Industrieroboter, Automatisierung, Forschung Innovative ... · Dragoljub Surdilovic...

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Titelthema – Bericht Copyright Springer-VDI-Verlag GmbH & Co. KG, Düsseldorf wt Werkstattstechnik online Jahrgang 107 (2017) H. 9 600 Industrieroboter, Automatisierung, Forschung Innovative Roboteranwendung: das Experiment Catch D. Surdilovic, J. Surdilovic, R. Fernandez Das nachfolgend näher beschriebene Projekt aus dem Umfeld der Automatisierung er- scheint auf den ersten Blick ein wenig exo- tisch. Es dient jedoch als anschauliches Bei- spiel, welche weiteren Anwendungsfelder sich mit Robotern und Automationskomponenten – außerhalb der üblichen industriellen Gebie- te wie Automobilindustrie oder Fertigungs- technik – erschließen lassen. Die Herausfor- derungen sind dabei zum Teil ähnlich und die Erkenntnisse auf das jeweils andere Gebiet übertragbar. Gurkenernte ist eine aufwendige und kräftezehrende Handarbeit. Üblicherwei- se werden die Gurken mit sogenannten Gurkenfliegern geerntet. Dabei handelt es sich um landwirtschaftliche Fahrzeuge mit angebauten Tragflächen, auf denen Erntehelfer bäuchlings liegen und die Gurken pflücken. Bis zu 50 Personen ar- beiten auf einem Gurkenflieger (Bild 1). Rentable Automation ersetzt ungesunde mühsame Handarbeit Diese Form der Ernte ist aufgrund der mühsamen Handarbeit nicht wirtschaft- lich, sodass Gurkenanbau ohne verbes- serte Erntetechnologien in Deutschland bald nicht mehr rentabel sein wird. Auch gesundheitliche sowie soziale Aspekte sprechen für einen Ausbau von Automati- sierung in der Gurkenernte. Die anstren- gende, nicht ergonomische und damit ungesunde Arbeit wird hauptsächlich von saisonalen Arbeitern, oft aus Osteuropa, ausgeführt. Viele deutsche Anbauregio- nen sind deshalb bereits nicht mehr vor- handen, der Gurkenanbau verlagert sich zunehmend nach Osteuropa und Indien. Forscher im Echord++ Projekt „Cucumber Gathering – Green Field Experiments“ (Catch) haben sich daher zum Ziel ge- setzt, das Automatisierungspotential in diesem Umfeld zu untersuchen. Qualität als Herausforderung Bereits in einem 2013 abgeschlosse- nen Vorgängerprojekt hatte das Leibniz- Institut für Agrartechnik und Bioökono- mie (ATB) Potsdam an der Entwicklung eines vollmechanischen Ernters für Einle- gegurken mitgewirkt. Dieser hatte laut ATB-Institutsangaben jedoch den Nach- teil, dass er die Pflanzen aus dem Boden zog, wodurch mehrmaliges Durchpflücken unmöglich wurde. Auch die Qualität der Gurken wurde beeinträchtigt. Mit dem ak- tuellen Ansatz der „intelligenten auto- matisierten Gurkenernte“ lassen sich die- se Probleme beseitigen. Das Projekt wird mit EU-Mitteln gefördert. Ziele: Effizienz und Feingefühl Im Projekt Catch wird ein aus Leicht- baumodulen aufgebautes, kostengünsti- Dr.-Ing. Dragoljub Surdilovic Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik IPK Pascalstr. 8–9, D-10587 Berlin Tel. +49 (0)30 / 39006-172 E-Mail: [email protected] Internet: www.ipk.fraunhofer.de Dipl.-Ing. Jelena Surdilovic Leibniz-Institut für Agrartechnik und Bioökonomie, ATB Potsdam Max-Eyth-Allee 100, D-14469 Potsdam Tel.+49-(0)331 / 5699-918, Fax +49 (0)331 / 5699-849 E-Mail: [email protected] Internet: www.atb-potsdam.de Dr. Roemi Fernandez CSIC-UPM Centre for Automation and Robotics Ctra. Campo Real Km. 0,200 La Poveda Arganda del Rey ES-28500 Madrid E-Mail: [email protected] Internet: www.car.upm-csic.es Bild 1. Ein Ziel des Gemeinschaftsprojekts „Catch“ ist unter anderem, mit dem Einsatz einer effizienten Automationslösung mühsame Handarbeit abzulösen. ATB

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Titelthema – Bericht

Copyright Springer-VDI-Verlag GmbH & Co. KG, Düsseldorfwt Werkstattstechnik online Jahrgang 107 (2017) H. 9600

Industrieroboter, Automatisierung, Forschung

Innovative Roboteranwendung: das Experiment CatchD. Surdilovic, J. Surdilovic, R. Fernandez

Das nachfolgend näher beschriebene Projekt aus dem Umfeld der Automatisierung er-scheint auf den ersten Blick ein wenig exo-tisch. Es dient jedoch als anschauliches Bei-spiel, welche weiteren Anwendungsfelder sich mit Robotern und Automationskomponenten – außerhalb der üblichen industriellen Gebie-te wie Automobilindustrie oder Fertigungs-technik – erschließen lassen. Die Herausfor-derungen sind dabei zum Teil ähnlich und die Erkenntnisse auf das jeweils andere Gebiet übertragbar.

