Individuelle und kollektive Gewalt: neurobiologische Ursachen und ... · Sierra de Atapuerca...

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Individuelle und kollektive Gewalt: neurobiologische Ursachen und soziale Bedingungen Bernhard Bogerts Salus-Institut, Magdeburg Salus gGmbH, Seepark 5, 39116 Magdeburg [email protected] / www.salus-lsa.de

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Individuelle und kollektive Gewalt:

neurobiologische Ursachen und soziale

Bedingungen

Bernhard Bogerts

Salus-Institut, Magdeburg

Salus gGmbH, Seepark 5, 39116 Magdeburg

[email protected] / www.salus-lsa.de

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Polizeiliche Kriminalstatistik Sachsen-Anhalt 1997-2016

Jugendliche (14 bis unter 18 Jahre)

Gewaltkriminalität

Gesamt Männlich Weiblich

2016:Zunahme + 28 %Männlich + 38 %Weiblich - 13 %

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Statistisches Landesamt Sachsen-Anhalt 1996-2015

Jugendliche (14 bis unter 18 Jahre)

Demografische Entwicklung

Gesamt Männlich Weiblich

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1997 1998 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2014 2015 2016

Polizeiliche Kriminalstatistik Sachsen-Anhalt 1997-2016

Jugendliche (14 bis unter 18 Jahre)

Körperverletzung

Gesamt Männlich Weiblich

2016:Zunahme + 27 %Männlich + 35 %Weiblich + 1 %

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Sachsen-Anhalt hat in den Statistiken der letzten 10 Jahre zusammen mit Berlin

die höchste Rate von Gewaltkriminalität bei

• Kindern• Jugendlichen • Heranwachsenden

• Warum?

Pisa-Studie / OECD: 2 - 3 % der Schüler sind Gewaltopferca. 10 % Opfer von sozialem Mobbing

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Was macht gewalttätig ?

Einfluss des Bösen ?

Hedonismus ?

Sadismus ?

frühe Kindheitserfahrungen ?

aktuelles soziales Umfeld ?

Erbeinflüsse ?

freie Willensentscheidung ?

psychische Störung ?

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Fälle von Gewaltkriminalität je 100.000 Einwohner (2016)

z. B. Berlin: 463Magdeburg: 392Potsdam-Mittelmark: 122

höhere Rate von Gewaltkriminalitätin Ballungsräumenaus Spiegel online 24.04.2017

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Verhaltenstheoretische (behavioristische) Konzepte

der Aggressionsentstehung

„Frustrations-Aggressions-Theorie“

(Dollard et al. 1939):

Frustration durch Verhinderung einer

angestrebten Zielreaktion

Aggression

Imitation und Verstärkung

(Bandura 1979):

Aggressive Vorbilder in Familie / Freundes-

kreis übernehmen eine Modellfunktion,

Verstärkung durch eigene aggressions-

bedingte Erfolge und Medien

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Nicht sozial bedingte Risikofaktoren von Gewalt

genetisch bedingte Persönlichkeitsanlage (50 % der Varianz)

frühe Störung der Hirnentwicklung z. B. durch

- Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen

- mütterlicher Alkohol-, Drogen- oder Zigarettenkonsum

- Mangelernährung

psychische Erkrankungen:

- Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS)

- Borderline-Persönlichkeitsstörung

- Psychosen (Vorlaufstadien)

- Autismus

- Hirnstruktur- und -funktionsstörungen

(Stirnhirn, Mandelkern)

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Bei eineiigen Zwillingen liegt die Konkordanzrate für

aggressiv-kriminelles Verhalten bei ca. 50 %

- bei zweieiigen Zwillingen bei ca. 20 %

- Risiko in der Durchschnittsbevölkerung: < 1 %

(z. B. Putkonen et al., 2007)

Molekulargenetik:

Genom-Varianten für die Neurotransmitter Serotonin und

Dopamin bei aggressiven Gewalttätern

(Polymorphismen für 5HTT- und MAO-A-Gene)

Additive Effekte von eigener Gewalterfahrung in der

Kindheit und ererbter Anlage zu gewalttätigem Verhalten (Caspi et al., Science 2002)

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Genetik gewalttätigen Verhaltens

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Genetik gewalttätigen Verhaltens

Einfluss von Erbanlage und früher Kindheit auf

gewalttätiges Verhalten

Nach Caspi A et al., Science 2002; 297: 851-4. 12

Misshandelte Kinder mit einer höherer Monoaminoxidase-A-Aktivität (MOA-A-Aktivität) neigen später

weniger zu gewalttätigem Verhalten bzw. zur Entwicklung einer antisozialen Persönlichkeitsstörung als

Kinder mit niedriger Monoaminoxidase-A-Aktivität.

