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  • Sonderpdagogische Frderungin den Berliner Schulen

    Teil 6:Autismus

    UNTERRICHTSENTWICKLUNG

    Bildungsregion Berlin-Brandenburg

  • Impressum Herausgeber: Landesinstitut fr Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM) 14974 Ludwigsfelde-Struveshof

    Tel.: 03378 209-200 Fax: 03378 209-232 Internet: www.lisum.berlin-brandenburg.de

    Autorinnen und Autoren: Iris Finck und Swantje Ohder, Ambulanzlehrkrfte fr den Frderschwerpunkt Autismus der Comenius Schule, Berlin-Charlottenburg Redaktionelle Bearbeitung: Tanja Hlscher, LISUM

    Ansprechpartnerin: Christiane Winter-Witschurke, Referentin Sonderpdagogische Frderung, LISUM E-Mail: [email protected]

    Layout: Christa Penserot

    Foto: Comenius-Schule Landesinstitut fr Schule und Medien Berlin-Brandenburg (LISUM); Juni 2009 ISBN 978-3-940987-40-2

    Dieses Werk einschlielich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt. Alle Rechte ein-schlielich bersetzung, Nachdruck und Vervielfltigung des Werkes vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des LISUM in irgendeiner Form (Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfltigt oder verbreitet werden. Eine Vervielfltigung fr schulische Zwecke ist erwnscht. Das LISUM ist eine gemeinsame Einrichtung der Lnder Berlin und Brandenburg im Geschftsbereich des Ministeriums fr Bildung, Jugend und Sport des Landes Brandenburg (MBJS).

    Folgende Handreichungen sind bereits erschienen: Teil 1: Diagnostik berprfung grundlegender Kompetenzen in

    den Bereichen Wahrnehmung und Motorik am Schulbeginn Teil 2: Frderplanung Teil 3: Temporre Lerngruppen in der Schulanfangsphase Teil 4: Frderung im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung Teil 5: Frderung im Frderschwerpunkt Sprache

  • INHALT

    Vorwort.......................................................................................................... 5

    1 Was bedeutet sonderpdagogischer Frderbedarf im Bereich Autismus.......................................................................... 7

    1.1 Gesetzliche Grundlagen .............................................................................. 7

    1.2 Wie wird sonderpdagogischer Frderbedarf im Bereich Autismus festgestellt? ............................................................................... 8

    1.3 Autistische Kinder und Jugendliche im gemeinsamen Unterricht ................. 9

    2 Was man ber Autismus wissen sollte......................................... 11

    2.1 Was bedeutet Autismus? ....................................................................... 11

    2.2 Diagnostik ................................................................................................. 13

    2.3 Ursachen................................................................................................... 15

    2.4 Welches sind die zentralen Beeintrchtigungen bei Menschen mit Autismus?............................................................................................ 17

    3 Besonderheiten im Verhalten von Kindern und Jugendlichen mit Autismus ................................................................................... 19

    3.1 Besonderheiten im Zusammenhang mit Wahrnehmungsverarbeitungsstrungen.................................................... 20

    3.2 Besonderheiten durch Mngel in der theory of mind ............................... 27

    3.3 Die besondere Bedeutung von Regeln und Strukturen.............................. 31

    3.4 Aggressivitt und impulsive Ausbrche ..................................................... 32

    3.5 Sprachliche Besonderheiten...................................................................... 33

    3.6 Ungewhnliche Kenntnisse und Fhigkeiten ............................................. 34

    4 Praktische Hinweise zum Umgang mit autistischen Kindern und Jugendlichen im gemeinsamen Unterricht ........................... 35

    4.1 Welche persnliche Einstellung hilft mir im Umgang mit autistischen Kindern und Jugendlichen?.............................................. 35

    4.2 Welche Voraussetzungen wirken sich gnstig auf die Integration des .......... Kindes bzw. Jugendlichen im gemeinsamen Unterricht aus? .................... 38

    4.3 Welche Voraussetzungen sind auf Seiten der Schule wichtig?.................. 39

    4.4. Antworten auf hufig gestellte Fragen ....................................................... 43

    5 Untersttzende Manahmen.......................................................... 47

    5.1 Beratung.................................................................................................... 47

    5.2 Begleitung im Unterricht durch einen Schulhelfer oder eine Schulhelferin...................................................................................... 49

    6 Literaturverzeichnis........................................................................ 50

  • 5

    Vorwort

    Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

    fr einen frderlichen und frdernden Umgang mit autistischen Kindern und Jugendlichen ist ein Grundverstndnis der hinter dem Erscheinungsbild ver-borgenen Strung, ihrer Ursachenzusammenhnge und Auswirkungen von entscheidender Bedeutung. Auch wenn diese Entwicklungsstrung noch nicht allumfassend erforscht ist, kann der in dieser Handreichung zusam-mengefasste Erkenntnisstand sicher einen Beitrag dazu leisten, durch Ver-stehen der Problematik mehr Verstndnis im Umgang mit den betroffenen Schlerinnen und Schlern, aber auch mit ihren Bezugspersonen, zu entwi-ckeln.

    Kinder und Jugendliche mit Autismus werden in Berlin an zwei Schulstandor-ten den sogenannten Auftragsschulen und im gemeinsamen Unterricht unterrichtet. Schlerinnen und Schler in der allgemeinen Schule, ihre Eltern und Lehrkrfte werden dabei durch die Ambulanzlehrkrfte dieser beiden Schulen beraten und untersttzt. Diese Handreichung entstand in Abstim-mung dieser Berliner Ambulanzlehrkrfte fr den Sonderpdagogischen Fr-derschwerpunkt Autismus. Sie richtet sich an alle pdagogischen Fach-krfte, die im schulischen Rahmen mit autistischen Kindern und Jugend-lichen zu tun haben. Als sechster Teil ergnzt diese Handreichung den Ordner Sonderpdagogische Frderung in den Berliner Schulen, der ber die Multiplikatorinnen und Multiplikatoren im Rahmen der regonalen Fortbil-dung ausgegeben wurde. Mit der fortlaufenden Ergnzung dieses Ordners leistet das LISUM einen Beitrag zur Qualittssicherung der sonderpdagogi-schen Frderung in der allgemeinen Schule.

    Im ersten Teil dieser Handreichung werden theoretische Hintergrnde dar-gestellt, sofern sie fr den tglichen Umgang und die Frderung im pdago-gischen Feld von Bedeutung sind. Mit zahlreichen Beispielen aus ihrer langjhrigen Beratungspraxis schildern die Autorinnen im zweiten Teil an-schaulich, welche Schwierigkeiten Schlerinnen und Schler mit Autismus im Schulalltag zu bewltigen haben. Sie geben Hinweise, wie sich der tgli-che Umgang mit Betroffenen fr beide Seiten erleichtern lsst und zeigen dadurch auf, dass auch autistischen Menschen mit Hilfe geeigneter Unter-sttzung und Frderung eine umfassende Teilhabe am Schulleben ermg-licht werden kann.

    Die Gliederung der Beispiele entsprechend der unterschiedlichen im Zu-sammenhang mit der Strung auftretenden Phnomene verleiht der Hand-reichung den Charakter eines Nachschlagewerkes und soll es Ihnen erleichtern, ganz gezielte Hilfen fr einzelne Situationen zu finden.

    Die vorliegende Handreichung kann im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe nur begrenzt Aussagen ber die individuell sehr unterschiedlichen Kinder und Jugendlichen mit Autismus treffen. Das Anknpfen an Erfahrungen aus der Praxis macht es jedoch mglich, einen Orientierungsrahmen fr den

  • 6

    Umgang mit Betroffenen zu geben, ohne das Kind oder den Jugendlichen in seiner gesamten Persnlichkeit aus dem Auge zu verlieren.

    ber die in dieser Publikation enthaltenen Informationen und Hinweise hin-aus kann eine persnliche Beratung durch erfahrene Ambulanzlehrkrfte frhzeitig die Entwicklungschancen der betroffenen Schlerinnen und Sch-ler verbessern.

    Ich danke den Autorinnen fr die engagierte Arbeit an dieser Handreichung und hoffe, dass die Publikation einen Beitrag zum verstndigen Miteinander in der verantwortungsvollen Arbeit mit autistischen Kindern und Jugendlichen leistet.

    Dr. Roswitha Rpke Leiterin der Abteilung Unterrichtsentwicklung Grundschule, Sonderpdagogische Frderung und Medien

  • 7

    KMK- Empfehlung

    Das Berliner Schulrecht/die SopdVO

    1 Was bedeutet sonderpdagogischer Frderbedarf im Bereich Autismus

    1.1 Gesetzliche Grundlagen

    Die Kultusministerkonferenz beschloss am 16. Juni 2000 erstmalig Empfeh-lungen zu Erziehung und Unterricht von Kindern und Jugendlichen mit autis-tischem Verhalten. Diese Empfehlungen beschreiben sehr allgemein eine ideale, jeweils an den individuellen Erfordernissen des autistischen Kindes und Jugendlichen orientierte schulische Frderung, z. B.:

    Die Frderung ist Aufgabe aller Schulformen. Die Unterschiedlichkeit der Ausprgung der autistischen Verhaltensweisen erfordert eine individuelle Ausrichtung der pdagogischen Manahmen. Erziehungsziele, unterrichtli-che Inhalte und Methoden mssen an der Individualitt und den pdagogi-schen Bedrfnissen des einzelnen Kindes oder Jugendlichen anknpfen.1 *

    In der Berliner Verordnung ber die sonderpdagogische Frderung (VO Sonderpdagogik) vom 19.1.2005 werden vergleichbare Ziele und Aufga-ben sonderpdagogischer Frderung bindend vorgegeben: Unter dem Frderschwerpunkt Autistische Behinderung ( 14) werden die-se Punkte konkretisiert:

    1. Sonderpdagogisch gefrdert werden Schler, die wegen einer er-heblichen Entwicklungs- und Kommunikationsstrung ihre Fhigkeiten in der Schule ohne diese Frderung auch unter Einsatz von Hilfsmit-teln nicht angemessen entwickeln knnen (...)

    2. Ziel der Frderung ist die Weiterentwicklung kommunikativer Fhig-keiten und das Erlernen von individuellen Kommunikationswegen. Insgesamt soll die sozial-emotionale Kompetenz erweitert werden.2

    In Berlin gibt es zwei Auftragsschulen fr den sonderpdagogischen Frder-schwerpunkt Autismus. Sie stellen u. a. die Ambulanzlehrkrfte, die fr die Beratung in diesem Frderschwerpunkt zustndig sind und mit der Begutach-tung im Rahmen von Feststellungsverfahren beauftragt werden.3

    * Auf Grund der besseren Lesbarkeit befinden sich die Quellen- und Literaturverweise in den Funoten. Die Literaturliste finden Sie am Ende dieser Handreichung.

    1 KMK-Empfehlungen 2000, 4 2 VO Sonderpdagogik, Teil II, 14 3 siehe auch Anlage 1

  • 8

    1.2 Wie wird sonderpdagogischer Frderbedarf im Bereich Autismus festgestellt?

    Schriftliche Diagnose Autismus liegt vor

    wichtig: Grundlage fr das sonderpd.

    Gutachten ist eine qualifizierte rztliche Diagnose (Kinder- und Jugendpsychia-ter, Sozialpdiatrische Zentren, Kinder- und Jugendambulanz des Vereins Au-

    tismus Deutschland)

    I. Antrag auf Feststellung sonderpda-

    gogischen Frderbedarfs (Eltern, Schule)

    II. Kontakt zu den Ambulanzlehrkrften

    fr den sonderpdagogischen Frder-schwerpunkt Autismus*

    1. Hospitation der Ambulanzlehrkraft,

    Gesprch mit den Klassenlehrkrften Klassenlehrerin, evtl. mit Fachlehrkrf-ten; Ermittlung der fr den Frder-schwerpunkt relevanten Probleme

    2. Erstellen eines Gutachtens mit ent-sprechender Empfehlung.

    3. Bescheid ber sonderpdagogischen Frderbedarf im Frderschwerpunkt Autismus durch die Schulaufsicht

    Schriftliche Diagnose Autis-mus

    liegt nicht vor aber: Verdacht der Schule

    Abklrung (Schlerbogen/Eltern/ ggf. Sonderpdagogischer Fr-derbogen): - Liegen bereits kinder- und

    jugendpsychiatrische Untersu-chungsberichte vor?

    - Was sagen sie aus?

