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2010 Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München Zur Diskussion gestellt Philipp Rösler, Jochen Pimpertz, Friedrich Breyer, Wolfgang Greiner, Gebhard Kirchgässner, Jürgen Wasem Gesundheitsreform 2010: Einstieg in den Systemwechsel? Forschungsergebnisse Steffen Elstner, Christian Grimme und Thomas Siemsen Aufstrebende Märkte für deutsche Exporte: Asien und Osteuropa Kersten Kellermann und Carsten-Henning Schlag Eine effektive Alternative zur Leverage Ratio Daten und Prognosen Gernot Nerb und Anna Stangl ifo Indikator für das Weltwirtschaftsklima: Leicht gesunken Im Blickpunkt Johannes Pfeiffer, Luise Röpke und Jana Lippelt Kurz zum Klima: Pumpspeicherwerke – bewährte Technologie für eine grüne Zukunft? ifo Schnelldienst 63. Jg., 33.–34. KW, 27. August 2010 16

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2010

Institut fürWirtschaftsforschungan der Universität München

Zur Diskussion gestelltPhilipp Rösler, Jochen Pimpertz, Friedrich Breyer,Wolfgang Greiner, Gebhard Kirchgässner, Jürgen WasemQ Gesundheitsreform 2010: Einstieg in den

Systemwechsel?

ForschungsergebnisseSteffen Elstner, Christian Grimme und Thomas SiemsenQ Aufstrebende Märkte für deutsche Exporte:

Asien und Osteuropa

Kersten Kellermann und Carsten-Henning SchlagQ Eine effektive Alternative zur Leverage Ratio

Daten und PrognosenGernot Nerb und Anna StanglQ ifo Indikator für das Weltwirtschaftsklima:

Leicht gesunken

Im BlickpunktJohannes Pfeiffer, Luise Röpke und Jana LippeltQ Kurz zum Klima: Pumpspeicherwerke – bewährte

Technologie für eine grüne Zukunft?

ifo Schnelldienst63. Jg., 33.–34. KW, 27. August 2010

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ISSN 0018-974 X

Herausgeber: ifo Institut für Wirtschaftsforschung e.V., Poschingerstraße 5, 81679 München, Postfach 86 04 60, 81631 München,Telefon (089) 92 24-0, Telefax (089) 98 53 69, E-Mail: [email protected]: Dr. Marga Jennewein.Redaktionskomitee: Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Werner Sinn, Dr. Christa Hainz, Annette Marquardt, Dr. Chang Woon Nam,Dr. Gernot Nerb, Dr. Wolfgang Ochel.Vertrieb: ifo Institut für Wirtschaftsforschung e.V.Erscheinungsweise: zweimal monatlich.Bezugspreis jährlich:Institutionen EUR 225,– Einzelpersonen EUR 96,–Studenten EUR 48,–Preis des Einzelheftes: EUR 10,–jeweils zuzüglich Versandkosten. Layout: Pro Design.Satz: ifo Institut für Wirtschaftsforschung.Druck: Majer & Finckh, Stockdorf.Nachdruck und sonstige Verbreitung (auch auszugsweise): nur mit Quellenangabe und gegen Einsendung eines Belegexemplars.

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Gesundheitsreform 2010: Einstieg in den Systemwechsel?

Im Herbst dieses Jahres soll im Bundestag eine Reform der GKV verabschiedet wer-den und zum 1. Januar 2011 in Kraft treten. Philipp Rösler, Bundesgesundheitsmi-nister, erläutert die Reformschritte und unterstreicht, dass die Reform den Einstieg inden Systemwechsel bedeutet: Denn mit der Festschreibung des prozentualen Bei-tragssatzes und der Weiterentwicklung der Zusatzbeiträge werden die Einkom-mensabhängigkeit der Finanzierung des Gesundheitssystems vermindert und eintransparentes Preissignal geboten, die Krankenkassen erhalten die für eine wettbe-werbliche Ausrichtung unerlässliche Beitragsautonomie. Zudem wird ein Sozialaus-gleich eingeführt, der vor unverhältnismäßigen Belastungen schützt. Jochen Pim-pertz, Institut der deutschen Wirtschaft Köln, ist nicht so optimistisch. Seiner Ansichtnach ist das Reformmodell der Bundesregierung enttäuschend. Statt einer Abkehrvon der einkommensabhängigen Beitragsfinanzierung steige zunächst nur der Bei-tragssatz. Mit dieser beschlossenen Anhebung des Beitragssatzes werden sowohldie Fehlanreize als auch die Fehlverteilungen infolge der Beitragsfinanzierung aus-gedehnt. Friedrich Breyer, Universität Konstanz, vermisst ebenfalls die im Koaliti-onsvertrag von Oktober 2009 angekündigte weitreichende Reform des Finanzie-rungsmodells. Es gehe stattdessen in der Hauptsache um die Abwendung eines an-sonsten für 2011 prognostizierten Defizits der Krankenkassen. Auch kehre nichtmehr Wettbewerb und damit mehr Effizienz ins deutsche Gesundheitssystem ein.Wolfgang Greiner, Universität Bielefeld, sieht weiterhin Reformbedarf: »Wie in denvergangenen Jahren ist nach der Reform vor der Reform und man kann der Ge-sundheitspolitik nur raten, die Ausgabendynamik nicht nur durch dirigistische Ein-griffe in die Preisstruktur, sondern auch durch sich selbst regulierende wettbewerb-liche Findungsprozesse ablaufen zu lassen.« Gebhard Kirchgässner, Universität St. Gallen, kritisiert u.a. den Anstieg des Arbeitnehmerbeitrags. Damit werden dieKrankenkassenprämien nicht von den Löhnen abgekoppelt, sondern die Differenzzwischen Brutto- und Nettolohn steige noch. Das Ziel einer Abkopplung werde so-mit klar verfehlt. Und auch Jürgen Wasem, Universität Duisburg-Essen, sieht vor al-lem eine »triste Kostendämpfung statt struktureller Reformen«.

Die größten aufstrebenden Märkte für deutsche Exporte liegen inAsien und OsteuropaSteffen Elstner, Christian Grimme und Thomas Siemsen

Für 2010 sind wieder positive Impulse aus dem Exportgeschäft zu erwarten: Nach ei-ner Prognose des ifo Instituts ist mit einem Zuwachs der deutschen Exporte von10,8% zu rechnen, wobei die deutsche Exportdynamik zum Großteil von der steigen-den Nachfrage aus den asiatischen Schwellenländern getragen wird. Die Eurozoneund Großbritannien als klassische Abnehmer deutscher Güter werden ihre bisherigenAnteile an den deutschen Gesamtexporten nicht halten. Aufstrebende Länder wie Chi-na, Indien, Brasilien, Polen und Russland werden zunehmend das deutsche Export-wachstum beeinflussen. Um dieser Entwicklung für die Exportprognosen besserRechnung zu tragen, wurde vom ifo Institut ein Exportnachfrageindikator entwickelt.Mit Hilfe des Indikators wird die Bedeutung der einzelnen Absatzländer für den deut-schen Export genauer beleuchtet. Dabei wird die Nachfrage der 25 wichtigsten Ab-satzmärkte für deutsche Exportwaren zusammengefasst und prognostiziert.

Eine effektive Alternative zur Leverage RatioKersten Kellermann und Carsten-Henning Schlag

Nach den Erfahrungen der Finanzkrise scheint es angebracht, in der Banken-aufsicht ein Instrument zu implementieren, das das Finanzmarktaufsichtssys-tem gegen potentielle Fehlleistungen bei der Anwendung risikogewichteter Ei-

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Zur Diskussion gestellt

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Forschungsergebnisse

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genmittelvorschriften absichert. Die Vertreter der G-20-Länder haben deshalbim September 2009 die Einführung einer Leverage Ratio gefordert. Für dieSchweizer Großbanken hat die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht bereitsim November 2008 eine solche implementiert. Die Leverage Ratio soll eine ge-wisse Kernkapitalausstattung der Banken garantieren, und zwar unabhängigvon den Ergebnissen, die die Verfahren zur Risikomessung liefern. Anhandvon Bilanzdaten der Schweizer Großbank UBS stellen Kersten Kellermannund Carsten-Henning Schlag, Hochschule Liechtenstein, das Zusammenspielvon risikogewichteten Eigenmittelvorschriften und der Leverage Ratio dar undschlagen als alternatives Aufsichtsinstrument ein Sockelrisikogewicht vor.Dieses Sockelrisikogewicht könnte die Funktion eines Backstops überneh-men, indem es das Kleinrechnen der risikogewichteten Aktiva durch die Ban-ken begrenzt, gleichzeitig die Risikogewichtung jedoch zur Wirkung kommenlässt.

ifo Weltwirtschaftsklimaindikator leicht gesunkenGernot Nerb und Anna Stangl

Das ifo Weltwirtschaftsklima hat sich im dritten Quartal 2010 leicht eingetrübt.Zwar schätzen die befragten Experten die derzeitige Wirtschaftslage besserein als in der ersten Jahreshälfte 2010, die Erwartungen für die nächstensechs Monate wurden jedoch nach unten korrigiert. Die Ergebnisse deutendarauf hin, dass sich die Erholung der Weltkonjunktur im zweiten Halbjahrverlangsamt fortsetzen wird. Im Weltdurchschnitt werden nach Ansicht derUmfrageteilnehmer in nächster Zeit weder Inflation noch Deflation größereProbleme bereiten. Im Einklang mit den etwas eingetrübten Konjunkturpers-pektiven rechnen nun etwas weniger WES-Experten als im Frühjahr mit stei-genden kurzfristigen und langfristigen Zinsen im Laufe der kommenden sechsMonate.

Kurz zum Klima: Pumpspeicherwerke – bewährte Technologie für eine grüne Zukunft?Johannes Pfeiffer, Luise Röpke und Jana Lippelt

Die zukünftige Gestalt der Energieversorgung vor dem Hintergrund der euro-päischen Energie- und Klimapolitik und die damit verbundene Umstrukturie-rung des Kraftwerksparks werden derzeit kontrovers diskutiert, darunter auchdie Vor- und Nachteile des Baus neuer Pumpspeicherkraftwerke. Bei diesenhandelt es sich nicht um Kraftwerke im herkömmlichen Sinn. Sie speichernStrom in Form potentieller Energie, den sie bei Bedarf in das Stromnetz ein-speisen können. Dabei wird Wasser von einem Unterbecken in ein Oberbeckengepumpt. Bei der Rückumwandlung, also der Stromerzeugung, erfolgt ein ge-zieltes Ablassen des Wassers aus dem Oberbecken in das Unterbecken, sodass Turbinen zur Stromgewinnung angetrieben werden können. Die Gegnerkritisieren den starken Eingriff in das Landschaftsbild und die damit verbunde-nen Gefahren für die Artenvielfalt, aber auch für das Grundwasser. Die Befür-worter verweisen auf die tragende Rolle von Energiespeichern für den geplan-ten Ausbau erneuerbarer Energien. Der vorliegende Artikel gibt vor dem Hin-tergrund der Herausforderungen des Klimaschutzes für die zukünftige Energie-versorgung einen Einblick in die Rolle von Pumpspeicherwerken.

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Gesundheitsreform 2010:Einstieg in den System-wechsel?

Die Parteien der Regierungskoalition ha-ben sich am 7. Juli 2010 auf Eckpunktezu einer nachhaltigen und sozial ausgewo-genen Finanzierung der Gesetzlichen Kran-kenversicherung (GKV) verständigt. Ein ent-sprechender Gesetzentwurf wird derzeiterarbeitet. Die Reform bedeutet den Ein-stieg in den Systemwechsel. Mit der Fest-schreibung des prozentualen Beitragssat-zes und der Weiterentwicklung der Zusatz-beiträge wird die Einkommensabhängig-keit der Finanzierung des Gesundheitssys-tems vermindert. Die Zusatzbeiträge bie-ten ein transparentes Preissignal. Mit ihnenerhalten die Krankenkassen die für einewettbewerbliche Ausrichtung unerlässlicheBeitragsautonomie. Zudem wird ein funk-tionsfähiger und einfach handhabbarer So-zialausgleich eingeführt, der vor unverhält-nismäßigen Belastungen schützt.

Der Reformbedarf ist offensichtlich

Diskussionen um eine Reform des Ge-sundheitssystems sind in der deutschenPolitik, aber auch in vielen anderen Staa-ten ein ständig wiederkehrendes Thema.Betrachtet man die letzten 25 Jahre, sowurde in jeder Legislaturperiode des Deut-schen Bundestages mindestens ein grö-ßeres Reformvorhaben auf den Weg ge-bracht. Die Gründe für den Reformbedarfsind bei einem Vergleich der Entwicklungvon Ausgaben und Einnahmen der GKVerkennbar. Das deutsche Gesundheitssys-tem gewährleistet zwar auch im internatio-nalen Vergleich eine hohe Leistungsfähig-keit und Qualität der medizinischen Versor-gung, allerdings verbunden mit einem ten-denziell steigenden Ausgabenniveau.

Das Gesundheitswesen steht vor denHerausforderungen, die aus dem demo-

graphischen Wandel und dem medizi-nisch-technischen Fortschritt folgen. Ei-ne bessere, an den medizinischen Inno-vationen ausgerichtete Gesundheitsver-sorgung ist in der Regel mit steigendenGesundheitsausgaben verbunden. Damitdie Teilhabe am medizinischen Fortschrittauch für künftige Generationen bezahlbarbleibt, sind Veränderungen notwendig. Ei-ne Zunahme des Anteils der Rentner imVergleich zu den im aktiven Erwerbslebenstehenden Beitragszahlern schwächt aufder anderen Seite die Einnahmebasis derGKV. Zudem verdrängen die Veränderun-gen von Arbeitswelt und Berufskarrierenzunehmend die klassische Form der so-zialversicherungspflichtigen Vollzeitbe-schäftigung. So sind insbesondere ausdiesen Gründen die Ausgaben der GKVtrotz umfassender Maßnahmen des Ge-setzgebers zur Ausgabenbegrenzung seitvielen Jahren deutlich dynamischer ge-wachsen als die beitragpflichtigen Einnah-men ihrer Mitglieder.

Neben diesen langfristigen Trends bestehtbereits kurzfristig unmittelbarer Hand-lungsbedarf für eine Reform der Finanzie-rung. Für das Jahr 2011 wäre ohne ge-gensteuernde Maßnahmen mit einem De-fizit von bis zu 11 Mrd. € zu rechnen. Einsolches Defizit würde in dem heutigenSystem der Zusatzbeiträge, bei dem derSozialausgleich durch die Anwendung derÜberforderungsklausel innerhalb der ein-zelnen Krankenkassen erfolgt, zu großenSchwierigkeiten führen. Krankenkassenmit einer ungünstigen Mitgliederstruktur,also mit vielen Mitgliedern mit niedrigenEinkommen, müssten erhebliche Wettbe-werbsnachteile hinnehmen und würdenin letzter Konsequenz insolvent werden.Die daraus resultierenden Belastungenmüssten durch andere Krankenkassengetragen werden, die dadurch selbst inGefahr gerieten. Damit wäre letztlich dasgesamte System der GKV gefährdet.

In den letzten Jahren wurden von zahl-reichen Wissenschaftlern und Institutio-nen Modelle mit einer einkommensunab-

Gesundheitsreform 2010: Einstieg in den Systemwechsel?

Im Herbst dieses Jahres soll im Bundestag eine Reform der GKV verabschiedet werden und zum

1. Januar 2011 in Kraft treten. Leitet dieses Vorhaben den Einstieg in einen Systemwechsel ein?

Philipp Rösler*

* Dr. Philipp Rösler ist Bundesminister für Gesundheit.

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Zur Diskussion gestellt

hängigen Finanzierung über Prämien entwickelt. Diese Mo-delle unterscheiden sich in vielen Punkten wie z.B. demeinbezogenen Personenkreis, der Kalkulation der Prämien,der Definition einer Belastungsgrenze für den Sozialausgleichund dem dabei anzuwendenden Einkommensbegriff. Ei-nes aber ist ihnen gemeinsam: Sie enthalten keine prakti-kablen Lösungen für einen Umstieg vom heutigen Finan-zierungssystem auf das angestrebte. Pragmatische Politikmuss aber an den gegebenen Voraussetzungen ansetzenund schrittweise Übergänge konzipieren – ohne dass hier-bei Friktionen auftreten.

Mit einem Defizitausgleich für 2011 wird derEinstieg in den Systemwechsel eröffnet

Die Bundesregierung hat sich daher bei ihren Reformüber-legungen auch an Fragen der Umsetzbarkeit orientiert. Übereine Stabilisierung der Ausgaben und eine Stärkung derFinanzierungsgrundlage soll das erwartete Defizit für 2011ausgeglichen und gleichzeitig der Einstieg in den System-wechsel eröffnet werden. Auf der Ausgabenseite wird derZuwachs bei Leistungserbringern und Krankenkassen dortbegrenzt, wo dies ohne Leistungseinschränkungen verant-wortbar ist. Auf der Einnahmeseite läuft die im Juli 2009erfolgte vorübergehende Beitragssatzabsenkung um0,6 Prozentpunkte im Rahmen des Konjunkturpaketes IIzum Jahresende 2010 aus. Sie ist angesichts der nachder weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise wieder ansprin-genden Konjunktur nicht mehr zu rechtfertigen. Damit wirdder paritätisch finanzierte Beitragssatz wieder 14,6% zu-züglich des mitgliederbezogenen Anteils von 0,9 Prozent-punkten betragen. Die Lasten zur Deckung des Defizits imJahr 2011 werden so gerecht verteilt. Je 3 Mrd. € tragenArbeitgeber und Versicherte über den Beitragssatz, über3 Mrd. € die Leistungserbringer wie Arzneimittelhersteller,Ärzte und Krankenhäuser und die Krankenkassen über dieAusgabenbegrenzungen. Flankiert wird der Reformprozessdurch einen zusätzlichen Steuerzuschuss von 2 Mrd. € fürdas Jahr 2011.

Die Entwicklung der Arbeitskosten wirdunabhängiger von der Entwicklung derGesundheitskosten

Ein Ziel des Systemwechsels ist, dass zukünftige Ausga-bensteigerungen in der Gesetzlichen Krankenversicherungnicht mehr automatisch zu höheren Arbeitskosten führen.Der Arbeitgeberbeitrag wird auf der Höhe von 7,3% fest-geschrieben. Deutschland ist ein stark auf den Weltmarktausgerichtetes Land. Daher spielt die internationale Wett-bewerbsfähigkeit für die gesamtwirtschaftliche Entwick-lung in Deutschland eine überaus wichtige Rolle. Es istunstrittig, dass eine Beurteilung der deutschen Standort-

attraktivität nicht ausschließlich auf Basis der Arbeitskos-ten erfolgen kann. Diese wird vielmehr durch das Zusam-menspiel einer Vielzahl von Faktoren beeinflusst, wobeifür den Arbeitseinsatz neben den Arbeitskosten selbst-verständlich auch die Arbeitsproduktivität und Währungs-komponenten zu berücksichtigen sind. Dennoch dürftees ebenso unstrittig sein, dass mit der geplanten Weiter-entwicklung der Zusatzbeiträge bei perspektivisch weitersteigenden Gesundheitsausgaben ein Anstieg der einkom-mensabhängigen Beiträge vermieden werden kann undhieraus mittel- bis langfristig eine Entlastung des FaktorsArbeit einher gehen wird. Gerade gegenüber Ländern mitsteuerfinanzierten Krankenversicherungssystemen spieltdie Verhinderung eines weiteren Anstiegs der Lohnzusatz-kosten eine wichtige Rolle und trägt dazu bei, Arbeitsplät-ze zu schaffen oder sicherer zu machen.

Im Gegensatz zu automatischen Kostensteigerungen beieinkommensabhängigen Beiträgen wird es bei der Weiter-entwicklung der Zusatzbeiträge den Arbeitgebern und Ar-beitnehmern überlassen, darüber zu verhandeln. DiesesMehr an Flexibilität ist gesamtwirtschaftlich sinnvoll. Hier-durch kann in Krisenzeiten die Belastung der Unternehmenbegrenzt werden, während in Boomphasen die Arbeitneh-mer entsprechend höhere Lohnabschlüsse durchsetzen kön-nen. Gleichzeitig wird das System der GKV so unanfälligergegenüber konjunkturellen Schwankungen.

Die Weiterentwicklung der Zusatzbeiträge bildetdie Grundlage für eine wettbewerbliche Ausrich-tung des Gesundheitssystems und damit fürmehr Effizienz und Qualität

Aufgrund des medizinischen Fortschritts durchaus gewoll-te Ausgabensteigerungen können zukünftig über einkom-mensunabhängige Zusatzbeiträge der GKV-Mitglieder finan-ziert werden. Die Weiterentwicklung der Zusatzbeiträgeschafft damit die Voraussetzung, die Finanzierung des Ge-sundheitssystems auf eine stabile Basis zu stellen. Da dieZusatzbeiträge nicht mehr durch die derzeitige Überforde-rungsklausel gedeckelt werden, können die Krankenkassenden notwendigen Finanzbedarf, der nicht durch die Zuwei-sungen aus dem Gesundheitsfonds gedeckt ist, über Zu-satzbeiträge ausgleichen. Sie gewinnen damit die notwen-dige Beitragsautonomie. Das ist eine Grundvoraussetzungfür einen funktionierenden Wettbewerb.

Jede Krankenkasse entscheidet selbst, in welcher Höhesie von ihren Mitgliedern Zusatzbeiträge erhebt. Die der-zeit noch bestehende Option prozentualer Zusatzbeiträ-ge entfällt. Mit der hiermit einher gehenden Preistranspa-renz wird der entscheidende Grundstein für eine wettbe-werbliche Ausrichtung des Gesundheitssystems gelegt.Zukünftig ist der Preis der gewählten Krankenkasse in Euro

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Zur Diskussion gestellt

und Cent für jedes Mitglied einer Krankenkasse nachvoll-ziehbar. Die auch weiterhin notwenige Umverteilung fin-det über einen Ausgleich bei den einkommensbezogenenBeiträgen statt.

Den Zusatzbeitrag wird ein Mitglied zukünftig nur bezahlen,wenn es der Meinung ist, dass das Leistungs- und Ser-viceangebot einer Krankenkasse den Preis dieser Kranken-kasse rechtfertigt.

Nur bei klaren und unverzerrten Preissignalen kann sich dergewollte Wettbewerb voll entfalten. In einem ersten Schrittwerden also die Versicherten stärker als bisher darauf ach-ten, dass das Preis-/Leistungsverhältnis ihrer Krankenkas-se stimmt. Wenn ausreichend viele Mitglieder diesem An-reiz folgen, wird sich der Druck auf die Krankenkassen er-höhen, noch verantwortungsvoller als bisher mit den Bei-tragsgeldern ihrer Mitglieder umzugehen und auch innova-tive Lösungen zu suchen. Neben den Bestrebungen einerschlanken Verwaltung werden die Krankenkassen auf die-sen Wettbewerbsdruck mit einem verstärkten Angebot aneffizienten Versorgungslösungen reagieren. Damit die »Stell-schraube Wettbewerb« die gewünschte Wirkung entfaltenkann, muss für die Krankenkassen jedoch auch der entspre-chende Spielraum geschaffen werden.

Weitere strukturelle Reformen zur Stärkung des Wettbe-werbs im Gesundheitssystem sind daher notwendig. Dazuzählen die Ausweitung der Kostenerstattung sowie ein ein-faches und verständliches Vergütungssystem für die ärztli-che Versorgung, das die Leistungen adäquat abbildet undregionale Besonderheiten berücksichtigt. Eine Reform derSelbstverwaltungsorgane sowie eine konsequente Anwen-dung des Wettbewerbs- und Kartellrechts sollen dafür sor-gen, dass zwischen Krankenkassen und Leistungserbrin-gern Verträge auf gleicher Augenhöhe geschlossen werden.Durch einen Ausbau wettbewerblicher Strukturen sollen Ef-fizienzreserven genutzt werden. Krankenkassen und Leis-tungserbringer sollen sich zukünftig intensiver um ihre Pa-tienten und Versicherten bemühen. So wird der Weg zu mehrQualität und mehr kreativen Lösungen geebnet.

Ein einfach handhabbarer Sozialausgleich sorgtfür Gerechtigkeit

Um die notwendige Akzeptanz zu schaffen, muss die Wei-terentwicklung der Zusatzbeiträge mit einem einfachenund unbürokratischen Sozialausgleich verbunden sein. DieBeitragszahler werden durch eine gesetzlich festgelegteÜberforderungsgrenze davor geschützt, über Gebühr be-lastet zu werden. Übersteigt der durchschnittliche Zusatz-beitrag eine Belastungsgrenze von 2% der individuellenbeitragspflichtigen Einnahmen, greift der Sozialausgleich.Auf der Basis der wirtschaftlichen Entwicklung und der

Ausgabenentwicklung in der gesetzlichen Krankenversi-cherung wird jeweils im Herbst geschätzt, wie hoch derFinanzbedarf der Krankenkassen im Folgejahr sein wird,der nicht durch Beitragszahlungen und Steuerzuschüssegedeckt ist. Aus dieser Deckungslücke wird abgeleitet,wie hoch die Zusatzbeiträge des Folgejahres im Durch-schnitt sein müssen.

Der Sozialausgleich orientiert sich an diesem durchschnitt-lichen Zusatzbeitrag und nicht am jeweiligen tatsächlich zuzahlenden Zusatzbeitrag der gewählten Krankenkasse. Da-mit haben alle Mitglieder einen Anreiz, eine teurere Kranken-kasse nur dann zu wählen, wenn das zugrunde liegende An-gebot dies rechtfertigt.

Der Sozialausgleich wird für Arbeitnehmer und Rentner di-rekt über die Arbeitgeber bzw. Rentenversicherungsträgerumgesetzt, indem der einkommensabhängige Beitrag umdie jeweilige Überlastung durch den durchschnittlichen Zu-satzbeitrag reduziert wird. Dies ist im Rahmen der EDV-ge-stützten Abrechnung von Löhnen, Gehältern und Rentenhandhabbar. Der Ausgleich erfolgt damit automatisch. Lie-gen mehrere beitragspflichtige Einnahmen vor, so sind An-sprüche auf Sozialausgleich von den Krankenkassen zu prü-fen, die den beitragsabführenden Stellen dann mitteilen, obsie den Sozialausgleich über die Absenkung der prozen-tualen Beiträge anwenden müssen. Dies kann im Rahmeneiner Ergänzung der bereits bestehenden Meldeverfahrenumgesetzt werden. Der Ausgleich wirkt sich bei den Versi-cherten als ein höherer ausgezahlter Betrag von Arbeits-entgelten oder Renten aus.

An den Gesundheitsfonds fließende Steuermittel gleichenEinnahmeausfälle durch reduzierte prozentuale Beiträge beimSozialausgleich aus. Damit wird die tatsächliche wirtschaft-liche Leistungsfähigkeit aller Bürgerinnen und Bürger stär-ker berücksichtigt.

Die Finanzierungsreform als Einstieg in denSystemwechsel

In den nächsten Jahren wird es darauf ankommen, den jetztbegonnenen Weg konsequent fortzusetzen. Ein wettbewerb-lich ausgerichtetes Krankenversicherungssystem, das Spiel-räume für kreative und effiziente Lösungen schafft, ist bessergeeignet, die Herausforderungen durch den demographischenWandel und den medizinischen Fortschritt zu bewältigen alsein planwirtschaftlich ausgerichtetes System. Es geht um ei-nen effizienten Umgang mit den vorhandenen Ressourcen, derinsbesondere den Patientinnen und Patienten zu Gute kommt.Hiermit werden die Voraussetzungen geschaffen, dass alleMenschen auch in Zukunft die notwendige medizinische Ver-sorgung qualitativ hochwertig und wohnortnah erhalten undalle am medizinischen Fortschritt teilhaben können.

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Zur Diskussion gestellt

Kein Ersatz für eine Therapie

Gerecht, sozial, stabil, wettbewerblich und transparent solldas Gesundheitssystem werden – so zumindest überschreibtdie Bundesregierung ihr Eckpunkte-Papier zur Reform dergesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Statt einer Abkehrvon der einkommensabhängigen Beitragsfinanzierung steigtaber zunächst nur der Beitragssatz. Immerhin sollen ein-kommensunabhängige und kassenindividuelle Zusatzprä-mien eingeführt werden. Sie können mittelfristig an Bedeu-tung gewinnen, wenn der zu erwartende Anstieg der GKV-Ausgaben nicht länger über Beitragssatzanpassungen fi-nanziert wird. Also doch ein Einstieg in ein ökonomisch ra-tionales Finanzierungssystem?

Noch stehen zahlreiche politische Fragezeichen über demEckpunkte-Papier. Die Tinte ist noch nicht trocken, da re-klamieren schon erste Stimmen aus dem RegierungslagerNachverhandlungsbedarf. Immerhin sind die Konturen einerReform der Finanzierung ersichtlich: So soll der Arbeitge-beranteil ab 2011 bei 7,3% gesetzlich festgeschrieben wer-den. Das verschafft den Unternehmen etwas mehr Planungs-sicherheit, weil höhere Beitragssätze (bei kurzfristig konstan-ten Bruttolöhnen) nicht mehr automatisch zu höheren Lohn-nebenkosten führen. Außerdem besteht die Hoffnung, dassZusatzprämien Kostenunterschiede transparent machen undin der Folge der Anreiz zu kostenbewusster Nachfrage ge-stärkt wird. Zwar wird der Arbeitnehmerbeitrag offensicht-lich nicht qua Gesetz fixiert, aber man darf unterstellen, dasszukünftige Ausgabensteigerungen vorrangig über kassenin-dividuelle Zusatzprämien statt über Beitragssatzanpassun-gen finanziert werden sollen. Nachdem die Beitragssätze2009 noch vereinheitlicht wurden und damit Preisunterschie-de zwischen den Kassen – von Tarifen mit Selbstbehalt oderBeitragsrückerstattung einmal abgesehen – eliminiert wur-den, entsteht hier ein neues Preissignal, das umso stärker

wirkt, je größer der prämienfinanzierte Ausgabenanteil ist.Dazu gibt es noch eine steuerfinanzierte Kompensation vonBelastungen, die 2% des beitragspflichtigen Einkommensüberschreiten. Diese orientiert sich am durchschnittlichenWert der Zusatzprämie, so dass selbst für Transferempfän-ger der Anreiz erhalten bleibt, nach günstigen AngebotenAusschau zu halten.

