Impfung und Impfzwang zwischen persönlicher Freiheit und ... · fung von Jnfektionskrankheiten bei...

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Zurich Open Repository and Archive University of Zurich Main Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich www.zora.uzh.ch Year: 2017 Impfung und Impfzwang zwischen persönlicher Freiheit und Schutz der öffentlichen Gesundheit Langer, Lorenz Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-136340 Journal Article Originally published at: Langer, Lorenz (2017). Impfung und Impfzwang zwischen persönlicher Freiheit und Schutz der öf- fentlichen Gesundheit. Zeitschrift für Schweizerisches Recht (ZSR):87-114.

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Zurich Open Repository andArchiveUniversity of ZurichMain LibraryStrickhofstrasse 39CH-8057 Zurichwww.zora.uzh.ch

Year: 2017

Impfung und Impfzwang zwischen persönlicher Freiheit und Schutz deröffentlichen Gesundheit

Langer, Lorenz

Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of ZurichZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-136340Journal Article

Originally published at:Langer, Lorenz (2017). Impfung und Impfzwang zwischen persönlicher Freiheit und Schutz der öf-fentlichen Gesundheit. Zeitschrift für Schweizerisches Recht (ZSR):87-114.

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Impfung und Impfzwang zwischen personlicher Freiheit und Schutz der offentlichen~Gesundheit

LORENZ LAN GER *

Schlagworter: Impfungen, Epidemiengesetz, personliche Freiheit, Religionsfreiheit, Recht auf Gesundheit, Grundrechtseinschrankung

A. Einleitung

Through his tears, speaking hoarseiy, Kenny said: «Aii my friends are getting polio! AL/ my friends are going to be crippies o r going to be dead' >> In response M r. Cantor piaced his hand on Ke1wy's shouider ... he thought: Kenny's right. Every one ofthem. Those on thefield and those on the bieachers. The girlsjumping rope. They 're ail kids, and polio is going after kids, and it wiil sweep through this piace and destroy them ai/. Each moming that l show up there 'Li be another few g o ne. 1

Mit diesen beklemmenden Worten beschreibt Philip Roth das Gefühl der Ohn­macht angesichts einer gesichtslosen, unfassbaren Krankheit. Sein Roman Ne­mesis spielt wahrend einer Poliomyelitis- oder Kinderlahmungsepidemie in New Jersey, wie sie wahrend Roths Kindheit in den 1940er Jahren alle fünf bis sechs Jahre ausbrach.

Uns ist diese Angst heute fremd: Die letzte Ansteckung mit dem Polio-Virus in der Schweiz liegt über dreissig Jahre zurück. 2 Seit der Einführung einer ers­ten Impfung 1955 nahm die Zahl der Erkrankungen weltweit rapide ab. Alleine zwischen 1988 und 2015 reduzierten sich die Ansteckungen um über 99%.3

Dr. iu r. , lic. phil., MPhil , RA; Lehrbeauftragter, Universitiit Zürich , und Senior Research Fellow, Zentrum für Demokratie Aarau. Der Autor hat keinerlei Beziehungen zur Pharmaindustrie, doch stamrnt er aus einer Apothekerfamilie - das mag immerhin sei ne ido!a specus beeinflusst haben . al so jene Überzeugungen, die nach Francis Bacon durch Erziehung und persiinlichen Umgang gepriigt werden (Novwn Organum. l, xlii).

l PHILIP ROTH, Nemesis, London 2010, S. 114-115. 2 EIDGENóSSISCHE KoMMISSIO N FÜR IMPFFRAGEN , Fact Sheet: Diphtherie, Starrkrampf, Keuch­

husten, KinderHihmung, H i b, Hepatitis B, Marz 2015 , S. l. 3 J uu E R. GARON ET AL. , The Challenge ofGiobal Poliomyelitis Eradication. lnfectious Disease

Clinics ofNorth America 2015 , S.651.

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Lorenz Langer

In manchen Gegenden Afrikas und Asiens bleibt der Virus aber weiterhin la­tent: 2014 erfolgten Ausbrüche u.a. in Syrien, Irak und Afghanistan, worauf die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine gesundheitliche Notlage von intemationaler Tragweite ausrief, die dringend weitere koordinierte MaBnah­men erfordere, um ein weltweites Wiederaufleben der KinderHihmung zu ver­hindern.4

Weil somit weiterhin die Gefahr besteht, dass der Virus auch wieder in die Schweiz eingeschleppt werden konnte, gehort die Polioimpfung unter dem Schweizerischen Impfplan zu den Basisimpfungen, «die uner!asslich für die in­dividuelle und offentliche Gesundheit>> und folglich von der Àrzteschaft ihren Patientinnen und Patienten zu empfehlen sind.5

Eltern konnen aber diese Empfehlung ohne Weiteres ignorieren . In der Schweiz besteht für Polio kein Impfzwang, das heisst, es gibt keine allgemeine rechtliche Vorschrift zur lmpfung, deren Missachtung bestraft würde.6 Das gilt momentan nicht nur für die Kinderlahmung, sondern für alle Infektionskrank­heiten . Das neue Epidemiengesetz des Bundes, das Anfang 2016 in Kraft trat, sieht zwar weiterhin die Moglichkeit vor, dass die Kantone Impfungen von ge­fahrdeten Bevolkerungsgruppen für obligatorisch erklaren, sofern eine erheb­liche Gefahr besteht:7 Genf und Neuenburg schreiben denn auch nominell die Impfung gegen Diphterie vor,8 doch wird in beiden Kantonen die Bestimmung seit Iangerem nicht mehr durchgesetzt. 9 Auch der Bund selbst kann unter dem Epidemiengesetz in «besonderen Lagen>> Impfungen für obligatmisch erkla­ren - bspw. , wenn die WHO festgestellt hat, dass eine gesundheitliche Notlage von intemationaler Tragweite besteht und durch diese in der Schweiz eine Ge­fahrdung der offentlichen Gesundheit droht. 10 Die Vorschrift allein konstituiert

4 WHO Statement on the Meeting of the Jntemational Health Regulations Emergency Committee Conceming the lntemational Spread ofWi1d Poliovirus, 5. Mai 2014.

5 BUNDESAMT FÜR G ESUNDHEIT, Schweizerischer fmpfp1an , 2016, S. 7: Die vollsüindige Jmpfse­rie beinhaltet drei Dosen i m A1ter von 2, 4 und 6 Monaten und j e ei ne Auffrischimpfung i m Al­ter von 15-24 Monaten und 4-7 Jahren.

6 Jm Folgenden wird der Begriff lmpfzwang verwendet, wenn Nichtimpfung mit Strafe bedroht ist (wobei der Strafbegriff noch zu prazisieren sein wird, s. unten bei Fn. 192). Physischer Zwang ist nicht vorausgesetzt und war auch histori sch die absol u te Ausnahme. Die Anordnung einer Impfung, deren Missachtung nicht strafrechtlich sanktionie11 wird, bezeichne ich al s Impf­obligatorium.

7 Art. 22 Bundesgesetz über die Bekampfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (EpG) vom 28. September 2012, SR 818. I O l.

8 Art. 2 Reg1ement concernant les vaccinations obligatoires et facultatives (GE) vom 28. Februar 1979, RSG K l l 5.08; Art. l Reg1ement sur les vaccinations et les revaccinations (NE) vom 4. J u li 1961 , RSN 807.201.

9 Die kantona1e Strafbestimmung, auf welche die Neuenburger Bestimmung verwe ist, ist 1995 gestrichen worden (vgl. Loi du 6février 1995, RSN800.1); in Genf wird an saumige Eltem eine Mahnung verschickt, deren Missachtung aber keine Konsequenzen zeitigt (A NNA RüEFLI, lmpfzwang in de n Kantonen, Sicherheit & Recht 2012, S. 119).

lO Art. 6 EpG, vgl. oben, F n. 4.

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aber noch keinen potentiellen lmpfzwang, denn es handelt sich dabei um eine lex impetjecta: Das Gesetz selbst sieht keine Sanktionen vor, wenn eine für ob­ligatorisch erkliirte Impfung verweigert wird. 11

In zahlreichen anderen Uindem Europas hingegen müssen Kinder nicht nur gegen Kinderlahmung, sondem auch gegen Diphterie und Tetanus geimpft wer­den.12 Wer seine Kinder nicht impfen lasst, muss rechtliche Sanktionen gewarti­gen;13 es liegt also ein eigentlicher Impfzwang vor. Ein solcher Impfzwang gilt in Europa teilweise auch für Hepatitis A und B, Haemophilus-influenzae-b, Keuchhusten, Rotaviren, Tetanus, Tuberkulose, Varizellen, Windpocken, Hu­mane Papillomaviren, Pneumokokken sowie Masern, Mumps und Roteln. 14

Impfungen zur Priivention von lnfektionskrankheiten sind aber keineswegs unumstritten . Im Vordergrund stehen dabei Bedenken, wonach lmpfungen nicht nur keinen Schutz bieten, sondern selbst ganz erhebliche Gesundheitsschaden nach sich ziehen konnen- so sehen Impfgesetze selbst in der Regel eine Haft­pflicht des Staates bei sog. lmpfschiiden vor. 15 Eine Impfung beeintrachtigt -unabhangig von der Art der Verabreichung - die korperliche Integritiit, und sie kann auch gegen religiose oder weltanschauliche Überzeugungen verstossen. 16

In den letzten Jahren war deshalb nicht nur in der Schweiz eine Abnahme der lmpfbereitschaft zu beobachten. 17 Dass lmpfungen mit gewissen Risiken ver­bunden sin d, stellen zwar au eh die Befürworter nicht in Abrede; si e sin d jedoch der Auffassung, dass der Nutzen diese Risiken bei weitem überwiegt.

lm Folgenden werden diese Perspektiven gegeneinander abgewogen und un­tersucht, ob und unter welchen Voraussetzungen es gerechtfertigt sein konnte, lmpfungen nicht nur zu empfehlen und zu fordern, sondern gesetzlich für obli­gatorisch zu erklaren und sogar mit Strafandrohung zu erzwingen. Immunisie­rung ist natürlich ein medizinisches Thema; für eine umfassende Analyse müsste man ausserdem soziologische, okonomische und psychologische As-

li Art. 32 EpG (Durchsetzung der Massnahmen) schliesst Praventionsmassnahrnen nicht mit e in; denkbar sind immerhin Arbeits- oder dienstrechtliche Sanktionen: THOMAS Gi\CHTER/SARA LóPEZ, Entwurf zu einer Totalrevision des Epidemiengesetzes, Sicherheit & Recht 2011 , S. 120. V g l. a be r un te n bei F n. 77.

12 M. H AVER KATE ET AL. , Mandatory and Recommended Yaccination in the EU, Iceland and Nor­way, Eurosurveillance 2012, S. 4: Belgien (n ur Polio ), Bulgarien, Frankreich, Griechenland, lta­lien, Lettland, Malta, Polen , Rumanien , Slowakei, Slowenien, Tschechien. Ungam.

13 Z.B. Code de la santé publique (Frankreich), Art. L3116-4 i.Y.m. A1t. L3111-2 und L3111 -3 : die Zuwiderhand!ung wird mit bis zu sechs Monaten Gefàngnis und einer Busse von 3 750 Euro bestraft.

14 HAV ERKATE (Fn. 12), S. 3 f. 15 Z. B. für die Schweiz Art. 64 EpG; für Deutsch!and: § 60 Gesetz zur Verhütung und Bekamp­

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16 Dazu unten, Abschnitt C. 17 Besorgt über sinkende lrnpf-Diszip!in, Neue Zürcher Zeitung, 18. September 2001, S. 17; Herd

at Risk, Economist, 5. Mai 2012; FRIEDRICH HOFM ANN, Die lmpfmüdigkeit in Deutschland, Public Health Forum 2015. S. 24 ff.

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pekte berücksichtigen. 18 Die heftigen Auseinandersetzungen über Impfungen sind überdies Platzhalter für grundlegende gesellschaftliche Fragen. 19 Ich be­schranke mich hier auf die rechtliche Perspektive. Immerhin soll eine einlei­tende historische Übersicht zeigen, dass Widerstand gegen zwangsweise Imp­fungen kein neues Phanomen ist, und insbesondere dass die einschlagigen Gesetze schon sehr früh, sozusagen avant la lettre, mit grund- und menschen­rechtlichen Argumenten bekampft wurden. Auf die Entwicklung in der Schweiz wird dabei etwas detaillierter eingegangen (B). lnfektionskrankheiten un d ihre Bekampfung sin d aber e in transnationales Problem par excellence: Es wird zwar immer wieder festgehalten, dass Krankheiten keine Grenzen kenn­ten; die juristische Literatur behandelt sie dann aber doch ganz vorwiegend aus nationaler Perspektive. Nachstehend sollen deshalb auch einige rechtsver­gleichende und internationale Aspekte berücksichtigt werden. Die Ausführun­gen konzentrieren sich auf grundrechtliche Fragen, die sich im Zusammen­hang mit dem lmpfzwang stellen (C), wobei das zu schützende offentlichen lnteresse und die Verhaltnismassigkeit von Zwangsmassnahmen im Vorder­grund stehen (D). Dabei wird auch auf die Frage des Expertentums und der So­lidaritat eingegangen.