    Verdacht bleibt weiterhin bestehen

    Kontakt zu den Ambulanz-lehrkrften *

    Schilderung der Probleme

    Verdacht bleibt weiterhin bestehen

    Gesprch mit den Eltern ber Diagnosestellung

    Eltern sind mit Diagnosestel-

    lung einverstanden Vorstellung des Kindes bei einem

    Kinder- und Jugendpsychiater durch die Eltern

    schriftliche Diagnose Autismus liegt vor

    * Schule am Friedrichshain Tel.(030) 2934 74242 fr die Bezirke Friedrichshain-Kreuzberg, Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf, Mitte, Pankow, Reinicken-dorf

    Comenius-Schule Tel.: (030) 861 91 49 fr die Bezirke Charlottenburg-Wilmers-dorf, Neuklln, Spandau, Steglitz-Zehlendorf, Tempelhof-Schneberg, Treptow-Kpenick

  • 9

    Zielgleiche Integration mit Nachteilsaus-gleich Zieldifferente Integration

    1.3 Autistische Kinder und Jugendliche im gemeinsamen Unterricht

    Sowohl in der Grundschule als auch der Sekundarstufe I wird neben der ziel-gleichen auch die zieldifferente Integration autistischer Kinder und Jugendli-cher durchgefhrt. Die notwendige Beschulungform wird dabei in der Regel im Rahmen des Feststellungsverfahrens empfohlen.4

    ber die Aufnahme in eine Grundschul- oder Klasse der Sekundarstufe I entscheidet die zustndige Schulaufsicht dann vor dem Hintergrund des vor-gegebenen Haushaltsrahmens.

    In der zielgleichen Integration wird die Integrationsschlerin oder der Integra-tionsschler genau wie seine Mitschlerinnen und Mitschler nach dem Rahmenlehrplan des betreffenden Schultyps unterrichtet und bewertet, ggf. unter Bercksichtigung eines Nachteilsausgleichs.5 Solche Nachteilsaus-gleichsmanahmen knnten z. B. sein:

    - strukturierte Anordnung von Materialien (z. B. TEACCH-Methode), - verschiedene Methoden untersttzter Kommunikation, - Visualisierung lautsprachlicher Inhalte, - modifizierte Bearbeitung der Aufgaben (mndliche statt schriftlicher

    Bearbeitung der Aufgabe und umgekehrt, Ergnzung mndlicher Prfungsteile durch schriftliche Notizen),

    - Zulassung technischer Hilfen (Computer, Diktiergerte usw.), - Einsatz von untersttzendem Personal (z. B. Schulhelfer), - auf die Behinderung abgestimmte rumliche Voraussetzungen

    (z. B. angemessene Raumakustik, gnstige Lichtverhltnisse, ablen-kungsarme Umgebung),

    - individuell abgestimmte Gewhrung von Zeitzugaben (z. B. Verlnge-rung der Bearbeitungszeit, Gewhrung von Sonderterminen, Gewh-rung individueller zustzlicher Pausen).

    Bei zielgleicher Integration muss im Einzelfall durch die unterrichtende Lehrerin oder durch den unterrichtenden Lehrer gemeinsam mit den Ambulanzlehrkrf-ten geprft werden, ob die im Nachteilsausgleich festgelegte Abweichung von der Regelbeschulung mit dem Rahmenplan und der Stundentafel der jeweiligen Schulform vereinbar ist. Bei greren Abweichungen (z. B. Befreiung vom Sportunterricht) ist mit der Schulleitung oder gegebenenfalls mit der Schulauf-sicht zu klren, ob die Versetzung oder mgliche Abschlsse dadurch in Frage gestellt werden.

    Zieldifferente Integration bedeutet, dass die Integrationsschlerin/der Integra-tionsschler nach dem ihm oder ihr entsprechenden Rahmenlehrplan6 unter-richtet und bewertet wird.

    Bei zieldifferenter Integration sind (quantitative und/oder qualitative) Abwei-chungen im Leistungsbereich mglich

    4 zieldifferente Integration wird am Gymnasium nicht angeboten 5 siehe SopdVO 38-40 6 je nach sonderpdagogischem Frderschwerpunkt wre dies entweder der Rahmenlehrplan fr Schlerinnen und

    Schler mit dem sonderpdagogischen Frderschwerpunkt Lernen oder fr Schlerinnen und Schler mit dem sonderpdagogischen Frderschwerpunkt Geistige Entwicklung

  • 10

    Zensuren und Zeugnisse

    Sonderpda-gogische

    Frderung

    Frderplanung

    Schulhelferin-nen und - helfer

    Schulweg

    - von der Stundentafel,

    - bei Klassenarbeiten und Tests,

    - bei Zensuren und Zeugnisnoten.

    Abweichungen im Verhaltensbereich werden toleriert, soweit sie die Belange der Mitschlerinnen und Mitschler nicht unvertretbar einschrnken. Die ab-weichenden Regelungen fr den Leistungs- und Verhaltensbereich werden von der Klassenkonferenz in Absprache mit den Ambulanzlehrkrften der Auftragsschulen festgelegt. Bei Schlerinnen und Schlern mit sonderpdagogischem Frderbedarf Au-tistische Behinderung ist, soweit es sich nicht aus der Bezeichnung der Schule ergibt, auf dem Zeugnis der Frderschwerpunkt zu benennen. Die Zeugnisnoten der Unterrichtsfcher, in denen die Schlerinnen und Schler nach dem Rahmenlehrplan Lernen unterrichtet werden, sind kenntlich zu ma-chen (Sternchennoten). Unter Bemerkung ist dies auf dem Zeugnis zu erlutern. Schlerinnen und Schler mit dem sonderpdagogischen Frderschwerpunkt Geistige Entwicklung werden grundstzlich verbal beurteilt. Im brigen gelten fr die Zeugnisse alle Vorgaben der einschlgigen Regelun-gen (Schulgesetz, schulartbezogene Verordnungen, AV Zeugnisse).

    Kinder und Jugendliche mit dem sonderpdagogischen Frderbedarf Autis-mus in der Allgemeinen Schule erhalten sonderpdagogische Frderung. Der Umfang der Stunden, die der Schule dafr zur Verfgung gestellt wird, wird in den Organisationsrichtlinien fr das jeweils kommende Schuljahr fest-gelegt. Bei der Erstellung eines individuellen Frderplans knnen die Ambu-lanzlehrkrfte beratend untersttzen.7

    Es gibt einen gesonderten Etat fr die Beschftigung von Schulhelferinnen und Schulhelfern fr Kinder und Jugendliche mit dem sonderpdagogischen Frderschwerpunkt Autismus, der von Autismus Deutschland, Landesver-band Berlin als Trgerverein verwaltet wird.

    Die Auftragsschulen haben die Aufgabe, ber ihre Ambulanzlehrkrfte die Notwendigkeit eines Schulhelfereinsatzes zu ermitteln (in der Regel im Rah-men eines Feststellungsverfahrens) und die zur Verfgung stehenden Schul-helferstunden bedarfsorientiert zu verteilen. Im Rahmen des Feststellungs-verfahrens werden ebenfalls Empfehlungen dazu abgegeben, welche speziellen Aufgabenschwerpunkte die Schulhelferin bzw. der Schulhelfer hinsichtlich des von ihr oder ihm zu betreuenden autistischen Kindes oder Jugendlichen hat.

    Schlerinnen und Schlern, die wegen ihrer durch den Autismus verursach-ten Beeintrchtigungen nicht in der Lage sind, die Schule auf dem blichen Wege zu besuchen, knnen auf Antrag fr den Schulweg besondere Befr-derungsmittel zur Verfgung gestellt werden. Ein Rechtsanspruch auf Befr-derung besteht jedoch nicht. Ein Antrag auf Schulwegbefrderung muss von den Eltern ber das Sekretariat der entsprechenden Schule gestellt werden.

    7 siehe hierzu auch die Handreichung zur sonderpdagogischen Frderung Frderplanung

  • 11

    Autismus: Begriffs-klrung Autismus ist eine tief-greifende Entwicklungs-strung Asperger und Kanner frhkindlicher Autismus/ Kanner-Syndrom Asperger-Syndrom/ Asperger-Autismus

    2 Was man ber Autismus wissen sollte 2.1 Was bedeutet Autismus?

    Autismus leitet sich von dem griechischen Wort autos (selbst) ab. Ganz all-gemein wird der Begriff autistisch als Bezeichnung fr auf sich selbst bezo-genes Verhalten verwendet. Inzwischen hat er sogar Einzug in die Alltags-sprache gehalten: Menschen, die egozentrisch und unzugnglich erscheinen, werden in Unkenntnis der zugrunde liegenden medizinischen Bedeutung des Begriffs als autistisch charakterisiert. Tatschlich ist Autismus aber ist eine umfassende Beeintrchtigung mit weit reichenden Folgen fr die Betroffenen. Autismus wird den tiefgreifenden Entwicklungsstrungen zugeordnet, die nach ICD-108 folgendermaen definiert sind:

    Eine Gruppe von Strungen, die durch die qualitative Beeintrchtigung in gegenseitiger Interaktion und Kommunikationsmustern sowie durch ein ein-geschrnktes Repertoire von Interessen und Aktivitten charakterisiert sind. Diese qualitativen Abweichungen sind in allen Situationen ein grundlegendes Funktionsmerkmal der betroffenen Person, variieren jedoch im Auspr-gungsgrad. In den meisten Fllen besteht von frhester Kindheit an eine auf-fllige Entwicklung. Mit nur wenigen Ausnahmen sind die Strungen seit den ersten fnf Lebensjahren manifest. Meist besteht eine gewisse kognitive Be-eintrchtigung, die Strungen sind jedoch durch das Verhalten definiert, das nicht dem Intelligenzniveau des Individuums entspricht, sei dies nun alters-entsprechend oder nicht.9

    Die Krankheitsbilder, die heute unter den Begriff Autismus fallen, wurden erstmals in den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts dargestellt: Leo Kanner (1943 in den USA) und Hans Asperger (1944 in sterreich) beschrieben un-abhngig voneinander Strungen bei Kindern und Jugendlichen, in deren Mittelpunkt die deutlich eingeschrnkte Fhigkeit der Betroffenen steht, sozi-ale Kontakte zu entwickeln.

    Kanner bezeichnete die von ihm beschriebene Strung als frhkindlichen Autismus, Asperger verwendete fr seine Beobachtungen den Begriff autisti-sche Psychopathie. Bei gleicher Kernsymptomatik unterschieden sich der Kanner- und der Asperger-Autismus hinsichtlich des ersten Auftretens der Symptome bei den Betroffenen, des Ausprgungsgrades der Strung und einiger zustzlicher Symptome, so dass auch heute zwischen frhkindlichem Autismus (auch: infantiler Autismus, Kanner-Syndrom) und autistischer Psy-chopathie (auch: Asperger-Syndrom, autistische Persnlichkeitsstrung) un-terschieden wird.

    Obwohl im ICD-10 Asperger- und Kanner-Syndrom als eigenstndige St-rungen aufgefhrt werden, gibt es Autorinnen und Autoren, die von einer Grundstrung mit unterschiedlichen Ausprgungsformen ausgehen.10 Wing spricht von einem autistischen Kontinuum11, dessen unteres Ende der frh- 8, 10. Revision der Internationalenstatistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme"

    (ICD-10), herausgegeben von der Welt-Gesundheits-Organisation, (WHO). In der aktuellen Fassung verfgbar unter http://www.dimdi.de/static/de/klassi/diagnosen/icd10/

    9 zitiert nach Remschmidt 2008,14 10 Frith 1992 11 Wing 1992, 111

  • 12

    high- functioning-

    Autismus

    das autisti-sche Konti-

    nuum

    atypischer Autismus und

    autistische Zge

    Autismus-Spektrum-

    Strung (ASS)

    kindliche Autismus in starker Ausprgungsform und z. T. in Verbindung mit intellektuellen Beeintrchtigungen ist und dessen oberes Ende eine so gering ausgeprgte Form des Asperger-Syndroms darstellt, dass sie keine klinische Bedeutung hat. Innerhalb dieses Spektrums liegt auch der High-functioning-Autismus, eine Variante des frhkindlichen Autismus mit hohem Funktionsni-veau. Unter diesem Begriff werden Strungen von Kindern mit frhkindli-chem Autismus (Kanner-Syndrom) zusammengefasst, die ber eine gute intellektuelle Begabung verfgen, aber gleichwohl die charakteristischen Symptome des frhkindlichen Autismus aufweisen.12 frhkindlicher High-functioning- Asperger- Autismus Autismus Syndrom Abb. 1: Das autistische Kontinuum Fr den pdagogischen Bereich eignet sich das Modell des autistischen Kon-tinuums. In der Regel werden diejenigen autistischen Kinder und Jugendli-chen im gemeinsamen Unterricht beschult, die einer milden Form des frh-kindlichen Autismus bzw. dessen Variante des High-functioning-Autismus oder aber dem Asperger-Syndrom zugeordnet werden knnen. Unter pda-gogischen Gesichtspunkten ist es wenig hilfreich, zwischen diesen beiden Strungsbildern grundstzlich zu differenzieren, da die Probleme, die fr Schule und Unterricht relevant sind, in der Regel bei beiden gleichermaen vorkommen.

