In russischer Kriegsgefangenschaft...

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In russischer Kriegsgefangenschaft 1944-1945 Nach Erzählungen von Edgar Scheuermann, aus den Erinnerungen von Wolf-Werner Scheuermann Hamburg 2017, v2.1 Bild 1: Edgar Scheuermann um 1985, kolorierte Federzeichnung von Wolf-Werner Scheuermann 1

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In russischer Kriegsgefangenschaft1944-1945

Nach Erzählungen von Edgar Scheuermann,aus den Erinnerungen von Wolf-Werner Scheuermann

Hamburg 2017, v2.1

Bild 1: Edgar Scheuermann um 1985,kolorierte Federzeichnung von Wolf-Werner Scheuermann

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Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung 3

2 Marsch in die Gefangenschaft 112.1 Abmarsch der Gefangenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112.2 Erschlagen der HiWis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

3 Im Sammellager 12

4 Im Ural 134.1 Lagerleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134.2 Winterarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144.3 Epidemie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154.4 Edgars Schwur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154.5 Auf der Krankenstation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164.6 Sommer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

5 Heimkehr 17

6 Habseligkeiten 18

7 Dank 19

8 Quellen 19

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1 Einleitung

Edgar Scheuermann geriet am 16. April 1944 als siebzehnjähriger Grenadier der1. Kompanie des Grenadierregiments 949 beim vergeblichen Ausbruchversuchaus dem eingekesselten „Festen Platz“ Tarnopol in russische Kriegs-gefangenschaft. Er überlebte Krieg, Gefangennahme und Kriegsgefangenschaftund schrieb seine Erinnerungen daran in einem Bericht über seinenKampfeinsatz und die Gefangennahme nieder [1].

Bild 2: Gescheiterte Entsatzversuche 1944 [2]

Die Erlebnisse aus eineinhalb Jahren Kriegsgefangenschaft, über die Edgarebenso wie über seinen Kampfeinsatz oft und konsistent erzählte, wollte erebenfalls schriftlich festhalten. Der Lungenkrebs besiegte jedoch den seitseinem Fronteinsatz starken Raucher vorzeitig. Was geblieben ist, sindErinnerungen an Episoden von Edgars Erzählungen aus russischerKriegsgefangenschaft, die weder zeitlich noch örtlich lokalisiert werden könnenund sicher nicht vollständig sind. Die hier wiedergegebenen Geschichten sinddaher nur grob sortiert angeordnet.

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Bild 3: Propagandaberichte u.a. über die Kämpfe um Tarnopol [3]

Die Gefangennahme fand am 16. April 1944 südwestlich von Janovka etwa 5km vor der zeitweilig während des Entsatzversuchs dort verlaufenden Frontstatt. Die Gefangenen mussten bis zu einem Sammelplatz marschieren, derwahrscheinlich weiter östlich bei einem Bahnhof, evtl. Zbarac, lag. DerTransport führte zu einem Sammellager in Kiew. Es ist nicht mehr bekannt, wielange die Fahrt dorthin und wie lange der Aufenthalt in Kiew dauerte. Danachging es, wahrscheinlich über Orel, in ein Kriegsgefangenenlager im Ural. Auchhier ist nicht genau bekannt, um welches Lager es sich dabei handelte.

Ortsnamen, die in Edgars Gesprächen gefallen sind, waren Orenburg, Saratov,Kazan, Orel, Orsk, Omsk, Tomsk, Magnitogorsk, Tscheljabinsk, Jekaterinen-burg, Swerdlowsk, wobei Jekaterinenburg (Jekaterinburg) identisch ist mitSwerdlowsk, wie es damals zu Zeiten der Sowjetunion hieß.

Die Karte auf der folgenden Seite zeigt die Lage der genannten Orte im Süd-Ural.