B. Der lmpfzwang aus historischer und politischer Perspektive

In der Einleitung wurde bereits darauf hingewiesen: In den industrialisierten Landern begegnen uns die Schrecken zahlreicher Infektionskrankheiten heute nur noch in historischen oder literarischen Schilderungen. Die Pocken, die am Anfang der Impfgeschichte stehen, sind inzwischen sogar weltweit ausgerot­tet. 20 Spricht man mit Kinderarztinnen und -arzten über das Phanomen der abnehmenden Impfbereitschaft, so ist dies die meistgenannte Erklarung: Zahl­reiche ansteckende Krankheiten seien aus dem kollektiven Bewusstsein ver­schwunden; ihre Folgen würden deshalb nur noch als hypothetische Gefahr wahrgenommen, wohingegen die mit einer Impfung verbundenen Risiken sehr viel realer schienen. Der Begriff << Kinderkrankheiten» steht heute vor

18 In den USA etwa gibt es zahlreiche Untersuchungen zum Einfluss von Bildungsstand und Ein­kommen auf die Impfentscheide von Eltem, vgl. z. B. MI CHAEL S. BIR NBAUM ET AL., Correlates of High Vaccination Exemption Rates among Kindergartens, Vaccine 2013 , S. 750ff.; zu den psychologischen Aspekten vgl. DAVID MARKS ET AL .. Health Psychology Theory, Research and Practice, 4. Aufl. , Los Angeles 2015, S. 306-313. Bei einer iikonomischen Analyse steht das Kosten-Nutzen-Verhaltnis i m Vordergrund (z. B. T. Szucs , Cost-benetits o f Vaccination Programmes, Vaccine 2000, S. 549).

19 Vgl. ELENA CoNJ S, Vaccine Nation: America·s Changing Relationship with lmmunization. Chi­cago 2015, S. 2: <<At a deeper level, lthe vaccination debate] was a debate about the ro le o f chil­dren in our society, ou r health care politics, gender relations, chronic disease risk, and more >> .

20 WORLD HEALTH ASSEMBLY, Declaration of Global Eradication of Smallpox, 8. Mai 1980, WHA33.3.

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allem für einen «anfanglichen Mangel, der mit der Zeit verschwindet>>2 1 - und nicht mehr für Infektionen, die einst als «Würgengel der Kinderwe1t>> bezeich­net wurden. 22

Impfungen wiiren so also Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden. Das mag einen Tei1 der Wahrheit treffend beschreiben: A1s bspw. Polio noch in den USA wütete, baten Eltem darum, ihre Kinder an k1inischen Yersuchen tei1neh­men zu lassen.23 Diese Begründung übersieht aber, dass (heftiger) Protest gegen Impfungen fast zeitg1eich mit den ersten lmpfversuchen eingesetzt hat, die Ed­ward Jenner 1796 mit Kuhpockenviren durchführte (daher auch der Begriff vaccination oder Yakzination, von vacca, 1at. Kuh). 24 Nach anfang1icher Skep­sis wurde die neue Methode weltweit adoptiert,25 doch trat auch sofort Wider­stand gegen die «Yerjauchung» des Blutes durch Kuh1ymphe auf.26

I. Nationa1e Gesetzgebung

Dieser Widerstand verhinderte nicht, dass ba1d in zahlreichen Landem ein ge­setz1icher Impfzwang gegen Pocken eingeführt wurde: zuerst in Bayern (1807), 1810 in Danemark, 1811 in Norwegen, 1815 in Baden und Preussen, und 1816 in Schweden.27 In England und Wa1es schrieb der Vaccination Act von 1853 die Impfung von Neugeborenen innerha1b dreier Monate vor. 28 1867 wurde der Impfzwang zeitlich weiter ausgedehnt,29 was lmpfgegner als Ver1et­zung der rights of man und des right of parents bekampften. 30 Angesichts an­ha1tender Proteste wurde 1898 schliesslich eine Gewissensk1ausel eingeführt -die zugleich das Konzept der conscientious objection im englischen Recht be-

21 Duden - Deutsches Uni versalworterbuch. 8. Aufl. , Berlín 2015 , S. 997. 22 B uN DESRAT, Botschaft an die hohe Bundesversarrunlung, betreffend den Gesetzentwurf über

Einrichtungen und Massnahmen zur Verhütung und Bekampfung gemeingefáhrlicher Epide­rnien, BBI 1880 I 53 18. Dezember 1879, S. 62 .

23 CH ARLOTTE JACOBS , Jonas Salk: A Life, New York 2015 , S. 146. 24 E owAR D JENNER, An Jnquiry into the Causes and Effects of the Yariolae Yaccinae, London

1798, S. 32. Für die virologi schen Details s. DERR IC K BAXB Y, Jenner' s Smallpox Yaccine: The Ridd1e of Yaccinia Virus and its Origin , London 198 1. - Aus (heutiger) forschungsethischer Sicht sind Jenners Experimente an Minderjahrigen (inkl. seinem elf Monate alten Sohn) hochst problematisch.

25 FR ANK FENNE R ET AL. , Smal1pox and !ts Eradication , Genf 1988, S. 261. 26 W OLFG ANG U . E c KART, Geschichte der Medizin : Fakten, Konzepte, Haltungen 6. Au f!. , Heide1-

berg 2009, S. 182. Ygl. dazu v.a. die Karrikatur von James Gillray (<<The Cow-Pock-or-the Wonderful Effects of the New Inoculation» ), in: Vide- the Publications o f ye Anti- Yaccine So­ciety, London 1802.

27 FEN NER ET AL. (F n. 25), S. 272. 28 Yaccination Act of 1853 (16 & 17 Yict. ) e. 100. 29 Bis zum Alter von 14 Jahren: Yaccination Act of 1867 (30 & 31 Yict.) e. 84 § 31. 30 WI LLJ AM HuME-ROTHERY, Light for Electors, National Anti-Compulsory Yaccination Reporter,

Dezember 1878, zit. in: Ro s ERT M. WoLFEILI SA K. SH ARP, Anti-vaccinationists Past and Present, British Medica1 Journal 2002 , S. 431.

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gründete. 31 Auch im eben geeinten Deutschen Kaiserreich wurde nach einer schweren Pocken-Epidemie 1874 ein Impfgesetz verabschiedet, wonach Kin­der sowoh1 im ersten wie auch im zwo1ften Lebensjahr geimpft werden muss­ten; (temporare) Ausnahmen waren nur aus medizinischen Gründen vorgese­hen. 32 Das Gesetz war im Reichstag heftig umstritten: Die Gegner warnten, dass moglicherweise <<durch die Überführung fremden Giftes Tausende und Abertausende» geschadigt würden;33 sie beriefen sich ebenfalls auf die person-1iche Freiheit und die Farni1ienfreiheit und protestierten gegen eine <<Staats-A11-machtigkeit».34 Die Befürworter hingegen argumentierten, der Staat habe <<die Pflicht, die Freiheit des Einze1nen soweit einzuschranken, als es das woh1er­kannte Interesse der Gesarnmtheit verlang[e].>>35

Auf dem Gebiet der heutigen Schweiz schrieb zuerst Zürich 1836 die Po­ckenimpfung vor; nach der Gründung des Bundesstaates fo1gten in den 1860er Jahren die Kantone Bem, Aargau, Basel-Stadt, St. Gallen, Thurgau und die Waadt.36 Die Bundesverfassung von 1848 hatte dem Bund nur die Kompetenz eingeraumt, bei gemeingefahrlichen Seuchen gesundheitspolizei1iche Yerfii­gungen zu erlassenY Mit der revidierten Yerfassung von 1874 wurde dem Bund exp1izit auch eine Gesetzgebungskompetenz bei gemeingefahrlichen Epi­demien gewahtt. 38 Gestützt auf diese Bestimmung 1egte der Bundesrat 1879 der Bundesversammlung den Entwurf für ei n Bundesgesetz zur Yerhütung und Be­kampfung gemeingefahrlicher Epidenúen vor.39 Als gemeingefahrlich galten Pocken, die Cholera, Fleckfieber und die Pest,40 doch konnte der Bundesrat den Anwendungsbereich auch auf andere epidemische Krankheiten ausdehnen, etwa au f Masem und Scharlach, die <<Würgengel der Kinderwelt>>.41 In der par­lamentarischen Beratung fiel diese Kompetenz weg; beibehalten wurde jedoch der vorgeschlagene Impfzwang gegen Pocken.42 Jedes Kind in der Schweiz musste geimpft werden, ansonsten es weder in eine Offentliche noch in eine pri-

31 Yaccination Acl 1898 (6 1 & 62 Yict.) e. 49, § 2(1 ): WOLFEISH ARP (Fn. 30). S. 431. 32 §§ l- 3 lmpfgesetz vom 8. A pri l 1874, RGBI N r. l l S. 31. 33 Aus den Yerhandlungen des Reichstags, in: CARL JACOBI. Das Reichs-lmpf-Gesetz vom

8. A pri l 1874, Berlin 1875, S. 7 (Reimer). 34 JACOBI (F n. 33), S. 21 (Merkle). 35 JACOBI (F n. 33), S. 4 (Lowe). 36 1\ATIONALRAT, Bericht der Minderheit der nationalriithlichen Commission über den Gesetzes­

entwurf betreffend MaBnahmen gegen gemeingefahrliche Epidemien, BBI 1881 IV 405, 2. No­vember 1881 , S. 439-442.

37 Art. 59 aBY ( 1848). 38 A1t. 69 aBV ( 1874). 39 Bundesgesez betreffend Einrichtungen und Massnahmen zur Yerhütung und Bekampfung ge-

meingefáhrlicher Epidemien (Entwurf EpG 1879), BBI 1880 l l 07. 40 An. l EntwurfEpG 1879. 41 Oben. F n. 22. 42 An. 13 Bundesgesetz betreffend MaBnahmen gegen gemei ngefáhrliche Epidemien (Bundesbe­

schluss), BBI 1882 1297 (EpG 1882).

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vate Schulen definitiv aufgenommen werden durfte.43 Bei Ausbruch der Pocken konnten auch Erwachsene zur (Re-)Vakzination gezwungen werden.44 Zuwi­derhandlungen sollten mit Busse bis zu l 000 Franken und in schweren Hillen mit Haft bis zu sechs Monaten bestraft werden.45

In seiner Botschaft hatte der Bundesrat die Effektiviüit der «Kuhpokenimp­fung» betont, mit deren Einführung die Pocken <<wie mit einem Schlage» abge­nommen hiitten, und er hatte auf die positiven Impfzwang-Erfahrungen in ande­ren Liindem verwiesen.46 Im Gegensatz zu jenen Liindem fange die Schweiz aber eben erst an zu erortem, «o b au eh bei Seuchengefahr gegenüber der personlichen Freiheit der alte Grundsaz <Salus publica lex suprema> seine Anwendung finde». 47 Zweifellos habe «angesichts einer drohenden Blattemepidemie jeder Staat ein hohes Interesse daran, daB ein moglichst groBer Theil seiner Angehüri­gen gut geimpft sei.»48 Die Prophylaxe gegen Seuchen konne aber ihre Mission nicht erfüllen, wenn nicht «der Bürger ... auch gewisse Verpflichtungen auf sich nimmt un d vor Allem, wo es das gemeinsame W o h! erheischt, gewisse Beschriin­kungen seiner individuellen Freiheit.»49 Zwar anerkannte der Bundesrat, dass sol­che Verpflichtungen «das schonste Recht des Bürgers, seine personliche Freiheit, die Unabhiingigkeit der Familie» tief und einschneidend berührten.50 Er riiumte auch ein, dass es prinzipiell vorzuziehen wiire, «wenn der Impfling, resp. dessen Angehürige» die lmpfung «wegen einer sehr groBen Wahrscheinlichkeit des Nut­zens freiwillig wag[t]en>>. In der Praxis habe sich diese Freiheit aber nie bewiihrt: Die Zahl derjenigen, die «nicht weitsichtig genug sind, um auch, wiihrend die Blattemgefahr noch feme ist, sich um die nothigen SchuzmaBregeln zu küm­mem,>> sei stets zu gross gewesen, und mit deren sorgloser Nachliissigkeit wirke dann «die ni e ermüdende Agitation der Gegner zusammen, von deren übertriebe­nen oder ganz unrichtigen Verdiichtigungen stets etwas hiingen>> bliebeY

Der Entwurf des Epidemiengesetzes fand Unterstützung vor allem seitens der Àrzteschaft. Der Àrztliche Centralverein sprach sich für einen Impfzwang aus, und Jakob Sonderegger, Priisident des Vereins und Gründer des Kantons­spitals S t. Gallen, verfasste ei n Pamphlet, in welcher er die Annahme des Epi­demiengesetzes und die Impfung gegen Pocken als «Humanitiitsfrage» be­zeichnete. 52

43 Art. 14 EpG 1882. 44 Art. 18 EpG 1882. 45 A11. 21 EpG 1882; i m Wiederholungsfall konnte die Strafe bis au f das Doppelte erhi:iht werden. 46 BUNDESRAT (Fn. 22), S. 82. 47 BUNDESRAT (Fn. 22), S. 54. Für das Original des Zitats s. Cicero, De legibus, III, 8. 48 BUNDESRAT (Fn. 22), S. 82. 49 BuNDESRAT (Fn. 22), S. 58. 50 B UNDES RAT (Fn. 22), S. 56. 51 BUNDESRAT (Fn. 22), S. 58. 52 JAKOB SONDEREGGER , Das eidgeni:issische Epidemiengesetz: Eine Humanitatsfrage, Zürich

1881.