    Mittlerweile hat eine Erweiterung des Autismusbegriffs stattgefunden. In Diagnosen findet man auch Bezeichnungen wie atypischer Autismus (im ICD-10 ebenfalls als tiefgreifende Entwicklungsstrung aufgefhrt) und autis-tische Zge. Nach Remschmidt unterscheidet sich der atypische Autismus vom frhkindlichen Autismus dadurch, dass seine Symptome nicht in allen Bereichen den diagnostischen Kriterien des frhkindlichen Autismus entspre-chen. Der atypische Autismus ist mit einer erheblichen Intelligenzminderung verbunden. Man spricht dann auch von Intelligenzminderung mit autistischen Zgen.13 Es ist mittlerweile zunehmend zu beobachten, dass der Begriff aty-pischer Autismus aber auch in Fllen verwendet wird, bei denen keine gra-vierende kognitive Beeintrchtigung vorliegt; dasselbe trifft fr die Bezeich-nungen autistische Zge bzw. autistische Verhaltensweisen zu.

    Seit einigen Jahren wird in der Diagnostik zunehmend der Begriff Autismus-Spektrum-Strung (ASS) verwendet, unter den sowohl autistische Strungen im engeren Sinne als auch Strungsbilder subsumiert werden, die nur Teil-aspekte aufweisen.

    12 Remschmidt 2008, 52 13 ebenda, 67f.

  • 13

    Frderung bei unklarer Diag-nose

    Mehrere cha-rakteristische Symptome mssen zutref-fen

    nicht spezifizierte tiefgreifende Entwicklungsstrungen frhkindlicher High-functioning- Asperger- Autismus Autismus Syndrom atypischer Autismus

    autistische Zge

    Abb. 2: Autismus-Spektrum-Strung (ASS) 2.2 Diagnostik

    Die Erfahrung zeigt, dass das Unspezifische dieses Begriffs die Gefahr birgt, dass auch Aufflligkeiten, die zwar autistisch anmuten, jedoch nicht mit einer tiefgreifenden Entwicklungsstrung im Zusammenhang stehen, dem autisti-schen Formenkreis zugeordnet werden, z. B. Kommunikationsstrungen, Persnlichkeitsstrungen oder auch Sprachentwicklungsstrungen, beson-ders Sprachverstndnisstrungen.

    In all den Fllen, bei denen die Diagnostiker eine Strung nicht klar einem der autistischen Krankheitsbilder im engeren Sinne zuordnen, liegt es in der Verantwortung der Ambulanzlehrkraft unter sonderpdagogischen Gesichts-punkten eine Empfehlung abzugeben, ob eine autismus-spezifische Frde-rung fr die betreffenden Schlerinnen und Schler angemessen und erfor-derlich ist und ob die Zuweisung zum sonderpdagogischen Frderschwerpunkt Autismus erfolgen kann.

    Fr frhkindlichen Autismus und Asperger-Syndrom gilt die Bezeichnung Syndrom, d. h. es mssen jeweils mehrere charakteristische Symptome der Kernmerkmale in Kombination auftreten, damit von einer autistischen St-rung im engeren Sinne gesprochen werden kann. Einzelne Symptome fr sich genommen knnen auch auf andere Entwicklungsstrungen und Behin-derungen zutreffen und sogar vorbergehend bei Kindern ohne gestrte Ent-wicklung auftreten.

    Auf Grund ihrer Kompliziertheit ist die Diagnostik autistischer Strungen Kin-der- und Jugendpsychiatern, sozialpdiatrischen Zentren und kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilungen der Krankenhuser vorbehalten. Unter-sttzend bei der Diagnostik wirkt in vielen Fllen die Ambulanz des Vereins Autismus Deutschland. Erst auf der Grundlage einer solchen von Spezialis-ten erstellten Diagnose kann die zustndige sonderpdagogische Lehrkraft den sonderpdagogischen Frderschwerpunkt Autistische Behinderung empfehlen.

  • 14

    Diagnostische Schritte

    Diagnostische Kriterien nach

    ICD 10

    Die Diagnostik erfolgt in der Regel - ber mehrere Termine - ambulant. Grundlage fr die Diagnostik ist zum einen die Anamnese (Vorgeschichte), zum anderen die Verhaltensbeobachtung des Kindes durch die diagnostizie-rende Fachrztin/den diagnostizierenden Facharzt, mglichst in unterschied-lichen Situationen. Als zustzliche Hilfsmittel haben sich mittlerweile standardisierte Interviews mit Eltern oder Bezugspersonen etabliert sowie Beobachtungsskalen, mit denen Verhaltensmerkmale genauer und quantita-tiv erfasst werden knnen.14 Um einen Anfangsverdacht zu entkrften bzw. zu erhrten, gibt es verschiedene diagnostische Verfahren. z. B. ADOS Dia-gnostische Beobachtungsskala fr autistische Strungen15 sowie ADI-R, Diagnostisches Interview fr Autismus Revidiert.16. Der Diagnose zu Grun-de gelegt werden in Deutschland die Kriterien der beiden international ge-bruchlichen Klassifikationssysteme psychischer Strungen und Erkrankungen ICD-10 (WHO, 1992) und DSM-IV (APA, 1994).

    Frhkindlicher Autismus Asperger-Syndrom 1. Qualitative Beeintrchtigungen

    wechselseitiger sozialer Aktionen (z. B. unangemessene Einscht-zung sozialer und emotionaler Sig-nale; geringer Gebrauch sozialer Signale)

    2. Qualitative Beeintrchtigungen der Kommunikation (z. B. Fehlen eines sozialen Gebrauchs sprachlicher Fertigkeiten; Mangel an emotionaler Resonanz auf verbale und nonver-bale Annherungen durch andere Menschen; Vernderungen der Sprachmelodie)

    3. Eingeschrnkte Interessen und stereotype Verhaltensmuster (z. B. Starre und Routine hinsichtlich all- tglicher Beschftigungen; Wider-stand gegen Vernderungen)

    4. Unspezifische Probleme wie Be-frchtungen, Phobien, Schlaf- und Essstrungen, Wutausbrche, Ag-gressionen, Selbstverletzungen

    5. Manifestation vor dem 3. Lebens-jahr

    1. Fehlen einer Sprachentwicklung-

    verzgerung oder einer Verzge-rung der kognitiven Entwicklung. Die Diagnose erfordert, dass ein-zelne Worte im 2. Lebensjahr oder frher benutzt werden.

    2. Qualitative Beeintrchtigungen der gegenseitigen sozialen Interaktio-nen (entsprechend den Kriterien fr frhkindlichen Autismus)

    3. Ungewhnliche und ausgeprgte umschriebene Interessen (ausge-stanzte Sonderinteressen) und ste-reotype Verhaltensmuster

    4. Strung ist nicht einer anderen tief-greifenden Entwicklungsstrung zuzuordnen.

    Tab. 1: Diagnostische Kriterien nach ICD-10 (gekrzt und sinngem)17

    14 vgl. Remschmidt 2008, 20 15 Rhl et al. 2004 16 Blte et al. 2006 17 Remschmidt 2008, 17;48

  • 15

    Frhkindlicher Autismus: 0,2 0,35% Asperger-Syndrom: 0,3% ASS: 0,7% Autismus ist eine lebens-lange Beein-trchtigung

    Autismus als Folge von Funktions-strungen des ZNS

    Frhkindlicher Autismus ist eine relativ selten vorkommende Beeintrchti-gung. Von 10.000 Menschen leiden 20 bis 35 darunter, dabei sind Jungen drei- bis viermal hufiger betroffen als Mdchen.18

    Die Hufigkeitsrate beim Asperger-Syndrom liegt wesentlich hher. Bei den vergleichsweise wenigen bisher durchgefhrten epidemiologischen Studien bewegen sich die Angaben - je nachdem wie eng die diagnostischen Krite-rien gefasst wurden in Grenordnungen von ca. 30 bis ca. 70 Betroffene auf 10.000 Geburten.19 Letztere Angabe basiert auf sehr weit gefassten Kri-terien im Sinne von Autismus-Spektrum-Strungen.

    Im Gegensatz zum frhkindlichen Autismus sind beim Asperger-Syndrom die bergnge zu klinisch nicht relevanter Ausprgung der Strung flieend, was sich offensichtlich in der Schwierigkeit der Diagnoseerstellung wider-spiegelt. Etliche Asperger-Kinder erhalten erst in ihrer spten Grundschulzeit eine entsprechende Diagnose. Bis dahin wurden sie als eigenbrtlerisch bis hin zu verhaltensgestrt bezeichnet. Folgt man den o. g. Prvalenzen und nimmt eine durchschnittliche Hufigkeit von 50 auf 10.000 an, so ergibt sich grob gerechnet fr Berlin eine Zahl von 1700 Betroffenen im schulpflichti-gen Alter.

    Autismus ist eine Beeintrchtigung, die ein Leben lang bestehen bleibt; die zu Grunde liegende Strung kann weder medikaments, noch durch Thera-pie geheilt werden. Durch therapeutische Manahmen und eine spezifische pdagogische Frderung knnen jedoch manche Symptome abgemildert oder sogar zum Abklingen gebracht werden. So gehen z. B. bei Betroffenen Stereotypien und Zwangshandlungen im Verlauf der Schulzeit zurck und Flexibilitt und Offenheit gegenber der Umgebung nehmen zu. Die Kinder und Jugendlichen knnen soziale Verhaltensweisen erlernen, die ihnen die Interaktion mit anderen erleichtern.

    Bei autistischen Strungen tritt hufig die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyper-aktivittsstrung als komorbide (d. h. als eine neben der Grunderkrankung vorliegende) Strung auf. Hier, wie auch bei anderen Begleiterscheinungen, z. B. bei erhhter Unruhe, ngsten, Zwangshandlungen, kann sich eine sym-ptombezogene Behandlung mit Medikamenten unter Umstnden als hilfreich erweisen. 2.3 Ursachen

    Noch bis in die 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hinein herrschten Mei-nungen vor, die die Entstehung von Autismus mit psychosozialen Ursachen in Verbindung brachten. Alle neueren Untersuchungen im Rahmen der Ursa-chenforschung weisen jedoch eindeutig darauf hin, dass Autismus biologi-sche Ursachen hat und auf einer Funktionsstrung des zentralen Nerven-systems (ZNS) beruht.

    18 vgl. Arvidsson, T. et al. 1997 19 Remschmidt 2008, 50; Atwood 2000, 26

  • 16

    Hirn-organische Anomalien

    Abweichende Stoffwechsel-

    prozesse im Gehirn

    genetische Faktoren

    Autismus als multi-

    faktorielle Strung

    So leidvoll die Erfahrungen betroffener Eltern auch heute noch sein mgen, zumindest wird ihnen nicht mehr zur Last gelegt, ihr Verhalten sei urschlich verantwortlich fr die Behinderung ihrer autistischen Kinder. Auf die Frage, an welcher Stelle und auf welche Art die Funktion des ZNS gestrt ist, gibt es allerdings keine eindeutigen Antworten:

    - Die Tatsache, dass bei ca. einem Drittel der vom frhkindlichen Autismus betroffenen Menschen in der Pubertt epileptische Anflle auftreten, ist ein starker Hinweis darauf, dass hirnorganische Schdigungen urschlich an der Entstehung autistischer Strungen beteiligt sein knnen. Ergebnis-se moderner Untersuchungsverfahren untersttzen diese Vermutung. Kann mit ihrer Hilfe doch gezeigt werden, dass bei manchen Menschen mit Autismus Vernderungen der Hirnstruktur vorliegen.

    - Befunde aus dem Bereich der Biochemie deuten darauf hin, dass die Funktionsstrung des ZNS auch mit abweichenden Stoffwechselprozes-sen im Gehirn in Verbindung stehen kann. Untersuchungen bei Menschen mit Autismus haben z. B. Aufflligkeiten in der Konzentration verschiede-ner Neurotransmitter (Nervenbotenstoffe) wie Dopamin, Serotonin, En-dorphinen festgestellt.