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Bild 4: Süd-Ural heute [4]

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Das Lager muss also im südlichen Ural gelegen haben. Gemäß Wikipedia [5]:„[bestanden] in der Region Ural 27 Lagerverwaltungen mit 281 Einzellagern.Sie lagen im europäischen Teil des heutigen Russland.“

Nr. Städte mit Lagerverwaltungen

200 Alapajewsk

84 Asbest

314 Asbest

130 Ascha

366 Borowsk, Stadtteil von Solikamsk

476 Degtjarka

313 Degtjarsk

371 Ischewsk

504 Karpinsk

346 Kizel

376 Krasnouralsk

180 Kyschtym

102 Magnitogorsk

207 Molotow

153 Nischni Tagil

245 Nischni Tagil

318 Nowaja Ljalja

235 Nowotroizk

260 Orsk

523 Resch

75 Rjabowo

377 Swerdlowsk

531 Swerdlowsk

68 Tscheljabinsk

369 Tschkalow (Orenburg)

197 Turinsk

319 Ufa

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Bild 5: Kriegsgefangenenlager im Süd-Ural und um Swerdlowsk [6]

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Wir sehen, dass sich an einigen der Orte, die Edgar genannt hat, tatsächlichKriegsgefangenenlager befanden. Bezeichnenderweise nennt er aber keines derLager, außer Swerdlowsk selbst, das sich in dessen Nähe befand.

Es kommen also die Lager Magnitogorsk, Orsk, Swerdlowsk, Tscheljabinsk undTschkalow (Orenburg) infrage. Eine weitere Eingrenzung könnte sich dadurchergeben, dass es eine Landschaft „wie auf dem Mond“ gewesen sei und ein„See“ in der Nähe war, der auch im Winter bei tiefsten Temperaturen nichtzufror und in Steinbrüchen gearbeitet werden musste. Da die Gegend zur Wolga-Ural-Provinz der Erdöl-Erdgasvorkommen der Russischen Tafel gehört und esauch heute noch zu ökologischen Katastrophen durch sorglose Ölförderungkommt, müsste sich das Lager lokalisieren lassen.

Betrachtet man die genannten Städte z.B. auf GoogleEarthTM, so stellt man fest,dass um Orenburg die Landschaft zu flach ist, keine Ölseen und keineSteinbrüche zu erkennen sind. Auch Swerdlowsk und Tscheljabinsk sinddeswegen eher unwahrscheinlich. Schon eher infrage kommt Orsk und erst rechtMagnitogorsk. Die Landschaft dort gleicht auch heute noch einer ziemlichenMondlandschaft, es gibt Steinbrüche und Ölförderung, somit wahrscheinlichauch Ölseen, zumindest während des Krieges könnte es welche gegeben haben.

Bild 6: Ölsee im Nord-Ural [7]

Bild 7: Industrielandschaft in Magnitogorsk heute [8]

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Noch aus einem weiteren Grund kommt das Kriegsgefangenenlager Magnito-gorsk infrage, da es hier im Winter 1944/45 nachweislich zu einer Epidemie mitvielen Toten gekommen ist, von der auch Edgar berichtet (vgl. Bild 8, Nr. 10).

Bild 8: Daten zum Kriegsgefangenenlager-Magnitogorsk [9]

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Die genannten Städte Orel, Saratov und Kazan könnten Orte gewesen sein, dieauf dem Hin- bzw. Rücktransport passiert wurden. Der Rücktransport gingjedenfalls bei Kazan über die Wolga nach Moskau und Frankfurt/Oder.

