Nägeln. Je-de fünfte Leasinggesellschaft hatte nach wie vor Probleme,geeignete Fachkräfte zu finden. Je größer das Unternehmen,desto schwieriger ist es offensichtlich, die gesuchten Spe-zialisten zu finden. Zunehmend spielen Refinanzierungspro-bleme eine Rolle, jedes zehnte Unternehmen kreuzte den ent-sprechenden Einflussfaktor an. Behinderungen durch recht-liche und steuerliche Rahmenbedingungen blieben dagegenmit 15% der Meldungen nahezu unverändert.

Gesamtwirtschaftliche Ausrüstungsinvestitionen:Abwärtsentwicklung scheint sich abzuflachen

Die Einschätzungen der Leasinggesellschaften zur Prognoseder gesamtwirtschaftlichen Ausrüstungsinvestitionen inDeutschland erscheinen nach wie vor als recht zuverlässig. DerFrühindikator aus den Geschäftserwartungen der Leasing-branche, der im Sommer 2001 erstmals der Öffentlichkeitvorgestellt wurde, zeigte bisher eine enge Korrelation zu denvom Statistischen Bundesamt publizierten Investitionszahlen.1

Die spürbare Beruhigung der Investitionsaktivitäten wurde be-

Abb. 2

1 Zum methodischen Schätzansatz vgl. Gürtler, Langmantel und Städtler(2001) sowie Langmantel (1999).

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Daten und Prognosen

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reits im Frühjahr 2001 angezeigt, im Jahresdurchschnitt sinddie Investitionen in Ausrüstungen und in sonstige Anlagen umnominal gut 2% gesunken. Sinkende Kapazitätsauslastung,rückläufige Auftragseingänge sowie getrübte Absatzerwar-tungen im verarbeitenden Gewerbe deuten zwar auf eine wei-tere Abschwächung der Ausrüstungsinvestitionen im erstenQuartal dieses Jahres hin, das Tempo des Rückgangs wirdsich aber deutlich verlangsamen. Nach den aktuellen Umfra-geergebnissen in der deutschen Leasingbranche dürften dem-nach die gesamtwirtschaftlichen Ausrüstungsinvestitionen inden ersten drei Monaten von 2002 nur noch in einer Größen-ordnung von rund 3% abnehmen (vgl. Abb. 3). Ob dieser Wertletztlich erreicht wird, hängt auch von der Richtung und demUmfang der Revisionen der vorliegenden (vorläufigen) Jah-reszahl durch das Statistische Bundesamt ab.

Literatur

Gürtler, J., E. Langmantel und A. Städtler (2001), »Investitionsprognosender Leasinggesellschaften mit hoher Treffsicherheit – Ein neuer Indikator fürdie gesamtwirtschaftlichen Ausrüstungsinvestitionen«, ifo Schnelldienst 54(10), 20–24.Langmantel, E. (1999), »Das ifo Geschäftsklima als Indikator für die Progno-se des Bruttoinlandsprodukts«, ifo Schnelldienst 52 (16-17), 16–21.Städtler, A. (2001), »Leasingbranche erzielt hohe Marktanteilsgewinne«, ifoSchnelldienst 54 (24), 43–51.

Abb. 3

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Das soziale und politische Umfeld wirdnach wie vor von einem kräftigen Winddes Wandels sowie durch erhebliche Irri-tationen geprägt. Die infolge der Parla-mentswahlen vom September 1999 er-heblich veränderten Gegebenheiten so-wie die koalitionsinternen Querelen blei-ben während dieser Legislaturperiode be-stimmend. Sie endet regulär im Septem-ber 2003. Allerdings ist zuletzt der Rufnach vorgezogenen Neuwahlen bereits indiesem Frühjahr lauter geworden. Das giltnicht nur für die oppositionelle Sozialde-mokratische Partei Österreichs (SPÖ), dietrotz ihres Wahldebakels vom September1999 immer noch die meisten Abgeord-neten im Nationalrat stellt, sondern auchfür die FPÖ. Allerdings erheben nicht of-fizielle Organe der Partei diese Forderung,sondern ihr ehemaliger Vorsitzender undjetziger Regierungschef von Kärnten, JörgHaider. Nachdem die vorjährigen Wahlenzu den Länderparlamenten der Steier-mark, des Burgenlandes und von Wienseiner Partei Einbußen gebracht haben,instrumentalisiert er jetzt wieder zuneh-mend innen- und außenpolitische Fragen.Hierzu zählt auch ein massiver Schlag-abtausch mit dem Verfassungsgerichts-hof und der neu entfachte Streit um dieAufstellung zweisprachiger Ortstafeln ineinigen Kärntner Ortschaften an der Gren-ze zu Slowenien. Damit schadet er sich inder öffentlichen Wahrnehmung zwar mehr,als er sich nützt. Aber die Stabilität derBundesregierung erscheint permanentgefährdet, und die Außenpolitik wurde un-beständiger und unberechenbarer.

Das gilt hauptsächlich gegenüber derTschechischen Republik und damit auchbezüglich der EU-Osterweiterung, da dieFPÖ beim Nichtzustandekommen einesAusgleichs mit den Tschechen hiergegenein Veto fordern könnte. Kristallisations-punkt ist die Forderung der FPÖ nach Ab-schaltung des eben erst angefahrenen

südböhmischen Atomkraftwerks Teme-lin sowie nach Aufhebung der Benes-Dekrete von 1945 – Postulate, die in derBevölkerung ein breites Echo finden.

Jüngst, also zur Halbzeit der Legislatur-periode, kam es zur bisher schwerstenRegierungskrise des Kabinetts Schüssel.Sie konnte zwar rasch mit dem Bekennt-nis zur weiteren gemeinsamen Regie-rungsarbeit bis zum Herbst 2003 sowiezur EU-Osterweiterung beigelegt, die Zeit-bombe der Veto-Drohung jedoch nichtentschärft und den Querschüssen desKärntner Landeshauptmanns kein Riegelvorgeschoben werden.

Einige FPÖ-Minister sowie Teile ihrer Par-tei dürften aber wissen, dass sich die FPÖmit vorzeitigen Neuwahlen nur schadet.Denn erst 2003 kann die Koalitionsregie-rung die Früchte ihrer insgesamt sehr er-folgreichen Arbeit ernten, die Österreichden überfälligen heftigen Wind des Wan-dels brachte: u.a. wurden eine glaubwür-dige Konsolidierung der öffentlichen Fi-nanzen erfolgreich eingeleitet, Deregulie-rungen und Privatisierungen vorangetrie-ben, das öffentliche Dienstrecht, das Pen-

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Staatshaushalts

Oscar-Erich Kuntze

Österreich: Erstaunliche Konsolidierung des

Harte Landung der Konjunktur 2001. Deutliche konjunkturelle Erholung 2002. Festigung des

Aufschwungs 2003. Heuer leicht stimulierende Wirtschaftspolitik. Öffentliche Haushalte

schließen bereits 2001 insgesamt ausgeglichen. Preiskontrollen sichern Euro-Bargeldein-

führung. Moderater Preisanstieg. Zunächst noch zunehmende Arbeitslosigkeit. Defizit der

Leistungsbilanz sinkt weiter.

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Daten und Prognosen

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sionswesen sowie die Universitäten einer Reform unterzo-gen. Derzeit wird ein liberalisierter Entwurf der von 1859datierenden, 1994 letztmals überarbeiteten Gewerbeord-nung beraten; die Neufassung soll Mitte 2002 in Kraft tre-ten. Selbst die »immerwährende Neutralität«, seit Unter-zeichnung des Staatsvertrages 1955 ein landesweites Ta-bu, mutierte im Rahmen einer neuen Sicherheitsdoktrin zur»Allianzfreiheit«, und der NATO-Beitritt wurde zum prüfens-werten Fernziel erklärt. Die Frage der Zwangsarbeiter-Ent-schädigung ist gut gelöst worden. Und – last but not least– hat man nach schon bald erfolgter Aufhebung der seitensder anderen EU-Länder im Jahre 2000 verhängten voreili-gen und überzogenen »Quarantäne« die Normalisierung derBeziehungen zu den EU-Partnern erreicht.

Das aus der Erfolgsgeschichte der Zweiten Republik nichtwegzudenkende korporatistische System der Sozialpart-nerschaft bleibt vom Wind des Wandels nicht verschont.Veränderungen des österreichischen »Kammerstaates« wur-den auf den Weg gebracht, um das Miteinander der Sozi-alpartner und des Staates von einer Verteilungspartnerschaftzu einer Plattform umzugestalten, welche Strategien für dielangfristigen Zukunftsfragen des Staates entwickelt. Radi-kale Lösungen werden, weil der österreichischen Menta-lität zuwiderlaufend, abgelehnt. Es bleibt also zumindest aufmittlere Sicht beim pragmatischen und weitestgehend kon-sensualen Miteinander der Sozialpartner, auch wenn jetzthäufiger gestreikt wird, während Arbeitsniederlegungen jahr-zehntelang so gut wie unbekannt waren.

Die Wirtschaftspolitik, und das wird bei den sie umgeben-den politischen Turbulenzen leicht übersehen, hat die drän-gendsten Probleme (mit Ausnahme einer durchgreifendenGesundheits- und Rentenreform) angepackt und Lösun-gen auf den Weg gebracht. Der auf eine Festigung des Wirt-schaftsstandorts Österreich abzielende Kurs ist berechen-bar und wird bis 2003 fortgeführt – so die Politik das zulässt.