    Die Untersuchungsergebnisse, die als Ursache von autistischen Strungen Vernderungen in der anatomischen Struktur des ZNS und/oder Abweichun-gen in der Neurophysiologie nahe legen, ergeben kein einheitliches Bild und lassen deshalb keine allgemeingltigen Aussagen zu. Zum einen gelten die einzelnen Befunde nicht fr alle Betroffenen, zum anderen findet man hnli-che Abweichungen auch bei Menschen mit anderen Beeintrchtigungen.

    Die Frage nach dem Auslser der zu Grunde liegenden Funktionsstrung kann ebenfalls nicht eindeutig beantwortet werden:

    - In letzter Zeit konzentriert sich die Ursachenforschung auf genetische Faktoren, die bei der Entstehung autistischer Strung eine Rolle spielen. Hatte die Familien- und v. a. die Zwillingsforschung schon eindeutige An-haltspunkte fr diese Vermutung gegeben, so ist es neueren molekular-genetischen Untersuchungen mittlerweile gelungen, Abschnitte einzelner Chromosomen zu identifizieren, auf denen sich wahrscheinlich die fr die Strung verantwortlichen Gene befinden.

    Die uneinheitlichen Ergebnisse hinsichtlich der vermuteten Auslser von Au-tismus lassen den Schluss zu, dass es sich um eine multifaktorielle Strung handelt. Es ist vorstellbar, dass mehrere Risiken (z. B. genetische Defekte, Sauerstoffmangel perinataler Probleme, Virusinfektion) zusammenfallen und in Form einer Kausalkette eine spezifische Schdigung des ZNS verursa-chen. Es wre aber auch denkbar, dass unterschiedliche Faktoren zu jeweils unterschiedlichen Zeitpunkten das Nervensystem in gleicher Art und Weise schdigen und so die gleiche Strung hervorrufen.

  • 17

    Abweichung-en in der Ver-arbeitung von Reizen

    Fehlen einer intuitiven Ein-schtzung

    2.4 Welches sind die zentralen Beeintrchtigungen bei Menschen mit Autismus?

    Strungen der Wahrnehmungsverarbeitung

    Bei aller Uneinheitlichkeit hinsichtlich der vermuteten Ursachen und Auslser von Autismus ist unbestritten, dass eine zentrale Beeintrchtigung autisti-scher Menschen in ihrer gestrten Wahrnehmungsverarbeitung liegt.

    Wahrnehmung beruht auf komplexen Verarbeitungsprozessen von Reizen, die ber unterschiedliche Sinne aufgenommen werden. Reize gelangen ber alle Sinne - Hren, Sehen, Schmecken/Riechen, taktiles Empfinden zu-nchst nur als isolierte Einzeleindrcke in das Gehirn des Individuums. Damit sich ein sinnvolles Abbild der Realitt herstellt, mssen die Reize einer Ver-arbeitung im ZNS unterzogen werden. Erst durch vielschichtige Vorgnge wie z. B. Hierarchisierung von Reizen (Unterscheidung nach wichtig und un-wichtig), Reizselektion (Ausfiltern der wichtigen Reize, Ausblenden der bri-gen), Verknpfung von Reizen (aus einer oder verschiedenen Sinnes-modalitten) knnen Einzeleindrcke, die durch die peripheren Sinnesorgane in das Zentrale Nervensystem (ZNS) gelangen, zu einem bedeutungshaften Ganzen zusammengesetzt werden.

    Bei Menschen mit Autismus sind die Prozesse der Wahrnehmungs-verarbeitung in mannigfaltiger Weise gestrt. Neben der Reizfilterschwche und Problemen bei der Integration von Reizen knnen bei Menschen mit Au-tismus bersensibilitten oder Untersensibilitten in Bezug auf Reize vorlie-gen. Ebenso kommt es vor, dass Reize verzerrt wahrgenommen werden. Dabei sind einzelne oder mehrere Sinnesbereiche betroffen und der Auspr-gungsgrad der Strung in der Wahrnehmungsverarbeitung ist individuell sehr unterschiedlich.

    Defizite in der theory of mind

    Die gestrte Wahrnehmungsverarbeitung bietet eine Begrndung fr viele Verhaltensaufflligkeiten, die bei autistischen Menschen zu beobachten sind. Allerdings lsst sich mit ihr nicht umfassend erklren, warum Betroffene in der Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen immer wieder scheitern, auch wenn der Wunsch nach Kontakt durchaus vorhanden ist.

    Hier bietet das Konzept der theory of mind20 einen Ansatz zum Verstndnis. Der Begriff beschreibt die Fhigkeit, sich und anderen Menschen psychische Zustnde zuzuschreiben. Mit Hilfe einer so genannten intuitiven Psychologie knnen schon junge Kinder Vermutungen ber Gefhle, Wnsche, Erwar-tungen, Absichten des Interaktionspartners anstellen und vor diesem Hinter-grund dessen uerungen und Handlungen interpretieren sowie das eigene Verhalten darauf einstellen.

    Autistische Menschen vermgen nicht, sich intuitiv in andere Menschen hin-einzuversetzen und aus deren Perspektive das Geschehen wahrzunehmen, um darber auf deren Gefhlszustnde und Motive rckzuschlieen. Durch

    20 vgl. Frith 1991, 1992

  • 18

    dieses Defizit in der theory of mind bleiben autistischen Menschen wesentli-che Aspekte der menschlichen Kommunikation und Interaktion verschlossen.

    Das Konzept der Defizite in der theory of mind ist in den vergangenen Jah-ren durch Ergebnisse in der Erforschung so genannter Spiegelneuronen un-termauert worden. Spiegelneuronen sind Nervenzellen, die bei Bewegungen des eigenen Krpers aktiv sind, jedoch auch feuern, wenn entsprechende Bewegungen beim Gegenber wahrgenommen werden. Dies trifft auch auf die subtilen Bewegungen in Zusammenhang mit mimischen und gestischen uerungen zu. Beim passiven Betrachter zeigen die Spiegelneuronen die gleiche Aktivitt, als wenn er selbst handeln wrde. Dieser Vorgang wird als Grundlage fr die Fhigkeit interpretiert, sich in andere Menschen hineinzu-versetzen. Durch bildgebende Verfahren wei man, dass bei Menschen mit Autismus die Aktivitt der Spiegelneuronen deutlich herabgesetzt ist und fol-gert aus diesem Umstand, dass es fr die Betroffenen physiologisch gar nicht mglich ist, eine theory of mind zu bilden.

  • 19

    3 Besonderheiten im Verhalten von Kindern und Jugendlichen mit Autismus

    Erfahrungen, die Lehrkrfte in der Begegnung mit einem autistischen Kind oder Jugendlichen im gemeinsamen Unterricht machen, werden sich vermut-lich grundlegend von ihren Erlebnissen mit Schlerinnen und Schlern ande-rer Frderschwerpunkte unterscheiden. Bei der ersten Begegnung werden sie vielleicht berrascht sein, dass das Kind entgegen der blichen Vorstel-lungen sehr wohl an Kontakt zu interessiert ist. Es verhlt sich zunchst abwartend, antwortet aber dann auf die Fragen der Lehrkraft und schaut sie dabei sogar an. Vielleicht geht es aber auch direkt auf den Erwachsenen zu, fasst ihn am Arm, berhuft ihn mit einer Aneinanderreihung von Fragen oder einer Flle von Informationen, die es loswerden mchte. Sein Gesicht ist dicht vor dem Gesicht der Lehrkraft und diese empfindet den Blick in ihre Augen als sehr intensiv. Nach kurzer Zeit ist die Lehrkraft jedoch irritiert: Der Blickkontakt des Kindes bricht unvermutet ab, es scheint den Antworten gar nicht richtig zuzuhren. Die Dinge, ber die es berichtet, haben eine unge-whnliche Thematik (z. B. Heizungsthermostate, Brillen, Gullys, militrische Dienstgrade, Fahrplne), und es ist sehr schwer, das Kind auf ein anderes Thema zu lenken.

    Mglicherweise fllt auf, dass Mimik und Stimmmodulation des Kindes selt-sam starr sind und es seine uerungen wenig oder kaum gestisch begleitet. Der Verlauf des Gesprchs vermittelt vielleicht den Eindruck, die Lehrkraft sei als Gesprchspartner gar nicht wichtig; sie fungiert eher als Zuhrer und Stichwortgeber. Im Unterschied zu Gesprchen mit anderen Kindern entsteht zwischen dem autistischen Kind und seinem Gegenber nur mhsam eine wechselseitige Kommunikation.

    Tglich beobachten Lehrkrfte ungewhnliche Verhaltensweisen und Reakti-onen des Kindes. Oft werden sie die Erfahrung machen, dass ihre bewhrten pdagogischen Impulse und Interventionen bei diesem Kind nicht wirksam sind. Es stellt sie vor Rtsel, denn sie spren, dass es besonders schwierig ist, sich in sein Erleben einzufhlen und seine daraus resultierenden Strate-gien nachzuvollziehen. Um das Kind sinnvoll frdern zu knnen, sind Lehr-krfte deshalb auf Informationen angewiesen, die ihnen den Hintergrund des beobachteten Verhaltens erklren.

    Im Folgenden werden typische Situationen in der Schule beschrieben die Besonderheiten des Verhaltens autistischer Kinder und Jugendlicher beson-ders verdeutlichen sollen. Die Auswahl umfasst berwiegend Beispiele von Schlerinnen und Schlern mit Asperger-Syndrom oder High-functioning-Autismus. Sie stammen aus der praktischen Erfahrung der Ambulanzlehr-krfte. Einige der beschriebenen Verhaltensweisen knnen in abgemilderter Form und vorbergehend auch bei Kindern ohne gestrte Entwicklung auftre-ten. Wenn Sie bei einem Schler einzelne der im Folgenden beschriebenen Verhaltensweisen beobachten, so deutet dies noch nicht zwangslufig darauf hin, dass bei ihm eine autistische Strung zugrunde liegt. Autismus ist da-durch gekennzeichnet, dass mehrere charakteristische Symptome gleichzei-tig und dauerhaft auftreten. Alle in den Beispielen beschriebenen Schler-innen und Schler haben neben den beschriebenen Aufflligkeiten noch eine Reihe weiterer autismusspezifischer Verhaltensweisen.

  • 20

    Besonderhei-ten im Zu-

    sammenhang mit Strungen im Bereich der

    Wahrneh-mungsverar-

    beitung

    Oberflchen-sensibilitt

    Akustische berempfind-

    lichkeit

    3.1 Besonderheiten im Zusammenhang mit Wahrnehmungs- verarbeitungsstrungen

    Abweichungen in der Reizverarbeitung knnen in allen Wahrnehmungs-bereichen auftreten, sowohl bei den Fernsinnen (Sehen/Hren) als auch bei den Nahsinnen (Schmecken/Riechen/taktiles Empfinden). Jeder autistische Mensch ist von diesen Phnomenen in unterschiedlicher Weise betroffen. Nur durch Beobachtung erschliet sich uns, in welchem Sinnesbereich die Reizverarbeitung abweicht, in welcher Weise und in welchem Umfang sich die Abweichung uert. Sind mglicherweise mehrere Bereiche betroffen? Handelt es sich um ber- oder Unterempfindlichkeiten, werden Reize verz-gert und/ oder verzerrt wahrgenommen? Welche Probleme entstehen durch die mangelnde Selektion, Hierarchisierung und Verknpfung von Reizen?

    Hypersensibilitten (berempfindlichkeiten)

    - Leichte Berhrungen werden als unangenehm oder schmerzhaft empfun- den; es besteht eine berempfindlichkeit in der Oberflchensensibilitt.

    Andreas hat sein Arbeitsblatt richtig ausgefllt und sich sehr viel Mhe gege-ben, sauber zu schreiben. Seine Lehrerin freut sich und lobt ihn. Spontan streicht sie ihm dabei sanft ber den Kopf. Andreas weicht sofort der Berhrung aus. Ihre Absicht, die Anerkennung positiv durch Krperkontakt zu verstrken, lst bei ihm eher das Gegenteil aus: Die unangenehme Krperempfindung berlagert das Lob, ber das er sich eigentlich freut.

    - Akustische Reize - abhngig von Frequenz oder Lautstrke werden ber- deutlich wahrgenommen und knnen unangenehme bis schmerzhafte Empfindungen auslsen.

    Cornelia nimmt wie die anderen Kinder tglich am Morgenkreis in der ersten Stunde teil. Inzwischen bringt sie sich mit kleinen Beitrgen in das Gesprch ein. Beim abschlieenden Singspiel singt sie leise mit, fasst die anderen an der Hand und hpft mit ihnen im Kreis. Es ist eine Freude, sie zu beobachten. Ganz anders sieht es aus, wenn der Refrain eines Liedes durch Klatschen begleitet wird. Dann erschreckt sie, hlt sich blitzschnell die Ohren zu und flchtet in den hinteren Teil des Klassenzimmers. Mit zugehaltenen Ohren beobachtet sie das Geschehen aus der Ferne und ist nicht zu bewegen, wieder zurck zu kom-men, bis alles vorbei ist.