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Aber auch die «Agitation der Gegner>> des Gesetzes setzte früh ein. Bereits 1877 richtete der Schweizerischer Verein gegen lmpfzwang eine Petition an die Bundesversammlung, in dem er sich gegen ein Gesetz wandte, das eine grosse Zahl von Staatsangehorigen zwinge, «ihr eigen Fleisch und Blut, oder das ihrer Kinder dazu hergeben [zu] müssen, um es mit einem thierischen Auswurfstoff, der nun einmal nicht in's gesunde Blut gehort, zu verunreinigen .>> 53 Ebenfalls «im Namen der Humanitiit>> würde das Parlament aufgefordert, «dieses gesetz­liche Unrecht nicht mehr langer fortbestehen zu lassen, sondem jeden Bürger vor dieser Vergewaltigung seitens der Mediziner zu schützen>>. 54 Diese Vorbe­halte wurden auch von einer Minderheit der nationalratlichen Kommission ge­teilt, welche die Pockenimpfung für ineffektiv und gefahrlich hielt. 55 Gegen das verabschiedete Gesetz wurde auch umgehend das Referendum ergriffen; innert der Frist von 90 Tagen wurde mit über 80 000 Unterschriften die notwendige Zahl von 30 000 u m mehr als das Doppelte übertroffen. 56 Di e Vorlage wurde deutlich mit 79 % Nein-Stimmen abgelehnt; nur in Neuenburg fand sich eine Mehrheit, in mehreren kleinen Kantonen bewegte sich die Zahl der Ja-Stimmen (nicht der Prozentsatz!) im zweistelligen Bereich. 57 Der Impfzwang war der Hauptgrund für dieses klare Resultat: 58 Die revidierte Version des Gesetzes er­wahnte Impfungen überhaupt nicht und trat denn auch ohne Referendum 1887 in Kraft. 59

In der entsprechenden Botschaft bestatigte der Bundesrat aber seinen Glau­ben an die Wirksamkeit der Pockenimpfung und behielt sich den Erlass eines «seiner Zeit sich als nothwendig ergebenden Spezialgesetze[s] >> vor.60 1913 wurde die Bundeskompetenz zur Krankheitsbekampfung erneut ausgedehnt. 61

Und 1921 wurde der Bundesrat durch Gesetzesrevision ermachtigt, bei «ausser­ordentlichen Umstanden>> Massnahmen zu treffen , um die Verbreitung epide­mischer Krankheiten im lnnem des Landes zu verhindern. 62 Gestützt darauf führte der Bundesrat 1923 au f dem Verordnungsweg die obligatorische Pocken­impfung (beim Auftreten der Krankheit) doch noch ein.63 1924 machte ein Kla-

53 SCHIV EIZER ISC HER YEREI N GEGEN IMPFZWANG, Petilion an die hohe Bundesversammlung der schweizerischen Eidgenossenschaft in 8 ern, Zürich, 21. Februar 1877, S. 14.

54 VER EIN GEGEN IMPFZIVANG (F n. 53), S. 15. 55 NATIONALRAT (F n. 36), S. 407-446. Für die Kritik i m Standerat S. SONDE REGG ER (F n. 52). S. l 0. 56 881 1882 !V 257. 57 881 1882 IV 260 f. Das Resultat - wie auch di e Regelung durch die Kantone- fand internatio­

nal 8eachtung, vgl. Jacobson v. Massachusetts. 197 U.S. li (1905), S. 16, 32. 58 B UN DESRAT. 8otschaft zum Gesetzesentwurf betreffend Massnahmen gegen gemeingefahrliche

Epidemien , 8BI !886 11 535 1. J uni 1886. S. 546. 59 8undesgesetz betreffend MaBnahmen gegen gemeingefáhrliche Epidemien vom 2. J u li 1886. 60 8 uN DES RAT (Fn. 58), S. 547. 61 881 19 13 l 130. Vgl. dazu M ARK US M üLLER, Zwangsmassnahmen a1s Instrument der Krank­

heitsbekampfung: Das Epidemiengesetz und die personliche Frei hei t, Basel 1992 , S. 2 1. 62 AS 37 353. 63 AS 39 109.

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Impfung und lmpfzwa ng

ger vor Bundesgericht mü Verweis auf die Abstimmung von 1882 geltend, ei n solcher Zwang verstosse gegen den Volkswillen.64 Das Gericht wies die Klage ab, da die Zwangsimpfung als vorübergehende Massnahme bei ausserordentli­chen Umsüinden der Verhinderung einer epidemischen Krankheit diene; die Notwendigkeit im Einzelfall sei «eine reine, nur von den Verwaltungsbehorden zu losende Ermessens- und Sachverstandigenfrage», und es gehe nicht an, «den Schulstreit der Impfanhanger und Impfgegner vor den Ge1ichten austragen zu lassen».65 In der Folge machte der Bundesrat emeut von seiner Kompetenz Ge­brauch, die Pockenimpfung angesichts «ausserordentlicher Umstande» für Kin­der zwingend vorzuschreiben .66

Da es sich bei der Gesetzgebungskompetenz des Bundes um eine konkun·ie­rende Zustandigkeit handelte,67 blieb es den Kantonen unbenommen, ihrerseits Impfvorschriften zu erlassen.68 Diese Kompetenz wurde im neuen Epidemien­gesetz von 1970 explizit festgeschrieben .69 Der Bundesrat wies darauf hin , dass manche Krankheiten - wie etwa Polio- in der Schweiz fast verschwunden seien , in anderen Landern aber weiterhin existie1ten und deshalb auch hierzu­lande wieder auftreten konnten , «wenn die lmmunitat der Bevolkerung nicht auf einer genügenden Hohe gehalten wird. >> 70 Vor allem in Bezug auf Polio und Diphterie machten mehrere Kantone von dieser Moglichkeit Gebrauch; eine Beschwerde, wonach die zwangsweise Diphterieimpfung gegen das (da­mais noch ungeschriebene) Recht auf korperliche Integritat verstiesse, wurde vom Bundesgericht abgewiesen. 71

Für «gefahrdete Bevolkerungsgruppen>> blieb die kantonale Kompetenz, Impfungen anzuordnen, auch bei der letzten Revision des Epidemiengesetzes erhalten.72 Der Bundesrat hatte 2006 angesichts zunehmender Mobilitat und neuer Krankheiten - insbesondere SARS und der pandemischen Grippe HIN l - die Totalrevision des EpG initiiett.73 In unserem Kontext steht dabei

64 BGE 50 l 334, E. 5. Der KHiger war mit CHF 20 geblissl worden, weil er sich weige11e, sei ne Tochter impfen zu lassen.

65 BGE 50 l 334, E. 4 . 66 Bundesratsbesc hllisse vom 12. J uni und 30. August 1944 , AS 60 403 558 ( 1948 wieder aufgeho-

ben: AS 64 11 43). 67 M üLLER (Fn. 61 ). S. 45. 68 Oben. Fn. 8. 69 An . 23 Abs. 3 Bundesgesetz liber die Bekampfung libertragbarer Krankheiten des Menschen

vom 18. Dezember 1970. 70 BuNDES RAT, Botschaft zum Entwu•f eines Bundesgesetzes über die Bekampfung übel1ragbarer

Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz). 881 1970 l 38 1. S. 397: 1954 gab es in der Schweiz 1628 Polio-Erkrankungen. 1969 noc h eine. Dagegen brach 1969 die Diphterie in Zli­rich aus, mit einem Todesopfer.

7 1 BGE 99 1a 747. s. unten bei Fn. 107. 72 An. 22 EpG. 73 B uNDES RAT. Botschaft zur Rev ision des Bundesgesetzes liber die Bekampfung übertragbarer

Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz, EpG), BBI 2011 3 11, S. 3 12. Die Kompetenz zur Gesetzgebung sti.itzl sich jetzl au f An. II S Abs. 2 li t. b B V.

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Lorenz Langer

die neue Bundeskompetenz im Vordergrund, bei einer <<besonderen Lage>> <<lmpfungen bei gefàhrdeten Bevolkerungsgruppen, bei besonders exponierten Personen und bei Personen, die bestimrnte Tatigkeiten ausüben, für obligato­risch [zu] erklaren>>. 74 Eine <<besondere Lage>> liegt vor, wenn die <<Ordentlichen Vollzugsorgane nicht in der Lage sind, den Ausbruch und die Verbreitung über­tragbarer Krankheiten zu verhüten und zu bekampfen>>, und zugleich eine er­hohte Ansteckungs- und Ausbreitungsgefahr, eine besondere Gefahrdung der offentlichen Gesundheit, oder die Gefahr schwerwiegender Auswirkungen auf die Wirtschaft oder auf andere Lebensbereiche besteht. 75 Altemativ kann eine besondere Lage auch dann gegeben sein, wenn die WHO festgestellt hat, dass eine gesundheitliche Notlage von internationaler Tragweite besteht, sofern diese die offentliche Gesundheit in der Schweiz gefáhrdet. 76

Ich habe bereits darauf hingewiesen, dass das Epidemiengesetz keine Sank­tionen vorsieht für den Fali, dass ein etwaiges Impfobligatorium missachtet würde; trotzdem sind strafrechtliche Folgen wohl nicht auszuschliessen. 77 Das Obligatorium war in den parlamentarischen Beratungen denn auch umstritten­sowohl in Bezug auf die Bundes- wie auch die kantonale Kompetenz.78 Es wurde als unschweizerisch, illiberal und als zu grosser Eingriff in die person­liche Freiheit kritisiert, dessen Ve1fassungsmassigkeit fraglich sei;79 als Alter­nativen wurden Solidaritat, Eigenverantwortung und Aufklarung propagiert. 80

Für die Befürworter hingegen war die Impftradition der Schweiz eine Erfolgs­geschichte und das Gu t der allgemeinen Gesundheit hoher zu gewichten als die individuelle Freiheit allein. 8 1 Die Bundesversammlung verabschiedete in der Folge das Gesetz inklusive Impfobligatorium;82 das dagegen ergriffene Refe­rendum scheiterte in der Volksabstimmung deutlich. 83

11. VOikerrechtliche Ebene

Im Abstimmungskampf hatten sich die Gegner dieses Mal aber nicht n ur gegen den Impfzwang gewehrt, sondem auch gegen die Rolle, welche der WHO im neuen Epidemiengesetz zugedacht war.84 Der Weltgesundheitsorganisation und

74 Art. 6 Abs. 2 li t. d EpG. 75 Art. 6 Abs. l li t. a EpG. 76 Art. 6 Abs. l li t. b EpG. 77 O ben. F n. 11. Miiglich ware wohl subsidiar etwa die Androhung einer Busse gem. A11. 292

StG8 (v g!. A11. 44 Abs. l li t. d VwVG). 78 Zur kantonalen Kompetenz (Art. 22 EpG) vgl. A8 NR 2012 IV 1282 ff. 79 A8 NR 20121315 (Estermann), 313 (Weibel). A8 SR 2012 1!1391 (Minder) . 80 A8 NR 20 12 l 3 13 (Weibel). 316 (Graf). 8 1 A8 NR 2012 l 317, !V 1283 (Stahl). 82 8812012 8 157. 83 881201 4 6129 (60% Ja-Stimmen ). 84 Oben, Fn. 76.

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Jmpfung und lmpfzwang

ihren Experten wurde bereits im Parlament ungebührliche Nahe zur Pharmain­dustrie vorgewotfen ;85 das Referendumskomitee wamte vor einem mit der Sou­veranitat unvereinbaren «WHO-Diktat>>. 86

Es ist ein Gemeinplatz, dass Krankheiten keine Grenzen respektieren - in einer «globalisierten>> und urbanisierten Gegenwart noch weniger als in der Yergangenheit. 87 Es handelt sich bei der Krankheitsbekampfung um ein trans­nationales Anliegen im Wortsinn, und entsprechend früh wurden auf vi:ilker­rechtlicher Ebene Anstrengungen unternommen, um durch Quarantanemass­nahmen die Yerbreitung ansteckender Krankheiten zu verhindern. Ab Beginn des 19. Jahrhunderts standen dann Überwachungs- und Meldemechanismen im Yordergrund.88 Die WHO wurde 1946 geschaffen mü dem Ziel, dass al le Men­schen in bestmi:iglicher Gesundheit leben ki:innen.89 Dies soll unter anderem durch die Bekampfung und Ausrottung von epidemischer und endemischer Krankheiten geschehen.90

Das primare normative Instrument der WHO sind die Intemationalen Ge­sundheitsvorschriften, welche vom der Weltgesundheitsversammlung mit einfa­cher Mehrheit verabschiedet werden und anschliessend für jeden Mitgliedsstaat gelten, der nicht explizit Widerspruch anmeldet. 91 Hier findet sich die Regelung einer gesundheitlichen Notlage von intemationaler Tragweite, auf welche die Schweizer Gesetzgebung Bezug nimmt. 92 Die General-Direktorin ist - nach Konsultation eines Expet1engremiums - zustandig, eine solche Notlage zu er­klaren und einschlagige Empfehlungen abzugeben.93 Auch wenn solche Emp­fehlungen erhebliche wirtschaftliche Konsequenzen nach sich ziehen ki:innen, so kann von einem «WHO-Diktat>> nicht die Rede sein: Die Organisation ver­fügt über keine Kompetenzen zu Zwangsmassnahmen auf nationaler Ebene. Die Gesetzgebung wird ausdrücklich den Mitgliedsstaaten vorbehalten , die da­bei immerhin den Zweck der Gesundheitsvorschriften «hochhalten>> sollen.94

Diese schreiben denn auch keinen lmpfzwang vor, erlauben aber entsprechende Yorschriften ; im Zusanunenhang mit internationalen Reisen ist für Jmprungen

85 AB NR 201 2 J 3 14 (Estermann), 3 16 (Schenker); AB SR 20121l1 386 (Hess). 86 Volksabstimmung vom 22 . September 201 3: Erlauterungen des Bundesrates. S . 21. 87 LAWRENCE O. GosTIN. Global Health Law. Cambridge, Mass. 2014, S. 38 f. 88 M AKANE M olsE MB ENGUE , Public Health , 1nternational Cooperation , Max Planck Encyclopae-

dia of 1nt'l Public L. 2010, Rz. l. 89 Constitution o f the World Health Organisation. 22. Ju1i 1946, 14 UNTS 185. 90 Art. 2 li t. g WHO Constitution. 91 Art. 21 WHO Constitution. 1nternational Health Regulations (1HL), 23. Mai 2005 , 2509

UNTS 242 (1951 wurden die Vorschriften zum ersten Mal erlassen und in der Folge mehrmals rev idiert).