Bild 9: Wege in die Heimat [10]

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2 Marsch in die Gefangenschaft

Bild 10: Marsch in die Kriegsgefangenschaft,Ölgemälde von Edgar Scheuermann 1958

2.1 Abmarsch der Gefangenen

Der Entsatzversuch für die Eingekesselten in Tarnopol war am 16. April 1944gescheitert und der Kessel endgültig zusammengebrochen. Nachdem sich dieLage beruhigt hatte wurden die überlebenden Gefangenen zusammengetriebenund auf einem langen Fußmarsch zu einem weiter östlich gelegenen Bahnhof,vielleicht Zbarac, geführt, um weiter über das Sammellager Kiew inKriegsgefangenenlager abtransportiert zu werden. Der Gefangenenzug dürfte soausgesehen haben, wie Edgar ihn auf einem späteren Gemälde, das obenabgebildet ist, dargestellt hat: Eine langgezogene Kolonne übermüdeter,verdreckter, zerlumpter und verwundeter Soldaten, die mühsam durch denSchnee schlurfen, von denen einige unterwegs vor Erschöpfung zusammen-brechen, in regelmäßigen Abständen links und rechts von russischen Postenbewacht und begleitet.

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Als sich der Marsch immer länger hinzog, fragten die Gefangenen ihrerussischen Wachposten, von denen einige Deutsch sprachen, wie lange sie nochmarschieren müssten. „Nur noch ein Kilometer!“ war die Antwort. Nachgefühlten mehreren Kilometern wieder die gleiche Frage und dieselbe Antwort:„Nur noch ein Kilometer!“ Das war der russische „Gummikilometer“.

2.2 Erschlagen der HiWis

Unter den deutschen Gefangenen befanden sich auch ursprüngliche russischeKriegsgefangene, die sich der deutschen Armee als sogenannte Hilfswillige,„HiWis“, zur Verfügung gestellt hatten und nun ihrerseits in russischeGefangenschaft geraten waren. Vor allem russische Soldaten aus denzentralasiatischen Sowjetrepubliken, von den Deutschen abfällig „Schlitzaugen“genannt, waren leicht zu erkennen.

Die deutschen Gefangenen versuchten sie vor den Blicken der russischen Postenzu verbergen, indem sie sie in ihre Mitte nahmen. Die russischen Mitgefangenenversuchten sich dabei durch Mäntel, hochgestellte Krägen, Tücher und Verbändeden Blicken zu entziehen. Die Bewacher wußten aber von der Existenz derHiWis und machten systematisch Jagd nach ihnen und suchten sie. Wenn einerentdeckt war, stoben die deutschen Mitgefangenen auseinander und ließen ihn inder Mitte stehen.

Das Schicksal der Zentralasiaten war grausam: Sie wurden sofort mit demSpaten erschlagen und schrien und brüllten dabei entsetzlich.

3 Im Sammellager

Die Gefangenen aus Tarnopol wurden mit Soldaten von anderen Kriegsschau-plätzen ins Sammellager Kiew gebracht. Wie lange das dauerte und wie langesie dort blieben ist nicht mehr erinnerlich.

Edgar hatte jedenfalls Zeit, sich mit seinen Mitgefangenen über deren Erlebnisseauszutauschen. So hörte er zum ersten Mal Berichte von anderen Soldaten überMassengräber von Zivilisten, Juden, an deren Ermordung auch die Armeebeteiligt war. Er war selbst über frisch bearbeitete Felder gelaufen (noch inTarnopol oder schon in Kiew?), darin eingesunken und hatte sich gewundert,warum man im Winter Felder bestellte. Es könnten Massengräber gewesen sein.

Ein mitgefangener Stalingrader berichtete von Kannibalismus in dereingekesselten Stadt. Es seien aber Rumänen gewesen.

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4 Im Ural

Edgar wurde von Kiew aus in ein Kriegsgefangenenlager im Ural transportiert.Unter den Namen, die in seinen Erzählungen fielen, waren Jekaterinburg,Swerdlowsk, Omsk, Tomsk, Orenburg, Orel, Orsk, Magnitogorsk und andere.

Orel war eventuell eine Zwischenstation auf dem Weg von Kiew in den Ural, ineine Gegend, die wie eine „Mondlandschaft“ für einen aussah, der aus der üppiggrünen Pfalz stammte. Wie einleitend dargestellt, war ein Lager in Magnitogorskdas wahrscheinliche Ziel des Transports.