Doch geht es nicht um ein Pflaster, sondern angesichts derwiederkehrenden Probleme um eine ursachengerechte The-rapie. Eine sinnvolle Bewertung kann deshalb nur auf derBasis einer grundlegenden Diagnose erfolgen:

(1) Befunderhebung. Am Anfang steht die Frage, ob dieFinanzierungsprobleme der GKV vorrangig durch die Aus-gabenentwicklung hervorgerufen werden, oder ob die Ein-nahmenentwicklung systematisch hinterher hinkt, weil diebeitragspflichtigen Einkommen erodieren. Ein häufig an-geführtes Indiz ist der Anteil der GKV-Ausgaben am Brut-toinlandsprodukt. Tatsächlich schwankt die Quote zwi-schen 1992 und 2008 in einem relativ engen Band von6,3 bis 6,8%. Doch besagt dieser Wert wenig, könnenSchwankungen doch auf Veränderungen sowohl desBruttoinlandsprodukts als auch der GKV-Ausgaben be-ruhen. So kletterte die Quote im Krisenjahr 2009 vor al-lem aufgrund des Einbruchs der Wirtschaftsleistung erst-mals über die 7%-Marke. Wichtiger noch, die Quote ver-schleiert die Tatsache, dass immer weniger Menschenin der GKV versorgt werden. Deshalb ist es aussage-kräftiger, die Entwicklung der GKV-Ausgaben je an-spruchsberechtigten Versicherten zu betrachten. Trotzzahlreicher Kostendämpfungsmaßnahmen und Leistungs-einschnitte ist diese Größe seit 1991 um jahresdurch-schnittlich 3,5% gewachsen und damit um 1,3 Prozent-punkte pro Jahr stärker als die beitragspflichtigen Ein-kommen je Versicherten (vgl. Pimpertz 2010, 76 ff.). Des-halb lautet der Befund: In der Pro-Kopf-Betrachtung stei-gen die GKV-Ausgaben überproportional im Vergleichzu der Einkommensgröße, die für die Beitragseinnah-men der Kassen ausschlaggebend ist.

Damit ist aber noch nicht ausgeschlossen, dass die Finan-zierungsbasis der GKV erodiert. Dazu bedarf es eines ge-eigneten Vergleichsmaßstabs, dessen Auswahl nicht trivialist. Orientiert man sich an den Konsummöglichkeiten einerVolkswirtschaft und verwendet vereinfachend das Volks-einkommen je Einwohner, dann sind die beitragspflichtigenEinkommen je Versicherten seit 1992 mit einer jahresdurch-schnittlichen Rate von 2,2% genauso stark gewachsen wieder Referenzmaßstab (vgl. Pimpertz 2010, 78 f.). Auch wennder Vergleich an dieser Stelle holzschnittartig ausfallen muss,lautet der differenziertere Befund: Während sich die Einkom-mensbasis für die Beitragsfinanzierung und das Volksein-kommen pro Kopf ähnlich entwickelt haben, kletterten diePro-Kopf-Ausgaben überproportional.

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Jochen Pimpertz*

* Dr. Jochen Pimpertz ist Senior Economist für Sozialpolitik im Institut derdeutschen Wirtschaft Köln.

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Zur Diskussion gestellt

(2) Mögliche Fehldeutung. Zwar ließe sich unabhängig vondiesem Ergebnis argumentieren, dass Gesundheit ein su-periores Gut und deshalb eine Anpassung der Beitrags-sätze an die steigenden Ausgaben gerechtfertigt sei. Die-ser nicht selten vorgetragene Ansatz vermag aber aus meh-reren Gründen nicht zu überzeugen: Zunächst ist Gesund-heit gar kein Gut, sondern ein Zustand, der über den Kon-sum bestimmter Güter, aber auch über gesundheitsdien-liches Verhalten beeinflusst werden kann. Güter im ökono-mischen Sinne sind damit insbesondere die medizinischenLeistungen und der Versicherungsschutz. Doch selbstwenn es sich dabei um superiore Güter handelt, sollten dieAusgaben(-steigerungen) nicht allein über das zwangswei-se finanzierte System alimentiert werden. Denn der supe-riore, inferiore oder »normale« Charakter eines Gutes wirdin der mikroökonomischen Theorie aus der individuellenWertschätzung eines Individuums abgeleitet und ist kei-neswegs mit einer objektiv überprüfbaren Gütereigenschaftzu verwechseln. Deshalb spricht dieses Argument eher da-für, (steigende) Ausgaben für medizinische Leistungen vorallem über die individuelle Zahlungsbereitschaft präferenz-gerecht zu finanzieren, statt über das gesetzliche Zwangs-system.

(3) Ordnungspolitische Diagnose: Wenn also von einem vor-rangigen Problem auf der Ausgabenseite der GKV ausge-gangen werden muss, was sind dann die ökonomischen Ur-sachen für diese Entwicklung? Meist werden die demogra-phische Entwicklung und der medizinisch-technische Fort-schritt angeführt. Allerdings werden dabei gravierende Fehl-anreize sowohl auf den Versicherungs- und Leistungsmärk-ten als auch bei der Finanzierung außer Acht gelassen. Somangelt es den Versicherten an Wahlfreiheiten, für die siefinanzielle Eigenverantwortung tragen. Dabei spielt die lohn-steuerähnliche Wirkung der Beitragsfinanzierung nicht nuraufgrund der sachfremden Belastung der Arbeitskosten ei-ne besondere Rolle. Entscheidend ist, dass es keinen sach-lichen Zusammenhang zwischen individuellem Versiche-rungsbeitrag und den Kosten des Versicherungsschutzesgibt. Hinzu kommen die im internationalen Vergleich gerin-gen Selbstbehalte und eine kostenlos gewährte freie Wahldes Behandlers. Für die Versicherten wäre es angesichtsdieser Anreize irrational, sich im Erkrankungsfall kostenbe-wusst zu verhalten – selbst wenn die Kosten transparent ge-macht würden. Denn potentielle Einsparungen werden imRahmen der steuerähnlichen Beitragsfinanzierung soziali-siert, statt die kostenbewussten Nachfrager finanziell zubelohnen. Rational ist es stattdessen, die vermeintlich bes-te, im Zweifel aufwendigste Medizin nachzufragen. Da die-ser Fehlanreiz alle Versicherten erfasst, entsteht ein kollek-tiv unerwünschtes Verhalten.

Der Katalog der Fehlanreize ließe sich erweitern, mangeltes doch etwa in der ambulanten und stationären Versorgungan Preiswettbewerb. Gleichzeitig fehlt es den Krankenkas-

sen an Vertragsfreiheiten, um sowohl auf ihrer Beschaffungs-seite effiziente Anbieter exklusiv zu binden, als auch auf ih-rer Absatzseite entsprechend kostengünstige Tarife anzu-bieten, die eine freiwillige Einschränkung auf besondere Ver-sorgungsformen oder Vertragspartner vorsehen. Erst eineSteuerung nach marktwirtschaftlichen Prinzipien lässt hof-fen, dass die im Gesundheitswesen vermuteten Effizienzre-serven über den Preiswettbewerb auch tatsächlich geho-ben und damit der überproportionale Ausgabenanstieg ge-bremst werden kann.

Sicherlich sorgt die Bevölkerungsalterung zukünftig für wei-ter steigende GKV-Ausgaben. Die Bedeutung der demogra-phischen Entwicklung wird aber vielfach überschätzt. Dennweitaus stärker treibt das Zusammenspiel von institutionellbedingten Fehlanreizen und medizinisch-technischem Fort-schritt den Anstieg der Ausgaben. Letzterer führt vor allemdeshalb zu unerwünschten Mehraufwendungen, weil dieSteuerungsfunktion der Preise im GKV-System weitgehendausgeschaltet ist (vgl. Pimpertz 2010, 80 f. und 85 ff.).

(4) Verteilungspolitische Diagnose. Die öffentliche Debat-te konzentriert sich aber eher auf den Aspekt der Vertei-lungsgerechtigkeit. Nach der Grundidee des gesetzlichenSystems soll sich der Zugang zur Versorgung nach demmedizinischen Behandlungsbedarf richten, der individuel-le Beitrag aber nach der finanziellen Leistungsfähigkeit.Auch hier steht die Beitragsfinanzierung in der Kritik. Denndurch den Ausschluss von Entgeltbestandteilen jenseitsder Beitragsbemessungsgrenze sowie ganzer Einkom-mensquellen spiegelt die Beitragsbemessung allenfalls zu-fällig die individuelle Leistungsfähigkeit. Auch die mangeln-de Berücksichtigung des Haushaltskontextes kann zu Ir-ritationen führen, wenn etwa eine Halbtagskraft ob ihresreduzierten Entgelts innerhalb der GKV nur zu einem rela-tiv geringen Beitrag veranlagt wird, obwohl sie zusammenmit dem Partner ein gemeinsames Einkommen erzielt, daskeiner Unterstützung durch die Solidargemeinschaft be-darf. Schließlich werden ganze Personengruppen wie Be-amte oder Selbständige von der Finanzierung eines Ein-kommensausgleichs frei gestellt, der im Sinne von Exis-tenzsicherung und Verteilungsgerechtigkeit als gesamtge-sellschaftliche Aufgabe zu verstehen ist.

(5) Anreiztheoretisch begründete Therapie. Wenn die Fi-nanzierungsprobleme vorrangig aus der Ausgabenentwick-lung resultieren und diese vor allem durch die institutionellverankerten Fehlanreize verursacht wird, dann muss eine er-folgreiche Therapie einen Preiswettbewerb initiieren. Kas-sen wie Leistungserbringer werden sich aber nur dann aufdie Suche nach effizienten Versorgungslösungen begeben,wenn seitens der Versicherten eine entsprechende Nach-frage artikuliert wird. Voraussetzung dafür ist, dass sich et-wa eine freiwillige Beschränkung auf bestimmte Versorgungs-formen auch finanziell lohnt. Das ist aber im Status quo nicht

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möglich, weil sich der individuelle Beitrag nach der Einkom-menshöhe bemisst.

In der Diskussion stehen deshalb Finanzierungselemente mitPreischarakter, etwa Gebühren, Selbstbehalte, Beitragsrück-erstattungen oder eben Zusatzprämien. Ohne auf deren Res-triktionen im Detail eingehen zu wollen, bleiben solche Fi-nanzierungselemente in ihrer Wirkung beschränkt. Dennsie ergänzen die einkommensabhängige Beitragsfinanzie-rung; Preisunterschiede kommen nur in sehr engen Span-nen zum Ausdruck. Deshalb wäre es illusorisch zu hoffen,die Akteure im Gesundheitswesen mit Zusatzprämien vonzum Beispiel durchschnittlich 8 € pro Monat zu gänzlichanderen Verhaltensweisen anleiten zu können. Das Mittelder Wahl ist die Gesundheitsprämie. Ihre primäre ökonomi-sche Rechtfertigung resultiert aus dem anreiztheoretischenGedanken, denn sie spiegelt die Kosten des gewünschtenVersicherungstarifs und bietet dabei – ausreichende Ver-tragsfreiheiten vorausgesetzt – unbeschränkte Anreize fürNachfrager, Kassen und Leistungsanbieter, effiziente Ver-sorgungsformen zu suchen.

(6) Verteilungspolitisch begründete Therapie. Auf die vertei-lungspolitische Kritik gegen die Beitragsfinanzierung beru-fen sich dagegen sowohl die Vertreter des Bürgerversiche-rungsmodells als auch die Protagonisten der einkommens-unabhängigen Prämienfinanzierung. Dabei werben die Ers-ten für eine Anhebung oder gar Aufhebung der Bemessungs-grenze, die Einbeziehung sämtlicher Einkommensarten so-wie die zwangsweise Absicherung von bislang privat Kran-kenversicherten und Beamten unter dem Dach der GKV.Mithin würde das gesetzliche System über eine zweite, ein-kommensproportionale Steuer finanziert. Von verfassungs-rechtlichen Bedenken gegen die Auflösung bestehender Al-tersrückstellungen in der PKV, über die Frage, ob ein privatKrankenversicherter für die GKV ein günstiges Versiche-rungsrisiko darstellt, bis hin zu der Tatsache, dass der An-reizgedanke vollends verloren ginge – gegen die Bürger-versicherungsidee sprechen viele Argumente. Auch hier istdas Mittel der Wahl die Gesundheitsprämie mit einem er-gänzenden Einkommensausgleich aus Steuermitteln. Denndamit bleibt das Preissignal zur Steuerung der Versiche-rungs- und Leistungsmärkte erhalten. Gleichzeitig wird derSozialausgleich über das Steuersystem treffsicherer orga-nisiert. Sowohl der Kompensationsanspruch als auch die Fi-nanzierung des notwendigen Transfervolumens knüpfen aneinem Einkommensbegriff an, der weder mit Beitragsbe-messungsgrenzen operiert, noch Einkommensarten odergar ganze Personengruppen ausschließt.1

(7) Bewertung. Auf Basis dieser Diagnose und in Abwä-gung alternativer Therapien enttäuscht das Reformmodellder Bundesregierung. Denn mit der Anhebung des Beitrags-satzes werden sowohl die Fehlanreize als auch die Fehlver-teilungen infolge der Beitragsfinanzierung ausgedehnt. Einwirksames Preissignal entsteht erst mit einem weiteren, über-proportionalen Anstieg der GKV-Ausgaben, den es doch ei-gentlich zu bremsen gilt. Schlimmer noch, die Kompensa-tion unzumutbarer Belastungen sattelt auf der problemati-schen Abgrenzung des beitragspflichtigen Einkommens auf.Die Fehlverteilungen des ursprünglichen Systems werdendamit auch auf den neuen sozialen Ausgleich übertragen.In der Folge droht ein politischer Bumerangeffekt. Denn dasModell kann auch von denen mit verteilungspolitisch gut be-gründeten Argumenten angegriffen werden, die ausgerech-net kein ökonomisch rationales Finanzierungssystem imSchilde führen.

Literatur

Horschel, N. und J. Pimpertz (2010), »Transferbedarf in einer prämienfinan-zierten Gesetzlichen Krankenversicherung«, IW-Trends, Vierteljahresschriftzur empirischen Wirtschaftsforschung 37(2), 105–123.Pimpertz, J. (2010), »Ausgabentreiber in der Gesetzlichen Krankenversiche-rung«, IW-Trends, Vierteljahresschrift zur empirischen Wirtschaftsforschung37(2), 75–90.

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1 Vgl. Horschel und Pimpertz (2010, 107ff.). Die Befürchtung, der Bundes-haushalt werde überfordert, bestätigt sich nicht. Zum einen kann der Bun-deszuschuss bedarfsgerecht zur Kompensation unzumutbarer Belastungeneingesetzt werden, statt den Beitragssatz pauschal auch zugunsten der bes-ser verdienenden Mitglieder zu subventionieren. Zum anderen erzielt derBund höhere Steuereinnahmen, weil diejenigen Haushalte, die von einemSystemwechsel profitieren, den Einkommensvorteil versteuern müssen.

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Ein entschiedenes »Weiter so!« in derGesundheitspolitik?

Die Maßnahmen

Die Bundesregierung hat nach monatelangem internem Rin-gen am 6. Juli 2010 unter dem Titel »Für ein gerechtes, so-ziales, stabiles, wettbewerbliches und transparentes Gesund-heitssystem« die Eckpunkte für eine Reform der GKV be-schlossen, die noch im Herbst dieses Jahres im Bundestagverabschiedet werden und zum 1. Januar 2011 in Kraft tre-ten soll. Die im Koalitionsvertrag vom 27. Oktober 2009 an-gekündigte weitreichende Reform des Finanzierungsmodellsist darin nicht enthalten. Stattdessen geht es in der Hauptsa-che um die Abwendung eines ansonsten für 2011 prognos-tizierten Defizits der Krankenkassen in Höhe von 11 Mrd. €.Im Einzelnen sind folgende Maßnahmen vorgesehen:

1. die Wiederanhebung des allgemeinen Beitragsatzes zurGKV auf 15,5%, den Wert, der vor Juli 2009 bereits ge-golten hat;

2. eine Festschreibung des Arbeitgeberbeitrags auf denneuen Wert von 7,3%;

3. die Aufhebung der Begrenzung des vom Mitglied zu zah-lenden pauschalen Zusatzbeitrags;

4. die Einführung eines Sozialausgleichs für diejenigen, beidenen der Zusatzbeitrag (im Durchschnitt aller Kassen)2% des beitragspflichtigen Einkommens übersteigt;

ferner eine Reihe von Einmalmaßnahmen für das kommen-de Jahr:

5. ein Verbot des Anstiegs der Verwaltungskosten der Kran-kenkassen (bis 2012),

6. Begrenzungen der Ausgabenzuwächse in mehreren Leis-tungsbereichen (Krankenhäuser, Arzneimittel, Zahnärz-te, hausarztzentrierte Versorgung).

Bewertung der Maßnahmen

Ad 1: Abgesehen davon, dass die Festsetzung eines für al-le Kassen gleichen »allgemeinen« Beitragssatzes und da-mit die Politisierung dieses wichtigen Preisparameters mitder Einführung des Gesundheitsfonds ein Fehler war, istdie Maßnahme unter 1. nicht zu kritisieren, weil sie der Ehr-lichkeit der Beitragserhebung in der GKV dient. Die Bezu-schussung aus dem Bundeshaushalt konnte als kurzfristi-ge Konjunktur stützende Maßnahme gerade noch angehen;auf die Dauer wäre sie jedoch systemwidrig gewesen, dennder Versicherte muss wissen, wie teuer die soziale Kranken-versicherung ihn kommt. Eine partielle Umwegfinanzierungüber Steuern verringert die Transparenz von Kosten undLeistungen.

Ad 2: Schon lange fordern Ökonomen, die annähernd hälf-tige Aufteilung des Kassenbeitrags auf Arbeitgeber und Ar-beitnehmer abzuschaffen, weil auch sie die Transparenz ver-ringert. Besonders schädlich wirkte sie sich aus, solange dieKassen noch unterschiedliche Beitragssätze verlangten, weildadurch ein Wechsel zu einer günstigeren Kasse für denVersicherten weniger attraktiv war. Dieser Effekt ist zwarmit dem Gesundheitsfonds weggefallen. Dennoch ist es öko-nomisch nicht plausibel, dass jeder Ausgaben steigerndemedizinische Fortschritt die Arbeitskosten erhöht. Etwas un-befriedigend ist es, dass die angebliche »Festschreibung«des Arbeitgeberbeitrags im Paket mit seiner Erhöhung von7,0 auf 7,3% beschlossen wurde. Glaubwürdiger wäre esgewesen, ihn auf dem alten Wert festzuschreiben.

Ad 3: Die Freigabe des Zusatzbeitrags als solche ist unein-geschränkt positiv zu bewerten, da nach der politischenFestsetzung des allgemeinen Beitragssatzes nur der Zusatz-beitrag als Wettbewerbsparameter der Kassen dienen kann.Je mehr sich die Kassen im Preis unterscheiden können,umso eher lohnt sich ein Kassenwechsel und umso inten-siver wird der Wettbewerb sein. Man könnte in diesem Aus-bau der Zusatzbeiträge einen sehr vorsichtigen Einstieg indie vom Gesundheitsminister ursprünglich geplante – undim Koalitionsvertrag angekündigte – Gesundheitsprämie se-hen, wenn nicht ihre Beschränkung auf originäre Mitglieder,also Arbeitnehmer und Rentner, wäre. Eine Ausdehnung aufalle erwachsenen Versicherten hätte den Preischarakter desZusatzbeitrags gestärkt, auch wenn sie zu einem zusätzli-chen Verwaltungsaufwand geführt hätte.

Ad 4: Als misslungen muss man hingegen die Ausgestal-tung des Sozialausgleichs bezeichnen, und zwar aus zweiGründen: Eine Überforderung geschieht nicht durch den

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Friedrich Breyer*

* Prof. Dr. Friedrich Breyer ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschafts- undSozialpolitik an der Universität Konstanz und Forschungsprofessor amDeutschen Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin.

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durchschnittlichen Zusatzbeitrag, auch nicht durch den tat-sächlich von der eigenen Kasse erhobenen Zusatzbeitrag –das hat Minister Rösler richtig erkannt –, sondern allenfallsdurch den niedrigsten Zusatzbeitrag aller wählbaren Kas-sen. Nur dieser hätte für den Anspruch auf einen sozialenAusgleich herangezogen werden dürfen, da man sich ihmnicht entziehen kann. Der Wissenschaftliche Beirat beimBundeswirtschaftsministerium (2010) hat daher vorgeschla-gen, dass der Gesundheitsminister ermächtigt werde, denallgemeinen Beitrag immer so zu steuern, dass der mini-male Zusatzbeitrag unterhalb eines sehr niedrigen Schwel-lenwerts (z.B. von 10 € pro Monat) verbleibt. Dann wäre ein Sozialausgleich überflüssig geworden, weil der Wech-sel zu einer günstigeren Kasse auch Geringverdienern zu-mutbar wäre.

Die SPD hat dem Entwurf der Regierung ein Rechtsgut-achten des Verfassungsrechtlers Ingmar Ebsen entgegen-gestellt, in dem dieser die geplante Form des Sozialaus-gleichs als verfassungswidrig bezeichnet, da die Anspruchs-berechtigung nicht an Hand des gesamten beitragspflichti-gen Einkommens, sondern nur des Einkommens aus derHaupttätigkeit geprüft werden solle. Damit werde gegen denGleichheitsgrundsatz verstoßen, da z.B. ein Rentner mit ei-ner niedrigen gesetzlichen Rente, aber einer hohen Betriebs-rente unter die 2%-Grenze falle und somit einen Ausgleicherhalte, während ein anderer Rentner mit etwas höherergesetzlicher Rente, aber insgesamt geringeren Einkünftenleer ausgehe (vgl. SPD 2010).

Während die Regierung mit dem Argument kontert, die Ein-zelheiten des Sozialausgleichs stünden noch gar nicht fest,muss man an dem Ebsen-Gutachten eine viel grundsätzli-chere Kritik anbringen: Bei strenger Auslegung des von ihmherangezogenen Gleichheitsgrundsatzes ist die gesamtederzeitige Beitragserhebung verfassungswidrig, da sie einekünstliche Unterscheidung zwischen Lohn- (und Lohner-satz-)einkommen auf der einen Seite und sämtlichen übri-gen Einkünften auf der anderen Seite trifft und nur die ers-teren zur Beitragserhebung heranzieht. Da jedoch der Lö-wenanteil der GKV-Leistungen selbst keine Lohnersatzleis-tung ist, fehlt eine triftige Rechtfertigung für die Diskriminie-rung der Lohneinkommen bei der Finanzierungsseite. An-ders ausgedrückt: wenn Gutachter Ebsen Recht hätte, gä-be es nur eine verfassungskonforme Alternative: die von sei-ner Auftraggeberin SPD so heftig bekämpfte Gesundheits-prämie mit steuerfinanziertem Sozialausgleich.

Kritisch ist auch die Aussage des Gesundheitsministers(auf seiner Homepage) zu werten, für den Sozialausgleichmüssten keine Steuern erhöht werden, sondern seine Fi-nanzierung sei »aus allgemeinen Haushaltsmitteln grund-sätzlich darstellbar«. Entweder Herr Rösler will den allgemei-nen Beitragssatz längerfristig stabilisieren und einen mögli-chen Ausgabenzuwachs über den Ausbau der Zusatzbei-

träge finanzieren, so dass man von einem Einstieg in die Ge-sundheitsprämie sprechen könnte. Dann wird es über kurzoder lang Steuererhöhungen geben müssen. Oder aberder allgemeine Beitragssatz wird regelmäßig angehoben,um die Zusatzbeiträge gering zu halten. Dann hätte man sichden Sozialausgleich besser ganz und gar gespart. Die jetztgefundene Regelung ist ein fauler Kompromiss der in die-sem Punkt zerstrittenen Regierung – die CSU lehnt die Ge-sundheitsprämie vehement ab. Auf eine langfristige Strate-gie wird verzichtet.

Ad 5: Ein beliebtes Kampfgebiet, wenn der Regierung dieIdeen für strukturelle Verbesserungen im Gesundheitswe-sen ausgehen, sind die Verwaltungskosten der Krankenkas-sen. Ihr Einfrieren ist kontraproduktiv, weil es zum einenverschwenderische Kassen belohnt und sparsame bestraftund zum anderen verhindert, dass die Kassen im Vertrags-geschäft innovative Wege beschreiten, um Leistungsausga-ben zu verringern. Eine Kasse, die im Wettbewerb steht, hatein Eigeninteresse an schlanken Verwaltungsstrukturen,staatlicher Druck hilft da nichts.

Ad 6: Dies ist wieder die altbekannte zentralisierte Gesund-heitspolitik, bei der die Stärke einer Lobbygruppe darüberentscheidet, wie viel Geld sie ihren Mitgliedern sichert, sei-en es die Hausärzte, die Spezialisten, die Zahnärzte, dieKrankenhäuser oder die Pharmaunternehmen. Wirtschaft-licher wird unser Gesundheitswesen dadurch nicht. Dass esbessere Alternativen gibt, wird im Folgenden aufgezeigt.

Was nicht beschlossen wurde

Der größte Mangel der anstehenden »Gesundheitsreform«besteht darin, dass den Krankenkassen im Wettbewerb kei-ne zusätzlichen Instrumente in die Hand gegeben werden,um durch die Gestaltung von Verträgen mit den Leistungs-erbringern selbst für mehr Wirtschaftlichkeit zu sorgen. Wäh-rend die Möglichkeiten für Selektivverträge im ambulantenBereich bereits in den letzten Jahren ausgebaut wurden (vgl.Cassel et al. 2008), fehlt dieses Mittel im stationären Bereichvöllig: Hier müssen die Landesverbände der Kassen gemein-sam und einheitlich einen Versorgungsvertrag mit allen Kran-kenhäusern schließen, die im Krankenhaus-Bedarfsplan desjeweiligen Landes stehen. Deutschland hat im internationa-len Vergleich nicht nur eine sehr hohe Bettendichte, sondernauch eine überproportionale Zahl kleiner und nicht spezia-lisierter Krankenhäuser. Da die Qualität der Versorgung ein-deutig mit der Erfahrung in einem Spezialgebiet korreliert ist,wirkt sich diese Krankenhausstruktur nicht nur auf die Wirt-schaftlichkeit, sondern auch auf die medizinische Qualitätnegativ aus.

Die längst fällige Umstrukturierung der deutschen Kranken-hauslandschaft zu einem größeren Anteil von Häusern hö-

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herer Versorgungsstufen, seien es größere oder einfach nurstärker spezialisierte Kliniken, würde durch den Markt zu-standekommen, wenn man den Kassen zum einen den Si-cherstellungsauftrag erteilte und ihnen zugleich das Rechteinräumte, nur mit den Krankenhäusern einen Vertrag ab-zuschließen, die für eine hochwertige Versorgung ihrer Ver-sicherten erforderlich sind.

Auch bezüglich des Inhalts der Versorgungsverträge, spe-ziell der Vergütungsform, sollte der Gesetzgeber den Ver-tragspartnern weitgehende Gestaltungsfreiheit einräumen.Die breit gefächerte Literatur zu den Anreizwirkungen ver-schiedener Vergütungsformen (vgl. etwa Breyer, Zweifel undKifmann 2005, Kap. 10) zeigt keineswegs, dass ein und die-selbe Vergütungsform unter allen Umständen die einzig rich-tige ist. Ganz im Gegenteil hängen die Anreizwirkungen derverschiedenen Vergütungsformen davon ab, welche Präfe-renzen bzgl. der Leistungsqualität die Anbieter haben, obdie Qualität der Behandlung von der Kasse beobachtet wer-den kann und ob es objektiv messbare Indikatoren für dieSchwere eines Behandlungsfalls gibt.

Daher kann der Wettbewerb zwischen den Krankenkassenhier in besonderem Maße als Entdeckungsverfahren wirken,indem verschiedene Kassen unterschiedliche Kombinatio-nen von Vergütungen mit ihren Vertragspartnern erprobenund aus den dabei resultierenden Ergebnissen bzgl. Kos-ten und Leistungsqualität Erkenntnisse gewonnen werden,die die Wahl der Vergütung in der Zukunft beeinflussen kön-nen. Erst durch einen solchen Prozess von Versuch und Irr-tum kann die Effizienz des Leistungsgeschehens in der Ge-sundheitsversorgung nachhaltig gesteigert werden.

Als Quelle von Effizienzmängeln im deutschen Gesundheits-wesen wird immer wieder die unzureichende Verzahnungzwischen der ambulanten und der stationären Versorgungidentifiziert, die aus der Abschottung der beiden Sektorenherrührt und zu kostspieligen Doppeluntersuchungen undEinbußen in der Behandlungsqualität aufgrund von Informa-tionsmängeln führt. Als Folgerung bemüht sich der Gesetz-geber seit langer Zeit, die »integrierte Versorgung« durchspezielle Vergütungsregelungen zu fördern (vgl. § 140 a–dSGB V). Sektorübergreifende Versorgung muss jedoch nichtverordnet werden. Wenn die Kassen den Sicherstellungs-auftrag erhalten, können sie selbst entscheiden, ob sie ihreVersorgungsaufträge für die Sektoren separat ausschreibenoder als Gesamtauftrag für ambulante und stationäre Ver-sorgung. Durch eine Gesamtausschreibung würde der An-reiz auf der Seite der Leistungserbringer entstehen, Netz-werke von Ärzten und Krankenhäusern zu bilden und diebrach liegenden Effizienzreserven für Preissenkungen undQualitätserhöhungen nutzbar zu machen.

Von allen diesen Möglichkeiten enthält das beschlosseneReformpaket nichts. Es werden zwar »strukturelle Reformen

im System« angekündigt, die »zu mehr Wettbewerb, mehrFreiheit für den Einzelnen und weniger Bürokratie führen«sollen, unter den aufgezählten Einzelmaßnahmen vermisstman jedoch ein klares Bekenntnis zu mehr Vertragsfreiheitin der GKV.

Fazit

Wer erwartet hat, dass mit einem liberalen Bundesgesund-heitsminister mehr Wettbewerb und damit mittelfristig mehrEffizienz ins deutsche Gesundheitssystem einkehrt, mussvon den ersten neun Monaten der neuen Regierung ent-täuscht sein. Weder ist der Einstieg in eine neue, wenigerlohnabhängige Finanzierung gelungen – das hat die CSUzu verantworten – noch wird dem Kassenwettbewerb dernötige Platz eingeräumt, um für mehr Wirtschaftlichkeit beider Leistungserbringung zu sorgen. Von einigen kosmeti-schen Reformen mühsam übertüncht, kann man die Devi-se der Regierung mit einem entschiedenen »Weiter so!« über-setzen.

Literatur

Breyer, F., P. Zweifel und M. Kifmann (2005), Gesundheitsökonomik, 5. Aufl.,Springer, Berlin.Bundesministerium für Gesundheit (2010), Für ein gerechtes, soziales, sta-biles, wettbewerbliches und transparentes Gesundheitssystem,http://www.bmg.bund.de/cln_169/SharedDocs/Downloads/DE/Presse/Pres-se-2010/pm-10-07-06-gesundheitsreform-eckpunkte-anhang,templateId=raw,property=publicationFile.pdf/pm-10-07-06-gesundheitsreform-eckpunk-te-anhang.pdf, 29. Juli 2010.Cassel, D., I. Ebsen, S. Greß, K. Jacobs, S. Schulze und J. Wasem (2008),Vertragswettbewerb in der GKV. Möglichkeiten und Grenzen vor und nachder Gesundheitsreform der Großen Koalition, Wissenschaftliches Institutder AOK, Bonn.SPD (2010), Gesundheitsreform ist verfassungswidrig,http://www.spd.de/de/aktuell/ nachrichten/2010/07/Gesundheitsreform-ist-verfassungswidrig.html?pg=1&y=2010&m=0, 29. Juli 2010.»Wachstum, Bildung, Zusammenhalt«, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSUund FDP, 17. Legislaturperiode, vom 27.10.2009, http://www.cdu.de/doc/pdfc/091026-koalitionsvertrag-cducsu-fdp.pdf, 29. Juli 2010.Wissenschaftlicher Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium (2010), Zur Re-form der Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung, Gutachten vom12. Mai 2010.

