Indogermanische Sprachwissenschaft Volume 869 || I. Zur Einleitung

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I. Zur Einleitung A. Zum Fach und zu seinem Studium E 100. Das Fach mit dem Kürzel Indogermanistik ist an den deutschspra- chigen Universitäten unter leicht variierenden Bezeichnungen etabliert, vgl. u.a. Indogermanistik (Friedrich-Schiller-Universität Jena), Indogermani- sche Sprachwissenschaft (Ludwig-Maximilians-Universität München), Indogermanische und Allgemeine Sprachwissenschaft (Albert-Ludwigs- Universität Freiburg i.Br.), Allgemeine und Indogermanische Sprachwis- senschaft (Georg-August-Universität Göttingen), Historisch-Vergleich- ende Sprachwissenschaft (Universität zu Köln), Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft / Indogermanistik (Humboldt-Universität zu Berlin), Vergleichende Sprachwissenschaft (Julius-Maximilians-Universität Würz- burg), Vergleichende Indogermanische Sprachwissenschaft (Universität Zürich), Vergleichende und Indogermanische Sprachwissenschaft (Freie Universität Berlin). Im englischsprachigen Gebiet finden sich u.a. Historical linguistics and Indo-European (Harvard University), Comparative Philology (University of Oxford), im französischsprachigen Gebiet u.a. Linguistique comparative (Lausanne), Grammaire comparée (Paris, École Pratique des Hautes Études IV e Section), Étude comparative des langues indo-européennes und Méthode comparative en linguistique historique (so Antoine Meillet in seinen Publikationen, s.o. in der Bibliographie). Eine laufend aktualisierte Liste von Links im Internet zu Seminaren und Instituten in Europa, in Amerika und der ganzen Welt bietet der von Jost Gippert geleitete Thesaurus Indogermanischer Text- und Sprach- materialien an der Universität Frankfurt: % /http://titus.uni-frankfurt.de/. Eine Durchsicht bringt gute Informationen zu allen Belangen des Faches. Man muß sich darüber im klaren sein, daß sich der Unterrichtsaufbau und die Anbindung und Etablierung der Indogermanistik in den romanischsprachigen Ländern Frankreich, Italien und Spanien ganz erheb- lich von dem in Deutschland, in Österreich und in der deutschsprachigen Brought to you by | University of Saskatchewan (University of Saskatchewan) Authenticated | 172.16.1.226 Download Date | 5/28/12 1:07 PM

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I. Zur Einleitung

A. Zum Fach und zu seinem Studium

E 100. Das Fach mit dem Kürzel Indogermanistik ist an den deutschspra-chigen Universitäten unter leicht variierenden Bezeichnungen etabliert, vgl. u.a. Indogermanistik (Friedrich-Schiller-Universität Jena), Indogermani-sche Sprachwissenschaft (Ludwig-Maximilians-Universität München), Indogermanische und Allgemeine Sprachwissenschaft (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i.Br.), Allgemeine und Indogermanische Sprachwis-senschaft (Georg-August-Universität Göttingen), Historisch-Vergleich-ende Sprachwissenschaft (Universität zu Köln), Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft / Indogermanistik (Humboldt-Universität zu Berlin), Vergleichende Sprachwissenschaft (Julius-Maximilians-Universität Würz-burg), Vergleichende Indogermanische Sprachwissenschaft (Universität Zürich), Vergleichende und Indogermanische Sprachwissenschaft (Freie Universität Berlin).

Im englischsprachigen Gebiet finden sich u.a. Historical linguistics and Indo-European (Harvard University), Comparative Philology (University of Oxford), im französischsprachigen Gebiet u.a. Linguistique comparative (Lausanne), Grammaire comparée (Paris, École Pratique des Hautes Études IVe Section), Étude comparative des langues indo-européennes und Méthode comparative en linguistique historique (so Antoine Meillet in seinen Publikationen, s.o. in der Bibliographie).

� Eine laufend aktualisierte Liste von Links im Internet zu Seminaren und Instituten in Europa, in Amerika und der ganzen Welt bietet der von Jost Gippert geleitete Thesaurus Indogermanischer Text- und Sprach-materialien an der Universität Frankfurt: % /http://titus.uni-frankfurt.de/. Eine Durchsicht bringt gute Informationen zu allen Belangen des Faches.

Man muß sich darüber im klaren sein, daß sich der Unterrichtsaufbau und die Anbindung und Etablierung der Indogermanistik in den romanischsprachigen Ländern Frankreich, Italien und Spanien ganz erheb-lich von dem in Deutschland, in Österreich und in der deutschsprachigen

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Schweiz unterscheiden. Auch innerhalb des deutschsprachigen Raums gibt es feine Unterschiede, die mit der lokalen Tradition oder mit den Dozenten zusammenhängen können. Die folgende Darstellung konzentriert sich bei den Angaben zum Studium auf die Verhältnisse in Deutschland.

Die „Indogermanische Gesellschaft“ vertritt als Fachverband die Inter-essen des Faches, s.u. E 201 Abs. 2. Sie organisiert alle vier Jahre eine große Fachtagung, s.o. in der Bibliographie s.v. Fachtagung. Hinzu kom-men einzelne Kolloquien, s.o. in der Bibliographie s.v. Kolloquium und Arbeitstagungen.

E 101. Es gibt eine ganze Reihe von Standortbestimmungen zu Wesen und Aufgaben der Indogermanistik: % Arbeitsausschuß der Idg. Gesellschaft in Kratylos 13 1968 p. 222f. (= Linguistische Berichte 9 1970 p. 78-80); Szemerényi Einführung 1990 p. 32-36; R. Lühr Indogermanistik am Wen-depunkt? Thesen zur zukunftsorientierten Ausrichtung einer Disziplin in Gießener Universitätsblätter 25 1992 p. 77-90; G. Neumann Zur Interdis-ziplinarität der Geisteswissenschaften. Ein Beispiel: Die Vergleichende Sprachwissenschaft in Gießener Universitätsblätter 29 1996 p. 61-67; G. E. Dunkel Zürcher Indogermanistik zwischen Vergangenheit und Zukunft in Informationsblatt der Universität Zürich (= unizürich) 6 1990 p. 10-12.

Es lohnt sich in diesem Zusammenhang ferner, die Fachdefinitionen an-zusehen, die in zunehmender Zahl auf den Homepages der indogermani-schen Seminare und Institute im Internet angeboten werden. Beispielshal-ber sind hier Beiträge aus Köln, München und Würzburg abgedruckt. Zu-erst gebe ich die Version vom März 1999. � Danach verweise ich auf das Angebot vom Juli 2010. Die neu übernommenen Texte sind in der Darstel-lung an das hier gewählte Layout angepaßt.

E 102. An der Universität zu Köln bot das Institut für Sprachwissenschaft im März 1999 die folgende Definition: „Gegenstand der Historisch-Vergleichenden Sprachwissenschaft sind Sprachen, die durch regelmäßige Ähnlichkeiten in Flexion, Wortbildung, Syntax und Wortschatz als unterei-nander "verwandt" erkennbar sind. Aus dem Vergleich solcher Sprachen ergeben sich für jede einzelne von ihnen sonst nicht zu gewinnende Auf-schlüsse über ihre Geschichte, ihre Vorgeschichte und über Entstehung und Entwicklung ihrer jeweiligen individuellen Züge. Die Historisch-Vergleichende Sprachwissenschaft befaßt sich empirisch und theoretisch mit sprachgeschichtlichen Vorgängen wie Aufspaltung von ursprünglich einheitlichen Sprachen in verschiedene Nachfolgesprachen und mit den sprachimmanenten und außersprachlichen Bedingungen für Sprachwandel.

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Außerdem untersucht sie die Frage, was die historische Sprachbeschrei-bung über kulturellen Wandel auszusagen vermag. — Am weitesten entfal-tet hat sich die Historisch-Vergleichende Sprachwissenschaft auf dem Ge-biet der sogenannten indogermanischen Sprachen, zu denen große Kultur-sprachen Europas und Asiens (Indisch, Iranisch, Griechisch, Slawisch, Latein, die germanischen und keltischen Sprachen) gehören, und seit ihrer Begründung zu Beginn des 19. Jahrhunderts widmet sie diesen Sprachen den Hauptanteil ihres Interesses.“

� 2010 ist der Werbetext für das Fach „Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft im wesentlichen derselbe: Mhttp://www.uni-koeln.de/ phil-fak/ifl/hvs/startseite/startseite_frames_d.html/: „Gegenstand der Histo-risch-Vergleichenden Sprachwissenschaft sind Sprachen, die durch regel-mäßige Ähnlichkeiten in Flexion, Wortbildung, Syntax und Wortschatz als untereinander 'verwandt' erkennbar sind. Aus dem Vergleich solcher Spra-chen ergeben sich für jede einzelne von ihnen sonst nicht zu gewinnende Aufschlüsse über ihre Geschichte, ihre Vorgeschichte und über Entstehung und Entwicklung ihrer jeweiligen individuellen Züge. Die Historisch-Vergleichende Sprachwissenschaft befaßt sich empirisch und theoretisch mit sprachgeschichtlichen Vorgängen wie Aufspaltung von ursprünglich einheitlichen Sprachen in verschiedene Nachfolgesprachen und mit den sprachimmanenten und außersprachlichen Bedingungen für Sprachwandel. — Am weitesten entfaltet hat sich die Historisch-Vergleichende Sprach-wissenschaft auf dem Gebiet der sogenannten indogermanischen Sprachen, zu denen große Kultursprachen Europas und Asiens (Indisch, Iranisch, Griechisch, Slavisch, Latein, die germanischen und keltischen Sprachen usw.) gehören, und seit ihrer Begründung zu Beginn des 19. Jahrhunderts widmet sie diesen Sprachen den Hauptanteil ihres Interesses. — Die Histo-risch-Vergleichende Sprachwissenschaft in Köln ist ihrer Ausrichtung nach ausschließlich indogermanistisch und wird im folgenden Indogermanistik genannt werden“.

E 103. Auf der Homepage des Instituts für Allgemeine und Indogerma-nische Sprachwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München fand sich im März 1999 die folgende Beschreibung des Faches: „Die Indo-germanische Sprachwissenschaft (Indogermanistik) ist eine empirisch-historische, theoretisch fundierte Disziplin. Ihr Forschungsziel ist ein mehr-faches: Einerseits will sie durch den Vergleich der indogermanischen Ein-zelsprachen (insbesondere ihrer frühesten überlieferten Stadien, wie z.B. Althochdeutsch, Vedisch, Hethitisch) Erkenntnisse über Sprache und Kul-tur des gemeinsamen Vorgängers dieser Sprachen, des Urindogermani-

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schen, gewinnen. Hierbei steht das grammatische System dieser Grund-sprache und seine jeweilige Veränderung nach dem Zeitpunkt der Aufspal-tung in Einzelsprachen im Vordergrund. Andererseits trägt die Indogerma-nistik durch Kenntnis der im erwähnten Verfahren ermittelten Gesetzmä-ßigkeiten und der frühen Textdokumente der Einzelsprachen zum besseren Verständnis von historischen Phänomenen in Sprache und Kultur aller in-dogermanischen Völker bei. Als Verbindungsglied zwischen den Philolo-gien umfaßt sie so die Kulturräume vom nördlichen Europa über den Mit-telmeerbereich der Klassischen Antike und des Alten sowie Neuen Orients bis Indien und Zentralasien. Die wichtigsten Sprachgruppen bzw. Einzel-sprachen sind Altindisch und Griechisch, ferner Altiranisch, Lateinisch, Germanisch, Keltisch, Slavisch, Baltisch, Hethitisch, Armenisch, Tocharisch, Albanisch. — Im Zusammenhang mit seinem skizzierten For-schungsgegenstand befaßt sich das Fach außerdem mit allgemeinen sprachwissenschaftlichen Problemen, wie z.B. jenen der Sprachverände-rung und des Verhältnisses zwischen historischem und typologischem Sprachvergleich. — Ihrem Wesen nach ist die Indogermanistik eine inter-disziplinär orientierte Disziplin, die naturgemäß mit mehreren benachbartensprachwissenschaftlichen, philologischen und kulturhistorischen Fächern (z.B. Vor- und Frühgeschichte) verbunden ist.“

� 2010 lautet der Eintrag „Was ist Indogermanistik?“ wie folgt: Mhttp://www.indogermanistik.uni-muenchen.de/ueber_uns/index.html/.

(1) Gegenstand der Indogermanischen Sprachwissenschaft ist eine Gruppe von Sprachen mit Ähnlichkeiten, die sich so regelmäßig durch Wortschatz und Grammatik hindurchziehen (siehe unten Punkt 4), dass sie nicht auf Zufall, sondern nur auf gemeinsamer Abstammung beruhen kön-nen. Historisch gesehen sind die Sprach(grupp)en folgende:

� Albanisch� Anatolisch† (Hethitisch, Luwisch, Lydisch, Lykisch, Palaisch u.a.)� Armenisch� Baltisch (Altpreußisch†, Lettisch, Litauisch)� Germanisch (Dänisch, Deutsch, Englisch, Friesisch, Gotisch†, Is-

ländisch, Niederländisch, Norwegisch, Schwedisch u.a.)� Griechisch� Indoiranisch (Avestisch†, Farsi, Hindi, Kurdisch, Marathi, Pashto,

Sanskrit†, Urdu u.a.)� Keltisch (Bretonisch, Gallisch†, Irisch, Keltiberisch†, Kornisch†,

Kymrisch/Walisisch u.a.)

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� Italisch (Latein† und die daraus hervorgegangene romanische Sprachfamilie (Französisch, Italienisch, Katalanisch, Portugiesisch, Rumänisch, Spanisch u.a.), Sabellisch† u.a.)

� Slavisch (Bulgarisch, Polnisch, Russisch, Serbokroatisch, Slovakisch, Slovenisch, Tschechisch, Ukrainisch, Weißrussisch u.a.)

� Tocharisch†Diese Sprach(grupp)en sind ursprünglich nichts anderes als auseinander-gedriftete Dialekte einer einzigen Sprache, des Urindogermanischen, das im 4. Jt. v. Chr. in einer nicht klar bestimmbaren Gegend zwischen Ostmit-teleuropa und dem Kaukasus gesprochen worden sein muss.

(2) Ziel der Indogermanischen Sprachwissenschaft ist es, diese Sprache, von der keine direkten Zeugnisse mehr existieren, aus ihren Nachfahren zu rekonstruieren und so den Werdegang der Tochtersprachen besser zu ver-stehen. So wie die biologische Evolutionstheorie aus der Beschaffenheit der lebenden Arten Rückschlüsse auf deren Stammbaum und ausgestorbe-ne Vorläuferarten zieht, zieht die historisch-vergleichende Sprachwissen-schaft aus den Eigenschaften der überlieferten Sprachen Rückschlüsse auf deren Stammbaum sowie auf den Wortschatz und die Grammatik der im Dunkel der Vorgeschichte schlummernden Grundsprache. Dadurch kann sie manche Eigentümlichkeiten der lebenden Sprachen und ihrer Verhält-nisse erklären, z. B. — (2a) die Herkunft von Wörtern und Namen. Bei-spiel: Der erste Bestandteil von Werwolf hat z. B. nichts mit wehren oder mit wer? zu tun, sondern mit lateinisch vir 'Mann'. Er kommt in altgerma-nischen Sprachen noch selbständig vor: althochdeutsch und altenglisch wer, altnordisch verr, gotisch waír 'Mann'. Die ursprüngliche Bedeutung von Werwolf ist also 'Mann-Wolf'. Dieser sprachliche Befund wird durch die alte Geschichtsschreibung und Dichtung erläutert. In der altnordischen Edda-Dichtung ist von úlfheðnar 'Wolfspelzen' die Rede, jungen Kriegern, die auch Berserker 'Ohne-Hemden' hießen, und für ihre ekstatische Raserei im Kampf gefürchtet waren. Die altiranische Dichtung spricht von 'zweifü-ßigen Wölfen', gesetzlosen meist jungen Kämpfern, die in Bünden am Rande der Sippengemeinschaft lebten. Ähnliches wird von Galliern, Grie-chen, Römern, Balten und Indern berichtet. So erklären sich auch die Be-liebtheit des Tiernamens Wolf als Eigenname: altirisch Olc, altnordisch Úlfr, altenglisch Wulf, altgriechisch "���& altindisch ��kas - alles übri-gens, wie sich beweisen lässt, aus demselben urindogermanischen Wort, etwa *ulkwos 'Wolf', entstanden - und zusammengesetzte Eigennamen von altgriechisch "���'�� 'Wolfstäter' bis deutsch Wolfgang 'Wolfskampf'.

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— (2b) Die engeren und ferneren Verwandtschaften innerhalb der indo-germanischen Sprachfamilie. — Beispiel: Den ersten Bestandteil von Wer-Wolf gibt es außer im Lateinischen (vir) und Germanischen noch im Altiri-schen (fer 'Mann'), Litauischen (výras 'Mann') und im Altindischen (vî�-)und Altiranischen (vîra-), wo es nicht nur 'Mann', sondern auch speziell 'Held' heißt. Dass diese Bedeutung 'Held' die ältere ist, folgt nicht nur aus dem hohen Alter der altindischen und altiranischen Texte, sondern auch aus der strukturellen Analyse des Worts, das aus *vî- 'Kraft, Stärke' (latei-nisch vîs 'Kraft') und einer adjektivbildenden Silbe *-ro- zusammengesetzt ist, also eigentlich 'der Starke' heißt. Den ursprünglich adjektivischen Cha-rakter des Worts hat einzig das Tocharische, eine Anfang dieses Jahrhun-derts bei Ausgrabungen in Ostturkestan (Xinjiang) zutage geförderte frühmittelalterliche Literatursprache, im Adjektiv wir 'jugendlich, frisch' bewahrt. Die unterschiedliche Entwicklung der Wörter in den einzelnen Sprachen kann also auch Auskunft über deren wechselseitiges Verhältnis -hier über den frühen Sonderweg des Tocharischen - geben. — (2c) Die Herkunft grammatischer Kategorien. Beispiel: Überhaupt waren die Wor-tarten Substantiv und Adjektiv im Urindogermanischen noch nicht so deut-lich voneinander geschieden wie etwa im heutigen Deutschen, wo die Ad-jektive anders flektieren als die Substantive (der gute Mann, ein guter Mann) und nur ausnahmsweise in der Rolle des Substantivs auftreten kön-nen. Für manche altgriechischen Wörter, wie (���, sind grundsätzlich zwei Übersetzungen möglich: 'Träger' und 'tragend'.

(3) Sprachliche Rekonstruktionen gehen Hand in Hand mit einem Rückgriff auf die alten Texte und, wo nötig, Lebensverhältnisse. Klassi-sche Philologie, Altgermanistik, Indologie und andere Philologien, Ge-schichtswissenschaft und Ethnologie sind Nachbardisziplinen, mit denen die Indogermanistik im Austausch steht. (In manchen Fällen, wie beim Tocharischen, hat sie sogar den ganzen Bereich der sonst von keiner Dis-ziplin betriebenen Philologie abzudecken: Handschriftenkunde, Textediti-on, Textverständnis.) Dazu kommt eine besondere Affinität zur Allgemei-nen Sprachwissenschaft. Der typologische Blick auf die Sprachen der Welt zeigt z. B. noch weitaus mehr Übergangsmöglichkeiten zwischen den Wortarten Substantiv, Adjektiv und Verb, in manchen Sprachen fast bis zur Ununterscheidbarkeit.

(4) Grundlage aller Rekonstruktion ist die Beobachtung, dass sich die Wörter nicht nur ähneln, sondern Laut für Laut gesetzmäßig entsprechen;

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z.B. entspricht deutsch b in den Wörtern der ersten Tabellenspalte immer einem�( (ph) im Altgriechischen, einem bh im Altindischen usw.:

althochdeutsch altgriechisch altindisch lateinischaltkirchen-slavisch

bruoder 'Bruder'

(�/������

'Mitglied einer Bruderschaft'

bhrÄtar-'Bruder'

f����� 'Bruder'b�����'Bruder'

gi-ber-an 'aus-tragen, gebären'

( �� 'tragen'bhar-'tragen'

ferre 'tragen, bringen'

ber-'nehmen'

buohha 'Buche' (/�'�� 'Steinei-che'

- f�� � 'Buche' -

gi-bissan'gebissen'

-bhitta-'Abschnitt'

fissus 'gespal-ten'

-

usw. usw. usw. usw. usw.

Der systematische Vergleich des gesamten Wortschatzes der altindoger-manischen Sprachen mündet in der Formulierung von Lautentsprechungs-regeln, die die sichere Basis für die Formulierung historischer Laut(ent-wicklungs)gesetze und weitergehende sprachgeschichtliche Urteile abge-ben. Das ist der Kern der 'historisch-vergleichenden Methode'“.

E 104. Auf der Homepage des Lehrstuhls für Vergleichende Sprachwis-senschaft der Julius-Maximilians-Universität Würzburg wurde das Fach im März 1999 folgendermaßen definiert: „Die Vergleichende Indogermani-sche Sprachwissenschaft (Indogermanistik) ist eine empirisch-historische, theoretisch fundierte Disziplin. Sie hat mehrere Forschungsziele: Sie ver-gleicht die indogermanischen Einzelsprachen (vor allem deren früheste überlieferte Sprachstufen, z.B. Latein, Altgriechisch, Altindisch, Gotisch, Hethitisch u.a.; aber auch die jüngeren Sprachstufen) und gewinnt durch darauf aufbauende Rekonstruktionsverfahren Erkenntnisse über Gramma-tik und Wortschatz von früheren, nicht schriftlich bezeugten Sprachstufen und vom allen diesen Sprachen gemeinsamen Vorgänger, dem Ur-Indogermanischen. Durch die Vielzahl der Sprachen als Vergleichshinter-

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grund und durch ihre diachronische Perspektive trägt die Vergleichende Sprachwissenschaft zu einem tieferen Verständnis von Grammatik und Wortschatz der einzelnen indogermanischen Sprachen bei. — Die gründli-che Erforschung dieser Sprachen führt einerseits zu Erkenntnissen über den kulturellen Hintergrund der jeweiligen Sprachgemeinschaft (also Ge-schichte, Gesellschaftsstruktur, Religion, Philosophie, Dichtkunst u.a.), andererseits aber auch zur theoretischen Beschäftigung mit allgemein-sprachwissenschaftlichen Gegenständen (z.B. strukturelle Gliederung von Sprachsystemen, Phänomene des Sprachwandels, Verhältnis zwischen ge-netischem und typologischem Sprachvergleich). — Die Vergleichende Sprachwissenschaft ist ein interdisziplinär orientiertes Fach und gilt als Verbindungsglied zwischen den Kulturräumen vom nördlichen Europa über den Mittelmeerraum und den Alten Orient bis Indien und Zentral-asien.“

� 2010 ist die „Beschreibung des Faches Vergleichende Sprachwissen-schaft“ viel plastischer und bietet auch eine Karte, ebenso Schriftbilder: % http://www.vergl-sprachwissenschaft.phil1.uni-wuerzburg.de/ fach.html/.

E 105. Es gibt nichts Spannenderes und Kreativeres als historisch-vergleichende Sprachwissenschaft, so meine ich und nicht nur ich.

Eine Warnung aber gleich vorweg: Der Weg zu einer akademischen Anstellung im Reich der Sprachwissenschaft ist steinig und dornenvoll. Wer dazu aufbricht, kann gewinnen, aber auch verlieren. Wer viel Geld auf seinem Konto haben will, muß andere Wege gehen. � Gegenüber 2001 ist die finanzielle und berufliche Lage der Indogermanistik im Jahre 2010 noch um einiges vertrackter und schwieriger geworden, s.u. E 106.

Grundvoraussetzung für ein erfolgversprechendes Studium ist nach wie vor ein persönliches lebhaftes Interesse an Sprache und Sprachen. Eine Vorliebe für die rückwärtsgewandte erklärende historische Perspektive muß dazukommen. Mit der allgemeinen Hochschulreife sollten Kenntnisse des Lateinischen und Griechischen am besten gleich von der Schule mitge-bracht werden. Wo die heutigen Schulpläne dies nicht mehr haben realisie-ren lassen, können die notwendigen Lateinkenntnisse (im Umfang des sog. Kleinen Latinums) sowie Griechischkenntnisse natürlich auch im Laufe des Grundstudiums erworben werden. Kenntnisse des Englischen und Franzö-sischen sind für die Lektüre der Fachliteratur unerläßlich. Spanisch-, Italie-nisch- und Russischkenntnisse sind hilfreich.

Latein, Griechisch und Altindisch (Vedisch) gehören zu den tragenden Säulen der Indogermanistik, schon allein deswegen, weil sich die Fachdis-kussion seit ihren Anfängen immer wieder auf Probleme dieser Sprachen

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bezieht. Nur die entsprechenden Sprachkenntnisse ermöglichen eine eigen-ständige Beurteilung.

Neben der Beschäftigung mit den drei genannten Sprachen empfiehlt es sich, sich im Laufe des Studiums gute Kenntnisse des anatolischen Hethiti-schen, ferner Kenntnisse einer altgermanischen Sprache (Gotisch, Alt-hochdeutsch oder Altsächsisch) und des Altkirchenslavischen oder Litau-ischen zu erwerben.

Es geht nichts über die eigene Lektüre von Originaltexten. Ein persönli-cher Gewinn ist es auch, klassisch gewordene indogermanistische Arbeiten und Aufsätze richtig von A-Z zu lesen und nicht nur bei Bedarf nachzu-schlagen. Ich denke da gern an die Lektüre von Wackernagel Kleine Schriften I / II 1969 III 1979, von Wackernagel Vorlesungen I 1926 II 1928 und von Schulze Kleine Schriften + Nachträge 2. Aufl. 1966 in mei-ner eigenen Studienzeit zurück. Die Texte lesen sich wie Kriminalromane.

Es lohnt sich, hohe eigene Maßstäbe zu setzen und sich auch umzuse-hen, wie andere Sprachwissenschaftler zu dem geworden sind, was sie sind: % Autobiographische Berichte 1991 und Portraits I / II 1966.

Wie jedes Fach kennt auch die Indogermanistik ungeschriebene Gesetzeder Zunft. So sollte es die Pflicht eines jeden sein, neue Schritte nur „im Gespräch“ mit der bereits in der Fachliteratur zugänglichen Forschung zu gehen und dem bereits Geleisteten die Ehre des Zitats zuteil werden zu lassen. Problematisch ist aber die immer größer werdende Menge von Da-ten, die zu diesem Zwecke zu meistern ist. Der Umgang mit und die Ehr-furcht vor dem Bisher darf einem aber nicht die Einsicht zum Neuen blok-kieren.

E 106. Ein Rückblick: Zu meiner Studienzeit 1967-1973 war das Studium der Indogermanistik noch sehr einfach strukturiert. Man bildete sich durch einen breitgefächerten Besuch von Vorlesungen, Proseminarien und Seminarien, man betrieb eigene Lektüre, man schrieb Seminararbeiten, man vereinbarte nach fünf oder sechs Jahren ein Dissertationsthema mit seinem Professor und schloß sein Studium nach Abschluß der Dissertation direkt mit der Doktorprüfung ab.

� Seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde das Stu-dium stärker reglementiert. Im Rahmen eines Magisterstudienganges konn-te man nach einem je viersemestrigen Grund- und Hauptstudium mit einem Prüfungssemester zum Magisterabschluß (M.A.) gelangen. Erst aber die Promotion mit Abfassung einer Dissertation eröffnete die Möglichkeit, an eine indogermanistische Laufbahn zu denken.

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�„Im Jahr 1999 wurde in Bologna die Umstrukturierung der euro-päischen Universitäten bis 2010 beschlossen. Fast alle Universitäten haben inzwischen dieses System übernommen. Es ist dem britischen BA/MA-System (Bachelor of Arts, Master of Arts) ähnlich und soll durch die Stan-dardisierung von Lehrveranstaltungen und Notenvergabe die Vergleich-barkeit unter den Universitäten Europas gewährleisten sowie die Mobilitätvon Studierenden und Hochschulpersonal fördern“. Das Zitat stammt von der Homepage der Indogermanische Gesellschaft, wo unter dem Stichwort „Indogermanistik / Studium“ sehr informativ über die Umstellung der Stu-diengänge vom Magister auf Bachelor (BA) und Master (MA) berichtet wird: M/http://www.indogermanistik.org/indogermanistik.html/. Dieser von der Politik erzwungene Prozeß wurde erschwert, weil im gleichen Zeitraum die öffentlichen Hände eine Umstrukturierung ihrer finanziellen Mittel zu bewältigen hatten.

� Glücklich zu nennen sind alle die Seminare, die unser schönes Fach über die scharfen BA/MA-Klippen ins neue Jahrtausend haben retten kön-nen. Die soeben genannte Homepage listet diese unter dem Stichwort „In-dogermanistik / Studium / Lehrstühle“ auf und bietet Links.

� Nicht überall konnten aber diese Hürden genommen werden. Einige Hochschulleitungen haben unter dem Druck der finanziellen und struktu-rellen Umwälzungen die Indogermanistik kurzsichtig geopfert. — So ge-schehen u.a. 2004 an der exzellenten FU Berlin, wo heute noch auf der Homepage unter den Stichworten „Aktuelles / Hochschulpolitisches / Strukturplanung der Berliner Universitäten / Struktur- und Entwicklungs-plan für die Freie Universität Berlin“ die folgenden lapidaren Zeilen zu lesen sind (M /http://www.fu-berlin.de/info/struktur/fustrukturplan.pdf/):„Obwohl die Indogermanistik an der FU eine lange und große Tradition hat, kam es durch Neugründung der Indogermanistik an der HU zu einer im Kontext der Kürzungszwänge nicht mehr vertretbaren Doppelung, die durch die Einstellung der Indogermanistik an der FU beseitigt wird. Die ausgezeichnete Bibliothek wird in die philologische Bereichsbibliothek integriert, der Stelleninhaber wird bis zu seinem Ausscheiden dem Institut für Griechische und Lateinische Philologie zugeordnet“. Es wurde vom zuständigen Vizepräsidenten geflissentlich übersehen, daß die Indogerma-nistik nicht nur ein Forschungsfach ist, sondern gerade auch in der Lehre sehr viel Nützliches leistet und leisten kann. Sind wir doch ehrlich, jede gute Universität sollte einen eigenen Indogermanisten vor Ort haben. Ei-nen Betriebsarzt hat jede Universität ja auch.

�Vgl. ferner unten E 309 und E 310.

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I. Zur Einleitung132

B. Die Indogermanistik mit PC und Internet

E 200. Die Indogermanistik kann wie jede andere Wissenschaft auf PC und Internet nicht mehr verzichten. Es sind heute gute, praxisorientierte Einführungen in PC und Internet vorhanden. Ich nenne beispielshalber die-jenigen von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft: % H. Schröder, I. Steinhaus Mit dem PC durchs Studium. Darmstadt 2000; D. Kaufmann, P. Tiedemann Internet für Althistoriker und Altphilologen. Darmstadt 1999.

Das Internet führt zu einer immer größeren Informationsdichte: %Studia Iranica, Mesopotamica et Anatolica (= SIMA) 2 / 1996, hrsg. von J. Gippert und P. Vavroušek. Prag 1997 (darin die Akten der 4. Internat.Arbeitstagung für Computereinsatz in der Historischen Sprachwissenschaft 1995 in Wien, hrsg. von H. Eichner und H. C. Luschützky).� Zwischen 2001 und 2010 haben sich die Informationsmöglichkeiten

gewaltig gesteigert. Bibliotheken, Verlage, Seminare und einzelne For-scher bieten inzwischen Buchttitel, Zeitschriften (z.T. online), Schriften-verzeichnisse, pdf-Dateien von Aufsätzen usw. usw. Man sollte intensiv davon Gebrauch machen!