4.1 Lagerleben

Die überlebenden Tarnopoler gerieten im Frühjahr 1944 in Kriegs-gefangenschaft. Ihr anfänglicher Aufenthalt im Lager fiel also in denkontinentalen Sommer, was den ausgemergelten Gestalten trotz Hungerrationengutgetan haben dürfte.

Der bei seiner Gefangennahme gebrochene Unterarm heilte durch Schonhaltungohne Schiene oder Behandlung. Edgar war im Kampf trotz gefährlichsterSituationen nie verwundet worden, aber in Gefangenschaft bildete sich eineitriger Abszess am Kinn. Ein mitgefangener Kamerad schnitt mit einer rostigenSchere den Eiterbeutel auf. Die Wunde heilte, aber Edgar trug für immer einetiefe Narbe davon.

Die Essensrationen waren kärglich. Es gab täglich: ca. 200 Gramm Brot, Wasser,etwas Zucker, Wassersuppe. Die enthielt Rüben, Gemüse, Kartoffeln, wenn esüberhaupt so etwas mal gab. Das dicke Zeug war unten im Kessel. Die Erstenbekamen meist nur warmes Wasser, diejenigen, die das Glück hatten, den Kesselauskratzen zu dürfen, konnten ihren Hunger wenigstens etwas stillen. Aber: Dierussische Bevölkerung hatte auch nicht mehr.

Mitgefangene Rumänen, die Verbündete der Wehrmacht gewesen waren, hattenimmer Streit untereinander, vor allem wegen des Essens. Aber wehe, einer derDeutschen versuchte den Streit zu schlichten, dann standen sie wie ein Manngegen die äußere Einmischung.

Einer der Rumänen hatte besonders große Füße und ließ sein Brot immerabsichtlich blitzschnell auf den Boden fallen und stellte sich darauf. Er fordertevon der Ausgabe dann noch eines, bekam es auch oft, aber keiner wollte ihm dasBrot, auf dem er stand, streitig machen.

Gefangene ungarische Offiziere, deren Armee ebenfalls auf Seiten Deutschlandsgekämpft hatte, waren zu stolz, um sich an den Streitereien zu beteiligen odersich sonst Vorteile zu verschaffen. Sie hatten ein sehr elitäres, vornehmesVerhalten und hielten sich auch sonst abgesondert von den anderen Gefangenen.

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Viele Deutsche, die vorher als nationalsozialistische Eiferer aufgefallen waren,verrieten jetzt ihre Ideologie und unterschrieben Kooperationsverträge mit denPolitoffizieren des Lagers, nur um ein paar wenige Vergünstigungen zu erhalten.Edgar wollte seine Prinzipien auch nicht wegen eines zusätzlichen Stückes Brotaufgeben und galt deshalb als „unverbesserlicher Nazi“. Er hat sich einedifferenzierte, positive Meinung über die Russen während der Gefangenschaftgebildet, die er auch nach außen vertrat, und galt deshalb nach seiner Rückkehrin Deutschland als „unverbesserlicher Kommunist“.

Die Gefangenen mussten im Arbeitslager oder in der Umgebung arbeiten. Edgarals Maler-Lehrling bekam entsprechende Aufgaben. Einmal sollte er auf einemwackeligen Gerüst eine Mauer verputzen. Aus der Mauer schaute einEisenträger hervor. Als er ihn mit der Kelle berührte, bekam er einenStromschlag, der ihn vom Gerüst haute. Das Metall stand unter elektrischerSpannung.

Während dieser Arbeiten gesellte sich einmal in einer Pause ein jungesrussisches Mädchen zu ihm. Es sprach Deutsch in einem dem Pfälzischenähnlichen Dialekt. Das Mädchen war sehr ängstlich und sie unterhielten sich nurkurz. Für Russlanddeutsche war der Kontakt mit den Kriegsgefangeneneigentlich verboten.