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Spurenelemente einer Reform – nochüberwiegt der Dirigismus

Die wissenschaftliche Auseinandersetzung zu einer optima-len Ausgestaltung der Finanzierungssysteme in der Sozial-versicherung ist lang und hat in den letzten Jahren weniggrundlegend Neues hervorgebracht. In der Gesundheitspo-litik sind diese Argumente spätestens in den neunziger Jah-ren bei der Entscheidung über die Ausgestaltung der so-zialen Pflegeversicherung insbesondere zur Frage des Sys-temwechsels von einer reinen Umlage- zu einer Kapitalfinan-zierung angekommen. Ein Jahrzehnt später wurde die The-matik in zahlreichen Kommissionen und Ausschüssen, wiezum Beispiel der Rürüp- und der Herzog-Kommission wie-der aufgenommen, ohne dass auch zu diesem Zeitpunktwesentliche Veränderungen der Argumentationslinien fest-stellbar gewesen wären. Aktuell wird das Thema in der Dis-kussion um die Weiterentwicklung des Gesundheitsfonds inRichtung pauschalisierter Zusatzbeiträge nicht nur zwischendem Oppositionslager, sondern auch innerhalb der Koaliti-on sehr heftig diskutiert. Im Koalitionsvertrag ist zu diesemThema festgelegt: »Langfristig wird das bestehende Aus-gleichssystem überführt in eine Ordnung mit mehr Beitrags-autonomie, regionalen Differenzierungsmöglichkeiten undeinkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen, die so-zial ausgeglichen werden. Weil wir eine weitgehende Ent-kopplung der Gesundheitskosten von den Lohnzusatzkos-ten wollen, bleibt der Arbeitgeberanteil fest.« (Koalitions-vertrag 2009, 86)

Als ersten Schritt zur Umsetzung dieser Zielvorgabe hatder Bundesgesundheitsminister im Juli 2010 die Eckpunk-te einer Gesundheitsreform 2010 vorgestellt, deren Inhaltein einer Pressemitteilung des Ministeriums für Gesundheitvom 6. Juli 2010 zusammengefasst sind. Da die konkrete

Ausgestaltung im Gesetzestext zum Zeitpunkt der Abfas-sung dieses Artikels noch nicht bekannt war, sollen hier nurdie grundlegenden Regelungen, die in der Koalition verein-bart sind, kommentiert werden. Demnach sollen im Rahmender Reform die Finanzierungsgrundlagen gestärkt, ein So-zialausgleich gerecht gestaltet und die Ausgaben stabili-siert werden. Dieser dreiteiligen Gliederung folgt auch derfolgende Beitrag, der sich zunächst mit dem Einstieg in ei-nen Wandel der Finanzierungsgrundlagen der gesetzlichenKrankenversicherung beschäftigt.

Stärkung der Finanzierungsgrundlagen

Ausgangspunkt der Reformüberlegungen in allen politi-schen Lagern ist die Erkenntnis, dass das derzeitige vorallem auf den Einkünften aus unselbständiger Arbeit be-ruhende Finanzierungssystem zukünftig aufgrund des de-mographischen Wandels, des medizinischen Fortschrittsund einer schwindenden Beitragsbemessungsgrundlageimmer weniger im Stande ist, die zu erwartenden Ausga-benvolumina adäquat zu finanzieren. Ausgehend von die-ser Diagnose werden aber sehr unterschiedliche Therapie-vorschläge gemacht: Während die Vertreter der Bürgerver-sicherung eine Ausweitung der Gesetzlichen Krankenver-sicherung auf die gesamte Bevölkerung und der Bemes-sungsgrundlage auf weitere oder alle sieben Einkunftsar-ten, wie insbesondere Einkünfte aus Kapitalvermögen undVermietung, vorschlagen (vgl. Bormann et al. 2009), tretenBefürworter einer Gesundheitsprämie (bzw. Kopfpauscha-le, je nach semantischer und politischer Präferenz) dafürein, die Finanzierung ganz von der Höhe des individuellenEinkommens zu lösen, also pauschalisierte Prämien ein-zuführen und die notwendige soziale Umverteilung überdas Steuersystem zu finanzieren.

Nach Berechnungen von Hof und Schlömer (2005) kann dieBürgerversicherung nicht als nachhaltiges Finanzierungs-konzept angesehen werden, da sie zwar zu (im Vergleichzum jetzigen System) geringeren Beitragssätzen führt, die-ser Effekt aber nach etwa vier bis fünf Jahren aufgezehrt istund die ursprüngliche Beitragshöhe wieder erreicht wird.Unter Umständen macht gerade dieser Verzögerungseffektvon etwa einer Legislaturperiode dieses Finanzierungssys-tem für die Politik so attraktiv. Von besonderer Bedeutungist dabei der demographische Effekt eines steigenden Rent-neranteils in der Bevölkerung, der durch ein niedrigeres Ein-kommen (somit auch niedrigere Leistungsfähigkeit und Bei-träge) gekennzeichnet ist. Entgegen der Meinung einer jün-geren Veröffentlichung der Bertelsmann Stiftung (Braun undMarstedt 2010) sind der demographische Wandel und sei-ne Auswirkungen auf das Umlagesystem der Krankenver-sicherung durchaus kein Mythos, sondern sie werden schonin wenigen Jahren sowohl auf der Ausgaben- wie auf derEinnahmeseite deutlich spürbar sein (vgl. Ulrich 2004). Wäh-

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Wolfgang Greiner*

* Prof. Dr. Wolfgang Greiner ist Inhaber des Lehrstuhls für Gesundheits-ökonomie und Gesundheitsmanagement an der Universität Bielefeld.

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rend gerade jetzt die starken Geburtsjahrgänge der sechzi-ger Jahre in mittlere bis hohe Einkommensklassen hinein-wachsen, wird dieser für das Umlagesystem positive Effektin etwa 20 Jahren ins Gegenteil umschlagen, wenn dieseGeneration in den Ruhestand geht.

Bei einkommensunabhängigen Prämien wäre dieser Über-gang nicht mit Mindereinnahmen für die GKV verbunden, al-lerdings mit stark steigendem steuerlichem Transferbedarf,der das Hauptgegenargument bei den Gesundheitsprämi-en darstellt. Allerdings sollte bei dieser Diskussion nicht über-sehen werden, dass die Umverteilung im Sozialausgleichauch jetzt schon stattfindet, allerdings nur mit einer Art pro-portionalen Lohnsteuer (dem Beitragssatz) bis zur Höheder Beitragsbemessungsgrenze. Dies ist ein denkbar un-günstiges System, um einen Sozialausgleich zu organisie-ren, weil die Bemessungsgrundlage sehr beschränkt ist undzudem im volkswirtschaftlichen Maßstab die Einkünfte ausunselbständiger Arbeit anteilig am Volkseinkommen immermehr zurückgehen.

Einkommensunabhängige Prämien würden darüber hinausdie Einnahmen der GKV konjunkturunabhängiger machen,denn weder die Entwicklung der Löhne und Gehälter nochdie Höhe der Arbeitslosigkeit würden sich auf das Beitrags-aufkommen auswirken. Gesundheitsprämien sind zudemein sehr starkes Preissignal, welches stärker wirkt als bei-spielsweise Beitragssatzunterschiede. Schließlich wären dieKrankenkassen auch wesentlich wettbewerbsfähiger ge-genüber den Prämien der privaten Krankenversicherungen(PKV), da die freiwillig Versicherten, die die Option zum Wech-sel in die PKV haben, in einem pauschalisierten System nied-rigere Gesundheitsprämien als heutige Beiträge zahlen (underst anschließend im Steuersystem zum Sozialausgleich her-angezogen werden). Und selbst wenn es zu einem nennens-werten weiteren Wechsel von der GKV in die PKV kommt,wäre dieser durch das damit verbundene niedrigere verlo-rene Prämienvolumen weit weniger einschneidend für dasGKV-System als heute.

Die geplante Neuregelung der Koalition sieht vor, dass dasgrundsätzliche System des Gesundheitsfonds nicht ver-ändert wird, dass aber langfristig das Gewicht der pauscha-lisierten Zusatzbeiträge steigen soll. Da der allgemeine Bei-tragssatz jedoch weiterhin durch den Bundestag festgelegtwird, hat die Politik sehr starken Einfluss darauf, in welchemTempo sich dieser Wandel vollzieht. Soweit zukünftig dieauftretenden Finanzierungslücken durch Steuermittel odereine Anpassung des allgemeinen Beitragssatzes aufge-fangen werden, kommt den Zusatzbeiträgen weiterhin nureine untergeordnete Rolle zu. Gerade die geringe Anzahlvon Krankenkassen, die momentan gezwungen ist, einenZusatzbeitrag zu erheben, und dessen im Durchschnitt re-lativ geringe Höhe führen allerdings derzeit zu einer Diskre-ditierung dieses Finanzierungsinstruments, da es allein als

Gradmesser der Unwirtschaftlichkeit einer Krankenkasseangesehen wird. Da die geplante Reform vorsieht, dass derallgemeine Beitragssatz von 14,9% wieder auf 15,5% steigt,wurde eine große Chance vertan, schon jetzt einen nen-nenswerten Einstieg in eine pauschalisierte Zusatzprämiezu beginnen.

Genau diese Vermeidung von Zusatzprämien war aber of-fenbar gerade Sinn dieses politischen Kompromisses, dennmit der angedachten Regelung wurde zwar einerseits dieunselige und unpraktikable 1%-Regelung für den Sozial-ausgleich des Zusatzbeitrages aufgehoben und die Höhedes Zusatzbeitrages prinzipiell frei gegeben. Andererseitswird aber bis in das Jahr 2011 hinein von einer Unterde-ckung des Gesundheitsfonds in Höhe von nicht mehr als4 bis 5 Mrd. € ausgegangen, so dass der durchschnittli-che Zusatzbeitrag bzw. die Zahl der Krankenkassen, dieüberhaupt gezwungen sind, einen solchen Beitrag zu er-heben, in absehbarer Zeit überschaubar bleiben. Somitkonnten Befürworter wie Gegner der Zusatzprämie mit dergeplanten Regelung jeweils einen Achtungserfolg für sichreklamieren.

Besondere Beachtung wird zukünftig auch die Rolle derSteuerfinanzierung innerhalb des Gesundheitsfonds finden.Die Erfahrungen mit steuerlichen Zuschüssen zur GKV wa-ren bislang für die Krankenkassen nicht gut, da die Politiksehr sprunghaft darüber entschied, wie hoch dieser Zu-schuss ausfallen solle. Mittlerweile werden etwa 9% der Ein-nahmen des Gesundheitsfonds direkt aus Steuern gedeckt,was zwar noch sehr weit unter dem prozentualen Anteil inder Rentenversicherung liegt, andererseits aber in weni-gen Jahren zu einem beachtlichen Bestandteil der Gesamt-finanzierung geworden ist. Begründbar sind solche Zu-schüsse in einem Sozialversicherungssystem grundsätzlichnur bei versicherungsfremden Leistungen, wie z.B. der bei-tragsfreien Mitversicherung von Kindern oder Mutterschafts-leistungen, die dann aber auch regelhaft an die finanzielleHöhe dieser Leistung gebunden werden sollte. Wenn esdem Gesetzgeber dagegen eher darum geht, die Beitrags-sätze optisch niedrig zu halten oder die Höhe der Beitrags-sätze sogar zu einem Instrument kurzfristiger Konjunktur-politik zu machen (wie im Jahr 2009 geschehen), geht dasweit über diesen eng gesteckten Rahmen legitimer steuer-licher Unterstützung hinaus und führt zu einer Finanzierungs-illusion der Versicherten, die dann für ihren Versicherungs-schutz politisch gewollt einen nicht auskömmlichen Beitragzu zahlen haben.

Sollten in den kommenden Jahren die Zusatzprämien tat-sächlich einen höheren Finanzierungsanteil annehmen, sowird dies noch eine weitere Wirkung haben, die derzeit nochwenig diskutiert wird: Die Legitimation der Arbeitgeber undGewerkschaftsvertreter in den Selbstverwaltungsgremiender Krankenkassen stellt sich durch pauschalisierte Beträ-

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ge immer mehr in Frage, da der Zusammenhang der Fi-nanzierung mit dem Arbeitseinkommen stetig kleiner wird.Der auf die Ersatzkassen bezogene Hinweis im Koalitions-vertrag, man strebe »in den Verwaltungsräten der Kranken-kassen gemäß der gemeinsamen Finanzierung auch die Ver-treter der Arbeitgeberseite an« (Koalitionsvertrag S. 92), stehthierzu in einem seltsamen Gegensatz.

Überraschend ist, dass im Zusammenhang mit einer Fi-nanzierungsreform offenbar derzeit gar nicht an Verände-rungen bei den Selbstbeteiligungen der Versicherten ge-dacht wird. Zwar sollten Selbstbeteiligungen nicht im Hin-blick auf ihr parafiskalisches Auskommen, sondern auf ih-re Steuerungswirkung hin eingesetzt werden (weshalb Leis-tungen mit einer sehr geringen Einkommenselastizität derNachfrage wie Krankenhausleistungen eigentlich gar kei-ne Selbstbeteiligung aufweisen sollten). Aber angesichtsder sehr überschaubaren Selbstbeteiligungen im deutschenGesundheitswesen (beispielsweise in der ambulanten Ver-sorgung) sind hier durchaus noch Finanzierungspotentia-le vorhanden, die gleichzeitig einen ausgabendämpfendenEffekt haben könnten.

Sozialausgleich

Wie bereits festgestellt sind in einem solidarischen Kranken-versicherungssystem pauschalisierte Finanzierungsformenin der Regel mit einem Sozialausgleich verbunden, der ausden genannten Gründen möglichst im Steuersystem statt-finden sollte. Allerdings sind die Prüfung der Bedürftigkeitund auch die Abwicklung der Transferzahlungen mit nichtunerheblichen Transaktionskosten verbunden, die mit demabsehbar ansteigenden Anteil der Haushalte, die auf sol-che Transfers angewiesen sind, sogar noch gleichzeitig mitzunehmen. Die Bundesregierung hat sich daher frühzeitigauf einen automatisierten Sozialausgleich festgelegt. Ge-dacht ist offenbar daran, bereits mit der Lohn- bzw. Trans-fereinkommensabrechnung einen Ausgleich dann vorzuneh-men, wenn 2% dieses Einkommens kleiner sind als derdurchschnittliche Zusatzbeitrag aller Versicherten. Die Vor-teilhaftigkeit einer solchen Regelung liegt auf der Hand, dakeine aufwändigen Bedürftigkeitsprüfungen und Überwei-sungen nötig sind. Allerdings hat das Verfahren auch gra-vierende Nachteile, denn gemessen wird Bedürftigkeit wei-terhin nur aufgrund einer einzigen Einkunftsart (wobei derAusgleich später aus allgemeinen Steuermitteln stattfindet),und es ist offenbar auch nicht vorgesehen, an das Haus-haltseinkommen anzuknüpfen, was bislang beispielsweiseherangezogen wird, um festzustellen, ob die Belastungs-grenze für Selbstbeteiligungen (§ 62 SGB V) bereits erreichtworden ist.

Nach jetzigem Informationsstand kommen zwei Kuriositä-ten bei dieser Regelung hinzu, die noch der Diskussion be-

dürfen: Erstens ist wohl geplant, die Prämie auch dann aus-zuzahlen, wenn der Begünstigte in einer Krankenkasse ist,die überhaupt gar keine Zusatzbeiträge erhebt. Entschei-dend soll nur sein, wie hoch die durchschnittlichen Zusatz-beiträge sind und welches Einkommen der Versicherte auf-weist. Diese Regelung hat keinerlei Anreizwirkung auf dieWechselbereitschaft der Versicherten, da diese sich bei-spielsweise bzgl. der Zusatzbeiträge nicht besser stellenkönnen, wenn sie ohnehin in einer Krankenkasse sind, diegar keine Zusatzbeiträge erhebt. Ein zusätzlicher Sozialtrans-fer ist in diesen Fällen weder nötig noch entfaltet er irgend-welche positiven Wettbewerbseffekte. Es ist zudem erstaun-lich, dass der Sozialtransfer an dem durchschnittlichen Zu-satzbeitrag festgemacht wird und nicht etwa an den nied-rigsten oder (ähnlich wie im Bereich der Festbeträge im Arz-neimittelbereich) an dem unteren Drittel der Zusatzbeiträ-ge. In beiden Fällen wäre derzeit der Sozialtransfer null, dadie Versicherten, die sich hohe Zusatzbeiträge nicht leistenkönnen, jederzeit die Möglichkeit haben, ihre Krankenkas-se zu wechseln.

Stabilisierung der Ausgaben

Zur kurzfristigen Stabilisierung der Ausgaben ist eine Reihevon Eingriffen vorgesehen, die fast sämtlich auf der Preis-ebene stattfinden. Dazu gehören eine Erhöhung desZwangsrabattes im Arzneimittelbereich, eine Zuwachsbe-grenzung im Bereich der Krankenhäuser und ambulantenVersorgung sowie eine Obergrenze für Honorare in so ge-nannten hausarztzentrierten Versorgungsverträgen (§ 73bSGB V). Alle diese Maßnahmen stehen außerhalb des wett-bewerblichen Instrumentariums, sondern sind rein hoheitli-che Regulierungen zur kurzfristigen Abwendung eines ho-hen Finanzierungsdefizits bereits im laufenden Jahr. EchteWettbewerbselemente, die naturgemäß eher mittelfristig wir-ken, sind daher bislang noch nicht erkennbar.

Besonders augenfällig wird dies bei der Begrenzung der Ver-waltungsausgaben der Krankenkassen, denn erstens soll-ten sich übermäßige Verwaltungskosten auf Dauer in erhöh-ten Zusatzbeiträgen niederschlagen, was wiederum direktdurch den Markt durch nachlassende Nachfrage sanktio-niert werden würde, und zweitens können höhere Verwal-tungsaufgaben bei Krankenkassen durchaus dann gerecht-fertigt sein, wenn diese eine aktivere Rolle beispielsweiseim Bereich des selektiven Kontrahierens einnehmen, wennalso kollektive Verhandlungen immer mehr durch individu-elle Vereinbarungen zwischen Kasse und Leistungserbrin-ger ersetzt werden. Ähnliches gilt auch für die angedachteAusweitung von Kostenerstattungsregelungen, die das bis-her vorherrschende Sachleistungsprinzip stärker ergänzensollen als bisher. Auch dies bindet Arbeitskraft bei den Kran-kenkassen, wobei noch abgewartet werden muss, ob sichpositive Effekte durch eine Kostenerstattung auf die Aus-

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gabenhöhe feststellen lassen. Möglicherweise sind Zuzah-lungsregelungen, wie sie heute schon im Bereich von Bril-lengläsern und Zahnersatz üblich sind, dass effizientere Mit-tel, um bei Versicherten mehr Kostenbewusstsein zu schaf-fen. Denn die reine Kenntnis von Preis- und Kostenhöhenwird kaum verhaltensändernd wirken, solange die Versiche-rung dann doch wieder den allergrößten Teil der Kosten decktund der Versicherte daher keine Budgetrestriktion zu be-fürchten hat.

Fazit

Die Richtung zukünftiger Gesundheitspolitik ist derzeit nochnicht vollständig absehbar, denn wenn beispielsweise dieZusatzbeiträge zukünftig eine höhere Bedeutung haben sol-len, ist die Entwicklung doch sehr stark vom politischenWillen in den kommenden Jahren abhängig. Die Verlage-rung des Sozialtransfers in Steuersystemen bleibt gerade imHinblick auf die Demographie- und Konjunkturabhängig-keit der bisherigen Beitragserhebung vorteilhaft, allerdingsdürfte die Diskussion über eine dann notwendige effizienteAusgestaltung des automatisierten Sozialtransfers noch lan-ge nicht abgeschlossen sein. Mittelfristig werden dann auchwieder Umfang und Ausgestaltung einer ergänzenden, ka-pitalgedeckten Zusatzversicherung diskutiert werden.

Wie in den vergangenen Jahren ist nach der Reform vorder Reform, und man kann der Gesundheitspolitik nur ra-ten, die Ausgabendynamik nicht nur durch dirigistische Ein-griffe in die Preisstruktur, sondern auch durch sich selbstregulierende wettbewerbliche Findungsprozesse ablau-fen zu lassen. Der Rahmen für ein selektives (und damitnicht mehr kollektives) Kontrahieren im ambulanten Be-reich, bei Krankenhäusern, bei Arzneimitteln und Rehabi-litationen sind wichtige Meilensteine zukünftiger Gesund-heitsreformen, die spätestens im Jahr 2011 angegangenwerden müssen, denn die Instrumente zentraler Preisre-gulierung und Budgetierung erscheinen als weitgehendausgeschöpft. Sollte die Reform 2010 aber der Anfang zueinem evolutionären Prozess in Richtung einkommensun-abhängiger Beiträge und zusammen mit den nachfolgen-den Reformen Ausdruck einer stärker wettbewerblichenOrientierung sein, die eine horizontale und vertikale Inte-gration über Sektorgrenzen hinaus nicht ausschließt, dannwäre in diesem Jahr tatsächlich der Einstieg in einen Sys-temwechsel vollzogen worden.

Literatur

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Hof, B. und C. Schlömer (2005), »Zur Zukunftsfähigkeit von Kopfprämienmo-dellen für die GKV im anstehenden demographischen Wandel«, Sozialer Fort-schritt (8), 194–205.Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und FDP in der 17. Legislaturperiodedes Bundestages: »Wachstum. Bildung. Zusammenhalt.«, Berlin 2009.Ulrich, R.E. (2005), »Demographic change in Germany and implications forthe health system«, Journal of Public Health 13, 10–15.

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Die Einführung der Gesundheitsprämie:Eine wirkliche Reform?

Wie überall steigen auch in Deutschland die Gesundheitspos-ten laufend an, und zwar nicht nur absolut, sondern auch imVergleich zum Einkommen. Nachdem die Reform der GroßenKoalition am 1. Januar 2009 in Kraft getreten ist, droht dengesetzlichen Krankenkassen für das Jahr 2011 bereits wie-der ein Defizit von 11 Mrd. €. Die jetzige schwarz-gelbe Ko-alition ist daher zu Maßnahmen gezwungen, mit denen dieAusgaben verringert und/oder die Einnahmen erhöht werden.Außerdem gibt es seit längerem Bestrebungen in der FDP undin geringeren Ausmaß auch in der CDU, die freilich von derCSU bekämpft werden, die Finanzierung des Gesundheits-systems von den Löhnen abzukoppeln und auf einkommens-unabhängige Prämien umzustellen, wobei dafür die verschie-densten Begriffe wie »Kopfprämie«, »Kopfpauschale« oderneuerdings »Gesundheitspauschale« verwendet werden. DieAbkopplung soll dazu dienen, die negativen Auswirkungender Krankenversicherungsprämien auf die Beschäftigung,wenn nicht zu beseitigen, so doch zu mildern.

Die Reform

Am 6. Juli 2010 hat die Koalition ein Maßnahmenpaket be-schlossen, welches nicht nur die derzeit bestehenden Fi-nanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenkassen be-seitigen soll, sondern auch den Einstieg in ein neues Sys-tem zur Finanzierung des Gesundheitssystems bilden soll,welches gerecht, sozial, stabil, wettbewerblich und trans-parent sein soll.1 Der Beschluss enthält die folgenden zen-

tralen Elemente, wobei die Details freilich noch ausgearbei-tet werden müssen (vgl. Bundesregierung 2010).

(i) Prozentualer Beitrag in Abhängigkeit vom Lohn: Der all-gemeine Beitragssatz steigt ab Januar 2011 von derzeit14,9 auf 15,5%. Arbeitnehmer zahlen künftig 8,2, Arbeit-geber 7,3% des Bruttoarbeitslohns.

(ii) Einkommensunabhängiger Zuschlag: Kommt eine Kran-kenkasse mit ihren Prämieneinnahmen (bzw. mit ihrenZuweisungen aus dem Gesundheitsfonds) nicht aus,erhebt sie Zusatzbeiträge. Die Höhe dieser Beiträge istunbegrenzt. Das Bundesversicherungsamt berechnet fürjedes Jahr den durchschnittlichen Zusatzbeitrag, der füreine Deckung der Ausgaben der gesetzlichen Kranken-kassen erforderlich ist.

(iii) Sozialer Ausgleich: Der vom Versicherten zu zahlendeZusatzbeitrag soll auf 2% des individuellen sozialversi-cherungspflichtigen Einkommens begrenzt werden.Übersteigt der durchschnittlich erforderliche Zusatzbei-trag diesen Betrag, wird die Differenz durch einen steu-erfinanzierten Sozialausgleich ausgeglichen.

Zunächst ändert sich am jetzigen System kaum etwas, siehtman einmal davon ab, dass die Bezieher der niedrigsten Ein-kommen jetzt eine Prämie von 10,2% (insgesamt 17,5%) ih-res Einkommens für die Krankenkassenprämien aufbrin-gen müssen. Bei der bis zum Jahr 2014 erwarteten durch-schnittlichen Prämie von 16 € gilt dies für Monatseinkom-men bis 800 €. Die negativen Arbeitsanreize, die mit diesenPrämien verbunden sind, werden somit in diesem Bereichnoch verstärkt und nicht abgemildert.

Der Anstieg der Gesundheitskosten

Solange die Gesundheitskosten nicht stärker ansteigen alsdie Einkommen, wird sich kaum etwas ändern. Darauf zu hof-fen, dürfte freilich eine Illusion sein. Es gibt zumindest vier Fak-toren, die ein stärkeres Ansteigen wahrscheinlich machen:

(i) Ein Teil des Anstiegs ergibt sich durch die Veränderungder Altersstruktur. Solange der Anteil der »Alten« an derBevölkerung zunimmt, führt dies zu einem überpropor-tionalen Anstieg der Gesundheitskosten, und zwar un-abhängig davon, ob die Bevölkerung insgesamt wächstoder schrumpft (vgl. hierzu z.B. Felder 2006).

(ii) Dazu kommt, dass die Bürgerinnen und Bürger bei stei-gendem Einkommen bereit sind, für Gesundheitsleistun-gen einen überproportional steigenden Teil ihres Einkom-mens (ähnlich wie für z.B. Ferien) auszugeben. In diesemSinne dürfte Gesundheit ein »superiores Gut« sein, d.h.die Einkommenselastizität liegt über 1.2 Solange dies gilt,

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Gebhard Kirchgässner*

* Prof. Dr. Gebhard Kirchgässner ist Professor für Volkswirtschaftslehreund Ökonometrie sowie Direktor des Instituts für Außenwirtschaft undAngewandte Wirtschaftsforschung an der Universität St. Gallen.

1 Vgl. für ein gerechtes, soziales, stabiles, wettbewerbliches und transpa-rentes Gesundheitssystem, http://www.bundesregierung.de/Content/DE/__Anlagen/2010/2010-07-06-eckpunkte-gesundheit,property=publicati-onFile.pdf, 16. August 2010.

2 Entsprechend den Angaben der OECD (2010) ist zwischen 1985 und 2007auch der Anteil der privaten Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandspro-dukt gestiegen.

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werden auch die Kosten pro Kopf der Bevölkerung stär-ker ansteigen als das Einkommen.

(iii) Eine weitere Erklärung könnte sich aus W.J. Baumol’s(1967) Modell des »ungleichgewichtigen Wachstums« er-geben. Danach steigen die Kosten in arbeitsintensivenstärker als in kapitalintensiven Sektoren, da technischerFortschritt, der die Kosten senken könnte, in aller Regelan Kapital gebunden ist. Insbesondere steigen sie inDienstleistungsbereichen stärker als in der industriellenProduktion. Der Gesundheitsbereich ist ein klassischerDienstleistungsbereich. Insofern könnte er ein Anwen-dungsbeispiel für Baumol’s Modell sein (vgl. hierzu Hart-wig 2006).

(iv) Schließlich ist der technische Fortschritt eine der wich-tigsten Ursachen für den starken Anstieg der Kosten imGesundheitswesen, insbesondere im Bereich der statio-nären Versorgung (vgl. z.B. Jones 2002). Dabei ist ein in-direkter vom direkten Effekt zu unterscheiden. Der direk-te Effekt bedeutet, dass neue Untersuchungs- und The-rapieformen entwickelt werden, die so genannte Hoch-technologiemedizin, die es ermöglichen, Krankheitenzu heilen, die bisher kaum wirksam behandelt werdenkonnten, bzw. zumindest die Situation der Patienten mas-siv zu verbessern. Der indirekte Effekt besteht darin, dassdiese Therapiemöglichkeiten das Leben verlängern unddamit zur Alterung der Bevölkerung (und der durch sieverursachten Kostensteigerung) beitragen.

Somit wäre es naiv anzunehmen, die Gesundheitskosten wür-den nicht stärker als das Einkommen steigen. Wenn in die-ser Situation die lohnabhängigen Beitragsteile nicht steigensollen, müssen die Zusatzprämien umso stärker steigen. Da-mit kommen immer mehr Einkommen in jenen Bereich, in wel-chem die Zusatzprämie mehr als 2% des sozialversicherungs-pflichtigen Einkommens ausmacht und die deshalb subven-tioniert werden müssen. Langfristig bedeutet dies, dass derArbeitnehmerbeitrag für einen immer größeren Teil der Ar-beitnehmerschaft 10,2% des Einkommens betragen und dassdas für den Sozialausgleich erforderliche Steueraufkommendeutlich stärker als das Volkseinkommen steigen wird.

Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt

Werden die proklamierten Ziele der Reform zumindest an-satzweise erreicht? Zentrale Absicht war, die Gesundheits-kosten von den Arbeitskosten zu entkoppeln. Glaubt mander Bundesregierung, wurde dies dadurch erreicht, dass derArbeitgeberbeitrag bei 7,3% festgeschrieben wird (vgl. Bun-desregierung 2010, 2).Dies ist aber eine Illusion, da sich Lohnund Arbeitgeberbeitrag zur Krankenkasse wie bisher paral-lel entwickeln werden. Lediglich darüber hinausgehendeKosten haben keine direkten Auswirkungen mehr auf die-sen Beitrag, sondern müssen ausschließlich von den Arbeit-nehmern und den Steuerzahlern getragen werden.