Gurkenernte ist eine aufwendige und kräftezehrende Handarbeit. Üblicherwei-se werden die Gurken mit sogenannten Gurkenfliegern geerntet. Dabei handelt es sich um landwirtschaftliche Fahrzeuge mit angebauten Tragflächen, auf denen Erntehelfer bäuchlings liegen und die Gurken pflücken. Bis zu 50 Personen ar-beiten auf einem Gurkenflieger (Bild 1).

Rentable Automation ersetzt ungesunde mühsame Handarbeit

Diese Form der Ernte ist aufgrund der mühsamen Handarbeit nicht wirtschaft-lich, sodass Gurkenanbau ohne verbes-serte Erntetechnologien in Deutschland bald nicht mehr rentabel sein wird. Auch gesundheitliche sowie soziale Aspekte sprechen für einen Ausbau von Automati-sierung in der Gurkenernte. Die anstren-gende, nicht ergonomische und damit ungesunde Arbeit wird hauptsächlich von saisonalen Arbeitern, oft aus Osteuropa, ausgeführt. Viele deutsche Anbauregio-nen sind deshalb bereits nicht mehr vor-handen, der Gurkenanbau verlagert sich zunehmend nach Osteuropa und Indien. Forscher im Echord++ Projekt „Cucumber Gathering – Green Field Experiments“ (Catch) haben sich daher zum Ziel ge-setzt, das Automatisierungspotential in diesem Umfeld zu untersuchen.

Qualität als Herausforderung

Bereits in einem 2013 abgeschlosse-nen Vorgängerprojekt hatte das Leibniz-Institut für Agrartechnik und Bioökono-mie (ATB) Potsdam an der Entwicklung

eines vollmechanischen Ernters für Einle-gegurken mitgewirkt. Dieser hatte laut ATB-Institutsangaben jedoch den Nach-teil, dass er die Pflanzen aus dem Boden zog, wodurch mehrmaliges Durchpflücken unmöglich wurde. Auch die Qualität der Gurken wurde beeinträchtigt. Mit dem ak-tuellen Ansatz der „intelligenten auto-

matisierten Gurkenernte“ lassen sich die-se Probleme beseitigen. Das Projekt wird mit EU-Mitteln gefördert.

Ziele: Effizienz und Feingefühl

Im Projekt Catch wird ein aus Leicht-baumodulen aufgebautes, kostengünsti-

Dr.-Ing. Dragoljub Surdilovic Fraunhofer-Institut für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik IPK Pascalstr. 8–9, D-10587 Berlin Tel. +49 (0)30 / 39006-172 E-Mail: [email protected] Internet: www.ipk.fraunhofer.de

Dipl.-Ing. Jelena Surdilovic Leibniz-Institut für Agrartechnik und Bioökonomie, ATB Potsdam Max-Eyth-Allee 100, D-14469 Potsdam Tel.+49-(0)331 / 5699-918, Fax +49 (0)331 / 5699-849 E-Mail: [email protected] Internet: www.atb-potsdam.de

Dr. Roemi Fernandez CSIC-UPM Centre for Automation and Robotics Ctra. Campo Real Km. 0,200 La Poveda Arganda del Rey ES-28500 Madrid E-Mail: [email protected] Internet: www.car.upm-csic.es

Bild 1. Ein Ziel des Gemeinschaftsprojekts „Catch“ ist unter anderem, mit dem Einsatz einer effizienten Automationslösung mühsame Handarbeit abzulösen. ATB

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ges Dual-Arm-Robotersystem entwickelt und getestet. Es soll für die automati-sierte Gurkenernte, aber auch für andere (landwirtschaftliche) Anwendungen nutzbar sein. Das Endprodukt soll kos-tengünstig sein und auch unter rauen Bedingungen (Wind oder Regen) ein-wandfrei funktionieren. Zudem muss das automatisierte System mindestens so ef-fizient und leistungsstark sein, wie die manuelle Ernte. Zum Vergleich: Ein geüb-ter Erntehelfer schafft bis zu 13 Gurken pro Minute.

Das Projekt setzt daher auf ein Dual-Arm-Robotersystem, für das in vorheri-gen Projekten bereits fortgeschrittene Steuerungsverfahren entwickelt wurden. Sie erlaubt dem Roboter nicht nur taktile Feinfühligkeit und Anpassungsfähigkeit an die Umgebungsbedingungen, sondern gestatten ihm auch, menschliche Bewe-gungen nachzuahmen.