92 Art. 12 lHL; vgl. oben. Fn. 76. 93 Art. 12 i.Y.m. Art. 48 f. lHL. Bisher wurde viermal ei ne Notlage bejaht, zuletzt i.Z.m. dem Zika­

Virus. 94 Att. 3 Abs. 4 IHL.

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Lorenz La nger

unter besonderen Voraussetzungen im Extremfall wohl sogar physischer Zwang nicht ausgeschlossen.95

Die Einhaltung der Gesundheitsvorschriften scheint aber generell nicht sehr konsequent zu erfolgen,96 und di e WHO fokussiert oft eh er au f technischen un d wissenschaftlichen Beistand; wenn sie normativ Uitig wird, dann haufig mit soft law-Instrumenten wie etwa Empfehlungen.97 Damit verbleibt die rechtliche Re­gelung der Krankheitsbekampfung und insbesondere der Impfung, trotz ihrer transnationalen Implikationen, weitestgehend bei den einzelnen Staaten.

Das gilt grundsatzlich auch für die Europaische Union. In Gesundheitsfra­gen gibt es eine zwischen Union und Mitgliedsstaaten geteilte Zustandigkeit nur in einigen wenigen, abschliessend aufgezahlten Bereichen.98 Für die sog. Sekundarpravention, also die Krankheitsprophylaxe inklusive Impfungen,99 be­steht bloss eine unterstützende und koordinierende Kompetenz der Union; jeg­liche Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten ist dabei ex­plizit ausgeschlossen. 100 So hat die Union ein Europaischen Zentrum für die Pravention und Kontrolle von Krankheiten eingerichtet, das aber über keine Re­gelungskompetenz verfügt; 101 das 2014 verabschiedete dritte Aktionsprogramm im Bereich der offentlichen Gesundheit sieht ebenfalls nur «unverbindliche Impfkonzepte» vor. 102 Aufgrund der mangelnden unionalen Kompetenz er­klarte sich der Gerichtshof in einem Vorlageverfahren zum Impfzwang in der Slowakei denn auch fúr offensichtlich unzustandig. 103

95 A1t. 31 Abs. 2 IHL (Health measures relat i n g to entry oftravelers): « ... !f there is ev idence of an imminent public health risk , the State Party may, in accordance with its national la w and to the extent necessary to control such a risk, compel the traveller to undergo ... (b) vaccination or other prophylaxis.

96 ÜBJJIOFOR AGI NA M, lntemational Law and Communicable Diseases, Bulletin of the World Health Organization 2002, S. 949.

97 GOSTI N (Fn. 87), S. 11 3. 98 Art. 4 Abs. l i. V. m. Art. 168 Abs. 4 AEUV (u.a. Qualitatssicherung ftir Medizinalprodukte). 99 BRIGITTA LURGER, Art. 168 AEUV, in: Rudolf Streinz (Hrsg.), Kommentar EUV/AEUV.

2. Autl. , München 2012, Rz. 11. l 00 Art. 168 Abs. 5 AEUV; THORSTEN Kl NGREEN, Art. 168 AEUV, in: Christian Calliess/Matthias

Ruffert (Hrsg.), Kommentar EUY/AEUV. 5. Autl. , München 2016, Rz. 14. l O l Art. li Yerordnung (EG) N r. 85112004 zur Errichtung eines Europaischen Zentrums für die Pra­

vention und die Kontrolle von Krankheiten. Ygl. z. B. EuROPEAN CENTRE FOR DISEASE PR EVEN· TION AND CONTROL (ECDC), Gu idanee for the lntroduction of HPY Yaccines in EU Countries, Stockholm, Januar 2008.

l 02 Yerordnung (EU) N r. 282/2014 über e in drittes Aktionsprogramm der Union i m Bereich de r Ge­sundheil (20 14- 2020), Anhang I, 2.2.

l 03 Milica Sirokâ/Úrad verejného :dravornícrva Slovenskej republikv (Gerichthof), Rechtssache C-459113 (20 14). Di e Klager hatten si eh au f Art. 33 & 35 d er Charta der Grundrechte d er Euro­piiischen Union berufen.

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lmpfung und lmpfzwang

C. Betroffene Grund- uud Menschenrechte

Die inter- oder supranationale Ebene hat also auf die norrnative Regelung von Impfungen kaum unmittelbaren Einfluss. Trotzdem sind volkerrechtliche Be­stimmungen im Zusammenhang mit Impfvorschriften von erheblicher mittel­barer Bedeutung. Die Internationalen Gesundheitsvorschriften der WHO etwa bestimmen, dass ihre Umsetzung unter Achtung der Würde, Menschen­rechte und Grundfreiheiten der Betroffenen zu erfolgen habe. 104 Reisende soll­ten respektvoll behandelt und ihr Geschlecht sowie ihre sozio-kulturellen, eth­nischen und religiosen Anliegen berücksichtigt werden. 105 Hier werden grund­und menschenrechtliche Aspekte angesprochen, welche- wir haben es bereits gesehen - die Impfdebatte von ihren Anfángen und lange vor der Kodifizie­rung so lcher Rechte bestimmt haben. Dabei stand vor allem das Argument im Yordergrund, dass ein Impfzwang gegen die personliche Frei hei t verstiesse. 106

Das Bundesgericht besüitigte 1973, dass eine Impfung das (damals noch unge­schriebene) Recht auf korperliche Integritat beeintrachtige, hielt aber zugleich fest, dass es sich dabei nicht um eine schwerwiegende Yerletzung handle. 107

Auf nationaler Ebene fállt die personliche Freiheit heute in den Schutzbe­reich von Art. 10 Abs. 2 BV, der insbesondere auch die korperliche und geistige Unversehrtheit als geschützte Teilaspekte dieser Freiheit nennt. Das Recht auf korperliche Unversehrtheit garantiert einen urnfassenden Schutz des mensch­lichen Korpers und deckt von der Folter bis zum Wangenabstrich ein breites Spektrum ab. Es ist unbeachtlich, ob die physische Integritat aufgrund eines medizinisch indizierten Eingriffs kompromittiert wird. 108 Selbst wenn eine Impfung als «verhaltnismassig leichter Eingriff» taxiert wird, der << ungefahrlich und wenig schmerzhaft ist», 109 fali t sie a!so in den Schutzbereich von Art. l O BV - wobei es sich bei einer lmpfung wohl nicht nur um einen <<leichten Ein­griff» handelt, da sie eine Reaktion des Immunsystems zeitigen soll und poten­tiell auch kurz-, mittel- und langfti stige Nachwirkungen zeigen kann. Insofern ist bei einer zwingend vorgeschriebenen Impfung auch die geistige Unversehrt­heit betroffen, welche das Recht schützt, bestimmte Situationen selbst zu be­werten und gemass dieser Einschatzung zu handeln. 110 Hier ergeben sich zu-

l 04 Art. 3 Abs. l lHL. 105 AI1. 32lit.b IHL. l 06 O ben , F n. 50. S. au eh o ben, F n. 34. 107 BGE 99la 747, E. 2, 3c. 108 R EG INA KI ENERiWALTER K Au N, Grundrechte 2. Aufl. , Bem 2013, S. 149. l 09 Urteil des St. Galler Verwaltungsgerichrs (Verwaltungsgericht SG), GVP 2006 N r. l (2006),

E.2d. li O RAIN ER J. SCHWEIZER , Art. l O, in Bernhard Ehren zeller/Benjamin Schindler/Rainer Schweizer!

Kari Vallender (Hrsg.), Die schweizerische Bundesverfassung, 3. Aufl., Zürich 2014, Rz. 25 (zit. St. Galler Kommentar). Nicht einschlagig sind hingegen die Voraussetzungen zur Zwangs­medikation (vgl. dazu JóRG PAUL M üLLE RIM ARK US S CHEFER, Grundrechte in der Schweiz im Rahmen der Bundesverfassung, der EMRK und der Uno-Pakte, 4. Aufl .. Bern 2008. S. 79-81). solange e i ne lmpfung nicht tatsiichlich erzwungen wird.

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gleich gewisse Überschneidungen mit der Achtung der Privatsphare, wie sie Art. 13 Abs. 2 BV garantiert. 111 Auch auf den don verankenen Schutz des Fa­milienlebens hatte der Bundesrat 1879 schon Bezug genommen, als er ein­raumte, ein Impfzwang berühre tief und einschneidend die «Unabhangigkeit der Familie>>. 112 Eltern steht grundsatzlich das Erziehungsrecht über ihre Kinder zu; 113 dieses i m Zivilrecht a1s elterliche Sorge konkretisierte Recht schliesst Entscheide über medizinische Behandlungen mit ein. 114

Auf internationaler Ebene wird der Schutz der Privatsphare auch durch A11. 17 Uno-Pakt II garantiet1; 11 5 A11. 8 EMRK gewahrt ebenfalls Schutz vor einer Beeintrachtigung des Privat- und Fami1ienlebens, der sich auch auf medi­zinische Behandlungen erstreckt. 11 6 Entsprechend bejahte die Europaische Kommission für Menschenrechte 1998 auf Beschwerde einer Gruppe san-mari­nesischer Bürger, dass ein Impfzwang gegen Art. 8 Abs. l EMRK verstéisst. 117

Die Kommission vemeinte jedoch zugleich die Anwendbarkeit von Art. 2 EMRK (Recht au f Leben) und An. 5 EMRK (Recht auf Freiheit und Sicher­heit).11 8 Ebenfalls verneint wurde eine Verletzung von Art. 9 Abs. l EMRK, welcher die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit garantien: Die Kom­mission erinnerte daran, dass die dort geschützte Ausübung (practice) nicht alle Handlungen umfasse, die zwar durch religiose Überzeugung bedingt waren, diese aber nicht unmittelbar zum Ausdruck brachten - zumal die Impfvorschrif­ten in San Marino für alle gleichermassen und unabhangig von Religion oder personlicher Überzeugung galten . 119

Diese Argumentation überzeugt nu r bedingt, insbesondere in Bezug auf die fonnali stisch verstandene Rechtsgleichheit. An. 9 EMRK gewah11 zwar in der Tat kein Recht, einem allgemein anzuwendenden Gesetz keine Folge zu leis­ten.120 Aber Art. 9 EMRK deckt - wie übrigens auch Art. 18 Uno-Pakt II121

111 MüLLER/ScHEFER (Fn. 110). S. 138 ff. 112 Oben. F n. 50. 113 Das Erziehungsrecht liegl im Schninbereich von Art. 13 Abs. 2 und Art. 14 BV. vgl. RuT H

REUSSER. S t. Galler Kommentar zu An . 14. R z. 40. 11 4 INGE BORG SCHWENZER/MICHELLE COTTIER, An. 301, in : Heinrich Honsell /Nedim Peter Vogt/

Thomas Geiser (Hrsg.), Zivilgesetzbuch l. Base! 2014, Rz. 3c (zit. BSK-ZGB). li 5. Das Menschenrechtskomitee subsumiene ei ne Beschwerde gegen den gesetzlichen lmpfzwang

in ltalien unter An. 17 Uno-Pakt 11 , wies sie aber aus prozeduralen Gründen ab: D~: A. B. v. Iwly. Communication No. 565/1993. CCPR (25. A pri! 1994).

11 6 JENS MEYER-LADEWtG/MARTIN NETTESHEIM, Artikel 8: Recht auf Achtung des Privat-und Fa­milienlebens, in: Jen s Meyer-Ladewig et al. (Hrsg.), EMRK- Europaische Menschenrechtskon­vention, 4. Autl. Baden-Baden 2017, Rz. 13.

11 7 Carlo Boifa and /3 01hers v. San Marino, App1ication no. 26536/95, ECommHR, l 5. Januar 1998.

11 8 Boifa v. San Ma ri no (Fn. 11 7), S. 33 f. l 19 Bojfa v. San Ma ri no (F n. 117), S. 33 f. 120 CHRISTOPH GRABENWARTER/KATHARINA PABEL. Europaische Menschenrechtskonvention.