Man könnte versuchen, eine Entkopplung dadurch herbei-zuführen, dass man, wie dies z.B. von der FDP vorgeschla-gen wurde, die heutigen Arbeitgeberbeiträge auf die Löhneaufschlägt und dann die Arbeitnehmer die gesamten Beiträ-ge entrichten lässt. Die Arbeitgeber wären dann nicht mehrdirekt betroffen. Dies bedeutet freilich nicht, dass sie über-haupt nicht betroffen wären. Folgt man dem neoklassischenModell des Arbeitsmarkts, welches wir z.B. immer dann insFeld führen, wenn wir gegen Mindestlöhne argumentieren,dann ist für den Arbeitgeber allein der Bruttolohn und für denArbeitnehmer allein der Nettolohn entscheidend; wer die Bei-träge an die Sozialversicherung abliefert, ist für die Auswir-kungen auf den Arbeitsmarkt irrelevant. Damit haben wir ne-gative Auswirkungen der Krankenversicherung auf den Ar-beitsmarkt, solange die Prämien Auswirkungen auf den Brut-to- und/oder den Nettolohn haben. Dies aber lässt sich nichtvermeiden, wenn man einen sozialen Ausgleich anstrebt,d.h. wenn man das Ziel der Bundesregierung ernst nimmt:»Gesundheit muss bezahlbar bleiben – für jeden Geldbeu-tel und für jedes Alter.« Hier besteht ein Zielkonflikt, der sichnicht auflösen lässt; man sollte auch nicht versuchen, ihnwegzureden.

Dazu kommt, dass die Gewerkschaften versuchen wer-den, höhere Krankenkassenbeiträge der Arbeitnehmer durchhöhere Lohnabschlüsse zumindest teilweise wieder auszu-gleichen. Daher würde eine Erhöhung der Krankenkassen-beiträge selbst dann einen Druck auf die Bruttolöhne aus-üben, wenn die Beiträge ausschließlich von den Arbeitneh-mern entrichtet würden.

Weitere Auswirkungen

Werden wenigstens die anderen Ziele erreicht? Man kann ar-gumentieren, dass das neue System gerechter ist, da überdie Steuern alle Einkommensbezieher und nicht nur die Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer bis zu einer bestimmten Ein-kommenshöhe zum Sozialausgleich herangezogen werden.Wieweit diese Argumentation gültig ist, hängt davon ab, wel-che Steuern betrachtet (und im Zweifelsfall zur Finanzierungerhöht) werden. Sie gilt für die progressive Einkommensteuer,aber nicht notwendigerweise für die regressive Mehrwertsteu-er; hier sind die Verteilungswirkungen offen.

Das neue System ist zweifellos etwas transparenter, dadurch die unterschiedlichen Zusatzprämien sichtbar wird,welche Kassen höhere und welche niedrigere Kosten ha-ben. Damit kommt auch ein Stück zusätzlichen Wettbe-werbs in dieses System; die Versicherten haben Anreize,sich eine Kasse mit niedrigeren Prämien zu suchen, wasDruck auf diese ausübt. Die Frage ist nur, wozu dieser führt.Als ein solches System mit dem neuen Krankenversiche-rungsgesetz im Jahr 1996 in der Schweiz eingeführt wur-de, hat man sich und den Stimmbürgern davon einen Druck

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Zur Diskussion gestellt

auf die Prämien und letztlich ein Ende der Kostenexplosi-on versprochen. Tatsächlich sind die Kosten und damit auchdie Prämien munter weiter gestiegen; der Wettbewerb zwi-schen den Kassen geht heute fast ausschließlich um güns-tige Risiken. Dadurch wird keine einzige überflüssige Be-handlung und damit werden somit auch keine Kosten ein-gespart; vielmehr ergibt sich ein Anstieg der Verwaltungs-kosten durch die Wechsler, der sich wiederum in den Prä-mien niederschlägt.3

Nun krankt unser schweizerisches System daran, dass derRisikoausgleich zwischen den Kassen völlig unzureichendist. Er könnte deutlich besser sein (und wird auch ab demJahr 2012 zumindest etwas besser sein). Dennoch kanner nie so perfekt sein, dass dieser Wettbewerb nicht auf-tritt. Als Alternative wird daher gelegentlich vorgeschlagen,zu risikogerechten Prämien überzugehen. Bisher liegt da-zu freilich kein wirklich überzeugender Vorschlag vor, derz.B. auch die dabei auftretenden Bürokratieprobleme inRechnung stellt.4 Man wird daher auch in Zukunft mit ei-nem nicht perfekten Risikoausgleich leben müssen, derden Krankenkassen einen gewissen Spielraum für Risiko-selektion gibt.

Fazit

Das wichtigste Element dieser Reform sollte nach den ur-sprünglichen Plänen eigentlich vermieden werden: Der Ar-beitnehmerbeitrag steigt für die untersten Einkommen undlängerfristig für einen immer größeren Kreis von Arbeitneh-mern auf 10,2%, d.h. gegenüber dem Jahr 2009 um fast30%. Damit werden die Krankenkassenprämien nicht vonden Löhnen abgekoppelt, sondern die Differenz zwischenBrutto- und Nettolohn steigt noch. Das Ziel einer Abkopp-lung wird somit klar verfehlt. Es kann aber auch gar nichterreicht werden, solange man den Anspruch hat, dass auchBezieher niedriger Einkommen Anrecht auf eine dem heu-tigen Standard entsprechende Krankenversorgung haben.5

Man sollte dies auch ehrlich kommunizieren und nicht ge-genüber der Öffentlichkeit Versprechungen abgeben, dieman nicht einhalten kann.

Zweitens sollen zusätzliche Kosten, die über die jetzt fest-gelegten Höchstbeitragssätze von 7,3 bzw. 10,2% für Ar-beitgeber und Arbeitnehmer in Zukunft durch Steuern finan-ziert werden. Ob dies einen stärkeren Druck auf die Versi-cherungen bewirkt, Kosten einzusparen, ist offen. Drittens

soll es mit Hilfe der Zusatzprämien in Zukunft verstärktenWettbewerb zwischen den Krankenkassen geben. Ob diesdie Krankenkassen veranlasst, Druck auf die Kostenseiteauszuüben und sich nicht vor allem um gute Risiken zu be-mühen, ist ebenfalls offen.

Was als große Reform angekündigt und heiß umstritten war,hat somit bestenfalls zu einem »Reförmchen« geführt. Siehtman einmal von der in Zukunft zu erwartenden steuerlichenBelastung ab, sind auch langfristig keine großen Änderun-gen zu erwarten. Angesicht des Streits zwischen den Ko-alitionsparteien FDP und CSU war freilich auch kaum et-was anderes zu erwarten. Ein Kompromiss konnte nur auskleinen Schritten bestehen, die von den Parteien unterschied-lich interpretiert werden konnten. Dies ist eingetreten.

Literatur

Baumol, W.J. (1967), »Macroeconomics of Unbalanced Growth: The Anato-my of Urban Crises«, American Economic Review 57, 415–426.Bundesregierung (2010), »Fragen und Antworten zur Neuordnung des Ge-sundheitswesens«, 13. Juli 2010,http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2010/07/2010-07-13-faq-gesundheit. html, 15. August 2010.Felder, S. (2006), »Lebenserwartung, medizinischer Fortschritt und Gesund-heitsausgaben: Theorie und Empirie«, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 7(Special Issue), 49–73.Hartwig, J. (2008), »What Drives Health Care Expenditure? Baumol’s Modelof ›Unbalanced Growth‹ Revisited«, Journal of Health Economics 27, 603–623.Jones, Ch.I. (2004), »Why Have Health Expenditures as a Share of GDP Ri-sen So Much«, mimeo, University of Berkeley, Mai.Kirchgässner, G. (2010), »Die Schweiz als Vorbild? Bemerkungen zur Diskus-sion um eine Reform des deutschen Gesundheitswesens«, Universität St. Gallen, Volkswirtschaftliche Abteilung, Diskussionspapier Nr. 2010/15,Mai.OECD (2010), Gesundheitsausgaben 2010, abrufbar unter SourceOECD.(http://miranda.sourceoecd. org/vl=3175741/cl=12/nw=1/rpsv/ij/oecds-tats/99991012/v1n1/s1/p1), 16. August 2010.Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Tech-nologie (2010), Zur Reform der Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversi-cherung, Gutachten Nr. 2/10, Berlin.Zweifel, P. und M. Breuer (2005), »The Case for Risk-Based Premiums inPublic Health Insurance«, Health Economics, Policy and Law 1, 171–188.

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3 Im vergangenen Jahr haben in der Schweiz ca. 18% der Versicherten ihreKrankenversicherung gewechselt. Vgl. hierzu: Bewegung bei den Versicher-ten, Neue Zürcher Zeitung Nr. 249 vom 27. Oktober 2009, S. 13.

4 Dies gilt auch für die Vorschläge von Zweifel und Breuer (2005) oder desWissenschaftlicher Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft undTechnologie (2010).

5 Dies würde auch bei risikogerechten Prämien gelten. Zu den Arbeitsmarkt-wirkungen von Krankenkassenprämien vgl. auch Kirchgässner (2010).

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Zur Diskussion gestellt

Finanzierungsreform auf Samtpfoten –triste Kostendämpfung stattstruktureller Reformen

Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) leidet an einerstrukturellen Einnahmenschwäche. Die Finanzbasis derGKV, die so genannten »beitragspflichtigen Einnahmen«bleiben systematisch hinter dem allgemeinen Wirtschafts-wachstum zurück: Während das nominelle BIP je Einwoh-ner seit der Wiedervereinigung jahresdurchschnittlich bis2008 um 3,1 v.H. (je Erwerbstätigen: um 2,9%) gewach-sen ist , sind die beitragspflichtigen Einnahmen je GKV-Mit-glied nur um 1,9 v.H. jahresdurchschnittlich gewachsen; nurin zwei dieser Jahre war das Wachstum der GKV-Finanz-basis nicht geringer als das Wirtschaftswachstum. Demge-genüber sind die Ausgaben der Krankenkassen je Mitgliedwie das BIP mit 3,1 v.H. pro Jahr gewachsen. Die Steige-rung des durchschnittlichen gesamtdeutschen Beitragssat-zes der GKV von 12,3 v.H. 1991 auf 14,9 v.H. 2008 ist da-her nicht etwa auf eine »besorgniserregende« Ausgaben-entwicklung (oder gar eine »Kostenexplosion«) sondern aufeine erodierende Einnahmenbasis des Krankenkassensys-tems zurückzuführen.

Daher wird mit Recht seit Anfang dieses Jahrzehnts eineDiskussion um eine Finanzierungsreform der GKV geführt:Angesichts der demographischen Entwicklung ist grund-sätzlich davon auszugehen, dass der reale Bedarf nachGesundheitsleistungen pro Kopf weiter steigen wird. Im über-kommenen Finanzierungssystem der GKV sind regelmäßi-ge Beitragssatzsteigerungen damit vorprogrammiert. Wenndies als gesamtwirtschaftlich kontraproduktiv angesehenwird, muss die Finanzierungsbasis der GKV auf eine breite-re Basis gestellt werden. Insbesondere auch mit dieser Ziel-setzung sind die Finanzierungs-Reformmodelle »Bürgerver-

sicherung« und »Pauschalprämie« entwickelt worden. DieBürgerversicherung will die Finanzbasis (neben einem Ein-bezug der Privatversicherten) dadurch erweitern, dass auchKapitaleinkünfte zur Beitragszahlung herangezogen werden;der Pauschalprämienansatz geht davon aus, dass die Prä-mie aus allen Einkunftsarten der Versicherten beglichen wird.Der in der Großen Koalition beschlossene Kompromiss zuden GKV-Finanzen leistete hingegen allenfalls durch denAusbau des Bundeszuschusses an die GKV (und dessenbreite Steuerbasis) einen Schritt zur Verbreiterung der Fi-nanzbasis der Gesetzlichen Krankenversicherung – im Üb-rigen war der Kompromiss der Großen Koalition primär da-durch motiviert, gerade keine Richtungsentscheidung zutreffen, sondern jeder der beiden Parteien die künftigen Ge-staltungsoptionen offen zu halten.

Schleichende Transformation desFinanzierungssystems

Wie ist vor diesem Hintergrund der Entwurf des »GKV-Fi-nanzierungsgesetzes« zu bewerten? Kurzfristig bewirkt esbeim Übergang von 2010 nach 2011 zunächst eine Einen-gung der Finanzbasis: Der Bundeszuschuss wird um0,5 Mrd. € zurückgeführt; zur Gegenfinanzierung sowie zurFinanzierung der in 2010 bestehenden Unterdeckung im Ge-sundheitsfonds von rund 3 Mrd. € und der erwarteten Mehr-ausgaben der Krankenkassen 2011 von rund 4 Mrd. € wirdstattdessen der Beitragssatz für die Beiträge an den Ge-sundheitsfonds erhöht – um je 0,3 v.H. für Versicherte undArbeitgeber. Damit kommt die durchschnittliche Kranken-kasse – wie bereits 2009 – ziemlich genau mit den Zuwei-sungen aus dem Gesundheitsfonds aus.

Allerdings beabsichtigt die Regierungskoalition, den auf15,5% festgesetzten Beitragssatz in der Zukunft konstantzu halten – zumindest wird der bisher vorgesehene Mecha-nismus, nach dem der Beitragssatz bei einer steigenden Un-terdeckung des Gesundheitsfonds erhöht werden muss, er-satzlos gestrichen (ohne dass der künftige Gesetzgeber abergehindert wäre, die Zahl 15,5 durch jede andere beliebigeZahl zu ersetzen). Hätte diese Festschreibung des Beitrags-satzes längerfristig Bestand, würde sie bedeuten, dass dieEinnahmen des Gesundheitsfonds aus Beiträgen nur nochin dem Ausmaß der Veränderung der beitragspflichtigen Ein-nahmen wachsen würden – das mit Sicherheit zu erwar-tende, deutlich darüber liegende Wachstum der Leistungs-ausgaben der GKV wäre dann (bei eingefrorenem Bundes-zuschuss) über Zusatzbeiträge zu finanzieren. Unterstelltman, dass die Leistungsausgaben p.a. 4% wachsen, diebeitragspflichtigen Einnahmen hingegen 2%, würden etwa2015 mit rund 18 Mrd. € etwa 10% der GKV-Ausgaben überZusatzbeiträge finanziert und der durchschnittliche monat-liche Zusatzbeitrag je Mitglied läge bei rund 29 €. 2020 wä-ren hingegen bereits mit rund 44 Mrd. € etwa 17% der Leis-

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Jürgen Wasem*

* Univ.-Prof. Dr. rer. pol. Jürgen Wasem ist Inhaber des Lehrstuhls für Me-dizinmanagement an der Universität Duisburg-Essen.

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Zur Diskussion gestellt

tungsausgaben über Zusatzbeiträge finanziert, bei einemdurchschnittlichen Zusatzbeitrag je Mitglied von 72 € im Monat.

Dies zeigt: Konstanz der nunmehr getroffenen Entscheidun-gen unterstellt, kommt es zu einer sehr langsamen aber kon-tinuierlichen Transformation des Finanzierungssystems in einPrämienmodell – und insoweit zu einer Verbreiterung derGKV-Finanzbasis. Das ist zumindest ziemlich nahe an demdran, was der Koalitionsvertrag mit seiner Ankündigung ei-ner »langfristigen Überführung« in ein System mit »einkom-mensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträgen« gemeint ha-ben dürfte.

Sozialausgleich: Pragmatisch, aber Chancennicht genutzt

Jede – auch sehr langsame – Umsteuerung von einer Finan-zierung über einkommensabhängige Beiträge hin zu einemprämienfinanzierten System bedeutet zunächst c.p. eineUmverteilung von Geringverdienern zu Versicherten mit hö-heren Einkommen, zudem kann eine Überforderung der Ver-sicherten mit geringem Einkommen ausgelöst werden. Da-her sehen sowohl die für Deutschland diskutierten als auchdie im Ausland (etwa der Schweiz oder den Niederlanden)umgesetzten vollständigen oder teilweisen Prämienmodel-le einen subjektbezogenen Transfer an Geringverdiener vor,der eine Überforderung dieser Versicherten verhindern soll.Der Koalitionsvertrag hatte folgerichtig denn auch angekün-digt, die einkommensunabhängigen Arbeitnehmerbeiträgewürden »sozial ausgeglichen«. Entsprechend nahm in denletzten Monaten der »Sozialausgleich« wesentlichen Raumin der Diskussion um die Zukunft des Finanzierungsmo-dells ein.

Bereits das gegenwärtig noch bestehende Finanzierungs-modell des Kompromisses der Großen Koalition sieht ei-nen Sozialausgleich vor: Wenn die Krankenkasse mit denZuweisungen aus dem Gesundheitsfonds nicht auskommtund daher zur Gewährleistung eines ausgeglichenen Haus-halts einen Zusatzbeitrag erheben muss, darf dieser – so-fern er 8 € im Monat übersteigt – das GKV-Mitglied nichtmit mehr als 1 v.H. seiner beitragspflichtigen Einnahmenbelasten. Die Konzeption dieses gegenwärtig praktiziertenSozialausgleichs ist allerdings mit erheblichen Konstrukti-onsproblemen belastet: Denn die Zahlung des Zusatzbei-trages des Mitglieds wird schlicht bei 1% seiner beitrags-pflichtigen Einnahmen gekappt, der Krankenkasse fehlensomit diese die Belastungsgrenze übersteigenden Teile derZusatzbeiträge der entsprechenden Mitglieder, und siemuss entsprechend den Zusatzbeitrag höher ansetzen,um von solchen Versicherten, die höhere Einkommen ha-ben, entsprechend größere Zusatzbeiträge vereinnahmenzu können.

Dies hat drei Konsequenzen: Zum einen kann über die Zu-satzbeiträge kein Aufkommen von größer als 1 v.H. der bei-tragspflichtigen Einkommen der GKV-Mitglieder erzielt wer-den. Des Weiteren sind Geringverdiener nur so lange preis-sensitiv, wie es Kassen mit Zusatzbeiträgen unterhalb von8 € gibt – bei Kassen mit Zusatzbeiträgen oberhalb von 8 €zahlen sie völlig unabhängig von der Höhe des tatsächlichenZusatzbeitrags immer 1 v.H. ihrer beitragspflichtigen Einnah-men, so dass der Zusatzbeitrag hier jede Steuerungsfunk-tion verliert. Schließlich wird der Wettbewerb der Kranken-kassen erheblich verzerrt: Bei gleichem Finanzierungsbedarfüber Zusatzbeiträge ist der erhobene Zusatzbeitrag einerKrankenkasse umso höher, je mehr Versicherte ihr angehö-ren, die unter den Sozialausgleich fallen, also den Zusatz-beitrag nicht komplett entrichten müssen – ein wenig sinn-volles Szenario.

Diese Webfehler weist der nunmehr beschlossene Sozial-ausgleich ab 2011 nicht mehr auf: Jedes Mitglied zahlt ei-nen vollen Zusatzbeitrag, der Krankenkasse entgehen alsokeine Zusatzbeiträge wegen des Sozialausgleichs, so dassdie wettbewerbsverzerrenden Einnahmeausfälle nicht mehrauftreten. Der Sozialausgleich wird vielmehr dadurch umge-setzt, dass das durch den Zusatzbeitrag überforderte Mit-glied (die Überforderungsgrenze soll bei 2% der beitrags-pflichtigen Einnahmen liegen) einen entsprechend geringe-ren einkommensabhängigen Beitrag an den Gesundheits-fonds zahlt; Arbeitgeber führen diese Verrechnung im Rah-men der Zahlung des Gesamtsozialversicherungsbeitragsbei ihren Beschäftigten durch, die Rentenversicherung imRahmen der Zahlung der Beiträge für die Krankenversiche-rung der Rentner. Auch wird bei der Berechnung der Min-derung des einkommensabhängigen Beitrags der durch-schnittliche Zusatzbeitrag aller Kassen, nicht der individuellzu entrichtende Zusatzbeitrag der jeweiligen Krankenkassezugrunde gelegt – dies erhält die Preissensitivität auch derVersicherten, die unter den Sozialausgleich fallen.

Insbesondere die Abwicklung des Sozialausgleichs über dieKürzung des einkommensabhängigen Beitrags ist ein prag-matischer Weg zur Umsetzung dieses politisch so umstrit-tenen Eckpfeilers der neuen Finanzierungskonzeption. Un-befriedigend daran ist allerdings, dass zur Feststellung, obein GKV-Mitglied Anspruch auf Sozialausgleich hat, aus Prak-tikabilitätsgründen ausschließlich auf seine beitragspflichti-gen Einnahmen abgestellt wird: So wird ein Versichertermit geringer Rente und hohen Einkünften aus Kapitalein-künften ausgleichsberechtigt, ein im Vergleich zu diesem inbescheideneren Verhältnissen lebender Rentner mit höhe-rer Rente und keinen Kapitaleinkünften hingegen nicht. Obdies – wie ein Gutachten für die SPD-Bundestagsfraktionaussagt – verfassungswidrig ist, soll hier nicht beurteilt wer-den, verteilungspolitisch unbefriedigend ist es allemal. Al-lerdings wird hier nur der »Fehler« wiederholt, der die ein-kommensabhängige Beitragsgestaltung der GKV ohnehin

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Zur Diskussion gestellt

prägt: Nicht alle Einkunftsarten sind beitragspflichtig, son-dern nur Gehalt (bei Selbständigen: Gewinn), Rente und be-stimmte Sozialtransfers.

Gedrückt hat sich die Koalition um eine klare Regelung, wieder Sozialausgleich letztlich finanziert wird. Die Minderungder einkommensabhängigen Beiträge der Empfänger vonSozialausgleich an den Gesundheitsfonds bewirkt dort Ein-nahmeausfälle. Diese sollen zunächst aus der Liquiditäts-reserve des Fonds kompensiert werden. Aber das ist na-türlich ein Taschenspielertrick. Die spannende Frage wirdsein: Kommt dafür zusätzliches Geld aus dem Bundeshaus-halt oder wird der heutige Bundeszuschuss an den Gesund-heitsfonds (2010: 15,7 Mrd. €), der gegenwärtig zur Finan-zierung versicherungsfremder Leistungen eingesetzt wird,über die Jahre transformiert in ein Budget zur Finanzierungdes Sozialausgleichs – mit der logischen Konsequenz, dassdie Unterdeckung des Gesundheitsfonds und damit die Dy-namik der Zusatzbeiträge zunehmen wird.

Unbefriedigend ist auch, dass der durchschnittliche Zusatz-beitrag 2011 nahe null ist. Dies ist für die Versicherten ex-trem merklich und führt dazu, dass die Kassen ausschließ-lich kurzfristige Kosteneinsparungen im Auge haben, hinge-gen, nicht mittelfristige Effizienz.

Auf der Ausgabenseite nur tristeKostendämpfung

Der Gesetzentwurf der Koalition zur Einnahmenseite wirdflankiert durch Maßnahmen auf der Ausgabenseite, die denAusgabenzuwachs der Kassen begrenzen sollen. Wer hierauf eine inspirierende Weiterentwicklung des GKV-Steue-rungssystems gehofft hatte, ist bitter enttäuscht: Keine Im-pulse für einen Ausbau von Wettbewerb als Effizienzmaschi-ne. Wie gerade die Monopolkommission noch einmal aus-führlich dargelegt hat, liegen intelligente Modelle vor, wieauch in der Gesundheitsversorgung, wo der Marktmecha-nismus wegen der Existenz des Versicherungsschutzes undubiquitärer Informationsasymmetrien nur begrenzt greifenkann, wettbewerbliche Steuerung funktionieren kann. Ins-besondere das Konzept des »Vertragswettbewerbs«, beidem die Krankenkassen unter strikter Anwendung des Kar-tellrechts und der Fusionsaufsicht die Versorgung ihrer Ver-sicherten mit medizinischen Leistungen (z.B. im Rahmenvon Ausschreibungen) über Verträge mit Krankenhäusern,Arztnetzen und Herstellern von medizinischen Gütern an-stelle von beiderseitigen Kontrahierungszwängen im Rah-men von Kollektivverträgen organisieren, wird von der Mo-nopolkommission empfohlen.

Stattdessen: triste Kostendämpfung, wie sie gerade dieFDP als Oppositionspartei in den vergangenen zehn Jah-ren immer wieder (zu Recht) kritisiert hatte. Dabei wissen

wir aus den Erfahrungen zahlreicher Kostendämpfungsge-setze seit Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhun-derts: Sie sind ungerecht, weil sie nach der Rasenmäher-methode vorgehen, sie sind strukturkonservativ, weil sieInnovationen in Neuerungen erschweren, und sie wirkenohnehin nur kurzfristig.

Eine Ausnahme von diesem trüben Bild bietet allerdingsder Arzneimittelbereich: Hier hat sich die Koalition zu ei-nem »Doppelschlag« aus Kostendämpfung über einen er-höhten Zwangsrabatt und strukturellen Veränderungen ent-schlossen. Leider wird hier die aus ökonomischer Sichtvordringliche Kosten-Nutzen-Bewertung neuer Arzneimit-tel, die erst vor drei Jahren eingeführt wurde, in ihrer Be-deutung stark relativiert zugunsten einer reinen Bewertungdes Nutzens, ohne dass klar wäre, wie auf dieser Basisein GKV-Erstattungsbetrag ermittelt werden könnte. Be-dauerlich auch, dass die Regelungen stark beim Spitzen-verband der Krankenkassen und dem Gemeinsamen Bun-desausschuss zentralisiert sind – hier konnte sich der FDP-Gesundheitsminister, der eine stärker dezentral-wettbe-werbliche Lösung bevorzugt hätte, nicht gegenüber denGesundheitspolitikern von CDU/CSU durchsetzen. Grund-sätzlich aber ist es richtig, zwar den freien Marktzugangvon Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen zu erhalten, diebisher mögliche freie Preisgestaltung aber zu begrenzen:Denn in einer Situation, in der der Arzt das Medikamentverschreibt, der Patient es in Anspruch nimmt, die Kran-kenkasse es aber bezahlt, führt eine freie Preisgestaltungdurch den pharmazeutischen Hersteller zu hohen Preisenauch bei nur geringem Zusatznutzen.

Es bleibt zu hoffen, dass die Koalition auf der Ausgabensei-te noch deutlich mutiger wird – auch wenn (logischerweise)weder die Leistungserbringer aus den Kollektivverträgen ge-rissen noch die Krankenkassen konsequent dem Wettbe-werbsrecht unterstellt werden wollen. Mehr Wettbewerb hie-ße aber auch, dass die Politik sich selbst zurücknimmt – ver-mutlich ist das das größte Hindernis.

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Die deutsche Volkswirtschaft erlebte imvergangenen Jahr mit einem Rückgangdes realen Bruttoinlandsprodukts um4,9% den größten Produktionseinbruchin der Nachkriegszeit. Hauptverantwort-lich dafür war vor allem die starke Abnah-me der realen Warenexporte um 17,9%.Die Exporte insgesamt (inklusive Dienst-leistungen) leisteten einen negativenWachstumsbeitrag von 6,8 Prozentpunk-ten zum realen BIP.1

Für 2010 sind wieder positive Impulse ausdem Exportgeschäft zu erwarten: Das ifo Institut prognostiziert einen Zuwachsder deutschen Exporte von 10,8% (vgl.Carstensen et al. 2010). Andere Institu-tionen wie der Deutsche Industrie- undHandelskammertag (DIHK 2010), derBundesverband Großhandel, Außenhan-del, Dienstleistungen e.V. (BGA 2010) unddie deutsche Bundesbank (2010) kom-men zu ähnlichen Vorausschätzungen.

Woher soll der Anstieg der Exporte kom-men? Wie Abbildung 1 zeigt, kam noch

vor zehn Jahren die wesentliche Nach-frage aus der Eurozone (45% der deut-schen Ausfuhren), den USA (10%) undGroßbritannien (8%). Bis 2009 haben dieExportanteile dieser traditionellen Haupt-abnehmergruppe jedoch um 6 Prozent-punkte abgenommen. Im gleichen Zeit-raum haben allein die BRIC-Länder (Bra-silien, Russland, Indien und China) ihrenAnteil an den deutschen Ausfuhren von4% (2000) auf 9% (2009) erhöht. Diesdürfte sich fortsetzen. Betrachtet mannämlich die Industrieproduktion nachLändergruppen seit August 2008, demMonat vor der Insolvenz von LehmanBrothers, so zeigt sich, dass sich Asiendeutlich dynamischer entwickelt als dieEurozone und die USA, möglicherwei-se kann sogar von einer Abkopplung ge-sprochen werden (vgl. Abb. 2). Da der-zeit wenig dafür spricht, dass sich dasWachstumsdifferential zwischen Asienund der traditionellen Hauptabnehmer-gruppe merklich verringern wird, dürftedie deutsche Exportdynamik zum Groß-teil von der steigenden Nachfrage ausden asiatischen Schwellenländern ge-tragen werden. Daneben werden auchdie Bestellungen aus Brasilien und Po-len – wenn auch in geringerem Maße –zur Dynamik beisteuern.

Um dieser Entwicklung für die Exportprog-nosen besser Rechnung zu tragen, wur-de vom ifo Institut ein Exportnachfrage-indikator entwickelt, der im Folgendenkurz vorgestellt werden soll. Im Anschlussdaran wird die Frage nach der Bedeutungder einzelnen Absatzländer für den deut-schen Export mit Hilfe des Indikators ge-nauer beleuchtet.

liegen in Asien und Osteuropa

Steffen Elstner, Christian Grimme und Thomas Siemsen

Die größten aufstrebenden Märkte für deutsche Exporte

Die Eurozone und Großbritannien als klassische Abnehmer deutscher Güter werden ihre bisheri-

gen Anteile an den deutschen Gesamtexporten nicht halten. Aufstrebende Länder wie China, In-

dien, Brasilien, Polen und Russland werden zunehmend das deutsche Exportwachstum beeinflus-

sen. Um dieser Entwicklung für die Exportprognosen besser Rechnung zu tragen, wurde vom ifo

Institut ein Exportnachfrageindikator entwickelt. Mit Hilfe des Indikators wird die Bedeutung der

einzelnen Absatzländer für den deutschen Export genauer beleuchtet.

2%2%

3%

10%

2%

6%

45%

16%

8%

2%

2%

Eurozone GroßbritannienPolen Tschechienrestliches Osteuropa USAJapan Chinarestliches Asien Brasilien, Russland, Indien (BRI)andere Länder

Exportanteile der einzelnen Regionen an den Warenexporten

2000

4%3%

3%

7%

1%

7%

17%

5%

43%

4%

7%

Quelle: Statistisches Bundesamt; Berechnungen des ifo Instituts.