E 201.� Es wird aus dem Bereich des Internets stellvertretend auf zwei speziell der Indogermanistik zugewandte Institutionen und deren Datenan-gebote aufmerksam gemacht. Vor Ort finden sich dann weitere Informa-tionen und „Links“ verschiedenster Art. Es muß jedem Benutzer klar sein, daß sich die Angebote auf den Homepages im Internet immer wieder än-dern und die Institute dabei sind, ihre Homepages immer besser und noch informativer zu gestalten. Stillstände und Informationsmüdigkeit sind na-türlich auch immer wieder zu treffen.

1) TITUS (= Thesaurus Indogermanischer Text- und Sprachmaterialien). Ziel dieser von J. Gippert begonnenen und in Frankfurt a. M. beheimateten Institution ist es, alle für indogermanistische Fragestellungen relevanten Sprachmaterialien in analysefähiger elektronischer Form aufzubereiten: %/http://titus.uni-frankfurt.de/. Über den Index mit den Stichworten „Actualia“, „Didactica“, „Textus“ und „TITUS“ ist eine stetig wachsende Zahl von Daten einsehbar.

2) �Indogermanische Gesellschaft: M http://www. indogermanistik.org/.Am Ort sind laufend aktualisierte Nachrichten der indogermanischen Gesell-schaft (u.a. zu Wesen und Aufgabe der Indogermanistik und zur Medienar-beit), ferner Adressen und allgemeine Informationen zu erhalten.

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C. Zur Geschichte der Indogermanistik 133

C. Zur Geschichte der Indogermanistik

E 300. Es ist gar nicht uninteressant, die Einträge unter dem Stichwort Indogermanistik in den allgemeinen Lexika nachzuschlagen.

1) Der große Knaur München / Zürich 1967 bietet s.v. eine erstaunlich kompetente Darstellung (sie wird hier ohne Veränderung abgedruckt; die in diesem Paragraphen vorkommenden Verweise beziehen sich auf das zitierte Lexikon; zu einzelnen Forschern finden sich hinten in unserem Sachregister weitere Hinweise): „Indogermanistik, Wissenschaft, die der Erforschung der %indogerm. Sprachen dient. Nachdem schon im 18. Jh. (W. Jones, 1786) die Verwandtschaft des %Sanskrit mit den europ. Spra-chen erkannt worden war, begründeten R. Rask (1814), F. Bopp (1816) und J. Grimm (1819) die I(ndogermanistik). Rask und bes. Grimm (‘Dt. Gramm.’, 1819 ff.) erforschten vorbildl. die hist. Stufen der %germ. Spra-chen (%Lautverschiebung). Während Bopp (‘Vergleichende Grammatik’, 1833 ff.) Formen verglich und analysierte, fundierte A. F. Pott durch ge-nauen Vergleich der lautl. Entsprechungen die %Etymologie (‘Etymolog. Forschungen’, 1833-36). Über feste Regeln der Lautentwicklung versuch-te als erster A. Schleicher zu einer indogerm. Ursprache vorzudringen (‘Compendium der vergleichenden Gramm. der indogerm. Sprachen’, 1861/62); er berücksichtigte auch als erster das Slawische und bes. das Litauische. Man präzisierte nun die Methoden und die %Lautgesetze: 1863 H. G. Grassmanns Gesetz (Hauchdissimilation), 1877 K. Verners Gesetz (%grammatischer Wechsel), 1876-78 Ausnahmslosigkeit der Laut-gesetze (A. Leskien, H. Osthoff und F. K. Brugmann; %Junggrammati-ker). Amelung und Brugmann, H. Collitz, F. de Saussure, J. Schmidt klär-ten in den 70er Jahren des 19. Jh. das Problem des ind. ‘a’ (europ. a, e, o); G. I. Ascoli entdeckte die zwei indogerm. Gutturalreihen, Brugmann (‘Nasalis sonans in der indogerm. Grundsprache’, 1876) die silbischen mund n; de Saussure (‘Mémoire sur le système primitif des voyelles dans les langues indoeuropéennes’, 1878/79) formte die Vokaltheorie des Indo-germanischen aus durch systemat. Darstellung der Ablautstufen von Kurz-und Langvokalen, Entdeckung des � und der zweisilbigen %Wurzeln. H. Paul (‘Prinzipien der Sprachgeschichte’, 1880) brachte die Theorie der Analogie, deren Wirkung Brugmann und Osthoff in ihren ‘Morpholog. Untersuchungen’ (1878 ff.) darstellten. H. Hübschmann erkannte die %armenische Sprache als eigene Sprachgruppe. B. G. G. Delbrück lieferte zu Brugmanns ‘Grundriß der vergleichenden Grammatik der indogermani-schen Sprachen’ (1886 ff.) die Syntax (1893-1900).

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I. Zur Einleitung134

Bedeutende Untersuchungen zu den Einzelphilologien lieferten Ch. Bartholomae (Indo-Iranisch), J. Wackernagel, W. Schulze, später P. Kret-schmer (Griechisch), Fr. Kluge, H. Paul, E. Sievers, später W. Streitberg (Germanisch), R. Thurneysen (Keltisch); H. Hirt zu %Akzent (1895) und %Ablaut (1900) sowie zur Urheimat und Ursprache der Indogermanen (‘Die Indogermanen’, 1905-07; ‘Indogerm. Gramm.’, 1921-37). Anf. des 20. Jh. wurden das Tocharische und Hethitische entdeckt; bearbeitet von W. Schulze, E. Sieg, W. Siegling, W. Krause (Tocharisch), bzw. F. Hrozný, F. Sommer, J. Friedrich (Hethitisch), H. Pedersen (beide). Mit dem Hethitischen kamen auch Luwisch und Palaisch zutage, auch das Phrygische, Lykische und Lydische wurden erforscht. Krahe erschloß die Reste der %illyr. Sprache. Die I. ging nun mehr und mehr in Detailfragen und Einzelphilologien auf. Seit de Saussures Forderung nach einer ‘syn-chronischen’, systembezogenen Sprachwissenschaft (‘Cours de la linguistique générale, 1916) wurde die hist. (‘diachronisch’) ausgerichtete I. bes. im Ausland (Genf, Prag, Kopenhagen, USA) von versch. Richtun-gen der modernen %Sprachwissenschaft abgelöst.“

2) Eine vergleichbar kompetente Übersicht bietet Meyers Enzyklopädi-sches Lexikon Mannheim / Wien / Zürich. 9. Aufl. 1974 s.v. Enttäuschend, aber für die heutige Zeit wohl doch typisch, ist dagegen ein modern konzi-piertes Nachschlagewerk wie Haremberg, Kompaktlexikon in 3 Bänden. Dortmund 1996. Das Fach Indogermanistik findet keine Erwähnung mehr, man verweist nur noch ganz knapp und summarisch auf die „Indoeuropä-ische Sprachfamilie“ und auf die „Indogermanen“.

3) Eine erschöpfende Darstellung der Indogermanistik von ihren An-fängen bis heute fehlt.

Weiterführende Literatur: — a) zur Geschichte der Indogermanistik mit besonderem Blick auf die Anfänge und zur Geschichte der Sprachwissen-schaft im allgemeinen: % Benfey Geschichte der Sprachwissenschaft 1869; Delbrück Einleitung 1904; Windisch Sanskritphilologie I 1917 II 1920;Portraits I / II 1966; Neumann Indogermanistik 1967; Koerner Practicing Linguistic Historiography 1989; Einhauser Junggrammatiker 1989; Szemerényi Einführung 1990 p. 1ff.; Bartschat Methoden der Sprachwissenschaft 1996; Morpurgo Davies Ottocento 1996. — b) spezi-ell 20. Jh. (bis 1960): % Szemerényi Richtungen der modernen Sprachwis-senschaft II 1982.

4) Im folgenden werden ein paar wichtige Entwicklungsschritte von Abs. 1 verdeutlicht.

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C. Zur Geschichte der Indogermanistik 135

E 301. Ähnlichkeiten und Verwandtschaften im Wortschatz zwischen eu-ropäischen Sprachen wie Latein und Griechisch und dem Sanskrit sind verstärkt seit dem 18. Jh. n. Chr. beobachtet worden: % Thumb / Haus-child Handb. d. Sanskrit I / 1 1958 p. 168ff. (zum Studium des Sanskrit in Europa). Zu Sir W. Jones: % a.O. p. 173f.; Portraits I 1966 p. 1-57; Lex. Gramm. 1996 p. 489f.; Mayrhofer Sanskrit und die Sprachen Alteuropas 1983.

Die als verwandt erkannte Sprachgruppe zwischen Indien und Europa wird im deutschsprachigen Werk von J. Klaproth Asia polyglotta Paris 1823 p. 42ff. ganz geläufig als indo(-)germanisch bezeichnet. Die Bezeich-nung ist aber offensichtlich nicht die Erfindung von J. Klaproth. Er ver-wendet sie als bereits genormten Begriff, der zu der Zeit mit indo(-)-europäisch konkurrierte und von Bopp verwendet wurde. Vor Klaproth hat nachweislich der dänische Geograph K. Malte-Brun den Begriff ‘lan-gues indo-germaniques’ verwendet: % Thumb / Hauschild Handb. d. Sanskr. I / 1 1958 p. 42f.; F. R. Shapiro On the Origin of the term ‘Indo-Germanic’ in HL 8 1981 p. 165-170; K. Koerner Observations of the Sources, Transmission, and Meaning of ‘Indo-European’ and Related Terms in the Development of Linguistics in IF 86 1982 p.1-29 = ders. Practicing Linguistic Historiography 1989 p. 149-177; Szemerényi Einführung 1990 p. 12f. Anm. 1; G. Bolognesi Sul termine „indo-germanisch“ in FS Belardi I 1994 p. 327-338; F. Bader in langues indo-européennes 1994 p. 23.

Während sich die Bezeichnung indo(-)europäisch im Englischen und in den romanischen Sprachen etabliert hat (vgl. engl. Indo-European; franz. indo-européen usw.), ist indogermanisch im deutschsprachigen Raum üb-lich geworden: % Arbeitsausschuß der Idg. Gesellschaft in Kratylos 27 1982 [1983] p. 221f. (Stellungnahme zum teilweisen Nebeneinander von ‘indogermanisch’ und ‘indoeuropäisch’: „Eine Abkehr von dem eingebür-gerten wissenschaftlichen Terminus ‘indogermanisch’ ist also nicht gebo-ten“). In der DDR galt mit einer bewußt antiwestdeutschen Spitze indoeu-ropäisch: % E. Seidel in Wiss. Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Gesellschafts- und Sprachw. Reihe XVIII 1969 p. 297 („Ich sehe keinen Grund, in indirektem Eingehen auf vereinzelte westdeutsche Diener des Imperialismus den Terminus „indogermanische Sprachwissenschaft“ zu vermeiden ... Immerhin folge ich dem Wunsche der Redaktion, hier „in-doeuropäisch“ zu sagen“).

E 302. Die eigentliche Geschichte der Indogermanistik beginnt mit Franz Bopp (1791-1867). Er hat die Verwandtschaft der indogermanischen

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I. Zur Einleitung136

Sprachen 1816 wissenschaftlich nachgewiesen. Das Vorwort zu seinemgrundlegenden Werk „Über das Conjugationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der griechischen, lateinischen, persischen und germanischen Sprache“ stammt aus der Feder von Karl Windischmann und ist auf den 16. Mai datiert. Bopp hat später diesen Tag immer als Geburts-stunde der Indogermanistik gefeiert. Während vorher Vermutungen nur durch einzelne Wortvergleiche gestützt waren, erfolgte Bopps Nachweis der Verwandtschaft über den Vergleich der Grammatik. Die Beschäftigung mit dem Indischen war bei Bopp ursprünglich durch Friedrich Schlegels Buch „Ueber die Sprache und Weisheit der Indier“ (Heidelberg 1808) ver-anlaßt worden. Zu Bopp: % B. Schlerath in Berlinische Lebensbilder -Geisteswissenschaftler 1989 p. 55-72; Szemerényi Einführung 1990 p. 6f.

Neben Bopp ist für die Geschichte der Indogermanistik Jacob Grimm (1785-1863) von großer Bedeutung. Er hat mit seiner Deutschen Gram-matik (1819ff.) erstmals die historische Dimension in die Sprachforschung eingeführt: Sprachvergleich und Sprachgeschichte sind zusammen die Grundlage der Indogermanistik: % Szemerényi Richtungen I 1971 p. 13ff.

E 303. Mit der im Jahre 1821 von Wilhelm von Humboldt empfohlenen Berufung Bopps an die noch junge Berliner Universität beginnt die univer-sitäre Institutionalisierung des Faches. Bopp erhält die neu eingerichtete Professur für „Orientalische Litteratur und Allgemeine Sprachkunde“.

Das Fach ist in den ersten Jahrzehnten noch fest mit der Sanskritistik verbunden, da ja die Bekanntschaft mit dem Sanskrit erst die Entdeckung der indogermanischen Sprachfamilie ermöglichte. Durch diese enge Ver-knüpfung mit der Sanskritistik steht die Indogermanistik anfangs der Orientalistik am nächsten, so daß die indogermanistischen Professuren zu dieser Zeit meist auch die Bezeichnungen „Sanskrit“ oder „orientalisch“ in ihrer Beschreibung enthalten. Doch ist damit ebensowenig Indologie und Orientalistik im heutigen Sinne gemeint, wie mit „Allgemeiner Sprachkun-de“ in der Beschreibung von Bopps Professur Allgemeine Sprachwissen-schaft oder Linguistik nach heutigem Verständnis gemeint ist. Die erste Professur für „Indologie“ erhielt August Wilhelm Schlegel 1818 in Bonn.

Professuren für Indogermanistik ohne besondere Festlegung auf Sanskrit werden erst seit den siebziger Jahren des 19. Jh. vermehrt einge-richtet. So ist etwa Karl Brugmanns Leipziger Professur 1887 geschaffen worden durch eine Umwidmung der Professur für Klassische Philologie seines Lehrers Georg Curtius, der in Berlin auch Bopps Schüler war.

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C. Zur Geschichte der Indogermanistik 137

E 304. Bopps Schülerkreis war sehr groß. Über die Indogermanistik hinaus bedeutend ist Friedrich Rückert, der in Erlangen eine orientalistische Pro-fessur innehatte und zeitweilig neben Bopp in Berlin lehrte. Zu Bopps Schülerkreis zählen ferner auch Wilhelm von Humboldt und August Wil-helm Schlegel und viele spätere Vertreter von Indogermanistik und Indo-logie wie August Friedrich Pott, Theodor Aufrecht, Otto von Böhtlingk, Adalbert Kuhn, Adolf Friedrich Stenzler und Albrecht Weber, der Bopps Nachfolger wurde.

Die erste Berliner Professur für Vergleichende Sprachwissenschaft er-hielt 1872 Hermann Ebel. Sein Nachfolger wurde 1876 August Schleichers Schüler Johannes Schmidt. Er begründete die „Berliner Schule“ der philo-logischen Indogermanistik - im Gegensatz zur „Leipziger Schule“ der sy-stematischen „Junggrammatiker“.

E 305. Mit den Namen Potts, Schleichers und Schmidts ist die Einführung verschiedener neuer Methoden und Modelle verbunden, so mit dem Hal-lenser A. F. Pott die Etymologie unter strenger Beachtung des Lautwan-dels (% Etymologische Forschungen auf dem Gebiete der Indogermani-schen Sprachen mit besonderem Bezug auf die Lautumwandlung imSanskrit, Griechischen, Lateinischen, Litauischen und Gothischen. Lemgo 1833-1836), mit dem Jenaer A. Schleicher die Rekonstruktion und die Stammbaumtheorie (% Compendium der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen. Weimar 1861) und mit dem Berliner J. Schmidt die Wellentheorie (% Verwandtschaftsverhältnisse 1872). Der Name Adalbert Kuhns steht einerseits für indogermanische Mythologie und andererseits für die Begründung einer Fachzeitschrift der Indogerma-nistik, die bei geringfügigen Veränderungen im exakten Titel von 1852 bis heute erscheint und noch immer als „Kuhns Zeitschrift“ bezeichnet wird: HS (älter ZVS oder KZ), s.o. Bibliographie s.v.

E 306. Zu den sog. Junggrammatikern gehörten Vertreter verschiedener philologischer Disziplinen, so der Slavist August Leskien und der Germa-nist Hermann Paul. Literatur: % Einhauser Junggrammatiker 1989.

Der Grundsatz der Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze (er macht den Lautwandel erst zum Lautgesetz) geht auf die Junggrammatiker zurück. Zahlreiche Lautgesetze von Bestand wurden von Forschern aus diesem Kreis entdeckt: Jacob Grimms Gesetz (Germanische Lautverschiebung, s.u. L 336 Abs. 4); Karl Verners Gesetz (s.u. L 421); Karl Brugman(n)s Gesetz (s.u. L 412; zu seiner Entdeckung der Nasalis sonans s.u. L 305); Hermann Osthoffs Gesetz (Langdiphthong vor Konsonant wird zu Kurz-

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I. Zur Einleitung138

diphthong); Hermann Grassmanns Hauchdissimilationsgesetz (s.u. L 348); Christian Bartholomaes Aspiratengesetz (s.u. L 347 Abs. 2).

E 307. Eine entscheidende Stellung kommt F. de Saussure (1857-1913) zu. Er hat nicht nur die uridg. Lautlehre durch die Entdeckung der Laryn-gale bereichert, sondern auch die moderne synchrone Sprachwissenschaft begründet (bekannte Schlagwörter: synchron vs. diachron; langue vs. pa-role; signifiant vs. signifié): % Szemerényi Richtungen I 1971 p. 19-52; weitere Hinweise s.o. in der Bibliographie unter Saussure Cours 1916 und Saussure Mémoire 1879; ferner s.u. L 315.

Die synchrone Sprachwissenschaft wird i.d.R. als Allgemeine Sprach-wissenschaft bezeichnet. Sie hat seit de Saussure einen enormen Auf-schwung genommen und hat sich breit gefächert: % Szemerényi Richtun-gen d. mod. Sprachw. II 1982.

An manchen Universitäten hat die Allgemeine Sprachwissenschaft die Indogermanistik überflügelt. Dies gilt genauso bei den großen Philologien wie Germanistik, Romanistik oder Anglistik, wo die historisch interessier-ten Linguisten gegenüber den Linguisten mit synchronen Interessen in der Minderheit sind und einsame Rufer in der Wüste zu werden drohen. Mit ihren ungleich höheren Studentenzahlen hat die Allgemeine Sprachwissen-schaft eine Trumpfkarte, die nicht leicht ausgestochen werden kann. Aber auch die Allgemeine Sprachwissenschaft bedarf der historischen Dimensi-on. Nur ein Nebeneinander von Allgemeiner und Historisch-vergleichender Sprachwissenschaft ist sprachgerecht. Wenn der Allgemeine Sprachwis-senschaftler nämlich, zumeist als einzige Fremdsprache, nur noch Englisch kennt und alle seine Beispiele von dort holt, ist die Einseitigkeit nicht mehr zu überbieten.

E 308. Die Forschungslage der Indogermanistik hat sich im Laufe der Zeit durch das Einbringen von neuen Ideen und durch das Dazukommen von neuem Sprachmaterial immer wieder gewandelt: % Szemerényi Richtun-gen der modernen Sprachwissenschaft II 1982 p. 107ff. Die einzelnen idg. Sprachen in der Reihenfolge ihrer Eingruppierung in das „Weltbild“ der Indogermania: Albanisch (% Bopp Albanesisch 1855); Armenisch (H. Hübschmann 1875, s.u. E 424); Tocharisch (E. Sieg, W. Siegling, W. Schulze 1908, s.u. E 408); Hethitisch (F. Hrozný 1915, s.u. E 410); My-kenisch / Linear B (M. Ventris und J. Chadwick 1953, s.u. E 418); Kelti-berisch (Fund der ersten Botorrita-Inschrift 1970, s.u. E 431 Abs. 1c); Karisch (s.u. E 415: % Historia de la investigación bei Adiego Studia

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C. Zur Geschichte der Indogermanistik 139

Carica 1993 p. 101ff.). � Die oben beigebrachten Nachträge zur Biblio-graphie zeigen weitere enorme Fortschritte zwischen 2001 und 2010.

E 309. � Wie sich die Indogermanistik in diesem Jahrtausend weiter-entwickeln wird, muß sich zeigen.

Wir sind noch nie so gut dokumentiert gewesen wie heute. Die Genauigkeit der Beschreibung und der Argumentation war noch nie so gut. Es gilt auf diesem Wege weiterzufahren und unsere sprachliche Vergangenheit immer noch genauer und adäquater zu erfassen. Offenheit gegenüber neuen Fragestellungen ist Pflicht.

Und es gilt ganz klar der gesellschaftliche Auftrag, die sprachhis-torische Dimension bei allen Diskussionen über Sprache und Sprachen zu Gehör zu bringen und nicht vergessen zu lassen. Und dies gilt heute um so mehr, als die Kenntnisse der altidg. Kultursprachen Latein und Griechisch aus dem gymnasialen Schulalltag verdrängt und marginalisiert zu werden drohen.

Die Indogermanistik widmet sich der sprachlichen Vergangenheit und macht damit die Zukunft verständlich (Motto: „ohne Vergangenheit keine Zukunft“). Indogermanistik und historische Sprachwissenschaft dürfen aber nie und nimmer für politische Zwecke mißbraucht werden, s.u. imSachregister s.v. Kelten und s.v. Nationalsozialismus.

E 310. Unabdingbar für jede Zukunftsperspektive ist die Finanzierung vonindogermanistischen Professuren durch die Universitäten. Im gegenwärti-gen Zeitalter der leeren Kassen in den öffentlichen Haushalten werden sog. Kleine Fächer wie die Indogermanistik gern mit der berühmten Gretchen-frage nach der gesellschaftlichen Relevanz konfrontiert und in Frage ge-stellt. Zuständige Fachbereiche (Fakultäten) und Universitätsverwaltungen sind bisweilen sogar bereit, auf die Neuberufung eines Indogermanisten zugunsten von Sachzwängen in andern Fächern zu verzichten, so gesche-hen in den letzten Jahren in Basel, Freiburg im Üechtland, Gießen, Tübin-gen, Saarbrücken und Regensburg. � Sobald die heutigen Fachvertreter in den Ruhestand gehen, werden sich weitere Universitäten wie die FU Berlin dieser „Verlustliste“ anschließen. Vgl. oben E 106.

Einen flammenden Appell zugunsten unseres feinen, aber kleinen Fa-ches hat R. Wachter von der Universität Basel im März 1999 im Internet unter dem Titel „Orchidee Indogermanistik: zähe Wurzel, zugkräftige Stammbildung, zerbrechliche Endungen“ eingebracht. Ich erlaube mir, den Schlußabschnitt „Wozu Indogermanistik heute?“ hier abzudrucken (die speziell auf die Situation an der Universität Basel und auf die Schweiz ge-

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I. Zur Einleitung140

münzten Aussagen sind vom geneigten Leser leicht zu erkennen): „Und hier sollte ich, zum Schluss, doch auch noch dem Utilitarismus der heuti-gen Zeit entgegenkommen und einige weitere Faktoren nennen, die m.E. eine fundierte historisch-sprachvergleichende, insbesondere eine indogermanistische Ausbildung auch ausserhalb des engeren Bereichs der Klassischen Philologie und Indologie als etwas sehr Nützliches erscheinen lassen und die auch durchaus den Orchideenstatus der Indogermanistik etwas relativieren können: — Erstens kann diese wie keine andere Wissen-schaft zwischen den meisten Sprachen Europas und insbesondere zwischen den vier Sprachen unseres Landes integrierend vermitteln: Sie lenkt den Blick auf den gemeinsamen Fundus und die historisch gewachsenen Unter-schiede. Sie erleichtert es, sich - gleichsam archäologisch - im Gewirr der verschiedenen historischen Schichten in unseren Sprachen zurechtzufinden und altererbtes Sprachgut, Einflüsse der klassischen Sprachen aus Antike und Renaissance, Tauschgut aus der Zeit der frühmittelalterlichen roma-nisch-germanischen Symbiose, hochmittelalterliche wissenschaftliche Ter-mini aus dem Arabischen, Entlehnungen aus der höfischen Kultur Frank-reichs, angelsächsisches technologisch-kommerzielles Vokabular der letz-ten 100 Jahre und vieles andere mehr auseinanderzuhalten und in ihren historischen Kontext einzuordnen. Die historisch-vergleichende Sichtwei-se, die sie vermittelt, könnte und sollte zudem - im Sinne der applied linguistics - unbedingt wieder vermehrt im Sprachunterricht fruchtbar ge-macht werden. Besonders nützlich ist diese für die romanischen Sprachen, von denen drei Schweizer Landessprachen sind und eine vierte zu den weltweit meistverbreiteten Sprachen gehört, weiter im Bereich des europä-ischen Kulturlehnwortschatzes, der häufig allen vier Schweizer Landes-sprachen, dem Englischen sowie den anderen europäischen Sprachen ge-meinsam ist, und schliesslich etwa im Satzbau und den typologischen Ver-änderungen der letzten 2000 Jahre, die fast europaweit ebenfalls viel mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede aufweisen. Und nicht zuletzt fördert diehistorisch-analytische Sichtweise, wie mir scheint, die individuelle Sprach-kompetenz, schult das Feingefühl für Stil und erweitert die aktivierbaren sprachlichen Resourcen. — Zweitens kann die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft auch der allgemeinen Sprachwissenschaft helfen, Di-mensionen, die diese seit längerem etwas aus den Augen verloren hat, eben die historische und die vergleichende, wiederzugewinnen. Eine Annähe-rung ist seit kurzem wieder deutlich auszumachen, und hier in Basel schei-nen mir die Zeichen für eine fruchtbare Zusammenarbeit besonders gut zu stehen. — Drittens trägt die Indogermanistik erheblich zur Farbigkeit einer Universität bei. Denn sie bringt einen ganz eigenen Forschungsansatz ein

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C. Zur Geschichte der Indogermanistik 141

und ist zugleich eine Hilfswissenschaft für sehr viele andere Fächer, zentral wichtig u.a. für die Klassischen, sinnvoll ergänzend für die meisten anderen Philologien, und sie erweitert nicht unwesentlich die Angebotspalette durch den Einbezug von Sprachen, die sonst von niemandem gelehrt und erforscht würden. Durch ihre sprachübergreifend-integrierende Wirkung schafft sie neben der Geschichte und der vergleichenden Literaturwissen-schaft eine zusätzliche, speziell sprachlich orientierte Vernetzung der ver-schiedensten Fächer. Als etymologische Wissenschaft par excellence ist sie geeignet, Brücken zu einem breiteren Publikum zu schlagen. — Und last not least kostet sie nicht viel: Dies gilt einmal absolut gesehen, denn sie benötigt ausser einem die Kontinuität sichernden Minimalbestand kaum Personal; und auch Bücher, Zeitschriften und sonstige Arbeitsinstrumente braucht sie – gemessen an der Breite des Faches - in bescheidenem Aus-mass. Aber auch relativ gesehen ist das Preis-Leistungsverhältnis gar nicht schlecht, denn relevant sind hierfür nicht nur die Studentenzahlen, sondern mindestens ebensosehr der qualitative Aspekt der Hilfsfunktion für viele andere Fächer und der Erweiterung der Angebotspalette ... — Besonders wünschenswert und wirkungsvoll als Unterstützung für ein erfolgreiches Wirken dieses kleinen, traditionsreichen Faches aber ist es, wenn sein Hilfsangebot von den vielen anderen Fächern auch wirklich genutzt wird. Dazu muss es selbstverständlich auch selber, bzw. sein Repräsentant, das Seinige beitragen u.a. in der Lehre, im Verhältnis zu den Studierenden und den Vertretern der anderen Fächer sowie – heute mehr denn je – gegen-über der Öffentlichkeit.“

D. Übersicht über die idg. Sprachen und ihre Quellen

1. Allgemeines

E 400. Bezeugung und Umfang der Dokumentation der indogermanischen Sprachen ist von Sprache zu Sprache verschieden. Dies hängt davon ab, zu welchem Zeitpunkt die einzelnen Sprachgemeinschaften den Weg von der zunächst bei allen vorherrschenden Mündlichkeit zur Schriftlichkeit gefun-den haben.

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I. Zur Einleitung142

In aller Regel fand der Übergang bei der Kontaktnahme mit bereits be-stehenden Schriftkulturen statt, vgl. die anatolischen Hethiter, die sich in die mesopotamische Keilschrifttradition einordnen (s.u. E 410), vgl. die mykenischen Griechen, die ihre Linearschrift B dem kretischen Schriftkreis entlehnen (s.u. E 418), vgl. die Kelten, die, von der Region abhängig, ihre Inschriften im gr., lat., etrusk. oder sogar iberischen Alphabet schreiben (s.u. E 431 Abs. 1), vgl. die Tocharer, die über ihre Teilhabe am buddhi-stisch geprägten Leben des 6. Jh. n. Chr. im Tarimbecken zu eigenen Sprachdenkmälern kommen (s.u. E 408).

Bei den frühesten Zeugnissen mancher Sprachzweige handelt es sich um Übersetzungsliteratur christlichen Inhalts: vgl. Gotisch, Altkirchenslavisch, Armenisch. Eine Tabelle mit den Eintrittsdaten der Einzelsprachen in die Welt der Schriftlichkeit bietet Benveniste Institutions II 1969 im Vorspann zur „Note bibliographique“.

Im besten Fall stimmt das Alter der Sprache mit dem der Sprachträger überein, so bei den zeitgenössischen Inschriften. In anderen Fällen stam-men die Sprachträger aus viel späterer Zeit, so i.d.R. bei Handschriften. Dann liegt zwischen der bezeugten Sprachstufe und dem Datierungszeit-punkt des Sprachträgers ein Zeitraum der mündlichen Überlieferung oder auch der schriftlichen Überlieferung.

Manche Sprachen sind uns erst seit dem vergangenen Jahrhundert be-kannt, sei es, daß sie überhaupt erst jetzt wieder entdeckt wurden oder daß ihre Schriftzeugnisse erst jetzt entziffert werden konnten.

Die Erschließung der fraglichen Sprachen ist unterschiedlich und hängt u.a. davon ab, wie groß das überlieferte Korpus ist, wieweit es zeitlich zurückreicht und auch, ob es heute noch eine Fortsetzersprache gibt oder nicht.

E 401. Allgemeine Übersichten über die einzelnen Vertreter der indoger-manischen Sprachfamilien: % Cowgill Einleitung 1986 p. 17ff.; Lockwood Überblick 1979; Lingue indoeuropee 1994 = Indo-European languages 1998; langues indo-européennes 1994; Beekes Introduction 1995 p. 17ff.; Convegno Udine (Restsprachen) 1981 [1983]; � Fortson Introduction2010.

2. Die einzelnen idg. Sprachzweige und ihre Quellen

E 402. Eine erste kurze Aufzählung erfolgt hier nach der frühesten Bezeu-gung der Einzelsprachen. Genannt wird jeweils das früheste Zeugnis (bei

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D. Übersicht über die idg. Sprachen und ihre Quellen 143

erschlossenem Alter wird die reale Bezeugung miterwähnt, ferner kommt der Hinweis auf eine bestehende indirekte Überlieferung dazu, wenn sie aufgrund höheren Alters oder größeren Textumfangs für die Einzelsprache maßgeblich ist). Einzelheiten zu den Daten folgen ab E 404.