S. Autl ., München 2012, S.§ 22 Rz. 99 m. w. H. 121 CCPR, General Comment No. 22 (Art. 18), U.N. Doc. CCPR/C/2 1/Rev. l/Add.4, 30. J u li 1993 ,

Para. 4.

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lmpfung und lmpfzwang

und Art. 15 BV 122 - durchaus auch Handlungen, die nicht unmittelbar mit dem kultischen Bereich verbunden sind, wie etwa Speisegebote oder Vorschriften zu Kleidern oder Haartracht. 123 Gerade das Beispiel der von Zeugen Jehovas ver­weigel1en Bluttransfusionen zeigt, dass die Haltung zu medizinische Behand­lungen durchaus durch religiose Überzeugungen bestimmt sein kann .124

Das galt und gilt auch für Impfungen. Die Verwendung von tierischer Lymphe wurde als unvereinbar mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen angepranget1, 125 und noch Mitte des letzten Jahrhunderts wurde die ldee der Immunisierung als gotteslasterlich empfunden.126 Mehrere protestantische Gruppierungen verweigem auch heute Impfungen aus grundsatzlichen Überle­gungen , weil für eine Heilung nur auf Gott vertraut werden sollte. 127 Manche Katholiken lehnen lmpfstoffe ab, die unter Verwendung fotalen Gewebes her­gestellt wurden; Bedenken von Hindus und von Juden und Muslimen bezüglich der Verwendung von Rinder- bzw. Schweine-Seren scheinen hingegen kaum zu bestehen. Judentum und Islam kennen vielmehr theologische Konzepte medizi­nischer Notwendigkeit, di e für Impfungen sprechen. 128

A11. 15 BV, Art. 9 EMRK und Art. 18 Uno-Pakt U schützen aber nicht nur religiose, sondern auch weltanschauliche Überzeugungen , wobei solche Über­zeugungen ei ne gewisse Stringenz und Koharenz aufwiesen, 129 also bspw. einer «Gesamtsicht der Welt>> entsprechen müssen.130 Das Ablehnen von Impfungen

122 URS JosEF CAVELTI/AND REAS KLEY, Si. Galler Kommentar zu Art. 15, Rz. 10: ANNE KüHLE R, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit, Diss. Bem 20 J 2, S. 27 J f.

J 23 GRABENWARTE R/PABEL (F n. J 20), S. § 22 Rz. 102 m. w. H. J 24 Dies bestatigt der EGMR in Jehova 's Witnesses of Moscow and Others v. Russia, Application

no. 302/02 , JO.Juni 2010, Para. 136. 125 BAX BY (Fn.24}, S.6, vgl. Genesis 1: 26 f. J 26 Luow tG FLtEGEL, Medizini scher Aberglaube : Fort mit dem lmpfzwang, Bern J 945 , S. 9: «lhr

al le, welcher Konfession U1r angehoren moget, glaubt an einen all weisen Schopfer, aus dessen Hand der Mensch gesund hervorgegangen isl. Da kommen aber die Giftmi scher und meinen, der a ll weise Gott sei eigentlich doch ei n Stü mper. da er den lmpfsabel vergessen habe; dem un­schuldigen blühenden Kind müssten noch einige Schnitte au f den Arm gekratzt und G ift in sein gesundes Blut eingeführt werden.»

J 27 Das g ilt etwa für calvinistische Gruppierungen in den Niederlanden, unter denen J 992 die letzte Polio-Epidemie in West-Europa ausbrach: P. M . O osTVOGE L ET AL., Poliomyeliti s Outbreak in an Unvaccinated Community in the Netherl ands ( J 992-93}, The Lancet J 994, S. 665. Auch Ch ristian Scien tists stehen lmpfun gen skeptisch gegenüber (vgl. M ARY BA KER EDDY, Science and Health , Boston J 875. S . 438 : << ••• we have small-pox because others have i t; but mortal mind, na t matter, contains and carries the infection.»)

128 ER tC WOMB WELL ET AL., Relig ious Barriers to Measles Yaccination, Journal of Conununity Health 2015. S. 599 ff. - lslami sti sche Kreise bekampfen teilweise lmpfprogramme, da sie da­h inter e ine westliche Yerschworung zu r Sterilisierung von Muslimen vermuten (vgl. JOHN D. G RABENSTEIN. What the World's Religions Teach , Applied to Yaccines and lmmune Globu­lin s. Yaccine 20 J 3, S. 20 J 6). Dafti r dürften soziale. kulturelle un d politische eh er de n n re li giose Ursachen verantwortlich sein : das fin gierte Polio-Lmpfprogramm für die Suche nach Osama B in Laden hat die Situation weiter verschlimmert (vgl. The Spies Who Sabotaged Global Health, Scientific American 20 J 3. S. J 2).

129 S.A.S. v. France, Application no.43835/ l J, ECtHR, I.Juli 2014, Para. 55. J 30 BGE J J 9 la J 78, E. 4b (n oe h zur a B V). Etwas weiter hingegen CCPR (F n. J 2 1 ). Para. 2.

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Lorenz Langer

allein konstituiert wohl kaum eine solche Überzeugung. 131 Veganer aber, die nicht wollen, dass ihren Kindem tierische Stoffe injiziert werden, konnen sich auf den Schutz ihrer Weltanschauung berufen, ebenso wie Anthroposophen, nach deren Menschenbild etwa eine Masemerkrankung Ausloser einer «tief­greifenden Reifung» des Kindes und der Individualisierung seines Organismus sein kann. 132

D. Grundrechtseinschrankung

Somit steht ausser Frage, dass eine zwangsweise Impfung den Schutzbereich zumindest des Rechts auf korperliche und geistige Integritat, auf Privatsphare und Farnilienleben und auf Glaubens- und Gewissensfreiheit tangiert. Bei auf bestimmte Berufsgruppen beschrankten Impfvorschriften ware zusatzlich auch die Wirtschaftsfreiheit betroffen.133 Keines dieser Grund- und Menschenrechte g i !t jedoch absol u t, un d schon i m 19. Jahrhundert wurde von Impfbefürwortern argumentiert, dass im Interesse der effektiven Bekampfung von lnfektions­krankheiten die individuelle Freiheit zutückstehen müsse. 134 Heute regeln die Generalklausel in AI1. 36 BV, die spezifischen Vorgaben in At1. 8 Abs. 2 und Art. 9 Abs. 2 EMRK sowie Art. 18 Abs. 3 Uno-Pakt II die Voraussetzungen für eine Einschrankung. Die Anforderungen dieser Schrankenregelungen sind, in Bezug auf die hier relevanten Grundrechte, weitgehend kongruent. Die dabei stets vorausgesetzte gesetzliche Grundlage ist in der Regel unproblematisch. 135

Substantiell wird darüber hinaus aber auch ein legitimier Eingriffszweck bzw. ein legitimes Offentliches Interesse verlangt; ausserdem muss der Eingriff ver­haltnismassig bzw., gemass EMRK, in einer demokratischen Gesell schaft not­wendig sein.136 Sowohl unter Art. 36 Abs. 3 BV wie auch (teilweise implizit) in der Rechtsprechung des Strassburger Gerichthofs lasst sich die Verhaltnismas-

l3 l Auch wenn G. B. S ha w die Situati on des lmpfgegners mit jener des Atheisten verg lich: B ER ­NA RD SH AW, The Docto r's Dilemma, Getting Married, & the Shewing-up o f Blanco Posnet, London 1932 (1 9 11 ), S. 383 .

132 G ESELLSC HAFT ANTHROPOSOPHISC HER ÀRZTE IN DEUTSCHLAND, MerkbJatt Masem , Januar 2016. Al s Folge brechen Masem gehauft in Rudo lf-Ste iner- bzw. Waldorfsc hulen au f: Haufung von Masemfállen i m Waadtland, Neue Zürcher Zeitung. 12. Februar 2009, S. 14; RoBERT K oe H lNST ITUT, Masemausbruch in e iner Waldorfschule, Epistemologisches Bulletin . 18. August 2014, S. 297.

133 V g!. Verwaltungsgericht SG (Fn. l 09), E. 2 e) aa): Vie le lmpfve rweigerer unter den Pflegenden , Neue Zürcher Zeitung, 28. November 2009, S. 17. - Für e in weites Verstandnis der Berufsfre i­heit vgl. in diesem Zusammenhang M ARKUS M üL LER, Die M+M+R-Impfkampagne des Bun­des au f dem juristi schen Prüfs tand . Schweizerische Àrztezeitung 1994, S. 387.

134 Oben, Fn. 35, 47. 135 Z. B. Art. 6 Abs. 2 lit. d & Art. 22 EpG. Für Deutschl and vgl. § 20 Abs. 6 & 7 lfSG, für Frank­

reich oben Fn. 13. 136 Dazu ausführlich M ARK US Sc HEFER , Die Beeintrachtigung von Grundrechten: Zur Dogmatik

von Art. 36 BV, Bern 2006, S. 53 ff. ; G RABENWA RT ERiPABEL (F n. 120), S. § 22 Rz. 32 ff. , 112 ff.

102 ZSR 20 17 1

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lmpfung und lmpfzwang

sigkeit sodann weiter unterteilen in Eignung und Erforderlichkeit einer staat­lichen Massnahme, sowie deren Zumutbarkeit bzw. die Verhaltnismassigkeit i m engeren Sinne. 137

l. Õffentliches Interesse und Rechte Dritter

Der Bundesrat hatte 1879 die Gesundheit des Volkes als oberstes Gebot, als lex suprema bezeichnet und ein staatliches Interesse an einer moglichst hohen Impf­rate geltendgemacht. 138 Die offentlichen Gesundheit ist weiterhin ein wichtiges Polizeigut, 139 und protection of (public) health wird auch in den einschlagige Menschenrechtsbestimmungen als legitimer Eingriffszweck genannt. 140 Man konnte es sich entsprechend einfach machen und das Vorliegen des offentlichen Interesses o h ne Weiteres bejahen, zumal di e Gerichte- in der Schweiz wie au eh anderswo - bisher stets die Auffassung vertraten, ein Impfzwang schi.itze nicht nu r ei n legitimes offentliches Interesse, sondern sei auch verhaltnismassig. 141

Daraus darf aber nicht abgeleitet werden, ei n jeglicher Impfzwang sei durch ein Offentliches Interesse gedeckt. Es muss dabei stets nach den Umstanden des Einzelfalles differenziert werden. So wurden in der Regel Impfungen gegen schwere und ansteckende Krankheiten wie Pocken oder Diphterie angefochten. Zwar ist die offentliche Gesundheit auch dann betroffen, wenn es sich - wie bspw. bei der Fri.ihsommer-Enzephalitis - um Infektionen handelt, gegen die geimpft werden kann , die aber nicht ansteckend sind. Somit werden Dritte nicht gefáhrdet, und es muss bei der Verweigerung einer medizinischen Behandlung den jeweiligen Lebensentwi.irfen, auch wenn sie unverni.inftig scheinen, mehr Gewicht zugemessen werden - wie etwa der EGMR im Zusammenhang m.it der Ablehnung von Bluttransfusionen festgestellt hat. Bei dieser Gelegenheit betonte der Ge1ichtshof aber auch, dass eine Situation anders zu beurteilen sei, in der Drittpersonen geschi.itzt werden müssten - also etwa bei einem durch ei ne Epidemie begründeten Impfzwang. 142

Es ware generell bedenkenswe11, bei der Diskussion um Impffragen nicht exklusiv die Rechte von Impfgegnern zu thematisieren. Diese Rechte konnen namlich auch aufgrund der geschützten Interessen Dritter eingeschrankt wer-

137 SCHEFER (f n. 136), S. 82- 85; GRAB ENIVARTERi PABEL (f n. J 20). S. § 18 Rz. 14 ff. 138 Oben. F n. 47. V g l. auch F n. 35. 139 ULRICH HAFE LI NiWALTER HALLERi HELEN KELLERiDANIELA TH URNHERR. Schweizerisches

Bundesstaatsrecht, 9. Aufl. , Zürich 2016, Rz. 3 15. 140 Art. 8 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2 EMRK; Art. 18 Abs. 3 Uno-Pakt li. 141 BGE 99 la 747, E. 3b und e; Yerwaltungsgericht SG (Fn. 109), E. 2d und e; lmpfzwang,

BYerwGE 9, 78 (1959), Rz. l9: Décision n° 2015-458 QPC (Court Constitutionnel) (2015), Para. 9; Jacobson v. Massachusells (F n. 57), S. 26; Prince v. Massachusells, 32 1 U.S. 158 ( 1944). 165 ; Boffa v. San Ma ri no (Fn. 117). 35.

142 Jehova's Witnesses v. Russia (F n. 124), Para. 136.- Damit würde auch das Mill'sche harm prin­ciple honorien. das Einschrankungen der individuellen Freiheit n ur zulasst, um die Schiidigung Driuer zu vem1eiden (JOHN STUART MILL, On Libeny. London 1859. S. 21 ).

