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8.9.2016 Mathias Énards großartiger Roman „Kompass“ über die kulturellen Verflechtungen von Orient und Okzident DER SPIEGEL 2016/35 https://magazin.spiegel.de/SP/2016/35/146501170/index.html 1/13 In Frankreich sieht man in ihm den Anti-Houellebecq: Mit seinem Roman „Kompass“ widersetzt sich Mathias Énard dem Panikgeschrei. ISLAMISCHE WELT Verliere nicht den Orient > S

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8.9.2016 Mathias Ã‰nards großartiger Roman „Kompass“ Ã¼ber die kulturellen Verflechtungen von Orient und Okzident DER SPIEGEL 2016/35

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In Frankreich sieht man in ihm den Anti-Houellebecq: Mit seinem Roman„Kompass“ widersetzt sich Mathias Énard dem Panikgeschrei.

IS LA MI SCHE WELT

Verliere nicht den Orient

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n sei ner klei nen, mit Bü chern, Auf sät zen, Brie fen und Do ku men tenvoll ge stopf ten Woh nung be ginnt der Wie ner Uni do zent Franz Rit ter,

Ho tel Ba ron in Alep po

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I ein ver kann ter Spe zia list der ori en ta li schen Ein flüs se auf die west li -che Mu sik, eine ein sa me Rei se durch die Nacht. Acht schlafl o se

Stun den lie gen vor ihm, Zeit ge nug, um sei ne Er in ne run gen und Ob -ses sio nen in ei nem end lo sen Selbst ge spräch vor bei zie hen zu las sen. Essind 17 Jah re sei nes Le bens, die er aus sei nem Ge dächt nis zu rück holt,bis zur ers ten Be geg nung mit der Pa ri ser Ori en ta lis tin Sa rah, sei nergro ßen un voll ende ten Lie be, mit der er die Lei den schaft für die Kul turdes Na hen und des Mitt le ren Os tens teilt.

Franz und Sa rah, zwei Pole, ver bun den und ge trennt: Die kom pli zier teBe zie hung zwi schen den un glei chen Lie ben den ist das Spie gel bild dernicht min der kom ple xen und span nungs ge la de nen Ver bin dung zwi -schen Ori ent und Ok zi dent.

„Kom pass“, der neue Ro man des fran zö si schen Schrift stel lers Ma thi asÉnard, der mit dem Prix Gon court, dem höchs ten Li te ra tur preis Frank -reichs, aus ge zeich net wur de, ist eine poe ti sche Hym ne an die Wun derund Herr lich kei ten des Mor gen lands(*). So alt mo disch-ro man tisch soll -te man hier jene ori en ta li sche Welt be zeich nen, die viel mehr als eingeo gra fi scher und kul tu rel ler Raum, eine in tel lek tu el le und emo tio na leEr fin dung des Wes tens ist. Sie ist das An de re des Abend lands, ein mitIma gi na tio nen und Pro jek tio nen prall ge füll ter Kof fer, den der Wes tenmit sich schleppt.

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Énard ist ein ge lehr ter und ver lieb ter Ori en ta list, sprach kun dig undweit ge reist, er kennt die is la mi sche Welt seit sei nen Stu di en jah ren, be -vor der 11. Sep tem ber 2001, der Tag des An schlags auf das World Tra deCen ter in New York, den Zy klus der Ge walt in Gang setz te, der seinEnde im mer noch nicht er reicht hat. Aus der Mär chen- und Schatz tru -he des Os tens sei das Schre cken ska bi nett der Ent haup te ten ge wor den,wie Énard dem Be su cher in sei nem Som mer haus er läu tert. Mit sei nerspa ni schen Frau, auch sie Ara bis tin, hat er in dem Wei ler Cram cha ban,nicht weit von La Ro chel le, ein ver fal le nes Pfarr haus her rich ten las sen,sein noch im mer nicht ganz fer ti ges Fe ri en- und Schreib re fu gi um.

Der Ter ror, die Gräu el und die Angst vor den fa na ti schen Is la mis tenha ben sei nen Blick nicht trü ben kön nen. Er schaut durch die Lupe derHoff nung auf die west öst li che Dia lek tik, die schon vie le „For men vonWahn“ durch lau fen habe. Statt schwär me ri scher Ori en ta lis ten füh renheu te Is lam wis sen schaft ler und Ter ror ex per ten in der Öffent lich keitdas gro ße Wort. Sein Ro man setzt den ab so lu ten Kon tra punkt zumme dia len Kriegs- und Pa nik ge schrei.