2009

Abgrenzung nominaler Spezialhandel

Abb. 1

1 Da auch die Importe sanken, betrug der Wachs-tumsbeitrag des Außenbeitrags – 2,9 Prozent-punkte.

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Forschungsergebnisse

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Konstruktion und Prognose des Export-nachfrageindikators

Die Grundidee des Indikators ist, die Nachfrage der 25 wich-tigsten Absatzmärkte für deutsche Exportwaren zusammen-zufassen und zu prognostizieren. Berücksichtigt werden diegesamte Eurozone (ohne Deutschland), Großbritannien, dieUSA, die BRIC-Staaten, Japan sowie ein beträchtlicher TeilOsteuropas, z.B. Polen und Tschechien. Dabei wird das Brut-toinlandsprodukt als Maß für die Marktgröße eines Absatz-landes verwendet und mit der Bedeutung des jeweiligenLandes für den deutschen Export gewichtet. Die Gewich-tungsfaktoren berechnen sich als das Verhältnis der deut-schen Exporte in das betreffende Land zu den deutschenGesamtausfuhren. Daher trägt z.B. die Entwicklung in Frank-reich, das in Abgrenzung des Spezialhandels mehr als 10%der deutschen Waren nachfragt, stärker zum Indikator beials die Entwicklung in Brasilien, in das nur ca. 1% der ge-samten deutschen Warenausfuhr geliefert wird.

Für die Betrachtung der Vergangenheit basiert der Indikatorauf den von den jeweiligen Ländern veröffentlichten Quar-talsdaten für das Bruttoinlandsprodukt und den vom Statis-tischen Bundesamt ausgewiesenen deutschen Exportzah-len.2 Daraus lässt sich für jedes Land eine exportanteilsge-wichtete BIP-Zeitreihe berechnen. Der Exportnachfrageindi-kator auf Basis der Bruttoinlandsprodukte, kurz IBIP, ergibtsich dann, indem für jedes Quartal der Mittelwert über alleLänder gebildet wird.3 Für einen Prognosezeitraum von bis zuzwei Jahren wird auf die Ländervorausschätzungen des ifo Instituts zurückgegriffen, während die jeweils aktuellenExportanteile als Gewichtungsfaktoren verwendet werden.

Diese Konstanzannahme lässt sich damit be-gründen, dass sich die jeweiligen Anteile nurallmählich über den Zeitverlauf verändern.

Mit Hilfe des Indikators können statistisch-ökonometrische Verfahren zur Prognose derdeutschen Gesamtausfuhren in Abgren-zung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrech-nungen angewendet werden.4 Dabei kom-men insbesondere Zeitreihenmodelle zumEinsatz, die den Exportzuwachs mit seineneigenen Vergangenheitswerten sowie mitder aktuellen und den vergangenen Verän-derungsraten des Indikators und möglicher-weise weiterer Variablen beschreiben. ImFolgenden stellen wir zur Illustration ein Feh-lerkorrekturmodell vor, welches eine Lang-fristbeziehung zwischen den Exporten und

dem Exportnachfrageindikator berücksichtigt. Die abhän-gige Variable (∆ Export) ist die Zuwachsrate der realen Wa-renexporte, als erklärende Variablen fließen der Export-nachfrageindikator (IBIP) und die preisliche Wettbewerbs-fähigkeit (Wettbew) ein. Alle Variablen sind logarithmiert,ein ∆ steht für eine Veränderungsrate. Für den Schätzzeit-raum vom ersten Quartal 1995 bis zum ersten Quartal 2010ergibt sich (t-Werte in Klammern):

Die Anpassung des Modells ist gut (R2 = 0,76), Breusch-Goodfrey-Autokorrelationstests und CUSUM-Stabilitätstestszeigen keine Fehlspezifikation an.5 Die in der Klammer an-gegebene Langfristbeziehung lässt sich explizit darstellenals

Dies bedeutet, dass ein Anstieg des durchschnittlichen ex-portanteilsgewichteten Bruttoinlandsprodukts – und damit

80

85

90

95

100

105

110

115

120

125

Quelle: CPN Netherlands Bureau for Economic Policy Analysis; Berechnungen des ifo Instituts.

Weltindustrieproduktion nach Ländergruppen

Index: August 2008 = 100

Lateinamerika

USA

Eurozone

Asien

Osteuropa

August 2008 bis April 2010

2008 2009 2010

Abb. 2

2 Aufgrund der schlechten Datenlage vor allem in Ländern Osteuropas undAsiens werden für die Erstellung des Indikators nur Zahlen ab dem erstenQuartal des Jahres 1995 berücksichtigt.

3 Neben diesem Indikator wurde vom ifo Institut ein weiterer Index entwi-ckelt, der auf den jeweiligen Industrieproduktionen der Länder basiert. Die-ser wird im Rahmen dieses Artikels aber nicht genauer vorgestellt.

( ) ( ) ( ) (1 1

3,59 3,56 26,51 5,

1,35 0,21 2,51 3,t t tExport Export IBIP� �� �

� �� = � � � +� �

� �

) ( ) ( )1 1

26,51 5,17 3,48

2,51 3,11 2,14t t tIBIP IBIP IBIP

b

� �

�+ � + ��

( ) ( )1 3

2,48 3,09

0, 46 0,54 .t tWettbew Wettbew� ��

+ � � �

( )26,51

2,51 .t t

Export IBIP=

4 Daneben werden auch mehrere Modelle mit den realen und nominalenWarenausfuhren in Abgrenzung des Spezialhandels geschätzt, da sich hiermeistens ein besserer statistischer Zusammenhang ergibt. Die Prognosendieser Modelle müssen allerdings in Wachstumsraten der realen Exporte inAbgrenzung der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen umgerechnetwerden, wozu wiederum statistische Modelle herangezogen werden.

5 Die p-Werte der Autokorrelationstests erster und vierter Ordnung betragen0,21 bzw. 0,54, der CUSUM- und der CUSUM2-Test können die Nullhy-pothese der Strukturstabilität nicht verwerfen.

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der für Deutschland relevanten Absatzmarktgröße – um 1%zu einem langfristigen Anstieg des Exportvolumens von rund2,5% führt. Nach dieser Schätzung profitiert Deutschlandalso überproportional vom Wirtschaftswachstum in den Part-nerländern.

In Abbildung 3 wird der Zusammenhang zwischen den rea-lisierten Exportwachstumsraten und den geschätzten Wer-ten ∆ Exportt aus dem oben beschriebenen Modell graphischdargestellt. Die blauen Balken stehen für die tatsächlichen,die rote Linie repräsentieren die geschätzten Zuwachsraten.Mit diesem Modell lässt sich die Exportdynamik sehr guterklären.

Schwellenländer ziehen die Exporte

Im folgenden Abschnitt sollen die Entwicklung und Wachs-tumsaussichten wichtiger deutscher Absatz-märkte etwas genauer diskutiert werden. InAbbildung 4 wird die relative Bedeutung dereinzelnen Absatzländer für den deutschenExport und deren Entwicklung in den letz-ten zehn Jahren dargestellt.

Auf der Abszisse ist der Anteil eines Landesan den deutschen Exporten in Abgrenzungdes Spezialhandels im Jahr 2009 zu sehen.Länder in den rechten (linken) beiden Feldernsind also relativ bedeutend (unbedeutend)für das aktuelle Exportniveau. Die Ordinateträgt die Veränderung des Exportanteils imZeitraum 2000 bis 2009 ab. Demnach ha-ben Länder, die sich in den oberen (unteren)beiden Quadranten befinden, innerhalb derletzten zehn Jahre an Bedeutung für dendeutschen Exportmarkt gewonnen (verloren).Ein Land im ersten Quadranten links oben

macht folglich einen geringen Anteil an dendeutschen Exporten aus, hat aber in jüngs-ter Vergangenheit an Bedeutung gewonnen(»Aufsteigende Sterne«). Länder im zweitenQuadranten rechts oben sind überdurch-schnittlich wichtig mit steigender Tendenz(»Wachsende Riesen«). Bezogen auf dendurchschnittlichen Exportanteil ist das Ge-wicht der »Gefallenen Helden« (dritter Qua-drant, rechts unten) für die deutschen Aus-fuhren relativ hoch, jedoch seit dem Jahr2000 rückläufig. Die »Schrumpfenden Zwer-ge« im vierten Quadranten links untenschließlich besitzen ein unterdurchschnittli-ches Gewicht bei rückläufiger Tendenz.

Die Farbskalierung beschreibt die prognos-tizierte wirtschaftliche Dynamik eines Landesrelativ zur Entwicklung des Exportnachfrage-

indikators für 2010 und 2011. Wächst ein Land stark über-durchschnittlich, so wird erwartet, dass dieses Land in Zu-kunft deutlich mehr aus Deutschland nachfragen wird. Aufdieser Überlegung aufbauend, geben die Pfeile an, ob sichder Exportanteil des betreffenden Landes ausweiten wird.Ein nach rechts weisender Pfeil signalisiert einen zukünftighöheren Exportanteil, ein linksgerichteter Pfeil steht hinge-gen für eine abnehmende Bedeutung des jeweiligen Lan-des. Markierungen ohne Pfeil kennzeichnen einen konstan-ten oder sich nur leicht ändernden Ausfuhranteil.

Aus der Abbildung lassen sich drei wesentliche Erkenntnis-se gewinnen. Erstens ist die Bedeutung der BRIC-Staatenfür den deutschen Export zwar noch relativ gering, ihr Ein-fluss hat jedoch in den letzten zehn Jahren stetig zugenom-men. Aus den vier Ländern stach besonders China mit ei-ner Steigerung des Anteils von 2% (2000) auf 5% (2009) her-

-15

-10

-5

0

5

10

1996 1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010

tatsächlich prognostiziert

Quelle: Berechnungen des ifo Instituts.

Vergleich der tatsächlichen Zuwachsraten der Warenexporte mit den prognostizierten Werten

%

-5%

-4%

-3%

-2%

-1%

0%

1%

2%

3%

4%

5%

-1% 0% 1% 2% 3% 4% 5% 6% 7% 8% 9% 10% 11% 12%

Quelle: Statistisches Bundesamt; Berechnungen des ifo Instituts.

Vier-Felder-Tafel

Veränderung des Exportanteils 2000–2009

restliches Asien

USA

China

Wachsende Riesen

Exportanteil 2009Wirtschaftswachstum: stark überdurchschnittlichleicht überdurchschnittlich

unterdurchschnittlichstark unterdurchschnittlich

FrankreichJapan

BelgienNiederlande

Österreich

UK

ItalienSpanien

PolenRussland

Indien

Brasilien

Aufsteigende Sterne

Gefallene HeldenSchrumpfendeZwerge

Griechenland

PortugalIrland

Tschechien

Abb. 3

Abb. 4

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vor (vgl. auch Abb. 1). Besonders die Kraftfahrzeugherstel-ler konnten profitieren. So fragte China 2009 mehr als 5%aller deutschen Automobilausfuhren nach, ein Jahrzehnt vor-her waren es nur 0,6%. Aber auch bei der Nachfrage nachMaschinen baute China seinen Anteil an den deutschen Ma-schinenexporten mit einer Erhöhung von 2,7% (2000) auf9,1% (2009) aus. In den kommenden Jahren dürfte die wirt-schaftliche Dynamik in dieser Ländergruppe weiterhin äu-ßerst kräftig verlaufen, die BRIC-Länder werden verstärktdeutsche Investitionsgüter nachfragen und damit die deut-sche Exportwirtschaft weiter stimulieren.

Zweitens haben die USA und Großbritannien als klassischeAbnehmer deutscher Güter weiterhin einen hohen Anteil anden deutschen Gesamtexporten. Insbesondere die USA ha-ben aber in den letzten zehn Jahren Anteile verloren. Dasist hauptsächlich auf eine weniger dynamische Nachfragenach Kraftfahrzeugen zurückzuführen – 2000 wurde nochein Anteil von 16,6% an den deutschen Kraftfahrzeugexpor-ten erzielt, bis 2009 schrumpfte er auf 10,2%. Aber auch inder Maschinen- und Chemiebranche wurden Rückgängeder Anteile zwischen 2000 und 2009 verzeichnet. Aufgrundder leicht überdurchschnittlichen Wachstumsaussichten (imVergleich zur Änderung des Exportnachfrageindikators) deu-tet sich für die USA eine Stabilisierung des Exportanteilsbei den aktuellen Verhältnissen an. Im Gegensatz dazu füh-ren die prognostizierten stark unterdurchschnittlichen Wachs-tumsraten in Großbritannien zu einem deutlich schwäche-ren Nachfrageanstieg nach deutschen Gütern.

Drittens haben die PIIGS-Länder im Zeitraum von 2000 bis2009 nur unwesentlich an Bedeutung für den deutschen Ex-port verloren. In den kommenden Jahren dürfte diese Län-dergruppe jedoch ein geringes Wirtschaftswachstum auf-weisen, so dass sich die Nachfrage dieser Länden nachdeutschen Investitionsgütern unterdurchschnittlich entwi-ckeln wird. Ihr Anteil an den deutschen Gesamtexporten wirdin Zukunft zurückgehen.

Fazit

Die indikatorgestützte Analyse ergibt, dass sich die Bedeu-tung der Absatzmärkte für die deutschen Exporteure ver-schiebt. Die wichtigsten Abnehmer wie die Eurozone undGroßbritannien werden ihre bisherigen Anteile nicht haltenkönnen. Aufstrebende Länder wie China, Indien, Brasilien,Polen und Russland werden zunehmend das deutsche Ex-portwachstum beeinflussen. Das dortige hohe Wirtschafts-wachstum und der damit einhergehende Bedarf an Inves-titionsgütern, aber auch der Vermögenszuwachs führen da-zu, dass diese Länder vermehrt deutsche Güter nachfra-gen werden. Der fortgesetzten Erschließung dieser Märktekommt deshalb eine zentrale Bedeutung für eine dynami-sche Entwicklung der deutschen Exportwirtschaft zu.

Literatur

Carstensen, K., W. Nierhaus, K. Abberger, Chr. Breuer, T. Buchen, St. Elstner,Chr. Grimme, St. Henzel, N. Hristov, M. Kleemann, J. Mayr, W. Meister, G. Paula, A. Stangl, K. Wohlrabe und T. Wollmershäuser (2010), »ifo Konjunk-turprognose 2010/2011: Auftriebskräfte verlagern sich nach Deutschland«,ifo Schnelldienst 63(12), 12–63.Bundesverband Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA, 2010),»Klare Aufwärtssignale aus dem Außenhandel«, Pressemitteilung vom 11. März2010, http://www.bga-online.de/50.html?&tx_ttnews%5Bpointer%5D=4&tx_ttnews%5Btt_news%5D=105&tx_ttnews%5BbackPid%5D=47&cHash=d883cecc60.Deutsche Bundesbank (2010), Monatsbericht Juni, Frankfurt am Main.DIHK (2010), »Der deutsche Außenhandel AHK-Experten-Index 2010/2011«,Berlin.

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Motivation

Als eine Ursache für die Finanzkrise, dieim Sommer 2007 ihren Ausgang nahm,wird die zu geringe Eigenmittelausstat-tung bzw. der zu hohe Verschuldungs-grad der Banken genannt. Strengere Ei-genmittelvorschriften sollen die einzelnenBanken sowie das gesamte Bankensys-tem zukünftig krisenresistenter machen.Das Schweizer Eigenmittelregime fürGroßbanken wurde bereits im Herbst2008 entsprechend angepasst (vgl. Kel-lermann und Schlag 2010). Der Reform-prozess in Bezug auf die Finanzmarkt-regulierung in der Schweiz hält seitdeman (vgl. FINMA 2010). Auch auf interna-tionaler Ebene sind Reformbestrebun-gen im Gange. So legte der Basler Aus-schuss für Bankenaufsicht (BCBS) imDezember 2009 ein umfassendes Re-formpaket vor, das unter der Bezeich-nung »Basel III« firmiert.1

Der BCBS (2009) greift mit seinen Re-formvorschlägen die zum Teil harsche Kri-

tik an den Eigenmittelvorschriften desBasler Akkords auf. Diese Kritik richtetsich insbesondere auf die unzureichen-de Abgrenzung des Eigenmittelbegriffsund die mangelhaften Verfahren der Ri-sikogewichtung. Insgesamt gelten die be-stehenden Basler Eigenmittelvorschriftenals intransparent und anfällig für Mani-pulationen von Seiten der beaufsichtig-ten Banken (vgl. Wissenschaftlicher Bei-rat beim BMWi 2010). Die Vertreter derG-20-Länder haben deshalb im Septem-ber 2009 die Einführung einer LeverageRatio gefordert. Der BCBS nahm dieseForderung auf.2 Für die Schweizer Groß-banken UBS und Credit Suisse hatte die Eidgenössische Finanzmarktauf-sicht (FINMA) im November 2008 eine Leverage Ratio implementiert (vgl. EBK2008). International kam dieses Auf-sichtsinstrument bislang in den USA undKanada zur Anwendung.3

Die Leverage Ratio stellt ein einfachesmikroprudentielles Instrument zur Fi-nanzmarktaufsicht dar und ist als trans-parente Ergänzung zu den risikogewich-teten Eigenmittelvorschriften des Bas-ler Akkords grundsätzlich zu begrüßen.

Kersten Kellermann* und Carsten-Henning Schlag**

Eine effektive Alternative zur Leverage Ratio

Nach den Erfahrungen der Finanzkrise scheint es angebracht, in der Bankenaufsicht ein Instru-

ment zu implementieren, das das Finanzmarktaufsichtssystem gegen potentielle Fehlleistungen

bei der Anwendung risikogewichteter Eigenmittelvorschriften absichert. Die Vertreter der G-20-Län-

der haben deshalb im September 2009 die Einführung einer Leverage Ratio gefordert. Für die Schwei-

zer Großbanken hat die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht bereits im November 2008 eine sol-

che implementiert. Die Leverage Ratio soll eine gewisse Kernkapitalausstattung der Banken ga-

rantieren, und zwar unabhängig von den Ergebnissen, die die Verfahren zur Risikomessung liefern.

Anhand von Bilanzdaten der Schweizer Großbank UBS stellt der Beitrag das Zusammenspiel von ri-

sikogewichteten Eigenmittelvorschriften und der Leverage Ratio dar. Es besteht die Gefahr, dass

die Leverage Ratio die Risikogewichtung aushebelt. Den Banken kann hierdurch ein Anreiz entste-

hen, erhöhte Risiken einzugehen. Im Beitrag wird deshalb als alternatives Aufsichtsinstrument ein

Sockelrisikogewicht vorgeschlagen. Dieses Sockelrisikogewicht könnte die Funktion eines Back-

stop übernehmen, indem es das Kleinrechnen der risikogewichteten Aktiva durch die Banken be-

grenzt, gleichzeitig die Risikogewichtung jedoch zur Wirkung kommen lässt.

* Dr. Kersten Kellermann ist wissenschaftliche Mit-arbeiterin der Konjunkturforschungsstelle Liech-tenstein (KOFL).

** Prof. Dr. Carsten-Henning Schlag ist Leiter derKonjunkturforschungsstelle Liechtenstein (KOFL)an der Hochschule Liechtenstein.

1 Am 26. Juli 2010 hat das oberste Gremium desBCBS – The Group of Governors and Heads ofSupervison – die Reformvorschläge bzgl. Eigen-kapital und Liquidität angenommen (vgl. BCBS2010b). Dabei wurden jedoch verschiedene Vor-schläge des Konsultationspapiers (BCBS 2009)revidiert.

2 Der BCBS (2009b, 7) führt hierzu aus: »The Com-mittee is … introducing a leverage ratio require-ment that is intended to achieve … additional safeguards against model risk and measurementerror by supplementing the risk based measurewith a simple, transparent, independent measureof risk that is based on gross exposures.«

3 Zur Ausgestaltung der Leverage Ratio in den USAund Kanada vgl. D’Hulster (2009).

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Dennoch ist das Aufsichtsinstrument Leverage Ratio mitMängeln behaftet. Insbesondere besteht die Gefahr, dassihre verbindliche Einführung das System der Risikoge-wichtung der Aktiva aushebelt, wodurch für die BankenAnreize entstehen können, erhöhte Risiken einzugehen.Der vorliegende Beitrag diskutiert diese Problematik. An-hand von Bilanzdaten der Schweizer Großbank UBS wirddas Zusammenspiel von risikogewichteten Eigenmittel-vorschriften und der Leverage Ratio dargestellt. Darüberhinaus wird im Beitrag ein alternatives Aufsichtsinstru-ment vorgeschlagen. Dieses Instrument wird als Sockel-risikogewicht bezeichnet. Es garantiert für alle Banken ei-ne Mindestkernkapitalausstattung in Abhängigkeit der ri-sikoungewichteten Aktiva. Ebenso wie die Leverage Ra-tio ist das Sockelrisikogewicht einfach handhabbar undvon der Risikogewichtung unabhängig. Jedoch werdenmit diesem alternativen Aufsichtsinstrument die risiko-gewichteten Eigenmittelvorschriften im Sinne eines Sup-plement oder Backstop nur ergänzt, ohne diese außerKraft zu setzen.

Die aktuelle Diskussion um die Leverage Ratio

Der BCBS definiert die Leverage Ratio als Prozentan-teil der Eigenmittel an den risikoungewichteten Aktivaeiner Bank.4 In seinen Publikationen setzt sich der BCBS(2009; 2010a; b) vor allem mit der genauen Abgrenzungvon Zähler und Nenner dieser Relation auseinander. ImZentrum stehen Fragen der Rechnungslegung und de-ren internationaler Vergleichbarkeit (vgl. Zeitler 2010).Was den Zähler anbelangt, geht es um die Qualität undrichtige Abgrenzung der Eigenmittel. In Bezug auf denNenner wird u.a. die adäquate Berücksichtigung vonAußerbilanzposten diskutiert. Noch gänzlich offen ist,ob die Leverage Ratio im Rahmen der ersten oder zwei-ten Säule des Basler Akkords zur Anwendung kommensoll. Für die Einführung der Leverage Ratio hat der BCBSam 26. Juli 2010 einen konkreten Zeitplan verabschie-det, nach dem die Leverage Ratio zum 1. Januar 2018als Aufsichtsinstrument Verbindlichkeit erlangt (vgl.BCBS 2010b). Ein von den beaufsichtigten Banken ex-plizit einzuhaltender Mindestwert wurde bislang nochnicht festgelegt. Der BCBS schlägt jedoch vor, eine Le-verage Ratio in Höhe von 3% in der Übergangsphasevon 2013 bis 2017 international zu testen. Im Verlaufedes Jahres 2017 sollen dann die Erfahrungen dieserÜbergangsphase ausgewertet und die endgültige re-gulatorische Mindesthöhe der Leverage Ratio fixiert wer-den (vgl. BCBS 2010b).5

Die Eidgenössische Finanzmarktaufsicht ist demgegenüberbei der Umsetzung der Leverage Ratio etwas weiter voran-geschritten. Für die Schweizer Großbanken soll dieses Auf-sichtsinstrument ab 2013 verbindlich gelten (vgl. EBK 2008).6

Die FINMA definiert die Leverage Ratio konkret als Verhält-nis von Kernkapital (Tier 1) und adjustierter Bilanzsumme(BS). Letztere entspricht der vor allem um das Schweizeri-sche Kreditgeschäft reduzierten Bilanzsumme.7 Die Adjus-tierung erklärt sich vor dem Hintergrund der Bedeutung,die die beiden Großbanken für das inländische Kreditge-schäft haben und der Tatsache, dass man sich im Novem-ber 2008 in einer Rezession befand (vgl. EBK 2008, 2). DieAdjustierung zeigt erhebliche Auswirkung. Sie reduziert diedurch die Leverage Ratio geforderte Mindestausstattung mitKernkapital um annähernd ein Drittel. Die Finanzmarktauf-sicht verfolgt mit der Adjustierung die Absicht, die betriebs-und volkswirtschaftlichen Kosten zu reduzieren, die durchverbindliche Eigenmittelvorschriften möglicherweise entste-hen (vgl. BCBS 2010c; d). Zu diesen Kosten zählen bei-spielsweise die Schwächung der Profitabilität der Bankenoder die Gefahr, dass Banken ihr Kreditangebot einschrän-ken.8 Die LR-Minimalanforderung

(1) LR – Minimalanforderung = 0,03* adjustierte BS,

die die Schweizer Großbanken in Bezug auf die LeverageRatio einzuhalten haben, liegt auf Konzernebene bei ei-nem Minimalsatz von 3% und auf Ebene der Einzelinstitu-te bei 4%. In wirtschaftlich guten Zeiten – wie sich die Fi-nanzmarktaufseher ausdrücken – soll die Leverage Ratiodie geforderten Minimalwerte übersteigen (vgl. EBK 2008).9

4 Es wäre richtiger, die Leverage Ratio im Sinne einer Verschuldungsober-grenze zu definieren (vgl. D’Hulster 2009). Die Definition des BCBS (2009)entspricht streng genommen einer Capital-to-Asset-Ratio. Sie hat sichjedoch durchgesetzt. Die Leverage Ratio wird im vorliegenden Beitrag,wenn nicht anders erwähnt, im Sinne einer Soll-Größe verwendet.

5 Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht in Deutschland (BaFin 2010) hat auf der Grundlage des Gesetzes zur Stärkung der Finanz-markt- und Versicherungsaufsicht vom 29. Juli 2009 für die Beaufsichtig-ten eine Anzeigepflicht für die Leverage Ratio (modifizierte bilanzielle Ei-genkapitalquote, Ist-Größe) eingeführt. Diese wurde zum ersten Quartal2010 wirksam. Die modifizierte bilanzielle Eigenkapitalquote ist definiert alsdas Verhältnis von bilanziellem Eigenkapital zur Summe aus der Bilanzsum-me, den außerbilanziellen Verpflichtungen sowie dem Wiedereindeckungs-aufwand für Ansprüche aus außerbilanziellen Geschäften.

6 Auch für die übrigen Bankengruppen in der Schweiz schlägt die FINMA(2010) in einem Diskussionspapier die Einführung einer Leverage Ratio vor.

7 Die adjustierte Bilanzsumme entspricht den Vermögenswerten insgesamt,abzüglich den Vermögenswerten aus dem Kreditgeschäft in der Schweiz(unter Ausschluss der schweizerischen Interbankenausleihungen), Bar-einlagen und Saldi bei Zentralbanken, gewisse Reverse-Repo-Geschäftein Schweizer Franken und bestimmte sonstige Vermögenswerte, wie Good-will und immaterielle Vermögenswerte, die bei der Bestimmung des auf-sichtsrechtlichen Kernkapitals (Tier 1) ausgenommen sind (vgl. Credit Suisse 2010, 110).

8 Frenkel und Rudolf (2010) untersuchen in einem Gutachten für den deut-schen Bankenverband die potentiellen Auswirkungen der Einführung ei-ner Leverage Ratio auf das Kreditangebot der Banken. Anhand von ver-schiedenen Szenarien werden weitere makroökonomische Effekte auf diedeutsche Wirtschaft simuliert.

9 Empirische Untersuchungen weisen auf eine gewisse Zyklizität der Leverage Ratio (Ist-Größe) im Bankensystem hin (vgl. Adrian und Shin2008). Demnach passen die Banken ihre Leverage Ratio an die jeweili-ge konjunkturelle Situation an. In Aufschwungsphasen wird die Leverage Ratio reduziert (der Verschuldungsgrad steigt) und in Ab-schwungsphasen erhöht. Die FINMA versucht, dieser Prozyklizität ent-gegenzuwirken, indem sie den Minimalwert positiv an die Gewinnsitua-tion der Bank bindet.

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Zielsetzung der Leverage Ratio ist es, eineMindestkernkapitalausstattung der Bankenregulatorisch sicherzustellen, die unabhän-gig ist von den durch Basel II eingeführtenkomplexen Verfahren zur Risikomessung.Für den Präsidenten der Schweizer Natio-nalbank Hildebrand (2008) stellen diese Ver-fahren selbst ein Risiko für die Finanzstabi-lität dar. Die Finanzmarktaufseher sollen da-her auf der Grundlage der Informationen, diedie Leverage Ratio bietet, trotz ihres notori-schen Informationsrückstandes gegenüberden beaufsichtigten Banken selbstbewuss-ter, sicherer und schneller entscheiden kön-nen. Darüber hinaus soll die Möglichkeit zurRegulierungsarbitrage, welche die Modellezur Risikomessung eröffnen, für die Ban-ken eingeschränkt werden (vgl. Bichsel undBlum 2005; Blum 2008). Gelingt es den be-aufsichtigten Banken, Schlupflöcher im Ei-genmittelregime auszunutzen, oder tretenFehler und Mängel bei der modellgestütztenRisikomessung auf, so kommt der Levera-ge Ratio zukünftig die Funktion eines Back-stop zu. Nicht beabsichtigt ist hingegen, dierisikogewichteten Eigenmittelvorschriftengänzlich abzulösen. Höhere Risiken in denAktiva der Banken sollen weiterhin grund-sätzlich mit mehr Eigenmitteln unterlegt wer-den. Wie die nachfolgende Analyse zeigt, istdie Umsetzung dieser Anforderungen nichtunproblematisch.

Das Risiko der Risikogewichtung

Nach dem Basler Akkord (Basel II) werden die gefordertenEigenmittel unter Berücksichtigung der Risikosituation ei-ner Bank festgelegt. Man spricht von so genannten risiko-gewichteten Eigenmittelvorschriften. Basis der Risikogewich-tung bilden die von der Bank gehaltenen Aktiva. Aus ihnenwerden unter Anwendung der erwähnten Verfahren zur Ri-sikomessung die risikogewichteten Aktiva (RWA) bestimmt(vgl. BCBS 2006):

(2) RWA = w(R)(BS + ABP).

Der Anteil der RWA an der Summe aus Aktiva in der Bank-bilanz (BS) sowie bestimmten Außerbilanzposten (ABP) wirdim Weiteren als aggregiertes Risikogewicht w(R) bezeich-net. Es wird durch die bestehenden Eigenmittelvorschriftennicht unmittelbar festgelegt, sondern lässt sich erst ermit-teln, nachdem die Höhe der RWA bestimmt ist.10 Das Ver-hältnis von RWA und risikoungewichteten Aktiva einer Banksteigt mit deren Risikoprofil R. Es gilt ∂w(R) / ∂R > 0. Dies

ist zumindest die Intention der Risikogewichtung. Laut Ge-schäftsbericht der UBS (2010) beläuft sich ihre Bilanzsum-me per 31. Dezember 2009 auf 1 340,5 Mrd. CHF. Dazukommen Außerbilanzpositionen in Höhe von 78,7 Mrd. CHF.Dem Gesamtposten von 1 419,2 Mrd. CHF stehen RWAin Höhe von 225,6 Mrd. CHF gegenüber.11 Daraus ergibtsich rechnerisch ein aggregiertes Risikogewicht w(R) vonknapp 16%.

0

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0 200 400 600 800 1 000 1 200 1 400 1 600

.

Bilanzsumme und risikogewichtete Aktiva (RWA)

Credit Suisse UBS

Raiffeisengruppe

per 31.12.2009

Zürcher Kantonalbank

Bank Sarasin

Bilanzsumme in Mrd. CHF

Trend der risikogewichteten Aktiva (RWA)

Quelle: Geschäftsberichte der jeweiligen Finanazinstitute für das Jahr 2009.

risikogewichtete Aktiva in Mrd. CHF

Abb. 1a

15

20

25

30

35

40

45

50

Bank Sarasin ZürcherKantonalbank

Raiffeisen-gruppe

Credit Suisse UBS

.

Aggregierte Risikogewichte w(R) ausgewählter Schweizer Banken

in Prozentper 31.12.2009

Quelle: Geschäftsberichte der jeweiligen Finanazinstitute für das Jahr 2009; eigenen Berechnungen.