ZSR20171 103

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Lorenz Langer

den. Das gilt zuvorderst für die Impflinge im Kindesalter, die gemass Art. l l Abs. l BV Anspruch auf besonderen Schutz haben. «Überste Maxime des Kindsrechts» ist das Kindeswohl, 143 das sich grundsatzlich nach objektiven Kri­terien bestimmt, auch wenn den Eltem ein «Konkretisierungsprimat>> zu­steht.144 Der Schutz der Gesundheit ist ni eh t nur Teil, sondem geradezu Voraus­setzung für das Kindswohl, wenn dieses «dem Kind ab dessen Volljahrigkeit ein selbststandiges, selbstbestimmtes und gemeinschaftsfahiges Leben>> ermog­lichen soll. 145 So müssen die Behorden gestützt auf Art. li BV intervenieren, wenn Eltem aus religiosen oder weltanschaulichen Gründen eine notwendige medizinische Behandlung des Kindes verhindem, 146 und die Verweigerung pra­ventiver Massnahmen inklusive Impfungen kann Kindsschutzmassnahmen nach Art. 307 Abs. l ZGB rechtfertigen. 147

Wenn davon ausgegangen wird, dass (zumindest gewisse) Impfungen ein Ki n d vor erheblichen Gefahren schützen, 148 so kon n te so g ar ein entsprechender Anspruch postuliert werden: Bereits im Rahmen des UNO-Weltkindergipfels wurde 2002 ein Recht auf Impfung propagiert. 149 Tatsachlich bejahte das Deut­sche Bundesverwaltungsgericht 1959, dass aus dem Anspruch auf Leben auch ein Anspruch auf Impfung folge, 150 wahrend der EGMR die Frage offen gelas­sen hat. 151 Art. 24 der Kinderrechtskonvention gewahrt Kindem das Recht «auf das erreichbare Hochstmass an Gesundheit>> und fordert die Reduktion der Kin­dersterblichkeit und die Bekampfung von Krankheiten. Die Travau.x prépara­toires und der Kommentar des Kinderrechtskomitees zeigen, dass in diesem Zusammenhang Impfungen eine Rolle spielen sollen. 152 Das Komitee legt dabei besonderes Gewicht auf die Impfung gegen Humane Papillomaviren für Mad-

143 BGE 132 IIl 359, E. 4.4.2. 144 JOHANNES REJCH , «Schutz der Kinder und Jugendlichen>> als rechtsnorrnatives und expressives

Verfassungsrecht: Rechtsnatur und Normgehalt von Art. 11 Abs. l der Bundesverfassung, ZSR 2012 l, S. 376.

145 REICH (Fn. 144), S. 376. 146 CHRJSTJNE KAUFMANN, Soziale Grundrechte, in Giovanni Biaggini/Thomas Gachter/Regina

Kiener (Hrsg.), Staatsrecht, 2. Aufl., Zürich 2015, S. 582. 147 PETER BREJTSCHMJD, BSK-ZGB Art. 307, Rz. 18. - Eine aktive Gefahrdung der Gesundheit

dürfte bei sog. «Masernparties» vorliegen, vgl. dazu aus deutscher Sicht CHRJSTOPHER LEAN· DER ROTH, Die Strafbarkeit von Masernpartys, Baden-Baden 2013 , S. 196.

148 Zu dieser Annahme unten, D.II. 149 lssues & lnforrnation, U.N. Specia1 Session on Children, 19-21 September 2001 , New York

2002, s. 13. 150 Oben, Fn. 141 (das Urteil erfolgte noch unter dem lmpfgesetz von 1874). 151 Komeykova & Korneykov v. Ukraine, App1ication no. 56660112, ECtHR (24. Miirz 20 16), Para.

157 (Der EGMR bejahte einer Verletzung von Art. 3 EMRK bereits aufgrund feh1ender kinder­iirztlicher Betreuung eines im Gefiingnis geborenen Kindes und befasste sich desha1b nicht mit den unterbliebenen vorgeschriebenen lmpfungen).

152 CNHCHR, Legis1ative History of the Convention on the Rights of the Child, New York 2007 , S.585f.; CRC, General Comment No.l5 (Art.24), CRC/C/GC/15, 13.April20!3, S.6. Vgl. auch AsBJ0RN EtDEiWENC HE BARTH EtDE, Art. 24: The Right to Health, Leiden 2006, Rz. 48, 75 , 115 .

104 ZSR20171

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lmpfung und lmpfzwang

chen. 153 Hier ware auch eine Gender-Perspektive zu berücksichtigen, da die Folgen dieser beim Geschlechtsverkehr übertragenen Krankheit disproportional Frauen betreffen, die Impfung aber teilweise als Ermutigung zur Promiskuitat heftig bekampft wird. 154 Deshalb kann auch Att. 12 des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierungen der Frau relevant sein, welcher Benachteiligungen von Frauen im Gesundheitswesen untersagt. Noch umfas­sender, und ohne Beschrankung auf Kinder, konnten Impfungen unter das Recht auf Gesundheit subsumiert werden. 155 Der Uno-Pakt I anerkennt eben­falls ein Recht auf das <<etTeichbare Hochstmass an korperlicher und geistiger Gesundheit» (Att. 12 Abs. l), und verpflichtet die Staaten zur Vorbeugung und Bekiimpfung epidemischer und endemischer Krankheiten (Art. 12 Abs. 2 lit. e). Das zustiindige Komitee nennt in diesem Zusammenhang auch Impfpro­gramme, 156 wobei die Travaux préparatoires nahelegen, dass ein Impfzwang zu diesem Zweck nicht ausgeschlossen ist. 157

11. Verhiiltnismiissigkeit

lmpfgegner würden diese Argumentation zurückweisen, da sie ihrer Ansicht nach au f ei n er falschen Grundannahme beruht: Dass Impfungen der Gesundheit nützen. Das führt uns zur Verhaltnismassigkeit, die zuerst voraussetzt, dass ein Eingriff in die Grundrechte überhaupt geeignet ist, um das erwünschte Ziel -hier der Schutz der Offentlichen Gesundheit - zu erreichen. Für ihre Kritiker sind Impfungen nicht nur ineffektiv, sondem auch hochgefiihrlich. 158 Tatsiich­lich steht ausser Frage, dass Impfungen auch Schiiden amichten konnen. Das gilt zuerst natürlich bei fehlerhafter Produktion oder unsachgemiisser Anwen­dung.159 Aber auch lege artis verabreichte Impfungen konnen zu Schiiden füh­ren - auf die gesetzliche Regelung von solchen Impfschaden wurde bereits hingewiesen. 160 Damit ist aber noch nichts gesagt über das Risikoverhaltnis

153 CRC (F n. 152). S. 6. 154 Ygl. zu den Diskussionen in den USA SYLVIA LA w. H uman Papillomavirus Yaccination. Private

Choice. and Public Health. U.C. Davis La w Review 2008, 1731-1772. - Zugleich wird zuneh­mend kiar, dass die Impfung von Knaben erheblich zur Bekampfung von Gebiirmutlerhalskrebs beitragen würde: The Cost o f Embarrass ment. Economist, 26. Marz 2016, S. 54.

155 A1t. li European Social Charter (revised), 3. Mai 1996. CETS 163 (von der Schweiz nicht ratifi­ziert). V g l. au eh Décision (F n. 141 ), Para. 6.

156 CESCR. General Comment No. 14, U.N. Doc.E/C.I2/GC/22 (li. August 2000), Paras. 28. 36, 44.

157 E contrario: Ein Yorschlag, Zwangsmassnahmen unter A1t. 12 auszuschliessen, wurde abge­lehnt (B EN SAUL ET AL. , Article 12: The Right to Health, in: The Intemational Covenant on Eco­nomic, Social and Cultural Rights. Oxford 2014, 977-1083, 981 ).

158 Oben, Fn. 33, 53 f. , 126. 159 So etwa 1928 das «Lübecker lmpfunglück» mit Tuberkuloseimpfungen oder der Cuuer incident

mit Polio-Yiren 1955 in den USA. Ygl. zuletzt auch: A Vaccine Scandal in China Causes an Outcry, Economist, l April 2016.

160 Oben. Fn. 15.

ZSR 201 71 105

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zwischen lmpfung und Nichtimpfung, denn dass die meisten der mit lmpfun­gen bekampften Krankheiten die Gesundheit ebenfalls schwer beeintrachtigen konnen, bedarf keiner weiteren Ausführung. 161 Gerichte haben deshalb die Wirksamkeit von lmpfungen stets bejaht - jeweils mit Berufung auf die Mei­nung medizinischer Expertinnen und Experten .162

Der Einfluss der Àrzteschaft auf die Normierung von lmpffragen wurde schon früh kritisiert: Der Staat dürfe der Bevolkerung nicht die <<Glaubensan­sichten einiger über Gebühr vergotterter Medizin-Zunft-Autoritaten» aufzwin­gen; es ware dem Auffinden der Wahrheit ebenso hinderlich, wenn der Staat in wissenschaftlichen Fragen Partei ergreife, als wenn er religiose Ansichten zu Staatsreligionen stempelte. 163 Das ist nun eine interessante Analogie, denn reli­giose Lehren zeichnen sich - zumindest nach heutigem Verstandnis -j a gerade dadurch aus, dass ihre Inhalte nicht bewiesen, sondem nur offenbart und ge­glaubt werden konnen. Zwar kann Religion durchaus die Grundlage des Normgefüges eines Gemeinwesens sein. Unser sakularisierter Staat wird aber, wie der Bundesrat schon 1879 festhielt, nicht mehr <<VOn kirchlichen Ideen be­wegt>>, sondern «durch die Naturwissenschaften beherrscht>>. 164 Unser moder­nes Wissenschaftsverstandnis geht davon aus, dass Theorien experimentell überprüft und mit <<graduell zunehmender Gewissheit>> für korrekt gehalten werden 165

- zumindest bis zum wissenschaftlichen Beweis des Gegenteils. In­sofem etfüllt die stete Hinterfragung von Impfdogmen eine wichtige und wert­volle Funktion, 166 sofem und solange sie auf Basis wissenschaftlicher Prinzi­pien 167 und nicht al s «post-faktische>> Behauptung erfolgt. 168

161 Zur Berücksichtigung der jeweiligen gesundheitlichen Gefahrdung s. unten, F n. 185. 162 Besonders deutlich in BGE 99 la 774, E. 3 und auch schon in Jacobson v. Massachusetts

(F n. 57), 23. 163 VEREIN GEGEN lMPFZWA NG (Fn. 53) , S. 5, 7. Ygl. auch fLIEGEL (fn. 126), S. 6. 164 B UN DESRAT (f n. 22), S. 54. 165 Vgl. FRANCJS BACO N, Novum Organum. The Oxford Francis Bacon Vol.11 , 2004 (1620), Prae­

fario , S. 52. 166 Ygl. zur Bedeutung divergierender Meinungen MILL (Fn. 142), S. 33. 167 Vgl. zur Illustration die Debatte um Autismus und MMR-Impfung, die durch eine Publikation

im Lancet ausgeliist wurde (ANDREW. J. WAKEFIELD ET AL., Jleal-lymphoid-nodular Hyperpla­sia, non-specific Colitis, and Pervasive Developmental Disorder in Children, The Lancet 1998, S. 637-641 ). Nachdem die Ergebnisse nicht repliziert werden konnten und aufgrund tinanzieller lnteressenskonflikte des Erstautors wurde d er Beitrag 20 l O zurückgezogen (EorTORS OF THE LANCET, Retraction, The Lancet 2010. 445). Die Autismus-These beeinflusst aber weiterhin das lmpfverhalten zahlreicher Eltern: KATRINA F. BRowN ET AL., UK Parents ' Decision-making abou t Measles-Mumps-Rubella (MMR) Yaccine l O Years after the MMR-autism Controversy: A Qualitative Analysis, Yaccine 2012, 1855-1864.

168 In di ese Kategorie fallen etwa die einschlagigen Aussemngen von Donald Trump wahrend des Wahlkampfs: SABRJNA TAVERNISEICATHERINE SAINT Lou1s , G.O.P. Yaccine Debate Has Doc­tors Despairing, New York Times , .18 September 2015 , S. A20. Ein Dialog zwischen Impfbefür­wortern und -gegnern ist inzwischen praktisch unmiiglich, da Letztere die empirischen Daten der lmpfforschung (au f die auch ich mich i m Folgenden stütze) intoto als Propaganda der Phar­maindustrie refüsieren. Es wird sozusagen in parallelen Universen über unterschiedliche Reali­tiiten diskutiert.