Die aktuelle Reihenfolge lautet: — Anatolisch (altheth. Originaldoku-mente aus dem 16. Jh. v. Chr., enthalten z.T. Abschriften von Texten des17. Jh. v. Chr.); — Griechisch (myk. Originaldokumente aus dem 17. und 14. / 13. Jh. v. Chr.); — Indisch (die Überlieferung des Rigveda muß bis tief in das zweite Jahrtausend n. Chr. rein mündlich erfolgt sein, die Abfas-sung einzelner Verse und einzelnes inhaltliche Gedankengut reicht im Kern aber vermutlich ins 13. Jh. v. Chr. zurück; ferner: die Nebenüberlieferung führt für ein paar Götternamen und Termini bis in das hurritische Mitanni-Reich des 16. / 14. Jh. v. Chr.); — Iranisch (der Kern des altavestischen Textkorpus geht auf den Religionsstifter Zarathustra und damit ins 10. Jh. v. Chr. zurück; die uns erhaltenen Texte sind aber erst nach einer langen mündlichen Tradition in mittelpersischer Zeit aufgezeichnet worden); —Italisch (die sog. Fibula Praenestina [zur Frage der Echtheit: % Wachter Altlat. Inschriften 1987 p. 55-65] stammt wohl noch aus der 1. Hälfte des 7. Jh. v. Chr.; andere latinische Denkmäler wie die sog. Duenos-Inschrift gehören dagegen erst ins 6. Jh. v. Chr.); — Keltisch (kontinentalkeltische Inschriften seit dem 2. Jh. v. Chr.); — Germanisch (Wulfilas Bibelüberset-zung ins Gotische datiert um 350 n. Chr.; germ. Namen auf Münzen und in Nebenüberlieferung sind aber seit Caesar im 1. Jh. v. Chr. belegt); — Ar-menisch (5. Jh. n. Chr.); — Tocharisch (6. Jh. n. Chr.); — Slawisch (9. Jh. n. Chr.); — Baltisch (14. Jh. n. Chr.); — Albanisch (15. Jh. n. Chr.).

E 403. Die folgende etwas ausführlichere Aufzählung folgt im Groben den geographischen Arealen von Ost nach West, hält sich aber innerhalb der Regionen an die Erstbelegungen. Die Hinweise auf weiterführende Litera-tur sind ganz knapp gehalten. � Für neuere Literatur zu den einzelnen Sprachen s. o. die bibl. Nachträge.

1) Region Indien und Chinesisch-Turkestan: Indoiranisch mit Indisch und dem westlich anschließenden Iranisch; Tocharisch.

2) Region Kleinasien, Griechenland und Balkan: — Seit dem 2. Jt. v. Chr. Anatolisch im Osten, Griechisch im Westen. — Seit dem 1. Jt. v. Chr. Phry-gisch in Kleinasien. — Seit nachchristlicher Zeit Armenisch im Osten und Al-banisch auf dem Balkan.

3) Region der italischen Halbinsel: Italisch.

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I. Zur Einleitung144

4) Region Europa nördlich der Alpen: Keltisch, Germanisch, Balto-Slavisch.

E 404. Das Indoarische (Indische) und das Iranische gehören in ihren Vor-stufen sprachlich und kulturell eng zusammen. Ausdruck der engen indoi-ranischen Vernetzung ist allein schon die beiden Sprachzweigen gemein-same Volksbezeichnung ar�a- (s.u. W 304). Für eine gute Übersicht zum Indoiranischen: % M. Mayrhofer in langues indo-européennes 1994 p. 101-120; Arbeitstagung Erlangen 1997 [2000]. � Für neuere Literatur zum Indoarischen und Iranischen s.o. die bibl. Nachträge.

1) Das Indoarische, meist kurz Indisch (oder Sanskrit) genannt, ist am frü-hesten (16. / 14. Jh. v. Chr.) in der Nebenüberlieferung bezeugt, und zwar in Form von Lehnwörtern und Eigennamen im Hurritischen des Königreichs von Mitanni („Mitanni-Indisch“): % Mayrhofer Indo-Arier 1966; Kammenhuber Arier 1968; M. Mayrhofer Welches Material aus dem Indo-Arischen von Mitanni verbleibt für eine selektive Darstellung? in Kleine Schriften II 1996 (Aufsatz von 1982) p. 304-322; O. Carruba, Zur Überlieferung einiger Namen und Appellativa der Arier von Mitanni: „a Luwian look?“ in Arbeitstagung Erlangen 1997 [2000] p. 51-67. Zum Hurritischen selbst: % Neu Hurritisch 1988; Wegner Hurritisch 2000. � Weiteres zu den Mitanni-Ariern bei M. Mayrhofer in AÖAW 111 2006 p. 83-110 und bei Lipp Palatale 2009 Band Ip. 265ff.

2) Die älteste Sprachschicht des Altindischen, das sich kontinuierlich bis heute in Indien fortentwickelt hat, ist mit dem Vedischen des Rigveda greifbar; dieses wird auf die Mitte des 13. Jh. v. Chr. datiert und repräsentiert das In-dische des Punjab-Gebietes im Nord-Westen Indiens. Die Datierung betrifft aber nur die Sprache. Die schriftliche Überlieferung der vedischen Texte setzt nämlich erst zwei Jahrtausende später ein. Da es sich bei den ältesten vedi-schen Texten aber um metrische Ritualliteratur handelt, eine Textgattung, bei der genaue Einhaltung und Bewahrung des Wortlautes höchste Priorität be-sitzt, geht man von äußerster Zuverlässigkeit der mündlichen Überlieferung aus. Innerhalb des vedischen Indisch lassen sich verschiedene Sprachstufen unterscheiden, die mit den unterschiedlichen Texten verbunden sind (Rigveda, Samaveda, Yajurveda, Atharvaveda, Brahmanas, Upanischaden, Aranyakas). Auch innerhalb des Rigveda sind die dort versammelten Hymnen nicht alle gleich alt; am archaischsten sind durchgehend die der Bücher 2 bis 7, der sog. Familienbücher. Ferner lassen sich im Vedischen verschiedene Dialekte unter-scheiden.

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D. Übersicht über die idg. Sprachen und ihre Quellen 145

Literatur: — a) allgemein: % Thumb / Hauschild Handb. d. Skr. 1958 / 1959; Wackernagel / Debrunner Ai. Gramm. 1957 / 1954 / 1930. — b) spezi-ell Vedisch: % MacDonell Vedic Grammar 1910; Aufrecht Hymnen des RV I / II 1877; Geldner RV Übersetzung 1951-1957; Grassmann Wörterbuch 1873; Mayrhofer EWAia; Hoffmann Injunktiv 1967; Narten Sigmatische Aoriste 1964; Gotô I. Präsensklasse 1987 und ders. Materialien Nr. 1-29 1990-1997; Zehnder AVP 2 1999; M. Witzel, Tracing the Vedic Dialects in Dialectes indo-aryennes 1986 [1989] p. 97-265; ders., Die sprachliche Situation Nordin-diens in vedischer Zeit in Arbeitstagung Erlangen 1997 [2000] p. 543-579.

3) Das früheste direkt überlieferte indische Sprachzeugnis sind die Inschrif-ten des buddhistischen indischen Kaisers A¹oka von 250 v. Chr., die in ver-schiedenen mittelindischen Prâkrit-Dialekten abgefaßt sind. Die Entwicklung des Prâkrits beginnt um 500 v. Chr. Zum Prâkrit gehört auch das Pâli, die ka-nonische Sprache des südlichen Buddhismus: % Geiger Pâli 1916; Mayrhofer Pâli 1951; von Hinüber Älteres Mittelindisch 1986.

4) Erst nach dem Mittelindischen entsteht in der 2. Hälfte des 1. Jahrtau-sends v. Chr. unter dem Einfluß des Grammatikers Pâ°ini (ca. 400 v. Chr.) und anderer Grammatiker das klassische Sanskrit, das als Literatur- und Ge-lehrtensprache bis heute in Gebrauch ist: % Mayrhofer Sanskrit-Gramm. 1978.

5) Von den neuindischen Sprachen sind speziell Hindî und Urdû zu nennen. Zur heutigen sprachlichen Situation: % P. Gaeffke und H. Bechert in Indolo-gie 1979 p. 32ff.

E 405. Das Altiranische teilt sich von seiner frühesten Bezeugung an in einen östlichen und einen westlichen Zweig. Das Ostiranische wird durch das Avestische vertreten, das Westiranische durch das Altpersische. Für Avestisch und Altpersisch wurde jeweils eine eigene Schrift geschaffen: Das Avestische ist in einem linksläufigen, auf der kursiven Buch-Pahlavi-Schrift beruhenden Alphabet wohl aus dem 4. Jh. n. Chr. wiedergegeben, das aufgrund seines großen Zeichenumfangs auch feine lautliche Unter-schiede berücksichtigen kann. Das Altpersische hingegen ist mit einer ein-fachen, eigens um 520 v. Chr. entwickelten Keilschrift verschriftlicht wor-den.

� Eigens zu würdigen ist das Mitteliranische mit Vertretern wie Mit-telpersisch (s.u. E 407), Parthisch, Sogdisch, Khotan-Sakisch und Bak-trisch.

Literatur: % Compendium Ling. Iran. 1989 mit Beiträgen zu allen Be-langen des Iranischen (vom Altiranischen über das Mitteliranischen zum

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I. Zur Einleitung146

Neuiranischen); R. Schmitt Die iranischen Sprachen, Eine Einführung in 5 Teilen in Spektrum Iran 8,4 1995 p. 6-27; 9,2 1996 p. 6-32; 9,3-4 1996 p. 6-32; 10,1 1997 p. 10-38; 11,1 1998 p. 14-42 = Schmitt Ir. Sprachen 2000; M. Mayrhofer L’Indo-iranien in langues indo-européennes 1994 p. 101-120; Bartholomae Air. Wörterbuch 1904 (1979); Hoffmann Altira-nisch in Aufsätze I 1975 p. 58-76 (Beitrag von 1958; vgl. auch sonst die Aufsätze I-III mit zentralen Arbeiten Hoffmanns zum Altiranischen); R. S. P. Beekes Historical Phonology of Iranian in JIES 25 1997 p. 1-26.

E 406. Die ältesten Zeugnisse des Avestischen sind die sog. Gathas des Zarathustra („Gathaavestisch“); es sind dies Hymnen an die Gottheit Ahura Mazda; diese stellen, zusammen mit dem Yasna Hapta¯hâiti, einem rituellen Prosatext, die Sprachzeugnisse des Altavestischen, das in die Zeit des 10. Jh. v. Chr. datiert wird. — Das Jungavestische wird in die Zeit des 6. und 5. Jh. v. Chr. datiert. Die älteste erhaltene Handschrift stammt aus dem Jahr 1288 n. Chr.

Literatur: % Beekes Gatha-Avestan 1988; J. Kellens in Compendium Ling. Iran. 1989 p. 32-55; Kellens / Pirart Textes vieil-avestiques I-III1988-1991; Hoffmann / Forssman Av. Laut- und Flexionslehre 1996 (p. 247ff. eine Zusammenstellung des Schrifttums zum Avestischen von B. Forssman). � s.o. die bibl. Nachträge 8.

E 407. Das Altpersische ist erstmals zur Zeit der Schaffung der altper-sischen Keilschrift bezeugt, also um 520 v. Chr.; bereits die Inschriften aus dem 4. Jh. v. Chr. aber enthalten sprachliche Fehler, die darauf hinweisen, daß Altpersisch schon nicht mehr Gegenwartssprache war. Zum Teil ent-hält das Altpersische auch Medismen. Das gesamte Textmaterial des Alt-persischen umfaßt lediglich ein Kleinkorpus an Inschriften: % Branden-stein / Mayrhofer Altpersisch 1964; Mayrhofer Supplement 1978; R. Schmitt in Compendium Ling. Iran. 1989 p. 56-85; Schmitt Bisitun Inscriptions 1991; ders. Ap. Inschr. 1999; M. Mayrhofer Über die Ver-schriftung des Altpersischen in Kleine Schriften II 1996 p. 387-399 (Auf-satz von 1989). � s.o. in den bibl. Nachträgen R. Schmitt Die altper-sischen Inschriften der Achaimeniden. Editio minor mit deutscher Überset-zung. Wiesbaden 2009.

Aufgrund der lückenhaften Bezeugung des Altpersischen kommt den darauffolgenden mittelpersischen Sprachen besondere Bedeutung zu. Zum Reich der Parther unter den Arsakiden (247 v. Chr. - 224 n. Chr.): %Partherreich [1996] 1998 (darin u.a. R. Schmitt Parthische Sprach- und Namenüberlieferung aus arsakidischer Zeit p. 163-204). Die älteste Pahla-

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D. Übersicht über die idg. Sprachen und ihre Quellen 147

vi-Inschrift stammt vom Gründer der Sassanidendynastie Artaxsatr (Papakan = Ardaschir) (224-241 n. Chr.): % Überblicke in Compendium Ling. Iran. 1989 p. 95ff. � vgl. speziell G. Klingenschmitt „Mittelper-sisch“ in Arbeitstagung Erlangen 1997 [2000] p. 191-229.

E 408. Beim Tocharischen sind zwei Sprachen zu unterscheiden: Osttocharisch oder Tocharisch A und Westtocharisch oder Tocharisch B. Beide waren in Ost-Turkestan seit dem 2. Jh. v. Chr. in Gebrauch. Die frühesten Sprachzeugnisse sind aus dem 6. Jh. n. Chr. überliefert, die jüngsten aus dem 8. Jh. — Bei Tocharisch A handelt es sich um eine reine Schriftsprache. Tocharisch B hingegen war Verkehrssprache in Turfan, Qarasahr, Sorcuq und Kuca. Die literarischen Zeugnisse haben Dichtung, Religion und Wissenschaft zum Inhalt. Die erhaltenen religiösen, buddhi-stischen, Texte sind meist, auch freie, Übersetzungen aus dem Sanskrit, wovon vor allem einige Bilinguen zeugen, aber auch solche Übersetzun-gen, zu denen die Vorlage bekannt ist. — Daneben gibt es in Tocharisch B Klosterberichte, Karawanenpässe, einen Brief und Beschriftungen von Wandmalereien. Als Schrift wird eine modifizierte nordindische Brahmi-Schrift verwendet. — Um 1900 führten Expeditionen in die chinesische Provinz Sinkiang / Xinjiang. 1904 entdeckten A. Le Coq und A. Grünwe-del das eigenständige Tocharisch in Handschriften aus Ost-Turkestan. Es wurde von E. Sieg und W. Siegling näher bestimmt: % W. Siegling Tocharisch, die Sprache der Indoskythen in Sitzungsberichte der Berliner Akademie 1908 p. 915-932 (der erste Hinweis auf den idg. Charakter des Tocharischen stammt 1892 von Sergej Th. Oldenburg: % E. N. Tyomkin in TIES 7 1997 p. 205ff.).

Literatur: % Eine hervorragende Einführung bei Pinault Tokharien 1989; Fachtagung Tocharisch Berlin 1990 [1994] (darin u.a. p. 310ff. G. Klingenschmitt Das Tocharische in indogermanistischer Sicht, vgl. auch ders. Tocharisch und Urindogermanisch in Fachtagung Regensburg 1973 [1975] p. 148-163); TIES (= Tocharian and Indo-European Studies), s.o. die Angaben in der Bibliographie s.v. (als Band 7 1997 Arbeitstagung 100 Jahre Tocharologie Saarbrücken 1995 [1997]); Adams Tocharian 1988; Adams Dictionary (Toch. B) 1999; Ringe Sound Changes in Tocharian I 1996; Hackstein Sigmat. Präsensstammbildungen 1995; Carling Lokale Kasus im Tocharischen 2000. � s.o. die bibl. Nachträge 7, u.a. mit G. Pinault Chrestomathie tokharienne. Leuven/Paris 2008 und M. Malzahn The Tocharian Verbal System. Leiden 2010 (dort eine ausführliche Bi-bliographie p. 1001-1046).

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I. Zur Einleitung148

E 409. Die ältesten indogermanischen Sprachzeugnisse bietet der anatoli-sche Sprachzweig mit althethitischen Keilschrifttexten aus dem 16. Jh. v. Chr. Acht anatolische Sprachen sind bezeugt: Hethitisch, Luwisch, Palaisch, Lykisch, Lydisch, Karisch, Pisidisch und Sidetisch. — Die anato-lischen Sprachen sind in drei verschiedenen Schriftsystemen abgefaßt: [ei-ne Art babylonisch-assyrische] Keilschrift (Hethitisch, Palaisch, Luwisch), Hieroglyphen (Luwisch), Alphabet (Lykisch, Lydisch, Karisch, Pisidisch, Sidetisch).

Literatur: � Melchert Anatolian in langues indo-européennes 1994 p. 121ff.; N. Oettinger Die Gliederung des anatolischen Sprachgebietes in ZVS 92 1978 [1979] p. 74-92; ders. in DNP s.v. Kleinasien Sp. 555-559.� s.o. auch die bibl. Nachträge 6.

E 410. 1906 wurde ein Tontafelarchiv mit Keilschrifttafeln in Hattu¸a / Bogaÿköy (150 km östlich von Ankara) entdeckt. Aufgrund des Sprach-materials der Arzawabriefe aus der Amarnakorrespondenz, die 1887/88 in Mittelägypten gefunden wurde, äußerte Knudtzon 1902 die Vermutung, daß es sich um eine idg. Sprache handele. Die eigentliche Entzifferung wurde 1915 durch Bed³ich Hrozný geleistet.

Das Hethitische, die Verwaltungssprache des Hethiterreiches, bietet von den anatolischen Sprachen das meiste Textmaterial; so können die hethitischen Texte chronologisch geordnet und verschiedenen Sprachstu-fen zugewiesen werden: Drei Sprachstufen lassen sich unterscheiden: Alt-hethitisch (1570-1450), Mittelhethitisch (1450-1380) und Junghethitisch (1380-1220), wobei die absolute Chronologie in der Forschung unter-schiedlich ist. In der zweieinhalb Jahrhunderte älteren assyrischen Neben-überlieferung sind zwei hethitische Lehnwörter (i¸patalu ‘Nacht-quartier’, i¸Ÿiuli ‘Lohnvertrag’) belegt. Die jüngsten hethitischen Sprachzeugnisse stammen aus dem 13. Jh. v. Chr. Die hethitischen Texte sind in Keilschrift abgefaßt; sie befinden sich, abgesehen von einer erhaltenen Bronzetafel, auf gebrannten Tontäfelchen. Der Großteil der Funde stammt aus Zentral-anatolien. � Das Heth. stand in Konkurrenz zum Luvischen, vgl. I. Jakubovich 2010 in bibl. Nachträge 19 Nr. 2.

Literatur: — a) allgemein: � Bittel Hattusha 1970 und ders. Hethiter 1976; Bryce Kingdom 1998; Neve tattu¸a 1996; C. Melchert Anatolian in langues indo-européennes 1994 p. 121-136; Benveniste Hittite et indo-européen 1962; Bibliographie d. Hethitologie 1996 (1998): 1 p. 275ff. (Schrift); 2 p. 11ff. (Sprachen und Philologie); A. Kammenhuber Kleine Schriften 1993; F. Starke in DNP s.vv. tattusha und Hethitisch. — b) Schrift / Texte: % Rüster / Neu Hethitisches Zeichenlexikon 1989; Neu

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D. Übersicht über die idg. Sprachen und ihre Quellen 149

Aheth. Ritualtexte 1980 und ders. Aheth. Glossar 1983. — c) Sprache, Lexikon: % Friedrich Elementarbuch I 1960; Oettinger Verbum 1979; Rieken Nominale Stammbildung 1999; Grammatica ittita 1992; Friedrich / Kammenhuber HW; Tischler HEG; CHD. � s.o. die bibl. Nachträge 6.

E 411. Das Palaische ist nur sehr bruchstückhaft vom 16. Jh. v. Chr. an überliefert; es ist im 13. Jh. v. Chr. ausgestorben. Es handelt sich dabei um ein in Pala, einem Land nordwestlich des hethitischen Kernlandes, gespro-chenes Idiom: % Carruba Palaisch 1970; ders. Beiträge zum Palaischen. Istanbul 1972; � Theo van den Hout „Pala, Palaer, Palaisch“ in RlA 10 (2003-2005)191-192.

E 412. Das Luwische, eine Sprache aus dem südlichen und südwestlichen Anatolien, ist in zwei Dialekten bezeugt: der eine ist in Keilschrift (14. / 13. Jh. v. Chr.), der andere in Hieroglyphen (15.-8. Jh. v. Chr.) überliefert. Viele der keilschriftluwischen Texte weichen inhaltlich nur wenig vonei-nander ab, so daß der überlieferte Wortschatz sehr begrenzt ist. Weitere luwische Vokabeln finden sich als Lehn- und Fremdwörter in hethitischen Texten. Die hieroglyphenluwischen Texte stammen zum Großteil aus der Zeit nach dem Fall des Hethiterreiches. Bei den meisten hieroglyphenluwischen Texten handelt es sich um Steininschriften. Die Steininschriften wurden zumeist im Gebiet von Südanatolien und Nordsy-rien gefunden. Fortsetzer der luw. Sprachgruppe sind auch im 1. Jt. v. Chr. im Südwesten Anatoliens weitergesprochen worden. Dazu zählen das Ly-kische (s.u. E 413) und das Karische (s.u. E 415).

Literatur: — a) allg.: F. Starke in DNP s.v. Luwisch. — b) speziell Keilschriftluwisch: % Laroche Louvite 1959; Melchert Cuneiform Luvian 1993; Starke Keilschrift-luw. Texte 1985, ders. Keilschr.-luw. Nomen 1990. — c) speziell Hieroglyphenluwisch: Laroche Hiéroglyphes hittites I 1960; Marazzi Geroglifico 1990; Hawkins Corpus 1 2000 und 2 1999; M. Marazzi, Il geroglifico anatolico: stato delle ricerche in Graz 2000 p. 317-326. — d) Luwisches im 1. Jt. v. Chr.: % Neumann Weiterleben 1961; Houwink ten Cate Luwian Population Groups 1965. � s.o. die bibl. Nachträge 6 (mit H. C. Melchert The Luwians) und 19 (Nr. 2 mit I. Yakubovich).

E 413. Das Lykische ist die Sprache der Landschaft Lykien. Neben dem breiter belegten Normallykischen (oder Lyk. A) ist ein zweiter Dialekt (Lyk. B oder „Milyisch“) mit nur wenigen Textzeugnissen belegt. Die Steininschriften, die den größten Teil der lykischen Zeugnisse darstellen,

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I. Zur Einleitung150

stammen aus der Zeit des 5. und 4. Jh. v.Chr; außer Grabinschriften sind darunter die berühmte „Stele von Xanthos“ und die 1973 entdeckte ly-kisch-griechisch-aramäische Trilingue vom Letoon in Xanthos. Das lyki-sche Alphabet gehört zur Gruppe der sog. kleinasiatischen Alphabete.

Literatur: % Neumann Kleine Schriften 1994 p. 109-223 (mit den aus-gewählten Schriften zum Lykischen); Hajnal Lyk. Vokalismus 1995 (p. 3ff.Einleitung mit einer Bestandsaufnahme der lyk. Inschriften und einem Überblick über die Forschungsgeschichte). � s.o. die bibl. Nachträge 6 (mit H. C. Melchert Dictionary of the Lycian language und G. NeumannGlossar des Lykischen).

E 414. Das Lydische, die Sprache des Königreichs Lydien in Westanato-lien, ist am frühesten durch Münzaufschriften aus dem 8. Jh. v. Chr. belegt. Die Steininschriften stammen aus dem 5. und 4. Jh. v.Chr., darunter befin-den sich ein paar lydisch-aramäische Bilinguen. Das lydische Alphabet ge-hört wie das lyk. zur gleichen Alphabetgruppe, es ist aber eigenständig.

Literatur: % Gusmani Lyd. Wörterbuch 1964 und Lyd. Wb. Erg. 1986; H. Eichner Die Akzentuation des Lydischen in Sprache 32 1986 p. 7-21; F. Starke in DNP s.v. Lydisch. � s.o. die bibl. Nachträge 6 (mit R. Gé-rard).

E 415. Das Karische gehört sprachlich in die Nähe des Lykischen. Die Sprachdenkmäler stammen zum einen aus Ägypten (6. Jh. v. Chr.), zum andern aus dem karischen Kernland (5.-4. Jh. v. Chr.). Graffiti wie die aus Iasos stammen bereits aus dem 7. Jh. v. Chr., die kar.-gr. Bilingue aus Athen stammt aus dem Ende des 6. Jh. v. Chr. Das Alphabet ist von klein-asiatischem Typ, aber eine eigenständige Schöpfung. Die richtige Zuord-nung der Lautwerte ist erst vor kurzem geglückt. Sie konnte durch den Fund einer karisch-griechischen Bilingue aus Kaunos bestätigt werden.

Literatur: % Adiego Studia Carica 1993; Cario 1993 [1994]; Collo-quium Caricum 1998 (zur Bilingue aus Kaunos); I. Hajnal in Kadmos 36 1997 p. 141-166 und 37 1998 p. 80-108. � s.o. die bibl. Nachträge 6 (mit I.- J. Adiego The Carian Language. Leiden 2007 und Frank Rumscheid Die Karer und die Anderen. Bonn 2009).

E 416. In der südanatolischen Landschaft Pisidien und im Gebiet der Stadt Side sind ebenfalls nachweislich luw. Nachfolgesprachen gesprochen wor-den. Wir kennen eine ganze Reihe von Namen, ferner ein paar Inschriften aus Side.

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D. Übersicht über die idg. Sprachen und ihre Quellen 151

Literatur: % Neumann Kleine Schriften 1994 p. 227ff. (die Aufsätzezum Sidetischen finden sich unter den Nummern 33, 39, 43, 48, 49). �s.o. die bibl. Nachträge 6 (mit S. Pérez Orozco).

E 417. Das Griechische ist eine Sprache, die über einen Zeitraum von 4000 Jahren direkt dokumentiert werden kann. — Die ältesten Dokumente sind die Tontafeln in Linear-B-Schrift, s.u. E 418. Griechische Inschriften in Alphabetschrift gibt es seit dem 8. Jh. v. Chr. Mit Ausnahme des Kyprischen, das eine ins 2. Jt. v. Chr. zurückreichende Silbenschrift ver-wendet, ähnlich derjenigen des Mykenischen, sind die griechischen Texte in Alphabetschrift abgefaßt; das griechische Alphabet ist eine vermutlich um 800 v. Chr. adaptierte Form eines nordwestsemitischen Alphabets. —Im folgenden wird zuerst auf die wichtigsten Handbücher verwiesen. Für das mykenische Griechisch (s.u. E 418), für Homer (s.u. E 419) und die Dialekte (s.u. E 420) wird extra ein Paragraph eingerichtet.

Literatur: — a) allgemein: % Schwyzer Gr. Gr. I 1939; Schwyzer / Debrunner Gr. Gr. II 1950; E. Risch in LAW 1965 s.v. Griechisch; Meier-Brügger Gr. Sprachw. I / II 1992; K. Strunk Vom Mykenischen bis zum klassischen Griechisch in Gr. Philologie 1997 p. 135ff.; B. Forssman in DNP s.v. Altgriechisch; Meillet Aperçu 1975; Hiersche Grundzüge 1970; Risch Kleine Schriften 1981 (vgl. Indices); Ruijgh Scripta Minora I 1991 II1996 (vgl. Indices). — b) Laut- und Formenlehre: % Lejeune Phonétique 1972; Allen Vox Graeca 1987; Zinsmeister Gr. Gr. I 1954; Rix Hist. Gramm. d. Gr. 1976; Bornemann / Risch Gr. Gr. 1978. — c) Syntax: %Delaunois Syntaxe 1988; Kolloquium Kühner Amsterdam 1986 [1988]. —d) Wortschatz: % Frisk GEW; Chantraine DELG; DGE (vgl. Anejo III); CEG. � s.o. die bibl. Nachträge 8.

E 418. Die frühesten Zeugnisse des Griechischen, das bis heute fortlebt, sind Inschriften in Silbenschrift („Linear-B-Schrift“). Das älteste heute bekannte Dokument stammt aus der Nähe von Olympia, enthält vermutlich den PN K£aroký(o)s (vgl. hom. )���*) und datiert um 1650 v. Chr.: %P. Arapogianni, J. Rambach, L. Godard in Floreant Studia Mycenaea I 1995 [1999] p. 39-43. Ein Teil der Tontäfelchen aus Knossos stammt aus dem 14. Jh. v. Chr., alle jüngeren datieren um 1200 v. Chr. Weitere Fund-orte sind neben dem kretischen Knossos (KN) die festländischen Paläste in Pylos (PY), Mykene (MY), Tiryns (TI) und (bereits in Böotien) in Theben (TH). Die Sprache der Inschriften wird als mykenisches Griechisch oder Mykenisch bezeichnet. Diese frühe Sprachstufe des Griechischen trat erst 1952 ins Blickfeld der Forschung, nach der Entzifferung der Linear-B-

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I. Zur Einleitung152

Schrift durch Michael Ventris und J. Chadwick. Es ist zu beachten, daß die griech. Sprachwissenschaft erst seit den sechziger Jahren das myk. Materi-al in die Argumentation hat einbauen können. Ein Handbuch wie Schwyzer Gr. Gr. I 1939 kann durchaus Einzelheiten vertreten, die damals denkbar, aus heutiger Sicht aber nicht mehr haltbar sind, vgl. die früher übliche Ana-lyse von +� ���‘wegen’ < *en-¾eka ‘in Rücksicht auf den Willen’, die wegen myk. e-ne-ka i.e. eneka aufzugeben ist (� bei einem *en¾eka wäre ein *e-ne-we-ka zu erwarten!). Das fragliche +� �� muß deshalb als er-starrtes Wn. *h1

Literatur: % SMID; Chadwick Documents 1973; Hiller / Panagl Frühgr. Texte aus myk. Zeit 1976; Aura Jorro DMic. I 1985 II 1993; Meier-Brügger Gr. Sprachw. I 1992 p. 43ff.; Hooker Linear B 1980; Le-jeune Mémoires I-IV 1958-1997. — Die letzten Kolloquien: % Coll. Myc. 1975 [1979]; Res Mycenaeae 1981 [1983]; Tract. Myc. 1985 [1987]; Mykenaïka 1990 [1992]; Floreant Studia Mycenaea 1995 [1999]. — Zu den Neufunden aus TH: % V. Aravantinos in Floreant Studia Mycenaea I p. 45ff. Ferner vgl. die CRAI-Vorträge von L. Godart und A. Sacconi: Les dieux thébains dans les archives mycéniennes in Band 1996 p. 99-113; Les archives de Thèbes et le monde mycénien in Band 1997 p. 889-906; La géographie des états mycéniens in Band 1999 p. 527-546

���-¬ im Akk.Sg. ‘zum Erreichen von (mit Gen.)’ beur-teilt werden: % Meier-Brügger Gr. Sprachw. I 1992 p. 88f.