Wirtschaftsentwicklung im Jahre 2001

Die weltwirtschaftlichen Rahmendaten stellten sich wie folgtdar: In den Vereinigten Staaten erhöhte sich das reale Brut-toinlandsprodukt um rund 1%. In Japan gingen Nachfrageund Produktion um etwa 1/2% zurück. In Mitteleuropa ex-pandierte die gesamtwirtschaftliche Erzeugung um knapp21/2%. In Westeuropa nahm das reale Bruttoinlandsproduktum fast 13/4% zu; in der EU und im Euro-Raum stieg es inannähernd gleichem Maße und in Deutschland um rund1/2%. Der Einfuhrpreis für Rohöl betrug in den westlichen In-dustrieländern im Jahresdurchschnitt fast 25 US-Dollar proBarrel; das sind 12% weniger als im Vorjahr. Industrieroh-stoffe (ohne Öl) verbilligten sich gegenüber dem Jahre 2000auf Dollar-Basis um ungefähr 10%. Der Wechselkurs desEuro betrug im Schnitt des Jahres 0,90 US-Dollar. 2000 wa-

ren es 0,92 US-Dollar. Das Volumen des Welthandels hatgegenüber 2000 fast stagniert.

In Österreich erfolgte eine harte Landung der Konjunktur,wie in den meisten anderen westeuropäischen Ländern, be-dingt durch einbrechende Exporte und eine insgesamt res-triktive Wirtschaftspolitik. Allerdings hielten sich die Folgenfür den Arbeitsmarkt in engen Grenzen. Das reale Brutto-inlandsprodukt (+ 1,1%) hatte im ersten Halbjahr weiterdeutlich an Schwung verloren und dürfte im zweiten Halb-jahr annähernd stagniert haben – es könnte sich ein Rück-gang errechnen, der jedoch wegen seiner Geringfügigkeitso sehr im statistischen Unschärfebereich liegt, dass von ei-ner Rezession nicht gesprochen werden kann. Die Binnen-nachfrage stagnierte im Verlauf, wobei der private Konsumgeringfügig gestiegen, der Staatsverbrauch hingegen leichtund die Bruttoanlageinvestitionen sogar deutlich gesunkensind. Die Inflationsrate war so hoch wie seit Mitte der neun-ziger Jahre nicht mehr. Die öffentlichen Haushalte schlos-sen überraschenderweise ausgeglichen, und das Defizit derLeistungsbilanz verringerte sich.

Die Ausfuhr von Gütern und Dienstleistungen hat im erstenQuartal weiter lebhaft expandiert. Anschließend ist sie spür-bar zurückgegangen, obwohl sich der US-Dollar gegenüberdem Euro im Jahresdurchschnitt noch etwas aufgewertethat. Ursache waren ganz überwiegend die konjunkturelleSchwäche (besonders in Deutschland, dem Haupthan-delspartner) sowie der abwärts schwingende Lagerzyklus inWesteuropa, wohin 68% (2000) der Lieferungen gehen. Auchfigurieren Vor- und Zwischenprodukte im westeuropäischenVergleich überdurchschnittlich bei der Warenausfuhr, wennauch nicht so ausgeprägt wie in Belgien. Besonders kräftigwar der Rückgang der Exporte nach Nordamerika sowienach Südostasien. Besser hielt sich der Absatz in den im-mer noch wachsenden mittel- und osteuropäischen Volks-wirtschaften (Anteil an der Warenausfuhr im Jahre 2000 ca.17%). Während die Ausfuhr dank des beträchtlichen Über-hangs zu Jahresbeginn gegenüber 2000 um etwa 4% zu-genommen hat, expandierte der Import um rund 23/4%.Bei nur noch wenig verschlechterten Terms of Trade sankdas Defizit der Leistungsbilanz leicht auf rund 21/2% desBIP, zumal sich die Tourismusbilanz nach einem sehr gutenFremdenverkehrsjahr spürbar verbesserte.

Die Bruttoanlageinvestitionen haben gegenüber dem Vor-jahr ungefähr stagniert. Der trotz gesunkener Zinsen ab demzweiten Quartal registrierte deutliche Rückgang wird im Jah-resvergleich durch den beträchtlichen Überhang zu Jah-resanfang ausgeglichen. Bremsend wirkten die seit Ende2000 laufend und merklich gesunkene Auslastung der Ka-pazitäten in der verarbeitenden Industrie (Ende 2001 lagsie sogar unter dem Durchschnitt der neunziger Jahre). Hin-zu kamen die ungünstigeren Absatz- und Ertragserwartun-gen welche besonders die gewerblichen Investitionen – dies

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Daten und Prognosen

insbesondere auch im IT-Bereich – gedrückt haben sowiedie sich verstärkt fortsetzende Rezession der Bauinvesti-tionen; auf letztere entfällt reichlich die Hälfte der Bruttoan-lageinvestitionen. Der Wohnungsbau ging infolge weiter sin-kenden Bedarfs nach wie vor deutlich zurück. Auch der öf-fentliche Bau wurde eingeschränkt, und der industriell-ge-werbliche Bau ist kaum noch gewachsen.

Der private Konsum hat um ca. 11/2% zugenommen. Die-ses Nachfrageaggregat hat trotz der um 1/2% gesunkenenrealen verfügbaren Einkommen als stabilisierender Faktorgewirkt. Retardierend wirkten die restriktive Finanzpolitik,das gegen Jahresende zum Stillstand gekommene Wachs-tum der Beschäftigung bei allmählich steigender Arbeitslo-senquote sowie Realeinkommensverluste durch die stär-ker als erwartet gestiegenen Verbraucherpreise. Wie in sol-chen Situationen üblich, haben die privaten Haushalte miteiner Verringerung der Sparquote um etwa 11/2 Prozent-punkte kompensierend reagiert. Im Zuge der rezessiven Ent-wicklung im Wohnungsbau und des sich laufend ver-schlechternden, auf der Basis von Verbraucherbefragungenerhobenen Konsumklimas nahm die Neigung zu größerenAnschaffungen ab. Käufe langlebiger Güter wurden hin-ausgeschoben. Der Staatsverbrauch ist infolge forcierterKonsolidierung der öffentlichen Finanzen um etwa 1/2% ge-sunken.

Auf dem Arbeitsmarkt verschlechterte sich die Lage nurganz allmählich. Die Zunahme der Beschäftigung lief erstgegen Jahresende aus, und die Arbeitslosigkeit nahm aufsaisonbereinigter Basis ab Jahresmitte verhalten zu. Gleich-wohl konnten über die Hälfte der Unternehmen ihren Be-darf an neuen Mitarbeitern nicht decken. Im Jahresdurch-schnitt lag die Arbeitslosenquote bei 3,9% (2000: 3,7%).

Die Konsumentenpreise sind im ersten Halbjahr deutlichgestiegen, auch weil die öffentliche Hand neue Gebühren

einführte und bestehende teilweise stark heraufgesetzt hat.Preistreibend wirkten zudem die BSE- und MKS-Krisen, un-günstige Witterung (Frischgemüse), die kräftige Verteuerungvon Energie sowie die weitere Aufwertung des US-Dollargegenüber dem Euro. Anschließend war das Preisniveautendenziell stabil. Vor der Ausgabe des Euro-Bargelds An-fang 2001 kam es nur vereinzelt zu umstellungsbedingtenPreiserhöhungen, da diese gesetzlich verboten worden wa-ren. Der Teuerungsschub im Dezember resultierte zu ei-nem erheblichen Teil aus der witterungsbedingt starken Ver-teuerung von Nahrungsmitteln. Im Jahresdurchschnitt lagendie Verbraucherpreise um 2,3% über dem Niveau des Jah-res 2000.

Wirtschaftspolitik

Von der Wirtschaftspolitik gehen 2002 insgesamt keinedämpfenden Wirkungen mehr auf die Konjunktur aus. Zwarbremst die Finanzpolitik noch etwas, aber die Geldpolitik sti-muliert spürbar und die Lohnpolitik leicht. Im Jahre 2003dürfte sich bei etwa neutraler Geld- und Finanzpolitik sowieexpansiver Lohnpolitik per saldo ein schwacher Impuls er-geben.