Die Wärter des Lagers waren oft unnachsichtig und schikanös, wenn es sich umjunge Soldaten handelte. Alte Wärter zeigten sich dagegen oft gutmütig undnachsichtig. Sie ließen schon mal halbgerauchte Zigaretten oder Machorka-Tabak in Sichtweite der Gefangenen fallen, die sich dann wie die Geier daraufstürzten, denn Zigaretten gab es eigentlich nicht oder nur sehr selten.

4.2 Winterarbeit

Das Lagerleben wurde mit dem einbrechenden Winter 1944/45 zusehends härter.Körperlich robuste Gefangene mussten im Steinbruch den ganzen Tag amPresslufthammer arbeiten. Wie sie auch versuchten sich mit Kleidung oderStofffetzen zu schützen und ständig auf der Stelle traten, fast alle trugenErfrierungen an Händen, Füßen und Gesicht davon. Edgar als Jugendlichermusste wohl nicht so hart und nicht so lange der Kälte ausgesetzt arbeiten.

Da der Krankenstand und die Ausfälle durch die extremen Bedingungen wohlrasch anstiegen, stellte sich eines Tages die Lagerärztin ans Tor und überprüftebei jedem Gefangenen, der zur Arbeit marschierte, das Schuhwerk. Leute, dielöchrige Schuhe oder nur Fußlappen mit Gras und Stroh trugen schickte siesofort in die Baracken zurück. Der Lagerkommandant tobte, aber sie beharrteauf ihrem Willen und setzte sich durch. So durften zukünftig nur nochGefangene mit gutem Schuhwerk in den Steinbruch.

Edgar bekam den höchsten Respekt vor der Frau und ließ zeitlebens nie wiederetwas auf russische Ärztinnen kommen.

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In der Nähe des Winterlagers gab es einen schwarzen See, der auch bei dergrößten Kälte nicht zufror. Die Gefangenen gruben oft den Schlamm, den sie„Erdpech“ nannten, an seinem Ufer aus und klebten ihn sich unter der Kleidungan den Körper. So in die Baracken geschmuggelt, warfen sie ihn in den einzigenOfen. Dort verbrannte das „Erdpech“ schnell mit großer Stichflamme.Wahrscheinlich handelte es sich bei diesem Phänomen um einen Erdölsee, wieeingangs beschrieben, der sich an einer lecken Pipeline oder einem undichtenBohrloch gebildet hatte.

4.3 Epidemie

Im Winter 1944/45 brach im Lager die Ruhr, Dysenterie, Cholera oderHungertyphus aus. Edgar war erkrankt und konnte keine Nahrung bei sichbehalten. Sein Mitgefangener Wolfgang „Wolfl“ Zocholl fütterte Edgarunermüdlich, obwohl der heftigen Durchfall hatte und sich ständig erbrechenmusste. „Etwas bleibt immer hängen!“ war Zocholls Prinzip. Zocholl erkranktespäter selbst an Typhus oder Ruhr. Als Edgar sich in der Krankenstation nachihm erkundigte und wissen wollte, wo er ist, wurde er tot aus dem Zelt auf einerBahre an ihm vorbeigetragen.

4.4 Edgars Schwur

Edgars älterer Bruder Werner war Bombenschütze auf He 111. Er warmindestens zweimal abgeschossen worden und ist mit dem Fallschirmabgesprungen. Zuletzt geriet er in russische Kriegsgefangenschaft und ist beiRybinsk in einem Lager auf einer Insel, die heute im Stausee untergegangen ist(evtl. Schtscherbakov), ebenfalls an der Ruhr gestorben und dort begrabenworden.

Bild 11: Werner Scheuermann als Bombenschütze auf He 111,Tempera-Gemälde von Edgar Scheuermann, ohne Datum

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Deshalb schwor sich Edgar, sollte er je einen Sohn haben, ihm nach seinemLebensretter Wolfgang Zocholl und seinem älteren Bruder Werner Scheuermannden Namen „Wolf-Werner“ zu geben, zur Erinnerung und mit den Rufnamen derbeiden.