E 419. Die ersten altgr. literarischen Texte sind die beiden Epen Homers, Ilias und Odyssee, deren Abfassung wohl mit Recht in den Anfang des 7.Jh. v. Chr. datiert wird. Die ältesten Zeugnisse der schriftlichen Überliefe-rung sind Papyri aus Ägypten aus dem 3. Jh. v. Chr. Davor gab es vermut-lich ein paar Editionen, der normale Grieche kannte aber bis weit in helle-nist. Zeit hinein seinen Homertext noch immer aus der mündlichen Traditi-on.

Literatur: % Latacz Homer 1989; ders. Troia und Homer 2001; ders. in DNP s.vv. Der epische Zyklus, Epos, Homer, Homerische Frage; Ruipérez Ilias und Odyssee 1999; Iliad I-VI 1985-1993; Homers Ilias Prolegomena 2000; Homers Ilias Gesamtkommentar 2000ff.; Odyssey I-III 1988-1992; LfgrE; Chantraine Gramm. hom. I 1958 II 1953; Risch Wortbildung 1973; Coll. Raur. 2 1991; Homeric Questions 1995.

E 420. Altgr. Dialekte: Ionisch-Attisch, Dorisch-Nordwestgriechisch, Äolisch (Boiotisch, Thessalisch, Lesbisch), Arkadisch-Kyprisch-Pamphylisch; daneben gibt es die Einteilung in Ionisch, Dorisch und Achäisch, wobei Achäisch noch in Nordachäisch (= Äolisch) und

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D. Übersicht über die idg. Sprachen und ihre Quellen 153

Südachäisch (= Arkadisch-Kyprisch-Pamphylisch) unterteilt wird. Beson-derheiten der griechischen Dialektologie sind die frühe inschriftliche Be-zeugung der dialektalen Gliederung und die gattungsspezifische literarischeVerwendung der verschiedenen Dialekte (z.B. ionische Wissenschaftspro-sa, äolische Lyrik, dorische Chorpassagen in der attischen Tragödie). Im Laufe der Zeit werden die einzelnen Dialekte durch die sog. Koine abge-löst.

Literatur: a) Übersichten: % Bechtel Gr. Dialekte 1921-1924; Buck Greek Dialects 1955; Schmitt Gr. Dialekte 1977; Meier-Brügger Gr. Sprachw. I 1992 p. 76ff.; García-Ramón in DNP s.vv. Äolisch, Arkadisch, Attisch, Dorisch, Ionisch; Katà diálekton 1996 [1999]. — b) einzelne Monographien: % Masson ICS 1961 + Add. 1983 (zu Zypern auch Greek Language in Cyprus 1988, ferner Egetmeyer Wörterbuch 1992 + �Grammaire 2010); Brixhe Pamphylie 1976; Threatte Attic I 1980 II 1996; Blümel Aiol. Dialekte 1982; Dubois Arcadien 1986; Bile Crétois 1988; Hodot Éolien 1990; Vottéro Béotien I 1998; Dobias-Lalou Cyrène 2000. — c) Zur Koine: % Koiné I-III 1993-1998.

E 421. Das Makedonische des antiken nordgr. Königreichs ist vermutlich nichts anderes als ein nordgr. dor. Dialekt: % C. Brixhe / A. Panayotou Le macédonien in langues indo-européennes 1994 p. 205-220; SEG 43 1993 Nr. 434; C. Brixhe in Katà diálekton 1996 [1999] p. 41ff.

N.B. Im heutigen Mazedonien mit der Hauptstadt Skopje wird dagegen eine südslavische (dem Bulgarischen nahestehende) Sprache gesprochen, s.u. E 433.

E 422. Das Illyrische und Thrakische sind Sprachen des südlichen Balkan-raums. Ob Beziehungen zum Messapischen bestehen, wird diskutiert.

Das Illyrische hat keine Schriftsprache erhalten, es spiegelt sich aber vermutlich im Namensschatz der Region. Dessen Interpretation ist schwie-rig: % Krahe Illyrier I 1955; H. Kronasser, Illyrier und Illyricum in Spra-che 11 1965 p. 155-183 (Kritisches zu Krahe); Kati’i‘ Languages of the Balkans 1976.

� Dank einiger inschriftlichen Neufunden erhält das Thrakische jetzt ein eigenes Gesicht: M C. Brixhe / A. Panayotou Le thrace in langues indo-européennes 1994 p. 179-203; C. Brixhe Zôné et Samothrace: Lueurs sur la langue thrace et nouveau chapitre de la grammaire comparée? in CRAI 2006 p. 121-146.

Das Messapische wurde nach Ausweis der Inschriftenfunde in Südita-lien in der Region von Brindisi und Lecce gesprochen. Es steht seit Krahe

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I. Zur Einleitung154

zur Diskussion, ob es sprachlich mit dem südwestlichen Balkanraum zu verbinden ist: % C. de Simone und J. Untermann in Krahe Illyrier II 1964; O. Parlangeli und C. Santoro in LDIA 1978 p. 913ff.; C. de Simone Iscrizione messapiche della grotta della Poesia in ASNP Serie III Vol. XVIII / 2 1988 p. 325-415. � C. de Simone Monumenta Linguae Messapicae. Wiesbaden 2002; ders. in Fachtagung Krakau 2004 [2009] p. 100ff.

E 423. Das Phrygische ist eine Sprache, die in der heutigen Zentraltürkei gesprochen wurde. Die Hauptstadt der Phryger, Gordion, lag 120 Meilen südwestlich von Ankara. Das Phrygische ist in ungefähr 200 Inschriften in griechischem Alphabet bezeugt, und zwar in zwei Epochen: Altphrygisch (8.-4. Jh. v. Chr.) und Spätphrygisch (2./3. Jh. n. Chr.).

Literatur: % C. Brixhe Le phrygien in langues indo-européennes 1994 p. 165-178; Brixhe / Lejeune Paléo-phrygien 1984; Neumann Phrygisch und Griechisch 1988; Frigi e Frigio 1995 [1997]. � s.o. die bibl. Nachträ-ge 12 mit Claude Brixhe und W. Sowa.

E 424. Die Bezeugung des Armenischen beginnt mit dem 5. Jh. n. Chr.,wohl schon kurz nach Schaffung der armenischen Schrift im Jahr 407 durch den Missionar Mesrop (@ 441) zur schriftlichen Niederlegung einer Bibelübersetzung im Jahr 410. Aus der Zeit davor sind nur einige wenige armenische Namen in aramäischen, griechischen und syrischen Texten be-zeugt. — Die altarmenische Sprache bis 460 n. Chr. wird auch als Klassi-sches Armenisch bezeichnet; im 6. und 7. Jh. n. Chr. folgt die nachklassi-sche Epoche des Altarmenischen, und vom 8. bis zum 11. Jh. n. Chr. dauert die vormittelarmenische Epoche. Das Mittelarmenische (u.a. Kili-kisch-Armenisch) setzt im 12. Jh. n. Chr. ein. Die frühesten erhaltenen Inschriften stammen vom Ende des 5. Jh. n. Chr. Die älteste erhaltene Handschrift wird in das Jahr 887 n. Chr. datiert, während sich eine größere Anzahl von Handschriften erst ab dem Ende des 12. Jh. n. Chr. erhalten hat. Der Großteil der ältesten armenischen Literatur sind Übersetzungen aus dem Syrischen und aus dem Griechischen; bei den meisten altarmeni-schen Werken handelt es sich um christliche Literatur oder Historiogra-phie. Bis heute ist Altarmenisch die offizielle Sprache der armenischen Kirche bzw. Liturgiesprache geblieben. — Das Ostarmenische ist die Sprache des heutigen Armenien. — Westarmenisch hat sich auf der Grundlage westarmenischer Dialekte im 18. und 19. Jahrhundert in Van und Konstantinopel zur Literatursprache entwickelt hat. Mit dem Völker-mord von 1915 starben die meisten Träger dieses Sprachzweiges. Heute

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D. Übersicht über die idg. Sprachen und ihre Quellen 155

wird Westarmenisch nur noch im Nahen Osten, in Frankreich sowie in den USA gepflegt. — Den Nachweis, daß das Armenische einen eigenen in-dogermanischen Sprachzweig darstellt, führte Heinrich Hübschmann 1875, nachdem es zuvor für indoiranisch gehalten wurde: % Ueber die stellung des armenischen im kreise der indogermanischen sprachen in KZ 23,1 1875 p. 5-49 = Kl. Schriften 1976 p. 1-45. — Eine Besonderheit des Ar-menischen ist, daß es bei den Verschlußlauten, ähnlich wie das Germani-sche, eine Lautverschiebung durchgeführt hat. Der Wortschatz enthält viele Lehnwörter aus dem Persischen, Syrischen und Griechischen.

Literatur: % Lamberterie Arménien classique 1992 (sehr gute Einfüh-rung); R. Schmitt Forschungsbericht Die Erforschung des Klassisch-Armenischen seit Meillet (1936) in Kratylos 17 1972 [1974] p. 1-68; Meillet Arménien classique 1936; Jensen Altarmenische Grammatik 1959; Godel Classical Armenian 1975; Schmitt Klass. Arm. 1981; Ritter Armeno antiguo 1996; Klingenschmitt Altarm. Verbum 1982; Solta Stellung des Arm. 1960; Clackson Arm. and Greek 1994; Olsen Noun 1999. � s.o. die bibl. Nachträge 13.

E 425. Die frühesten Zeugnisse des Albanischen stammen aus dem 15. Jh. n. Chr; eines davon ist die Taufformel des Erzbischofs von Durazzo, Paolo Angelo, aus dem Jahr 1462. Das älteste erhaltene gedruckte albanische Buch ist Gjon Buzukus Missale. Est im Jahr 1555 entstanden. Albanisch scheint aber schon im 14. Jh. geschrieben worden zu sein. Das Albanische läßt sich in zwei Dialekte einteilen: Gegisch im Norden und Toskisch im Süden.

Literatur: % Bopp Albanesisch 1855; B. Demiraj Alb. Etymologien 1997; S. Demiraj Albanisch 1993; G. Klingenschmitt Albanisch und Urin-dogermanisch in MSS 40 1981 p. 93-131; ders. Das Albanische als Glied der indogermanischen Sprachfamilie (Tischvorlage) in Kolloquium Peder-sen Kopenhagen 1993 [1994] p. 221-233; J. Matzinger in Sprache 40 1998 p. 102-132 (Rez. von V. Orel A Concise Historical Grammar of the Albanian Language. Leiden / Boston / Köln 2000). � s.o. die bibl. Nach-träge 14.

E 426. Die altitalischen Völkerschaften bieten eine große Vielfalt auf klei-nem Raum: % Italia alumna 1990 (darin: La civiltà dei Veneti, Reti, Liguri, Celti, Piceni, Umbri, Latini, Campani e Iapigi); Italia parens 1991 (darin: La civiltà degli Enotri, Choni, Ausoni, Sanniti, Lucani, Brettii,Sicani, Siculi, Elimi). Übersicht über die Sprachen Italiens: % G. Meiser in DNP s.v. Italien, Sprachen, Sp. 1167-1170.

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I. Zur Einleitung156

1) Der italische Sprachzweig des Indogermanischen wird durch den la-tino-faliskischen und den sabellischen gebildet. Vor der Ausgliederung des Latino-Falisk. und des Sabell. hat sich vermutlich das Venetische abgespal-ten. — Konkrete Hypothese von H. Rix in InL 17 1994 p. 24f.: Die Itali-ker waren zunächst Teil der Nordwestindogermanen (s.u. E 435 Abs. 4), haben sich dann aber als eigenständige uritalische Sprechergruppe im Raum Pannonien (oberes Savetal bis zur mittleren Drau) niedergelassen. Von dort sind sie in mehreren zeitlich voneinander getrennten Schüben nach Italien abgewandert. Reihenfolge: „Proto-Veneter“ (zum Venetischen s.u. E 430), „Proto-Sabeller“ (zum Sabellischen s.u. E 429), „Proto-Latiner“ (zum Latino-Faliskischen s.u. E 427 und 428). Sabeller und Lati-no-Falisker haben sich nach einer Zeit der Trennung in der mittelitalischen Koine des 7.-5. Jh. v. Chr. wieder als Nachbarn gefunden, s.u. Abs. 3A. —Zum Problem des Uritalischen: % H. Rix Latein und Sabellisch, Stamm-baum und/oder Sprachbund? in InL 17 1994 p. 13-29; J. Untermann ‘Ur-verwandtschaft’ und historische Nachbarschaft im Wortschatz der itali-schen Sprachen in InL 16 1993 p. 93-101; P. de Bernardo Stempel, Kern-italisch, Latein, Venetisch: ein Etappenmodell in Graz 2000 p. 47-70. �vgl. jetzt umfassend H. Rix in Languages in Prehistoric Europe 2003 p. 147-172 mit dem Titel „Ausgliederung und Aufgliederung der italischen Sprachen“.

2)Neben den indogermanischen Sprachen der italischen Sprachfamilie sind weitere indogermanische Sprachen in Altitalien gesprochen worden: Im Süden das Griechische (gr. Kolonien in ganz Unteritalien und Sizilien), im Norden das keltische Lepontisch (s.u. E 431 Abs. 1c). Zum Messapischen s.o. E 422.

3) Nichtindogermanische Sprachen Altitaliens sind das Etruskische (A) und das Punische (B).

A) Zum Etruskischen: Die Etrusker haben sich, vermutlich über das Meer von Osten kommend, in Etrurien niedergelassen. Die Latino-Falis-ker und Sabeller müssen damals bereits vor Ort gewesen sein. Die Etrus-ker haben die altital. Sprachlandschaft mitgeprägt. Ihr Einfluß auf das La-teinische wurde früher aber überschätzt. Um 650 - 450 v. Chr. bestand in Mittelitalien eine kulturelle Koine von Etruskern, Latino-Faliskern und Sabellern, die in Bereichen wie Alphabet, Zahlsystem, Gentilnamensystem und religiösen Gebräuchen und Namen völkerübergreifend gewirkt hat. Lit.: — a) allgemein zu den Etruskern: % H. Rix Schrift und Sprache in Etrusker 1985 p. 210-238; Rix Etr. Texte I / II 1991. — b) Zur Wechsel-beziehung Rom - Etrurien: % Etrusci e Roma 1979 [1981]. — c) Zur Be-ziehung Etruskisch - Rätisch - Lemnisch (Urtyrsenisch): % H. Rix Eine

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D. Übersicht über die idg. Sprachen und ihre Quellen 157

morpho-syntaktische Übereinstimmung zwischen Etruskisch und Lemnisch: die Datierungsformel in GS Brandenstein 1968 p. 213-222; ders. Rätisch und Etruskisch 1998. � s.o. bibl. Beiträge 23 (St. Schuma-cher, D.H. Steinbauer und R. W. Wallace).

B) Zum Punischen: Punisch ist eine Form des Phönizischen. Es ist die Sprache Karthagos, der großen Gegenspielerin Roms bis zur Zerstörung im Jahre 146 v. Chr. Die pun.-etrusk. Bilingue aus Pyrgi / Cerveteri (nörd-lich von Rom) stammt aus dem 5. Jh. v. Chr.: % W. Fischer und H. Rix in GGA 220 1968 p. 64-94. — Von Plautus stammt die Komödie Poenulus. — Weitere Lit. zum Pun.: % M. G. Guzzo Amadasi in LDIA 1978 p. 1013ff.

E 427. Weitaus am besten bezeugt ist unter den idg. Sprachen Altitaliens das Lateinische.

1) Latein war zunächst der latinische Dialekt der Stadt Rom und stand in engster Beziehung zur Landschaft Latium: % Kolb Rom 1995.

2) Das früheste Zeugnis sind stadtrömische Inschriften aus dem 6. Jh. v. Chr. Die Sprache vom 5. bis zum 1. Jh. v. Chr. bezeichnet man als Altlatein. Die Masse der lateinischen Sprachzeugnisse stammt aus der Zeit vom 1. Jh. v. Chr. bis zum 1. Jh. n. Chr. Mit klassischem Latein ist im engeren Sinn nur die Sprache der publizierten Prosaschriften Ciceros und Caesars gemeint; diese stammen aus dem 1. Jh. v. Chr.

3) Zu den altlat. Inschriften: % Ernout Recueil 1947; Diehl Altlat. Inschrif-ten 1965; Warmington Remains of Old Latin IV 1940; Degrassi Inscriptiones I-II 1965-1972; ders. Imagines 1965; Römische Inschriften, von L. Schuma-cher. Stuttgart 1988 (= Reclam, Universal-Bibliothek Nr. 8512) und Die römi-sche Literatur in Text und Darstellung. Band 1: Republikanische Zeit I (Poe-sie) von H. und A. Petersmann. Stuttgart 1991 (= Reclam, Universal-Bibliothek Nr. 8066); Meyer Lat. Epigraphik 1973; Blümel Untersuchungen 1972; Radke Archaisches Latein 1981; Wachter Altlat. Inschriften 1987; Vine Archaic Latin 1993. � s.o. bibl. Nachträge 17 Nr. 3 M. Hartmann.

4) Erste literarische Texte sind erst aus dem 3. Jh. v. Chr. bezeugt: % H. Rix Schrift und Schriftgebrauch im vorliterarischen Mittelitalien in Hoffmann Gedenkfeier 1996 [1997] p. 27-42.

5) Literatur zum Lateinischen: — a) Geschichte der lat. Sprache: % Meillet Esquisse 1928; Devoto Lingua di Roma 1940; M. Leumann Geschichte der lateinischen Sprache in Leumann / Hofmann / Szantyr Allg. Teil 1965 p. 10*ff.; Solta Stellung der lat. Sprache 1974; Giacomelli Lingua latina 1993; J.

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I. Zur Einleitung158

Kramer Geschichte der lateinischen Sprache in Lat. Philologie 1996 p. 115-162; M. Meier-Brügger in RGA 18 2001 s.v. Latein. — b) Lat. allgemein: %Leumann / Hofmann / Szantyr Allg. Teil 1965; H. Rix in DNP 6 1999 Sp. 1160-1163 s.v. Latein; Kolloquium Lat. u. Idg. Salzburg 1986 [1992]; Som-mer Handb. 1948; Sommer / Pfister Lautlehre 1977; Leumann LLFL 1977; Meiser Laut- und Formenlehre 1998; Schrijver Laryngeals in Latin 1991; Be-nedetti Composti radicali 1988. Vgl. ferner die Reihe der IKLL (ICLL / CILL), s.o. Bibliographie s.v. IKLL. � s.o. die bibl. Nachträge 10, speziell Weiss Outline Latin 2009.

6) Von besonderer Bedeutung ist auch das sog. Vulgärlatein, die gespro-chene Sprache, aus der in den verschiedenen römischen Provinzen die einzel-nen romanischen Sprachen Rumänisch, Rätoromanisch, Sardisch, Französisch, Dalmatinisch, Italienisch, Provenzalisch, Spanisch, Katalanisch, Portugiesisch entstanden sind. In einzigartiger Weise ist hier das Verhältnis von Mutterspra-che und Tochtersprachen zu beobachten und zu belegen. Zum Vulgärlatein: %Väänänen Latin vulgaire 1981.

E 428. Die ältesten Zeugnisse des Faliskischen, der Sprache von Falerii und Umgebung, sind Inschriften aus dem 6. Jh. v. Chr.; die jüngsten faliskischen Inschriften entstammen dem 2. Jh. v. Chr. Außer den spärli-chen Inschriften gibt es keine Zeugnisse des Faliskischen. Literatur: %Vetter Handb. d. ital. Dialekte I 1953 p. 277ff.; Giacomelli Lingua Falisca 1963; G. Giacomelli in LDIA 1978 p. 505ff.

E 429. Zum sog. sabellischen Sprachzweig gehören das sog. Südpikeni-sche, das Oskische, das Umbrische und ein paar weitere nur schwach be-zeugte Sprachen wie das Volskische. Die ältesten südpikenischen Zeugnis-se stammen aus dem 6. Jh. v. Chr. Bei der Abfassung der osk. Inschriften kamen drei verschiedene Alphabete zur Anwendung, ein eigenständiges Nationalalphabet, das griechische und das lateinische Alphabet. Die älte-sten Inschriften stammen aus dem 3. Jh. v. Chr. Die sog. Iguvinischen Ta-feln sind die Hauptquelle für das Umbrische und stammen aus dem 3.-2. Jh. v. Chr.

Literatur: % Meiser Umbrisch 1986; G. Meiser, Pälignisch, Latein und Südpikenisch in Glotta 65 1987 p. 104-125; H. Rix Umbro e Proto-Osco-Umbro in Convegno Udine (Restsprachen) 1991 [1993]; Marinetti Iscriz. sudpicene 1985; G. Meiser und H. Rix in Tavole di Agnone 1994 [1996] p. 187ff. und p. 243ff.; H. Rix, Südpikenisch kduiú in HS 107 1994 p. 105-122; Schirmer Wortschatz 1998; Untermann Wb. Osk.-Umbr. 2000.� s.o. in den bibl. Nachträgen 10 H. Rix.

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D. Übersicht über die idg. Sprachen und ihre Quellen 159

E 430. Eine eigene italische Sprache in der heutigen Landschaft Venetien stellt das Venetische (Inschriften 6.-2. Jh. v. Chr.): % Pellegrini / Prosdo-cimi Lingua Venetica I / II 1967; Lejeune Vénète 1974; A. L. Prosdocimi Il venetico in LDIA 1978 p. 257ff. und ders. in Convegno Udine (Re-stsprachen) 1981 [1983] p. 153ff.

E 431. Grob kann das Keltische in Festlandkeltisch (europäischer Konti-nent) und Inselkeltisch (Britische Inseln [und von da durch Auswanderun-gen sprachlich verknüpft die Bretagne mit dem Bretonischen]) eingeteilt werden; dabei liefert das Festlandkeltische die ältesten Zeugnisse des Kel-tischen, das Inselkeltische dafür die bei weitem größere Menge.

Lit. allgemein: % Kolloquium Keltisch Bonn 1976 [1977]; Birkhan Kelten 1997; Deutschsprachige Keltologen 1992 [1993] (darunter K. H. Schmidt Stand und Aufgaben der deutschsprachigen Keltologie p. 1-35); K. H. Schmidt Celtic Movements in the First Millennium B.C. in JIES 20 1992 p. 145-178; K. McCone Relative Chronologie: Keltisch in Fachta-gung Leiden 1987 [1992] p. 11-39; Keltologen-Symposium II 1997 [1999]; DNP s.vv. Kelten, Keltische Sprachen; RGA s.vv. Kelten, Kelti-sche Ortsnamen, Hercynia Silva, Helvetier.

1) Abgesehen von der Nebenüberlieferung stammen die ältesten Zeugen des Keltischen aus dem 3. Jh. v. Chr.; es handelt sich dabei um festlandkelti-sche Inschriften vor allem aus Gallien, aber auch aus Spanien (Botorrita) und aus Italien (südlicher Alpenrand). Die jüngsten davon sind ins 3. Jh. n. Chr. zu datieren. Literatur: — a) allgemein % J. F. Eska / D. E. Evans Continental Celtic in Celtic Languages 1993 p. 26-63 (darin eine gute Bibliographie p. 52-64); K. H. Schmidt Grundlagen einer festlandkeltischen Grammatik in Convegno Udine (Restsprachen) 1981 [1983] p. 65ff.; W. Meid Forschungs-bericht Altkelt. Sprachen in Kratylos: I in 43 1998 p. 1-31, II in 44 1999 p. 1-19; III in 45 2000 p. 1-28. — b) Gallisch: % RGA 10 1998 s.v. Gallien (ver-schiedene Autoren); Lambert Langue gauloise 1977; RIG I-III 1985-1988; Meid Gaulish Inscriptions 1992; Größere altkelt. Sprachdenkmäler 1993 [1996] p. 11ff. (Beiträge von D. E. Evans, K. H. Schmidt, J. T. Koch, W. Meid, P.-Y. Lambert, K. McCone). — c) Lepontisch: Lejeune Lepontica 1971; J. Uhlich, Zur sprachlichen Einordnung des Lepontischen in Keltologen-Symposium II 1997 [1999] p. 277-304. — d) Keltiberisch: % Untermann Monumenta IV 1997 p. 349ff.; Meid Botorrita 1993; Größere altkelt. Sprach-denkmäler 1993 [1996] p. 124ff. (Beiträge von J. de Hoz, W. Meid, R. Ködderitzsch); Villar Celtiberian Grammar 1995; ders. The Celtiberian lan-guage in ZCP 49-50 1997 p. 898-947; W. Meid in Kratylos 45 2000 p. 1-28;

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I. Zur Einleitung160

F. Villar und C. Jordan in Kratylos 46 2001 p. 166-181 (Rez. von Untermann Monumenta IV). � s.o. die bibl. Nachträge 11.

2) Das Inselkeltische wiederum ist geschieden in Goidelisch und Britan-nisch. Die früheste Bezeugung des Inselkeltischen liegt in den goidelischen Ogam-Inschriften vom 4. Jh. n. Chr. bis zum 7. Jh. n. Chr. vor. Für das Altiri-sche wird der darauffolgende Zeitraum vom 7. Jh. n. Chr. bis zum 10. Jh. n. Chr. angesetzt; altirische Glossen in größerer Anzahl befinden sich in einer Handschrift der Paulus-Briefe, die aus der Mitte des 8. Jh. n. Chr. stammt; nach dem Aufbewahrungsort der Handschrift heißen sie „Würzburger Glos-sen“. Die Sprachstufe vor dem Altirischen der Würzburger Glossen, die durch einige wenige weitere Glossen und durch archaische Gesetzestexte in mittel-und neuirischen Handschriften vertreten ist, wird als archaisches Irisch be-zeichnet. Das Britannische, wofür es in der ältesten Zeit nur ganz spärliche Zeugnisse gibt, ist dreigeteilt: Altkymrisch in Wales ist ab dem späten 8. Jh. n. Chr. bezeugt (Mittelkymrisch beginnt Mitte des 12. Jh. n. Chr.); Zeugnisse des Altkornischen in Cornwall gibt es vom späten 9. Jh. n. Chr. bis in das erste Viertel des 12. Jh. n. Chr. hinein; ebenso reicht das Altbretonische in der Bre-tagne vom 9. Jh. n. Chr. bis ins erste Viertel des 12. Jh. n. Chr. Neben dem Goidelischen und dem Britannischen steht noch das Piktische, wovon aller-dings nur Namen als Zeugnisse vorhanden sind.

Literatur: % Celtic Languages 1992; Ziegler Ogam-Inschriften 1994; McCone / Simms Progress in Medieval Irish Studies 1996; McCone Old Irish Nasal Presents 1991; ZCP 49-50 1997; Schulze-Thulin o-stufige Kausativa / Iterativa und Nasalpräsentien (im Kymrischen) 2001. � s.o. die bibl. Nachträge 11.

E 432. Das Germanische ist durch drei Sprachzweige vertreten: Ost-,Nord- und Westgermanisch. Die Vorstufe der beiden letzteren wird als Nordwestgermanisch bezeichnet. Die frühesten Spuren des Germanischen finden sich im 1. Jh. v. Chr. als Eigennamen in Münzaufschriften und in der lateinischen Nebenüberlieferung bei Caesar. Seit dem 3. Jh. n. Chr. gibt es erste nordgermanische Runeninschriften. Aus dem 4. Jh. n. Chr. stammt das erste größere Textzeugnis einer germanischen Sprache, die Bibelüber-setzung des Bischofs Wulfila (@ 383) ins Gotische, eine ostgermanische Sprache. Als eine Besonderheit gegenüber den anderen indogermanischen Sprachzweigen außer dem Armenischen hat das Germanische bei den Ver-schlußlauten eine Lautverschiebung durchgeführt, s.u. L 336 Abs. 4. Als Alphabet wird für die germanischen Sprachen, abgesehen von den Runen-inschriften, das lateinische verwendet.

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D. Übersicht über die idg. Sprachen und ihre Quellen 161

Literatur: — a) allgemein (Urgerm.; Germ. allgemein): % Germanen-probleme in heutiger Sicht 1986 (darin u.a. p. 168ff. der Beitrag von E. Seebold Die Konstituierung des Germanischen in sprachlicher Sicht); RGA 11 1998 s.v. Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde. (darin p. 275ff. Sprache und Schrift von E. Seebold); Der Kleine Pauly 4 1998 s.v. Germanische Sprachen (von S. Ziegler); Kluge Urgermanisch 1913; Kluge Stammbildungslehre 1926; Krahe / Meid Germ. Sprachw. 1965-1969; Streitberg Urgerm. Gr. 1896; Bammesberger Germ. Verbalsystem 1986; Bammesberger Urgerm. Nomen 1990. — b) Runen: % R. Nedoma Neue-res zu älteren Runeninschriften in Sprache 37 1995 [1997] p. 105-115; H. Rix Thesen zum Ursprung der Runenschrift in Etrusker nördlich von Et-rurien, Akten des Symposions von Wien - Schloß Neuwaldegg 1989, hrsg. von L. Aigner-Foresti. Wien 1992 (= SbÖAW Band 589) p. 411ff.; ders. Germanische Runen und venetische Phonetik in Festschrift O. Werner, Vergleichende germanische Philologie und Skandinavistik, hrsg. von Th. Birkmann u.a. Tübingen 1997 p. 231-248; E. Seebold Fuþark, Beith-Luis-Nion, He-Lamedh, Abjad und Alphabet, Über die Systematik der Zei-chenaufzählung bei Buchstaben-Schriften in FS Untermann 1993 p. 411-444; Old English Runes 1991; Frisian Runes 1996 (darin u.a. A. Bammesberger Frisian and Anglo-Saxon Runes: From the Linguistic Angle p. 14-23; Bibliographie p. 22f.); Bammesberger Pforzen und Bergakker 1999; A. Griffiths in IF 104 1999 p. 164-210. � s.o. bibl. Nachträge 12.

1) Zum ostgermanischen Sprachzweig gehört als Hauptvertreter das Goti-sche. Einerseits gibt es als frühestes Zeugnis im 4. Jh. n. Chr. die genannte Bibelübersetzung, andererseits in Italien einige Geschäftsurkunden aus dem 6. Jh. n. Chr. Angeblich konnte von dem Gesandten des Heiligen Römischen Reiches, Ogier Ghislain de Busbecq, während seines Aufenthaltes in Konstan-tinopel 1554-1556 eine Liste mit 86 gotischen Wörtern erstellt werden („Krimgotisch“). Vom Vandalischen und Burgundischen sind leider nur kleine Bruchstücke überliefert.

Literatur zum Gotischen: % RGA 12 1998 s.v. Goten, Gotische Schrift und gotische Sprache (verschiedene Autoren); Krause Handb. d. Got. 1968; Braune / Ebbinghaus Got. Gr. 1981; Feist Got. Wörterbuch 1939; Binnig Go-tisch 1998. Zum Lautsystem s.u. K. Dietz in L 222 Abs. 5.

2) Zum Nordgermanischen oder Skandinavischen („Altnordisch“), das zu-erst durch Runeninschriften seit dem 3. Jh. n. Chr. bezeugt ist („Früh-nordisch“; irreführend ist die Bezeichnung „Urnordisch“ für eine bezeugte Sprache), werden das Altisländische, Altnorwegische, das Altschwedische und Altdänische gerechnet, die sich bereits bei Beginn der handschriftlichen Über-

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I. Zur Einleitung162

lieferung im 12. Jh. n. Chr. unterscheiden lassen; Altisländisch und Altnorwe-gisch faßt man als Altwestnordisch zusammen, Altschwedisch und Altdänisch als Altostnordisch. Literarisch am besten bezeugt ist, seit dem 9. Jh. n. Chr.,das Altwestnordische und davon das Altisländische; zitiert wird daher traditio-nell immer die altisländische Form.