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Énards dich te ri sches Ich ist ori en ta lisch, es sei sein Ziel ge we sen, sagter, „ge gen das bil li ge Zerr bild ei nes is la mis ti schen und feind li chen Ori -ents an zu kämp fen und zu zei gen, was Eu ro pa dem Na hen Os ten al lesver dankt“.

In Frank reich, wo sein Ro man ein Best sel ler wur de, hat die Li te ra tur -kri tik aus ihm ei nen Anti-Hou el l e becq ge macht. Das ist eine gro beVer ein fa chung. „Kom pass“ und „Un ter wer fung“ sind nicht zu ver glei -chen, denn Hou el l e bec qs Vi si on ei ner is la mi schen Macht über nah me inFrank reich ist eine Sa ti re, ein Spiel mit den Nie der gangs ängs ten ei nerNa ti on, die sich vom Feind im In ne ren be droht fühlt. Énards „Kom -pass“ han delt nicht vom Zu sam men stoß, son dern vom Aus tausch derKul tu ren und von der enor men Viel falt des Ori ents.

Wie sei ne ge spal te nen Hel den Franz und Sa rah sieht sich Énard, der is -la mi sche Kunst, Ara bisch und Per sisch stu diert hat, in der Tra di ti on je -ner Ge lehr ten des 19. Jahr hun derts, die er mit über bor den dem Wis senwie der auf er ste hen lässt. „Kom pass“ ist auch eine En zy klo pä die der

Au tor Énard: Blick durch die Lupe der Hoff nung

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ori en ta li schen Kul tur in der Form ei ner dop pel bö di gen Lie bes er klä -rung, eine atem be rau ben de Ver mäh lung von Bil dung und Ro man tik.

In der Fas zi na ti on des Ori ents will Énard ne ben der Furcht, die im merauch da zu ge hört, die An zie hungs kraft wie der ent de cken, die so vie leDich ter, Ma ler, Mu si ker er fass te: „In Wahr heit gibt es kei nen Gra benzwi schen Ost und West“, sagt er, „die ser Ge gen satz ist eine Il lu si on.So bald man nach dem Gra ben sucht, ver schwimmt die Gren ze.“ DieNeu gier auf das Frem de ist die Brü cke zum Un be kann ten und das Ge -gen gift zur aku ten Ab sto ßungs re ak ti on, die heu te die Ge sell schaf ten inOst und West in fieb ri gen Alarm ver setzt.

Den Schau platz sei nes Ro mans hat Énard in Wien an ge sie delt, der kos -mo po li ti schen Stadt, die Hugo von Hof manns thal als „Por ta Ori en tis“,als Tor des Ori ents, be zeich ne te. Wien ist der Aus gangs punkt ei nerRei se, die Franz und Sa rah nach Is tan bul, Da mas kus, Alep po, Pal my raund schließ lich Te he ran führt.

„Und wenn Wien das Tor zum Ori ent ist, zu wel chem Ori ent hin öff netes sich dann?“, fragt Sa rah. Ob man in bei de Rich tun gen durch das Torhin durch ge hen kön ne, das ist die Fra ge, die den Ro man cier Énard, derim mer auch ein li te ra ri scher Es say ist bleibt, um treibt.

Die my thi schen und mys ti schen Orte, die er be schreibt und de ren Ge -schich te er er zählt, hat Énard alle selbst be sucht. Er hat drei Jah re inDa mas kus, zwei in Bei rut und ein Jahr in Te he ran (wo die fran zö si -schen Di plo ma ten im Kel ler ih rer Bot schaft heim lich Wein kel ter ten)ge lebt. Den Ara bi schen Früh ling, den Bür ger krieg in Sy ri en hat er den -noch nicht vor aus ge se hen, wie er im Ge spräch er zählt. Ei nig sei en sichdie Ken ner der Re gi on al ler dings stets in der Er war tung ge we sen, dassder sy ri sche Dik ta tor Baschar al-As sad nie mals, wie 1979 der Schahvon Per si en, 2011 der tu ne si sche Prä si dent Zine el-Abidi ne Ben Ali undder ägyp ti sche Staats chef Hus ni Mu ba rak, kampfl os auf ge ben und dieFlucht er grei fen wür de, wenn es zum Auf stand käme. Schließ lich habeschon As sads Va ter Ha fis eine Re bel li on der Mus lim brü der im Blut er -stickt; 1982 ließ er die Stadt Hama, eine Hoch burg der sun ni ti schen Is -

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8.9.2016 Mathias Ã‰nards großartiger Roman „Kompass“ Ã¼ber die kulturellen Verflechtungen von Orient und Okzident DER SPIEGEL 2016/35

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la mis ten, aus der Luft bom bar die ren und am Bo den mit Pan zern undAr til le rie be schie ßen; Zehn tau sen de star ben.