Abb. 1b

10 Das aggregierte Risikogewicht kann als gewichtetes Mittel der einzelnenRisikogewichte bestimmter Aktiva interpretiert werden. Diese variieren er-heblich. Beispielsweise erlaubt die Finanzmarktaufsicht im EU-27-Raum denBanken, Anleihen von Zentralregierungen oder Notenbanken aller Staatendes Europäischen Wirtschaftsraumes, die sich in den Bankbilanzen befin-den, mit einem Risikogewicht von null zu gewichten, wenn diese Anleihenin der Landeswährung des Staates geschuldet und refinanziert werden.Aktuell kritisiert das Europäische Parlament (2010) diese Praxis.

11 In ihren Rundschreiben zu den Eigenmittelanforderungen für Kredit- bzw.Marktrisiken bei Banken vom 20. November 2008 konkretisiert die FIN-MA (2008a; b) die Regeln zur Bestimmung von risikogewichteten Aktiva.Diese lehnen sich eng an Basel II an, gehen aber in verschiedenen Belan-gen darüber hinaus (vgl. Kellermann und Schlag 2010).

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Abbildung 1a stellt für verschiedene Schweizer Banken zumJahresende 2009 die RWA in Abhängigkeit der Bilanzsum-me dar. Neben der UBS ist auch die Situation der zweitenSchweizer Großbank Credit Suisse sowie der Raiffeisen-gruppe, der Zürcher Kantonalbank und der Privatbank BankSarasin eingezeichnet. Ein Vergleich der Niveaus der Bilanz-summen zeigt die Dominanz der beiden Großbanken imSchweizer Bankensektor (vgl. Kellermann 2010). Abbil-dung 1a macht aber auch einen weiteren interessanten Zu-sammenhang deutlich. Sie illustriert, dass die RWA der Ban-ken mit zunehmenden risikoungewichteten Aktiva unterpro-portional zunehmen. In der Logik der Risikogewichtung istdas so zu interpretieren, dass die Aktiva der Großbankeninsgesamt tendenziell geringere Risiken bergen.12 In Abbil-dung 1b sind die aggregierten Risikogewichte w(R) für diegenannten Schweizer Banken noch einmal explizit aufge-

führt. Während die Relation von RWA zu Bilanzsumme (oh-ne relevante Außerbilanzposten) bei den Großbanken umdie 20% betragen, liegt dieser Anteil bei den kleineren Ban-ken bei rund 45%.

Die RWA bilden die Basis zur Berechnung der von der Fi-nanzmarktaufsicht geforderten Eigenmittel. Diese ergebensich schlicht als fixer Anteil an den RWA. Indem die Bankendie Höhe der RWA beeinflussen können, bestimmen siedie Eigenmittelanforderungen, die ihnen die Finanzmarktauf-sicht stellt, also mit. Die Basel II Bestimmungen unterschei-den die drei Eigenmittelklassen Kernkapital (Tier 1), ergän-zendes Kapital (Tier 2) und Zusatzkapital (Tier 3) (vgl. BCBS2006). Unter dem neuen Basel-III-Regime soll in der Zukunftdas Zusatzkapital jedoch nicht länger anrechenbar sein. Auchdie Abgrenzung von Tier-1-Kapital und Tier-2-Kapital wer-den unter Basel III neu geregelt (vgl. BCBS 2009, 2010b).In Abhängigkeit der Eigenmittelklassen stellt das Schwei-zer Eigenmittelregime für Großbanken die folgenden vierSchwellen auf (vgl. FINMA 2010).13

bbildung 2

Abb. 2

a) Grüne Punkte: Ist-Größen (vgl. UBS 2010), rote Punkte: Soll-Größen (risikogewichtet), rotes Rechteck: Soll-Größe (nicht-risikogewichtet).

Quelle: Darstellung der Autoren.

Risikoarbitrage durch Einführung einer Leverage RatioBeispiel UBS, per 31. Dezember 2009, in Mrd. CHFa)

12 Ein Grund hierfür könnte sein, dass die Großbanken über ein ausgefeilte-res Risikomanagement und breitere Diversifikationsmöglichkeiten in Bezugauf ihr Portfolio verfügen. In einer kritischen Lesart ist jedoch auch denk-bar, dass die größere Selbstbestimmung bei der Wahl der Risikomodelleund der Berechnung der RWA für diesen Effekt verantwortlich sind. Dazukommt, dass systemische Risiken, welche insbesondere durch die Groß-banken verursacht werden, bei der Berechnung der RWA bislang unbe-rücksichtigt bleiben. In der theoretischen Analyse des vorliegenden Beitragswird davon ausgegangen, dass die Risikogewichtung soweit funktioniert,dass sich geringere Risiken in abnehmenden RWA niederschlagen.

13 Da weder UBS (2010) noch Credit Suisse (2010) in ihren Geschäftsberich-ten für das Jahr 2009 Tier-3-Kapital ausweisen und nach Basel III Tier-3-Kapital nicht länger anrechenbar sein soll, wird diese Kapitalklasse in derweiteren Analyse vernachlässigt.

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(3) Tier 1 > Mindestkernkapitalausstattung = 0,04 RWA(4) Tier 1 + Tier 2 > Mindestkapitalausstattung = 0,08 RWA(5) Tier 1 + Tier 2 > Interventionsschwelle = 0,12 RWA(6) Tier 1 + Tier 2 > Eigenmittelzielgröße = 0,16 RWA.

Die Vorschriften (3) und (4) werden im Basler Akkord derSäule 1 (Mindestkapitalanforderungen) zugerechnet. DieHöhe des Kernkapitals (Tier 1) muss nach Säule 1 mindes-tens 4% der RWA betragen. Nimmt das Risikoprofil einerBank marginal zu, so steigt die Mindestkernkapitalanfor-derung bei unverändertem Niveau der risikoungewichte-ten Aktiva um 0,04 (BS + ABP)(∂w(R) / ∂R).14 Die Min-destkapitalanforderung (Tier 1 und Tier 2) entspricht füralle Banken einem Anteil von 8% an den RWA. Die Vor-schriften (5) und (6) sind Teil des schweizspezifischen bank-aufsichtlichen Überprüfungsprozesses (Säule 2). Dieser for-dert von den Schweizer Großbanken UBS und Credit Suis-se die Mindestkapitalausstattung durch einen Eigenmit-telpuffer zu ergänzen (vgl. FINMA 2010). Dabei ist es In-tention des Eigenmittelpuffers, die bei der Risikogewich-tung nicht erfassten Risiken abzudecken. Er beträgt aktu-ell 100% der Mindestkapitalanforderungen, so dass sichrechnerisch eine Eigenmittelzielgröße in Höhe von 16%an den RWA ergibt. Der Eigenmittelpuffer ist in zwei Bän-der unterteilt: Verfügt eine Großbank über anrechenbareEigenmittel in der Bandbreite von 12 bis 16% an den RWA,erfolgt eine Intensivierung der Aufsicht in qualitativer Hin-sicht (vgl. FINMA 2010, 7). Den Großban-ken ist es jedoch grundsätzlich erlaubt, denPuffer bis zur Interventionsschwelle von12% aufzubrauchen.

In der rechten Hälfte von Abbildung 2 wirdder Zusammenhang von risikoungewichte-ten Aktiva, RWA und geforderten Eigenmit-tel am Beispiel der Schweizer GroßbankUBS zum Stichtag 31. Dezember 2009 il-lustriert. Auf der unteren Ordinate wird derGesamtposten der risikoungewichteten Ak-tiva in Höhe von 1 419 Mrd. CHF abgetra-gen. Punkt A ordnet diesem die RWA in Hö-he von 225,6 Mrd. CHF zu. Würden die ein-gegangenen Risiken beispielsweise auf-grund einer veränderten Anlagestrategie derBank zunehmen, so müssten prinzipiell beiunveränderter Höhe der Aktiva auch die Ri-sikogewichtung und damit die RWA anstei-gen. Potentielle Veränderungen des Risi-koprofils sind durch die Punkte B und C an-gedeutet. Die vier Fahrstrahlen durch denUrsprung im oberen rechten Quadranten

zeigen die vier risikogewichteten Eigenmittelschwellen (Soll-Größen) in Abhängigkeit der RWA. Im Fall der UBS betra-gen die geforderte Mindestkernkapitalausstattung am Stich-tag 9,1 Mrd. CHF, die Mindestkapitalausstattung 18,1 Mrd.CHF, die Interventionsschwelle 27,1 Mrd. CHF und die Ei-genmittelzielgröße 36,1 Mrd. CHF. Mit anrechenbaren Ei-genmitteln (Ist-Größe) von 40,9 Mrd. CHF und einem Kern-kapital (Tier 1) in Höhe 31,8 Mrd. CHF werden von der UBSalle regulatorischen Anforderungen erfüllt (vgl. UBS, 2010).

Die Gleichungen (3) bis (6) machen deutlich, dass die Be-stimmung der RWA ein überaus neuralgischer Punkt im Sys-tem der risikogewichteten Eigenmittelvorschriften darstellt.Da die RWA der UBS zum Stichtag nur knapp 16% an derSumme aus bilanziellen und außerbilanziellen Posten aus-machen (vgl. Abb. 1b), brauchen 84% der Aktiva dieser Groß-bank faktisch überhaupt nicht mit Eigenmittel unterlegt zu wer-den. Das geringe Niveau der RWA sowie dessen Entwicklungnach Einführung des Basel-II-Regimes stützen die Befürch-tung, dass die Verfahren zur Risikogewichtung den Großban-ken Möglichkeiten eröffnen, Risiken systematisch klein zu rech-nen. Abbildung 3 stellt die Entwicklung der Bilanzsumme derBankengruppe »Großbanken« insgesamt der Entwicklung dererforderlichen Eigenmittel gegenüber. Nach Einführung vonBasel II in 2007 gehen letztere erheblich stärker zurück als dieBilanzsumme. Im Geschäftsbericht 2008 der UBS (2009, 181)heißt es hierzu: »Die Einführung von Basel II führte zu einer

14 Die LR-Minimalanforderung aus Gleichung (1) ist hin-gegen unabhängig vom Risikoprofil R. Es gilt ∂0,03(adjustierte BS) / ∂R = 0.

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1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 20091 000

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Anrechenbare Eigenmittel, erforderliche Eigenmittel und Bilanzsumme:Bankengruppe "Großbanken" a) b)

per 31.12.2009Bilanzsumme in Mrd. CHFEigenmittel in Mrd. CHF

erforderliche Eigenmittel (Säule 1), netto

anrechenbare Eigenmittel

Abb. 3

a) Die in der SNB-Statistik definierte Bankengruppe »Großbanken« umfasst die UBS und dieCredit Suisse. Die Auswertungen der SNB beruhen auf den statutarischen Einzelabschlüssender Banken (Stammhaus). Diese umfassen die Geschäfte der Sitze in der Schweiz sowie derrechtlich unselbständigen in- und ausländischen Filialen. Im Gegensatz dazu umfassen die Kon-zernabschlüsse der Banken auch die Geschäfte der rechtlich selbständigen Tochtergesellschaf-ten im In- und Ausland (Banken und Nichtbanken).b) Per 1. Januar 2007 trat die Verordnung über die Eigenmittel und Risikoverteilung für Bankenund Effektenhändler (Eigenmittelverordnung, ERV) in Kraft. Mit dieser Verordnung wurde dievom Basler Ausschuss für Bankenaufsicht verabschiedete Eigenkapitalvereinbarung (Basel II)in Schweizer Recht umgesetzt.

Quelle: SNB (2010).

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Abnahme der Eigenmittelanforderungen von UBS, wie sie mitden risikogewichteten Aktiva gemessen wird.«

Erhöhter Risikoanreiz aufgrund der Leverage Ratio

Der BCBS (2009) versteht die Leverage Ratio als Back-stop. Sie soll wirksam werden, wenn die Risikogewichtung– aus welchen Gründen auch immer – versagt. Ein Versa-gen liegt vor, wenn die errechneten RWA und damit die ge-forderten Eigenmittel aus der Perspektive einer verantwor-tungsvollen Finanzmarktaufsicht zu gering ausfallen. Einegenauere Analyse des Zusammenspiels der beiden Auf-sichtsinstrumente macht jedoch deutlich, dass die Levera-ge Ratio die risikogewichteten Eigenmittelvorschriften bis zueinem gewissen Grad aushebelt. Die linke Seite von Abbil-dung 2 zeigt die Leverage Ratio. Die adjustierte Bilanzsum-me der UBS in Höhe von 809 Mrd. CHF ist auf der unterenOrdinate abgetragen und wird über die 45°-Linie auf die lin-ke Abszisse gespiegelt. Sie bildet die Basis für die Berech-nung der Tier-1-LR-Minimalanforderung, welche im Fall derUBS 24,3 Mrd. CHF beträgt. Diese Summe liegt erheblichüber der geforderten Mindestkernkapitalausstattung in Hö-he von 9,1 Mrd. CHF.15 Die Leverage Ratio stellt gegenüberder risikogewichteten Eigenmittelanforderung [vgl. Gleichung(3)] also die bindende Regel dar.16

Dies gilt allgemein, wenn

(7) LR – Minimalanforderung = 0,03 (adjustierte BS) >0,04 RWA = w(R) (BS + ABP).

Im Weiteren wird unter der Annahme argumentiert, dassdie betrachtete Bank in der Ausgangssituation anrechenba-res Tier-1-Kapital (Ist-Größe) genau in Höhe der Mindest-kernkapitalanforderung hält. In diesem Fall zwingt die Ein-führung einer verbindlichen LR-Minimalanforderung die Bankzur Anpassung. Es lassen sich drei Anpassungsvarianten imVerhalten der Bank unterscheiden. Erstens besteht die Mög-lichkeit, dass die Bank das zusätzlich geforderte Tier-1-Ka-pital in Höhe von 15,2 Mrd. CHF aufbaut und ihre risikoun-gewichteten Aktiva auf dem Ausgangsniveau belässt. Hier-

durch entstehen neue Spielräume, um erhöhte Risiken ein-zugehen. Bei einer durch die Leverage Ratio bestimmtenTier-1-Minimalanforderung von 24,3 Mrd. CHF kann die Banktheoretisch die RWA auf bis zu 607,5 Mrd. CHF ausweiten,ohne dass die risikogewichtete Mindestkernkapitalquote von4% verletzt wird. Diese Anpassung ist durch den Punkt Cin Abbildung 2 dargestellt. Verglichen mit der Ausgangssi-tuation in Punkt A, in der das aggregierte Risikogewicht w(R) = 0,16 beträgt, ergibt sich in Punkt C ein erheblich hö-heres aggregiertes Risikogewicht von w(R) = 0,43. Orien-tiert sich die Bank ganz am Engpassfaktor Tier-1-Kapital undpasst die RWA bis zum Risikoprofil C an, so ist sie gezwun-gen, auch Tier-2-Kapital entsprechend der Eigenmittelan-forderungen in Gleichung (4) bis (6) aufzubauen.

Eine zweite Anpassungsmöglichkeit nach Einführung der Leverage Ratio besteht aus Sicht der Bank darin, nur Tier-1-Kapital in Höhe der zusätzlich geforderten 15,2 Mrd. CHF auf-zubauen und das Tier-2-Kapital auf dem ursprünglichen Ni-veau zu belassen. In der Ausgangssituation in Punkt A ver-fügt die Bank bei minimaler Tier-1-Kapitalausstattung über ei-ne ergänzende Tier-2-Kapitalausstattung von 9,1 Mrd. CHFnach Säule 1 zuzüglich 18,1 Mrd. CHF entsprechend dembankaufsichtlichen Überprüfungsprozess. Insgesamt ergibtsich eine Tier-2-Kapitalausstattung in Höhe von 24,3 Mrd. CHF.Sie ist in Abbildung 2 durch die durchgezogene orange Liniemarkiert. Zusammen mit der LR-Minimalanforderung ergibtsich also eine Eigenmittelausstattung von insgesamt 51,4 Mrd.CHF. Gemäß Gleichung (6) dürfen bei dieser Eigenmittelziel-größe die RWA auf maximal 320,6 Mrd. CHF ansteigen. Derbetrachteten Bank entstehen also Spielräume, ihr Risikopro-fil bis zum Punkt B anzupassen. In diesem Punkt ergibt sichein aggregiertes Risikogewicht von w(R) = 0,23. Eine dritteAnpassungsmöglichkeit der Bank könnte sein, die Bilanzsum-me zu reduzieren und gleichzeitig das Tier-1-Kapital sowie dieRWA konstant zu halten. Auch in diesem Fall wird das Risi-koprofil erhöht. Verbleiben die RWA konstant in Punkt A, sodarf die adjustierte Bilanzsumme maximal 303,3 Mrd. CHFbetragen, damit die Leverage Ratio von 3% eingehalten wird.

Die Einführung der Leverage Ratio provoziert also Regulie-rungsarbitrage. Hierunter wird das Verhalten der Banken ver-standen, ihre Portfolios und die darin enthaltenen Risiken soauszugestalten, dass die geforderte aufsichtsrechtliche Ei-genmittelunterlegung möglichst gering ausfällt. Wird die Min-destkernkapitalanforderung unabhängig von den eingegan-genen Risiken, durch die Leverage Ratio gewissermaßen exo-gen, festgelegt, so entsteht für die Bank hingegen ein Anreiz,ihr Risikoprofil auszubauen.

Ein Sockelrisikogewicht als effektiver Backstop

Die Ausführungen im vorherigen Abschnitt machen deut-lich, dass die Leverage Ratio die risikogewichteten Eigen-

15 Abbildung 2 erlaubt darüber hinaus, die Sensitivität des Systems auf Än-derungen verschiedener Stellgrößen sichtbar zu machen. Fällt beispiels-weise die Adjustierung der Bilanzsumme weg, so schnellt die LR-Mini-malanforderung auf ein Niveau von 40,2 Mrd. CHF. Würde sich hingegenaufgrund modifizierter Risikomodelle unter Basel III die Risikogewichtungverändern, so dass die RWA im UBS Zahlenbeispiel von aktuell225,6 Mrd. CHF auf ca. 270 Mrd. CHF anstiegen, so würde sich die Ei-genmittelzielgröße auf ein Niveau erhöhen, das höher ist als das anre-chenbare Eigenkapital der UBS zum Stichtag.

16 Nach Art. 30 Abs. 1 Eigenmittelverordnung (ERV) sind ergänzendes Ka-pital (Tier 2) und Zusatzskapital (Tier 3) gesamthaft höchstens bis zu 100%des bereinigten Kernkapitals anrechenbar. Gilt diese Regel auch in Be-zug auf die Pufferanforderungen [vgl. Gleichungen (5) und (6)], so steigtdie Mindestkernkapitalanforderung auf 8% an den RWA (18,1 Mrd. CHF).Auch in diesem Fall bleibt die Leverage Ratio gegenüber der risikogewich-teten Mindestkernkapitalanforderung bindend.

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mittelvorschriften teilweise dominiert. Wünschenswert wä-re ein alternatives Aufsichtsinstrument, das eine minimaleEigenmittelanforderung unabhängig von den RWA sichert,ohne die Risikogewichtung auszuhebeln. Ein solches In-strument sollte das filigrane System der Risikogewichtungzur Wirkung kommen lassen und gleichzeitig die Gefahr vonFehlleistungen reduzieren. Die Implementierung eines So-ckelrisikogewichts w könnte dies leisten. Das Sockelrisi-kogewicht ist definiert als eine Mindestrelation der RWA zuden risikoungewichteten Aktiva, die von keiner Bank un-terschritten werden darf. Es ist unabhängig vom Risiko-profil oder aggregierten Risikogewicht w(R) der Bank. DieGesamtgröße an risikogewichteten Aktiva wird zu

(2’) RWA* = (w + w(R)) (BS + ABP).

Sie setzt sich zusammen aus einem Sockelbetrag

(8) BSA = w (BS + ABP)

und den risikogewichteten RWA entsprechend Glei-chung (2).17 Der Sockelbetrag wird im Weiteren als BackstopAktiva (BSA) bezeichnet. Die Mindestkernkapitalausstattungaus Gleichung (3) wird unter Berücksichtigung der BSA da-mit zu

(3’) Tier 1 > Mindestkernkapitalausstattung = 0,04 (BSA + RWA).

Nimmt das Risikoprofil einer Bank marginal zu, so steigtdie Mindestkernkapitalanforderung bei unverändertemNiveau der risikoungewichteten Aktiva ebenso wie inGleichung (3) um 0,04 (BS + ABP) (∂w(R) / ∂R) an. DieRisikogewichtung w(R) ist grundsätzlich unabhängig vonder Höhe des Sockels und kommt damit voll zu Geltung.Sie ergibt sich nach wie vor aus den von der Finanz-marktaufsicht bestimmten bzw. genehmigten Verfah-ren zur Risikomessung. Die Eigenmittelanforderungenbleiben also risikosensitiv. Gleichzeitig kann die Kernkapitalanforderung nie unter einen Mindestwert von0,04 BSA = 0,04 w(BS + ABP) absinken. Die Implemen-tierung der BSA muss sich nicht zwingend auf die ge-forderte Mindestausstattung mit Tier-2-Kapital auswir-ken. Soll der Backstop vergleichbar der Leverage Ra-tio nur in Bezug auf die Kernkapitalausstattung wirksamwerden, so sind die Eigenmittelschwellen in folgenderWeise anzupassen:

(4’) Tier 1 + Tier 2 > Mindestkapitalausstattung = 0,04 BSA+ 0,08 RWA

(5’) Tier 1 + Tier 2 > Interventionsschwelle = 0,04 BSA + 0,12 RWA

(6’) Tier 1 + Tier 2 > Eigenmittelzielgröße = 0,04 BSA + 0,16 RWA.

Im rechten unteren Quadranten von Abbildung 4 sind die BSAals blauer Fahrstrahl durch den Ursprung eingezeichnet. Die-ser Fahrstrahl ordnet den risikoungewichteten Aktiva die ent-sprechenden BSA zu. Weiter zeigt die Abbildung die RWAals blau gestrichelte Kurve. Zwar ergeben sich die RWA ausden jeweiligen Risikoprofilen der Banken und der Kalibrie-rung der Risikomodelle. Die gestrichelte RWA-Kurve stilisiertjedoch einen funktionalen Zusammenhang, der sich – wie inAbbildung 1a dargestellt – empirisch in einem konkreten his-torischen Fall zeigt. Werden die RWA den BSA hinzuaddiert,so ergibt sich die blau gepunktete Kurve. Die Mindestkapi-talausstattung (4’) ist im oberen rechten Quadranten von Ab-bildung 4 ebenfalls als blau gepunktete Linie eingezeichnet.Die konkrete Höhe des Sockelrisikogewichts muss normativfestgelegt werden. Im Folgenden werden zwei Möglichkeitenangeführt, wie das Sockelrisikogewicht nach Maßgabe derZahlen der UBS am Stichtag kalibriert werden könnte:

• Möglich wäre es, das Sockelrisikogewicht w so festzu-legen, dass die Kernkapitalanforderung, die sich auf Ba-sis der BSA ergibt, der Minimalanforderung gemäß Leverage Ratio [vgl. Gleichung (2)] entspricht. Damit er-gibt sich ein Sockelrisikogewicht w = 0,43.

• In Abbildung 4 ist die Kalibrierung von w jedoch so ge-wählt, dass bei unverändertem Niveau der risikounge-wichteten Aktiva der Punkt C realisiert wird. In diesemPunkt betragen die RWA* 607,5 Mrd. CHF, die BSA381,9 Mrd. CHF und die RWA 225,6 Mrd. CHF. Das So-ckelrisikogewicht liegt bei w = 0,27.

Fazit

Nach den Erfahrungen der Finanzkrise scheint es ange-bracht, in der Bankenaufsicht ein Instrument zu implemen-tieren, das das Finanzmarktaufsichtssystem gegen poten-tielle Fehlleistungen bei der Anwendung risikogewichteterEigenmittelvorschriften absichert. Das gilt unabhängig da-von, auf welchem Niveau die Mindesteigenmittelausstattungder Banken im Rahmen der Finanzmarktregulierung letztlichgewünscht wird. Die von verschiedener Seite geforderte Leverage Ratio soll vor diesem Hintergrund zukünftig un-abhängig vom Risikoprofil der Bank eine gewisse Kernka-pitalausstattung garantieren. Wird die Leverage Ratio ge-genüber den risikogewichteten Eigenmittelvorschriften je-doch zur allgemein bindenden Regel, so wird die Risikoge-wichtung ausgehebelt. Alle Aktiva sind in diesem Fall mitdem gleichen Mindestanteil an Kernkapital zu unterlegen.

17 Es wäre denkbar, unterschiedliche Sockelrisikogewichte wBS und wABPin Bezug auf die BS und die ABP einzuführen. Darüber hinaus bestehtpotentiell die Möglichkeit, die zu unterlegenden ABP bei der Berech-nung der BSA anders abzugrenzen als im Rahmen der risikogewich-teten Eigenmittelvorschriften. Eine weitere Variation könnte darin bestehen, die Banken entsprechend ihrer Risiken zu kategorisieren und den verschiedenen Risikokategorien i spezifische Sockelrisikoge-wichte zuzuordnen. Gleichung (8) wird damit zu BSAi = wi

BSBS + wi

ABPABPBSA.

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Den Banken können hierdurch Anreize entstehen, erhöhteRisiken einzugehen.

Dem kann entgegengewirkt werden, wenn anstelle der Leverage Ratio ein Aufsichtsinstrument gewählt wird, das inAbhängigkeit der risikoungewichteten Aktiva das Niveau derRWA unmittelbar nach unten begrenzt. Im Beitrag wird einSockelrisikogewicht vorgeschlagen. Dieses schränkt die Mög-lichkeiten der Banken ein, die RWA klein zurechnen. AuchFehlleistungen des Aufsichtssystems im Zusammenhang mitder Risikogewichtung wirken sich durch die Implementie-rung dieses Aufsichtsinstruments nur bedingt aus. Das So-ckelrisikogewicht übernimmt damit die Funktion eines Back-stops. Gleichzeitig kommt das Prinzip der Risikogewichtungvoll zur Wirkung. Die marginale Eigenmittelanforderung für diebeaufsichtigten Banken bleibt auch unter Berücksichtigungdes Sockelrisikogewichts immer an der Risikogewichtung aus-gerichtet. Der durch die Leverage Ratio induzierte Anreiz, er-höhte Risiken einzugehen, entfällt.

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Abbildung 4

Abb. 4

a) Grüne Punkte: Ist-Größen (vgl. UBS 2010), rote Punkte: Soll-Größen (risikogewichtet), rotes Rechteck: Soll-Größe (nicht-risikogewichtet).

Quelle: Darstellung der Autoren.

Einführung eines SockelrisikogewichtsBeispiel UBS, per 31. Dezember 2009, in Mrd. CHFa)

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Die wichtigsten Ergebnisse

– Die Urteile zur aktuellen Wirtschaftsla-ge fielen in Nordamerika und West-europa besser aus als in der voran-gegangenen Erhebung, ohne jedochdie »Zufriedenheitsmarke« zu errei-chen. Lediglich in Asien wird die Wirt-schaftslage weiterhin per saldo als gutbezeichnet.

– Die Erwartungen für die kommendensechs Monate sind nahezu überall we-niger zuversichtlich als bisher.

– Die Wirtschaftsfachleute erwarten für2010 zwar im Weltdurchschnitt eineetwas höhere Inflation als im Vorjahr(3,1 gegenüber 2,5%), gegenüberder vorangegangenen Umfrage blie-ben die Inflationserwartungen jedochstabil.

– Im Einklang mit den etwas eingetrübtenKonjunkturperspektiven rechnen nunetwas weniger WES-Experten als nochim Frühjahr mit steigenden kurzfristigenund langfristigen Zinsen im Laufe derkommenden sechs Monate.

– Der Euro gilt erstmals seit langem alsleicht unterbewertet.

Konjunkturentwicklung in denWeltregionen

Der ifo Indikator für das Wirtschaftsklimaim Euroraum ist im dritten Quartal erneutleicht gestiegen, erreichte allerdings nochnicht seinen langfristigen Durchschnitt. DieUrteile zur aktuellen wirtschaftlichen Si-tuation verbesserten sich deutlich gegen-über dem zweiten Quartal 2010. Die Er-wartungen für die nächsten sechs Mo-nate schwächten sich dagegen erneut ab,blieben aber insgesamt positiv. Die neu-esten Ergebnisse deuten darauf hin, dasssich die konjunkturelle Erholung in derzweiten Jahreshälfte fortsetzen wird, al-lerdings verlangsamt. Die aktuelle Wirt-schaftslage wird in der Mehrzahl der Län-der des Euroraums immer noch als un-günstig beurteilt. Nur in Deutschland, Ös-terreich und der Slowakei fallen die Urtei-le zur aktuellen Wirtschaftslage nun po-sitiv aus. Besonders schlecht wird dage-gen die aktuelle wirtschaftliche Situationin Griechenland, Irland, Spanien und Por-tugal beurteilt. In Spanien und Griechen-land rechnen die WES-Experten sogar miteiner weiteren Verschlechterung der Wirt-

Ergebnisse des 109. World Economic Survey (WES)für das dritte Quartal 20101

Gernot Nerb und Anna Stangl

ifo Weltwirtschaftsklimaindikator leicht gesunken

Das ifo Weltwirtschaftsklima hat sich im dritten Quartal 2010 leicht eingetrübt. Zwar schätzen die

befragten Experten die derzeitige Wirtschaftslage besser ein als in der ersten Jahreshälfte 2010,

die Erwartungen für die nächsten sechs Monate wurden jedoch nach unten korrigiert. Die Ergeb-

nisse deuten darauf hin, dass sich die Erholung der Weltkonjunktur im zweiten Halbjahr verlang-

samt fortsetzen wird.

1 Im Juli 2010 hat das ifo Institut zum 109. Mal sei-ne weltweite Umfrage »Ifo World Economic Sur-vey« – kurz WES – bei 1 103 Wirtschaftsexper-ten multinationaler Unternehmen und kompeten-ter Institutionen in 116 Ländern durchgeführt. DieAufgabe des WES ist es, vierteljährlich ein mög-lichst aktuelles Bild über die Wirtschaftslage so-wie Prognosen für wichtige Industrie-, Schwellen-und Entwicklungsländer zu liefern. Im Gegensatzzur amtlichen Statistik, die in erster Linie auf quan-titativen (in Werteinheiten messbaren) Informa-tionen aufbaut, werden beim WES qualitative In-formationen – Urteile und Erwartungen von Wirt-schaftsexperten – abgefragt. Während amtlicheStatistiken auf internationaler Ebene oft nur mitgroßen Zeitverzögerungen erhältlich sind, zeich-nen sich die WES-Umfrageergebnisse durch ih-re hohe Aktualität und internationale Vergleichbar-keit aus. Gerade in Ländern, in denen die amtli-che Statistik auf einer unsicheren Datenbasissteht, sind die von Wirtschaftsexperten vor Ortabgegebenen Urteile und Erwartungen von be-sonderer Bedeutung. Die Umfrage wird in Zusam-menarbeit mit der Internationalen Handelskam-mer (ICC) in Paris durchgeführt.