Literatur: % Noreen Altisländisch und Altnorwegisch 1923; Noreen Alt-schwedisch 1904; Vries AnordEW 1962; Lühr Egill 2000. — Moderne skandinav. Sprachen: % Braunmüller Skandinav. Sprachen 1992 (mit Rez. von J. A. Har“arson).

3) Das Westgermanische, wovon es nur wenige Runeninschriften gibt, bil-den Altenglisch, Altfriesisch, Altsächsisch (= Altniederdeutsch) und Altnieder-fränkisch (= Altniederländisch) auf der einen Seite und Althochdeutsch mit Zweiter Lautverschiebung auf der anderen Seite. Altenglisch, Altfriesisch und Altsächsisch faßt man auch unter den Oberbegriffen Nordseegermanisch oder Ingvaeonisch zusammen. Altenglisch ist ab dem frühen 8. Jh. n. Chr. bezeugt, Althochdeutsch seit dem späten 8. Jh. n. Chr., Altsächsisch ab dem 9. Jh. n. Chr., Altniederfränkisch seit dem 10. Jh. n. Chr. und Altfriesisch seit dem 13. Jh. n. Chr.

Literatur: — a) Aengl. (As.): % Brunner Aengl. Gr. 1965; Krogh Stel-lung des As. 1996. — b) Ahd. und Dt.: % Sonderegger Althochdeutsch 1987; Lühr Hildebrandlied I / II 1982; Seebold Etymologie 1981 p. 73ff. (Die deutsche Sprache); Riecke jan-Verben 1996; Sprachgeschichte 1 1998 und 2 1985; dtv-Atlas Dt. Sprache 1998; Schwerdt 2. LV 2000.

E 433. Die slavische Sprachgruppe ist in drei Untergruppen zu unterteilen: Südslavisch (Bulgarisch, Mazedonisch, Serbisch, Kroatisch, Slovenisch), Ostslavisch (Russisch, Weißrussisch, Ukrainisch [Ruthenisch]) und Westslavisch (Polnisch, Obersorbisch, Niedersorbisch, Tschechisch, Slovakisch [{Draväno-}Polabisch {Lüneburger Wendland}, Pomoranisch {pommersche Ostseeküste}, Slovinzisch {als letzter Ausläufer des Pomoranischen im 20. Jh. ausgestorben}, Kaschubisch {heute noch als Dialekt gesprochen}]). Die älteste kirchenslavische Überlieferung ist einer-seits nicht in einer einheitlichen Sprachform abgefaßt, sondern einzel-sprachlich (bulgarisch, serbisch, russisch) geprägt, stellt aber andererseits auch nie eine genaue Wiedergabe der betreffenden slavischen Sprache dar.

Südslavisch: Die älteste bezeugte slavische Sprache (2. Hälfte 9. Jh. n. Chr.) ist das bei der Slavenmission in Mähren zur Übersetzung griechi-scher christlicher Texte eingesetzte Altkirchenslavische, das auf dem Dia-lekt von Saloniki beruht und wegen der überwiegend bulgarischen Dialekt-eigenschaften auch Altbulgarisch genannt wird. Zur Verschriftlichung

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D. Übersicht über die idg. Sprachen und ihre Quellen 163

wurde von dem griechischen Slavenapostel Konstantin / Kyrill auf der Grundlage der griechischen Minuskelschrift als eigene Schrift das glagoliti-sche Alphabet geschaffen, das um 900 n. Chr. durch das auf der griechi-schen Majuskelschrift beruhende kyrillische Alphabet ersetzt wurde. Die frühesten Inschriften und Handschriften stammen aus dem 10. und 11. Jh. n. Chr. — Im 12. Jh. n. Chr. beginnt das Mittelbulgarische. — Das Ser-bokroatische ist seit dem 12. Jh. n. Chr. überliefert in kirchenslavischen Texten mit serbokroatischen Merkmalen. Zwei verschiedene Schriften kommen zur Anwendung und zwar in den serbischen Texten der orthodo-xen Kirche die kyrillische Schrift und in den kroatischen Texten der römi-schen Kirche die glagolitische. — Das Slovenische ist seit dem 15. Jh. n. Chr. durchgehend bezeugt; die ältesten slovenischen Sprachzeugnisse lie-gen in den Freisinger Denkmälern um 1000 n. Chr. vor.

Ostslavisch: Die Überlieferung des Russischen beginnt Mitte des 11. Jh. n. Chr mit kirchenslavischen Texten, die Merkmale des Ostslavischen auf-weisen. Im Russischen wird als eigene Schrift das kyrillische Alphabet verwendet. — Weißrussisch und Ukrainisch sind beide seit dem 12. Jahr-hundert überliefert, in altrussischen Sprachdenkmälern, die jeweils dialek-tale Besonderheiten aufweisen.

Westslavisch: Das Polnische ist seit dem 12. Jh. n. Chr. überliefert. Das Polabische wurde am Unterlauf der Elbe gesprochen; in Hannover ist es im 18. Jh. n. Chr. ausgestorben.

Literatur: — a) allgemein: % Bräuer Slav. Sprachw. 1961-1969; Pan-zer Slav. Sprachen 1991; Pohl Le balte et le slave in langues indo-européennes 1994 p. 233-250; Rheder Slav. Sprachw. 1998. — b) Aksl.:% Leskien Handb. d. abulg. Sprache 1962; Aitzetmüller Abulg. Gramm. 1978; Koch Aksl. Verbum I / II 1990 (I p. 17f. eine gute Skizze der Ge-schichte des Aksl.). � s.o. die bibl. Nachträge 15.

E 434. Die baltische Sprachgruppe wird von drei Sprachen gebildet: Litau-isch, Lettisch (Ostbaltisch) und Altpreußisch (Westbaltisch) (andere balti-sche Sprachen sind nur durch Lehnwörter im Litauischen und Lettischen zu erschließen: u.a. Jatwingisch, Kurisch).

Das älteste baltische Sprachzeugnis ist das Elbinger Vokabular vom Anfang des 14. Jh. n. Chr. Es enthält 802 Eintragungen altpreußischer Entsprechungen zu ostmitteldeutschen Wörtern. Der älteste baltische Text ist ebenfalls altpreußisch; er stammt aus der Mitte des 14. Jh. n. Chr. und umfaßt nur elf Wörter. Das altpreußische Textmaterial ist auch sonst sehr beschränkt. Die Sprache ist im 17. Jh. n. Chr. ausgestorben.

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I. Zur Einleitung164

Die ersten altlitauischen und altlettischen Texte entstammen dem 16. Jh. n. Chr. und erscheinen bereits in Buchform. Beim ältesten litauischen Buch von 1547 handelt es sich um einen ins Litauische übersetzten Katechismus. Der früheste lettische Text ist eine Übersetzung des Vaterunsers aus der ersten Hälfte des 16. Jh. n. Chr.

Beim Litauischen kann man zwei Hauptdialekte unterscheiden, das Nie-derlitauische (Žemaitisch) im Nordwesten des litauischen Sprachgebiets und das Hochlitauische (Auk¸taitisch); beide Dialekte sind wiederum in verschiedene Mundarten gegliedert.

Literatur: — a) Balt. allgemein: % Stang Vgl. Gramm. 1966; Baltische Sprachen 1994; Baltistik 1998. — b) Lit.: % Senn Handb. d. lit. Sprache 1966; Fraenkel Lit. etym. Wörterbuch 1962-1965; Bammesberger Abstraktbildungen 1973; Petit Lituanien 1999. � s.o. die bibl. Nachträge 15 mit D. Petit.

E 435. Innerhalb der idg. Einzelsprachen gehören einzelne aufgrund spe-zieller Gemeinsamkeiten in Formenlehre oder Wortschatz enger zusam-men. Dafür verantwortlich ist i.d.R. eine vorhistorische räumliche Nähe (im engsten Fall ein Sprachbund) oder eine gemeinsame Vorstufe (eine Zwischengrundsprache) in nachgrundsprachlicher Zeit.

Umgekehrt stellt sich beim Anatolischen die Frage, ob es als erster Sprachzweig aus dem Uridg. ausgeschieden ist und wieweit es deshalb gemeinsame Neuerungen der verbleibenden uridg. Sprachgruppe nicht mehr mitgemacht hat, s.u. Abs. 5.

Zur Gesamtproblematik: % Porzig Gliederung 1954; Ancient IE Dialects 1963 [1966] (darin u.a. H. M. Hoenigswald Criteria for the Subgrouping of Languages p. 1ff.); E. Seebold in RGA 11 1998 p. 289ff.; G. Klingenschmitt Die Verwandtschaftsverhältnisse der indogermanischen Sprachen in Kolloquium Pedersen Kopenhagen 1993 [1994] p. 235ff. (u.a. zum Anatolischen); W. Hock, Balto-Slavisch, Indo-Iranisch, Italo-Keltisch: Kriterien für die Annahme von Sprachgemeinschaften in der Indogermania in Aspekte baltist. Forschung 2000 p. 119-145.

1) Zu den gr.-armen.-phryg. Gemeinsamkeiten (sie stammen wohl aus der gemeinsamen vorhistorischen räumlichen Nähe im Balkan): % Neumann Phrygisch und Griechisch 1988; Clackson Armenian and Greek 1994. � vgl. jetzt I. Hajnal Methodische Vorbemerkungen zu einer Palaeolinguistik des Balkanraumes in Languages in Prehistoric Europe 2003 p. 117-145.

2) Das in der früheren Forschung gern betonte Italokeltisch ist zu modifi-zieren, eine gemeinsame italokelt. Vorstufe gab es aller Wahrscheinlichkeit

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D. Übersicht über die idg. Sprachen und ihre Quellen 165

nach nicht. Vielmehr sind die Kontakte des Kelt. zur östl. Indogermania alt, vgl. u.a. das Relativpronomen, wo das Kelt. im Gegensatz zum ital. *kýo- /*kýi- mit *H�o- vertreten ist, ein Charakteristikum, das es mit dem Gr., Phryg.,Iir. und Slav. teilt. Die Kontakte des Kelt. zum Ital. sind erst jüngeren Datums: % C. Watkins Italo-Celtic Revisited in Ancient IE Dialects 1963 [1966] p. 29-50 (= ders. Selected Writings I 1994 p. 105-126); K. H. Schmidt Latein und Keltisch in Kolloquium Lat. und Idg. Salzburg 1986 [1992] p. 29-51; ders. Celtic 1996.

3) Zum Baltoslavischen: % Forschungsbericht in Baltische Sprachen 1994 p. 36ff.; Andersen Prehistoric Dialects 1996.

4) Zum Nordwestindogermanischen: % N. Oettinger Grundsätzliche Über-legungen zum Nordwest-Indogermanischen in InL 20 1997 p. 93-111 (zur gemeinsamen Vorstufe von Kelt., Ital., Germ. und Baltoslav.); ders., Zum nordwestindogermanischen Lexikon in FS Meid *70 1999 p. 261-267; M. E. Huld in Indo-Europeanization of Northern Europe 1996 p. 109-125. � vgl. jetzt N. Oettinger Neuerungen in Lexikon und Wortbildung des Nordwest-Indogermanischen in Languages in Prehistoric Europe 2003 p. 183-193.

5) Zur Stellung des Anatolischen und Hethitischen innerhalb der Indogermania (Stichwort u.a. ‘Indo-Hittite’): % N. Oettinger ‘Indo-Hittite’-Hypothesen und Wortbildung. Innsbruck 1986 (= IBS, Vorträge und kleinere Schriften 37); A. Lehrman Indo-Hittite Revisited in IF 101 1996 p. 73-88; G. Klingenschmitt zu Beginn des Paragraphen vor Absatz 1. Ferner s.u. F 207 Abs. 3 und F 303 Abs. 2. — Zentral ist die Stellungnahme von H. Craig Mel-chert, The Dialectal Position of Anatolian within IE in IE Subgrouping 1998 p. 24ff. Melchert plädiert für das folgende Modell (in seiner Darstellung trägt es die Bezeichnung I.D.: „I now conclude that there is a growing consensus among many in favor of model I.D.“):

Anat.Toch. (?)

E 436. Zwischen den uralischen Sprachen (speziell den finno-ugrischen) und einzelnen indogermanischen Sprachgruppen (Germanen, Iraner, Bal-ten, Russen) sind alte Sprachkontakte bekannt. Fremd- und Lehnwörter idg. Herkunft im Uralischen bieten eine interessante Nebenüberlieferung. Alle Vorschläge müssen aber kritisch gesichtet werden: % Joki Uralier und Indogermanen 1973; Katz Lehnwörter 1985; Rédei Idg.-ural. Sprach-kontakte 1986; Koivulehtu Uralische Evidenz für die Laryngaltheorie 1991

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Page 45: Indogermanische Sprachwissenschaft Volume 869 || I. Zur Einleitung

I. Zur Einleitung166

und ders. Frühe Kontakte zwischen Uralisch und Indogermanisch im nordwestindogermanischen Raum in Languages in Prehistoric Europe 2003 p. 279-317 (wie R. P. Ritter in PFU 1 1994 / 1995 p. 3-8 und in GS Katz 2001 p. 223-227 eindrücklich zeigt, ist aber bei den angeblichen Zeu-gen für laryngalhaltige Wörter größte Vorsicht am Platz).

E 437. Die Hypothese, daß die idg. Sprachfamilie Verwandtschaftsbe-ziehungen zu den ural.-altaischen, afroasiat. und kartwel. Sprachen auf-weist, läuft unter dem nicht immer gleicherweise definierten Oberbegriff Nostratisch. Sie ist weder zu verifizieren noch zu falsifizieren.

Lit.: % J. Reinhart Holzwege der nostratischen Sprachwissenschaft in Akten 13. Österreich. Linguistentagung 1988 p. 275-285; B. Vine Indo-European and Nostratic in IF 96 1991 p. 9-35; D. A. Ringe ‘Nostratic’ andthe Factor of Change in Diachronica 12 1995 p. 55-74; K. H. Schmidt in Kratylos 40 1995 p. 81 ff. und J.-P. Levet in BSL 93 / 2 1998 p. 111-116(Rez. von A. R. Bomhard und J. C. Kerns The Nostratic Macrofamily. Berlin / New York 1994); G. Doerfer The Recent Development of No-stratism in IF 100 1995 p. 252-267; A. Manaster Ramer Nostratic from a Typological Point of View in JIES 25 1997 p. 79ff.; A. R. Bomhard in Diachronica 14 1997 p. 131-136 (Rez. von S. Levin Semitic and Indo-European: The principal etymologies. Amsterdam / Philadelphia 1995); J. Gippert, Die Glottaltheorie und die Frage urindogermanisch-kaukasischer Sprachkontakte in Kolloquium Pedersen Kopenhagen 1993 [1994] p. 107-123.

E 438. Eine eigene Dynamik entfaltet Th. Vennemann. Er bezieht Baskischund Hamito-Semitisch in seine Theorien zur sprachlichen Vorgeschichte Europas mit ein und rechnet mit einem alten Nebeneinander von vaskonischen, atlantischen und indogermanischen Sprachen. Seine Hypo-thesen sind allesamt reich an nicht beweisbarer Phantasie. Eine Entge-gnung von seiten der Indogermanistik steht aus. Von seinen zahlreichen Publikationen nenne ich hier: % Linguistic Reconstruction in the Context of European Prehistory in TPS 92 1994 p. 215-284; ders. Basken, Semi-ten, Indogermanen: Urheimatfragen in linguistischer und anthropologischerSicht in Fachtagung Innsbruck 1996 [1998] p. 119ff. �vgl. dens. in Languages in Prehistoric Europe 2003 p. 319ff.

�E 439. Ich erlaube mir, hier im Anschluß an Vennemann ein paar allge-meine Bemerkungen zur historischen Sprachwissenschaft und ihren Gren-zen anzufügen.

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D. Übersicht über die idg. Sprachen und ihre Quellen 167

(1) Theo Vennemann kommt das große Verdienst zu, mit seinen zahl-reichen Publikationen und publikumswirksamen Vorträgen die Frage nach der sprachlichen Vorgeschichte Europas ins Bewußtsein einer interessier-ten Öffentlichkeit gerückt zu haben. Diese Frage ist gegenüber philologi-schen Arbeiten, die präzise Kenntnisse der Materie voraussetzten, gut zu vermitteln und wird von Presse und Laien gern aufgenommen. Sie berührt ganz zentral auch das Fachgebiet der historisch-vergleichenden Sprachwis-senschaft der indogermanischen Sprachen.

(2) Obwohl Vennemann seit rund zwanzig Jahren auf seiner Suche nach der sprachlichen Vergangenheit Europas ist und seine eigenständigen An-sichten immer stärker verfestigt, fehlt das Korrektiv durch die indogermanistische Fachschaft. Die Indogermanistik beschränkt sich in traditioneller Zurückhaltung in der Regel auf die diachrone Erforschung des Sprachsystems der Indogermania. Die Geschichte der Sprachträger ist selbstverständlich ebenfalls von zentraler Bedeutung für das Verständnis, ihre Erhellung hängt aber zunächst allein von den Erkenntnissen der Histo-riker und der Archäologen ab. Wenn etwa die Einwanderungen der nach-maligen Griechen nach Griechenland heute von den prähistorischen Archäologen eher um 2500 v. Chr. als um 2000 v.Chr. angesetzt wird, so muß der Sprachwissenschaftler dies zur Kenntnis nehmen, er hat aber kei-nen Einfluß auf die Festsetzung. Die ur- und frühgeschichtlichen Befunde sind in der Regel mit den sprachlichen Fakten aber nicht deckungsgleich,s.u. E 512 Abs. 1.

(3) Das Mouton de Gruyter-Buch "Europa Vasconica – Europa Semitica" (Berlin und New York 2003) faßt in verdienstvoller Weise alle einschlägigen Publikationen Vennemanns zusammen, die zwischen 1984 und 2000 erschienen sind. Es sind sechsundzwanzig Nummern, ergänzt um einen Beitrag (er trägt die Nummer 17), der 1996 zum Gedenken an Jo-hannes Hubschmid 1996 in Heidelberg vorgetragen wurde, dann aber nicht zum Druck kam. Frau Patrizia Noel Aziz Hanna hat den Sammelband ge-staltet. Sie hat eine Einleitung (xiii-xxii) beigesteuert, jedem Kapitel ein Resümee ("Abstract") vorangestellt und den Inhalt durch Indizes, Bibliog-raphie ("References") und Abkürzungslisten erschlossen. Deutsche Texte wechseln in bunter Mischung problemlos mit englischen. Im folgenden verweise ich in Klammern auf den Band und nenne allein die Seitenzahl.

(4) Die Beiträge des Sammelbandes sind in sich geschlossene Einheiten, sie bieten jeweils alle notwendigen Informationen über die gebotenen Hypothesen. Wiederholungen sind die unmittelbare Folge der Organisation im Sammelband: "Since the articles … had each been composed so as to

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Page 47: Indogermanische Sprachwissenschaft Volume 869 || I. Zur Einleitung

I. Zur Einleitung168

be complete in themselves … the book as a whole unfortunately contains many repetitions" (viii). Wiederholungen sind an sich nichts Schlimmes, sie bergen aber eine Gefahr, vor der in unserem Zusammenhang sehr zu war-nen ist: "Factoids – a word coined by Norman Mailer in his introduction to Marilyn – are mere speculations or guesses which have been repeated so often that they are eventually taken for hard facts. There is something de-cidedly unbiological about such factoids: the tendency to get stronger the longer they live is one of their most insidious qualities. Factoids occur in all branches of scholarship … The process by which mere hypotheses at-tain the apparent rank of established fact, without ever having been proved, presents a linguistic and a psychological aspect. Linguistically, words or particles indicating the hypothetical character of a statement are dropped one by one in a process of constant repetition. The subjunctive is exchanged for the indicative, and in the end the factoid is formulated as a straightforward factual sentence." (so F. G. Maier, Factoids in ancient history, JHS 105, 1985, 32-39; auf den Text aufmerksam wurde ich bei der Lektüre von O. Szemerényi, An den Quellen des lateinischen Wort-schatzes, Innsbruck 1989, 87 Anm. 143). Und tatsächlich sind factoi-sierende Tendenzen bei Vennemann ganz deutlich auszumachen. In seinen früheren Arbeiten unterscheidet er noch ganz klar zwischen Fakten und Spekulationen und signalisiert dies seinem Zuhörer und Leser auch deut-lich: "Bis hierher habe ich mich als Sprachwissenschaftler geäußert. Ich könnte und sollte hier enden … Diese Frage kann für diese vorgeschichtli-chen Vorgänge kein Linguist, kann nur ein Vorgeschichtler mit Bezug auf die Archäologie und – für eine spätere Phase – eventuelle antike Zeugnisse beantworten. Alles, was ich also jetzt noch sage, sage ich ohne fachliche Qualifikation. Das gibt mir den Vorteil einer gewissen Narrenfreiheit und erlaubt mir Spekulationen, die dem Fachmann vermutlich sein wissen-schaftliches Ethos verbieten würde. … Dies sind Spekulationen, durch harten linguistischen Zugzwang wachgerufen in einem weichen vor-geschichtlichen Raum" (17f. im ersten Beitrag von 1984). "Alles, was ich in diesem Abschnitt sage, ist im höchsten Grade spekulativ … im Folgen-den … äußere ich mich als Laie, noch dazu über Probleme, über die sich die Fachleute so uneins sind wie über sonst nichts" (22 in einem Beitrag von 1988). "Dieser Aufsatz ist ein spekulativer Beitrag zu einer Theorie" (371 in einem Beitrag von 1997). Ich will hier nicht vertiefend weiterfah-ren, es läßt sich aber schön zeigen, daß in den jüngeren Beiträgen die Ten-denz sich immer stärker verfestigt, die früheren Spekulationen als etablier-te Fakten zu sehen. Die Gefahr wird um so verführerischer, je mehr

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D. Übersicht über die idg. Sprachen und ihre Quellen 169

Vennemann die Möglichkeit bekommt, auf seine immer zahlreicher wer-denden Publikationen idiosynkratisch zu verweisen.

(5) Vennemanns Beiträge zum Sprachwissenschaftlichen ankern meist im Bereich der Germania und beziehen Baskisches und Semitisches mit ein. Wenn nötig, wird aber auch auf die klassischen Sprachen Latein und Griechisch Bezug genommen. Die sprachlichen Ausführungen überborden an Ideen, an Verknüpfungen und Vorschlägen. Im Gemenge findet sich immer und immer wieder solches, das spekulativ ist und einer genauen Prüfung nicht standhält. Ich wähle zwei Kostproben. Beide sollen die Schwächen von Argumentationsnestern verdeutlichen, die Schwächen von ganzen Szenarien sind hier nicht im Visier.

(6) "Finally there is the notorious problem of �%�,���� 'human being, man', also 'woman' (usually contemptuous). Despite repeated attempts no explanation has been found for this word … Therefore a new proposal may be welcome" (352). Vennemann verbindet den vorderen Wortteil mit angeblichem vaskonischen +andera 'woman' und sieht im hinteren Teil ein (verkürztes) -p-Suffix im Sinn von 'descendant of, relative of'. "If this is correct, then the original meaning … wold be 'descendant of a woman', which would be a fine parallel … in a matrilinear pre-Greek society" (352). In Anm. 30 (366f.) erinnert Vennemann zu recht an die mykenische Form a-to-ro-qo = /anthrôkwo-/ (das alphabetgriechische /-ôpo-/ ist daraus laut-gesetzlich entwickelt), zieht aber nicht die daraus für die Analyse von �%�,���� resultierende Konsequenz, die Interpretation als 'descendant of a woman' zu verwerfen. Der hintere Wortteil hatte offensichtlich im zwei-ten Jahrtausend in mykenischer Zeit noch die Form -ôkwo- und muß zum Wort für 'Auge, Blick' gestellt werden. Von 'descendant' kann dann in keinster Weise mehr die Rede sein, der Hinweis auf eine matrilineare Ge-sellschaft ist schlicht falsch. Im Umkreis von Vasconic +andera 'woman' und griechisch ������, ������� 'man' werden weitere griechische Namen angetippt (351): "-����.���� may be a compound -���� + .���� which owes ist specific form to the popular etymological reinterpretation as "men's fight". I analyze it ... as Vasc. +Andera-mak-E "blissful woman", where E was some adjectival termination, perhaps –ar ... may reflect ... may be the same ...". Nur schon dieser einzige Abschnitt strotzt von mun-ter daher gesponnenen Vermutungen und Klingklang-Assoziationen. Bei .���� gr. .����� und lat. macte beizuziehen, ist falsch: Griechisches kh und griechisch-lateinisches k gehen nicht zusammen! Die adäquate griechische Sachlage ist so simpel: -����.���� ist ein typisch griechischer Frauenna-

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I. Zur Einleitung170

me, der vom Männernamen -�����.��� im Sinn von 'einer, der mit Män-nern kämpft' aus gebildet ist. Mehr ist nicht.

(7) Beim zweiten Beispiel geht es um den Erstsilbenakzent, der in Ab-weichung vom üblichen freien Akzent das Italische, das Keltische und das Germanische charakterisiert. "Die drei indogermanischen Initialakzent-sprachen waren in vorgeschichtlicher Zeit Nachbarsprachen ... Dies legt es nahe, ein areales Phänomen zu vermuten, also eine Sprachkontakterschei-nung, ein Sprachbundphänomen." (528ff.) Vennemann steht in diesem Fall in der Forschung nicht allein. Es wird aber vergessen, daß auch hier die Sachlage komplexer ist. Ich gehe nur auf das Italische ein. Im Lateinischen ist die sogenannte Vokalschwächung in Mittelsilben die unmittelbare Kon-sequenz des Initialakzentes. Die ältesten lateinischen Inschriften sind da-von aber noch nicht betroffen und so wird das Aufkommen der Vokal-schwäche ins 6. bzw. 5. Jh. v. Chr. datiert. Das benachbarte Etruskische und das benachbarte Sabellische zeigen ähnliche Phänomene. Es ist unstrit-tig, daß hier areale Phänomene vorliegen. Es läßt sich die Existenz einer mittelitalischen Koine nachweisen, die in Bereichen wie Alphabet, Zahlzei-chen, Gentilnamensystem und religiösen Gebräuchen und Namen stamm-übergreifend gewirkt hat. Diese Koine ist aber nicht so alt, daß man sie dem Einfluß des Vaskonischen anlasten kann. Kurz, die postulierte Wir-kungsmacht des Vaskonischen ist hier alles andere als gesichert.

(8) Greift man zum Versuch eines Szenarios der sprachlichen Vor-geschichte Europas, so bleibt notgedrungen nur der Griff zu Spekulatio-nen. Nach Vennemann durchlief Old Europe nördlich der Alpen die fol-genden sprachrelevanten Phasen:

I) "Nach der letzten Eiszeit vor ca. zehntausend Jahren ist das menschen-leere Europa nördlich der Gebirge von seiner südlichsten Region aus in Besitz genommen worden. Dies war Südfrankreich, und Südfrankreich war vaskonisch" (846). Vennemann definiert vaskonische Sprachen als "frühe, noch in vor- oder frühgeschichtlicher Zeit ausgestorbene Ver-wandte des heutigen Baskisch" (454). Die meisten west- und mitteleu-ropäischen Gewässernamen gingen auf deren Kosten. Von daher das Schlagwort "Europa Vasconica".

II) Das frühe Vorhandensein von Sprechern des Afro-Asiatischen (Atlanti-schen) (206), "frühe, ebenfalls noch in vor- oder frühgeschichtlicher Zeit ausgestorbene Verwandte der geschichtlichen und der heutigen hamito-semitischen Sprachen" (454). So sollen in Nordwesteuropa

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D. Übersicht über die idg. Sprachen und ihre Quellen 171

Atlantiker die inselkeltischen Sprachen beeinflußt haben. Von daher das Schlagwort "Europa Semitica".

III) Die "Erste" Ausbreitung der Indogermanen, die agrarische Expansion "nach Europa hinein" (848). Das Urgermanische soll unter Einfluß des vaskonischen Substrats und des atlantischen Superstrats entstanden sein.

IV) "Die spätere "Zweite" Ausbreitung der Indogermanen, die militärische Expansion "aus Europa heraus" (848).

(9) Vennemanns Szenario ist eine interessante Hypothese (Theorie), die weder verifiziert noch falsifiziert werden kann. Wenn I mit II und III mit IV zusammengelegt werden und im ersten Fall statt von Vaskonisch und Altlantisch vorsichtiger von einem noch genauer zu bestimmenden Vorur-indogermanisch gesprochen wird, im zweiten Fall von der Ankunft und Ausdehnung der Indogermanen, dann könnte man sicher zustimmen. Die von Vennemann vorgenommene Differenzierung ist aber diskutabel. Bei I ist das Vaskonische Kind seiner Forschungen. Bei II spielen unindogermanisch anmutende keltische Besonderheiten eine wichtige Rol-le, die auch andere Forscher beobachtet und beschrieben haben. III bezieht sich auf Forschungen, die einen Zusammenhang zwischen dem Vordringen des Ackerbaus und der Ausbreitung indogermanischer Sprachen für schlüssig halten. Vennemann betont mit Nachdruck deren Friedfertigkeit (so 22f.). Bei IV handelt es sich um die bekannten Einwanderungen von Indogermanen, wie sie in Italien oder in Griechenland zu verzeichnen sind. Hier soll die Phase unter militärischen Vorzeichen gestanden haben, vgl. "Militärischer Druck" (24), "Militarisierung Europas" (31, Anm. 2), "in-dem die Indogermanen später ... sich dort militärisch zu einer Oberschicht aufwarfen" (456). Meist beginnt das Referat mit linguistischen Aussagen, dann wird die Argumentation in nichtlinguistische Bereiche weitergeführt. Vennemann zeichnet sein Szenario mit weitem Horizont. Man möchte ihm oft gern folgen. Leider geben aber die uns zur Verfügung stehenden Mate-rialien und Informationen die Bestätigung nicht her. Wir historisch-vergleichenden Sprachwissenschaftler bauen alle an der Erhellung dersprachlichen Vorgeschichte Europas. Ziel ist es, alle Daten zu sammeln, verfügbar zu machen und adäquat dem tatsächlichen historischen Ablauf entsprechen zu deuten und zu verstehen. Jede beteiligte Disziplin erbringt im Rahmen ihrer Grenzen einzelne Erkenntnisse, ein Gesamtbild gelingt aber – wenn überhaupt – nur im Dialog von Sprachwissenschaft, Archäo-logie, Historie, Genetik u.a.m. Und die Wissenschaft muß notfalls auch dazu stehen, daß interessierende Fragen mit dem uns zur Verfügung stehenden sprachlichen und archäologischen Material nicht oder nur an-

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I. Zur Einleitung172

satzweise beantwortbar sind. Vennemanns Arbeiten reiten nach dem Echo zu schließen auf der Welle eines größeren Publikumsinteresses. Sie beru-hen aber, wenn man genauer hinschaut und sich auf die Einzelheiten ein-läßt, zu stark auf idiosynkratischen Pfaden.