Sy ri en, ein Schlüs sel land des Na hen Os tens mit Gren zen zur Tür kei,zum Li ba non, zu Is ra el, Jor da ni en und zum Irak, sei heu te ent langsämt li cher kon fes sio nel ler, eth ni scher und po li ti scher Li ni en zer bro -chen, die es von An fang an durch quer ten, zu gleich aber auch sei nenkul tu rel len Reich tum aus mach ten.

Die Si tua ti on des Lan des sei so ab scheu lich und ver fah ren, sagt Énard,dass sie auf ihn aus der Dis tanz nur noch ir re al wir ke, er fin de kei neSpra che da für, auch wenn die ak tu el len Er eig nis se ge le gent lich in denEr in ne rungs strom des Mu sik wis sen schaft lers Franz Rit ter her ein bre -chen.

In den Ab schnit ten, die von Fran z' und Sa rahs Rei se sta tio nen Alep pound Pal my ra han deln, hat Énard klei ne Ge schich ten in die gro ße Er -zäh lung ein ge fügt, Schmuck stü cke klas si scher Rei se li te ra tur, wun der -ba re Ex kur se über das le gen dä re Ho tel Ba ron in Alep po, in dem Gäs tewie La wrence von Ara bi en, Aga tha Chris tie oder die Schwei zerSchrift stel le rin und Jour na lis tin An ne ma rie Schwar zen bach, eineFreun din von Klaus und Eri ka Mann, lo gier ten. Und eben so über dasHo tel Zeno bia in Pal my ra, das in den Drei ßi ger jah ren des vo ri genJahr hun derts von der fran zö si schen Aben teu re rin Mar ga d'An d u rainge führt wur de. Die se „Grä fin“, die in ih rem Le ben mehr mals un terMord ver dacht ge riet und am Ende selbst er mor det wur de, hat te sichvor ge nom men, als ers te Eu ro päe rin nach Mek ka vor zu drin gen; sie lan -de te, mit der To des stra fe be droht, in ei nem Ge fäng nis in Dschi d da, ausdem sie 1933 nach zwei Mo na ten mit hil fe des fran zö si schen Kon sulsher aus kam.

In Pal my ra, er zählt Énard, wa ren die al ten Stei ne so zahl reich, dass dasGar ten mo bi li ar des Ho tels Zeno bia aus nichts an de rem be stand: Ka pi -

"Sobald man nach dem Graben zwischen Ost und West sucht,verschwimmt die Grenze."

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8.9.2016 Mathias Ã‰nards großartiger Roman „Kompass“ Ã¼ber die kulturellen Verflechtungen von Orient und Okzident DER SPIEGEL 2016/35

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tel le als Ti sche, Säu len schäf te für die Bän ke, Bruch stei ne für die Ra bat -ten, und für die Ge stal tung der Ter ras se hat te man sich reich lich beiden an gren zen den Rui nen be dient. Den Baal tem pel hat te man in Sicht -wei te.

Da ge gen das mo der ne Pal my ra: „Ein wohl ge ord ne tes Vier eck vonnied ri gen Häu sern aus nack tem Be ton, im Nor den und Nord wes tenvon ei nem Flug ha fen und ei nem fins te ren Ge fäng nis be grenzt, dem be -rüch tigts ten von ganz Sy ri en, ei nem schwar zen und blut ro ten Ge fäng -nis in den war nen den Far ben der sy ri schen Flag ge, die die Dy nas tie derAs sads über das ge sam te Ter ri to ri um ver bis sen aus ge brei tet hat te: Insei nen Ker kern gab es täg lich die grau sams ten Fol te run gen, mit tel al ter -li che Mar tern wur den sys te ma tisch an ge wandt, eine Rou ti ne, die keinan de res Ziel hat te als den all ge mei nen Schre cken, wie Dung soll te dieAngst über das gan ze Land ver teilt wer den.“