  • 21

    Klte- und Schmerz- empfinden

    feste Berh-rungen

    Krper-emfinden

    Kraftdosierung

    Hyposensibilitten (Unterempfindlichkeiten)

    Hyposensiblitten treten v. a. in Bereichen auf, die die eigene Krperwahr-nehmung betreffen.

    - Das Empfinden von Klte und Schmerz kann deutlich herab gesetzt sein.

    Es ist kalt und vom Himmel fllt Schneeregen. Auf dem morgendlichen Schul-weg trifft Marc seine Lehrerin. Sie ist bestrzt: Marc steht vor ihr in Hose und T-Shirt, ohne Socken in Turnschuhen. Er ist gut gelaunt und nichts deutet dar-auf hin, dass er friert. Ihre besorgte Nachfrage, ob ihm denn nicht zu kalt sei, stt bei ihm auf Unverstndnis.

    Sean ist seit einigen Tagen anders als sonst. Seine Stirn ist hei und er wirkt matt. Erkltet scheint er nicht zu sein, und die Frage, ob und wo ihm etwas weh tue, bringt keine Klrung. Da sein Zustand sich nicht bessert, geht sein Vater nach einigen Tagen mit ihm zum Arzt. Dieser stellt eine schwere Nierenbe-ckenentzndung fest und ist erstaunt darber, dass Sean sich die starken Schmerzen nicht hat anmerken lassen.

    - Feste Berhrungen werden als angenehm empfunden. Durch den ausgeb- ten Druck wird die Tiefensensibilitt stimuliert; manche Menschen mit Au-tismus berichten, dass sie nur in diesen Momenten auf wohltuende Weise ihren Krper spren und als Ganzheit erfahren.

    Andreas, der dem anerkennenden Streicheln seiner Lehrerin ausweicht, liebt es, fest angefasst zu werden und Druck auf seinem Krper zu spren. Wenn sich die Gelegenheit im Sportunterricht ergibt, dass die Turnmatten bereinan-der gelegt werden, schlpft er blitzschnell unter die obersten zwei Matten, so dass nur noch sein Kopf hervorschaut. Er strahlt und ist entspannt, wenn sich andere Kinder noch oben drauf setzen und dadurch den Druck erhhen.

    Eingeschrnkte Eigenwahrnehmung

    Das Problem der eingeschrnkten Eigenwahrnehmung wird in folgendem Zusammenhang auch deutlich: Wenn autistische Kinder die Aufgabe erhal-ten, aus vorgefertigtem Bildmaterial die wichtigen Krperteile zu einem voll-stndigen Menschen zusammenzufgen, zeigt sich hufig, dass sie ber ein unvollstndiges Krperschema verfgen: Das fertige Bild zeigt dann z. B. Arme und Beine, die keinen Kontakt zum Rumpf haben, Hnde und Fe sind oft ohne Verbindung zu Arm bzw. Bein und seitenverkehrt platziert. Dies gibt einen deutlichen Hinweis darauf, dass die Gliedmaen nicht vollstndig als zum Krper gehrend erlebt werden und sich deshalb der Kontrolle des Betroffenen entziehen. Dies veranschaulicht das folgende Beispiel:

    - Die Intensitt der eingesetzten Krperkraft entspricht nicht der zugrunde liegenden Absicht.

  • 22

    Tonus-regulierung

    Visuelle Wahr-nehmung

    David besucht seit einem halben Jahr als Integrationskind die 1. Klasse. Er ist ein kleiner, zarter Junge mit einer recht lebendigen Ausstrahlung. In den ersten Monaten war es mit ihm nicht einfach: Er konnte nie abwarten, rief dazwischen und drngelte sich vor, er nahm anderen Kindern ohne zu fragen etwas weg und mischte sich in deren Spiele ein, so dass es nicht weiterging. Inzwischen ist er sehr viel ansprechbarer. Seine Klassenlehrerin darf ihm jetzt sagen, worauf es ankommt, und er gibt sich viel Mhe, sich daran zu halten. Er wei auch, was es bedeutet, wenn sie sagt: Jetzt musst du dich bei Marie ent-schuldigen!. Er hat beobachtet, wie das manche der anderen Kinder tun: Hin-gehen, das Kind kurz in den Arm nehmen und Entschuldigung sagen. Das tut er nun auch, aber Marie windet sich, denn seine Umarmung fllt viel zu derb aus. Seine Entschuldigung kommt bei Marie nicht so recht an.

    Die eingeschrnkte Wahrnehmung in Bezug auf den eigenen Krper kann zur Folge haben, dass autistische Menschen, wenn sie andere Menschen berhren und mit Gegenstnden umgehen, aus unserer Sicht rcksichtslos bzw. grob handeln. Der Rckkoppelungsmechanismus, z. B. beim Greifen den Krafteinsatz ber das eigene Druckempfinden der Hand zu regulieren, findet nur ungengend statt.

    Karin ist im 2. Schuljahr. Sie ist eine gute Schlerin, kann lesen und rechnen wie die anderen Kinder, sie beherrscht die Rechtschreibregeln schon erstaun-lich sicher. Wenn sie allerdings ihr Arbeitsblatt ausfllt, wird ein Problem deut-lich: Sie hlt den Stift verkrampft und drckt so stark auf, dass die Bleistiftspitze immer wieder abbricht. Sie radiert so lange und mit soviel Druck, dass das Pa-pier zerknickt und manchmal sogar zerreit. Offensichtlich muss Karin den Stift sehr fest anfassen, damit sie ihn gengend sprt, um ihn zielgerichtet zu bewe-gen. Die Strke des Drucks auf das Papier kann sie nicht regulieren. Sie be-greift die erhaltenen Aufgaben zwar sehr schnell, bekommt sie aber oft in reduziertem Umfang, da sie durch ihre schwerfllige Graphomotorik mehr Zeit bentigt. Als zustzliche Hilfe sind die Abstnde der Linien in ihrem Schreibheft und auf den Arbeitsbgen vergrert.

    Verzerrte Wahrnehmung von Reizen

    Bei den autistischen Kindern beobachten Lehrerinnen und Lehrer hufig ein Verhalten, dessen Ursache offenbar in einer verzerrten Wahrnehmung im visuellen Bereich liegt. Wenn eine Schlerin oder ein Schler z. B. bei der Aufgabe, ein Gemlde zu beschreiben, ber die Aufzhlung der Farben nicht hinauskommt oder nur ein unwichtiges Detail benennen kann, ist davon aus-zugehen, dass sich in seiner visuellen Wahrnehmung Vorder- und Hinter-grund mit den dargestellten Personen und Objekten nicht zu einer Gestalt fgen. Zu einem anderen Zeitpunkt ist zu beobachten, dass derselbe Junge unsicher die Treppe hinuntergeht und sich dabei angespannt am Treppenge-lnder festhlt. Beide Beobachtungen deuten darauf hin, dass er womglich nur zweidimensional wahrnimmt. Wie einige andere autistische Menschen berichtete Donna Williams ber dieses Problem in einem Fernsehinterview. Sie hatte zuvor eine Brille erhalten, die durch das Ausfiltern bestimmter Farbanteile (Irlen-Linsen), diese Einschrnkung kompensierte.

  • 23

    Verzgerte Reaktionen

    Reizselektion

    Auf einmal war da die ganze Tiefe, die ich vorher nie gesehen hatte. Vorher war die Welt wie ein Gemlde, wo die Dinge einfach nur bereinander lagen, und dann, pltzlich war es eine Welt mit Abstand zwischen mir und allem an-deren. Ich konnte mich im Raum bewegen, den ich tatschlich sah und fhl-te.21

    Verzgerte Reaktion auf Reize

    Im Unterricht und in der Interaktion mit autistischen Kindern und Jugendli-chen fllt hufig auf, dass sie auf Aufforderungen mit einer zeitlichen Verz-gerung reagieren. Auf die Bitte am Beginn der Stunde, bestimmte Arbeits-materialien auf den Tisch zu legen, erfolgt keine Reaktion; die Pausenklingel lutet zur Hofpause, alle stehen auf, aber das autistische Kind bleibt sitzen; die Aufforderung, an die Tafel zu kommen, scheint der Jugendliche zu ver-stehen, er kommt ihr aber nicht nach. Die gewohnte Erfahrung bei Lehrkrf-ten ist, dass der Betreffende nicht aufgepasst hat oder eine Weigerung die Ursache ist. Das beschriebene Verhalten hat bei autistischen Schlerinnen und Schlern meist einen anderen Hintergrund: Durch die Probleme bei der Reizverarbeitung bentigen sie eine gewisse Zeitspanne, um zu reagieren.

    In einem Fernsehinterview wird Donna Williams mit genau dieser Schwierig-keit konfrontiert und erklrt sie folgendermaen:

    Wenn Sie mich etwas fragen, was ich noch nicht schon oft von anderen (...) gefragt worden bin, wrde es einige Zeit dauern, bis ich den Sinn Ihrer Frage auch verstehe. Eben sind Sie z. B. aufgestanden und haben zu ihm (eine drit-te Person, d.Verf.) gesagt: Willst Du, dass ich das Fenster schliee? Ich habe jeden Ton gehrt, und ich habe jedes Wort gehrt. Und hier drin (zeigt auf ih-ren Kopf, d.Verf.) ist auch die Bedeutung jedes einzelnen Wortes gespeichert. Aber in dem Moment, wo Sie es aussprechen, sind es fr mich nur irgendwel-che Gerusche, bis Sie dann tatschlich das Fenster geschlossen haben... Ungefhr sieben Sekunden, nachdem Sie es gesagt haben, habe ich erst die Worte verarbeitet. (...) Sie sagen normalerweise: Mchtest du, dass ich das Fenster schliee, oder soll ich dieses und jenes tun? Und wann gehen wir in den Park? Und, und, und... Wenn ich also sieben Sekunden hinter jedem Satz bin, hre ich, wenn ich beim fnften Satz ankomme, noch: Blblblblblbl. Ein groes Durcheinander von sich berschlagenden Geruschen, durch die ich noch durch muss, und am Ende hnge ich mglicherweise nicht nur sieben Sekunden hinterher, sondern 30 Sekunden oder gar eine Minute.22

    Probleme bei der Hierarchisierung und Selektion von Reizen

    Das oben genannte Beispiel verdeutlicht ein weiteres Problem in der Wahr-nehmung: die Reizberflutung. Durchschnittlich 70.000 Reize treffen pro Se-kunde auf unsere Sinneskanle. Etwa 70 von ihnen werden bewusst wahrgenommen, nur auf einige wenige reagieren wir auch bewusst; eine in-takte Wahrnehmungsverarbeitung bewltigt innerhalb von Sekundenbruchtei-

    21 Ausschnitt aus einem Interview; VOX, 25.1.97 22 ebenda

  • 24

    berlastung des ZNS

    Entlastung durch Stereo-

    typien und Rituale

    len ber den automatischen Mechanismus der Hierarchisierung und Selekti-on die Aufgabe, unwichtige Reize auszusortieren. Bei autistischen Menschen funktioniert dieser automatische Mechanismus in der Regel nur unvollkommen. Sie mssen oft ein hohes Ma an Anstrengung aufbringen, um wichtige und unwichtige Informationen zu trennen und die Aufmerksamkeit auf Relevantes zu fokussieren. Auf eine Lernsituation ber-tragen bedeutet dies:

    Sorgen Sie fr mglichst wenige Umgebungsreize! Je geringer die Umge-bungsreize sind (z. B. Lautstrke-Pegel, motorische Unruhe in der Gruppe) und je eindeutiger und klarer die fr den Unterricht relevanten Impulse durch die Lehrkraft sind, desto besser kann sich ein Kind mit Autismus konzentrie-ren und beteiligen.