(10) Ein Verdienst bleibt. Vennemann fordert die Indogermanistik her-aus und rüttelt sie auf. Er hat dies 1996 an der Fachtagung der indogerma-nischen Gesellschaft in Innsbruck direkt formuliert (463-465). Das Ge-meinsame der indogermanischen Sprachen stehe zurecht im Blick. Es fehle aber ein ausgeprägtes Interesse auch für die Verschiedenheiten. "Diese ... zu erklären gehört ebenfalls in den Aufgabenbereich der Indogermanistik; es ist ihre andere Hälfte" (464). "Gerade bei den west-indogermanischen Sprachen ... kann von einer ernsthaften Bemühung der Indogermanistik um eine Erschließung der vor-indogermanischen Substrate und weiterer vor-indogermanischen Kontaktsprachen kaum die Rede sein" (464f.) Die Ma-terie ist aber zugegeben schwierig und schwer zu handhaben. Und deshalb die Zurückhaltung der Indogermanistik. Wo wegen der Materiallage nicht viel gesagt werden kann, kann eben nicht viel gesagt werden, auch wenn wir alle, die Presse und das interessierte Publikum das noch so gerne hät-ten. Die eigenen, offen als Spekulationen bezeichneten Szenarien dennoch publikumswirksam und populärwissenschaftlich zu vermarkten, ist eine Versuchung, der man nicht erliegen sollte. Man leistet so schlußendlich den ernsthaften Versuchen, die sprachliche Vorgeschichte Europas zu er-hellen, nur einen Bärendienst.

E. Zur Rekonstruktion der idg. Grundsprache

1. Rekonstruktionsbeispiele

E 500. Um die verschiedenen Probleme der Rekonstruktion deutlich wer-den zu lassen, beginne ich mit drei Beispielen, einem aus dem Gebiet der Lautlehre (E 501), einem aus dem Gebiet der Formenlehre des Verbums (E 502-505) und einem aus dem Gebiet des Wortschatzes (E 506).

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E. Zur Rekonstruktion der idg. Grundsprache 173

E 501. Das erste Beispiel zielt auf die Lautlehre und wird gern im akade-mischen Unterricht verwendet: % M. Mayrhofer in AÖAW 117 1980 p. 364.

1) �Die lat. Verbalwurzel für ‘schneien’ ist im Ausgang nicht einheitlich,vgl. einerseits nigu- im verbalen ni-n-gu-it ‘es schneit’ (der Präsensstamm stellt ein sogenanntens -n-Infix-Präsens dar, s.u. F 203 (1) LIV-Typ 1k), an-dererseits nik- und niv- im verbalen Abstraktum (nik- im Nom.Sg. nix mit <x>i.e. ks; niv- dagegen im Gen.Sg. nivis). Der Vergleich der drei Formen läßthier exemplarisch für viele andere Beispiele eine Erkenntnismethode einbrin-gen, die schon der altindischen und der byzantinischen Grammatik bekannt war: die interne Rekonstruktion (d.h. das Schließen aus den Gegebenheiten einer einzigen Sprache). Sie geht von der Überzeugung aus, daß die drei For-men nigu-, nik- und niv- auf eine einheitliche Wurzel zurückgehen müssen. Nimmt man in einem ersten Versuch nik- als Ausgangsform an, so ist dann nicht einsichtig, warum ihr nicht strukturgerechte lateinische Formen wie Gen.Sg.*nik-is *<nicis> und *nin-k-it *<ni-n-c-it> entsprechen. Zweiter Ver-such: Ist niv- primär, so ist als Nominativ *nips und als Verbum *ninvit zu erwarten. Dritter Versuch: Die Rechnung geht dann auf, wenn der im Präs.St. ni-n-gu-it vorliegende Stamm *nigý- <ni-gu-> als primär angesehen wird. Man muß dann annehmen, daß beim Nom.Sg. *nigý-s das vor -s stehende -gý- in phonetisch plausibler Weise zuerst das labiale Element ý und dann den Stimmton verloren hat. Ebenso ist die Veränderung von *nigýis zu nivisglaubhaft. Aus dem Lat. wird also in interner Rekonstruktion zunächst für die fragliche Wurzel die Ausgangsform *nigý- erschlossen.

2) Die vergleichende sog. externe Rekonstruktion, welche die Aussagen al-ler verwandten Sprachen mit einbringt, bestätigt das intern gewonnene Resul-tat, indem sie es ergänzt. Aus gr. Akk.Sg. ���(-� (1x Hesiod) ‘fallender Schnee’ geht hervor, daß der Labiovelar behaucht war, also statt *nigý- ge-nauer ein *nigý£- anzunehmen ist (zum Lautwandel von gr. p£ < gý£ s.u. L 345 Abs. 1). Aus lit. sni��gas, aksl. sn–gš ‘Schnee’, dt. Schnee u.a. wird erkennbar, daß im Lat. und Griech. das anlautende n- auf *sn- zurückgehen. Die gleiche Botschaft vermittelt indirekt gr.-episch ��'��-���(� ‘viel Schnee habend’, wo die Geminata -nn- auf -sn- zurückführbar ist. Die vergleichende Rekonstruktion ergänzt den Ansatz also schlußendlich zu uridg. *snigý£-(vollstufig uridg. *�������-).

3) Eine inhaltliche Präzisierung für den uridg. Ansatz kann schließlich even-tuell noch ved. snih- ‘klebrig sein’ erzwingen und neben ‘Schnee’, ‘schneien’ die Annahme einer weiteren Bedeutungskomponente ‘klebrig sein’ nötig ma-chen: % Hoffmann Aufsätze II 1976 (in einem Aufsatz von 1965) p. 453f.

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I. Zur Einleitung174

(„der ‘Schnee’ ist das, was an Pflanzen, Lebewesen usw. ‘kleben bleibt’ bzw. auf der Erde ‘liegen’ bleibt“); Mayrhofer EWAia II p. 772; LIV 1998 p. 521f.� vgl. dazu jetzt A. H. Feulner in Fachtagung Krakau 2004 [2009] p. 119ff.

E 502. Das zweite Rekonstruktionsbeispiel stammt aus dem Bereich der Verbalmorphologie und beschäftigt sich mit dem Paradigma von uridg. *h1

1) Die relevanten Teile des Paradigmas des Ind. Präs. Akt. des ved. Präs.St. as- ‘sein’ lassen sich in tabellarischer Form gut überblicken (eine Zusammen-stellung aller ved. Formen von as-: % Gotô Materialien Nr. 3 1990):

��- ‘existieren, da sein’. Ich beginne in einem ersten Schritt mit dem vedi-schen Sprachmaterial und versuche im sprachinternen Vergleich erste sprach-historische Einsichten zu bekommen.

Formen Analyse

1.Sg.2.Sg.3.Sg.

ásmiásiásti

ás-m-iá-s-iás-t-i

1.Pl.2.Pl.3.Pl.

smássthásánti

s-máss-thás-ánt-i

2) Die Verbalformen bestehen wie alle Verben und Nomina aus dem lexika-lisch aussagekräftigen Stamm (dem sog. Lexem) und der syntaktisch aussage-kräftigen Endung (dem sog. Morphem). Der Verbalstamm as- (zum a- der 2.Sg. s.u. Abs. 3) kann nicht weiter untergliedert werden, sondern besteht allein aus der Verbalwurzel. Die Verbalwurzel zeigt zwischen Sg. und Pl. ei-nen Wechsel von as- : s- (den sog. Ablaut): Im Sg. ist die Wurzel vollstufig und akzentuiert (= ás-), im Pl. schwundstufig und unakzentuiert (= s-). Der Ablaut as- : s- läßt sich als direkte Konsequenz des Akzents verstehen: Im Sg. ist die Verbalwurzel betont und daher vollstufig, im Pl. ist die Verbalwurzel unbetont und daher schwundstufig.

3) Ein Wort zur 2.Sg. ási: Sie fällt gegenüber den übrigen Präs.-Formen aus dem Rahmen. Man erwartet ohne Zweifel als Ausgangspunkt ein *ás-siund muß dann das einfache -s- im Wortinnern als vermutlich schon sehr früh(wohl bereits in uridg. Zeit) vollzogene Vereinfachung eines älteren -s.s- ver-stehen, s.u. L 312.

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E. Zur Rekonstruktion der idg. Grundsprache 175

4) Der hier beschriebene Aufbau des Paradigmas von as- ist nicht singulär, sondern ein Charakteristikum der gut belegten Gruppe der sog. athematischen Wurzelpräsentien (s.u. F 203 Typ 1a): Diese zeigen den charakteristischen Aufbau mit einer ablautenden Verbalwurzel, an die athematisch, d.h. ohne Einschub des sog. Themavokals -e/o- (wie er in uridg. *bhér-e-ti ‘er trägt’ deutlich erkennbar ist), unmittelbar die Endung angefügt wird.

5) Ein durchsichtiges Parallelbeispiel zu ved. as- ist ved. ay- ‘gehen’ (zu den Formen: % Gotô Materialien Nr. 2 1990). Die Rekonstruktionen in der zweiten Spalte werden mit * markiert. Die e-Formen des Sg. sind auf *a�- zurückführbar, s. Abs. 6.

Formen Rekonstruktion

1.Sg.2.Sg.3.Sg.

émiéºiéti

*á�-m-i*á�-s-i*á�-t-i

1.Pl.2.Pl.3.Pl.

imásitháyánti

*i-más *i-thá*�-ánt-i

6) Im Sg. liegt vollstufiges, akzentuiertes é- vor. Dieses mono-phthongische e- entstammt nachweislich einem diphthongischen a�- (es wird genauso wie das aus a¾ entstandene o traditionellerweise ohne Längezeichen wiedergegeben): Seit ved. Zeit ist es nämlich üblich, daß die Diphthonge a�und a¾ vor folgendem Vokal zwar als <ay> und <av> erhalten bleiben, aber vor folgendem Konsonanten zu ê <e> und ô <o> monophthongieren, vgl. für den ersten Fall die vollstufigen ved. Konjunktivformen 2.Sg. áy-as und 3.Sg. áy-at, für den zweiten Fall 3.Sg. é-ti, s.u. L 220 Abs. 3. Ein weiterer Hinweis auf ursprüngliches a� liefert die 2.Sg. éºi. Im Ved. wird nämlich s nach r, μ, u,k oder i zu cerebralem º (sog. ruki-Regel), s.u. L 309 Abs. 3. Das cerebrale ºin der 2. Sg. wird dann verständlich, wenn wir annehmen, daß éºi zu einem Zeitpunkt von der ruki-Regel erfaßt worden ist, als es noch *��si gelautet hat.

7) Die Verbalwurzel é- < *ay- zeigt im Pl. unbetontes, schwundstufiges i-.Vor der vokalisch anlautenden Endung der 3.Pl. erscheint statt i- konsonanti-sches �- < y->.

8) Beobachtungen zu den Endungen im Paradigma von as- und ay-: Die 1.Sg. -m-i, die 2.Sg. -s-i, die 3.Sg. -t-i und die 3.Pl. -ánt-i enden auf -i imGegensatz zur 1.Pl. -más und zur 2.Pl. -thá, wo kein -i vorhanden ist. Es ist

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I. Zur Einleitung176

aber hinzuzufügen, daß das Ved. die 1.Pl. -mas-i als wohl jüngere Nebenform kennt. Diese Endungen bezeichnen die GW und tragen den Terminus technicus Primärendungen, s.u. Abs. 11.

9) Die gegenwartsbezogenen sog. Primärendungen -mi, -si, -ti, -más, -thá,-ánti stehen in Opposition zu den nicht gegenwartsbezogenen sog. Sekundär-endungen -(a)m, -s, -t, -ma, -ta, -an.

10) Ein gutes Beispiel für diese Opposition liefert das ved. Verbum bhara- ‘tragen’ mit den Paradigmen von Ind. Präs. Akt. vs. Ind. Ipf. Akt.:

Ind.Präs.Akt. Ind.Ipf.Akt.

1.Sg.2.Sg.3.Sg.

bhár-â-m-ibhár-a-s-ibhár-a-t-i

á-bhar-a-má-bhar-a-sá-bhar-a-t

1.Pl.2.Pl.3.Pl.

bhár-â-mas(-i)bhár-a-thabhár-a-nt-i

á-bhar-â-maá-bhar-a-taá-bhar-a-n

Die 12 Formen von bhar- sind zwar nicht alle ved. belegt, sie sind aber mit Sicherheit erschließbar: % Macdonell Vedic Grammar 1910 p. 319 ff.; zum Verbum: % Gotô I. Präsensklasse 1987 p. 225 ff.; zum sog. Thema-vokal -a- / -â- (< uridg. *-e- / *-o-) s.u. F 101 Abs. 4.

11) Die Opposition von GW und Nicht-GW wird mit zwei verschiedenen formalen Mitteln markiert: zum einen durch das sog. Augment, das dem Ver-balstamm im VG-Tempus univerbierend vorangestellt wird (weiteres s.u. F 213), zum andern durch zwei Reihen von Endungen, einer sog. primären für die GW und einer sog. sekundären für die Nicht-GW. Bei der 1.Sg., 2.Sg., 3.Sg. und 3.Pl. leistet das Vorhandensein oder Fehlen von -i die Unterschei-dung zwischen den beiden Reihen, in der 1. und 2.Pl. übernehmen die formal leicht voneinander abweichenden Endungen -mas(-i) vs. -ma und -tha vs. -ta(na) die entsprechende Aufgabe. In der 3.Pl. findet sich statt -nt-i : *-ntjüngeres -nti: -n (mit Vereinfachung von -nt zu -n im Wortauslaut).

12) Die ved. Ipf.-Formen von as- (zur Beleglage: % Gotô Materialien Nr. 3 1990 s.v.; die ved. Verbalformen werden nur dann akzentuiert, wenn sie auch so belegt sind; das Verbum des Hauptsatzes trägt bekanntlich im Normal-fall keinen Ton. Weiteres zu dieser Problematik s.u. F 214):

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E. Zur Rekonstruktion der idg. Grundsprache 177

belegt eigentlich erwartet

1.Sg.2.Sg.3.Sg.

Äsam������, Äsît

*á-as-¬*á-as-s*á-as-t

3.Pl. Äsan *á-s-ant

13) Der Ansatz der eigentlich erwarteten Formen von Abs. 12 stützt sich auf die Analyse von Abs. 1 in Kombination mit dem Aufbau von á-bhar-a-min Abs. 10. Problemlos verständlich ist der Anlaut in der 1.Sg., wo das Aug-ment a- mit dem vollstufigen a der Wurzelsilbe a durch Kontraktion direkt ��-ergibt. Ein Zusatz zur Form der Endung -am: Von der Form der them. 1.Sg. -a-m ausgehend erwartet man bei der athem. Endung nach dem konsonantisch auslautenden Verbalstamm lautgesetzlich ein *-¬ bzw. ein daraus entstandenes*-a. Das statt dessen belegte -am ist deshalb als analogisch verdeutlichte Form einzustufen.

14) Die 2.Sg. *a-as-s und die 3.Sg. *a-as-t führen beide auf ein *âs mit kontrahiertem â und auslautendem -s, weil die auslautenden Konsonanten-gruppen *-ss und *-st beide lautgesetzlich vereinfacht werden und in einfa-chem -s resultieren. Die selten belegte 3.Sg. âs ist also alt. Ob sie aber noch der zeitgenössischen Sprache angehört hat, ist fraglich. Die eingetretene for-male Homonymie zwischen 2.Sg. und 3.Sg. muß nämlich langfristig nicht praktikabel gewesen sein und muß zu einer neuen Differenzierung geführt haben. — Die neuen Formen mit 2.Sg. âsî-s und 3.Sg. Äsî-t tauchen bereits im RV auf. Sie haben ihr Vorbild offensichtlich in Verben wie bravi

E 503. In einem zweiten, jetzt sprachexternen Schritt werden zur weiteren Erhellung die entsprechenden Formen des klass.-lat. Paradigmas zum Ver-gleich beigezogen.

- ‘sprechen,sagen, reden’ (< uridg. *-e¾H-: Weiteres zu den sog. se»-Wurzeln s.u. L 315 Abs. 1). Dort lautet z.B. die Form des Konj. Präs. Akt. 3.Sg. bráv-a-t < uridg.*-é¾H-e-t, die Form des Ind. Präs. Akt. 3.Sg. dagegen brávî-ti < uridg. *-e¾H-ti und die Form des Ind. Ipf. Akt. 3.Sg. á-bravî-t < uridg. *-e¾H-t. Bei den beiden letzten Formen steht der Laryngal zwischen Kononanten und ist damit durch Ì vertreten, s.u. L 325 - L 327. In Parallele zu bráv-at und abrav-ît (es ist aus ábravî-t reanalysiert) konnte zum scheinbar gleich gebildeten Konj. Präs. Akt. 3.Sg. ás-at neu ein Ipf. Akt. 3.Sg. Äs-ît gebildet werden. Zum unerwarteten â- der 3.Pl. Äsan s. u. E 504 Abs. 10.

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I. Zur Einleitung178

1) Ich wähle für die relevanten Formen wieder die tabellarische Form (zu den Einzelheiten: % Leumann LLFL 1977 § 400 A):

Formen Rekonstruktion

1.Sg.

2.Sg.3.Sg.

suminschr. esom

esest

< *es-mi

< *esi < *es-si< *es-ti

1.Pl.2.Pl.3.Pl.

sumusestissunt

inschr. sont

< *s-mos< *s-te-s< *s-onti

2) Die Rekonstruktion basiert auf der Analyse, wie sie sich aufgrund des ved. Paradigmas ergibt. Statt des iir. a-Vokalismus ist aber der lat. e-Vokalismus das Alte, s.u. L 206. Bei den Endungssätzen (% Leumann LLFL 1977 p. 512ff.) führt -mus auf *-mos, -ti-s auf *-te-s und -unt über -ont auf -onti (erhalten vielleicht im von Festus zitierten tremonti: % Leumann a.a.O. p. 92). Gegenüber gr. -énti ist -onti sekundär, s.u. Abs. 11.

3) Das klass.-lat. Paradigma läßt sich am besten von der 3.Sg. est und der 3.Pl. sunt aus verständlich machen. Die Verbalwurzel zeigt bei diesen beiden Formen den vom Ved. her erwarteten Ablautwechsel von vollstufigem, singu-larischem es- zu schwundstufigem, pluralischem s-.

4) Im Gegensatz zum ved. Endungssatz mit 3.Sg. -t-i und 3.Pl. -ánt-i fehlen bei der lat. 3.Sg. -t und der 3.Pl. -ont die auslautenden kurzen unbetonten i-Vokale. Während das Ved. diese bewahrt, sind sie im Lat. beseitigt worden: % Leumann LLFL 1977 p. 92 und s.u. L 423 Abs. 1. Nebenbei: Der Abfall des -i ist chronologisch viel älter als der sog. Rhotazismus, der ein im 4. Jh. v. Chr. noch vorhandenes *esi zu *eri hätte werden lassen müssen, s.u. L 309 Abs. 1. — Gleiches wie für 3.Sg. und 3.Pl. gilt für die 2.Sg. es gegenüber po-stuliertem urital. *esi.

5) Im Singularparadigma fällt im Hinblick auf den erwarteten Ablaut sumaus dem Rahmen. Vom Ved. aus ist zunächst ein urital. *esmi oder zumindest ein *esum zu erwarten. Das neulich entdeckte südpikenische esom (% Mari-netti Iscriz. sudpicene 1985 p. 214) bestätigt dieses Postulat. Vor kurzem ist sogar ein inschr. latin. esom aufgetaucht: % M. Cristofani in Quaderni di Archeologia Etrusco-Italica 25 1996 p. 21. Man darf daher mit gutem Recht annehmen, daß ein ursprünglich im Urital. vorhandes *és-mi nach Beseitigung

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E. Zur Rekonstruktion der idg. Grundsprache 179

des auslautenden -i von *es-m aus dank des Einschubs eines Schwachvokals über *es°m zu esom verdeutlicht worden ist: % H. Rix in Kolloquium Lat. u. Idg. Salzburg 1986 [1992] p. 230. Der spätere Ersatz von esom durch sum ist durch die Analogie zur 1.Pl. sumus erwachsen. Dort liegt reguläres schwund-stufiges *s-mos zugrunde (dabei im Wortanlaut *sm- > *s°m- > sum-).

6) Im Pluralparadigma fällt der vollstufige Anlaut es- der 2.Pl. estis aus dem Rahmen. Er kann nur in Analogie zur 3.Sg. est verstanden werden.

7) Die neuen analogischen Beziehungen zwischen 1.Sg. und 1.Pl. (Abs. 5) und zwischen 3.Sg. und 2.Pl. (Abs. 6) zeigen, daß der Ablautwechsel zwischensingularischem es- und pluralischem s- zum Zeitpunkt des Ersatzes von lat. esom durch sum und *ste- durch estis nicht mehr als lebendiges Bildemittel in Gebrauch gewesen ist.

8) Verdunkelungen älterer Ablautstrukturen sind auch beim klass.-lat. Paradigma von i- ‘gehen’ zu beobachten ( % Leumann LLFL 1977 § 399):

Formen Rekonstruktion

1.Sg.2.Sg.3.Sg.

eôîsit

< *e�-ô< *e�-si< *��-��

1.Pl.2.Pl.3.Pl.

îmusîtiseunt

< *i-mos< *i-te-s< *�-enti

9) Vom Ved. ausgehend (s.o. E 502 Abs. 5) lassen sich für das Urital. die rechts stehenden Formen postulieren. Unter Berücksichtung der typ. lat. Monophthongierung von e� > î (s.u. L 220 Abs. 1) und unter Einbezug der bereits beobachteten Veränderung im Bereich der Endungen bei sum (s.o. Abs.4) wird die 2.Sg. îs < *e�s < *���� problemlos verständlich. Dasselbe gilt für die 3.Sg. it < *ît < *��� < *e�ti, zumal wenn man berücksichtigt, daß lange Vokale vor t im Auslaut um 200 v. Chr. gekürzt worden sind: % Leumann LLFL 1977 § 123.

10) Im Pl. sind Hinweise auf die erwartete schwundstufige Wurzelform i-nicht mehr nachweisbar. Der langvokalische Anlaut der 1. und 2.Pl. kann dann verständlich werden, wenn wir einen starken analogischen Druck vom vollstu-figen Sg. aus annehmen. Singularisches ei- hätte dann wohl bereits vor dem 4. Jh. v. Chr. auch in den Pl. Einzug gehalten (mit späterer Entwicklung des neu

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I. Zur Einleitung180

eingeführten ��- > î-). Den Ausgangspunkt für den vollstufigen Plural kann aber auch die 3.Pl. eunt abgegeben haben, s.u. Abs. 11.

11) Ein Problem für sich bilden die 1.Sg. �� und die 3.Pl. ����. — Grund-sätzlich: Der Wechsel zwischen 1.Sg. -ô, 3.Sg. -t und 3.Pl. -unt erinnert an die sog. halbthematischen -�e-/-i-Präsentien vom Typ facere mit them. 1.Sg. faciô,athem. 3.Sg. facit und them. 3.Pl. faciunt. Gaben sie das Vorbild für eô, it und eunt ab? Das parallele Verhältnis von athem. es-t : them. s-unt ist wohl eben-falls hier anzusiedeln. Zu den halbthem. -�e-/-i-Präsentien: % Meiser Laut- und Formenlehre 1998 p. 195f.; H. Rix in GS Schindler 1999 p. 524. Anders zu den them. Formen G. E. Dunkel On the ‘Thematisation’ of latin sum, volo, eo, and edo and the System of Endings in the IE Subjunctive Active in FS Watkins1998 p. 83ff. — Speziell zur 1.Sg.: Bei �� < *��-ô (zum Schwund des inner-vokal. � s.u. L 215) fällt auf, daß statt der von sum her empfohlenen Endung *-mi (s.o. Abs. 5) das sonst überall gebräuchliche (ursprünglich them.) -ô ein-geführt ist. Grund kann neben dem Vorbild der halbthematischen Flexion der Umstand sein, daß reguläres *��mi über *��� zu morphologisch unklarem *îmbzw. über ein mit Schwachvokal ausgestattetem *��°m zu morphologisch un-klarem *eum hätte führen müssen. — Speziell zur 3.Pl.: Ging der Ersatz von erwartetem *�-énti durch *��-onti über das Vorbild der halbthematischen -�e-/-i-Präsentien? Also von 3.Sg. *��-ti direkt zu *��-onti? Oder war die 1.Sg. *é�-ô Vorbild ?

E 504. Drittens kommt der Vergleich mit dem klass.-att. gr. Paradigma dazu.

1) Wie immer zuerst die tabellarische Form (zur Beleglage in den Dialek-ten: % Kühner / Blass Ausführliche Gramm. d. gr. Sprache I / 2 1892 p. 220 ff.; Schwyzer Gr. Gr. I 1939 p. 676ff. Nr. 4; Chantraine Morphologie 1967 § 235 ff; Chantraine DELG s.v.). Das Verbum substantivum ist im Gr. unter Ausnahme der 2.Sg. enklitisch: Es steht in Akzenteinheit mit dem vorangehen-den Wort und ist akzentlos, s.u. F 214 Abs. 2. Der Akut auf der letzten Silbe der allein stehenden Form ist reine Konvention der Grammatik):

Formen Rekonstruktion

1.Sg.2.Sg.3.Sg.

��.��� �/� �����0� �

< *és-mi< *ési < * és-si< *és-ti

1.Pl.2.Pl.3.Pl.

��. ��� ��� �� �����0� �

< *s-mén< *s-té< *s-énti

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E. Zur Rekonstruktion der idg. Grundsprache 181

2) Der auf Grund des ved. und lat. Materials erwartete Ablautunterschied zwischen singularischem es- und pluralischem s- ist im Gr. nicht sichtbar. Die gr. Formen führen überraschenderweise alle auf einheitliches es-: 1.Sg. ��.��i.e. /+êmi/ < *ez-mi < *és-mi, 1.Pl. ��. �� < *es-mé-, s.u. Abs. 9. Im folgenden argumentiere ich deshalb zunächst überall mit es-. Die bei beiden Formen auf-tretende Lautfolge -sm- wird unterschiedlich realisiert. In der 1.Pl. bleibt sie aus Analogie zur 3.Sg. und 2.Pl. mit dort lautgesetzlichem bewahrtem s vor t.In der 1.Sg. liegt dagegen das lautgesetzliche Resultat -+êm- < -ezm- vor: %Chantraine Morphologie 1961 p. 205 (unten).

3) Die 2.Sg. �/�läßt sich über *éhi auf *ési zurückführen. Die dialektal. ep.-ion. Form ��� basiert auf diesem �/ mit einem (die 2. Pers. verdeutlichenden) -s. Sie ist im Gegensatz zu �/�enklitisch. Das äol.-ep. ���� ist dagegen am besten als Neubildung in Analogie zur 3.Sg. es-ti zu beurteilen. — � vgl. jetzt Hackstein Sprachform hom. Epen 2002 p. 103-106 zu ��� und �/� (denkt an them. Umbildungen).�

4) Die 3.Pl. �����0�) i.e. /+êsi/ läßt sich über *ênsi < *e.ensi (N.B.: der Punkt markiert die Silbengrenze) < ehensi (so myk. in e-e-si) bis auf *es-énsi (mit südgr. ion.-att. -si statt nordgr.-dor. -ti; N.B.: der Strich markiert die morpho-logische Segmentierung) zurückführen. Die dem att. ����� entsprechende dor. Form ist �����: enti < *ênti < *e.enti < *ehenti < *es-énti: % E. Risch in FS Neumann 1982 p. 324 mit Anm. 10. — Als 3.Pl. Ipf. ist nach Ausweis des primären *es-énti ein ursprünglich sekundäres *é es-ent (mit betontem Aug-ment und der dazu im Akzent abhängigen Verbalform) zu postulieren. Die lautgesetzlich daraus resultierende Form ist �/ ���Überraschenderweise ist sie bereits frühgr. als 3.Sg. im Gebrauch. Die Umdeutung vom Pl. zum Sg. muß im Kontext der Kollektiva entstanden sein, s.u. F 304 Abs. 2. Als neue 3.Pl. Ipf. ist �/��� im Gebrauch, s. Abs. 5.

5) In der 3.Pl. findet sich neben ion.-att. ����� und dor. ����� ferner hom. ion. %/���� Diese geht über *éh-ansi auf *éh-anti bzw. *és-anti zurück. Geht man noch weiter zurück, steht *ésanti statt *és-ati < *és-�ti. Man muß dann an-nehmen, daß die Sprecher -ati aus Gründen der deutlicheren Markierung durch -anti ersetzt haben. Diesen Ersatz zeigt ebenfalls die parallel gebildete3.Pl. Ipf. �/��� < *é-es-ant (augmentierte sekundäre Form mit verdeutlichter Form -ant) < *é-es-�t: % E. Risch in FS Neumann 1982 p. 331. — Neben-bei: Die Endungen *-énti und *-�ti der 3.Pl. stammen letztlich von zwei ver-schiedenen Flexionsparadigmen, *-énti aus einem amphidynamischen vom Typ *é�-mi / *i-més �-énti oder vom Typ *stistéh2-mi / *stisth2-énti, *-�ti dagegen aus einem akrodynamischen vom Typ *st˾-mi / *sté¾-�ti oder vom Typ *d£éd£oh1-mi / *d£éd£h1-�ti, s.u. F 203 Abs. 1 (LIV-Typen 1a, 1b und 1g).

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I. Zur Einleitung182

6) Die im Pl. bereits beobachtete Präsenz von es- statt schwundstufigem s-zeigt sich bei ��.�� auch sonst. Im Partizip und Optativ müßte man unter allen Umständen die Schwundstufe der Verbalwurzel erwarten, vgl. beim Ptz. ved. sant-, lat. (ab)sent- und beim Opt. ved. 2.Sg. syâs, altlat. siês. Das Griech. zeigt aber auch in diesem Fall (und dies bereits myk.) überall es-: zum Ptz. vgl. myk. Sg. e-o i.e. ehôn, Pl. -e-o-te i.e. -ehontes usw., ion. ����, dor. ebenfalls �����bzw. dann ����� (att. �%��%����ist sekundär: % M. Meier-Brügger in Katà diálekton 1996 [1999] p. 518), alle Formen < *es-ont-; zum Opt. vgl. 2.Sg. �%�� < *e��!-s < *es-���1-s und �/. � < *ehîmen < *es-î-men < *es-ih1

7) Daß beim durchgehenden es- von ��.���etwas Besonderes vorliegen muß,macht das parallel gebaute Verbum �/.� ‘gehen’ (Bed. gern mit Zukunftsbe-zug) mit seinem regulären Ablaut e�- : i- deutlich:

-men.

Formen Rekonstruktion

1.Sg.2.Sg.3.Sg.

�/.� �/ �/��(�)

= *����< *����< *����

1.Pl.2.Pl.3.Pl.

�%. ���%� ��%/���

= *i-men= *i-te= *i�-anti <*i�-�ti

8) Im Sg. geht die 2.Sg. �/ auf *��hi < *��-si zurück. Die 3.Sg. zeigt südgr.-ion.-att. -si statt nordgr.-dor. -ti. Die Endung der 3.Pl. auf -/��� ist mit %/����von Abs. 5 zu vergleichen.