106 ZSR20171

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lmpfung und lmpfzwang

Dagegen wurde eingewendet, dass es zwar Aufgabe der Medizin sei, über den Nutzen von Impfungen zu entscheiden, dass es sich bei deren gesetzlicher Regelung - und insbesondere beim Impfzwang - jedoch um rechtliche und politische Entscheidungen handle. 169 Aber wie weit ist ein Primat der Politik bei komplexen und technischen Fragen wie der Wirkung und Dosierung von Antigenen überhaupt noch realistisch, wenn der Laie bereits rnit der Risiko­abschatzung bei der Einnahme eines Aspirins übe1fordert ist? 170 «Auf wen sollte», in den Worten von Zaccaria Giacometti, «der Gesetzgeber in solchen medizinischen Fragen in erster Linie abstellen, wenn nicht auf das Urteil der Mediziner?» 171 Der gleiche Vorbehalt gilt für die demokratische Kontrolle der Normsetzung: Man mag zwar postulieren, was das Volk oder seine Vertreter für gesundheitsfordemd halte, sei auch gesundheitsfordernd. 172 Dass Wirk­samkeit aber keine Frage demokratischer Mehrheiten ist, hat hierzulande die Abstimmung über die Berücksichtigung der Komplementarmedizin gezeigt: Das Volk hiess 2009 zwar A1t. ll8a BV gut- die Harmonisierung der neuen Bestimmung mit den im Krankenversicherungsrecht einschlagigen Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmassigkeit und Wirtschaftlichkeit bleibt aber unge­lost. 173

Einschlagige gesundheitsrechtliche Normen auf nationaler und internationa­ler Ebene knüpfen Rechtsfolgen denn auch durchgehend an wissenschaftlich etablie1te Kriterien. 174 Der generelle Trend hin zur Expertokratie - dem sich auch der Juristenstand nicht verschliesst 175 - ist bei gesundheitlichen Fragen ausserordentlich weit fortgeschritten. Die einschlagigen Gremien setzen sich exklusiv aus medizinischen Fachleuten zusammen; 176 das gilt insbesondere au eh für di e WHO, bei der- ei ne Ausnahme unter internationalen Organisatio­nen- sogar die Mitglieder des Exekutivorgans einschlagige Vorkenntnisse aus­weisen müssen. 177 Dass diese Konzentration von Experten mit unterschied-

169 JACOB 1 (F n. 33), S. 16 (Zinn ). 170 Gemass Packungsbeilage kann das Schmerzmittel <<Sehr selten >> zu <<schwerwiegende Blutun­

gem> führen , <<die in Einzelfallen móglicherweise lebensbedrohlich sein konnen»: <https://com pendium.ch/mpub/pnr/2522/html/de >.

171 ZACCAR IA GI ACOMETTI, Die staatspoliti sche Bedeutung des neuen Tuberkulosegesetzes. Neue Zürcher Zeitung, 28. Marz 1949. S. l - Giacometti wandte sich mit diesem Argument damals jedoch gegen die vom Parlament geplante Tuberkulosegesetzgebung.

172 So etwa Viemeister v. White, 72 N.E. 97 (N.Y. 1904), li f. (i. e. zur Rechtfenigung eines lmpfob­li gatoriums).

173 Ygl. An.32Abs. KVG; UELI KI ESER. St.Galler Kommentarzu An. 118a, Rz.33 . 174 S. z. B. An. 32 Abs. 2 Yerordnung über die Bekampfung übenragbarer Krankheiten des Men­

schen vom 29.Aptil2015 (EpY ), SR 8 18.10 1.1: An. l Abs.2 IfSG; An. L3 111-l Code de la Santé publique; An. 12 Abs. 4 li t. d IHL.

175 So wird bspw. argumentien, die Komplexitat moderner Gesetzgebung schliesse die richterliche Tiitigkeit von Laien aus; auch sollen sich gewisse - von der Rechtswissenschaft defini ene- Be­reiche demokratischen Mehrheitsentscheiden entziehen.

176 Ygl. z. B. A1t. 85 Abs. l EpY. 177 An. 24 WHO Constitution. S. auch Art. 48 lHL.

ZSR201 7 1 107

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lichen, aber oft in Personalunion ausgeübten Funktionen die Gefahr von Inte­ressenskonflikten mit sich bringt, liegt auf der Hand - so wurde etwa der WHO vorgeworfen, dass ihre Reaktion auf die HlN 1-Epidemie auch durch finanzielle Interessen der beteiligten Experten beeinflusst gewesen sei. 178 Auf nationaler Ebene werden finanzielle Verbindungen ebenfalls oft nicht offen­gelegt, 179 un d Pharmakonzeme versuchen, di e Impfgesetzgebung unmittelbar zu beeinflussen. 180 Immerhin ist im Gesundheitsbereich - im Gegensatz zu anderen Fachgebieten 181 -das Problem der Interessenskonflikte erkannt und in Ansatzen gesetzlich geregelt. 182 Der Politik (und der Óffentlichkeit) kommt aber stets eine wichtige «Wachhund»-Funktion zu (mit dem Eingestandnis, dass die primare Aufgabe des Wachhunds das Anschlagen ist).

Wenn Expertinnen und Experten von·angig die Eignung von Impfungen be­urteilen, so gilt das auch für die Erforderlichkeit- also für die Frage, ob keine mildere, gleichwertige Altemative zur lmpfung und ggf. zum Impfzwang be­steht. Die Rechtsprechung hat dies - wiederum gestützt auf den <<gegenwarti­gen Stand der medizinischen Wissenschaft>> - in der Regel vemeint. 183 Aber auch hier gilt es, die spezifischen Umstande dieser Entschiede zu berücksich­tigen, die jeweils ansteckende, schwere Infektionskrankheiten betrafen. 184 Ein Impfzwang darf in sachlicher, raumlicher, zeitlicher oder personlicher Hinsicht nicht über das zum Schutze der offentlichen Gesundheit notwendige Mass hi­nausgehen. Die Erforderlichkeit liesse sich so als Funktion mehrerer Variablen konzeptualisieren: der Pathogenitat und der lnfektiositat eines Erregers (ver­bunden mit der Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung), wie auch der Effektivi­tat, der potentiellen Nebenwirkungen und der Kosten einer lmpfung. 185

Unter Anwendung dieser Kriterien kann eine Abstufung moglicher Mass­nahmen vorgenommen werden. In einigen Fali en wird der S taa t au f jegliche Ta­tigkeit verzichten, in anderen sich auf Information und Beratung beschranken konnen. Unter dem Stichwort New Public Health soll im Gesundheitswesen

178 BIRGITTA voM LEHN , Pharmafirmen umarmen lmptberater, Frankfurter Rundschau, 8. J uni 2010, s. 12.

179 MARIO ÜEREVINI, Agenzia del farmaco sospeso il presidente per contlitto di interessi, Coniere della Sera, 27. November 2015, S. 20.

180 AMY ÜARDNER, Drugmaker Assists In Pushing for Mandate For HPY Yaccination, Washington Post, 11. Februar 2007, S. C5.

181 Ygl. etwa die zahlreichen Funktionen, die Yi:ilkerrechtsexpertinnen und -experten paralle1 aus­üben: A NNE PETERS, Rollen von Rechtsdenkern und Praktikem- aus vi:ilkerrechtlicher Si eh t, in: Deutsche Gesellschaft für Yi:ilkerrecht (Hrsg.), Paradigmen im internationalen Recht, Heidel­berg 2012, 105-173, 108 Fn. 7.

182 Ygl. z. B. Art. 85 Abs. 2 EpY. 183 Verwa1tungsgericht SG (F n. l 09), E. 2b) cc); BGE 99 la 747, E. 3b; Décision (F n. 141 ), Para. l O. 184 Ygl. oben, nach Fn. 141. 185 Ygl. dazu auch die in Art. 38 Abs. l EpY genannten Faktoren sowie die bereits in A11. 6 Abs. 2

li t. d und Art. 22 EpG vorgegebenen Schranken. Für ei n Beispiel aus der Praxis s. Medienmittei­lung: Keine Aufnahme der Rotavirus-lmpfung in den schweizerischen lmpfplan, BAG Bulletin 2008.

108 ZSR20171

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lmpfung und lmpfzwang

durch «lang anhaltende gesellschaftliche Lemprozesse>> generell der eigenver­antwortliche Selbstschutz der Bevi:ilkerung gefi:irdert werden. 186 Dies geschieht durch Informationskampagnen 187 und das Setzen positiver Anreize, wie etwa die Übemahme der Kosten für empfohlene Impfungen.188 lmpfungen werden au eh in Schulen angeboten , 189 w o bei gerade h i er der Übergang zu negativen Anreizen fliessend ist, wenn bei Nichtimpfung ein Beratungsgesprach geführt werden muss, 190 oder wenn etwa nichtgeimpfte Kinder bei einem Masemaus­bruch temporar von der Schule ausgeschlossen werden.19 1 Der (teilweise per­manente) Schulausschluss von ungeimpften Kindern steht schon nahe an einer eigentlichen Sanktionierung; 192 au eh di e Streichung von Kindergeldern unter­scheidet sich nur perspektivisch und nicht faktisch von einer Busse. 193 Eben­falls erhebliche Implikationen für die Betroffenen haben Impfungen al s Voraus­setzung für die Ausübung ihres Berufs. 194

Welche Massnahme erforderlich ist, dürfte jeweils von den bereits genann­ten Faktoren abhangen .195 Da freiwillige Empfehlungen gerade im gesundheits­prophylaktischen Bereich haufig nicht die gewünschte Wirkung erzielen, 196 ist nicht auszuschliessen, dass bei der epidemischen Verbreitung einer bekannten oder auch neuen Krankheit keine mildere Massnahme als ein lmpfzwang (bzw. ein lmpfobligatorium) erkennbar ist. Diesfalls bliebe die Verhiiltnismassigkeit im engeren Sinne zu prüfen. «Darf man>>, mit den W011en des Bundesrats, «auch wenn der hohe Nuzen der Impfung auBer Frage ist, angesichts des Scha­dens, den der Einzelne mi:iglicherweise durch sie erleiden kann, diesem zumu­

then , si eh im Interesse der Gesammtheit dieser Mi:iglichkeit auszusezen?» 197

186 B UNDESRAT (Fn. 73), S. 325. !87 Z. B . B UNDESA MT FÜ R G ESUNDHE IT, Nationa!e Strateg ie zur Masernelirnination 2011 - 2015 ,

Februar 20 12. 188 So etwa bei der FSME-lrnpfung irn Endemiegebiet: B UN DESAMT FÜ R G ESUND HEIT (Fn. 5),

S. 16. V g!. jetzt auch B uN DES RAT, Nationale Strategie zu Impfungen. Januar 2017. A11gemein zu diesem Zugang RI CHARD H. TH ALERIC Ass R. S uNSTEIN, Nudge: Tmproving Decisions about Health, Wealth and Happiness, New Haven 2008.

189 Z.B. § 18 Volksschu1 verordnung (ZH) vom28.Juni 2006 , LS412.101. 190 Ei ne entsprechende Regelung für Kindertagesstatten führte Deutschland nach der Ber1iner Ma­

sernepidemie 2015 e i n: § 34 Abs. 3 Ziff. l Oa lfSG. 191 ERI CH ASCHWAN DEN, Schulaussschlu ss fü r ungeimpfte Kinder, Neue Zürcher Zeitung, l O. J u li

2013 , S. 9. 192 Diese Problematik ist den USA weit verbreitet: JAM ES G. HoooEIL AWRENCE O. GosnN,

School Vaccination Requirements: Historical , Social, and Lega! Perspecti ves, Kentucky Law Journal 2002, S. 83 1- 890. Viele Staaten gewahren aber re ligiose un d «philosophische >> Au s­nahmen. Für deren Abschaffung in Kalifornien nach e iner Masernepidemie s. A Jab in Time, Econornist. 26 March 2016, S. 53.

193 V g!. DEPARMENT OF SOC IAL SERV ICES , No Jab, No Pay- lmmuniation Requirements, Au stra­lian Government. 4. Januar 2016.

194 Oben, Fn. 133 . Ei ne Tatigkeit i m Gesundheitswesen ware aber zugleich e i n wichtiger Faktor bei der Verhaltnismassigkeitsprüfung eines Impfzwangs, vgl. oben Fn. 185.

195 Oben , F n. 136. 196 So schon oben, Fn. 51. 197 BuN DES RAT (Fn. 22), S. 88 (Hervorhebung durch den Autor).

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Lorenz Langer

Bei der Prüfung der Zumutbarkeit werden offentliche und betroffene private Interesse abgewogen 198 - wobei das Resultat unvenneidlich beeintlusst wird durch die Auswahl der Interessen, die in die Waagschale gelegt werden. Das i m Vordergrund stehende Interesse der offentlichen Gesundheit lasst sich nam­lich unterschiedlich definieren. Ich pladiere hier für eine weite Definition der «Üesammtheit>>, wobei die Idee der Solidaritiit eine zentrale Rolle spielt. Das ist ein recht abgenutzter, auch nicht rechtstechnischer, sondern bestenfalls rechtspolitischer Begriff. Im Zusammenhang mit Impfungen hat Solidaritat aber (a) eine gesellschaftliche und (b) eine geographische Komponente.