    Durch ein berma an Reizen, die womglich noch verschiedene Sinnes-modalitten gleichzeitig beanspruchen, wird das zentrale Nervensystem berlastet. Dies hat bestimmte Kompensationsstrategien zur Folge: Betroffene richten ihre Aufmerksamkeit auf ein einzelnes Signal, unabhngig von dessen Relevanz fr das Geschehen (z. B. das symmetrische Muster auf dem Pullover des Tischnachbarn). Sie fhren sich selbst taktile, visuelle oder akustische Reize zu, um Strendes zu berlagern und auszublenden. Sind die Versuche, sich ber solche Strategien Entlastung zu verschaffen, nicht ausreichend, kann es zu einem inneren und in Folge zu einem ueren Zusammenbruch kommen. Ein fr uns normales Gesprch endet dann bei einem autistischen Menschen in einem Desaster. Donna Williams schildert anschaulich, wie ihr whrend eines Gesprchs mit einem befreundeten Ehe-paar die Sicherungen durchbrennen:

    Gesprchsfetzen regneten auf meine Ohren herab. Aus dem Fernsehen kam Blabla. Auf dem Teppich lag ein unordentliches Muster aus Flusen. Die Papie-re auf dem Tisch mussten aufgerumt werden. Die Maserung der Holzvertfe-lung war nicht symmetrisch. Unter dem Sofa lag ein Strumpf. Ein Strumpf unter dem Sofa? Ein Strumpf unter dem Sofa? Ein Strumpf unter dem Sofa? Verdammt! Was ist denn blo ein Sofa? Ich betrachtete den beigefarbenen, rechteckigen Klecks vor mir. Die Bedeutung war abgeschaltet, nicht nur fr das, was ich durch die Ohren, sondern jetzt fr das, was ich durch die Augen wahrnahm. Ich konnte sehen, aber ich hatte absolut keine Ahnung mehr, wozu es gut war. (...) Ich zerfiel zu einem heulenden Hufchen Elend.23

    Selbststimulierendes Verhalten, Stereotypien und Rituale

    Anhand der beschriebenen Abweichungen in der Wahrnehmungsverarbei-tung lsst sich nachvollziehen, dass bei der Konfrontation mit den Signalen der Umwelt eine Flle von Problemen entsteht. Autistische Menschen sind nicht in der Lage, diese Eindrcke in Bezug auf sich selbst und das Umfeld nach Wichtigkeit zu ordnen. Manche Reize werden gar nicht wahrgenom-men, andere zu stark und dies hufig verzerrt und zeitlich verzgert. Diese

    23 Williams 1994, 154

  • 25

    Spezial- Themen berlagerung strender Reize

    Strukrurierung der Auenwelt nach eigenen Kriterien

    Art von Wahrnehmung fhrt zu einem chaotischen Abbild der Umwelt, in der die Orientierung auerordentlich erschwert ist.

    Um diesem schwer zu ertragenden Zustand nicht ununterbrochen ausgelie-fert zu sein, entwickeln autistische Kinder eine Flle von Kompensations-handlungen, so genannte Stereotypien und Rituale. Stereotypien werden auch eingesetzt, um sich selbst akustisch, taktil oder visuell zu stimulieren. Diese knnen die Funktion haben, irritierende Umweltreize zu berlagern, sie dadurch auszublenden und damit fr innere Stabilitt zu sorgen.

    Kompensationsstrategie bei Menschen mit Asperger-Syndrom ist hufig die stereotype Beschftigung mit speziellen Themen. Neben der berschauba-ren und damit Sicherheit schaffenden Auseinandersetzung mit einem Ge-genstand bietet ein solches Thema ein sicheres Terrain in der Kommunika-tion mit anderen. Ein Gesprch immer wieder auf dasselbe Thema zu bringen, ist der Versuch, sich vor unerwarteten Gesprchsinhalten zu scht-zen, denen diese Menschen nicht gewachsen sind.

    Insgesamt dienen stereotyp wiederholte Kompensationshandlungen und -strategien einem Menschen mit Autismus dazu, sich Ordnungsinseln inmit-ten des erlebten Chaos zu schaffen, die er selbst gestalten und kontrollieren kann. Auf die Mitmenschen kann dies hufig im tglichen Umgang belastend wirken. Bei autistischen Kindern und Jugendlichen im gemeinsamen Unter-richt lassen sich z. B. folgende Verhaltensweisen beobachten:

    Jan besucht die 3. Klasse einer Grundschule. Wenn die Kinder in offener Unter-richtsform ihre Wochenplan-Aufgaben bearbeiten, drfen sie auch von ihrem Platz aufstehen und sich mit anderen beraten. Jan bleibt auf seinem Stuhl und beginnt seine Arbeit. Nach kurzer Zeit spricht er beim Schreiben laut vor sich hin. Seine Lehrerin bittet ihn dann, seine Lautstrke zu kontrollieren, da es zu strend wird. Nach kurzer Zeit beginnt er jedoch wieder damit. Als mit fort-schreitender Zeit der Geruschpegel in der Klasse etwas ansteigt, schaukelt Jan zustzlich mit dem Oberkrper vor und zurck, wobei er weiterarbeitet. Die durch die anderen Kinder verursachten Gerusche kann Jan in der akustischen Wahrnehmung nicht gengend ausfiltern, um sich zu konzentrieren. Damit er ihnen nicht ausgeliefert ist, spricht er laut: Das Ziel ist die berlagerung von strenden Reizen. Bei zunehmender Geruschberflutung setzt er die Bewe-gung seines Oberkrpers als Selbststimulation zur Untersttzung der Konzent-ration ein. David hat lediglich ein Thema, das ihn interessiert: Wasserrohre und Regenrin-nen und deren vielfltige Verbindungen. In den ersten Wochen hat er den Pau-senhof und das gesamte Schulhaus auf Rinnen, Zu- und Abflussrohre abgesucht. Er muss immer wieder berprfen, ob sie noch da sind. Mit Fanta-sie und Ausdauer stellt sich David aus vielfltigen Materialien Rohre her und wenn es ans Malen geht, bringt er ausschlielich komplizierte Rohrsysteme aufs Papier. Unterschiedlichste Gegenstnde aus seiner direkten Umgebung definiert er zu Rohren um: der Handlauf des Treppengelnders, abgebrochene Zweige, das Sprungseil, ein Stck Kreide. Er verbindet Seile miteinander und beschreibt, wie das Wasser durch sie hindurchluft. Wenn er morgens die Schultreppe hinaufgeht, braucht er Zeit, um den Handlauf des Gelnders hin-gebungsvoll zu streicheln und freudig festzustellen, dass es als sein Lieblings-rohr noch vorhanden ist. David nimmt rege Kontakt auf zu anderen, und auch

  • 26

    Zwangs-

    handlungen als Selbsthilfe

    das geschieht immer ber sein Lieblingsthema. Da die Lehrkrfte den Hinter-grund und die Funktion dieser Stereotypie kennen, nehmen sie sein Thema auf und variieren es. Seine Mitschlerinnen und Mitschler wenden sich in Gespr-chen dagegen nach kurzer Zeit anderen Dingen zu, da das Interesse erlischt. Davids Strategie, dem Chaos seiner Umgebung zu begegnen, besteht offen-sichtlich darin, die Welt unter dem Aspekt Rohre zu strukturieren: Bekanntes wird wiedergefunden, Neues eignet er sich unter diesem Blickwinkel an, er kann innerhalb eines sicheren Rahmens agieren und verfgt ber eine Platt-form, von der aus er Kontakt aufnimmt. Seit sich David in der Schule heimisch fhlt, lsst er sich phasenweise auch auf Angebote ein, die nichts mit dem Thema Rohre zu tun haben.

    Lassen Sie so weit wie mglich die stereotypen Verhaltensweisen zu! Stereotypien und zwanghafte Handlungen rigide unterbinden zu wollen, w-re wegen ihrer offensichtlichen Funktion, vor berlastung zu schtzen, nicht nur uerst fragwrdig, sondern wrde auch bermenschliche Kraft kosten und zu fortwhrenden schweren Konflikten mit dem autistischen Menschen fhren. Es muss erprobt und mit dem Betroffenen ausgehandelt werden, wann er sich begrenzen kann und muss.

    Zwanghaftes Verhalten

    Stereotypien und Rituale knnen zwanghaften Charakter annehmen. Die oben beschriebene Funktion der Entlastung und Selbstregulierung wird dann berlagert durch das Phnomen, dass der Betroffene diese Handlungen nicht mehr unter Kontrolle hat und ihnen damit ausgeliefert ist.

    Manuel besucht die 8. Klasse. Die Flle des Unterrichtstoffes bewltigt er m-helos, allerdings bereiten ihm die hufigen Raumwechsel (Fachunterricht) Probleme: Vor der geffneten Tr des Chemieraums z. B. verharrt er, als ob ei-ne unsichtbare Schranke ihn am Eintreten hindert. Er fhrt sich endlos wieder-holende Schrittkombinationen aus und schaut abwechselnd auf den Boden und in den Raum. Seine Mitschlerinnen und Mitschler kennen das bereits und ig-norieren Manuels seltsam anmutendes Verhalten. Erst als der Lehrer kommt und sagt: Komm bitte mit rein und mach die Tr zu, schafft er es, die Schwelle zu berschreiten und sich seinen Platz zu suchen. Bei Manuel hat eine stereotype Eigenart extrem zwanghaften Charakter ange-nommen. Sein Verhalten drckt Angst aus, sich aus einer Umgebung in eine andere zu begeben, weil vermutlich Unsicherheit darber herrscht, was ihn jetzt erwartet. Er verfllt in ein stereotypes Handlungsritual, das ihm zunchst ein Gefhl von Sicherheit gibt, jedoch nach einiger Zeit auch etwas Qualvolles be-kommt: Er kann die Schrittkombinationen nicht willentlich beenden, obwohl er wei, dass er doch den Raum eigentlich betreten mchte. Nur das eingespielte Ritual der stets gleichen ruhigen Ansprache durch seinen Lehrer hilft ihm, sei-ne Zwangshandlung zu beenden.

    Betroffene beschreiben hufig, welch starke Einschrnkung sie durch ihre zwanghaften Handlungen erfahren: Ihnen ist bewusst, dass sie trotz gleich-zeitig zu erwartender Irritationen etwas Bestimmtes tun wollen oder sollen. Die gewissermaen vorgeschaltete stereotype Handlung, die ber die Irrita-

  • 27

    Wunsch nach Stabilitt der Auenwelt

    Besonderhei-ten vor dem Hintergrund des Mangels in der theory of mind:

    tion hinweghelfen soll, entwickelt eine Eigendynamik, die sich der Steuerung entzieht. Sie kann z. B. nicht willentlich beendet werden und erweist sich da-durch als Blockade, den eigentlich beabsichtigten Schritt zu tun.

    Das Bestehen auf Gleicherhaltung der dinglichen Umwelt sowie zeitli-cher und rumlicher Strukturen

    Die vielfltigen Irritationen, die durch die Strungen in der Wahrnehmungs-verarbeitung hervorgerufen werden, sind die Ursache dafr, dass viele autis-tische Menschen auf Abweichungen vom Gewohnten empfindlich reagieren. Wenn die Sitzordnung in der Klasse verndert wird, wenn Unterrichtsstunden ausfallen oder vertauscht werden, wenn der angekndigte Ausflug nicht statt-finden kann oder das Ausflugsziel kurzfristig verndert wird, wenn der Klas-senraum neu gestaltet wird, kann das Verunsicherung oder auch Angst auslsen. Durch die berraschende Vernderung eines strukturgebenden Parameters kann eine Irritation in solch groem Umfang ausgelst werden, dass jede Orientierung verloren geht.

    Marvin, ein Erstklssler, wird von seiner Lehrerin gebeten, seinen Schreibhefter aus der gewohnten Schublade im Regal zu nehmen. Zielsicher steuert er dar-auf zu, whlt zwischen den Heftern und findet nicht, was er sucht. Er nimmt die ganze Schublade heraus, kippt den Inhalt auf den Fuboden und durchsucht noch einmal alles. Der Schreibhefter ist nicht da. Mit immer verzweifelterer Stimme ruft er: Ich kann ihn aber nicht finden! Ich kann ihn aber nicht finden! Er ist doch immer hier drin! Rasch beginnt er zu weinen und wird wtend. Die Schublade fliegt in die Ecke, und den Heftern auf dem Fuboden versetzt er Tritte. In seiner Verzweiflung ist er kaum ansprechbar und der Vorschlag, in seiner Mappe nachzuschauen, erreicht ihn nicht. In einer ruhigen Situation ist es fr ihn kein Problem, einen Alternativvorschlag anzunehmen und ihn umzu-setzen. Hier ist jedoch Erwartetes nicht eingetroffen und hat zur Folge, dass er blockiert und vollkommen aufgelst ist.