9) Die fragliche gr. Eigentümlichkeit mit konstantem es- für Voll- und Schwundstufe läßt sich am einfachsten unter der Annahme erklären, daß das grundsprachliche Verbum substantivum ursprünglich im Anlaut laryngalhaltig gewesen ist, also *h1��- gelautet hat, aber sonst ganz regulär amphidynamisch flektiert worden ist. — Vollstufiges *h1��- und schwundstufiges *h1�- erbrin-gen im Gr. tatsächlich beide lautgesetzlich es-, s.u. L 322 Abs. 1 und L 328 Abs. 1. Vollstufiges gr. *h1��- lebt nach dem Schwund des Laryngals vor Vo-kal als es- weiter, die Anfangskonsonanz des schwundstufigen gr. *h1�- wirddagegen mit Hilfe eines Schwachvokals über *h1°s- > *h1��- > es- entwickelt. — Anders im Ved. und Ital., wo vollstufiges es- einem deutlich sichtbaren schwundstufigen s- gegenübersteht: Das vollstufige *h1��- ergibt zwar parallel zum Gr. ved. as- (über Zwischenstufe *es-, s.u. L 322 Abs. 1) und lat. es-, das schwundstufige *h1�- führt dagegen durch Vereinfachung der Doppelkonso-nanz von *h1�- im Ved. und Lat. zu s-. Das singuläre Ä- der ved. partizipialen

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E. Zur Rekonstruktion der idg. Grundsprache 183

Negativbildung Äsat- (mit langem Anfangsvokal RV IV 5,14 und VII 104,8; daneben mehrmals mit kurzem Anfangsvokal ásat-) ‘nicht seiend’ erweist indi-rekt, daß zum Zeitpunkt dieser Bildung die anlautende Doppelkonsonanz auch im Ved. noch vorhanden gewesen sein muß, denn diese allein erklärt die ge-dehnte Nebenform im Anlaut: uridg. *�-h1

10) Der Ansatz von uridg. *h

s-�t- > uriir. *a-Hsat- > ved. Äsat-.Das kurzvokalische ásat- versteht sich dagegen als jüngere Analogiebildung zu partizipialem sat- mit dem üblichen negierenden VG a- < *�-.

1��- führt zu einem adäquaten Verständnis des ved. Imperfekts und bestätigt dadurch dessen Richtigkeit genauso wie Äsant- von Abs. 9. Es war nämlich schon immer aufgefallen, daß im Ved. die augmentierten Formen im Sg. und Pl. gleichermaßen gelängtes âs- zeigen, obwohl der sprachinterne Vergleich dies zunächst nicht erwarten läßt und im Pl. eigentlich zu einem kurzen Anfangsvokal führen sollte, s.o. die Tabelle in E 502 Abs.12 mit der Analyse der 1.Sg. Äsam < *á-as-¬ und der 3.Pl. Äsan<*á-s-ant, wo das vorgelegte Rekonstrukt den langen Anfangsvokal nicht erklären kann. — Während bei einer postulierten uridg. Wurzelgestalt *es- /*s- mit einer ersten Stufe uridg. Sg. *e-es- / Pl. *e-s- bzw. uriir. Sg. âs- / Pl. *as- und einer analogischen Übertragung der Länge in den Pl. zu rechnen war, erbringt uridg. *h1��- / *h1�- direkt das bezeugte einheitliche Paradigma: uridg. Sg. *é-h1��- > uriir. *á-Has- (N.B.: Weil die Qualität des iir. Laryngals im Gegensatz zum Uridg. nicht mehr erkennbar ist, notiere ich ihn regelmäßig mit H) > *á.as- > âs- und Pl. *e-h1

11) Im Gegensatz zur heute herrschenden Lehre mit laryngalhaltigem *h

�- > uriir. *a-H�- > âs-.

1es- hatte die ältere Forschung mit der Annahme von einfachem laryngallosen *es- /*s- erhebliche argumentative Schwierigkeiten. Stellvertre-tend für die damalige Communis opinio nenne ich Thumb / Hauschild Handb. d. Sanskrit I / 2 1959 § 488 (und verweise auch auf Leumann LLFL 1977 p. 522 § 400.A.1b). Thumb / Hauschild parallelisieren direkt ved. sánti mit griech.-dor. ����� und führen es über *henti auf *sénti zurück. In Analogie zum Singular sei die erwartete Aspiration beseitigt worden. Entsprechend gehe gr.-ion.-att. ������auf *hensi bzw. *sensi (mit südgr. -si statt -ti) zurück. Bei der 1.Pl. *smén und bei der 2.Pl. *ste sei der Anlaut e- analogisch eingeführt wor-den. Die Ausdehnung des analogischen e- auf den Stamm des Optativs und desPartizips ist aber nicht zu motivieren. Ferner: Das seit 1952 bekannte myk. -e-o-te i.e. -ehontes erzwingt eine Vorverlegung der fraglichen Analogie ins 2. Jahrtausend v. Chr. Vollends hilflos steht man mit dieser Communis opinio vor dem myk. e- der 3.Pl. e-e-si i.e. ehensi, zumal wenn man bei den klass. For-men ion.-att ����� und dor. ������noch mit einem *senti auszukommen glaubte.

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I. Zur Einleitung184

Aber trotz aller Evidenz: Auch heute noch gibt es Forscher, die weiter-hin fröhlich von *es- / *s- ausgehen und darauf ihre eigenen Hypothesen bauen: % K. Shields On the Origin of Dialectal Ablaut Patterns of the Present Active Indicative of IE *es ‘To Be’ in HS 110 1997 p. 176-180.

E 505. Als Resultat der ersten drei Schritte von E 502-504 lassen sich mit guter Sicherheit die beiden folgenden Paradigmen als grundsprachlich fest-halten:

uridg. *h1��- ‘existieren’ uridg. *h1��- ‘gehen’

*h1��-mi*h1��� < * h1��-si*h1��-ti

*h1��-mi*h1��-��*h1��-��

*h1�-mé-*h1�-té-*h1�-énti

*h1i-mé-*h1i-té-*h1�-énti

1) Beim Bedeutungsansatz uridg. *h1��- ‘existieren, da sein’ ist anzufügen, daß dieses Verbum in uridg. Zeit noch diese kräftige Bedeutung besessen ha-ben muß. Nominalsätze vom Typ ‘der Boden ist trocken’ wurden nämlich nicht, wie wir es vom Dt. aus erwarten würden, mit dem zum Hilfsverb entwickelten ist gebildet, sondern es genügte beispielhalber für die Aussage „die Erde ist trocken“ die einfache Reihung von uridg. *d£éœ£ôm ‚Erde‘ mit *tμstéh2- ‚trocken‘, s.u. S 206 zum Nominalsatz. Uridg. *h1

2) Eine weitere Bemerkung zu *e�-: Hier darf nicht verschwiegen werden, daß der Anlaut ursprünglich laryngalhaltig, also *h

es- fand sich gernpräzisiert mit Lokalpartikeln, vgl. z.B. mit ap(b)- lat. ab-sent-, gr. myk. a-pe-o-te i.e. ap-ehontes ‘ab-wesend’.

1��-, gewesen ist: % LIV 1999 p. 207. Die überraschende Tatsache, daß wie bei as- im Ipf. sowohl Sg. als auch Pl. trotz Ablaut *e�- : *i- gleichermaßen mit langem Vokal anlauten (vgl. 1.Sg. Äyam und 3.Pl. Äyan), kann dadurch plausibel gemacht werden: 1.Sg. Äyam < *á-Ha�-am < *é-h1��-¬, 3.Pl. Äyan < *á-H�-ant < *é-h1

3) Hinweise zu anderen altidg. Sprachen: — Zum Hethitischen: % Tischler HEG I p. 109f.; Friedrich / Kammenhuber HW II (E) p. 93ff.; ferner s.u. L 414. — Zum Germanischen: % A. Bammesberger in Graz 2000 p. 11-19. —Zum Tocharischen: % Pinault Tokharien 1989 p. 132ff.; Chr. Batke in TIES 8 1999 p. 1ff.

�-ent.

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E. Zur Rekonstruktion der idg. Grundsprache 185

E 506. Das dritte und letzte Rekonstruktionsbeispiel gilt uridg. *(h1

1) Ich beginne diesmal direkt mit der Entsprechungsgleichung (s.u. E 507 Abs. 5): uridg. *(h

)���-m. und f. ‘Pferd, Roß, Stute’.

1

2) Ved. á¹va- läßt sich problemlos auf ein *á��a- zurückführen (zum satemsprachl. Lautwandel � > ¹ s.u. L 339 Abs. 3); im Ir. resultiert aus �� ein ¹¾ > sp: % Hoffmann / Forssman Av. Laut- und Flexionslehre 1996 p. 86. Wird der iir. Vokalzusammenfall von a, e und o zu a (s.u. L 206) rückgängig gemacht, kommt man in Anlehnung an lat. equus von *á��a- auf *���- oder *(h

)���- = ved. á¹va- m., á¹vâ- f. = aav. und jav. ����- f., jav. aspa- m. = ap. asa- m. = gr.��+��� (bereits myk. i-qo i.e. ikýkýos ) m. f. = lat. equus = altengl. eoh = altnord. jór = lit. (nur Bretke) e¸va ‘Stute’ (das übliches Wort für ‘Pferd’ lautet arklÎs!) = air. ech = toch. B yakwe, A yuk. Die Liste ist nicht vollständig, kann aber leicht ergänzt werden: % Mayrhofer EWAia I p. 139f.; Chantraine DELG I p. 467f.; Vries AnordEW 1962 p. 293; Buck Dict. of select. Syn. 1949 p. 167f; de Lamberterie in BSL 73 / 1 1978 p. 262ff. (zur etymologischen Zugehörigkeit von arm. ê¸ [Gen.Sg. i¸oy] ‘Esel’).

1

3) Eines Kommentars bedarf der Labiovelar des lat. equus. — Im Lat. fällt bekanntlich der Labiovelar ký mit der Lautgruppe k¾ zusammen. Umstritten ist, ob das mit qu notierte Resultat einwertiges ký oder zweiwertiges k¾ dar-stellt: % Sommer / Pfister Lautlehre 1977 p. 143 („fürs Lat. zunächst Guttural + ¾“); Meiser Laut- u. Formenlehre 1998 p. 52 (qu einwertig, weil es keine Position bildet). Für equus bedeutet dies, daß vom Lat. aus nicht zu entschei-den ist, ob in diesem Fall -qu- auf *-ký- oder *-��- zurückgeht. Das Iir. macht in unserem Fall die Entscheidung für *-��- aber leicht. — Auf dem Weg vom Altlat. zum klass. Latein erwartet man lautgesetzlich vor Endungen, die mit -o-und -u- beginnen, statt equ- den veränderten Stamm *ec- mit Schwund des labialen Elementes, dagegen vor solchen, die mit e, i oder a beginnen, denunveränderten Stamm equ-. Das erwartete ecus ist zwar belegt, unter dem analogischen Druck der Kasusformen mit erhaltenem equ- hat sich aber equ-auch vor o und u als Normalform durchgesetzt, s.u. L 106 und L 217 Abs. 2 (zu novus).

)���-. Und dies führt problemlos zu den Formen der germ. Sprachen und zu denen des Lit., Air. und Toch.

4) Am problematischsten ist gr. �+���. — Zum Vokalismus: Der i-Vokalismus versteht sich am besten als Erbe aus myk. Zeit. Damals muß e in bestimmter lautl. Umgebung geschlossener gesprochen worden sein, vgl. di-pai.e. dipas n. ‘Humpen’ vs. späteres � ���� (seit Homer): % Risch Kleine Schriften 1981 p. 455 und p. 536 mit Anm. 16; O. Panagl in FS Zaic 1989 p.

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I. Zur Einleitung186

129-135. Die gesamtgr. Verbreitung der i-Form erklärt sich daraus, daß sich das Wort als zentraler Terminus der myk. Herrschaft in der gesamten Gräzität des 2. Jt. v. Chr. verbreitet und die sicher einmal vorhanden gewesene e-Form komplett verdrängt hat. � Zu möglicherweise erhaltenem� ��0� in der Ono-mastik s. Lamberterie Rez. 2002 p. 108 zu Pp. 55-6. — Zum -pp-: Die ur-sprüngliche Doppelkonsonanz -k¾- ist vermutlich bereits vormyk. durch-kýký- ersetzt worden (daraus dann nach Beseitigung der Labiovelare neu ein -pp-, s.u. L 343 Abs. 4). Hinweise auf ein altes -kýký- geben die bereits myk. Schreibung als i-qo (ein mögliches *i-ko-wo kommt nicht vor) und die imalphabetischen Gr. notierte Doppelkonsonanz. Einzelheiten bei R. Plath in einem Vortrag 2000 vor den Mykenologen in Austin (� die Kongressakten sind bis heute nicht erschienen). — Rätselhaft bleibt die Aspiration des Wortes im Wortanlaut. C. J. Ruijgh denkt vielleicht zu Recht an eine Übernahme im Ausdruck �+�.�����1��+��� ‘Wagen und Pferd’: % Coll. Myc. 1975 [1979] p. 207 und p. 220. — � Vgl. anders G. Klingenschmitt in Gene, Sprachen und ihre Evolution (hrsg. von Günter Hauska. Regensburg 2005) p. 130 Anm. 41 (leitet die gr. Form aus *sík¾o- ab).

5) Ein Wort zur Bildung des Fem. ‘Stute’: — Möglich ist in altidg. Spra-chen einmal die Wahl von zwei ursprungsverschiedenen Wörtern (Typ Vater vs. Mutter). — Häufiger ist die sog. Motion, die Veränderung oder Erweite-rung des Ausgangs des Mask. mittels Suffixen, vgl. ved. á¹vâ- f. = aav. und jav. ����- f. — Eine weitere Möglichkeit zeigen die sog. Com-munia. „So nennt man ... solche Substantive, welche belebte, sexuell charakterisierte We-sen bezeichnen, und bei welchen sowohl das männliche als das weibliche Exemplar in der Weise bezeichnet werden kann, dass sich die Form des Sub-stantivs nicht ändert, aber je nach dem Sexus das kongruierende Pronomen [oder Adjektiv] männliche oder weibliche Form hat“ (vgl. neben 2�bzw. �2��+����u.a. altlat. lupus fêmina ‘Wölfin’): % Wackernagel Vorlesungen II 1926 p. 23f., ferner p. 10 und p. 315. In der Regel erweisen sich die Communia als älter als die entsprechenden Motionsfeminina. Es empfiehlt sich daher, für ‘Stute’ das Commune *ék¾o- m. f. dem Uridg. zuzuweisen und die Ausbildung von fem. "�#���2

6) Die weitere Analyse von *(h

- = ved. á¹vâ- den altidg. Einzelsprachen. —Vgl. unten L 421 Abs. 2 zu uridg. *snusó- f. ‘Schwiegertochter’.

1)é��o- ist unsicher. Es wird gern mit der Wortfamilie von uridg. *h1��- ‘schnell’ zusammengestellt (vgl. gr. ����� und ved. â¹ú-, lat. acu-, ôcior ‘schnell(er)’, dabei *��- aus uridg. *h1oh1�-?) und dann als uridg. *h1���-o- ‘mit *h1���- (‘Schnelligkeit’) versehen’ analysiert: % Mayrhofer EWAia I p. 140 und p. 179f.; Rix Termini der Unfreiheit 1994

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E. Zur Rekonstruktion der idg. Grundsprache 187

p. 10 und ders. in Kratylos 41 1996 p. 156 (zu lat. acu-); I. Balles in HS 110 1997 p. 220 Anm. 8. Ein strenger Beweis ist aber nicht zu führen.

7) Zu den Realien (ist zunächst das in den Wäldern lebende Wildpferd ge-meint? ferner zu Pferd und Streitwagen) s.u. E 512 Abs. 4b.

2. Grundsätzliches zur Rekonstruktion

E 507. Ausgangspunkt der vergleichenden indogermanischen Sprachwis-senschaft sind die idg. Einzelsprachen. Alle dazugehörigen Sprachen zei-gen in großer Zahl Entsprechungen in allen möglichen Teilbereichen. Die Entsprechungen sind oft sehr weitreichend: Einzelne Lexeme und Mor-pheme der Einzelsprachen weisen i.d.R. nicht nur ähnliche oder gar gleiche Formen auf, sondern, der damit ausgedrückte Inhalt ist ebenso ähnlich oder gar identisch, vgl. ved. ás-t-i, gr. ��������und lat. es-t (oben E 502ff.), wo nicht nur die äußere Gestalt und ihr Aufbau unübersehbar ähnlich ist, sondern wo auch die Bedeutung (‘sein’) und die Position der Formen im Paradigma (Präs.St. 3.Sg. Akt.) gleich ist. Ved. ásti, gr. ������und lat. estsind nur ein Beispiel unter unzähligen anderen. Die Entsprechungen lassen sich mit Hilfe der Lautgesetze nachweisen, sogar da, wo die zu verglei-chenden einzelsprachlichen Wörter äußerlich ganz verschieden aussehen, vgl. etwa ved. ¹rómata ‘Erhörung, guter Ruf’ mit ahd. hliumunt ‘Ruf, Ge-rücht, Leumund’, wo beide nachweislich lautgesetzlich aus uridg. *�lé¾-m�t- hervorgegangen sind: % Mayrhofer EWAia II p. 667

1) Das Vorhandensein von zahlreichen fest verzahnten Übereinstimmungen innerhalb der idg. Einzelsprachen erklärt sich keinesfalls dadurch, daß man sie als Universalia menschlichen Sprechens versteht. Es gibt zwar mit Sicherheit universelle Grundgegebenheiten, so z. B. die in die Zukunft gerichtete Lineari-tät des Sprechens: Man kann auf der Zeitachse nur vorwärtsgerichtet spre-chen, nicht aber zurück in die Vergangenheit. Die sprachlichen Zeichen sind aber i.d.R. gerade nicht universell, sondern sie sind, durch Konventionen gere-gelt, innerhalb einer Sprachgemeinschaft willkürlich (arbiträr) zustande ge-kommen. Beim Verbum ‘sein’ lautet das Verbum existentiae in den semit. Sprachen ganz anders, vgl. hebr. ����� ‘geschehen, werden, sein’ usw.

2) Für eine Erklärung untauglich ist ferner die Annahme von Zufall. Es gibt selbstverständlich Erstaunliches, so der immer wieder beobachtete Gleichklang von klass.-lat. deus ‘Gott’ mit gr. , ���‘Gott’. Eine kurze Prüfung der älteren und ältesten Belege der beiden Wörter (vgl. altlat. deivos und myk. t£ehós)

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I. Zur Einleitung188

zeigt aber klar, daß die beiden Nomina von ihrer Genese her verschieden sind: deivos ist eine Ableitung von uridg. *d�e¾- ‘(Tages)Himmel(sgott)’ i.S.v. ‘himmlisch(es Wesen)’; t£ehós < *d£h1s-ó- ist nach allgemeiner Auffassung eine Ableitung von uridg. *d���1�- ‘Gott, göttlich’: % Meiser Laut- und For-menlehre 1998 p. 107 (� ich deute *d£h1s-ó- dagegen heute als -ó-Ableitung zum schwundstufigen -es-Neutrum *����1

3) Für eine Erklärung nicht tragfähig ist schließlich die Annahme von Ent-lehnung. Es gibt diese selbstverständlich, ganz üblich im Bereich des Wort-schatzes, vgl. lat. mâchina und gr.-dor. ./�������oder dt. Kaiser und lat. Cae-sar. In beiden Fällen sind die Entlehnungswege bekannt, im ersten Fall von den dor. Griechen Unteritaliens zu den Römern (ein ursprüngliches *mâcana wird in den lat. Wortschatz integriert, später durch die typisch lat. Vokalschwä-chung zu *mâcina verändert und schließlich mit der das Gr. genauer imitieren-den Bezeichnung der Aspiration durch h als mâchina etabliert), im zweiten Fall um 37 bis 41 n. Chr. vom röm. Alleinherrscher Caligula (er hieß offiziell C. Caesar) zu den Germanen, die damals seine Leibwache stellten (% H. Rix Latein - wie wurde es ausgesprochen? in Beiträge zur mündlichen Kultur der Römer, hrsg. von G. Vogt-Spira, Tübingen 1993 p. 14).

-es- ‘das Tun = das Opfern’ i.S.v. ‘Wesen, das durch Opfern charakterisiert ist’, s. InL 29 2006 p. 119-125). Der Gleichklang eines ved. ás-t-i, gr. ��������und lat. es-t schließt dagegen jede Zufälligkeit aus. Im Gegenteil, je älter hier die Beispiele, desto ähnlicher Aus-druck und Inhalt.

4) Als Erklärung für die zahlreichen Entsprechungen im Bereich von Laut-lehre, Formenlehre und Semantik taugt einzig und allein die Hypothese von der Abstammung der fraglichen Sprachzweige aus einer gemeinsamen Vorstu-fe. Mit andern Worten: Ved. ás-t-i, gr. ��������und lat. es-t sind miteinander verwandt und basieren auf der rekonstruierbaren gemeinsamen Vorstufe uridg. *h1���� (s.o. E 505). Diese Vorstufe wurde von der uridg. Sprachgemeinschaft gesprochen. Eine Schrift war dieser damals unbekannt. Von uridg. *h1

uridg. *h

���� aus führt je ein eigener einzelsprachlicher Weg durch ein Traditionskontinuum über Generationen von Sprechern zur lat., zur gr. und zur ved. Form:

1ésti

ved. ásti gr. ������ lat. est

5) Zur Vereinfachung der Darstellung werden i.d.R. keine Stammbäume gezeichnet, sondern es wird als eine Art Kurzformel eine schlichte Entspre-chungsgleichung an deren Stelle gesetzt: uridg. *h1���� = ved. ás-t-i = gr.

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E. Zur Rekonstruktion der idg. Grundsprache 189

��������= lat. es-t. Man darf sich aber ja nicht täuschen lassen und daraus etwa den Schluß ziehen wollen, daß ved. ásti aus dem gr. ������abgeleitet ist oder daß das lat. est aus dem Gr. stammt.

E 508. Seit Bopps Zeiten (s.o. E 302) ist die Indogermanistik eine metho-disch abgesicherte und funktionsfähige Wissenschaft. Hauptmethode sindder interne und externe Vergleich innerhalb der und zwischen den idg. Einzelsprachen und der immer wieder vorzunehmende Bezug von den Ein-zelsprachen auf die Grundsprache und von der Grundsprache auf die Ein-zelsprachen.

1) Das Fachwissen über alle Fragen der idg. Einzelsprachen und über die Rekonstruktion der durch den Vergleich gewonnenen Aussagen zur uridg. Grundsprache ist inzwischen sehr umfangreich und stammt aus der Arbeit mehrerer Generationen von Indogermanisten. Es ist durch den Dialog in der internationalen Forschergemeinschaft einem dauernden Kontrollprozeß unter-worfen. Neufunde und neue Ideen machen immer wieder deutlich, daß wir mit unserem Fachwissen auf dem richtigen Weg sind. Immer wieder können klein-ere und größere Steinchen an der richtigen Stelle des der Indogermanistik ge-stellten Puzzles eingefügt werden. Es spricht für die Richtigkeit, wenn sich uns eine bis dahin unklare Form auf der Basis der bisherigen Daten plötzlich pro-blemlos verstehen läßt.

Ein kleines Beispiel aus meiner Forschung: Die ep.-hom. Verbalform ���(,��0in������1�� ���(,��N 543 und 3�419) ist seit der Antike unklar und war Anlaß von unhaltbaren Spekulationen (% Chantraine DELG s.v.: „rien de clair“). In ganz anderem Zusammenhang fragte ich mich eines Tages, wie denn die formal genaue Entsprechung von dt. singen im Gr. lauten müßte. Bekannt war mir aus den Handbüchern das damit zu verbin-dende Nom.act. �.(���0ep.-poet. seit Homer) ‘(göttliche) Stimme’ (< *songý£Ä). Das zugrunde liegende Verbum gilt im Gr. als verschollen (%Frisk GEW s.v.: „das zugrundeliegende primäre Verb ist nur im Germ. erhalten“). Ein Gedankenblitz traf mich: ���(,� gehört doch als Aorist zu diesem verlorenen Verbum (< *e-s�gý£-d£ê). Die Bedeutung (es sind zwei Kampfszenen) paßt ausgezeichnet: �„(auf ihm) wurde der Schild zum Singen / Klingen gebracht“. Für die fragliche Verbalform heißt dies, daß sie von den hom. Aoidoi noch im korrekten Kontext tradiert worden ist, aber wohl schon früh nicht mehr verstanden wurde. Zu den Einzelheitender Erklärung s.u. L 345 Abs. 1.

2) Dank der zahlreichen Entsprechungsgleichungen sind wir über die Pro-bleme der Lautlehre am besten und genauesten unterrichtet. So ist die Gestalt

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I. Zur Einleitung190

der uridg. Wurzel *sne�gý£- mit Sicherheit richtig bestimmt, s.o. E 501. Die Bestimmung der Bedeutung als ‘schneien’ ist dagegen zwar wohl fest gesi-chert, die Frage aber, wie die ved. Bedeutung ‘klebrig sein’ dazu-zustellen ist, kann nicht sicher beantwortet werden. Der Sicherheitsgrad der Aussagen va-riiert genauso wie bei semantischen Fragen auch bei der Formenlehre und noch stärker bei der Syntax, s.u. S 101. Jeder Fall muß einzeln geprüft werden, vgl. uridg. *h1��- (s.o. E 505), wo bei der 3.Sg. *h1���� die rekonstruierte Form die der Ursprache sein dürfte, während bei der 1.Pl. *h1

E 509. An der Realität des sprachlichen Traditionskontinuums von der postulierten uridg. Grundsprache zu den uns bekannten idg. Einzelspra-chen der historischen Zeit ist nicht zu zweifeln. Wieweit sprachliche Ver-wandtschaft auch familiäre Bande und damit genetische Zusammengehö-rigkeit der sich trennenden Sprechergruppen impliziert, ist zu fragen. Über allfällige Hinweise auf Ort, Zeit und Kultur dieser Grundsprache und den Vorstellungen über das Wie der Entstehung der Einzelsprachen s.u. E 511ff.

�-mé- die Bestimmung der genauen Form der Endung des Präs. offen-bleiben muß.

1) Unsere Rekonstruktion hat aber ihre ganz klaren Grenzen. Wir sind ent-scheidend von der Überlieferungslage der Einzelsprachen abhängig. Diese ist sehr ungleich, s.o. E 400. Man stelle sich einmal vor, wir besäßen nur Texte des heutigen Griechisch mit ersten mittelgriech.-byzantin. Denkmälern nach dem Fall von Konstantinopel um 1453 n. Chr. Dann wüßten wir z.B. nichts von den mykenischen oder homerischen Sprachformen. Das so dokumentierte Gr. besäße eine dem Alban. vergleichbare Randstellung innerhalb der Indo-germanistik, es hätte keinesfalls das Gewicht, das ihm seit langem wegen der einzigartigen Dokumentation zukommt.

2) Unsere Rekonstruktionen sind nicht für alle Zeiten fest. Je nach der Ar-gumentation können Beurteilungen von Forscher zu Forscher differieren. Fer-ner: Neue Erkenntnisse und Neufunde können durchaus Korrekturen erzwin-gen. Korrekturen beider Art bedeuten aber nicht, daß sich dadurch die Grund-sprache geändert hat, sondern nur, daß wir unsere heutigen Kenntnisse dem neuesten Wissensstand angepaßt haben.

3) Unsere Rekonstruktionen führen uns von den fraglichen einzelsprachli-chen Abkömmlingen zwar direkt zurück zu demjenigen Sprachstadium, das ihnen als letztes einheitlich zugrunde gelegen hat. Der Weg vom letzten ein-heitlichen Stand bis zu den Einzelsprachen war aber nicht so gradlinig, wie uns dies die erhaltenen Formen zwangsläufig suggerieren, die im sprachlichen Eva-luationsprozeß erfolgreich geblieben sind. „(Man kann) sagen, daß die Ver-

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E. Zur Rekonstruktion der idg. Grundsprache 191

gleichende Rekonstruktion die Durchschnittsmenge und nicht die Vereini-gungsmenge ... der betreffenden Sprachphänomene ermittelt, also nur einen Ausschnitt der Realität erfaßt“: % H. Eichner in Akten 13. Österreich. Lin-guistentagung 1988 p. 15. „We must not delude ourselves into believing that our retrogressive method of reconstruction matches, step by step, the real pro-gression of linguistic history“: % E. Pulgram Proto-Indo-European Reality and Reconstruction in Language 35 1959 p. 423. Es muß z.B. immer wieder Formen gegeben haben, die einmal Bestandteil des Lexikons oder der Gram-matik waren, dann aber im Laufe der Zeit ungebräuchlich wurden und aus-schieden. Nur im günstigsten Fall haben wir noch von ihnen Kenntnis, etwa dann, wenn sie in lexikalisierter Form weitertradiert worden sind. Wir können z.B. rekonstruieren, daß es ein uridg. Wn. *h2

Weitere Literatur zur Rekonstruktionsarbeit: % M. Mayrhofer Über sprachliche Rekonstruktionsmethoden in AÖAW 117 1980 [1981] p. 357-366; D. M. Job Zur Bewertung von Rekonstrukten in GS Kronasser 1982 p. 46-71; Akten 13. Österreich. Linguistentagung 1988 (p. 7ff. Diskussi-onsbeiträge zur Podiumsdiskussion „Sprachwandel und Rekonstruktion“, darunter besonders ergiebig H. Eichner p. 10-40); Language Typology 1988 [1991] (darin u.a. H. M. Hoenigswald Morphemic Change, Typology, and Uniformitarianism: A study in reconstruction p. 17-26; E. P. Hamp On Reconstructing Morphology and Syntax p. 105-110). Weite-res s.u. Ende von Abs. 4.

���- ‘Stirn(seite)’ gegeben hat. Während es im Heth. noch lebendig ist, zeigen andere idg. Einzelsprachen wie das Gr. nur noch lexikalisierte Formen wie �������‘angesichts, gegenüber’ (das als Präverb und Präposition verwendete Wort findet sich auch als VG von Komposita und ist formal als erstarrter Lok.Sg. des ehemaligen Wn. zu be-stimmen): % Friedrich / Kammenhuber HW III p.158ff. Weiteres zu ������ in L 322 Abs. 2.

4) Man muß sich klar darüber sein, daß Sprachwandel nicht ein geplanter Prozeß ist, nach dem im Laufe der Zeit eine Sprache planmäßig aufgebaut wird. „Eine Sprache wie Deutsch, Suaheli oder Italienisch ist eine spontane Ordnung. Sie ist das nicht-intendierte Resultat menschlicher Handlungen“: %R. Keller Sprachwandel, ein Zerrspiegel des Kulturwandels? in Kulturwandel im Spiegel des Sprachwandels, Achtes Partnerschaftskolloquium 1991 in Düs-seldorf, hrsg. von K.-E. Lönne. Tübingen / Basel 1995 (= Kultur und Erkennt-nis 11) p. 213; ders. Zur Erklärungskraft der Natürlichkeitstheorie in Sprach-wandel und Sprachgeschichte. Festschrift für H. Lüdtke, hrsg. von J. Schmidt-Radefeldt und A. Harder, Tübingen 1993, p. 109-116; vgl. auch ders. Sprach-wandel 1994 (Untertitel: Von der unsichtbaren Hand in der Sprache).