(a) Auch in der juristischen Literatur wird teilweise die Meinung vertreten, ein Impfzwang sei i.d.R. nicht gerechtfertigt: Wenn nur wenige Kinder nicht geimpft würden, bestünde j a weiterhin ein genügender Impfschutz.199 Man ver­lasst sich also au f die sog. Herdenimmunitat: Wenn ein genügend grosser Pro­zentsatz der Bevolkenmg geimpft ist,200 sind auch die Nichtgeimpften ge­schützt. Hier profitieren diejenigen , die sich und ihre Kinder nicht impfen lassen wollen, al s <<Trittbrettfahrer>> von jenen, die das Impfrisiko au f sich neh­men. Das funktioniert nur so lange, bis die Grenze zur Herdenimmunitat unter­schritten wird. Anschliessend ist nicht nur gefahrdet, wer sich nicht impfen las­sen will, sondern auch, wer sich nicht impfen lassen kann. Dazu gehoren das Kind im Mutterleib sowie Neugeborene.201 Menschen mit Allergien oder Im­mundefekten, Immungeschwachte oder -supprimierte202 sowie altere Menschen konnen teilweise nicht geimpft werden, sind aber besonders anfállig au f Infek­tionen, die in diesen Fallen auch einen schwereren Verlauf nehmen k6nnen. 203

Dass sich Solidaritat aber auch auf jene erstrecken muss, welche einen lmpf­schaden erlitten haben , versteht sich von selbst - diese Hilfe darf nicht erst nach jahrelangen jmistische Auseinandersetzungen gewahrt werden.204

(b) Es wurde bereits erwahnt, dass Krankheitsbekampfung ei n inharent transnationales Unte1fangen ist. Früher beschrankte sich das internationale Ge­sundheitsrecht darauf, einen cordon sanitaire um Europa zu legen.205 Das ist angesichts heutiger Handelsbeziehungen und Reisetatigkeit schlicht nicht mehr

198 HAFEUN/HALLER/ KELLERITH URN HERR (f n. 139), Rz. 323. 199 MARTI N HILTI , Die Gewissensfreiheit in der Schweiz, Diss. Zürich 2008, S. 245. 200 Bei Masem e. 93-95%: Measles Vaccines, WHO Position Paper, WHO Weekly Epidemiologi­

ca l Record 2009, S. 360. 201 Ygl. zB. die perinatale Übertragung von Hepatiti s B: KOMM JSS JON FÜR lMPFFRAGEN (Fn. 2); die

MMR-Impfungen kónnen erst nach Vollendung des ersten Lebensjahres verabreicht werden: BUNDESAMT FÜR GESUND HEIT (F n. 5), Tab. l.

202 Bspw. Empfánger ei n er Organspende oder HIV-Trager. 203 NYU SCHOOL OF MED ICINE, Ethics of Vaccination , 2015, S. 9. 204 Für negative Beispiele staat licher Praxis, die selbst in Strassburg nicht remedien werden konn­

ten, s. God.frey v. United Kingdom, Appl. no. 8542179, ECommHR, 4. Februar 1982), l/a ria Sal­veui v. /ta/y, Appli cation no. 42197/98, 9. J u li 2002.

205 Vgl. MBENGUE (Fn. 88), Rz. 2.

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lmpfung und Lmpfzwang

moglich . Auch wenn hierzulande manche Infektionen fast inexistent sind, kon­nen sie schnell wieder eingeschleppt werden. Es sprechen also durchaus prakti­sche Gründe für hohe Durchimpfungsraten bei gewissen Infektionskrankheiten . Darüber hinaus fordert die Bekampfung von Krankheiten als intemationale He­rausforderung aber auch ein umfassenderes Solidaritatsverstandnis. Wir impfen uns bei Bedarf zum Selbstschutz- etwa gegen Gelbfieber -, wenn wir in ferne, «gefahrliche>> Gefilde reisen .206 Man konnte sich aber auch impfen lassen, um andere zu schützen. 207 Das gilt bspw. für die besonders umstrittene Masemimp­fung.208 Zwar werden die moglichen Komplikationen einer Masernerkrankung hierzulande oft unterschatzt, doch verHiuft die lnfektion in den allermeisten Fiil­len ohne Folgeschaden.209 In Entwicklungslandem hingegen betragt gemass WHO di e Sterblichkeitsrate bei Masern 25%, un d obwohl di e Zahl der Todes­falle zwischen 2000 und 2014 um 79% gesenkt werden konnte, endeten 2014 immer noch über 134 000 Erkrankungen tüdlich - grosstenteil s bei Kindern unter fünf Jahren. 210 Eine Ausrottung der Krankheit, wie sie die Masern- und Roteln-Initiative der WHO anstrebt, 211 wiire also ein ebenso wichtiger Schritt wie die Elimination der Pocken - oder der erfolgreiche Kampf gegen die Kin­derlahmung.

E. Ausblick

«But you got polio ... You got i t li ke the rest of us unfortunate enough to get polio eleven years too soonfor the vaccine. Twentieth-century medicine made its progress just a little too slowly for us. Today childhood summers a re as sublimely worry-free

1

as they should be. The significance ofpolio has disappeared complete/y. Nobody any­more is defenceless like we were.»2t 2

Ohne die individuelle Tragik von Impfschaden im Geringsten zu relativieren dmf nicht übersehen werden , dass der Schutz der offentlichen Gesundheit durch Einführung zahlreicher Impfungen ganz erheblich verbessert wurde. Wir leben - zumindest in den Industrielandem und was «Kinderkrankheiten >> be-

206 Vgl. EIDGENÓSSISCHE KOMM ISSION FÜR IMPFFRAGEN, Fact Sheet: Re isemedizin, Januar 2012 , s. 2.

207 Dafür mli ssten gerade Europiier sens ibilisiert sein, nachdem sie durch (teilweise absichtliche) Verbreitung etwa der Pocken wiihrend der Kolonial zeit die lokalen Bevii lkerungen (mehr als) dezimierten: 8 AX BY (Fn. 24), S. 13

208 Vgl. oben, Fn. 167. 209 ECDC, Measles Factsheet for Health Professionals, <http://ecdc .europa.eu!> (unter health

topics). 2 1 O WHO, Measles Fact Sheet, November 20 16, ' http://www. who.int/mediacentre/factsheets/fs286/

en/>. 2 11 <http://measlesrube llainitiat ive.org/>. 212 RüTH (Fn. l ), S. 248 f.

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triff- tatsachlich in einer besseren Zeit. 213 Der Blick zurück auf die Anfange der Immunologie hat aber gezeigt, dass Impfungen ab initio grossen Wider­stand hervorriefen - al so schon zu Zeiten, als Infektionskrankheiten auch in Eu­ropa noch einen hohen Zoll forderten. Trotzdem wurden lmpfungen bald zwangsweise durchgeführt. Der Impfzwang besteht gegen gewisse lnfektionen in zahlreichen Landem fort .

Ob ei n solcher Zwang gerechtfertigt ist, beurteilt sich zwar nach juristischen Kriterien, die sich aber letzten Endes auf das Ergebnis der wissenschaftlichen Forschung stützen müssen . Denn gewisse Problemgebiete haben in einer in­dustrialisierten und globalisierten Welt einen Komplexitatsgrad erreicht, der für Laien (einschliesslich der meisten Juristen) nicht mehr nachvollziehbar ist. Dazu zahlen meines Erachtens die modeme Immunologie und damit die effek­tive Bekampfung bekannter oder neu auftretender Infektionskrankheiten. Es fragt sich in der Folge, wie weit hier überhaupt die Moglichkeit besteht, unab­hangig von Expertenmeinungen zu verantwortungsvollen Entscheiden zu kom­men. Vertraut man der medizinischen Expertise (die vielleicht nicht frei von vested interests ist), oder soi l jeder diese Erkenntnisse in Frage stellen konnen, gestützt vielleicht au f personliche Erfahrungen un d unabhangig von der wissen­schaftlicher Evidenz?2 14

Diese Problematik ist keineswegs auf lmpffragen beschrankt- sie stellt sich aktuell in ahnlicher Form etwa bei Umwelt- und KJimafragen. Auch hier wird von staatlicher Seite gestützt au f Expertenmeinungen etwa des lntergovernmen­tal Panel on Climate Change die individuelle Handlungsfreiheit eingeschrankt, und auch hier werden die wissenschaftlichen Grundlagen solcher Einschran­kungen teilweise vehement bestritten. Der Klimawandel ist auch insofem ein relevantes Pendant, als dass hier die internationale Solidaritat ebenfalls eine zentrale Rolle spielt: Die Auswirkungen lassen sich nicht territorial beschran­ken, ja sie sind andernorts vielleicht noch ausgepragter als bei den Verursa­chern. Klimafragen werden inzwischen al s common concern o f humankind, al s gemeinsames Anliegen der Menschheit verstanden215

- als ein solches Anlie­gen müsste auch die Bekampfung von Infektionskrankheiten gelten.

Nun mogen diese Überlegungen reichlich abstrakt scheinen - man hat sich schliesslich gewohnt an die Scharmützel zwischen lmpfbefürwOitern und -geg­ner, die in unregelmassigen Abstanden stattfinden. Sind heute Gedanken zu einem Impfzwang überhaupt relevant?

Krankheitsbekampfung ist kein statisches Unterfangen. In Europa, aber auch in den USA nimmt die Zahl derjenigen, die Impfungen für nutzlos oder sogar

2 13 Ygl. z. B. S. W. RousH/T. V. Mu RP HY, Hi storica1 Comparisons o f Morbidity and Morta1ity for Yaccine-preventab1e Diseases in the United States, JAMA 2007,2 155 - 2163.

214 So etwa NAT tO NAL RAT (F n. 36), S. 44. 215 Z. B. TH OMAS Con iE R ETAL., The Princip1e ofCommon Concern and Climate Change, Archi v

des Yo1kerrechts 2014, 293 -324.

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lmpfung und lmpfzwang

gefáhrlich halten, stetig zu; die Herdenimmunitát für Masem wird schon heute in gewissen Regionen deutlich unterschritten.216 Als Folge davon wird der Ruf nach einem Impfzwang auch in Lándem wieder !aut, die ihn abgeschafft haben . Nach der Berliner Masernepidemie von 2015 drohte der deutsche Gesundheits­minister bereits eine entsprechende Massnahme an ;217 die CDU nahm an ihrem Jetzten Parteitag die Forderung nach einer «Grundimpfpflicht für Kinder>> für 14 verschiedene Infektionskrankheiten in ihr Programm auf.2 18

Die Diskussion um das Verháltnis zwischen personlicher Autonomie und Gemeininteressen - und um die autoritative Definition dieser lnteressen -muss deshalb stetig, sozusagen práventiv geführt werden. Hier wurde argumen­tiert, dass unter gewissen Voraussetzungen auch ein Impfzwang mit den Grund­rechtsgarantien vereinbar sein konnte, wenn er die Gefáhrdung Dritter als wich­tiges Kriterium mit einbezieht. Fest steht immerhin, dass die Diskussion u m die Zulássigkeit eines solchen Zwangs auch nach i.iber zweihundert Jahren nicht an Tntensitát einbüssen wird.

Zusammenfassung

In verschiedenen europáischen Lándern sind zahlreiche Impfungen weiterhin zwingend vorgesch1ieben - im Gegensatz zur Schweiz, wo aber die Moglich­keit eines Impfobligatoriums ebenfalls gesetzlich vorgesehen ist. Dass der Wi­derstand gegen solche Vorsch1iften wáchst, wird auf Seiten der Ãrzteschaft oft mit der (impfbedingten) Abnahme zahlreicher lnfektionskrankheiten und ent­sprechend reduziertem Risikobewusstsein erklárt. Entgegen dieser Annahme zeigt der Aufsatz im ersten Teil, dass die heftige Ablehnung von lmpfungen fast so al t ist wie die Impfung selbst, und dass die zwangsweise Immunisierung schon mit Verweis auf die personliche Preiheit und die Freiheit der Familic ab­gelehnt wurde, bevor diese als Grundrechte konstituiert waren. Anschliessend wird die Zulássigkeit eines Impfzwangs aus heutiger rechtlicher Sicht unter­sucht. Dabei argumentiert der Autor, dass die Schwelle zu einer zwangsweisen Impfung sehr hoch ist, insbesondere mit Bezug auf die Verháltnismássigkeit einer solchen Massnahme. Bisher wurde aber insbesondere den grund- und menschenrechtlichen Argumenten, di e für die Zulássigkeit eines Impfzwanges sprechen konnten, zu wenig Gewicht eingeráumt. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage des Expertentums und der Solidaritát thematisiert.

216 MAR ION CANDAU, Distrust of Vaccinations on the Rise Across EU, 27. Marz 2015, <https:// www.euractiv.com/section/health-consumers/news/distrust-of-vaccinations-on-the-rise-across­eu/>.

217 Gróhe droht mit Masem-lmpfzwang, taz- die tageszeitung, 13. A pri l 2015, S. 9. 218 CDU, 28. Parteitag, Dezember 2015, Karl sruhe. Beschluss C 16, <htlps://www.cdu.de/karl s

ruhe20 15/antraege-und-beschluesse >.

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Lorenz Langer

Résumé

Dans divers pays européens, de nombreuses vaccinations continuent à être obli­gatoires- à l'opposé de la Suisse, qui prévoit toutefois la possibilité d'une vac­cination obligatoire dans laloi . Le fait qu ' il y ait une aversion croissante contre de telles prescriptions est selon le corps médical dú au fait que la diminution du nombre de cas de maladies infectieuses (du fait des vaccinations) réduit d' au­tant la conscience du risque. La premiere partie de la présente contribution montre que bien au contraire, le rejet vigoureux de la vaccination est pres­qu'aussi ancien que la vaccination elle-même et que l'imrnunisation forcée a déjà été refusée sur la base de la liberté personnelle et de la liberté familiale avant même que ces principes aient été élevés au rang de droits fondamentaux . Par la suite, la contribution examine l' admissibilité d' une obligation de se vac­ciner dans l'optique du droit modeme. À cette fin, l'auteur argumente avec un seuil tres élevé pour admettre une vaccination obligatoire, notamrnent en rela­tion avec la proportionnalité d' une telle mesure. Or, c' est aux arguments fondés sur les droits fondamentaux et les droits de l'homme qui militent en faveur de l'admissibilité d' une obligation de se vacciner qu 'une attention insuffisante a été prêtée jusqu'à présent. Les questions de l' expertise et de la solida1ité son t également thématisées dans ce contexte.

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