Die Finanzpolitik bleibt auf Konsolidierungskurs und dämpftzunächst noch das Wirtschaftswachstum. Auf längere Sichtsollen die im internationalen Vergleich weit überdurch-schnittlich hohen Lohnnebenkosten gesenkt werden, umWachstum und Beschäftigung zu stärken. 2001 gelang auseiner finanzpolitisch deplorablen Lage heraus ein gleicher-maßen überraschender wie erstaunlicher Schritt in RichtungKonsolidierung der öffentlichen Haushalte. Mittels einesNachtragshaushalts mit zahlreichen Steuer- und Abgaben-erhöhungen wurde eine Verringerung des gesamtwirt-schaftlichen Finanzierungsdefizits auf 3/4% des BIP ange-strebt, die im Stabilitäts- und Konvergenzprogramm mitder EU ausgehandelt worden waren. Trotz der unerwarte-

ten konjunkturellen Flaute wurde jedoch einBudgetausgleich und ein Rückgang derStaatsverschuldung auf ca. 62% des BIP er-reicht – eine im EU-Vergleich hervorragendeLeistung. Gemäß dem bis 2004 laufendenStabilitätspakt der österreichischen Ge-bietskörperschaften waren die Bundeslän-der verpflichtet, insgesamt einen Überschussvon 3/4% des BIP zu erwirtschaften, währenddie Gemeinden ausgeglichen abschließenmussten. Dadurch konnte das Defizit imBundeshaushalt austariert werden. Dieseswurde durch erhöhte Sparsamkeit auf derAusgabenseite (einschließlich Stellenabbau)und sinkende Zinsbelastung sowie durch teilskräftige Steuer- und Abgabenerhöhungen,Streichung des Investitionsfreibetrags etc.,aber auch durch massiv gestiegene Voraus-

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Daten und Prognosen

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zahlungen auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer ge-trimmt; je nach Steuerbetrag wurden gegenüber dem letz-ten Bescheid um 5, 10 oder 20% höhere Vorauszahlungenverordnet, und es wurde eine Verzinsung der Steuerschuldeingeführt (Anspruchsverzinsung). Auch hat man die Priva-tisierungserlöse der staatlichen Privatisierungsagentur ÖI-AG voll zur Schuldentilgung eingesetzt. Kehrseite des Kon-solidierungserfolgs ist jedoch eine nun um 4 Prozentpunk-te oder 10% über dem EU-Durchschnitt liegende Steuer-und Abgabenquote – nach österreichischen Angaben ca.45,6%, nach EU-Berechnungen 47% des BIP. Da hierdurchdie Wachstumsperspektiven leiden, wird bereits über Steu-er- und Abgabensenkungen nachgedacht, um die von derRegierung für 2010 anvisierte Quote von 40% zu realisieren.Der erste Schritt dürfte, begünstigt vom fortschreitendenKonjunkturaufschwung, bereits im Wahljahr 2003 getan wer-den, wobei allerdings noch nicht klar ist, wo die hierzu nö-tigen Einsparungen erfolgen werden. Die Finanzpolitik dürf-te dann jedoch etwa konjunkturneutral sein.

Im laufenden Jahr wirkt sie jedoch weiter restriktiv, wennauch nicht mehr in dem Maße wie 2001. Während das Ver-hältnis von Einsparungen zu konsolidierungsbedingten Mehr-einnahmen im vorigen Jahr 4:3 betrug, sind heuer 7:3 vor-gesehen. Für die öffentlichen Haushalte 2003 wurde neu-erlich ein ausgeglichener Abschluss budgetiert, obwohl di-verse Vorzieheffekte nun fehlen, ein Kinderbetreuungsbetrageinführt, ein öffentliches Investitionsprogramm (858 Mill. pwerden heuer und 574 Mill. p 2003 für strukturverbesserndeProjekte sowie für die Altbausanierung ausgegeben) ange-laufen ist und die »automatischen Stabilisatoren« kaum ge-bremst wirken. Andererseits zieht die Konjunktur wiederan, nennenswerte Einsparungen aus der Pensionsreform er-geben sich erst heuer, die Bezüge der öffentlich Bedienste-ten steigen lediglich um 0,8%, es werden weiter Staatsstellengestrichen, die Bundesbahnen und die EU erhalten weni-ger Geld, und der Sparkurs wird konsequent fortgesetzt. Ei-nen gewichtigen Unsicherheitsfaktor bei der Erreichung desehrgeizigen Konsolidierungsziels – welches die Staatsver-schuldung auf reichlich 60% des BIP drücken würde – bil-det die von EUROSTAT als nicht Maastricht-gerecht bean-standete Ausgliederung der Bundesimmobiliengesellschaft(BIG). Sollte sich Österreich diesem Diktum beugen, müss-ten diese, nicht auf den Finanzierungssaldo (wohl aber aufdie Staatsverschuldung) des Staate anrechenbaren Trans-aktionen, aus den öffentlichen Haushalten ab dem Jahr 2000herausgerechnet werden. Sie beliefen sich 2000 auf 0,26%und 2001 auf 0,37% des BIP. Entsprechend erhöhen sichdie öffentlichen Finanzierungsdefizite.

Die Europäische Zentralbank (EZB) hatte ihren zuvor res-triktiven geldpolitischen Kurs bereits im Mai 2001 geän-dert, obwohl der durch massive Ölverteuerung, Dollarauf-wertung und die Tierseuchen BSE und MKS verursachtePreisschub noch nicht ausgelaufen war und die Auswei-

tung der Geldmenge M3 spürbar über der Zielgröße lag.Nach den Terroranschlägen vom 11. September in denUSA wurde die monetäre Lockerung im Schulterschlussmit anderen Zentralbanken verstärkt fortgesetzt. Insgesamthat die EZB ihren Leitzins in vier Schritten um 1,5 Pro-zentpunkte auf zuletzt (November 2001) 3,25% herabge-setzt. Die Zinssenkungen werden ihre konjunkturstimulie-rende Wirkung erst heuer voll entfalten. Mit Blick auf denjetzt 1,75% betragenden und wohl nicht weiter sinkendenUS-Schlüsselzins wäre sogar noch Spielraum für einen klei-nen weiteren Zinsschritt nach unten gegeben. Dies umsomehr, als sich der Preisauftrieb im Euro-Raum weiter be-ruhigen und die Teuerungsrate 2002 im Jahresdurchschnittunter 2% – dem mittelfristigen Inflationsziel der EZB – sin-ken dürfte. Allerdings liegt die Kerninflationsrate im Euro-Raum nach wie vor spürbar über 2%. Auch ist die Geld-menge M3 bis Ende 2001 weiter aus dem Ruder gelau-fen. Mit 8% lag die Zuwachsrate (Vorjahresvergleich) im De-zember weit über dem – auch für 2003 vorgegebenen –jahresdurchschnittlichen Referenzwert von 4,5%. Liquiditätist also reichlich vorhanden, selbst wenn die EZB ihren Leit-zins nicht weiter zurücknimmt. Um die Jahreswende2002/2003 ist daher bei in Gang gekommener Konjunk-tur die beginnende Straffung der monetären Zügel zu er-warten. Dies dürfte jedoch im Hinblick auf die Festigungdes Euro-Wechselkurses gegenüber dem US-Dollar vor-sichtig erfolgen. Die hieraus resultierenden bremsendenWirkungen auf die Konjunktur sind nicht vor Herbst 2003zu erwarten. Die EZB führte bis zuletzt in ihren monatlichwechselnden Begründungen für die laufenden Verfehlun-gen stets Sonderfaktoren an und reagiert häufig mit Neu-definitionen von M3. Auf diese Weise ist jedoch das Ver-trauen in den Euro nicht zu festigen. Und es drängt sicheine Änderung des monetären Referenzwerts, so man dennan einem solchen festhalten will, auf. Die Euro-Bargeld-einführung ging in nur drei Wochen über die Bühne, unddamit wesentlich schneller als angenommen.

Die Einkommenspolitik bleibt stabilitätsorientiert. Die Ein-führung des Euro-Bargeldes wurde durch ab Oktober 2001geltende Preiskontrollen erfolgreich abgesichert, die um-stellungsbedingte Preiserhöhungen verbieten. Die Lohner-höhungen bewegen sich 2002 zwischen 0,8% für die öf-fentlich Bediensteten, und etwa 3% in der Metallindustrie;im Durchschnitt werden es mit etwa 21/2% weniger als 2001und spürbar weniger als im EU-Mittel sein, zumal es auchkeine zusätzlichen betrieblichen Verteilungsoptionen mehrgibt. Da die Teuerungsrate jedoch stärker sinkt, werden dieReallöhne netto nach dem vorjährigen Minus von 3/4% heu-er um 1/2% steigen. Die Abschlüsse des Metallbereichs ver-lieren weiter allmählich ihre Orientierungsfunktion für dieanderen Wirtschaftszweige, die sich zunehmend nach denjeweiligen Produktivitätsfortschritten ausrichten. Hierin zeigtsich die zunehmende Flexibilität der in über einem halbenJahrhundert bewährten Sozialpartnerschaft. In diese kommt

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Daten und Prognosen

zusätzliche Bewegung durch den Zusammenschluss derMetallgewerkschaft mit der Gewerkschaft der Privatan-gestellten. Die neue Formation stellt über ein Drittel der imÖGB organisierten Arbeitnehmer und bildet einen wichti-gen Schritt zur Verringerung der ursprünglich 13 Fachge-werkschaften auf acht oder sogar drei große Blöcke.

Wirtschaftsentwicklung im Jahre 2002

Als weltwirtschaftliche Rahmendaten werden unterstellt:In den Vereinigten Staaten erhöht sich das reale Bruttoin-landsprodukt um 11/4%. Die gesamtwirtschaftliche Erzeu-gung geht in Japan um reichlich 1% zurück. In Mitteleuro-pa nehmen Nachfrage und Produktion um etwa 21/4% zu.In Westeuropa wird das reale Bruttoinlandsprodukt um rund11/2% ausgeweitet; für die EU und den Euro-Raum sind ähn-liche Raten zu erwarten, während die Zunahme in Deutsch-land gut 1/2% beträgt. Der Einfuhrpreis für Rohöl liegt inden westlichen Industrieländern im Schnitt des Jahres bei20 US-Dollar pro Barrel. Die Preise für Industrierohstoffe(ohne Öl) sinken gegenüber 2001 um ungefähr 61/2%. DerWechselkurs des Euro bewegt sich im Jahresdurchschnittinnerhalb einer Bandbreite von 0,90 bis 1 US-Dollar. Das Vo-lumen des Welthandels expandiert in einer Größenordnungvon 23/4%.