3,62,9 3,0

5,25,14,54,9

2,3

4,83,6

2,6

4,03,73,33,4

-0,6

4,6

-2,0

-1,0

0,0

1,0

2,0

3,0

4,0

5,0

6,0

7,0

8,0

9,0

40

50

60

70

80

90

100

110

120

130

140

150

94 95 96 97 98 99 00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10

reales BIP

ifo Weltwirtschaftsklima (linke Skala)

(rechte Skala)

Quelle: IWF, World Economic Outlook April: Update Juli 2010; Ifo World Economic Survey (WES) III/2010.

% Veränderung gegenüber Vorjahr Index 2005=100

Weltkonjunktur und ifo Weltwirtschaftsklima

1) Arithmetisches Mittel der Bewertung der gegenwärtigen Lage und der erwarteten Entwicklung.

1)

1)

Abb. 1

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Daten und Prognosen

schaftslage in der zweiten Jahreshälfte 2010. In allen ande-ren Ländern des Euroraums fallen die Erwartungen für diekommenden sechs Monate dagegen positiv aus, sind aller-dings nicht mehr ganz so optimistisch wie in der erstenJahreshälfte.

In Westeuropa außerhalb des Euroraums ist das Wirt-schaftsklima in Schweden, Norwegen und in der Schweizgünstig. In diesen Ländern wurde die aktuelle Wirtschafts-lage als zufriedenstellend beurteilt. In Dänemark und Groß-britannien haben sich die Urteile zur aktuellen Lage zwarauch weiter verbessert, die »zufriedenstellend«-Marke je-doch noch nicht erreicht. Die Erwartungen für die kommen-den sechs Monate sind positiv, wurden aber auch in denLändern außerhalb des Euroraums nach unten revidiert.

Auch in Nordamerika, und zwar sowohl in den USA als auchin Kanada, hat sich das Wirtschaftsklima im zweiten Quar-tal 2010 etwas eingetrübt. Der Klimaindikator sank in denUSA im Juli wieder unter seinen langfristigen Durchschnitt,wenn auch nur leicht. Ähnlich wie in den meisten anderenRegionen fielen die Urteile zur aktuellen Wirtschaftslage bes-ser aus als in der vorangegangenen Erhebung. Allerdingsgilt die aktuelle Wirtschaftslage nur in Kanada bereits alsgut; die entsprechenden US-amerikanischen Werte sind nochein gutes Stück von der »Zufriedenheitsmarke« entfernt. DieErwartungen für die kommenden sechs Monate sind in denUSA und auch in Kanada weniger zuversichtlich als bisher.Das Wirtschaftsklima hat sich in den USA vor allem durch dienach wie vor angespannte Lage auf dem Arbeitsmarkt ein-getrübt. Als Folge hiervon werden auch die Perspektiven fürden privaten Konsum und für die Bau- und Ausrüstungsin-vestitionen weniger positiv als bisher eingeschätzt.

In Asien verschlechterte sich der Klimaindikator ebenfalls imJuli, blieb aber weiterhin deutlich über seinem langfristigen

Durchschnitt. Die bereits als »gut« beurteil-te aktuelle Wirtschaftslage hat sich zwar wei-ter verbessert. Der Optimismus für dasnächste halbe Jahr hat aber auch hier abge-nommen. Als besonders günstig wird die ak-tuelle Wirtschaftslage derzeit in Indien, Hong-kong, Südkorea, den Philippinnen und Viet-nam beurteilt. Die Erwartungen für die kom-menden sechs Monate wurden jedoch in fastallen Ländern, ausgenommen Südkorea undVietnam, nach unten korrigiert, blieben aberinsgesamt positiv. So rechnen die WES-Ex-perten auch in der zweiten Jahreshälfte 2010mit anziehenden Bau- und Ausrüstungsin-vestitionen, steigenden Exporten und einemlebhaften privaten Konsum. In China hat sichdas Wirtschaftsklima im Vergleich zur voran-gegangenen Erhebung deutlich abgekühlt.Die aktuelle Wirtschaftslage wird zwar nach

wie vor als »zufriedenstellend« beurteilt, die Erwartungendeuten jedoch auf eine konjunkturelle Verlangsamung in denkommenden sechs Monaten hin. Die nachlassende Dyna-mik ist jedoch in erster Linie auf das Auslaufen der großenInfrastrukturprogramme und Kreditbeschränkungen vor al-lem im Immobilienbereich zurückzuführen. Somit will die chi-nesische Regierung gezielt einer Überhitzung der Wirtschaftentgegenwirken. Auch in Japan verschlechterten sich diewirtschaftlichen Erwartungen im Juli. Japans Wirtschaft hängtin starkem Maße von seinem Exportsektor ab. Eine konjunk-turelle Verlangsamung in China und in anderen asiatischenVolkswirtschaften würde den Fortgang der wirtschaftlichenErholung in Japan belasten. Dies wiegt umso schwerer, alsdie aktuelle Wirtschaftslage in Japan – laut WES-Experten– das »zufriedenstellend«-Niveau bei weitem noch nicht er-reicht hat. In Indonesien, Thailand, Malaysia und Sri Lankawird die aktuelle Lage dagegen bereits als »zufriedenstel-lend« oder »günstig« beurteilt. Die Erwartungen für die kom-menden sechs Monate blieben weiterhin sehr positiv oderwurden wie in Thailand sogar nach oben korrigiert. Bau- undAusrüstungsinvestitionen, privater Konsum und Exporte wer-den nach Ansicht der WES-Experten in der kommendenJahreshälfte weiter anziehen.

In den meisten Ländern Mittel- und Osteuropas wird dieaktuelle wirtschaftliche Situation zwar etwas besser als imVorquartal, aber per saldo immer noch als schlecht beur-teilt. Die einzigen Ausnahmen bilden Polen und Tschechien,wo sich die konjunkturelle Lage im Laufe des Jahres stetigverbessert hat und von den WES-Experten nun als güns-tig beurteilt wird. In Tschechien wurden auch die Erwar-tungen für die kommenden sechs Monate weiter nach obenrevidiert. Auch in Polen fallen die wirtschaftlichen Erwartun-gen sehr optimistisch aus und deuten auf eine dynami-sche Entwicklung der Bau- und Ausrüstungsinvestitionenund der Exporte im kommenden Halbjahr hin. In den an-

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-6,0

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ifo Wirtschaftsklima1) für den Euroraum(rechte Skala)

Wirtschaftswachstum und ifo Wirtschaftsklima für den Euroraum

Quelle: Eurostat, Ifo World Economic Survey (WES) III/2010.

% Veränderung gegenüber Vorjahr Index 2005 = 100

a) Arithmetisches Mittel der Bewertung der gegenwärtigen Lage und der erwarteten Entwicklung.

reales BIP(linke Skala)

1)

Abb. 2

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Daten und Prognosen

deren osteuropäischen EU-Staaten (Litauen, Lettland, Est-land, Rumänien, Bulgarien und Ungarn) wird die aktuelleWirtschaftslage dagegen immer noch als sehr schwach be-urteilt. Den aktuellen WES-Ergebnissen zufolge hat sie sichin Litauen und Rumänien sogar weiter verschlechtert. Vorallem in Rumänien rechnen die WES-Teilnehmer mit einemRückgang der Bau- und Ausrüstungsinvestitionen und derExporte in den kommenden sechs Monaten. Im März 2009hat Rumänien ein Hilfspaket in Höhe von 19,5 Mrd. US-Dol-lar von dem Internationalen Währungsfonds (IWF) sowieeiner Reihe europäischer Institutionen (darunter der EU, derEIB und der EBRD) erhalten. Allerdings ist das Darlehen anstrenge Sparmaßnahmen gebunden, um Defizitziele von6,8% des BIP 2010 und 4,4% des BIP 2011 zu erreichen.Da das Verfassungsgericht im Juni 2010 Rentenkürzun-gen als verfassungswidrig ablehnte, entschied sich die Re-gierung für Sparmaßnahmen auf der Einnahmenseite. So

wurde im Juli 2010 die Mehrwertsteuer von19 auf 24% angehoben. Die WES-Teilneh-mer haben ihre Inflationserwartungen für2010 darauf hin von 4,1 auf 6,3% ange-hoben. Auch rechnen sie mit einer deutli-chen Abschwächung der privaten Konsum-nachfrage in den kommenden Monaten. Inden anderen Volkswirtschaften der Regi-on wurden die Erwartungen für die kom-menden sechs Monate, zwar leicht nachunten revidiert, blieben jedoch insgesamtoptimistisch. So dürfte sich, nach Einschät-zung der WES-Experten, die konjunktu-relle Erholung in der zweiten Jahreshälfte2010 in den baltischen Staaten sowie inBulgarien und Ungarn weiter fortsetzen.

In den durch WES erfassten Ländern derGUS (Russland, Kasachstan, Ukraine, Kir-gisien und Usbekistan) ist der Indikator fürdas Wirtschaftsklima im dritten Quartal2010 erneut gestiegen. Die Verbesserungdes Indikators resultiert sowohl aus denbesseren Urteilen zur aktuellen Wirt-schaftslage als auch den günstigeren Er-wartungen für die kommenden sechs Mo-nate. Dies spiegelt vor allem die positivekonjunkturelle Entwicklung in Russland wi-der. Die Urteile zur aktuellen Wirtschafts-lage haben sich seit Mitte 2009 stetig ver-bessert und erreichten im Juli das »befrie-digend«-Niveau. Anders als in vielen an-deren Regionen wurden die Erwartungenfür die kommenden sechs Monate nichtnach unten revidiert, sondern fielen nochoptimistischer aus als im Frühjahr. Die Um-frageergebnisse deuten auf eine Zunah-me der Bau- und Ausrüstungsinvestitio-

nen, der privaten Konsumnachfrage sowie der Exporte inder zweiten Jahreshälfte 2010 hin. Allerdings fand die Um-frage überwiegend vor der Eskalation der Wald- und Torf-brände in den europäischen Teilen Russlands statt. Zwarist der Hauptmotor der russischen Wirtschaft nach wie vorder Rohstoffexport, die Umweltkatastrophe kann dennochweitgehende negative wirtschaftliche Auswirkungen nachsich ziehen. Zu nennen sind vor allem steigende Lebens-mittelpreise und eine damit einhergehende Inflation, diewiederum höhere Zinsen, auslösen könnte, wodurch diekonjunkturelle Erholung gebremst werden könnte. Eingünstiges Wirtschaftsklima herrscht derzeit, laut WES-Er-gebnissen, auch in Kasachstan. Die Konjunkturindikato-ren deuten hier für die kommenden sechs Monate nachoben. In der Ukraine dagegen, schätzten die WES-Teil-nehmer die aktuelle Wirtschaftslage noch nicht als »zu-friedenstellend« ein. Es wird eine überwiegend schwache

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Die ifo Konjunkturuhr für das Weltwirtschaftsklima verdeutlicht die aktuelle Datenkonstellation im globalen Konjunkturzyklus. Der ifo Weltwirtschafts-

klimaindikator setzte seine Bewegung in Richtung des oberen rechten Quadranten, der den Aufschwung markiert, fort. Der Anstieg des Weltindi-kators war diesmal jedoch ausschließlich den günstigeren Urteilen zur

gegenwärtigen Lage zuzuschreiben. Die Erwartungen für die nächsten sechs Monate wurden erneut nach unten korrigiert. Diese Datenkonstellati-on spricht dafür, dass sich die konjunkturelle Erholung der Weltwirtschaft in

den kommenden sechs Monaten fortsetzen wird. Das Tempo wird sich jedoch weiter verlangsamen.

Das ifo Weltwirtschaftsklima ist das arithmetische Mittel der Bewertung der gegenwärtigen Lage und der erwarteten Entwicklung in den nächsten sechs Monaten. Der Zusammenhang zwischen den beiden Komponenten des Weltwirtschaftsklimas kann in einem Vier-Quadranten-Schema dargestellt werden (»ifo Weltkonjunkturuhr«). Auf der Abszisse der Konjunkturuhr werden die Meldungen der befragten WES-Experten zur gegenwärtigen Lage aufgetragen, auf der Ordinate die Antworten zur erwarteten Entwicklung. Durch das Fadenkreuz der beiden Linien, die nach der WES-Werteskala eine zufriedenstellende Beurteilung der Lage (5) bzw. eine unveränderte Einschätzung der Erwartungen (5) markieren, wird das Diagramm in vier Quadranten geteilt, welche die vier Phasen der Weltkonjunktur definieren.

Box 1ifo Konjunkturuhr und das Weltwirtschaftsklima

1

9

1 9

Erholung/beginnender Aufschwung Fortgeschrittener Aufschwung/Boom

Abkühlung/Abschwung

III/2010

Konjunkturelles Tief / Rezession

aktuelleWirtschaftslage

Erwartung für dienächsten 6 Monate

schlecht gut

Verbesserung

Verschlechterung

II/2004

ifo Weltwirtschaftsklima

- aktuelle Wirtschaftslage: noch negativ, aber Verbesserung- Erwartungen: positiv

Quelle: Ifo World Economic Survey (WES), III/2010.

- aktuelle Wirtschaftslage: schlecht - Erwartungen: negativ

- aktuelle Wirtschaftslage: gut - Erwartungen: positiv

- aktuelle Wirtschaftslage: gut, jedoch zunehmende Verschlechterung - Erwartungen: negativ

III/2004

I/2005

II/2006

III/2007

US-Hypothekenkrise

I/2010

IV/2007

II/2008

IV/2008

II/2009

III/2009

Das ifo Weltwirtschaftsklima ist das arithmetische Mittel der Bewertung der gegenwärtigen Lage und der erwarteten Entwicklung in den nächsten sechs Monaten. Der Zusammenhang zwischen den beiden Komponenten des Weltwirtschaftsklimas kann in einem Vier-Quadranten-Schema dargestellt werden (»ifo Weltkonjunkturuhr«). Auf der Abszisse der Konjunkturuhr werden die Meldungen der befragten WES-Experten zur gegenwärtigen Lage aufgetragen, auf der Ordinate die Antworten zur erwarteten Entwicklung. Durch das Fadenkreuz der beiden Linien, die nach der WES-Werteskala eine zufriedenstellende Beurteilung der Lage (5) bzw. eine unveränderte Einschätzung der Erwartungen (5) markieren, wird das Diagramm in vier Quadranten geteilt, welche die vier Phasen der Weltkonjunktur definieren.

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Daten und Prognosen

i fo Schne l ld ienst 16/2010 – 63. Jahrgang

38

Weltwirtschaft

00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10

gegenwärtige Lage

erwartete Entwicklung

gut

zufrieden-stellend

schlecht

Abb. 3Wirtschaftliche Lage

Westeuropa

00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10

gegenwärtige Lage

erwartete Entwicklung

gut

zufrieden-stellend

schlecht

Mittel- und Osteuropa

00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10

gegenwärtige Lage

erwartete Entwicklung

gut

zufrieden-stellend

schlecht

Asien

00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10

gegenwärtige Lage

erwartete Entwicklung

gut

zufrieden-stellend

schlecht

Nordamerika

00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10

gegenwärtige Lage

erwartete Entwicklung

gut

zufrieden-stellend

schlecht

Lateinamerika

00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10

gegenwärtige Lage

erwartete Entwicklung

gut

zufrieden-stellend

schlecht

Quelle: Ifo World Economic Survey (WES), III/2010.

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Daten und Prognosen

Entwicklung der Bau- und Ausrüstungsinvestitionen undder privaten Konsumnachfrage im kommenden Halbjahrerwartet.

In Australien kühlte sich das Wirtschaftsklima im Juli etwasab. Sowohl die Urteile zur aktuellen Wirtschaftslage als auchdie Erwartungen für die kommenden sechs Monate wur-den nach unten revidiert. Insgesamt präsentiert sich die aust-ralische Wirtschaft jedoch weiterhin in einer sehr robustenVerfassung. Der konjunkturelle Abschwung in Folge der Fi-nanzkrise fiel in Australien im Vergleich zu anderen Indus-trieländern relativ kurz und nicht so stark aus. Somit wurdeder Arbeitsmarkt kaum betroffen. Da die Konjunktur bereitsin der zweiten Hälfte 2009 kräftig anzog, hat die australischeNotenbank bereits im Oktober 2009 Zinserhöhungen ein-geleitet, um inflationären Tendenzen und einer zu frühenÜberhitzung der Wirtschaft entgegen zu wirken. Diese Po-litik hat mit dazu beigetragen, dass der australische Dollargegenüber den großen Weltwährungen an Wert zulegte. InNeuseeland besserten sich die Urteile zur aktuellen Wirt-schaftslage weiter und erreichten fast die »Zufriedenheits-schwelle«. Die wirtschaftlichen Erwartungen für die nächs-ten sechs Monate wurden nur leicht nach unten korrigiertund blieben positiv.

Der Wirtschaftsklimaindikator in Mittel- und Lateinamerikahat sich im dritten Quartal 2010 auf dem günstigen Niveaugehalten, das bereits Anfang dieses Jahres erreicht wurde.Die Urteile zur aktuellen Wirtschaftslage verbesserten sichweiter. Die Erwartungen für die kommenden sechs Monatehaben sich kaum verändert und blieben insgesamt positiv.Ein besonders günstiges Wirtschaftsklima herrscht in Bra-silien, Peru und Uruguay vor. In allen drei Ländern wird dieaktuelle Wirtschaftslage als ausgesprochen günstig beur-teilt. In Brasilien sogar mit einer historischen Bestnote. Auchdie Erwartungen für die kommenden sechs Monate sind hieroptimistisch, wenngleich etwas weniger als im Vorquartal.Mit einer Fortsetzung des konjunkturellen Aufschwungs rech-nen auch die WES-Teilnehmer in Chile, Kolumbien und Pa-raguay, ebenfalls Länder, in denen die aktuelle Wirtschafts-lage als positiv gilt. Als »zufriedenstellend« bewerten dieWES-Experten die derzeitige wirtschaftliche Situation in Me-xiko, Costa Rica, Panama und Bolivien. Sie rechnen aller-dings lediglich in Mexiko und Panama mit einer Fortsetzungder wirtschaftlichen Erholung bzw. mit einer Stabilisierungin Costa Rica. In Bolivien dagegen haben sich die Wirt-schaftserwartungen eingetrübt. Auch in Argentinien wurdendie Wirtschaftserwartungen im Verlauf dieses Jahres nachunten revidiert. Vor allem die Bau- und Ausrüstungsinvesti-tionen werden sich nach Einschätzung der WES-Expertenim kommenden Halbjahr deutlich abschwächen. Die Infla-tionsrate in Argentinien von über 20% gehört zu den höchs-ten weltweit und belastet die konjunkturelle Erholung enorm.Als ungünstig wird die aktuelle Wirtschaftslage in El Salva-dor, Guatemala, Trinidad und Tobago sowie in Ecuador be-

urteilt. Doch während in Ecuador auch die Erwartungen fürdie kommende Jahreshälfte verhalten ausfielen, sind dieWES-Teilnehmer in den anderen drei Ländern relativ opti-mistisch. Am negativsten beurteilen die WES-Teilnehmer dieaktuelle wirtschaftliche Situation weiterhin in Venezuela. DieVolkswirtschaft leidet unter der höchsten Inflationsrate allerlateinamerikanischen Staaten (über 30%). Der Ausblick fürdie kommenden sechs Monate ist düster. Angesichts derschlechten Bedingungen für in- und ausländische Investi-tionen ist mit einem weiteren Rückgang der Bau- und Aus-rüstungsinvestitionen, der privaten Konsumnachfrage undder Exporte zu rechnen.

In den Ländern des Nahen Ostens hat sich das Wirtschafts-klima im dritten Quartal 2010 weiter verbessert. Als besondersgünstig wird die aktuelle wirtschaftliche Situation erneut in Sau-di-Arabien und nun auch in den Vereinigten Arabischen Emi-raten eingeschätzt. In beiden Ländern haben sich die Erwar-tungen der WES-Teilnehmer verbessert und deuten auf weitersteigende Bau- und Ausrüstungsinvestitionen, anziehende Ex-porte und eine rege Konsumnachfrage in der kommenden Jah-reshälfte hin. Auch im Libanon schätzen die WES-Teilnehmerdie wirtschaftliche Situation als »günstig« ein und rechnen miteiner stabilen Entwicklung in den kommenden sechs Monaten.In Israel dagegen kühlte sich das Wirtschaftsklima im drittenQuartal 2010 deutlich ab. Sowohl die Urteile zur aktuellen Wirt-schaftslage, als auch die Erwartungen für die kommenden sechsMonate wurden deutlich nach unten revidiert. Zwar wird die ak-tuelle Wirtschaftslage derzeit noch als »zufriedenstellend« ein-geschätzt, die WES-Teilnehmer erwarten jedoch eine Abschwä-chung des Wachstums beim privaten Konsum und einen Rück-gang der Exporte in der zweiten Jahreshälfte 2010. In der Tür-kei dagegen hat sich die aktuelle wirtschaftliche Situation wei-ter verbessert und wird derzeit als »günstig« beurteilt. Die Prog-nosen der WES-Teilnehmer sind optimistisch und deuten aufein weiteres Anziehen der Bau- und Ausrüstungsinvestitionen,des privaten Konsums und der Exporte hin.

In Südafrika hat sich die wirtschaftliche Situation seit der vor-angegangenen Erhebung im April dieses Jahres weiter verbes-sert. Die Erwartungen für die kommenden sechs Monate wur-den allerdings nach unten korrigiert und fallen nicht mehr ganzso optimistisch aus wie in der ersten Hälfte des Jahres. Zwarrechnen die WES-Experten mit einer Zunahme des privatenKonsums und mit steigenden Exporten. Die Bau- und Ausrüs-tungsinvestitionen, die nicht zuletzt aufgrund zahlreicher Infra-strukturprojekte im Rahmen der Fußballweltmeisterschaft deut-lich zugenommen haben, werden ihrer Einschätzung nach aberin den kommenden sechs Monaten stagnieren.

Stabiler Preistrend erwartet

Im Weltdurchschnitt werden nach Ansicht der WES-Exper-ten in nächster Zeit weder Inflation noch Deflation größere

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Daten und Prognosen

Probleme bereiten. An dem für 2010 erwarteten Preisan-stieg im Durchschnitt aller am WES beteiligten 116 Länderhat sich seit der Umfrage im Frühjahr nichts geändert (3,1%;vgl. Tab. 1). Diese Prognose impliziert eine leichte Abschwä-chung des Preisanstiegs im Laufe des zweiten Halbjahres,wie die Ergebnisse der Zusatzfrage nach der Inflationsten-denz im Laufe der nächsten sechs Monate zeigen.

Die niedrigste Inflationsrate wird in 2010 in Westeuropa(1,7%) und in Nordamerika (1,8%) vorherrschen, gefolgt vonOsteuropa und Asien mit jeweils 3,1% und Ozeanien (3,2%).Im Nahen Osten (4,2%) und noch mehr in Afrika (7,6%),den GUS-Staaten (8,3%) sowie in Mittel- und Südamerika(8,4%), wird die Inflation weiterhin deutlich über dem Welt-durchschnitt liegen.

Im Euroraum liegen die Inflationserwartungen für 2010 mit1,6% im Jahresdurchschnitt zwar über dem Vergleichswertfür 2009 (0,7%), allerdings immer noch unter der mittelfris-tigen Zielmarke der EZB. In Irland dürften die Verkaufsprei-se im Durchschnitt des Jahres 2010 stabil bleiben, nach-dem sie im letzten Jahr als Folge der rigorosen Sparmaß-nahmen zur Korrektur der Haushalts- und Leistungsbilanz-defizite gesunken waren.

In Westeuropa außerhalb des Euroraums bleiben die Preis-trends weiterhin sehr unterschiedlich: In Großbritannien wird2010 mit einer Inflationsrate von 3,1% gerechnet, nach ei-nem nur halb so starken Preisanstieg im vorigen Jahr. Auchin Norwegen wird die Inflationsrate 2010 voraussichtlichdeutlich über der 2%-Marke liegen (2,5%). Die höchste Preis-steigerungsrate liegt nach der erfolgten starken Währungs-abwertung wiederum in Island vor (6,7 nach 10,0% im Jahr2009). Auf der anderen Seite wird in der Schweiz, wo diePreisstabilität noch stärker ausgeprägt ist als in den ande-ren westeuropäischen Ländern, der Preisanstieg 2010 mit1,0% sehr moderat bleiben. Auch in Schweden dürfte sichder Inflationsanstieg 2010 weiterhin in engen Grenzen (1,4%)bewegen.

In Osteuropa bleibt der erwartete Preisanstieg weiterhindeutlich über dem in Westeuropa (3,1 gegenüber 1,7%).Estland, das neue Euro-Mitgliedsland ab 2011, hebt sichzwar weiterhin durch eine höhere Preisstabilität von denmeisten anderen Ländern in der Region ab, aber nichtmehr in dem Maße wie noch im Frühjahr (2,1% gegenübereiner vorher erwarteten Preissteigerungsrate von nur 0,8%2010). Deutlich angehoben wurden die Inflationsschät-zungen für 2010 in Rumänien (von 4,1 auf 6,3%). Diehöchste Inflationsrate wird weiterhin in Serbien erwartet(7,4%), auch wenn dies gegenüber der Schätzung vomFrühjahr (8,3%) eine leichte Revision nach unten bedeu-tet. Auch in Ungarn ist trotz der leichten Revision nach un-ten die Inflationsschätzung für 2010 immer noch relativhoch (4,6 nach 4,8% in der April-Umfrage).

In Nordamerika wird die Preisentwicklung nun als spürbarschwächer eingeschätzt als noch im Frühjahr (1,8 nach 2,1%im April). Besonders stark ausgeprägt ist diese Entwick-lung in den USA, wo 2010 mit einem Preisanstieg von nurnoch 1,7% gerechnet wird, nach noch 2,1% im April.

In Asien wird für 2010 im Durchschnitt eine gleich hohe In-flationsrate wie in Osteuropa erwartet (3,1%). Hinter die-sem Durchschnittwert verbergen sich jedoch recht unter-schiedliche Trends: Zu den Ländern mit überdurchschnitt-lich hoher Inflationsrate gehört weiterhin Vietnam; die Schät-zung für 2010 wurde von den WES-Experten seit Frühjahrsogar noch etwas angehoben (von 9,0 auf 9,3%). Auch inMalaysia und Singapur, wenn auch von deutlich niedrige-rem Niveau aus, wurden die Preisschätzungen für 2010etwas angehoben (von 3,0 auf 3,6% bzw. von 2,2 auf 2,5%in Singapur). In China wird nach der weitgehenden Preis-stabilität 2009 in diesem Jahr mit einem spürbaren Inflati-onsanstieg gerechnet, wenn auch etwas weniger stark alsnoch im Frühjahr (3,6 gegenüber 3,8%). Die Bremsmaß-nahmen der chinesischen Zentralbank scheinen demnacherste Spuren zu hinterlassen. In Indien ist der für 2010 er-wartete Preisanstieg nahezu unverändert hoch (8,2 nach8,3% im Frühjahr). Chancen für eine Dämpfung der immernoch hohen Inflationsrate werden von den WES-Expertennun in Sri Lanka gesehen (5,5 nach 8,3% im April). Japanbleibt das einzige Land in Asien mit rückläufigen Preisen.Im weiteren Verlauf des Jahres zeichnet sich allerdings einEnde der deflationären Entwicklung ab. Im Jahresdurch-schnitt 2010 werden nichtsdestoweniger die Preise nachAnsicht der WES-Experten – wie schon im Vorjahr – um – 0,6% zurückgehen.

In Mittel- und Südamerika ist der im Frühjahr gemeldetestarke Anstieg der Verbraucherpreise zwar etwas nach un-ten korrigiert worden, bleibt aber nach wie vor sehr hoch(8,4 nach 8,9%). Dies gilt nicht zuletzt für Argentinien, wotrotz leichter Korrektur nach unten 2010 immer noch eineInflation von 23% erwartet wird. Im Hochinflationsland Ve-nezuela wurde die Inflationsschätzung für 2010 sogar nochweiter angehoben (von 31 auf 35%). Auch in Bolivien (von3,5 auf 7,3%) und Paraguay (von 4,4 auf 5,1%) wurden dieInflationsschätzungen für 2010 nach oben korrigiert. Dieniedrigsten Inflationsraten in der Region herrschen in Peruund in El Salvador (jeweils 2,2%) sowie in Panama (2,8%)und Kolumbien (3,0%) vor.