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Entwicklung

des Homo

sapiens

Setzten sich höhere Intelligenz

verbunden mit Gewaltbereitschaft gegenüber anderen Gruppen durch ?

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Gewalt als Produkt einer langen phylogennetischen Entwicklung

The phylogenetic roots of human lethal violence

Gomez et al., Nature (2016) Published online 28 September 2016

Unter allen Säugetieren ist tödliche Gewalt gegen Artgenossen in der Linie der Primaten einschließlich Mensch am höchsten (2 % der Todesfälle)

In der Evolution des Menschen blieb die mittlere Rate tödlicher Gewalt mit etwa 2% konstant (=Primaten)

In den letzten 200 Jahren kam es zu einer erheblichen Annahme tödlicher Gewalt (Pinker, 2011)

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15Jan v. Eyck: Genter Altar, beendet 1432 (Detail zum Brudermord von Kain und Abel).

Anthropologische Aspekte

Menschliche Aggression und Gewalt

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Ältester belegter Mord der Menschheitsgeschichte,

vor 430.000 Jahren, span. Sierra de Atapuerca

Massengrab Erschlagener,

bei Halberstadt, ca. 5000 v. Chr.

Nachweise

prähistorischer

Gewalttaten

Kampfszene, Neolitikum, les Dogues, Spanien

Scheibenkeule

Steinzeit

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Abb.: Robert Fludd, Geist und Bewusstsein, 1619; Foto rechts: ©Multipla/Pixelio.

Anthropologische Aspekte

Neigung zur Gruppengewalt

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Gewaltneigung in jedem von uns?

Neigung zur Gruppengewalt

als „kollektives Unbewusstes“

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Hess, 1932

Stimulation tiefer

Hirnstrukturen

Wo entsteht Gewalt im Gehirn ?

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Aggressives Verhalten

bei Tiefenhirnstimulation

im Hypathalamus der Katze

(nach Ploog, D., 1974)

Angriff

(premediated aggression)

Verteidigung

(defensive rage)

Humangehirn

Mandelkern

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Hirnphysiologisches Modell der Kontrolle

gewalttätigen Verhaltens

Aggression

Gewalt

Hemmung durch bestimmte Areale der Hirnrinde

- -Stirnhirn limbischer Kortex

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Hirnregionen für Empathie (Schmerz) und Mitmenschlichkeit (compassion)aus Singer T. und Klimecki O. M. (2014) Current Biology 24: 875-878)

blau: empathy for pain networkrot: compassion network

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Tajfel und Turner (1979, 1986)

Theorie der sozialen Identität /

„minimal group“ Paradigma

Bevorzugung der Eigengruppe

(maximale positive Abhebung von

anderen) und Abwertung der

Fremdgruppe als regelhaft spontan

entstehendes Gruppenverhalten

Intergruppenkonflikte

Henry Tajfel

1890 - 1982

Ursachen kollektiver Gewalt

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Hedonistische Aspekte individueller und kollektiver

Gewalt

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Hedonistische Aspekte individueller und kollektiver Gewalt

Belohnungszentrum des Gehirns: Nucleus accumbens

Aktivierung durch alle Verhaltensweisen oder Wahrnehmungen,

die mit Wohlbefindlichkeit / Lustgewinn verbunden sind

auch durch Gewaltperzeption oder Antizipation

bei disponierten Individuen (Buckholtz et al (2010) Nature Neurocience)

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Zusammenfassung

Neben psychosozialen Ursachen gibt eine Reihe biologischer Ursachen (z. B. Gene, Hirnkrankheiten), die zu gewalttätigem Verhalten disponieren .

Die Gewaltneigung ist auch bei Homo sapiens das Ergebnis einer langen phylogenetischen Entwicklung und muss durch Erlernen prosozialen Verhaltens ausgebremst werden.

Die neuronalen Generatoren von Gewalt in tiefen Hirnstrukturen werden durch solche Areale der Hirnrinde kontrolliert, die auch für Empathie und Mitmenschlichkeit zuständig sind.

Gewalt kann auch hedonistische Komponenten haben, die besonderer Überwachung und Prävention bedürfen.

Prävention ist effektiv !

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Was kann man tun ?

keine Macht

gegen die Hirnbiologie

oder gegen Gene

??

Stärkere Gewichtung

prosozialer Einstellungen

und Aktivitäten

in der Erziehung !

Präventionsmaßnahmen !

Minderung der sozialen

Ursachen für

reaktive Gewalt !