In Österreich weist die Wirtschaftsentwicklung – zunächstnoch zögerlich – deutlich aufwärts; Klimaindikatoren und an-dere Indizien lassen erwarten, dass der Tiefpunkt der Kon-junktur zur Jahreswende 2001/2002 erreicht wurde. Sti-mulierend wirken die vom Ausland kommenden Anregun-gen (zumal vom internationalen Lageraufbau), die niedrige-ren Energiepreise, die gesunkenen Zinsen sowie der immernoch günstige Dollarkurs. Vor allem die Ausfuhr, aber auchdie inländischen Nachfragekomponenten weisen höhereSteigerungsraten auf als im vorigen Jahr. Das reale Brutto-inlandsprodukt dürfte um knapp 11/2%, also ungefähr demwesteuropäischen Durchschnitt entsprechend zunehmen.Der Arbeitsmarkt – Nachläufer der Konjunktur – reagiert erstim späteren Verlauf des Jahres auf die konjunkturelle Bes-serung. Der Preisauftrieb wird moderat sein. Das Defizit derLeistungsbilanz sinkt bei verbesserten Terms of Trade noch-mals leicht.

Erfahrungsgemäß findet der Export von Gütern und Dienst-leistungen am schnellsten aus dem konjunkturellen Tief her-aus, da er zeitgleich vom Wiederaufbau der zuvor verrin-gerten Lagerbestände in Westeuropa angeregt wird. Ursa-che ist einmal der im westeuropäischen Vergleich über-durchschnittlich hohe Anteil an Vor- und Zwischenproduk-ten am industriellen Ausstoß. Zum anderen gehen etwa zweiDrittel der Ausfuhr nach Westeuropa, die mit etwas mehr alsder Hälfte am Bruttoinlandsprodukt partizipiert. Infolge dermaßvollen Lohnsteigerungen und fortgesetzt kräftiger Pro-

duktivitätssteigerungen in der verarbeitenden Industrie wirddiese (aber auch die Gesamtwirtschaft) ihre preisliche Wett-bewerbsposition gegenüber dem Ausland weiter verbes-sern können. Das gilt selbst dann, wenn sich der Euro gegen-über dem US-Dollar langsam aufwertet. Die Ausfuhr dürfte,bei beträchtlichem Unterhang zu Jahresbeginn, aber im Ver-lauf beschleunigt steigend, mit annähernd 4% in etwa glei-chem Rhythmus zunehmen wie 2001. Der Import erhöhtsich um reichlich 3%. Bei leicht verbesserten Terms of Tra-de (und einer wieder recht günstigen Tourismusbilanz) kannein Rückgang des Fehlbetrags der Leistungsbilanz auf reich-lich 21/4% des BIP erwartet werden.

Die Bruttoanlageinvestitionen dürften um ca. 3/4% expan-dieren. Sie finden zunächst nur sehr langsam und erst imspäteren Verlauf des Jahres aus der konjunkturellen Schwä-chephase heraus. So werden die Ausrüstungsinvestitio-nen mit wachsender Auslastung der Kapazitäten sowie ver-besserter Absatz- und Ertragserwartungen und bei immernoch günstigen Finanzierungsbedingungen wieder an Dy-namik gewinnen. Zunächst dominieren die zur Aufrechter-haltung bzw. Verbesserung der internationalen Wettbe-werbsfähigkeit erforderlichen Rationalisierungs- und Er-satzinvestitionen. Gegen Jahresende kommt es dann ver-mehrt auch wieder zur Erweiterung der Anlagen. Die Bau-investitionen werden gegenüber dem Vorjahr zwar noch-mals sinken, allerdings deutlich weniger als 2001. Für denspäteren Verlauf des Jahres zeichnet sich eine zaghafteWende zum Besseren ab. Auslöser ist einmal das im Herbst2001 beschlossene »Akzentprogramm« des Bundes, wel-ches neben höheren Aufwendungen für Forschung und Bil-dung auch zusätzliche Investitionen in die Altbausanierungund in die Verkehrsinfrastruktur vorsieht. Glücklicherweisewaren Projekte bereits soweit vorbereitet, dass sie jetzt inAngriff genommen werden können. Ferner wird der Ein-bruch beim gewerblichen Bau im Zuge des konjunkturel-len Aufschwungs gegen Jahresende überwunden. Undschließlich dürfte sich die Rezession im Wohnungsbauwegen der forcierten Altbausanierung in verlangsamtemTempo fortsetzen.

Der private Konsum nimmt allmählich etwas rascher zu undexpandiert gegenüber 2001 um rund 13/4%. Bald setzensich die Auftriebskräfte trotz der zunächst noch ungünsti-gen Lage auf dem Arbeitsmarkt durch: Die realen verfüg-baren Einkommen steigen wieder, wenn auch nur schwach,wesentlich bedingt durch höhere Reallöhne und das neueingeführte Erziehungsgeld. Die Sparquote geht noch et-was zurück. Die Zinsen sind gesunken. Ab der Jahresmit-te wird die Flaute auf dem Arbeitsmarkt überwunden. Grö-ßere Anschaffungen werden erst allmählich wieder etwaslebhafter getätigt, da die Rezession im Wohnungsneubauweitergeht. Der Staatsverbrauch dürfte im Zuge der deut-lich konsolidierungsorientierten Finanzpolitik um ca. 1/2%abnehmen.

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Daten und Prognosen

i fo Schne l ld ienst 4/2002 – 55. Jahrgang

Auf dem Arbeitsmarkt verschlechtert sich die Lage zunächstnoch etwas. Im zweiten Halbjahr dürfte die Beschäftigungjedoch schon wieder leicht steigen. Allerdings wird sichgleichzeitig der, auch während der konjunkturellen Flauteeklatante, Mangel an Fachkräften verschärfen. Die Arbeits-verwaltung ist auf vielfältige Weise zunehmend bestrebt, ei-ne bessere Ausschöpfung des Arbeitskräftepotentials durch-zusetzen. Die Arbeitslosenquote dürfte sich im Jahres-durchschnitt auf reichlich 4% erhöhen.

Der Preisauftrieb war auch während der intransparentenPhase der Euro-Bargeldeinführung moderat, dank des abOktober 2001 geltenden und durch Kontrollen abgesicher-ten Verbots umstellungsbedingter Preiserhöhungen. Schwar-ze Schafe wurden vornehmlich im Hotel- und Gaststätten-gewerbe, vereinzelt auch bei den Banken und auf Wo-chenmärkten registriert. Bei verlangsamt steigenden Lohn-stückkosten, stabilisierenden Importpreisen sowie geringe-ren Erhöhungen von Gebühren und administrierten Preisenals im Vorjahr ist ein nur langsamer Preisanstieg abzuse-hen. Hierfür spricht auch die jüngste Entwicklung der Er-zeugerpreise. Die Konsumentenpreise dürften das Niveauvon 2001 um reichlich 11/2% übersteigen.

Wirtschaftsentwicklung im Jahre 2003

Als weltwirtschaftliche Rahmendaten werden angenom-men: In den Vereinigten Staaten expandiert das reale Brut-toinlandsprodukt um ca. 31/2%. Nachfrage und Produktionnehmen in Japan um etwa 1/2% zu. In Mitteleuropa steigtdie gesamtwirtschaftliche Erzeugung um ungefähr 31/2%. InWesteuropa, in der EU und im Euro-Raum erhöht sich dasreale Bruttoinlandsprodukt um rund 23/4%; in Deutschlandbeträgt die Zunahme annähernd 21/4%. Der Importpreis für

Rohöl liegt in den westlichen Industrieländern im Jahres-mittel bei 22 US-Dollar pro Barrel. Industrierohstoffe (ohneÖl) kosten etwa 7% mehr als 2002. Der Wechselkurs desEuro liegt im Durchschnitt des Jahres innerhalb einer Band-breite von 0,95 bis 1,05 US-Dollar. Das Volumen des Welt-handels dürfte in einer Größenordnung von 8% ausgewei-tet werden.

In Österreich, wie im übrigen Westeuropa, setzt sich derAufschwung, von dem nun auch die Inlandsnachfragedeutlich erfasst wird, zunächst noch beschleunigt fort.Im späteren Verlauf des Jahres verringert sich das Tem-po. Anfangs kommen noch Impulse von der Geldpolitik,doch werden auch die kurzfristigen Zinsen langsam auf-wärts tendieren. Die Finanzpolitik bremst nicht mehr. Diewichtigsten Impulse kommen jedoch von der stark ex-pandierenden Auslandsnachfrage. Das reale Bruttoin-landsprodukt dürfte um annähernd 23/4% steigen, dochkommt es trotz wachsender Auslastung der Kapazitätennicht zu Produktionsengpässen. Die Preise erhöhen sichbei deutlich zunehmender gesamtwirtschaftlicher Pro-duktivität nur wenig schneller als 2002, obwohl von derImportseite keine stabilisierenden Effekte mehr zu erwar-ten sind.