In Afrika stieg die für 2010 erwartete Inflationsrate von 6,8auf 7,6% an. Allerdings sind die Preistrends in den einzel-nen Ländern sehr unterschiedlich. Relativ niedrige Inflations-raten herrschen für 2010 weiterhin vor in Niger und Sene-gal (jeweils 1,6%), Elfenbeinküste (2,8%), Gabun (3,1%), Be-nin (3,3%), Marokko (3,5%), Republik Kongo-Brazzaville(3,5%) und Mauritius (3,7%). Zu den Ländern mit einer mitt-leren Inflationsrate gehören Algerien (5,2%), Südafrika (5,4%),

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Daten und Prognosen

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Tab. 1

Inflationserwartungen der WES-Teilnehmer für 2010 (im Juli und April 2010)

Region III/2010 II/2010 Region III/2010 II/2010

Durchschnitt der Ländera) 3,1 3,1 GUS 8,3 9,1

Hochlohnländer 1,9 1,8 Kasachstan 7,7 7,8 Mittleres Einkommensniveau 6,5 7,0 Kirgisien 15,0 10,0 oberes Mittel 6,9 7,4 Russland 7,5 8,8 unteres Mittel 5,9 6,4 Ukraine 12,0 12,0 Niedriglohnländer 9,9 9,1 Usbekistan 11,0 11,0 EU (27 Länder) 1,9 1,8 EU (alte Mitglieder)b) 1,7 1,6 Ozeanien 3,2 2,9 EU (neue Mitglieder)c) 3,0 2,8 Australien 3,2 2,9 Euroraumd) 1,6 1,5 Neuseeland 3,1 2,6 Westeuropa 1,7 1,6 Mittel- und Zentralamerika 8,4 8,9 Belgien 1,9 1,8 Argentinien 23,0 25,0 Dänemark 1,7 1,9 Bolivien 7,3 3,5 Deutschland 1,3 1,3 Brasilien 5,2 5,3 Finnland 1,7 1,4 Chile 3,5 3,3 Frankreich 1,7 1,6 Costa Rica 7,5 8,0 Griechenland 4,7 3,0 Dominikanische Republik 6,0 6,0 Großbritannien 3,1 2,8 Ecuador 3,7 4,3 Irland 0,4 0,3 El Salvador 2,2 2,0 Island 6,7 5,7 Guatemala 5,8 5,9 Italien 1,6 1,5 Kolumbien 3,0 3,4 Luxemburg 2,3 2,5 Mexiko 4,3 5,6 Malta 2,0 2,0 Panama 2,8 3,5 Niederlande 1,4 1,4 Paraguay 5,1 4,4 Norwegen 2,5 2,1 Peru 2,2 2,4 Österreich 1,9 1,4 Trinidad und Tobago 8,5 8,0 Portugal 1,0 0,9 Uruguay 6,8 6,7 Schweden 1,4 1,7 Venezuela 35,0 31,0 Schweiz 1,0 1,1 Spanien 1,6 1,6 Naher Osten 4,2 5,9 Zypern 3,5 2,5 Irak – 6,0 Iran – 15,0 Mittel- und Osteuropa 3,1 2,9 Israel 2,7 2,5 Albanien 3,4 – Kuwait – 4,5 Bulgarien 2,8 4,0 Libanon 5,0 3,8 Estland 2,1 0,8 Saudi-Arabien 3,9 4,3 Kroatien 2,0 2,5 Syrien 5,0 6,0 Lettland 0,9 1,4 Türkei 8,3 8,4 Litauen 2,2 2,6 Vereinigte Arabische Emirate 2,4 2,6 Polen 2,9 2,8 Rumänien 6,3 4,1 Afrika 7,6 6,8 Serbien 7,4 8,3 Ägypten 12,0 10,0 Slowakei 1,7 1,5 Algerien 5.2 5.3 Slowenien 1,9 1,5 Benin 3,3 2,7 Tschechien Republik 1,8 1,7 Djibuti 3,0 4,0 Ungarn 4,6 4,8 Elfenbeinküste 2,8 2,7

Gabun 3,1 2,9 Nordamerika 1,8 2,1 Kenia 5,6 7,0 Kanada 2,0 2,2 Komoren 5,2 5,0 USA 1,7 2,1 Kongo Demokratische Rep. 19,0 22,0 Republik Kongo 3,5 4,1 Asien 3,1 2,8 Lesotho 6,8 6,8 Bangladesch 6,8 9,0 Liberia 9,0 11,0 China 3,6 3,8 Madagaskar 10,0 12,0 Hongkong 2,8 2,8 Marokko 3,5 2,0 Indien 8,2 8,3 Mauretanien 5,5 4,5 Indonesien 5,2 5,3 Mauritius 3,7 3,5 Japan – 0,6 – 0,6 Niger 1,6 2,7 Malaysia 3,6 3,0 Nigeria 12,0 8,0 Pakistan 13,0 13,0 Ruanda 6,0 5,2 Philippinen 4,2 4,4 Sambia 8,2 10,0 Singapur 2,5 2,2 Sierra Leone 15,0 14,0 Sri Lanka 5,5 8,3 Simbabwe 6,9 6,0 Südkorea 3,5 3,5 Südafrika 5,4 6,0 Taiwan 1,4 1,5 Sudan 15,0 13,0 Thailand 3,4 3,5 Tansania 10,0 9,0 Vietnam 9,3 9,0 Tunesien 3,6 4,5 a) Innerhalb jeder Ländergruppe sind die Ergebnisse nach den Export-/Importanteilen am Weltdurchschnitt gewichtet. – b) Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Irland, Italien, Luxemburg, Nieder-lande, Österreich, Portugal, Schweden, Spanien – c) Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Rumänien, Slowa-kei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Zypern. – d) Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, Malta, Niederlande, Österreich, Portugal, Slowakei, Slowenien, Spanien, Zypern.

Quelle: Ifo World Economic Survey (WES), III/2010 und II/2010.

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Daten und Prognosen

i fo Schne l ld ienst 16/2010 – 63. Jahrgang

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Alle Länder

00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10

steigend

unver-ändert

sinkend

Deutschland

00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10-10%

0%

10%

Erwartungen

3 months EURIBOR b)

steigend

unver-ändert

sinkend

0.7

USA

00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10-12%

0%

12%

Erwartungen

Certificate of deposits

steigend

unver-ändert

sinkend

0.4

Japan

00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10-10%

0%

10%

Erwartungen

Certificate of deposits

steigend

unver-ändert

sinkend

0.4

Frankreich

00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10-15%

0%

15%

Erwartungen

3 months EURIBOR b)

steigend

unver-ändert

sinkend

0.7

Großbritannien

00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10-16%

0%

16%

Erwartungen

3 months LIBOR

steigend

unver-ändert

sinkend

0.6

Abb. 4Kurzfristige Zinsen– Aktuelle Zinssätzea) und Erwartungen für die nächsten sechs Monate –

a) Quartalswerte OECD, Main Economic Indicators. b) Seit Q1/2001 EURIBOR. Vorher FIBOR in Deutschland und PIBOR in Frankreich.

Quelle: Ifo World Economic Survey (WES), III/2010.

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Daten und Prognosen

Kenia (5,6%), Mauretanien (5,5%), Lesotho(6,8%) und das frühere HyperinflationslandZimbabwe (6,9%). Hohe Inflationsraten undkeine Anzeichen für eine Preisstabilisierung se-hen die WES-Experten im laufenden Jahr inder Demokratischen Republik Kongo (19%),Sierra Leone (15%), Ägypten (12%), Nigeria(12%), Ghana (10%), Madagaskar (10%) undTansania (10%).

Zinsanstieg weniger häufig erwartet

Erstmals seit Oktober 2009 ist der Anteil derWES-Experten, die im Laufe der nächsten sechsMonate mit einer Zinssteigerung rechnen, leichtgesunken (vgl. Abb. 4). Dies gilt sowohl für diekurz- als auch für die langfristigen Zinsen. Ursächlich hier-für dürfte der etwas reduzierte Optimismus der WES-Exper-ten hinsichtlich der weiteren Wirtschaftsentwicklung sein undauch die im Weltdurchschnitt stabilen Inflationserwartungen,die keine Inflationsgefahr signalisieren. Diese Zinstendenzensind weltweit zu beobachten, allerdings mit einigen Ausnah-men. So wird häufiger als bisher mit steigenden Zinsen inDänemark und verschiedenen osteuropäischen Ländern,wie Estland, Ungarn, Kroatien und Slowenien sowie in la-teinamerikanischen Ländern wie Chile, Argentinien und Kolumbien und auch in Neuseeland im Laufe der nächstensechs Monate gerechnet.

Euro gilt erstmals seit langem als leichtunterbewertet

Die Verteuerung des US-Dollar in den letzten Monaten warnach Ansicht der WES-Experten etwas überzogen. Andersals in den vorangegangenen Umfragen wird der US-Dollarnicht mehr als unterbewertet, sondern sogar als leicht über-bewertet angesehen (vgl. Abb. 5). Der Euro galt lange Zeitals überbewertet und wurde nach der erfolgten Abwertungim Juni/Juli erstmals seit Ende 2002 als unterbewertet ein-gestuft, wenn auch nur zu einem geringen Grad. Der japa-nische Yen und auch das britische Pfund liegen nach An-sicht der WES-Experten nur leicht über ihrem Gleichge-wichtskurs.

Stärker als im weltweiten Durchschnitt halten die Japanerden Yen als generell überbewertet. Auch in Australien, Neu-seeland sowie Südafrika, Mauritius und Marokko schätzendie dort befragten WES-Experten die jeweilige Landeswäh-rung als überhöht ein. Auf der anderen Seite gilt die eigeneWährung nach Einschätzung der WES-Experten aus Island,Schweden, Lettland, Ukraine und Algerien – allerdings nichtmehr nach Einschätzung der WES-Experten aus China alsgenerell unterbewertet. Der chinesische Renmimbi wird hier-

nach zwar weiterhin gegenüber dem US-Dollar als überbe-wertet angesehen, nicht mehr jedoch gegenüber dem Euro,dem japanischen Yen und dem britischen Pfund.

Ergänzend wurden die WES-Teilnehmer wiederum danachgefragt, von welcher Entwicklung des US-Dollar-Wechsel-kurses sie im Laufe der nächsten sechs Monate ausgehen,unabhängig davon, wie sie fundamental die derzeitigen Wäh-rungsrelationen einschätzen. Hiernach wird mit einer ten-denziellen Verbilligung des US-Dollar gegenüber der jewei-ligen Landeswährung in Norwegen, Schweden, Island so-wie in einigen asiatischen Ländern wie China, Indonesien,den Philippinen, Südkorea, Taiwan und Thailand wie aucheinigen osteuropäischen bzw. GUS-Ländern (Ungarn, Litau-en, Slowenien und Usbekistan) sowie in einigen lateiname-rikanischen Ländern (Peru, Chile und Mexiko) gerechnet.Im Gegensatz hierzu erwarten die WES-Experten eine Stär-kung des US-Dollar gegenüber der jeweiligen Landeswäh-rung im Laufe des zweiten Halbjahres 2010 in einigen Län-dern des Nahen Ostens (Israel, Saudi Arabien und Türkei),in Pakistan, in Sri Lanka, in Argentinien und Venezuela so-wie in Serbien und Kroatien.

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43

00 01 02 03 04 05 06 07 08 09 102.5

5.0

7.5

Währungsbeurteilung

Quelle: Ifo World Economic Survey,QIII/2010.

über-bewertet

unter-bewertet

richtig bewertet

Euro

YenUS $

UK £

Die Skala geht von 1 (unterbewertet) bis 9 (überwertet).

Abb. 5

Eine ausführlichere Analyse zu den einzelnen Weltregionen, der Zinsent-wicklung, Inflation und Währung findet sich in der englischsprachigen Ver-öffentlichung »CESifo World Economic Survey«.

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Die zukünftige Gestalt der Energieversorgung vor dem Hin-tergrund der europäischen Energie- und Klimapolitik und diedamit verbundene Umstrukturierung des Kraftwerksparkswerden derzeit an allen Fronten kontrovers diskutiert. Auchdie Reaktionen auf die Planungen des neuen Pumpspei-cherkraftwerks in Atdorf im Schwarzwald stellen hierbei kei-ne Ausnahme dar. Seit Jahren kämpfen dort besorgte Bür-ger und Umweltschützer gegen den Bau dieses Kraftwerks,das mit einer vorgesehenen Leistung von 1 400 MW dasgrößte seiner Art in Deutschland sein würde.1 Bei Pump-speicherkraftwerken handelt es sich nicht um Kraftwerke imherkömmlichen Sinn – der Begriff »Kraftwerk« ist daher ir-reführend. Sie speichern Strom in Form potentieller Energie,den sie bei Bedarf in das Stromnetz einspeisen können. Da-bei wird Wasser von einem Unterbecken in ein Oberbeckengepumpt. Bei der Rückumwandlung, also der Stromerzeu-gung, erfolgt ein gezieltes Ablassen des Wassers aus demOberbecken in das Unterbecken, so dass Turbinen zurStromgewinnung angetrieben werden können (vgl. dena2008, 19 ff.).

Im Zusammenhang mit den Planungen in Atdorf werdenüber Aufgabe und Nutzen solcher Speicherkraftwerke dis-kutiert. Die Gegner kritisieren den starken Eingriff in dasLandschaftsbild und die damit verbundenen Gefahren fürdie Artenvielfalt, aber auch für das Grundwasser. Der Streitentzündet sich darüber hinaus an der grundsätzlichen,aus klimapolitischer Sicht scheinbar »unverdächtigen«Funktion von Pumpspeichern. Das Betreiberkonsortiumverweist auf die tragende Rolle von Energiespeichern fürden geplanten Ausbau erneuerbarer Energien. Die Pro-jektgegner befürchten, dass die geplanten Speicherka-pazitäten insbesondere dem Weiterbetrieb der nur ein-geschränkt (last-)regulierbaren Kernkraftwerke dienen –statt diese für den Kapazitätsausbau erneuerbarer Ener-gie durch flexiblere Gaskraftwerke zu ersetzen. Der vor-liegende Artikel soll vor dem Hintergrund der Herausfor-derungen des Klimaschutzes für die zukünftige Energie-versorgung einen Einblick in die Rolle von Pumpspei-cherwerken bieten.

In der Elektrizitätsversorgung ist man grundsätzlich mit derProblematik konfrontiert, dass Strom nicht vorgehalten wer-den kann. Angebotene und nachgefragte Mengen müssendaher immer in Einklang gebracht werden. Einzig Energie-speicher bieten die Möglichkeit, Angebot und Nachfrage vonElektrizität in einem gewissen Umfang zeitlich voneinanderzu entkoppeln. Aufgrund ihrer kurzen Anfahrtszeiten undihres hohen Wirkungsgrades von bis zu 80% eignen sichPumpspeicherkraftwerke zur Bereitstellung von Regelener-gie sowie zur Last- und Einspeiseglättung. Schon seit Jahr-zehnten wird deshalb auf Pumpspeicher zur zentralen, groß-technischen Speicherung elektrischer Energie zurückge-

griffen (vgl. dena 2010, 72 f.). Sie leisten einen wichtigen Beitrag zu Netzstabilität und Versorgungssicherheit, gleich-zeitig fördern sie die Wirtschaftlichkeit der Versorgung: Durchden Lastausgleich wird eine meist kostspielige Regelung der übrigen Kraftwerke vermieden. Außerdem kann dieStromproduktion von Zeiten hoher Grenzkosten in Zeitenniedriger Grenzkosten verlagert werden. Insgesamt müssenauf diese Weise weniger Kraftwerkskapazitäten für Spit-zenlasten vorgehalten werden (vgl. dena 2008, 22 ff.; dena2010, 94 ff.).

Vor diesem Hintergrund vergleicht die Karte (Abb. 1) dieinternational installierten Pumpspeicherkapazitäten. Dar-gestellt sind dazu die Anteile der Pumpspeicherenergie ander gesamten Kraftwerkskapazität.2 Auffällig ist der be-sonders verbreitete Einsatz der Pumpspeicher in Europa.Dies lässt sich sowohl mit den topographischen Gege-benheiten vor Ort als auch mit der dort hochgradig ausge-bauten Netzstruktur erklären. Der Anteil der Pumpspei-cherkapazität ist weltweit relativ gering im Vergleich zurgesamten Kraftwerkskapazität. Das steht jedoch nicht imWiderspruch zu der wichtigen Funktion, die diese im Ener-giesektor einnimmt. Einige Länder fallen durch einen hohenAnteil an Pumpspeicherkapazität auf. Meist handelt es sichum Länder, die Stromimporteure sind und aufgrund ihrerGröße insgesamt nur geringe Kapazitäten an Energie be-nötigen. Ein Augenmerk gilt hierbei Luxemburg mit einemPumpspeicheranteil von über 60%. Zum einen deckt Lu-xemburg seine Stromnachfrage nur zu einem kleinen Teilaus nationaler Stromerzeugung und verfügt nur über ent-sprechend geringe Kraftwerkskapazitäten. Zum anderenbefindet sich im Staatsgebiet Luxemburgs eines der größ-ten Pumpspeicherkraftwerke Europas (Pumpspeicher-kraftwerk »Vianden«), das jedoch direkt an das deutscheStromnetz angeschlossen ist und damit streng genom-men der deutschen Pumpspeicherkapazität zugerechnetwerden müsste (vgl. IEA (2009, 72).

Daneben sei auch auf den relativ hohen Anteil der Pump-speicherkapazität in Ländern wie der Schweiz oder Öster-reich hingewiesen. Diese hohe Kapazität wird natürlich erstdurch die dortigen topographischen Gegebenheiten er-möglicht, bietet den Betreibern aber eine rentable Einnah-mequelle: Neben ihrer eigentlichen Aufgabe, den Lastaus-gleich zu regeln, wird mit Pumpspeicherwerken auch so ge-nannte Stromveredelung betrieben (vgl. dena 2010, 99). Da-bei wird Strom zu Niedriglastzeiten beispielsweise aus demeuropäischen Ausland eingekauft und »gespeichert«. ZuSpitzenzeiten wird dieser wieder teuer weiterverkauft. Durchdie sich daraus ergebende Preisdifferenz können die Be-

Johannes Pfeiffer, Luise Röpke und Jana Lippelt

Kurz zum Klima: Pumpspeicherwerke – bewährte Technologie für eine grüne Zukunft?

1 Dies entspricht in etwa der Leistung eines großen Kernkraftwerks.

2 Die Daten stammen aus der EIA International Energy Statistics – Daten-bank. Allerdings sahen sich die Autoren mit widersprüchlichen Angabenvor allem bezüglich der Pumpspeicher im asiatischen Raum konfrontiert.So zeigen andere Quellen, dass besonders China über große Kapazitätenan Pumpspeicherwerken verfügt.

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Im Blickpunkt 45

treiberfirmen der Speicherkraftwerke Gewinne realisieren.Alleine die schweizerischen Energiefirmen verdienen so jähr-lich rund eine Mrd. Schweizer Franken (Handelszeitung vom9. Dezember 2009). Natürlich lässt sich dieses Konzept auf-grund der geographischen und topographischen Voraus-setzungen nicht ohne Weiteres auf andere Länder übertra-gen. Auch sollte beachtet werden, dass Stromveredelungnur als ein Nebeneffekt zu dem eigentlichen Ziel des Last-ausgleichs angesehen werden sollte, da immer ein Trade-off zwischen dem Energieverlust durch die Speicherung unddem Nutzen der Lastverschiebung besteht.

Das europäische Klimaziel, bis 2020 einen Anteil von 20%erneuerbarer Energien zu erreichen, stellt den Stromsektorvor neue Herausforderungen. Nach den Beschlüssen derBundesregierung soll der Anteil an erneuerbaren Energienam Bruttostromverbrauch bis zum Jahr 2020 auf mindes-tens 30% steigen. Die dena (Deutsche Energie-Agentur)schätzt, dass damit bis zum Jahr 2030 etwa 80% der in-stallierten Leistung an erneuerbaren Energien aus fluktuie-renden Quellen wie Wind oder Sonne stammen würden (vgl.dena 2008, 51 ff.). Viele der erneuerbaren Technologien wieWind- oder Solarenergie speisen jedoch nur variabel (etwain Abhängigkeit von Tageszeit und Wetterlage) Strom in dasVersorgungsnetz ein. Relativ zur installierten Kapazität stel-

len sie so nur eine geringe gesicherte Leistung zur Verfügung.Grundsätzlich müssen für Netzstabilität und Versorgungssi-cherheit konventionelle Kraftwerkskapazitäten vorgehaltenwerden, die in Spitzenzeiten bei geringer erneuerbarer Strom-erzeugung zugeschaltet werden können (vgl. etwa IEA 2010,145 f.). Die Bundesregierung erwartet entsprechend, dassdie Kapazität der erneuerbaren Energien von 65 GW 2008auf 103 GW im Jahr 2030 ansteigen wird (BMU Leitszena-rio 2009). Abhängig von der Entwicklung der Stromnachfra-ge werden die konventionellen Kapazitäten allerdings nur um15 bis 30 GW zurückgehen (vgl. dena 2010,13).

Diese reine Bereitstellung von Kraftwerkskapazitäten lässtdie Kosten der Energieversorgung ansteigen. Auch sind vie-le der derzeit installierten konventionellen Kraftwerkstypentechnisch nur eingeschränkt für einen kurzfristigen Last-ausgleich ausgelegt. Schließlich können die Fluktuationenin der Einspeisung aus erneuerbaren Energiequellen nurmit Unsicherheit und sehr kurzfristig vorhergesagt werden.So wird insgesamt erwartet, dass die Herausforderungenfür eine sichere und bezahlbare Energieversorgung zuneh-men werden (vgl. dena 2010, 112; IEA 2010, 147 f.).

Die wesentliche Voraussetzung zur Integration derart hoherAnteile fluktuierender erneuerbarer Energien in das Versor-

Abb. 1Pumpspeicherkapazitäten

Anteil der Pumpspeicherkapazität an der gesamten Kraftwerkskapazität 2007

0 %

1 - 3 %

4 - 5 %

6 - 10 %

11 - 20 %

> 20 %

Keine Angabe

Quelle: EIA (2010), International Energy Statistics, Stand: 10.08.2010.

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Im Blickpunkt

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gungssystem ist eine Erhöhung der Flexibilität des Energie-systems (vgl. IEA 2010, 149). Dies gilt insbesondere, fallsder fluktuierenden Einspeisung nicht über Abregelung dererzeugten Energie begegnet und das Klimaschutzpotentialder installierten Kapazitäten an erneuerbaren Energien vollausgeschöpft werden soll. Die Flexibilisierung muss dabeiauf eine stärkere (zeitliche) Entkopplung von Stromnachfra-ge und -angebot zielen. Sie erfordert die Transformation desgesamten Systems und die effiziente Kombination mehre-rer Maßnahmen (vgl. dena 2010, 87). In Betracht kommeneine (geographische) Vergrößerung des gesamten Systemszur weiteren Streuung der variabel einspeisenden Anlagen,die Verbesserung der Prognosequalität, neue schnell zu-schaltbare Kraftwerkskapazitäten sowie gezieltes Lastma-nagement über erweiterte Kommunikationsmöglichkeitenzwischen dem Versorgungssystem und den Nachfragern.Zentrale Bausteine sind dabei jedoch vor allem Energie-speicher (vgl. auch IEA 2010, 149 ff.).

Die Notwendigkeit dieser Flexibilisierung verdeutlicht bereitsheute Dänemark, das über 17% der Elektrizität aus Wind-kraft bezieht. Da Dänemark aufgrund der topographischenGegebenheiten über keinerlei Pumpspeicher verfügt (vgl.Abb. 1), wird Wind-Strom bei Überproduktion nach Nor-wegen exportiert, wo dieser mit Hilfe von Pumpspeichern»aufbewahrt« werden kann (vgl. Barrett 2009).

Gegeben die Ausbauziele für erneuerbare Energie, rechnetdie dena bereits bis zum Jahr 2020 mit kritischen Situationen,in denen die eingespeiste Leistung im Rahmen des Erzeu-gungsmanagements herabgeregelt werden müsste. Um statt-dessen das volle Potential der Anlagen nutzen zu können, wä-ren bis zum Jahr 2020 etwa 14 GW zusätzliche Speicherka-pazitäten notwendig (vgl. dena 2008, 51 ff.) – bei einer ge-genwärtig installierten Pumpspeicherkapazität von rund 5,2 GW. Dabei sind die Ausbaupotentiale für Pumpspeicher-werke in Deutschland wie in vielen anderen Ländern weitge-hend erschöpft. Eine gewisse Steigerung der installierten Ka-pazität erwartet die dena insbesondere noch durch »Repo-wering« bestehender Anlagen (vgl. auch dena 2010, 72 f.).

Grundsätzlich gibt es verschiedene Alternativen zur Spei-cherung von Energie bzw. Strom. Mechanische Speicherwie die betrachteten Pumpspeicher oder auch Druckluft-speicher speichern Strom in kinetischer oder potentiellerForm. Elektrochemische Speicher wie Batterien nutzenelektrochemische Bindungsenergie zur Speicherung.Schließlich gibt es rein elektrische Speicher (Kondensato-ren) auf Basis elektromagnetischer oder statischer Felder(vgl. dena 2010, 62 ff.).

Technische Anforderungen der einzelnen Systemfunktionen,wie etwa die Bereitstellung von Regelenergie oder der Aus-gleich von Lastunterschieden, bestimmen grundsätzlich dieEinsatzmöglichkeiten der Technologien. Verfügbarkeit, Kos-

ten, Lebensdauer und Zyklenfestigkeit sprechen für Pump-speicher (vgl. auch BMWi 2009, 25 ff.), die letztlich für na-hezu alle großtechnischen Einsatzbereiche allein oder vor-rangig zur Verfügung stehen. Zusammen mit den wenigerflexibel einsetzbaren Druckluftspeichern weisen sie auch län-gerfristig, d.h. unter Einbezug erwarteter Entwicklungen, dieniedrigsten Vollkosten je gespeicherter Energieeinheit fürzentrale, großtechnische Energiespeicher auf (vgl. dena2010, 88 f.).

Ohne Zweifel stellt der Bau von Pumpspeicherkraftwer-ken einen erheblichen Eingriff in die Natur vor Ort dar. An-gesichts der technischen Alternativen ist ein ökonomischund ökologisch sinnvoller Klimaschutz aber derzeit ohnedas vollständige Ausschöpfen des Ausbaupotentials vonPumpspeichern schwer vorstellbar. Gleiches gilt für einenbegründeten Planungsstopp des Pumpspeicherwerkesin Atdorf.

Literatur

Barrett, S. (2009), »The Coming Global Climate-Technology Revolution«, Journal of Economic Perspectives 23(2), 53–75.BMU (2009), Leitszenario 2009 – Langfristszenarien und Strategien für denAusbau erneuerbarer Energien in Deutschland unter Berücksichtigung dereuropäischen und globalen Entwicklung, http://www.bmu.de/files/pdfs/all-gemein/application/pdf/leitszenario2009_bf.pdf.BMWi (2009), Stand und Entwicklungspotenzial der Speichertechniken fürElektroenergie – Ableitung von Anforderungen an und Auswirkungen auf dieInvestitionsgüterindustrie, Auftragsstudie 08/28, http://bmwi.de/BMWi/Re-daktion/PDF/Publikationen/Studien/speichertechniken-elektroenergie,pro-perty=pdf,bereich=bmwi,sprache=de,rwb=true.pdf.dena (2008), Elektrizitätswirtschaftliche und energiepolitische Auswirkungender Erhebung von Netznutzungsentgelten für den Speicherstrombezug vonPumpspeicherwerken, http://www.dena.de/de/themen/thema-esd/publika-tionen/publikation/pumpspeicherstudie/.dena (2010), Analyse der Notwendigkeit des Ausbaus von Pumpspeicher-werken und anderen Stromspeichern zur Integration der erneuerbaren Ener-gien, http://www.dena.de/de/themen/thema-esd/publikationen/publikati-on/analyse-psw-integration-ee/.EIA (2010), International Energy Statistics, Stand: 10. August 2010.Handelszeitung (2009), »Schweiz könnte ausgelassen werden«, 9. Dezem-ber 2009, http://www.handelszeitung.ch/artikel/Unternehmen-_Schweiz-ko-ennte-ausgelassen-werden_650310.html, aufgerufen am 9. August 2010.IEA (2009), Energy Policies of IEA Countries, Luxembourg – 2008 Review,Paris 2009.IEA (2010), Energy Technologies Perspectives 2010 – Scenarios & Strategiesto 2050, Paris, 2010.Inage, S.-I. (2009), »Prospects for Large-Scale Energy Storage in Decarbo-nised Power Grids«, IEA Working Paper, Paris.

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ifo Forschungsberichte

29 Chancen und Risiken veränderter Rahmenbedingungen für die Dienstleistungsunternehmen durch die EU-Dienstleis-tungsrichtline.Von G. Nerb, H. Schmalholz, B. Frank, M. Gornig u.a. 348 S. 2006. € 20,–

30 Ökonomische Auswirkungen umweltpolitischer Regulierungen. Eine Machbarkeitsstudie vor dem Hintergrund der Anforderungen der Richtlinie 96/61/EG über die integrierte Vermeidung und Verminderung von Umweltverschmut-zungen (IVU-Richtlinie).Von T. Rave, U. Triebswetter. 161 S. 2006. € 20,–

31 Tu felix Austria: Wachstums- und Beschäftigungspolitik in Österreich und Deutschland im Vergleich.Von Th. Büttner, P. Egger, H. Hofmann, Chr. Holzner u.a. 98 S. 2006. € 20,–

32 Auswirkungen des Bundesverfassungsgerichtsurteils zum Sportwettmarkt auf die deutsche Volkswirtschaft.Von L. Hornuf unter Mitarb. von G. Britschkat, R. Lechner, G. Nerb. 51 S. 2006. € 40,–

33 ifo Konjunkturumfragen und Konjunkturanalysen. Ausgewählte methodische Aufsätze aus dem ifo Schnelldienst.Von K. Abberger, G. Flaig, W. Nierhaus. 240 S. 2007. € 42,–

34 Das Rentenmodell der katholischen Verbände.Von M. Werding, H. Hofmann, H.-J. Reinhard. 213 S. 2007. € 18,–

35 Different approches to implementation of the IPPC Directive and their impact on competitiveness. Some evidence fromthe steel and glass industry.Von T. Rave, U. Triebswetter. 271 S. 2007. € 25,–

36 Positionierung der deutschen Industrie im globalen Konsolidierungsprozess.Von M. Reinhard, H. Schedl unter Mitarb. v. A. Buchwald, R. Henger. 144 S. 2007. € 25,–

37 Industrienahe Forschungs- und Technologiepolitik der chinesischen Regierung.Von G. Nerb, M. Reinhard, Chr. Schmidkonz unter Mitarb. von S. Schönherr, M. Taube, C. Wasmer. 139 S. 2007. € 20,–

38 Übertragbarkeit risikoabhängiger Alterungsrückstellungen in der privaten Krankenversicherung.Von V. Meier, M. Werding. 41 S. 2007. € 18,–

39 Exportentwicklung und Exportpotenziale der bayerischen Außenwirtschaft.Von M. Larch, G. Nerb, R. Osterkamp. 240 S. 2007. € 20,–

40 Sektorspezifische Regulierung: Transitorisch oder ad infinitum? Eine internationale Bestandsaufnahme von Regulie-rungsinstitutionen.Von H. Schedl, K. Sülzle. 124 S. 2008. € 15,–

41 Analyse und Weiterentwicklung des kommunalen Finanzausgleichs in Nordrhein-Westfalen.Von T. Büttner, F. Holm-Hadulla, R. Parsche, C. Starbatty. 213 S. 2008. € 25,–

42 Fertility and Prosperity. Links Between Demography and Economic Growth.Von M. Werding, S. Munz, V. Gács. 280 S. 2008. € 23,–

43 Valuation of Privatization in Europe by Experts and Stakeholders: Results of Explorative Surveys and Interviews. EU-supported Project Understanding Privatization Policy: Political Economy and Welfare Effects. Von G. Nerb, S. Schönherr, B. Schroeder, L. Hornuf, J. Koenig, M. Mauch, J. Pahlke. 82 S. 2008. € 18,–

44 Methoden der Steuerschätzung im internationalen Vergleich.Von Th. Büttner, B. Kauder. 210 S. 2008. € 20,–

45 Der kommunale Finanzausgleich in Mecklenburg-Vorpommern: Langfristige Entwicklung und Reformperspektiven. Teil I: Der vertikale Finanzausgleich.Von Th. Büttner, P. Enß, F. Holm-Hadulla, R. Schwager, Chr. Starbatty, W. Webering.200 S. 2010. € 20,–

46 Der kommunale Finanzausgleich in Mecklenburg-Vorpommern: Langfristige Entwicklung und Reformperspektiven. Teil II: Der horizontale Finanzausgleich.Von Th. Büttner, P. Enß, F. Holm-Hadulla, R. Schwager, Chr. Starbatty, W. Webering.210 S. 2010. € 20,–

47 Wasser – ein wesentlicher Standortfaktor für die bayerische Wirtschaft.Von U. Triebswetter, J. Wackerbauer. 160 S. 2010. € 20,–

48 Wettbewerbsposition der Stadt Frankfurt im Verhältnis zum Umland.Von Th. Büttner, B. Kauder. 104 S. 2010. € 20,–

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im Internet: http://www.cesifo-group.de

ifo Institut für Wirtschaftsforschung

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