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I. Zur Einleitung192

Weitere Literatur zu Sprachwandel und Rekonstruktion: % H. Eichner (Titel s.o. am Schluß von Abs. 3); Linguistic Change and Reconstruction Methodology 1990 (darin u.a. H. M. Hoenigswald Is the ‘comparative’ method general or family-specific? p. 375-383; Diachrony within Synchro-ny 1990 [1992] (darin u.a. A. Bammesberger Phonology, analogy, and how languages change: Notes on the development of some grammatical categories in English p. 359-375; H. M. Hoenigswald Semantic change and ‘regularity’: A legacy of the past p. 85-105); Explanation in Historical Linguistics 1992 (darin u.a. R. Anttila Historical explanation and historical linguistics p. 17-39; B. D. Joseph Diachronic explanation: Putting speakers back into the picture p. 123-144); Historical Linguistics 1993 (darin u.a. J. Anderson Parameters of syntactic change: a notional view p. 1ff.; B. Com-rie Typology and reconstruction p. 74ff.); R. Gusmani, Ursprache, Rekon-strukt, hermeneutische Modelle in FS Meid *60 1989 p. 69-77 (weitere Lit. in Anm. 1).

E 510. Die mit Hilfe der Rekonstruktion ins Auge gefaßte uridg. Mut-tersprache, das sog. Urindogermanische, darf man sich nicht als eine ‘pri-mitive’ Ursprache vorstellen. Es war vielmehr eine ‘ganz normale’ Sprache mit einer eigenen langen Vorgeschichte und wurde von einer, soweit be-kannt, schriftlosen Sprachgemeinschaft gesprochen.

� Chronologisch steht das „klassische“ Urindogermanische in der Mit-te zwischen den Vorstufen (Vorurindogermanisch, Frühurindogermanisch) und den nachfolgenden altindogermanischen Einzelsprachen.

1) Die resultierenden Rekonstrukte des klassischen Uridg. liegen auf einer einheitlichen Linie und können notgedrungen nur ein einseitiges Bild ohne räumliche und zeitliche Perspektive liefern (s.o. E 509 Abs. 3). „Es ist das We-sen jeder Rekonstruktion, daß in ihr notwendigerweise alle diachronischen oder dialektischen oder sonst irgendwie bedingten Unterschiede aufgehoben sind“: % B. Schlerath in ZVS 95 1981 p. 180. Natürlich war das konkrete Uridg. eine lebendige Sprache mit Dialekten und einer komplexen Ausgliede-rung, das uns allein erreichbare rekonstruierte Uridg. kann dazu aber keine Angaben liefern. Es ist deshalb methodisch verfehlt, das rekonstruierte Uridg. mit dem konkreten Uridg. gleichzusetzen und in ein Raum/Zeit-Modell einzu-passen. Ich ziele mit diesem negativen Schluß auf die Diskussion, die sich rund um das ‘Raum/Zeit-Modell’ von W. Meid entwickelt hat und will nicht ver-schweigen, daß mich die Gegenargumente von B. Schlerath überzeugt haben: % W. Meid Probleme der räumlichen und zeitlichen Gliederung des Indoger-manischen in Fachtagung Regensburg 1973 [1975] p. 204-219; B. Schlerath Ist ein Raum/Zeit-Modell für eine rekonstruierte Sprache möglich? in ZVS 95

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1981 p. 175-202; ders. Sprachvergleich und Rekonstruktion: Methoden und Möglichkeiten in InL 8 1982-1983 p. 53-69; InL 9 1984 enthält p. 63ff. eine Debatte über die von B. Schlerath in Band 8 umrissene Thematik (Autoren sind E. Campanile, F. Crevatin, M. Doria, R. Gusmani, R. Lazzeroni, E. Neu, P. Ramat, K. H. Schmidt und K. Strunk); InL 10 1985 bringt p. 11-18 das Schlußwort von B. Schlerath Probleme der Rekonstruktion: Schlußwort und Ausblick; J. Tischler Bemerkungen zum "Raum-Zeit-Modell" in FS Meid *60 1989 p. 407-429; W. P. Lehmann Earlier stages of Proto-Indo-European in FS Meid *60 1989 p. 109-131; F. R. Adrados The new Image of Indo-European in IF 97 1992 p. 1-28; E. Seebold in RGA 15 2000 s.v. Indogermanische Sprache und Sprachfamilien.

2) Das konkrete (klassische) Uridg. muß selbst das Produkt einer langen Vorgeschichte sein. Aus dem sprachinternen Vergleich des rekonstruierbaren einheitlichen Uridg. lassen sich einige Aussagen über Vorstufen des Uridg. (Voruridg. , Frühuridg.) gewinnen. „Während die vergleichende Rekonstrukti-on von einer Gruppe von ähnlichen Formen in einer Mehrzahl von Sprachen ausgeht, nimmt die innere Rekonstruktion ihren Ausgang von Unregelmäßig-keiten oder Inhomogenitäten im System ein- und derselben Sprache. ... Die Grundannahme der inneren Rekonstruktion ist es nun, daß eine solche Unre-gelmäßigkeit oder Inhomogenität in der Grammatik einer Sprache das Ergeb-nis eines diachronen Prozesses ist, in dem eine ältere Regularität oder Homo-genität von später eingeführten Regeln überlagert, aber nicht vollständig ver-drängt worden ist. ... Es besteht nun kein Anlaß, darauf zu verzichten, das an Informanten- und Korpussprachen entwickelte Verfahren der inneren Re-konstruktion auch auf das erst durch vergleichende Rekonstruktion gewonne-ne Urindogermanische anzuwenden; ‘glotto-gonische Spekulation’, als welche man sie gelegentlich diffamiert, ist die innere Rekonstruktion auch beim Urin-dogermanischen mit Sicherheit nicht, weil sie zur Entstehung menschlicher Sprache vordringen weder kann noch will“: % H. Rix Modussystem 1986 p. 6f. Rix geht von der späturidg. Phase B (= rekonstruierbares Uridg.) auf dar-aus ableitbare Informationen über eine frühuridg. Phase A zurück und sammelt in seiner Arbeit diesbezügliche Aussagen über das uridg. Verbalsystem.

Die Veranstalter der Fachtagung Zürich 1992 [1994] hatten vor, den Weg vom Uridg. zum Voruridg. (Frühuridg.) weiter zu erforschen, das Rahmenthema wurde aber nicht in der erhofften Weise behandelt: % G. E. Dunkel a.a.O. p. VIIIf.; ders. Early, Middle, Late Indo-European: Doing it my Way in InL 20 1997 p. 29-44.

� In dieser Einleitung wird immer wieder auf voruridg. (frühuridg. Zu-stände) hingewiesen: Vgl. u.a. L 303 (zu voruridg. *dié¾m u.a.m.), L 312(zu voruridg. *h1essi), L 323 Abs. 2 (zu voruridg. *eh2), L 323 Abs. 3 (zu

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I. Zur Einleitung194

voruridg. *eh3), L 331 Abs. 1 (zu voruridg. *h2e neben voruridg. *h2êu.a.m.), L 418 Abs. 2 (zum uridg. bereits versteinerten Spiel von Akzent und Ablaut vom Typ *h1ésmi vs. *h1smé-), F 104 (zu Akk.Pl. *-ns <voruridg. *-m + pluralisierendem s), F 203 Abs. 1 (beim LIV-Typ 1p hat die Wurzel *p��- / *p��- bereits uridg. ein vereinfachtes *pμ-���- <voruridg. *pμ�-s�e-), F 206 Abs. 1 und 3 (voruridg. nur Aktionsarten), F310 Abs. 3 (zum Nom.Sg. uridg. -År < voruridg. *-Ærs u.a.m.), F 310 Abs. 5 (zu Dat.Sg. uridg. *-e� vs. Lok.Sg. uridg. *-i), F 311 Abs. 2 (Kon-traktion von Themavokal und Endung sicher voruridg.), F 323 (uridg. Ad-jektive aus voruridg. Eigenschaftkonzepten hervorgegangen), F 401 Abs. 2(Dissimilation im Dat.Sg. von voruridg. *me-b£e� zu uridg. *me-$���), F 404 (Vorstufen der Relativsätze).

3. Zu Zeit, Ort und Kultur der uridg. Sprachgemeinschaft

E 511. Die Zeit der uridg. Sprachgemeinschaft kann nicht genau angege-ben werden. Man kann nur soviel sagen, daß alle altidg. Sprachen, die wir bereits aus dem 2. Jt. v. Chr. kennen, seit ihren frühesten Zeugnissen typi-sche Charakteristika ihrer jeweiligen Sprachgruppe zeigen und damit je-weils eine längere einzelsprachliche Vorgeschichte voraussetzen. Ein Bei-spiel unter vielen: Vgl. aus dem myk. Gr. das dort bereits übliche te-o i.e. t£ehós ‘Gott’ (s.o. E 507 Abs.2). Auf Grund der indoir. und ital. Befunde muß man folgern, daß *de�¾ó- eine der uridg. Bezeichnungen für ‘Gott-heit’ darstellt (s.u. W 202 Abs. 2), daß es im Gr. aber vorhistorisch (noch im Balkan) von *dhh1

E 512. Eine eigene Problematik bieten die Versuche, die Region und die Kultur der uridg. Sprachgemeinschaft zu bestimmen. Ein entscheidendes Gewicht kommt bei beiden Fragestellungen den Aussagen der Ur- und Frühgeschichte zu. Weitere Hinweise können aus dem rekonstruierbaren uridg. Wortschatz kommen, ferner aus eventuell möglichen Rückschlüssen aus der späteren geographischen Lage der Sprachgemeinschaften der idg. Einzelsprachen: % J. Untermann Ursprache und historische Realität in Ethnogenese 1985 p. 133-164 (darin die Kapitel: „Die theoretischen

s-ó- (woraus später t£ehós und , ��) abgelöst wor-den ist. Die Griechen sind vermutlich um 2500 v.Chr. in Griechenland an-gekommen und so muß die Balkanzeit bis gegen 3000 v.Chr. zurückdatiert werden. Die uridg. Zeit liegt notgedrungen noch weiter zurück. An mögli-chen Daten für die grundsprachliche Zeit werden 5'000 v. Chr. bis 3'000 v. Chr. genannt.

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E. Zur Rekonstruktion der idg. Grundsprache 195

Grundlagen der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft und das Stammbaummodell“; „Indogermanistik und Vorgeschichtsforschung“; „Innersprachliche Evidenz für vorgeschichtliche Ereignisse“ mit den Unter-titeln „Die Kritik am Stammbaummodell“, „Wortinhalte als Gegenstand der Sprachvergleichung“ und „Ethnische Strukturen im Wortschatz der indogermanischen Grundsprache?“); ders. in Kratylos 34 1989 p. 48ff. („Forderungen und Bedenken, die meines Erachtens bei der Erschließung der ‘indogermanischen’ Kultur, Geisteswelt oder Gesellschaft zu beachten sind“ im Rahmen der Rez. von Stud. z. idg. Wortschatz 1987). Zu Grund-sätzlichem ferner: % A. Scherer Hauptprobleme der indogermanischen Altertumskunde (seit 1940) in Kratylos 1 1956 p. 3-21; ders. Indogermani-sche Altertumskunde (seit 1956) a.a.O. 10 1965 p. 1-24; W. Dressler Me-thodische Vorfragen bei der Bestimmung der ‘Urheimat’ in Sprache 11 1965 p. 25-60; Zimmer Ursprache 1990. � s.o. St. Zimmer in den bibl. Nachträgen 3. Vgl. ferner St. Zimmer „Indogermanisch und Indogerma-nen, Sprachwissenschaft und Archäologie“ in Die Kunde N.F. 57 2006 p. 183-200.

1) Die ur- und frühgeschichtlichen Befunde sind i.d.R. mit den sprachlichen Fakten nicht deckungsgleich: % B. Hänsel in FS Schlerath 1992 [1994] p. 26f.: „Sprachentwicklung wird in logisch nachvollziehbaren, aber eben nicht ausgrabbaren Schritten ohne Zeitskala beschrieben. Der Archäologe verfolgt bestimmte Bereiche von Kulturentwicklungen, deren vielleicht vorhandene Logik ihm in der Regel verborgen bleibt oder nur in wenigen Aspekten der komplexen Kausalitäten zugänglich ist. Er verfügt dagegen über konkrete Zeitvorstellungen, so vage diese auch sein mögen, und arbeitet mit einem Kul-turbegriff, der dem Indogermanisten letztlich fremd bleiben muß.“

Für den Archäologen ist Kultur im Sinne einer soziologischen Definition zu verstehen, wie sie W. E. Mühlmann formuliert hat (% Wörterbuch der Sozio-logie, hrsg. von W. Bernsdorf. Stuttgart 1969. p. 598f.): „die Gesamtheit der typischen Lebensformen einer Bevölkerung, einschließlich der sie tragenden Geistesverfassung, insbesondere der Wert-Einstellung, wobei die typischen Lebensformen ... auch die technischen Grundlagen des Daseins samt ihren materiellen Substraten wie Kleidung, Obdach, Werkzeuge und Gerätschaften usw. umfassen“. Er hat zu den letztgenannten Bereichen direkten, zu den am Anfang des Zitates genannten indirekten Zugang. Die Definition unseres archäologischen Kulturbegriffs ist viel zu offen und in den Grenzen zu un-scharf, um eine Gleichsetzung von archäologischer Kultur mit Volk oder ge-schlossener Sprachgemeinschaft im Sinne einer politisch gleichgerichtet han-delnden Gruppe zu erlauben. Ihre Kongruenz ist bestenfalls als Idealfall denk-bar, aber a priori unwahrscheinlich. — Wir Archäologen wissen von der Insta-

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I. Zur Einleitung196

bilität und Kurzlebigkeit früher Gesellschaften, wir wissen von den verschie-densten Faktoren sozialer Kohärenz, unter denen die Sprache nur einer ist -sicher ein wichtiger - aber doch nur einer aus dem Bereich der Kommunikati-ons-ebene. Wir Archäologen verfolgen stets nur Teilbereiche kultureller Ent-wicklungen innerhalb offener, sich wandelnder Gemeinschaften ohne klare Grenzen. — Kulturzusammenhänge, wie sie sich zum Beispiel in Heiratsge-meinschaften bestimmter Oberschichten oder im Spiegel von Bestattungssitten erfassen lassen, verfügen über ganz andere Grenzen als etwa zeitgleiche Sied-lungstypen in ihrer landschaftlichen Gebundenheit. Welche dieser beiden Kul-turaspekte und welche anderen sind nun für Sprachzusammenhänge relevant? Mit dem uns zur Verfügung stehenden Methodenapparat werden wir es nie herausbekommen. — Der archäologische Kulturbegriff setzt sich aus so vielen Strängen zusammen, daß er von Natur aus in den Konturen unscharf sein muß. Ganz anders ist es bei den Sprachen. Selbstverständlich gibt es Zusammenhän-ge, niemand kann sich kulturelle Verbindungen ganz ohne sprachliche Ver-ständigungsmöglichkeiten vorstellen. Archäologen sind aber nahezu überfor-dert, wenn sie Gleichsetzungen zwischen ihrem offenen, verschiedene Bezugs-ebenen zusammenfassenden Kulturbegriff und der einen Ebene der Sprachge-meinschaft wagen. Denk- und Erkenntnisbereiche von Sprachforschern und Archäologen sind so grundsätzlich verschieden, daß allenfalls Berührungs-punkte oder -partien erwartet werden können, nie aber Parallelismen oder Deckungsgleichheit. Der Vorteil der Sprachforschung ist die Trennschärfe zwischen Einzelsprachen und die Gesetzlichkeit von Entwicklungsverläufen. Die Stärke der Archäologie liegt in der Genauigkeit von Zeitansätzen. Was der eine kann, fehlt dem anderen. Sie könnten sich wunderschön ergänzen, wenn es nur ausreichend Berührungsflächen gäbe.“

2) Zur Lokalisierung der uridg. Sprachgemeinschaft kann nichts Genaueres gesagt werden. Aus der Lage von späteren Sprachen wie Griechisch, Anato-lisch und Indo-Iranisch wird gern ein Landstrich nördlich des Schwarzen Mee-res in Südrußland als Heimat abstrahiert: % Urheimat 1968 (Stellungnahmen von verschiedenen Autoren aus den Jahren 1892-1963). Für die Region süd-lich des Kaukasus: % Gamkrelidze / Ivanov IE and IEs I 1995 p. 850f.; Th. V. Gamkrelidze, Neueres zum Problem der indogermanischen Ursprache und der indogermanischen Urheimat in ZVS 100 1987 p. 366-377.

3) Der rekonstruierbare Wortschatz läßt einige Aussagen zur Kultur der uridg. Sprachgemeinschaft zu. Die uridg. Sprecher betrieben Viehzucht und Viehhaltung (vgl. uridg. *gýó¾- ‘Rind’, uridg. *h2ó¾i- ‘Schaf’, uridg. *���2-‘hüten, auf die Weide führen’ und *poh2i-mén- [Einzelheiten zum Ansatz: %

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Hackstein Sigmat. Präsensstammbildungen 1995 p. 176f.] ‘Hirt’, uridg. *�%u)¾ón- ‘Hund’ u.a.m.).

Eine Zusammenfassung versucht B. Forssman: % Sprache - Fünf Vor-träge 1991 p. 63f. (die eckigen Klammern im zitierten Text stammen von mir; dort wird auf entsprechende uridg. Formen hingewiesen): „Aus der Rinderhaltung ergaben sich Milch [vgl. gr. '0�� ��0� 0� ��und lat. lact-]und Melken [vgl. uridg. *d£e¾g£-: % LIV 1998 p. 129], aus der Schafhal-tung Wolle [uridg. *h2¾©h1-���2-: % M. Peters in Sprache 33 1987 p. 114f.] und Wollverarbeitung [vgl. uridg. *pe�- ‘(Wolle oder Haare) rup-fen’ und uridg. *kes- ‘Wolle kämmen’: % N. Oettinger in MSS 53 1992 p. 149f.]... Wie andere Viehzüchtergesellschaften, lebten auch die Sprecher des Urindogermanischen in Großfamilien [vgl. uridg. *dem- ‘Haus(clan, -gemeinschaft)’ und uridg. *¾i�- ‘Ansiedlung(s-clan, -gemeinschaft)’: %Mayrhofer EWAia I p. 697 und II p. 561; vgl. auch L 217 Abs. 1]. An der Spitze der Großfamilie stand der Hausherr [uridg. *déms póti-: % Mayr-hofer EWAia I p. 699; vgl. auch F 320 Abs. 1 und W 211]; die verheirate-ten Söhne [uridg. *suH-�u- bzw. *suH-nu-: % Mayrhofer EWAia II p. 741] gehörten auch zur Großfamilie und waren mit ihren Angehörigen demHausherrn untergeordnet. ... Aber eine reine Männerherrschaft galt in den Familien sicher nicht; schon daß die Hausfrau als ‘Herrin’ [uridg. *potnih2-: % Mayrhofer EWAia II p. 74f.; vgl. auch L 211 Abs. 4] be-zeichnet wurde, deutet auf ihre geachtete Stellung. ... Man verehrte mehre-re Götter, es war eine polytheistische Religion. Unter den Göttern waren Naturmächte wie der Vater Himmel [uridg. Vok. *d(i)�é¾ ph2ter: %Mayrhofer EWAia I p. 751; vgl. auch F 318 Abs. 6a] ..., die Mutter Erde [uridg. *d£éœ£om-, s.u. F 321 Abs. 1], die Morgenröte [uridg. *h2é¾s-os-:% Mayrhofer EWAia I p. 236; vgl. auch L 310, F 321 Abs. 2, W 303]. ... Der Mensch betrachtete sich ... als Gegenstück der Götter; er nannte sei-nesgleichen „den Irdischen“ [vgl. uridg. *d£œ£óm-io-: % Meid Gaulish in-scriptions 1992 p. 22; vgl. auch gr. �%�,�����“Mensch“ < *�dhro-h3k

w-ó-„unten befindlich“: % Verweis auf G. Klingenschmitt bei I. Balles in GS Schindler 1999 p. 9 Anm. 16] und „den Sterblichen“ [uridg. *mμ-tó-: %Mayrhofer EWAia II p. 327]. Aber der Tod [uridg. *mμ-ti-, s.u. F 317 Abs. 7] konnte durch unzerstörbaren Ruhm ... überwunden werden ... so glaubten offenbar unsere fernen sprachlichen Vorfahren. Der urindoger-manische Ausdruck *�lé¾os �d£gý£itom ‘unzerstörbarer Ruhm’ läßt sich nämlich rekonstruieren. Darin bedeutet *�lé¾os eigentlich die ‘gehörte Kunde’ ... In einer Gesellschaft ganz ohne Schrift ... verbreitete sich der Ruhm vor allem durch mündliches Weitergeben von seiten des dichtenden Sängers und durch hörendes Aufnehmen von seiten der anderen Men-

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schen, etwa bei einem Götterfest. Worin bestand der Menschen Ruhm, von dem damals die Dichter ... sangen und sprachen? Sicher weitgehend in großen Kampfestaten der Männer [vgl. uridg. *¾iH-&-: % Mayrhofer EWAia II 569f.]. Die urindogermanische Sprechergemeinschaft bekannte sich zum Heldentum und damit grundsätzlich auch zur Unterjochung des Schwächeren. Völker indogermanischer Sprachen haben im Laufe der Zeit große Teile der Welt erobert.“

4) Kleine Literaturauswahl zu einzelnen der genannten Themen-bereiche. — a) Zu mehreren Bereichen: % Buck Dict. of select. Syn. 1949; Hehn Cultivated Plants and Domesticated Animals (1885) 1976; Stud. z. idg. Wortschatz 1987; Scardigli Weg zur deutschen Sprache 1994 p. 43ff.; Gamkrelidze / Ivanov IE and IEs I 1995 p. 377ff. (Part Two: Se-mantic Dictionary of the Proto-Indo-European Language and Reconstruc-tion of the Indo-European Proto-Culture); Mallory / Adams Encyclopedia 1997; A. Häusler in RGA 15 2000 s.v. Indogermanische Altertumskunde;� ders. Urkultur der Indogermanen und Bestattungsriten in Languages in Prehistoric Europe 2003 p. 49ff. — b) Speziell zu den Problemen rund um das Pferd: % FS Schlerath 1992 [1994]; P. Raulwing, Pferd, Wagen und Indogermanen: Grundlagen, Probleme und Methoden der Streitwagenfor-schung in Fachtagung Innsbruck 1996 [1998] p. 523ff.; ders. Horses 2000; ders. in DNP 9 2000 s.v. Pferd. — c) Zur Sozialstruktur: % Benveniste Institutions I + II 1969; B. Schlerath, Können wir die urindogermanische Sozialstruktur rekonstruieren? Methodologische Erwägungen in Stud. z. idg. Wortschatz 1987 p. 249-264; S. Zimmer, Linguistische Rekonstrukti-on und Geschichte in Bopp-Symposium 1992 [1994] p. 302-313. — d) Zur Religion: % G. E. Dunkel, Vater Himmels Gattin in Sprache 34 1988-1990 [1992] p. 1-26 und Sprache 35 1991-1993 p. 1; B. Schlerath, Religi-on der Indogermanen in Fachtagung Innsbruck 1996 [1998] p. 87ff. — e) Zur Dichtersprache: % Schmitt Dichtersprache 1967; Indogermanische Dichtersprache 1968; Watkins How to kill a dragon 1995. � Arbeitsta-gung Langue poétique Paris 2003 (2006).

E 513. Die idg. Einzelsprachen haben sich mit Sicherheit von einer älteren Einheit aus auseinanderentwickelt, s.o. E 435 Abs. 5. Fraglich ist aber das konkrete Wie der Ausgliederung aus der Ursprache. Es sind dazu ver-schiedene Hypothesen formuliert worden.

1) Das adäquateste Modell für das Verständnis unserer Rekonstrukte bleibt weiterhin der von A. Schleicher zuerst vorgeschlagene Stammbaum: %Schleicher Compendium 1866 p. 9. Alle andern Modelle (auch die gleich zu

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nennenden von J. Schmidt und O. Höfler) kranken daran, daß sie zwar beob-achtbaren Sprachentwicklungen gut Rechnung tragen, daß sie aber nicht im Rahmen der einheitlichen Rekonstrukte anwendbar und überprüfbar sind, wie wir sie notwendigerweise bei unserer Arbeit erhalten, s.o. E 507 Abs. 4, ferner H. Rix a.O. in E 426 Abs. 1. — J. Schmidt hat dem Stammbaum das Bild der Welle entgegengesetzt, „welche sich in concentrischen mit der entfernung vom mittelpunkte immer schwächer werdenden ringen ausbreitet“: % Schmidt (J.) Verwandtschaftsverhältnisse 1872 p. 27f. — Über J. Schmidt hinaus führt O. Höfler Stammbaumtheorie, Wellentheorie, Entfaltungstheorie in PBB 77 1955 p. 30ff. Zum Gesamtkomplex im Lichte numerisch-taxonomischer Klassifika-tionsverfahren: % H. Goebl ‘Stammbaum’ und ‘Welle’ in Zeitschrift für Sprachwissenschaft 2 1983 p. 3-44.

2) Genausowenig wie über die Lokalisierung der Urheimat und über die Bestimmung der Zeit des Urindogermanischen Sicherheit zu gewinnen ist (s.o. E 511 und E 512 Abs. 2), kann Genaues darüber erschlossen werden, wie sich die uridg. Sprachgemeinschaft in nachgrundsprachlicher Zeit aufgelöst und verändert hat. Mehrere Modelle sind denkbar: so die Neulandgewinnung von einer Stammregion aus durch Eroberungszüge oder Ausdehnung des Sprach-gebietes im Gefolge einer durchaus friedlichen Ausbreitung der Landwirt-schaft. Das erstere, die Eroberungszüge, haben m.E. einiges für sich (s.o. E 512 Abs. 3 am Ende zum Heldentum). „Mir scheinen die kriegerischen Opera-tionen für die Ausbreitung der Indogermanen ungleich wichtiger als die Völ-kerverschiebungen der ackerbautreibenden Bevölkerungen, die sich unter ih-rem Schirm bzw. in ihrer Nachfolge vollzogen. So gewinne ich nämlich unmit-telbaren Anschluß an das, was wir von der indogermanischen Eroberung Kleinasiens, Irans und Griechenlands annehmen müssen, und ich kann die kel-tische Wanderung und die germanische Völkerwanderung als unmittelbare Fortsetzer unter ganz gleichartigen Bedingungen betrachten“: % B. Schlerath in ZVS 95 1981 p. 199. Ein ungelöstes Problem: Warum sind die Eroberungs-züge i.d.R. archäologisch nicht faßbar?

3) Wir haben uns hier ganz klar für das ‘divergierende Stammbaum-Modell’ (einheitliche urindogermanische Grundsprache mit späterer Auf-spaltung in Tochtersprachen) ausgesprochen, s. o. E 435 Abs. 5. Es ist aber nicht zu verschweigen, daß ihm ein ‘konvergierendes Sprachbund-Modell’ (in räumlichem und zeitlichem Kontakt stehende Sprachen [sie müssen nicht unbedingt miteinander verwandt sein], die sprachliche Ele-mente und Regeln miteinander austauschen, gemeinsam erwerben und entwickeln) entgegengesetzt worden ist. Zu den prominenten Befürwor-tern gehört N. S. Trubetzkoy (% Text von 1939 abgedruckt in Urheimat

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1968 p. 214f.: „Ganz unmöglich ist die Vermutung einer indogermanischenUrsprache nicht. Sie ist aber auch gar nicht notwendig, und man kann sehr gut auch ohne sie auskommen. Der Begriff ‚Sprachfamilie‘ setzt gar nichtdie gemeinsame Abstammung einer Anzahl von Sprachen vor einer einzi-gen Ursprache voraus. Als Sprachfamilie bezeichnen wir eine Gruppe von Sprachen, in denen eine beträchtliche Anzahl von lexikalischen und mor-phologischen Elementen gesetzmäßige Entsprechungen zeigt. Um die Ge-setzmäßigkeit der Lautentsprechungen zu erklären, braucht man aber die Vermutung der gemeinsamen Abstammung nicht, da eine solche Gesetz-mäßigkeit auch beim Lehnverkehr zwischen benachbarten unverwandten Sprachen entsteht (die sogenannten ‚Fremdlautgesetze‘). Und Überein-stimmung in rudimentären Elementen des Wortschatzes und der Formen-lehre ist auch kein Beweis für gemeinsame Abstammung, da alle Elemente der menschlichen Sprache entlehnbar sind. … Es gibt also eigentlich gar keinen zwingenden Grund zur Annahme einer einheitlichen indogermani-schen Ursprache, von der die einzelnen indogermanischen Sprachzweige abstammen würden. Ebenso gut denkbar ist, daß die Vorfahren der indo-germanischen Sprachzweige ursprünglich einander unähnlich waren, sich aber durch ständigen Kontakt, gegenseitige Beeinflussung und Lehnver-kehr allmählich einander bedeutend genähert haben, ohne jedoch jemals miteinander ganz identisch zu werden.“ Vgl. ferner A. Häusler Archäolo-gie, das Indogermanenproblem und der Ursprung der Hellenen in Ohlstadt 1996 [1998] p. 79-123.

Der These eines ‘konvergierenden Sprachbunds’ ist aber gleich zu widersprechen. Allen indogermanischen Sprachen liegt nämlich die gleiche uridg. Flexionsmorphologie zu Grunde. Wie H. Rix deutlich macht, ist es gerade diese morphologische Gleichheit, die gegen das Sprachbund-Modell und für das Stammbaum-Modell spricht (% InL 17 1994 1994 18f.; ähnlich argumentiert übrigens auch G. Neumann in Ohlstadt 1996 [1998] 262f.): „Sprachliche Elemente und Regeln werden nicht ad libitum ausgetauscht, jedenfalls nicht in der langue. Für die Übernahme aus einer anderen Sprache gibt es stets ein Motiv, in der Phonetik die Imitation eines Idioms mit höherem Prestige oder mit exotischem Reiz, in der Lexik die Benennung einer übernommenen Sache oder wieder die aus einer prestige-höheren Sprache, in der Syntax eine als bequem oder vorbildlich empfun-denen Regel etc.; dieses Motiv gilt es zu ermitteln. … Entlehnungen und Übernahmen sind bei offenen Subsystemen der Sprache verständlicherwei-se leichter als bei geschlossenen, in denen ein neues Element schwerer ein-zubauen ist. Offene Subsysteme sind Lautstand und Lexikon, in geringe-rem Umfang auch die Syntax. Andererseits ist die Flexionsmorphologie

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das geschlossene Subsystem par excellence. Wer also die Frage nach ei-nem ‚Uritalischen‘ stellt, muß diese bei Sprachen von der typologischen Struktur der altindogermanischen aus der Flexionsmorphologie beantwor-ten. Auch die Verwandtschaft der indogermanischen Sprachen ist ja nicht über Phonetik, Lexikon oder Syntax entdeckt worden, sondern über das Konjugationssystem.“

(4) Seit Hans Krahe gibt es Versuche, über die sprachliche Analyse der alteuropäischen Hydronymie Aussagen über die (wohl uridg.) Sprache ihrer Schöpfer zu erhalten: % W. P. Schmid Alteuropäische Gewässerna-men in Onomastik 1995 p. 756-762; ders. Schriften 1994 passim. Das Ma-terial ist aber sehr problematisch. Die umstrittene These eines ‘konvergie-renden Sprachbunds’ spielt auch hier eine zentrale Rolle. Kritisches dazu: % Th. Andersson Zur Geschichte der Theorie einer alteuropäischen Hydronymie in Probleme der Namenbildung 1986 [1988] p. 59-90. Ferner s.u. W 305 Abs. 3. — � Neuere Stellungnahme von G. Klingenschmitt im Sammelband „Gene, Sprachen und ihre Evolution“ (Hrsg. G. Hauska, Re-gensburg 2005) p. 130-132 (plädiert doch für idg. Herkunft der alteuropä-ischen Hydronomie).

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