Die Ausfuhr von Gütern und Dienstleistungen (ca. + 71/2%)wird in erster Linie von der lebhaft zunehmenden westeu-ropäischen Nachfrage, aber auch von Lieferungen nachÜbersee sowie nach Mittel- und Osteuropa – hierhin gehtmit etwa 17% der Warenausfuhr relativ viel mehr als im west-europäischen Durchschnitt –, wo die Wirtschaft kräftiger ex-pandiert als in Westeuropa. Die überdurchschnittlich star-ken Impulse vom internationalen Lageraufbau laufen zwaraus, aber dafür kommt der Absatz von Fertigprodukten er-heblich in Schwung, zumal viele österreichische Unterneh-

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Veränderungsraten des realen BIP und seiner Komponenten– in % –

2000 2001a) 2002a) 2003a)

Wifob) Wifob) EUc) OECDd) Wifob) EUc) OECDd)

Bruttoinlandsprodukt 3,0 1,1 1,2 1,2 1,5 2,8 2,4 2,7Inlandsnachfrage 2,5 0,5 1,0 0,9 1,2 2,3 2,4 2,3Privater Verbrauch 2,5 1,4 1,6 1,6 1,8 2,3 2,3 2,4Staatsverbrauch 0,9 – 0,5 – 0,3 – 0,1 0,6 0,5 0,2 0,5Bruttoanlageinvestitionen 5,1 – 0,1 0,5 0,8 0,3 3,7 3,5 3,6Exportee) 12,2 3,9 3,5 4,0 3,8 7,3 7,5 7,0Importee) 11,1 2,8 3,2 3,3 3,3 6,6 7,6 6,3

Industrieproduktion (Sachgütererzeugung und Bergbau) 8,8 1,8 1,5 n.a. n.a. 5,0 n.a. n.a.Konsumentenpreise (HVPI) 2,0 2,3 1,4 1,7 1,8 1,6 1,8 1,9Arbeitslosenquote 3,7 3,9 4,2 4,3 5,3 4,0 4,2 5,1Leistungsbilanzf) – 2,8 – 2,5 – 2,4 – 2,4 – 1,9 – 2,4 – 2,7 – 1,5Finanzierungssaldo des Staatesf) – 1,1 0,0 – 0,4 – 0,4 – 0,4 0,0 0,4 0,1

a) Schätzungen. – b) Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung, Wien, vom Dezember 2001. – c) Europäische Kommission, Brüssel, vomNovember 2001. – d) Organisation for Economic Cooperation and Development, Paris, vom November 2001. – e) Güter und Dienstleistungen. –f) In Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).

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Daten und Prognosen

men als Zulieferer von Komponenten intensiv in die Pro-duktion internationaler Konzerne eingebunden sind. Diepreisliche Wettbewerbsfähigkeit wird durch weiterhin aus-geprägte Produktivitätsfortschritte bei moderaten Lohner-höhungen weiter verbessert. Da die Einfuhr etwas wenigerdynamisch als der Export zunimmt und die Terms of Tradenochmals etwas günstiger werden, könnte das Defizit derLeistungsbilanz in Relation zum BIP nochmals etwas nied-riger ausfallen.

Die Investitionskonjunktur weist deutlich aufwärts, auchweil die Rezession im Bausektor überwunden wird. Die Ge-spaltenheit der Entwicklung wird gleichwohl noch ausge-prägter als zuvor. Mit rund 71/2% dürften die Ausrüstungs-investitionen sehr kräftig expandieren. Anregend wirkendie zunehmende Auslastung der Kapazitäten, welche ver-mehrt Erweiterungsinvestitionen induziert. Ferner stimulie-ren die verbesserten Absatz- und Ertragserwartungen, dietrotz allmählich steigender Zinsen immer noch günstigen Fi-nanzierungsbedingungen sowie der mit weiter verschärf-tem internationalen Wettbewerb verstärkte Zwang zu Ra-tionalisierungs- und Ersatzinvestitionen. Die Bauproduktionnimmt hingegen erst schwach zu. Zwar wird mehr in dieöffentliche Infrastruktur investiert, und der gewerbliche Bauerholt sich. Aber der Wohnungsbau kommt trotz öffentlichgeförderter Altbausanierung noch nicht aus der Rezessionheraus.

Der private Konsum erhöht sich um etwa 21/2%. Die rea-len verfügbaren Einkommen steigen bei nur wenig be-schleunigter Inflation schneller, auch weil die Beschäftigungwieder zunimmt. Das Konsumklima hellt sich zwar im Zugedes Aufschwungs weiter auf, doch die Sparquote erhöhtsich trotzdem. Dieses ausgeprägt antizyklische Verhalten isttypisch für die österreichischen Verbraucher. Langlebige Gü-ter werden lebhafter nachgefragt als bisher. Der Staatsver-brauch wird nur sehr schwach ausgeweitet.

Die Lage auf dem Arbeitsmarkt bessert sichweiter, und der Mangel vor allem qualifizier-ter Kräfte nimmt zu. Die Beschäftigung er-höht sich spürbar. Das gilt vor allem imDienstleistungssektor und führt zu einem An-stieg der im westeuropäischen Vergleichnoch unterentwickelten Teilzeitarbeit. Die Ar-beitslosenquote geht im Jahresdurchschnittbei deutlich zunehmender Erwerbsbevölke-rung auf rund 4% zurück.

Der Preisanstieg bleibt moderat, obwohl dieEinfuhrpreise etwas anziehen. Aber die ge-samtwirtschaftliche Produktivität erhöht sichdeutlich bei weiterhin mäßigem Lohnanstieg.Der Wettbewerb bleibt lebhaft, mitbedingtdurch fortschreitende Liberalisierung und De-regulierung. Mit nennenswerten Anhebun-

gen indirekter Steuern und Gebühren ist mit Blick auf dieim Herbst anstehenden Parlamentswahlen nicht zu rech-nen. Die Konsumentenpreise dürften gegenüber 2002 umfast 13/4% steigen.

Abgeschlossen am 8. Februar 2002

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Weithin bekannt ist, dass in den Jahren 1989bis 1991 starke Wanderungsbewegungenvon Ost- nach Westdeutschland stattfanden,durch die innerhalb von nur drei Jahren persaldo rund eine Mill. Menschen in die altenBundesländer kamen. Da die weitere wirt-schaftliche Entwicklung in den neuen Län-dern zu diesem Zeitpunkt bestenfalls zu ah-nen war, schlug sich in diesen Zahlen si-cherlich auch ein Migrationsstau nieder, dersich nach dem Mauerbau 1963 aufgebauthatte und erst mit der Öffnung der inner-deutschen Grenze entladen konnte.

Seither haben sich die Nettowanderungen vonOst- nach Westdeutschland deutlich reduziert.Sie beliefen sich im Durchschnitt der Jahre ab1992 auf deutlich unter 50 000 Personen proJahr. Auch dies ist bekannt und wird gele-gentlich als Ausdruck geringer Binnenmobi-lität und als eine der Ursachen für den fehlenden Ausgleichder unterschiedlichen Arbeitsmarktsituation in den beiden Tei-len des Bundesgebietes gewertet. Selten beachtet wird aller-dings, welches Volumen an Bruttowanderungen sich hinterdiesen geringen Salden verbirgt (vgl. Abb. 1). So sind dieOst-West-Wanderungen – nach dem Spitzenwert aus demWiedervereinigungsjahr 1990, der 380 000 Personen knappüberschritt, – anschließend auf ein Niveau von 150 000 bis200 000 Personen im Jahr zurückgegangen, mit zuletzt wie-der steigender Tendenz. Dem stehen seit 1991 jedoch in zu-nehmendem Maße West-Ost-Wanderungen gegenüber, diegegenwärtig ihrerseits einen Umfang von rund 150 000 Per-sonen im Jahr erreicht haben.

Erst wenn man beide Ströme saldiert, ergeben sich die ver-gleichsweise niedrigen Nettowanderungen. Diese stehen

somit nicht im Widerspruch zur aus ostdeutscher Sicht im-mer wieder beklagten Entwicklung, dass namentlich jünge-re Erwerbstätige aufgrund der schlechten Arbeitsmarktlagenach Westdeutschland abwandern, oder zur Beobachtung,dass beispielsweise die dynamischeren Arbeitsmarktregio-nen in Bayern erkennbar eine gewisse Anziehungskraft fürostdeutsche Arbeitskräfte haben. Zu beachten ist lediglich,dass dieser Abwanderung aus den neuen Bundesländernein nicht wesentlich geringerer Zufluss an Personen gegen-übersteht, die von West nach Ost wandern.

Um die Auswirkungen dieser Bruttowanderungsströme aufdie aktuelle Arbeitsmarktsituation und die längerfristigen Ent-wicklungsperspektiven der Wirtschaft in den neuen Bundes-ländern zu beurteilen, ist neben der geringen, aber laufen-den Nettoabwanderung vor allem noch die Altersstrukturder innerdeutschen Wanderungen zu beachten (vgl. Abb. 2).

Differenziert man die Bruttowanderungs-ströme und die Wanderungssalden nach Al-tersgruppen, so fällt auf, dass per saldo vorallem die jüngste Gruppe der Unter-25-Jäh-rigen, und darunter vor allem die 18- bis 25-Jährigen – also Kandidaten für Ausbildungund Beschäftigungsaufnahme – aus denneuen Bundesländern abwandern. Relativhohen Zahlen von Abwanderern stehen hierim Zeitablauf durchgehend geringere Zu-wanderungen gegenüber.