Die kostengünstigen Roboterarme mit je fünf Freiheitsgraden wurden aus dem „Robolink“-Programm der igus GmbH, Köln, zusammengestellt. Im Robolink-Programm bietet der Anbieter aus Nord-

rhein-Westfalen neben günstigen Kom-ponenten aus schmier- und wartungsfrei-en Kunststoffen auch komplett vormon-tierte Gelenkarme (Bild 2).

In grünem Umfeld grüne Objekte erkennen

Optisches und taktiles Erfassen, Beur-teilen und Bewerten sowie anschließend die passenden Handgriffe richtig auszu-führen, ist eine große Herausforderung für autonome Systeme. Das Erkennen der Gurken, die häufig teilweise oder sogar ganz von Blättern verdeckt werden, de-ren Farbe zudem ähnlich ist, stellt eine wichtige Aufgabe für das Projekt Catch dar. Veränderliche Lichtverhältnisse ma-chen diese Aufgabe noch schwieriger, ebenso wie die unregelmäßigen, zufällig angeordneten Positionen der Früchte.

Innerhalb des Catch-Projektes widmet sich diesem Thema der Spanish National Research Council (CSIC) aus Madrid. Mit-hilfe eines Kamera-Systems – bestehend aus einer RGB-Kamera mit Filtern und ei-ner 3D-TOF-Kamera – sowie intelligenter Bildverarbeitung werden die Gurken in einer realen Umgebung mit relativ hoher Trefferquote (> 98 %) registriert und lo-kalisiert (Bild 3). Die Informationen von Multispektralkameras sollen helfen, die Roboter-Arme an die richtige Stelle um die Gurken zu positionieren, um das Pflü-cken überhaupt erst möglich zu machen.

Innovative Steuerung und mechatronische Lösung

Im europäischen Projekt „Pisa“ [1] hat das Fraunhofer IPK für den „Worker-bot I“ eine Dual-Arm-Robotersteuerung mit effizienter aufgabenorientierter Pro-grammierung entwickelt. Diese wird den

Bild 2. Projekt Catch: links die Vision als 3D-Abbildung, rechts der Experiment-Prototyp Fraunhofer IPK

Bild 3. Objekterkennung (Gurken): a) RGB-Bild, b) Klassifizierungsmappe, c) extrahierte BLOBs und d) Vergleich mit „Boden-Wahrheit“ Fraunhofer IPK

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Arbeiten in Catch zugrunde gelegt und für die Planung, Programmierung und Re-gelung des Roboter-Verhaltens bei der Gurkenernte erweitert. Die vorprogram-mierten Verhaltensmuster ermöglichen dem Roboter das bi-manuelle Suchen der Gurken (Entfernen der Blätter) nach menschlichem Vorbild (etwa durch sym-metrische und asymmetrische oder kon-gruente und inkongruente Bewegungen) sowie ein automatisches On-the-Fly-Wechseln zum Annähern an die identifi-zierte Frucht und anschließendem Grei-fen. Eine intelligente Steuerung mit „Ur-teilsvermögen“ verteilt die Aufgaben zwischen den Armen und kümmert sich um die Überwachung des Pflückprozesses sowie die Behandlung von Ausnahmen.

Um ein komplexes Greifen und Ab-schneiden der Gurken zu realisieren, wer-den drei verschiedene Greifer-Prototypen entwickelt: einer auf Basis von Vakuum-Technik, einer mit bionischen Greifba-cken (FinRay) sowie eine auf Basis der „OpenBionics-Hand“ modifizierte „Gur-ken-Hand“.

Ausblick

Obwohl Catch ein vergleichsweise kleines Projekt ist, ist die Motivation da-hinter beträchtlich. Das rege Interesse der Forscher in den drei beteiligten For-schungseinrichtungen Fraunhofer IPK, CSIC Madrid und ATB Potsdam, der Part-ner-Unternehmen igus GmbH und ME-Meßsysteme GmbH, sowie zahlreicher po-

tentieller Nutzer aus der Agrarwirtschaft sprechen dafür. Im Juli 2017 wurde ein Feldtest des Systems auf dem Versuchs-feld des ATB mit verschiedenen Gurken-Sorten durchgeführt. Dabei wurde auch die Ernte ganz neuer Sorten getestet, die erst kürzlich experimentell gezüchtet wurden – mit Merkmalen, die eine auto-matische Erkennung erleichtern. Auch dieses Zuchtexperiment belegt das große Interesse an einer automatisierten Gur-kenernte. Ab Herbst werden die Experi-mente in einem „ATB Glashaus“ in Pots-dam-Marquardt fortgesetzt. Die Ergebnis-se und weitere Informationen zum Pro-jekt finden sich unter http://catch-echord.blogspot.de. Dort besteht auch die Möglichkeit, das Thema zu diskutie-ren. □