Das Ho tel Zeno bia ste he an schei nend noch, glaubt Énard, es habe so -gar wie der er öff net. Die Kämp fer des „Is la mi schen Staats“ (IS) hät tenes dem nach ver schont, an ders als man che der an ti ken Rui nen, die sievor den ent setz ten Au gen der Welt spreng ten und zer schlu gen. Wasbe deu tet schon den Streng gläu bi gen von heu te das An denken an diefal schen Göt ter von ges tern? Die IS-Kämp fer hät ten aus ih rer Sichtmeh re re gute Grün de ge habt, die ses Welt er be der Unesco an zu tas ten,er klärt der Schrift stel ler: Über die pro vo zie ren de Macht de mons tra ti onge gen über dem Wes ten hin aus sei es ih nen um die Zer stö rung von Pal -my ra als Sym bol des sy ri schen Na tio nal staats ge gan gen, zu dem dasAs sad-Re gime die an ti ke Stät te er ho ben hat te. Den Dschi ha dis ten istder ara bi sche Na tio na lis mus, der mit der staat li chen Un ab hän gig keitnach dem Ende des Zwei ten Welt kriegs als po li ti sches Herr schafts in -stru ment auf keim te, eine ket ze ri sche Ver ir rung. Es gibt kei ne Ge mein -schaft au ßer der je ni gen der Recht gläu bi gen.

Für die Is la mis ten ge hö re al les, was voris la misch sei, nicht zu ih nen,son dern zu ei ner an de ren Ord nung, ei ner an de ren Welt. Die west li -chen Ar chäo lo gen in ih rer Gra bungs wut sei en im mer auch Send bo tendes ko lo nia len Herr schafts sys tems ge we sen: „Eu ro pa hat den Sy rern,Ira kern und Ägyp tern die An ti ke un ter dem Hin tern weg ge gra ben; un -

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se re glor rei chen Na tio nen ha ben sich kraft ih res Mo no pols in Wis sen -schaft und Ar chäo lo gie des Uni ver sel len be mäch tigt und mit die semRaub den ko lo ni sier ten Völ kern eine Ver gan gen heit ent wen det, diedes halb von ih nen leicht als orts fremd er lebt wird: Die hirn lo sen is la -mis ti schen Zer stö rer steu ern die Ab riss bag ger in den an ti ken Stät tenumso leich ter.“

Énard hät te aus sei nem de pres si ven Prot ago nis ten Franz ei nen Ar chäo -lo gen ma chen kön nen. Aber das hät te sei ner Fi gur die Un schuld ge -nom men, die der Spra che der Mu sik und der Poe sie ei gen ist. Im 19.Jahr hun dert wa ren Eu ro pas Dich ter be gie rig dar auf, im Ori ent neue In -spi ra ti ons quel len zu fin den, auch ohne je mals selbst dort ge we sen zusein. Goe the, der Dich ter des „West-öst li chen Di vans“, kam le dig lichnach Ita li en, Vic tor Hugo hat den Ori ent nie be sucht, in sei ner Wahr -neh mung blieb er Traum und Wunsch, für Lord By ron wa ren schonGrie chen land und die tür ki sche Be la ge rung der Hel den stadt Me so lon gidie Er fül lung sei ner ori en ta li schen Sehn süch te. Die Ar chäo lo gen in des

An ti ke Rui nen stät te Pal my ra vor der Zer stö rung: Ent wen de te Ver gan gen heit

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such ten nach der ver schüt te ten Grö ße des west li chen Selbst – nach bi -bli schen, grie chi schen, rö mi schen Spu ren; in ih ren Fun den er kann tensie eine Be stä ti gung der zi vi li sa to ri schen Über le gen heit des Ok zi dents.Der Ori en ta lis mus war eben auch ein Spross der ex pan die ren den eu ro -päi schen Ko lo ni al po li tik, nicht nur Aus druck des Ver lan gens nach Tau -send und ei ner Nacht.

Énards Ro man ist ge spickt mit his to ri schen Aperçus und phi lo so phi -schen Ab schwei fun gen. Die Flut der Er kennt nis und des Wis sens, ka -na li siert durch eine ge wähl te Spra che, über wäl tigt den Le ser – unddoch be kommt er Hin wei se und kul tu rel le Ele men te an ge bo ten, dieein dring lich be wei sen, dass dem Kampf der Kul tu ren auch eine Be geg -nung in ne wohnt, die das schwa che Licht der Ver söh nung am Le ben er -hält.

Énard, 44, ist in der west fran zö si schen Klein stadt Ni ort auf ge wach sen,nä her am At lan tik als am Mit tel meer. Nach sei nen Stu di en hat te er sichim Jahr 2000 in Bar ce lo na nie der ge las sen, wo er als Über set zer undAra bisch leh rer ar bei te te. Am Mit tel meer raum, der Wie ge der eu ro päi -schen Zi vi li sa ti on, fes sel ten ihn die Plu ra li tät und die frucht ba re Mi -schung der Kul tu ren. Zu gleich war das Mit tel meer im mer eine Zoneder Krie ge und der Ge walt, von Ho mers Tro ja bis in die sy ri sche Ge -gen wart, da zwi schen Athen, Rom, Kar tha go, Kon stan ti no pel, die zweiWelt krie ge, der Spa ni sche Bür ger krieg, Ju go sla wi en, Is ra el und Gaza –das Mit tel meer ist „das Ho heits ge biet der er zürn ten und wü ten denGöt ter“.