Bei den 30- bis 50-Jährigen, also Personenim besten Erwerbsalter, ergeben sich zwarderzeit ähnlich hohe Abwandererzahlen wiebei den Jüngeren. Gleichzeitig wandern hierjedoch mittlerweile annähernd ebenso vielePersonen im Jahr von Westdeutschland nachOstdeutschland, so dass der altersspezifi-sche Wanderungssaldo annähernd ausge-

Die Jungen gehen – Alte kommenOst-West-Wanderungen in Deutschland:

Abb. 1

Abb. 2

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Im Blickpunkt 45

glichen ist. Dass dieser Saldo zwischenzeitlich leicht nega-tiv war, liegt interessanterweise vor allem an einer Netto-wanderung von 25- bis 30-Jährigen in die neuen Bundes-länder, die von 1993 bis 1997 anhielt. Ab 1998 wandernper saldo allerdings auch Personen dieser Altersgruppe mitsteigender Tendenz in das frühere Bundesgebiet ab.

Geringe, aber seit 1996 anhaltende Nettozuwanderungennach Ostdeutschland ergeben sich schließlich für die Al-tersgruppe der 50-Jährigen und Älteren, die generell am we-nigsten mobil ist. Hier sind es vor allem die Über-65-Jähri-gen, also Personen jenseits der Erwerbsphase, die in stär-kerem Maße von West- nach Ostdeutschland wandern alsin umgekehrter Richtung.

Aus diesen im Detail wenig beachteten Zahlen lässt sichschließen, dass Arbeitsmarktlage und Entwicklungspers-pektiven in den neuen Bundesländern tendenziell vor allemBerufseinsteiger und jüngere Erwerbspersonen zur Abwan-derung nach Westdeutschland ermuntern, während ein Net-tozufluss sich vorrangig bei Personen ergibt, die bereitsaus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind und – so lässtsich vermuten – zum Beispiel als Rentner in Regionen zu-rückkehren, aus denen sie bereits in der Nachkriegszeit odervor dem Fall der Mauer abgewandert sind. Die im Umfangeher geringe Zuwanderung älterer Personen ist im Hinblickauf die Beschäftigungssituation in den neuen Bundeslän-dern weitgehend bedeutungslos. Was die Nettoabwande-rung jüngerer Erwerbspersonen betrifft, die sich in den hieraufgezeigten Zahlen niederschlägt, bewirkt sie kurzfristig ei-ne Entlastung der ostdeutschen Arbeitsmärkte, kann sichzugleich jedoch langfristig eher als Entwicklungshemmniserweisen, weil damit bereits vorhandenes oder potentielleszukünftiges Humankapital verloren geht (Burda und Hubt2001). Entscheidend ist dabei die Frage, ob sich diese Mi-grationsprozesse bei einer günstigeren wirtschaftlichen Ent-wicklung in den neuen Bundesländern – die allerdings oh-ne die abgewanderten Arbeitskräfte in Gang gesetzt wer-den müsste – als umkehrbar erweisen oder ob die Betrof-fenen sich erst am Ende ihres Erwerbslebens wieder in dieHeimat orientieren, wie es die jetzige ältere Generation tut.

(M.W.)

Literatur

Burda, M.C. und J. Hunt (2001), »From Reunification to Economic Integrati-on: Productivity and Labor Markets in Germany«, Brookings Papers on Eco-nomic Activity (in Vorbereitung).

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Die konjunkturelle Abschwächung in den USA und derSchock vom 11. September haben das Wachstum der deut-schen Ausfuhr im abgelaufenen Jahr nachhaltig gedämpft.Der Tiefpunkt könnte im Frühjahr überwunden werden.

Nach vorläufigen Berechnungen des Statistischen Bundes-amtes ist die deutsche Ausfuhr 2001 im Vergleich zum Vor-jahr real um 5,1% gewachsen (nominal um 6,1%). In denersten drei Quartalen des vergangenen Jahres, von Januarbis September, wurde real noch um fast 7% mehr expor-tiert als im vergleichbaren Vorjahreszeitraum. Die Terroran-schläge vom 11. September 2001 erzeugten im vierten Quar-tal einen zusätzlichen Dämpfer für das Exportwachstum. Diedirekten Lieferungen auf den amerikanischen Markt warendabei nicht einmal ausschlaggebend. Von der deutschenWarenausfuhr gehen nur rund 10% in die USA, zwei Drittelwerden nach West- und Osteuropa geliefert, davon nichtganz 45% in den Euroraum. Von Januar bis Septemberwuchsen die Ausfuhren (nominal) in den Euroraum um 7%,in die USA dagegen doppelt so stark um 14%. Im Oktoberund November hat sich das Wachstum abgeschwächt, imZeitraum Januar bis November lagen die Ausfuhren in denEuroraum noch um 4,6% über dem entsprechenden Vor-jahresniveau (in die EU insgesamt um 4,9%). Die Ausfuhrenin Drittländer waren dagegen erheblich weniger betroffen,sie lagen in diesem Zeitraum noch um 11% über dem Ni-veau des Vorjahres. In die USA wurden in diesem Zeitraumnoch 10% mehr als im Vorjahr geliefert. Von den Waren-strömen her betrachtet ist somit die Abschwächung der Ex-portkonjunktur in Deutschland keineswegs primär auf ei-nen Einbruch auf dem amerikanischen Markt zurückzuführen.

Das Wachstum der deutschen Exporte in die USA folgte2000 und 2001 ziemlich genau der zyklischen Entwicklungder US-Importe: hohe Zuwachsraten bis Ende 2000 undAbschwächung des Wachstums im Verlaufe von 2001. Wäh-rend die Importe der USA aber im Verlaufe des letzten Jah-res nominal und real schrumpften und Ende2001 unter dem Niveau von Ende 2000 la-gen, verbuchten die deutschen Lieferungenin die USA bis zum September des abge-laufenen Jahres der Tendenz nach noch Zu-wächse. Ein kurzfristiger Einbruch als un-mittelbare Reaktion auf die Terroranschlägeist erst im November zu verzeichnen. Aufdem schrumpfenden amerikanischen Marktkonnten sich somit die deutschen Exporteureganz gut behaupten. Weniger günstig siehtdas Bild bei den Ausfuhren in den Euroraumaus. Auch hier verlor das Wachstum gegenEnde 2000 an Fahrt und kam dann aber be-reits zu Beginn des vergangenen Jahres zumErliegen. Am Jahresende wurde das Niveauvon Ende 2000 unterschritten. Der Euroraumkonnte somit entgegen manchen Erwartun-gen (Europäische Kommission 2001) kein

Gegengewicht zu der nachlassenden US-Konjunktur bilden.Durch die schwache Nachfrage aus dem Euroraum wurdeim Gegenteil das deutsche Exportwachstum noch stärkergedämpft als durch die nachlassende Nachfrage aus denUSA.

Dass die Nachfrage aus Europa sich nicht von der Kon-junkturentwicklung in den USA abkoppeln konnte, liegt dar-an, dass die Konjunktur in jedem einzelnen europäischenLand ebenfalls vom amerikanischen Markt abhängt, dadurchist die indirekte Abhängigkeit der deutschen Exporte vonden USA größer als in den bilateralen Handelsbeziehungenzum Ausdruck kommt. Zudem dürften neben dem Außen-handel zunehmend die Aktienmärkte und die Direktinvesti-tionen der multinationalen Unternehmen eine Rolle bei derinternationale Konjunkturübertragung spielen (Sachver-ständigenrat 2001, S. 400–423; Internationaler Währungs-fonds 2001; Europäische Kommission 2001). Der interna-tionale Konjunkturverbund in den letzten Jahren offenbartsich in einem ausgeprägten Gleichlauf der Konjunkturindi-katoren.

Abbildung 1 zeigt den vom ifo Institut berechneten Index desExportklimas und den Index der Wirtschaftseinschätzungdurch die Einkaufsmanager (NAPM), einen viel beachtetenKonjunkturindikator für die USA. In den Index des Export-klimas gehen die Konjunkturindikatoren (jeweils Geschäfts-klima und Konsumentenstimmung) für die USA, Japan unddie EU mit den Gewichten der regionsspezifischen Export-anteile ein. Das Geschäftsklima und die Konsumentenstim-mung in Europa haben somit einen dominierenden Einflussauf den Indikator. Vor diesem Hintergrund ist bemerkens-wert, in welch engem Zusammenhang das deutsche Ex-portklima und der NAPM Index trotzdem seit 1994 stehen.Zunächst waren die beiden Indikatoren an den oberen undunteren Wendepunkte gleichlaufend, seit Einführung des Eu-ro 1999 bildet sich ein Vorlauf der US-Konjunktur heraus.

Erich Langmantel

Export: Warten auf Amerika

Abb. 1

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Im Blickpunkt 47

Die stärkere Bindung der europäischen Volkswirtschaftenuntereinander hat die Abhängigkeit von der US-Konjunkturnicht aufgehoben, aber das Tempo der Übertragung an-scheinend etwas verzögert. Das Ausmaß der konjunkturel-len Abschwünge 1995, 1998 und 2001 spiegelt sich in bei-den Konjunkturindikatoren in gleichem Ausmaß wider. Amaktuellen Rand markiert der Oktober 2001 den Tiefpunkt,zur Jahreswende zeichnet sich eine allmähliche Besserungdes Exportklimas ab.