4.5 Auf der Krankenstation

Edgar kam wegen seiner Krankheiten oder seiner schlechten körperlichenVerfassung ins Erholungslager. Mit anderen Gefangenen musste er dort leichteArbeiten verrichten, wie etwa die Treppe zum Krankenhaus säubern. Siemachten sich gründlich an die Arbeit, aber jedesmal, wenn der Wachpostenvorbeikam, konstatierte der: „Nicht sauber!“ Sie gaben sich alle Mühe, aber esblieb dabei: „Nicht sauber!“

Bis sie spitzkriegten, dass immer dann die Treppe „nicht sauber“ war, wenn dasPutzwasser getrocknet war. Also sorgten sie dafür, dass immer, wenn dieKontrolle kam, die Treppe nass war. Schon erhielten sie ein Lob für die saubereTreppe!

4.6 Sommer

Im Sommer vergnügten sich abends die Wachen, indem sie am Lagerfeuermusizierten, tanzten und sangen. Es gab Säbeltänze und andere russische Tänze,wobei wohl auch Frauen und Mädchen der Umgebung teilnahmen. DieGefangenen durften dabei zuschauen.

Bild 12: Tänze am Lagerfeuer, Ölgemälde von Edgar Scheuermann 1959

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Edgar war seitdem von der für ihn fremden Musik und Kultur der russischenVölker fasziniert. Er malte nach dem Krieg einen Tanz am Lagerfeuer. Das Bildist oben wiedergegeben, aber es wurde über die Jahre stiefmütterlich behandelt.Irgend etwas störte Edgar, den Perfektionisten. Jetzt hat es den ihm gebührendenPlatz in der familiären Bildersammlung erhalten.

Da Edgar nie wissenschaftlich recherchiert hatte, darf vermutet werden, dass diedargestellte Szene seinen Erinnerungen an das Leben im Kriegsgefangenenlagerim Ural entstammt.

5 Heimkehr

Edgar entwickelte in Gefangenschaft ein Magengeschwür, das ihn zeitlebensplagte, aber nicht zu seinem Tod führte. Nach ca. anderthalb Jahren wurde er imSommer 1945 wegen Krankheit aus der Kriegsgefangenschaft entlassen.

Die Entlassenen wurden in Güter- und Viehwaggons verfrachtet und auf dieZugfahrt in die Heimat geschickt. Die Fahrt war langsam, immer wieder wurdensie auf Abstellgleise geschoben und erst Tage später ging es weiter. Die Reiseführte über endlose Ebenen, wahrscheinlich via Saratow nach Kazan zur Wolgaund weiter über Moskau. Die Wolgabrücken bei Kazan waren schon nach kurzerZeit sichtbar, schienen nur noch einen Tag entfernt, wurden aber erst nach ca.einer Woche erreicht. Es waren Luftspiegelungen, welche die Heimkehrer in dersengenden Sonne über der Steppe narrten. Edgar erkannte mit seinen scharfenjugendlichen Augen, dass die Brückenbögen verkehrt herum erschienen.

Im Juli oder August 1945 erreichte Edgar die deutsche Grenze bei Frankfurt/Oder. Wie sein weiterer Weg in sein Heimatdorf Rodenbach bei Kaiserslauternverlief, ist nicht mehr bekannt.

Edgar wurde seinen Eltern Lina, geb. Mischler, und Wilhelm Scheuermanngemeldet, als er in Siegelbach, dem Nachbardorf Rodenbachs, ankam. Da er alsvermisst galt, glaubten sie zuerst, dass es Werner sei. Der war aber inzwischenbereits in Kriegsgefangenschaft gestorben.

Edgar kam am 29. August 1945 aus der Kriegsgefangenschaft zurück. IngeFuchs, seine spätere Ehefrau, erinnert sich so genau, weil einen Tag vorher ihreSchwester Lieselotte Geburtstag hatte.

Edgar war krank, abgemagert, stank. Lina musste ca. ein Jahr lang morgensbeim Wecken zuerst das Fenster aufreißen und das Zimmer lüften. Edgar hatteseitdem auch sehr schlechte Zähne.