    Um sich in einem lebendigen Schulalltag mit vielfltigen Reizen zu orientie-ren, sind autistische Schlerinnen und Schler individuell unterschiedlich stark darauf angewiesen, vertraute Strukturen verlsslich wieder zu finden, die ihnen Halt im Chaos geben. 3.2 Besonderheiten durch Mngel in der theory of mind

    Folgt man der unter 2.4 erwhnten theory of mind, so ist davon auszuge-hen, dass bei autistischen Menschen ein Defizit hinsichtlich ihrer Fhigkeit besteht, Vorstellungen und Bewusstseinslagen anderer Menschen wahrzu-nehmen. Dieser Mangel wird deutlich, wenn es um den affektiven Bereich geht.

  • 28

    Schematischer

    Umgang mit Beziehungs-

    mustern

    Hilfestellung

    Eingeschrnktes Erfassen von Bedeutungen oder fehlende bzw. man-gelhafte Konzepte von Begriffen mit sozial-emotionalem Gehalt

    Im Umgang mit autistischen Menschen wird hufig deutlich, dass sie abstrak-te Begriffe mit sozial-emotionalem Inhalt in ihrer komplexen Bedeutung oft nicht verstehen. Stze wie Ich bin enttuscht, Das ist peinlich, Das tut man nicht unter Freunden, Sei doch ruhig grozgig, Jessica flirtet gern knnen fr den Betroffenen rtselhaft bleiben. Er hat kein intuitives Gespr fr die qualitative Bandbreite, die solche uerungen implizieren. Gesunde Kinder eignen sich diese Fhigkeiten in der lebendigen Auseinandersetzung mit der Umwelt beilufig an. Dies gelingt einem autistischen Kind nicht. Es macht allerdings Versuche, sich zumindest an den Begriffen zu orientieren, die in ihrer Eindeutigkeit keiner Interpretation bedrfen. So werden gefhls-mige uerungen anderer entsprechend eingeordnet und auch selbst an-gewandt.

    Jakob besucht die 8. Klasse einer Realschule. Er ist ein aufmerksamer und leistungsfhiger Schler mit guten Zensuren. Als er eines Tages in der Pause mit seinem Stuhl zurckrutscht, klemmt er hinter sich die Finger einer Mitsch-lerin Johanna zwischen Stuhllehne und Tischkante heftig ein und merkt dies nicht gleich. Johanna schreit auf und schimpft auf ihn ein: Aua, pass doch auf, du Bldmann!! Jakob ist erschrocken und zutiefst verwirrt, so dass er sich kaum beruhigen kann. Er mag Johanna, und auch sie ist ihm immer freundlich begegnet. Bisher hatte er die Beziehung zu Johanna immer mit lieb haben verbunden, was er jetzt erlebt hat, kann er nur in die Kategorie Sie hasst mich! Wir sind keine Freunde mehr! einordnen.

    Solche eindimensionalen kategorischen Zuordnungen erweisen sich fr die Deutung eines Geschehens als unbrauchbar. Sie lassen z. B. die Tatsache, dass Freundschaft auch Konflikte beinhalten darf, auen vor. Jakob ver-steht und verwendet Begriffe wie Liebe und Hass, Freundschaft und Feind-schaft schematisch und er orientiert sich dabei lediglich an sichtbaren Ereignissen. Eine Erweiterung seiner Interpretationsmglichkeiten gelingt am ehesten, wenn man sie mit ihm zunchst an Hand einer ebenfalls schemati-schen Methode regelrecht erarbeitet:

    Nach dem Ende des Unterrichts setzt sich Jakobs Lehrerin noch einmal mit ihm und Johanna zusammen. Er ist sich immer noch im Unklaren darber, ob ihn nun Freundschaft oder Feindschaft mit Johanna verbindet. Die Lehrerin nimmt ein Blatt Papier und zeichnet eine senkrechte Skala, auf der sie die Zahlen 1 bis 10 markiert. Neben die 1 schreibt sie Freundschaft, neben die 10 Feind-schaft. Sie bittet Johanna, mit einem roten Filzstift die Zahl zu markieren, die ihrem momentanen Gefhl Jakob gegenber entspricht. Johanna macht einen Kreis um die 3 und sagt, dass sie sich am folgenden Tag wahrscheinlich so weit beruhigt hat, dass sie dann die 2 markieren kann. An Hand dieser schema-tischen Visualisierung kann Jakob jetzt nachvollziehen, dass es zwischen den Extremen von Freundschaft und Feindschaft Abstufungen gibt, fr die er bisher keine Konzepte hatte. Am nchsten Tag kommt er mit der Skala und dem Filzstift noch einmal zu Jo-hanna, um zu erfahren, ob sich bei ihr etwas verndert hat. Er freut sich: Sie macht einen dicken Kreis um die 2. Die Skala hat er seitdem immer in seiner Schultasche und nimmt sie zu Hilfe, wenn er in hnliche Schwierigkeiten gert.

  • 29

    Sprache wird eins-zu-eins verstanden und benutzt Ironie

    Kommunikati-on ist ein komplexer Wahrneh-mungs- und Reaktionspro-zess

    Das wortwrtliche Verstehen

    Wenn wir kommunizieren, verstehen wir verbale Botschaften anderer vor dem Hintergrund der jeweiligen Situation, der vermuteten emotionalen Ver-fassung des Gegenbers sowie in Zusammenhang mit seiner Stimmlage, Mimik und Gestik. Wir wissen, zwischen den Zeilen zu lesen und knnen meist die hinter dem gesprochenen Wort liegende Absicht des Gesprchs-partners entschlsseln. Autistischen Menschen gelingt das in der Regel nicht. Die Frage Weit du, wie spt es ist?, die mit der Absicht gestellt wird, Auskunft ber die Uhrzeit zu bekommen, beantwortet ein autistisches Kind in aller Wahrscheinlichkeit mit ja oder nein. Dieses Phnomen des wortwrt-lichen Verstehens trifft auch auf Metaphern und Redewendungen zu.

    Charly besucht eine 6. Grundschulklasse. Da er aus einem englischsprachigen Elternhaus kommt, fllt ihm der Englischunterricht leicht. Bei einem Bcherei-besuch haben sich alle Kinder englische Bilderbcher ausgeliehen, die sie nun im Unterricht vorstellen und in Ausschnitten vorlesen. Als Nina aus ihrem Buch, in dem auch das englische Wetter beschrieben wird, vorliest und zu dem Satz kommt: Its raining cats and dogs, meldet sich Charly und sagt: Das werden die Katzen eher berleben als die Hunde, denn sie landen immer auf ihren vier Beinen!

    Unsere Sprache ist mit einer Flle von Redewendungen durchsetzt, was uns hufig gar nicht so bewusst ist. Aussagen wie: Bleib am Ball, Du nimmst mich wohl auf den Arm, Ich lach mich tot, Rei dich mal zusammen oder Rutsch mir den Buckel runter knnen einen autistischen Menschen zutiefst verwirren. Verhngnisvoll kann sich das wortwrtliche Verstehen auswirken, wenn es um Ironie geht, wo hufig genau das Gegenteil dessen gemeint ist, was gesagt wird.

    Als die Lehrerin durch die Klasse geht und die Hausaufgaben kontrolliert, schaut sie auf Charlys zerknickten, unvollstndig ausgefllten Arbeitsbogen und sagt: Na, das ist dir ja mal wieder prima gelungen! Charly lehnt sich ent-spannt zurck und sonnt sich in dem vermeintlichen Lob.

    Mangelnde Feinabstimmung in der Interaktion

    Forschungsergebnisse der kognitiven Psychologie belegen, dass die Beson-derheiten autistischer Menschen im interpersonalen Kontext auf ihre spezifi-schen Defizite in der sozialen Wahrnehmung zurckgehen.24 Eindrcke, die auf verschiedenen Sinnesmodalitten gleichzeitig eintreffen, werden nicht zu einem sinnvollen Ganzen verknpft. Bei der Deutung emotionaler Befindlich-keiten anderer kommt es jedoch z. B. darauf an, das Gesprochene des Inter-aktionspartners in Verbindung zu setzen mit dessen Stimmlage und der eingesetzten Lautstrke (akustischer Kanal) sowie mit dessen Gestik und Mimik (visueller Kanal). Erst wenn die Gesamtheit der ausgesendeten Signa-le aufgenommen wird, ist es mglich, den emotionalen Hintergrund des Ge-sagten zu verstehen und damit dessen Bedeutung zu erfassen. In der 24 Remschmidt 2008, 39 ff

  • 30

    Intensionenvon Handlun-

    gen anderer Menschen

    werden nicht erfasst

    Begegnung mit autistischen Menschen wird deutlich, dass sie sich hufig hinsichtlich der Gefhlsausdrcke anderer unsicher sind.

    Sobald Anton von seiner Lehrerin etwas lauter als gewohnt angesprochen wird, fragt er: Bist du jetzt wtend auf mich? Er kann nicht unterscheiden zwischen Wut, Nervositt, Ungeduld, Aufgeregtheit und hnlichen Gefhlszustnden, in denen man die Stimme erhebt. Seine Lehrerin erklrt ihm kurz, dass sie in die-sem Moment nur etwas ungeduldig gewesen sei. Das Ausma seiner grund-stzlichen Unsicherheit uert sich darin, dass er sich im Verlauf der Stunde noch mehrmals bei ihr rckversichert, dass sie tatschlich nicht wtend auf ihn ist.

    Zu der Schwierigkeit, Gefhlsausdrcke anderer zu deuten, kommt ein weite-res Problem: Das Fehlen einer theory of mind bei autistischen Menschen hat weitreichende Konsequenzen. Es fllt den Betroffenen schwer, implizite Absichten in den uerungen und Handlungen anderer Menschen zu erken-nen eine wesentliche Voraussetzung, um Missverstndnisse in der Kom-munikation und Interaktion weitgehend zu vermeiden.

    Ebenso wenig wie autistische Menschen einen intuitiven Zugang zu den indi-rekt geuerten Intentionen von Personen haben, erschlieen sich ihnen die diffizileren, unausgesprochenen Konventionen des sozialen Umgangs. Ihnen ist in vielen Situationen unklar, wie man sich verhlt. Damit irritieren sie an-dere Menschen und deren Reaktionen darauf verunsichern wiederum sie.

    Roy ist Schler einer sechsten Klasse. Am Schuljahresbeginn findet die Wahl der Klassensprecher statt. Auch Roy meldet sich als Kandidat, allerdings erhlt er bei der Wahl nur zwei Stimmen; er wird nicht Klassensprecher. Im anschlie-enden Gesprch meldet sich Roy und uert seine Emprung: Er kann nicht verstehen, dass er nicht gewhlt worden ist, obwohl er doch von sich die Mei-nung hat, dass er sich fr diese Aufgabe besonders gut eigne. Deshalb mchte er jetzt von jeder Schlerin und jedem Schler wissen, wen er gewhlt habe und warum die Wahl nicht auf ihn gefallen sei. Die anderen Kinder sind kons-terniert: Sie wissen, dass eine Wahl deshalb geheim durchgefhrt wird, weil so Whler und Nichtgewhlte davor geschtzt werden, einen Gesichtsverlust zu erleiden, der sich anschlieend negativ auf ihren Kontakt oder ihren Stand in der Gruppe auswirken knnte.

    Diese Episode zeigt Folgendes:

    - Roy kann vom Verhalten anderer nicht auf deren Einstellungen rck-schlieen. Die Tatsache, dass ihn niemand vorgeschlagen hat, htte ihm signalisieren knnen, dass er vermutlich kein erfolgreicher Kandi-dat sein wird. Ein anderes Kind htte sich in einer vergleichbaren Si-tuation vermutlich nicht zur Wahl gestellt.

    - Roys Mitschlerinnen und Mitschler haben gelernt, dass man bei ei-ner Wahl ein guter Verlierer sein knnen muss. Es gehrt gewisser-maen zum guten Stil, eine Niederlage zu akzeptieren. Roys Protest widerspricht dieser Verhaltensnorm. Dies ist ihm nicht einmal bewusst.

    - Roy hat kein Gespr dafr, wann er sich und andere in eine peinliche Situation bringt. Er kann sich nicht vorstellen, dass es fr diese unan-genehm sein knnte, ihm negative Rckmeldungen zu geben und er berblickt nicht, dass es schwierig fr ihn sein knnte, das auszuhal-ten.

  • 31

    Strukturen geben Orien-tierung

    3.3 Die besondere Bedeutung von Regeln und Strukturen

    Alle Menschen sind darauf angewiesen, in der Auseinandersetzung mit der Umwelt auf Gesetzmigkeiten und Regelhaftigkeiten zurckgreifen zu kn-nen, um eine Orientierung fr ihr Handeln und Verhalten zu haben. Die ge-strte Wahrnehmungsverarbeitung der autistischen Menschen fhrt jedoch zu einem verzerrten Abbild der Umwelt. Allgemein gltige Bedeutungen ver-mitteln sich ihnen nicht ohne weiteres bzw. unvollkommen. In ihrem Versuch, sich zu orientieren und teilzuhaben, greifen sie bruchstckartig diejenigen Regelhaftigkeiten auf, die sich ihnen erschlieen und verleihen ihnen einen Sinn, der wiederum von anderen Menschen nur schwer nachvollzogen wer-den kann.