Die Bedeutung die Entwicklung in den USA für die deutscheExportkonjunktur geht auch aus einem Vergleich der Ex-porterwartungen der im ifo Konjunkturtest befragten Unter-nehmen mit dem NAPM Index hervor (vgl. Abb. 2). Die Ex-porterwartungen neigen zwar zu der für Erwartungsgrößentypischen Volatilität, d.h. zum kurzfristigen Über- oder Unter-schießen des Konjunkturtrends, die Auf- und Abschwung-phasen sowie die Wendepunkte der deutschen Exporter-wartungen lehnen sich jedoch eng und ohne nennenswer-

te zeitliche Verzögerung an die US-Kon-junktur an. Stärkere Schocks wie der 11.September schlagen unmittelbar auf die Ex-porterwartungen durch.

Wann es wieder zu einer Belebung der deut-schen Exporte kommt, hängt somit gegen-wärtig hauptsächlich von der Entwicklungdes konjunkturellen Klimas in den USA ab.Laut NAPM Index hat die Stimmung in deramerikanischen Wirtschaft den heftigen Ein-bruch von Oktober 2001 wieder überwun-den und Anschluss an den vor den Terror-anschlägen erreichten Stand gefunden. Dasist aber immer noch Rezessionsniveau. Ei-ne weitere Verbesserung über die im Janu-ar erreichten 49,9 Indexpunkte hinaus ist er-forderlich, um auch eine Trendwende bei dendeutschen Exporten in den Bereich des Mög-

lichen zu rücken. Aber auch dann wird es noch einige Mo-nate dauern, bis sich eine konjunkturelle Besserung bei derdeutschen Ausfuhr tatsächlich bemerkbar macht. Abbil-dung 3 zeigt, dass das Exportklima ein zuverlässiger Indi-kator für die Exportkonjunktur ist. Es dauert im Durchschnittein Vierteljahr, bis sich eine Verbesserung des Klimas imWachstum des Exportvolumen der niederschlägt. Aus demgegenwärtigen Niveau und dem zeitlichen Vorlauf des Ex-portklimas lässt sich schließen, dass das erste Quartal nochschwach bleiben wird. Frühestens vom zweiten Quartal ankann die gegenwärtige Stagnation der Exportnachfrage über-wunden werden. Der Auftragseingang aus dem Auslandlässt bisher noch keine Anzeichen einer Nachfragebelebungerkennen.

Literatur

Europäische Kommission (2001), European Economy No. 73, 35–41.Internationaler Währungsfonds (2001), World EconomicOutlook, Oktober, 65–79.Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirt-schaftlichen Entwicklung (2001), Jahresgutachten2001/2002.

Abb. 2

Abb. 3

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Der Preisindex des Bruttoinlandsprodukts (BIP-Deflator) istneben dem Preisindex für die Lebenshaltung der wichtigs-te globale Indikator für die Inflation. Anders als der Ver-braucherpreisindex, in dem sich auch die Preisentwicklungvon eingeführten Waren und Dienstleistungen auswirkt, istder BIP-Deflator ein Maßstab für den binnenwirtschaftlichverursachten Preisanstieg. Im Jahr 2001 hat sich der BIP-Deflator in Deutschland um 1,3% erhöht; das ist deutlichweniger als der Anstieg der Lebenshaltungskosten (+ 2,5%).Im Folgenden wird die Veränderung des BIP-Deflators mitHilfe einer Komponentenzerlegung genauer untersucht. Zu-gleich wird ein Ausblick auf die voraussichtliche Entwicklungim laufenden Jahr gegeben.

Der BIP-Deflator stellt ökonomisch die Preisentwicklung derLeistung der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital im In-land dar.1 Als Messlatte für eine Verteuerung der Produk-tionsleistung des Faktors Arbeit dient der Anstieg der Ar-beitnehmerentgelte2 je Einheit reales Bruttoinlandsprodukt(Lohnstückkosten). Als Verteuerung der Leistung des Fak-tors Kapital (einschließlich der unternehmerischen Leistung)wird hingegen gewertet, wenn sich die im Inland entstan-denen Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermö-gen3 je Produkteinheit (Stückgewinne) erhöhen. Dabei wer-den dem Faktor Kapital auch die Abschreibungen, die dieproduktionsbedingte Wertminderung des reproduzierbarenSachkapitals erfassen, und der Saldo aus Produktionsab-gaben (einschließlich Importabgaben) und Subventionenzugeschlagen. In der Veränderungsrate des BIP-Deflatorssind alle Kosten- und Gewinnkomponenten als gewoge-ner Durchschnitt enthalten. Die Gewichte entsprechen denAnteilen der Faktoreinkommen am nominalen Bruttoin-landsprodukt. Ohne Berücksichtigung der Abschreibungenund der Nettoproduktionsabgaben können diese Anteile mitden Quoten der funktionalen Einkommensverteilung (Lohn-bzw. Gewinnquote) gleichgesetzt werden.

Die Entwicklung der Kosten- und Gewinnkomponenten istallerdings nicht völlig voneinander unabhängig: So kann ei-ne Erhöhung der Lohnstückkosten bei entsprechend ein-geschränktem Spielraum für Preisüberwälzungen zu einemMinderanstieg bzw. sogar zu einem absoluten Rückgangder Stückgewinne der Unternehmen führen. In die gleiche

Richtung wirkt die Anhebung von Produktionsabgaben bzw.die Kürzung von Subventionen, sofern auch sie nicht ent-sprechend weitergegeben werden können. Auch die Ein-fuhrpreisentwicklung muss gegebenenfalls berücksichtigtwerden: Zwar gehen in den BIP-Deflator importierte Infla-tionsimpulse nicht direkt ein, weil allein der binnenwirt-schaftlich verursachte Preisanstieg gemessen wird. Aller-dings können Importverteuerungen (bzw. -verbilligungen) in-direkt dann den BIP-Deflator beeinflussen, wenn sie nicht(an in- bzw. ausländische Endverbraucher) weitergegebenwerden, sondern die heimischen Stückgewinne senken (bzw.erhöhen).

Nach ersten Berechnungen des Statistischen Bundesamtsist der BIP-Deflator, nach einem Rückgang im Jahr 2000,im vergangenen Jahr um 1,3% gestiegen. Dies ist etwasmehr als im Durchschnitt der Jahre 1994 bis 1999 (+ 1,1%).Maßgeblich hierfür war die deutlich ungünstigere Lohn-stückkostenentwicklung: Nach Stagnation im Jahr 2000stiegen die Arbeitnehmerentgelte je Produkteinheit trotzniedriger Tarifabschlüsse zum ersten Mal nach 1995 wie-der spürbar an. Entscheidend hierfür war die rezessive Wirt-schaftsentwicklung in der zweiten Jahreshälfte 2001, diedie Zunahme der Arbeitsproduktivität (hier gemessen amrealen Bruttoinlandsprodukt je Arbeitnehmer) stark brems-te. Die Arbeitskosten je Produkteinheit wären im Jahr 2001sogar noch stärker gestiegen, wenn nicht die Beitragssät-ze für die Rentenversicherung (im Rahmen der Ökosteuer-umfinanzierung) zurückgenommen worden wären, was denAnstieg der Sozialversicherungsbeiträge dämpfte. Bei ei-nem (Arbeitseinkommens-)Anteil von knapp 54% am no-minalen Bruttoinlandsprodukt trug die Zunahme der Lohn-stückkosten 0,7 Prozentpunkte zum Anstieg des BIP-De-flators bei.

Die zweite Komponente des BIP-Deflators, nämlich die pro-duktive Leistung des Faktors Kapital (einschließlich der Ab-schreibungen und Nettoproduktionsabgaben), trug im Jahr2001 zum Anstieg des BIP-Deflators 0,6 Prozentpunkte bei.Ohne Berücksichtigung der zusätzlichen Kostenkompo-nenten nahmen die Betriebsüberschüsse und Selbständi-geneinkommen je Produkteinheit nur leicht zu; im Jahr 2000waren die Gewinn- und Vermögenseinkommen je Produkt-einheit – wie bereits 1999 – gesunken. Preistreibend wirktesich im vergangenen Jahr allein der Abschreibungsbedarfaus, weil das Anlagevermögen verglichen mit dem Brutto-inlandsprodukt stark beschleunigt gewachsen war. Von derEntwicklung der Nettoproduktionsabgaben gingen 2001 kei-ne Preiseffekte aus, dies nicht zuletzt deshalb, weil das Ge-werbesteueraufkommen rückläufig war.

Für die Prognose des BIP-Deflators im Jahr 2002 wird vor-ausgesetzt, dass die Wirtschaft in Deutschland im Gefolgeder Besserung der Weltkonjunktur allmählich wieder Fahrtgewinnt (Sinn, Nierhaus und Meister 2001). Getragen wird

Preisanstieg

Wolfgang Nierhaus

2002: Weiterhin moderater gesamtwirtschaftlicher

1 Der in der deutschen amtlichen Statistik ausgewiesene BIP-Deflator er-gibt sich implizit aus der Relation von nominalem zu realem Bruttoinlands-produkt. Das reale Bruttoinlandsprodukt erhält man verwendungsseitigaus der Deflationierung der einzelnen BIP-Komponenten (Konsum, Brut-toinvestitionen usw.) auf möglichst niedrigem Aggregationsniveau mit Hil-fe spezieller Preisindizes für einzelne Waren und Dienstleistungen. Auf dieDeflationierungsprobleme, die sich daraus ergeben, dass das Bruttoinlands-produkt von der Entstehungsseite wie von der Verwendungsseite als Sal-dogröße definiert ist, die keine eigene Gütermengenstruktur besitzt, wirdhier nicht weiter eingegangen (vgl. Nierhaus 2001).