So schrieb Énard in sei nem gro ßen Ro man „Zone“, der 2010 aufDeutsch er schien. Auch die ses Buch ein mo nu men ta ler in ne rer Mo no -log ei nes Ver sehr ten. „Kom pass“ ist in ge wis ser Hin sicht eine Fort set -zung oder viel mehr eine an de re Ver si on, in der die Ge walt nicht mehrim Mit tel punkt steht, nicht mehr al les, son dern nur ein Teil der Ge -schich te ist. Aus dem Ori ent ist ent ge gen al len Ver laut ba run gen nichtnur Hass und Zer stö rung zu er war ten. „Kom pass“ brei tet die kul tu rel -len Schät ze des Na hen Os tens aus und zeich net eine ori en ta li sche Re -nais sance.

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Die Na del des Kom pas ses zeigt nicht nach Nor den in die öde Käl te,son dern nach Os ten in die Brut stät te der Zi vi li sa ti on, in die Rich tungje nes Frucht ba ren Halb mon des, aus dem Mor gen- und Abend land glei -cher ma ßen her vor gin gen. „Das We sent li che ist, den Os ten nicht zuver lie ren. Ver lie re nicht den Os ten, Franz“, mahnt Sa rah, die ih remGe fähr ten ei nen Kom pass mit zwei Na deln ge schenkt hat, von de nendie eine, im rech ten Win kel auf die ma gne ti sche ge setzt, stets die Ost-West-Ach se an zeigt.

Ost und West sind kul tu rel le Zwil lin ge, die Po li tik und Macht in ter es senzu kon trä ren Iden ti tä ten ent frem det ha ben. Wer ei nem an de ren eineIden ti tät als Eti kett auf drü cke – Christ, Jude, Mus lim –, be ge he ei nenAkt der Ge walt, als sprä che er eine Ver ur tei lung aus, so Énard. Wersich selbst in sei ner Iden ti tät ein schließt, um sich vom an de ren zu tren -nen, frei lich nicht min der. Wenn die Iden ti tät sich über die Feind schaftzum an de ren de fi niert, schei tert jede Be geg nung, sie wird, in den Wor -ten von Mar tin Bu ber, zur „Ver geg nung“. An ge nau die sem Punktkon zen triert sich die Pa nik, wel che die ge gen wär ti ge Mi gra ti ons kri seschürt. In der ge lun ge nen Be geg nung da ge gen, die zu ei nem Dia logführt, ver schmel zen der Ho ri zont und die Le bens wel ten in ge mein sa -mer Ver stän di gung.

„Zone“ und jetzt „Kom pass“ bil den ein Di pty chon, das in sei ner epi -schen, bil dungs ge sät tig ten Brei te nicht an Hou el l e becq, wohl aber inman cher Hin sicht an „Die Wohl ge sinn ten“ von Jo na than Lit tell er in -nert. Die bei den Au to ren ken nen sich aus Bar ce lo na. Ihre Auf merk -sam keit gilt dem Bö sen in uns, dem Irr sinn der Ge walt. Ha ben nichtalle Eu ro pä er das Mor den im Blut, kehrt es nicht aus dem Ori ent nachEu ro pa zu rück? War nicht Na po le on Bo na par te, die ser „schreck li cheMit tel meer mensch“, so Énard, „der Er fin der des Ori en ta lis mus?“, dennim Ge fol ge sei ner Ar mee kam die Wis sen schaft nach Ägyp ten.

Der Mu sik lieb ha ber Franz sieht über all nur die Rui nen sei ner ge schei -ter ten Be zie hung mit Sa rah, die schmerz li che Un mög lich keit, wie der inden glei chen Takt, die glei che Me lo die zu fin den. Doch dann, der Tagin Wien bricht an, emp fängt er die letz te Mail von der Ge lieb ten, under schöpft wie der Mut: „Man muss al les durch die Bril le der Hoff nung

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DER SPIEGEL 35/2016

FOTOS: MARC STEINMETZ / VISUM; JOEL SAGET / AFP

se hen, den an de ren in sich lie ben.“ Dem Men schen bleibt im mer dieMög lich keit, sich dem Schlim men zu ver wei gern.

* Ma thi as Énard: „Kom pass“. Aus dem Fran zö si schen von Hol ger Fock und Sa bi ne

Mül ler. Han ser Ber lin; 432 Sei ten; 25 Euro.Romain Leick

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