    Hendrik, ein 16-jhriger Schler, ist Experte darin, an Hand des Kursbuches der Deutschen Bahn jede Zugverbindung in Deutschland mit passenden An-schlssen herauszufinden. Er hat eine Flle von Abfahrts- und Ankunftszeiten auf bestimmten Berliner Bahnhfen im Gedchtnis gespeichert. In seiner Frei-zeit hlt er sich dort oft stundenlang auf, um zu berprfen, ob die Vorgaben des Kursbuchs eingehalten werden. Eine Fahrt mit der Eisenbahn interessiert ihn nicht. Der allgemein gltige Verwendungszweck des Kursbuches (Wann und wie komme ich von A nach B?) hat fr ihn keine Bedeutung. Hendrik ver-leiht der Regelhaftigkeit des Kursbuches einen eigenen, sehr individuellen Sinn: Die Fahrplne sind offensichtlich ein Mittel, auf eine sehr formale Weise Orien-tierung in einer ihn umgebenden Welt zu schaffen, die ansonsten voller unvor-hersehbarer Ereignisse ist.

    Vor dem Hintergrund dieses Beispiels wird die Vorliebe autistischer Men-schen fr ungewhnliche Themen erklrlich. Wenn man genauer hinschaut, stehen sie meist im Zusammenhang mit Statistiken, Ordnungen und Sym-metrie. Routinen in Zeitablufen, bestimmten Strecken und Rituale helfen, Ordnung in ein unertrglich chaotisches Leben zu bringen25

    Wenn autistische Schlerinnen und Schler Aufgaben bearbeiten sollen, zu deren sozial-emotionalen Aspekten ihnen der spontane Zugang erschwert ist, lsst sich hufig gut beobachten, wie sie unter Zuhilfenahme der oben genannten Kategorien das Thema auf ihre Art und Weise gestalten.

    Nico besucht die zweite Klasse. Seine groe Vorliebe sind Zahlen und Mathe-matik. Die Lehrerin heftet in der Deutschstunde ein groes Bild an die Tafel, auf dem spielende Kinder in einer Schneelandschaft zu sehen sind. Die Klasse er-hlt die Aufgabe, sich eine kleine Geschichte auszudenken und sie aufzu-schreiben. Nico, dessen Rechtschreibkenntnisse weit ber sein Alter hinausgehen, schreibt: Die Skifahrt Ein Junge namens Bruno, machte ein Wettrennen mit Maximilian und Vanessa. Es war eine 7 m lange Strecke. Als Maximilian und Vanessa 3 m und 56 cm weit weg waren, war Bruno nur 2 m weg. Das heit sie hatten 1 m und 56 cm Abstand. Bruno hatte dann 1 m aufgeholt. Aber ... Maximilian und Vanessa hat-ten doch gewonnen. Sie wechselten die Strecke. Diese war 70 m lang. Da wa-ren die Personen Klaus und Nico. Nico war in 1 min 69 m und 99 cm weit weg! Klaus war dabei nur 9 m weg. Damit hatte Nico das Rennen gewonnen. Es war fr alle ein schner Tag gewesen.

    25 Jolliffe 1992, 12-19

  • 32

    Regeln werden schematisch angewendet

    berlastung/ Stress

    Blockaden

    Die Bedeutung der Handlun-gen anderer

    wird fehlinter-pretiert

    Fr autistische Menschen haben nicht nur die Regelhaftigkeiten eine Bedeu-tung, zu denen eine spontane Affinitt besteht, sie greifen auch solche auf, mit denen das Umfeld sie konfrontiert. Es zeigt sich hufig, dass sie Regeln des sozialen Umgangs mit anderen Menschen akzeptieren und sich bem-hen, sie in ihrem Handeln zu bercksichtigen. Auch solche Regeln erfassen sie nicht immer in ihrer komplexen Bedeutung, so dass ihre Anwendung dann schematisch ausfllt.

    Bert hat gelernt, seinem Gegenber bei der Begrung die Hand zu geben. Beim Wechsel auf die Oberschule hat der neue Klassenlehrer allen Jugendli-chen die Regel mitgeteilt, dass Schlerinnen und Schler die Lehrkrfte gren und umgekehrt, wenn man sich im Schulhaus begegnet. Daran will sich auch Bert halten, nur fllt dies anders aus als erwartet: Jedes Mal wenn er einen Lehrer sieht, strzt er mit ausgestreckter Hand auf ihn zu, um ihn zu begren. Dies geht so weit, dass er seinen Klassenlehrer, der mehrere Fcher unterrich-tet, am gleichen Tag mehrmals, nmlich zu Beginn jeder Stunde, mit Hand-schlag begrt. Bert hat die Regel des Grens auf einer sehr formalen Ebene verstanden und wendet sie entsprechend unflexibel an. Der Hinweis, dass er nicht jedes Mal gren muss, lst bei ihm Irritation aus.

    3.4 Aggressivitt und impulsive Ausbrche

    Viele autistische Kinder und Jugendliche im gemeinsamen Unterricht zeigen selten aggressives Verhalten. Dennoch muss man sich grundstzlich darauf einstellen, dass bei einem solchen Kind berlastungen auftreten knnen, die es in groe Irritation, Angst oder Verzweiflung versetzen, was sich anschlie-end in einer aggressiven Handlung entladen kann. Nach unseren Beobach-tungen lassen sich die Anlsse, die jeweils einen Orientierungsverlust nach sich ziehen, wie folgt aufgliedern:

    - Es tritt eine bermige Reizberflutung ein (akustisch, visuell, taktil), was dazu fhrt, dass fr den Betroffenen keine brauchbaren Informatio-nen mehr brig bleiben; extremes Unwohlsein ist die Folge. Versagen die bereits beschriebenen Kompensationsstrategien, entsteht das Ge-fhl, dem Chaos hilflos ausgeliefert zu sein. In so einem Moment kann der Stress in einen Ausbruch mnden.

    - Eine Aufgabe oder auch ein eigenes Vorhaben kann nicht umgesetzt werden, obwohl die konkrete Absicht vorhanden ist. Blockierungen, die z. B. durch strende Reize erzeugt werden, behindern den Handlungs-beginn oder stoppen Begonnenes. Die begrenzte Fhigkeit, alternative Strategien zu entwickeln oder sich Hilfe zu holen, verhindert ein Weiter-kommen. Der innere Druck steigt, da das angestrebte Ziel offensichtlich nicht erreicht werden kann. Die Verzweiflung darber kann in einem Wutausbruch enden.

    Die Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen stellt hohe Anfor-derungen und bietet stndig Anlsse fr Missverstndnisse und Ratlosigkeit. Signale aus der Umwelt werden nicht in ihrer Bedeutung erkannt, die Reak-tion des autistischen Menschen darauf fllt unangemessen aus und zieht unerwartete Gegenreaktionen nach sich. Die Betroffenen machen die Erfah-

  • 33

    Eloborierter Sprachstil bei Asperger-Autismus Starrer Um-gang mit Sprachmus-tern

    rung, dass sie das Geschehen nicht in ihrem Sinne beeinflussen knnen. Ihre Versuche schlagen fehl, und es entsteht das Gefhl einer massiven Frustration.

    Charly und seine Mitschlerinnen und Mitschler bleiben in der groen Pause im Klassenzimmer, weil es regnet; der Klassenlehrer ist nicht da. Nach einiger Zeit geht es recht lebhaft zu: zwei Jungen frotzeln sich an, nehmen sich gegen-seitig die Federtaschen weg und werfen sie sich zu. Immer mehr Kinder lassen sich davon anstecken und machen lachend und ausgelassen mit. Pltzlich fliegt Charlys Federtasche auch durch die Luft, sein Protest: Lasst das! Das ist mein Eigentum!, geht in der allgemeinen Heiterkeit unter. Pltzlich strzt er auf Paul, der die Tasche gerade gefangen hat, wutentbrannt los und schreit: Das ist Diebstahl! Du stiehlst meine Federtasche. Ich verlange sie so-fort zurck! Charlys Mglichkeiten, Einfluss zu nehmen, sind damit erschpft. Unbesonnen beginnt er, auf Paul einzuprgeln. Es ntzt Paul nichts zu rufen: Das war doch nur Spa, du kriegst sie ja gleich wieder, ey! Es bleibt Paul nichts anderes brig als sich zu wehren, und die beiden verwickeln sich in eine wilde Prgelei. Die anderen sind erschrocken und knnen nicht verstehen, wa-rum die ausgelassene Stimmung so negativ umgeschlagen ist. Charly hat von Beginn an den spahaften Kontext des Geschehens nicht ver-standen und er kann folglich das Wegnehmen seiner Federtasche nicht als Teil eines Spiels deuten. Sein Versuch, sich verbal gegen den vermeintlich aggres-siven Akt zu wehren, erreicht Paul nicht, da fr alle anderen Diebstahl ber-haupt kein Aspekt des Geschehens ist. Auch ist es fr sie nicht nachvoll-ziehbar, dass Charly in einer solchen allgemein heiteren Stimmung seinen Vorwurf ernst gemeint haben knnte. Charly merkt, dass ihm auf seiner Dieb-stahl-Ebene nicht begegnet wird. Er besitzt keine Alternative zu dieser Deu-tung. Seine Frustration darber, dass er das Geschehen nicht in seinem Sinne beeinflussen kann, macht ihn aggressiv.

    3.5 Sprachliche Besonderheiten

    Kinder und Jugendliche mit Asperger-Syndrom, die im allgemeinen ber eine gut entwickelte Sprache verfgen, fallen hufig dadurch auf, dass sie einen gehobenen, nicht altersentsprechenden Sprachstil verwenden. Manche setzen einen umfangreichen Wortschatz ein und drcken sich uerst elabo-riert aus. Die Sprache bei anderen kann gekennzeichnet sein durch sachli-che Nchternheit, die an die behrdliche Amtssprache erinnert. Auf die Frage, wie es ihm in seiner neuen Klasse gefalle, antwortet der 13-jhrige Steffen: Zum gegenwrtigen Zeitpunkt kann ich das noch nicht umfassend beurteilen. Ich werde in nchster Zukunft genauer darber Auskunft geben knnen, wenn ich mich gengend orientiert habe.

    Bei lteren Mitschlerinnen und Mitschlern erzeugt diese Art zu sprechen zunchst erstaunten Respekt (Steffen redet wie ein Professor!) und die Er-wachsenen vermuten eine auerordentliche Begabung im sprachlichen Be-reich. Nach einiger Zeit knnen die Gleichaltrigen diese uerungen als eingebildet und altklug empfinden, da er sich kaum auf ihre umgangs-sprachliche Ebene begibt. Auch fr den Erwachsenen relativiert sich die ur-sprngliche Einschtzung hinsichtlich einer berdurchschnittlichen

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    Insel-begabungen

    Sprachbegabung: Das autistische Kind hlt starr an seinem Sprachmuster fest; es gelingt ihm nur selten, die Form seiner sprachlichen uerungen auf den jeweiligen situativen Kontext und auf den jeweiligen Gesprchspartner abzustimmen.

    3.6 Ungewhnliche Kenntnisse und Fhigkeiten

    Oft zeigen autistische Schlerinnen und Schler in Teilbereichen gute, manchmal auch berdurchschnittliche Kenntnisse und Fhigkeiten. So verf-gen z. B. bereits junge Kinder ber erstaunliche Lese-, Rechtschreib- oder Rechenleistungen oder sie verblffen mit einem fr dieses Alter ungewhnli-chen Faktenwissen zu einem speziellen Thema. Die Einschtzung, dass die-se Leistungen das wahre Potential des Kindes reprsentieren, muss meist nach einiger Zeit revidiert werden: Bei nherer Betrachtung fllt auf, dass es sich um Inselbegabungen handelt die erstaunlichen lexikalischen und numerischen Fhigkeiten sind isolierte, mechanische Gedchtnisleistun-gen26.

    Befragt man ein solches Kind nach dem Inhalt des fehlerfrei vorgelesenen Textes, wird deutlich, dass die Sinnentnahme vergleichsweise schwcher oder lckenhaft ist. Beim Verfassen eines Textes mag die Rechtschreibung fehlerfrei sein, die inhaltliche Gestaltung vor al