2 Im Inland entstandene Bruttolohne und -gehälter zuzüglich der Arbeitge-berbeiträge zur Sozialversicherung (Inland).

3 Betriebsüberschüsse und Selbständigeneinkommen (einschließlich kal-kulatorischer Unternehmerlohn).

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Im Blickpunkt 49

die Erholung zunächst vom Export, die Kon-junktur erhält aber auch Impulse von derBinnennachfrage. Dabei ist unterstellt, dassdie Ölversorgung weltweit zu moderatenPreisen gewährleistet bleibt. Der Rohölpreisdürfte im Jahresdurchschnitt 2002 bei20 US-Dollar pro Barrel liegen, nach fast25 US-Dollar im abgelaufenen Jahr. Fernerwird mit einer leichten Aufwertung des Eurogegenüber dem US-Dollar im weiteren Jah-resverlauf gerechnet.

Was die Quantifizierung der Lohnstückkos-tenentwicklung im Jahr 2002 anbelangt, sowird angenommen, dass die tariflichen An-hebungen im Jahresdurchschnitt – trotz dergegenwärtig harten Linie der Gewerkschaf-ten – nicht wesentlich höher als im vergan-genen Jahr sein werden. Hier wird mit einerZunahme der tariflichen Stundenlöhne imgesamtwirtschaftlichen Durchschnitt in Hö-he von knapp 21/2% gerechnet (2001: 2,0%).Die diesjährige jahresdurchschnittliche Stei-gerungsrate wird dadurch gedämpft, dassdie moderaten Lohnanhebungen des Jah-res 2001 in den meisten Branchen auchnoch für einige Monate des Jahres 2002 gelten (z.B. in derMetallindustrie: 2 Monate, Bauwirtschaft: 3 Monate, öf-fentlicher Dienst: 10 Monate). Gleichwohl wird das Wachs-tum der Bruttolöhne und -gehälter je Beschäftigten erneutdeutlich über dem prognostizierten Fortschritt der Arbeits-produktivität liegen. Kostentreibend wirkt zudem, dass dieBeitragssätze zur gesetzlichen Krankenversicherung die-ses Jahr spürbar angehoben werden. Insgesamt werdendie Lohnstückkosten im Jahr 2002 voraussichtlich um 11/2%steigen, was sich im BIP-Deflator mit 0,7 Prozentpunktenauswirken wird. Dabei entfallen 0,5 Prozentpunkte auf dieZunahme der Bruttolöhne und -gehälter je Produkteinheitund 0,2 Prozentpunkte auf den Anstieg der Arbeitgeber-sozialbeiträge.

Schwer abzuschätzen ist naturgemäß die Veränderung derim Inland entstandenen Einkommen aus Unternehmertä-tigkeit und Vermögen, die sich im Einkommenskreislauf alsResidualgröße ergeben. Der Abschreibungsbedarf wird zu-nächst noch weiter hoch bleiben. Bei den Nettoproduk-tionsabgaben schlägt neben der vierten Ökosteuerstufe imJahr 2002 zusätzlich die Anhebung der Versicherung- undder Tabaksteuer zur Finanzierung des Anti-Terrorpakets zuBuche; außerdem dürfte das Umsatzsteueraufkommen wie-der spürbar zunehmen. Schließlich wird damit gerechnet,dass die Betriebsüberschüsse und Selbständigeneinkom-men je Produkteinheit in diesem Jahr nicht steigen, sondernsinken werden. Darin kommt zum Ausdruck, dass ange-sichts der noch schwachen Konjunktur die Unternehmen

den erhöhten Kostendruck wohl nur zum Teil weitergebenkönnen. In der Summe wird der Faktor Kapital zur Verän-derung des BIP-Deflators 0,3 Prozentpunkte beitragen. Un-ter Berücksichtigung des Kostenbeitrags des Faktors Arbeitin Höhe von 0,7 Prozentpunkten wird der BIP-Deflator da-mit insgesamt im Jahr 2002 in einer Größenordnung von 1%steigen (vgl. Tabelle).

Summa summarum: Im laufenden Jahr wird der gesamt-wirtschaftliche Preisanstieg in Deutschland – gemessen amDeflator des Bruttoinlandsprodukts – erneut moderat aus-fallen. Zugleich nähert sich die Preisentwicklung der inlän-dischen Produktionsleistung wieder der Entwicklung dergesamten Lebenshaltungskosten an (Prognose für 2002:+ 1,5%). Zwei Jahre zuvor war es – Terms-of-Trade-be-dingt – zu einer bemerkenswerten Divergenz zwischen denVeränderungsraten der beiden gesamtwirtschaftlichen Preis-indizes gekommen (vgl. Abbildung). Die kumulative Wirkungvon Euro-Schwäche und Ölpreisexplosion hatten damalsdie Stückgewinne der heimischen Unternehmen spürbar sin-ken lassen, zugleich verteuerten sich Energieträger im In-land kräftig. Die sinkenden Stückgewinne schlugen sich ineinem absoluten Rückgang des BIP-Deflators nieder4, diehöheren Preise für Energieträger in einem verstärkten An-

Veränderung gegenüber dem Vorjahr in % bzw. Wachstumsbeiträge in Prozentpunkten

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Kosteneffekt der Arbeitgeberbeiträge 0,1 -0,2 0,0 0,2

+ Faktor Kapital u.a. 0,8 -0,4 0,6 0,3 Kapitalc) 0,5 -0,4 0,2 -0,5

Abschreibungen 0,1 0,1 0,4 0,4 Nettoproduktionsabgabend) 0,2 -0,1 0,0 0,4

nachrichtlich:Preisindex für die Lebenshaltunge) 1,3 1,9 2,5 1,5 a)Jahresdurchschnittliche Veränderung in % bzw. in Prozentpunkten.b)Preisindex des Bruttoinlandsprodukts.c) Betriebsüberschüsse und Selbständigeneinkommen.d) Produktions- und Importabgaben abzüglich Subventionen.e) Preisindex für die Lebenshaltung aller privaten Haushalte.s) Schätzungen des ifo Instituts. Abweichungen in den Summen durch Runden der Zahlen.

Quelle: Statistisches Bundesamt, Berechnungen und Schätzungen des ifo Instituts.

Zur Entwicklung des BIP-Deflators

4 Zum Rückgang des BIP-Deflators trug auch bei, dass die Gewerkschaf-ten, anders als in den vergleichbaren Krisenjahren 1973/74 bzw. 1980/81,im Jahr 2000 nicht versucht hatten, ölpreisbedingte Kaufkrafteinbußen vonden inländischen Unternehmen zurückzuholen, was die Lohnstückkostenstabilisierte (vgl. Nierhaus und Meister 2000).

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Im Blickpunkt

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50

stieg des Preisindex für die Lebenshaltung.5 Der Realein-kommenstransfer der deutschen Volkswirtschaft zugunstendes Auslands und insbesondere der Öl-exportierenden Län-der betrug rund 29,5 Mrd. Euro.6 Mit dem Auslaufen derTerms-of-Trade-Verschlechterung kommt es seither wiederzu einem größeren Gleichschritt der beiden gesamtwirt-schaftlichen Inflationsindikatoren.

Literatur

Nierhaus, W. (2001), »Wirtschaftswachstum in den VolkswirtschaftlichenGesamtrechnungen: Ein Vergleich Deutschland – USA«, ifo Schnelldienst 54(3), 41–51.Nierhaus, W. (2000), »Realeinkommen im neuen Europäischen System Volks-wirtschaftlicher Gesamtrechnungen«, ifo Schnelldienst 53 (4), 7–13.Nierhaus, W. und W. Meister (2000), »Bundesrepublik: Vor einer neuen Öl-krise?«, ifo Schnelldienst 53 (26-27), 23–28.Sinn, H.-W., W. Nierhaus und W. Meister (2001), »Vor der Talsohle«, ifo Schnell-dienst 54 (24), 27–42.

5 Die gegenläufige Bewegung der beiden Indizes wurde noch dadurch ver-stärkt, dass der Preisindex für die Lebenshaltung – anders als der BIP-Deflator – kostensenkende Substitutionsvorgänge (Güter mit unterdurch-schnittlichem Preisanstieg werden mehr nachgefragt, Güter mit über-durchschnittlichem Preisanstieg weniger) aufgrund des konstanten Wä-gungsschemas nicht abbilden kann.

6 Verschlechtert sich die Preisrelation von Exporten zu Importen (Terms ofTrade), so hat dies unmittelbar Auswirkungen auf die Entwicklung der Real-einkommen im Inland. Steigen die Importpreise stärker als die Exportpreise,so muss mehr exportiert werden, um die gleichen Gütermengen wie bis-her zu importieren. Bei unverändertem Produktionsvolumen können des-halb weniger Güter im Inland konsumiert oder investiert werden. Paralleldazu sinkt das heimische Realeinkommen zugunsten der Realeinkommender übrigen Welt über niedrigere Stückgewinne und/oder höhere Inlands-preise. Änderungen der Terms of Trade wirken sich auf die Realeinkom-men umso stärker aus, je größer die außenwirtschaftliche Verflechtungeiner Volkswirtschaft ist (vgl. Nierhaus 2000).

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