Obwohl er aus russischer Kriegsgefangenschaft wegen Krankheit als arbeits-unfähig entlassen wurde, wurde Edgar im Nachkriegsdeutschland als arbeits-

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tauglich eingestuft und musste sofort wieder arbeiten. Er vollendete seinehandwerkliche Malerausbildung, machte seinen Meister und lebte mit seinerFamilie bis zu seinem Tod im Jahre 1990 in Rodenbach.

6 Habseligkeiten

Unter den Sachen, die Edgar besaß, als er nach Hause zurückkehrte, warenneben einer dick wattierten russischen Steppjacke, ein Henkelmann ausAluminium, eine verbeulte Feldflasche aus Aluminium mit Initialen „E.S.“, einselbstgeschnitzter hölzerner Löffel und eine handgeschnitzte Tabakspfeife,ebenfalls aus Holz, die er von einem Mitgefangenen erhalten hatte. Ein paardieser Gegenstände befinden sich noch immer im Familienbesitz.

Bild 13: Edgars Habseligkeiten (müssen noch fotografiert werden)

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7 Dank

Meinen besonderen Dank möchte ich an Bernhard Schick [11] aussprechen, derdurch wertvolle Tipps, Hinweise und Ergänzungen zur Verbesserung dieserArbeit beigetragen hat.

Wolf-Werner Scheuermann

8 Quellen

[1] Edgar Scheuermann: Tarnopol, ein Bericht.Als 17-jähriger Grenadier aus Rodenbach an der Tarnopol-Front 1944Ergänzt mit Informationen, übertragen und herausgegebenvon Bernhard Schick.Eigenverlag, Rodenbach, 1. August 2014http://www.Forschungskontor.homepage.t-online.de/Tarnopol.htmlInternet 2015

[2] Florian Stark, Der Wahnsinn von Tarnopol, dem Mini-Stalingrad.https://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article125566767/Der-Wahnsinn-von-Tarnopol-dem-Mini-Stalingrad.html, 08.03.2014Internet 2016

[3] Zeitungsausschnitt: Pleskau: 172 Panzer vernichtet.Die Rheinpfalz(?) 4.April 1944

[4] Google Maps: Süd-Ural.https://www.google.de/maps/@53.5772361,58.8141708,6z/data=!5m1!1e4Internet 2016

[5] Wikipedia: Kriegsgefangenenlager im Süd-Ural.https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_sowjetischer_Kriegsgefangenenlager_des_Zweiten_Weltkriegs#UralInternet 2016

[6] Suchdienstzeitung des Deutschen Roten Kreuzes: KGL im Ural.Lager Ural © DRK-Suchdienst: lager_ural_3.JPGhttps://www.drk-suchdienst.de 31.03.2016Internet 2016

[7] Ölseen in Komi.Google Bildersuche: Ölseen im Distrikt Komi: Nord-Ural, Perm.http://www.cbc.ca/news/world/russia-world-s-worst-oil-polluter-now-drilling-in-arctic-1.1281291Internet 2016

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[8] Magnitogorsk Industrielandschaft heute.https://www.google.de/maps/@53.433163,59.108505...googleusercontent.com... Foto Mai 2011Internet 2016

[9] Lagerspiegel Magnitogorsk.http://wiki-commons.genealogy.net/images/8/8b/KGL-Magnitogorsk-Ural-UdSSR-II-WK.jpg, 08.Juni 2016Internet 2016

[10] Wege in die Heimat.Google Bildersuche: ostvermisste-1944.de/Kriegsgefangenenlager/http://www.ostvermisste-1944.de/Kriegsgefangenenlager/Bilder/weg%20in%20die%20heimat.jpg 31. März 2016Internet 2016

[11] Gespräch mit Bernhard Schick im Mai 2016

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Bild 14: Edgar Scheuermann, Selbstporträt 1959, Öl auf Faserplatte

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