Inhalt · ist deutsche Politik?Vorausschauende Regierungsführung als Grundlage...

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Inhalt Vorwort .................................... 9 Einführung .................................. 11 I. Sicherheit und Völkerrechtsordnung: Kollektive Sicherheit und nationale Alleingänge Matthias Herdegen Sicherheit in der modernen Völkerrechtsordnung ............. 17 Ulrich Schlie Weltordnung: Zur Zukunft der Staatenwelt ................. 29 Jörg Forbrig Russland und der Westen: Vom schwierigen Partner zum systemischen Widersacher .................................. 43 Xuewu Gu Chinas Aufstieg zur Großmacht und seine Herausforderungen für den Westen ..................................... 57 Jackson Janes Prinzip, Politik und Zweck: Das Gleichgewicht von Werten und Interessen ................................... 67 Christoph Raab Deutschlands Sicherheitspolitische Rolle im 21. Jahrhundert. Ein Plädoyer für eine Anpassung des Sicherheitsbegriffs ......... 77

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

I. Sicherheit und Völkerrechtsordnung: Kollektive Sicherheit undnationale Alleingänge

Matthias HerdegenSicherheit in der modernen Völkerrechtsordnung . . . . . . . . . . . . . 17

Ulrich SchlieWeltordnung: Zur Zukunft der Staatenwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

Jörg ForbrigRussland und der Westen: Vom schwierigen Partner zum systemischenWidersacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43

Xuewu GuChinas Aufstieg zur Großmacht und seine Herausforderungen für denWesten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

Jackson JanesPrinzip, Politik und Zweck: Das Gleichgewicht von Werten undInteressen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

Christoph RaabDeutschlands Sicherheitspolitische Rolle im 21. Jahrhundert.Ein Plädoyer für eine Anpassung des Sicherheitsbegriffs . . . . . . . . . 77

Karl-Heinz KampDie Macht der Institutionen: NATO, EU und OSZE . . . . . . . . . . . . 87

Joachim KrauseVor welchen Aufgaben steht die deutsche Verteidigungspolitik? . . . . . 93

II. Globale Herausforderungen

Wolfgang IschingerDie Ukrainekrise und die europäische Sicherheitsordnung . . . . . . . . 101

Harald MüllerSicherheitspolitik heute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

August HanningKampf gegen den Terror . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

Oliver GnadWie strategiefähig ist deutsche Politik? VorausschauendeRegierungsführung als Grundlage zukunftsrobuster Entscheidungen . . . 125

Stefan HeumannSicherheit im Cyberraum: Eine Kritik des nationalstaatlichenSicherheitsdenken angesichts eines globalen Netzwerks . . . . . . . . . . 141

Matthew Smith, Matthew GreenHintertüren: Effektivität, Kollateralschäden und Ethik . . . . . . . . . . . 153

Jakob RhynerUmweltrisiken und menschliche Sicherheit im Kontext des globalenWandels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

Friedbert PflügerEuropas Erdgassektor und das Streben nach Energiesicherheit –Geopolitik, aktuelle Entwicklungen und Auswirkungen auf die breitereSicherheitsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177

Lena GuesnetKonfliktrohstoffe und menschliche Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . 187

Inhalt6

Stephan Klingebiel, Annamarie Bindenagel SehovicEine funktionsfähigere globale Gesundheitspolitik: Empfehlungen vordem Hintergrund der Ebola-Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

III. Implikationen für Deutschland

Herfried MünklerDeutschlands internationale Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . 209

Hans-Dieter HeumannDeutschlands sicherheitspolitische Verantwortung . . . . . . . . . . . . . 215

Karl KaiserTransatlantische sicherheitspolitische Verantwortung . . . . . . . . . . . 223

Tilman MayerDemografie als sicherheitspolitische Herausforderung . . . . . . . . . . . 231

IV. Fazit

James BindenagelSicherheitspolitische Verantwortung und Strategische Wissenschaft im21. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

Inhalt 7

Einführung

Noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts schien Europa tatsächlich in einem»postmodernen« Paradies (Robert Cooper) am »Ende der Geschichte« (FrancisFukuyama) angelangt zu sein. Mit den Balkankriegen waren die letzten ge-waltsamen Auseinandersetzungen auf dem alten Kontinent offensichtlich be-endet. Mit der Erweiterung der EuropäischenUnion und des Nordatlantikpaktesüber die ehemalige Blockgrenze hinaus sah es so aus, als sei eine tragfähigeFriedensarchitektur für den Kontinent etabliert.

Diese Hoffnungen wurden jedoch mit Russlands Annexion der Krim und derIntervention in der Ost-Ukraine sowie dem damit verbundenen Bruch der beimEnde des Kalten Krieges getroffenen Vereinbarungen zerstört. Der MittlereOsten ist zu einem Hort schwer entwirrbarer Konflikte geworden. Die Bedro-hung durch den Terrorismus hat mit demAufstieg von ISIS eine neue Steigerungerfahren. Die Unsicherheit eines friedlichen Aufschwungs Chinas stellt AsiensStabilität in Frage. Politisch und wirtschaftlich zeichnen sich tektonische Ge-wichtsverschiebungen zugunsten des pazifischen Raumes ab.

Während des Kalten Krieges stellten Nuklearsprengköpfe und Panzerdivi-sionen die größte Gefahr für die Sicherheit des Westens dar. Heutzutage ist dieBedrohungslage jedoch wesentlich vielfältiger. Neben Terrorismus sind esFlüchtlingsströme, Ressourcen- und Verteilungskonflikte, aber auch Unterent-wicklung, globale Epidemien, Klimaveränderung, Sicherheit der Lebensmittel-versorgung, Rechtsstaatlichkeit und Informationstechnologie, die eine voraus-schauende Sicherheitspolitik vor schwierige Herausforderungen stellen.

25 Jahre nach dem Ende des Ost-West-Konflikts wird Europa nicht mehr alsein Hort der Stabilität und Vorbild für andere Regionen der Welt empfunden,sondern zunehmend als Brand- und Krisenherd. Auf europäischem Boden fin-det wieder ein Krieg statt, auch wenn ihn manche nicht so nennen wollen.

Der Einigungsprozess der Europäischen Union hatmit den Entwicklungen zuGrexit und Brexit schweren Schaden genommen. Hinzu kommen offene Inter-essengegensätze in der europäischen Flüchtlingspolitik. Die Rolle Deutschlandsim Zentrum des Kontinents wird von seinen Partnern zunehmend kritisch ge-

sehen. Wichtige Dialogfäden zu Russland sind im Zuge der Ukraine-Krise fastvöllig abgerissen und im Verhältnis zu den Vereinigten Staaten werden grund-sätzliche Fragen über die Natur der Partnerschaft und der Sicherheitsgarantieneu diskutiert.

Immer stärker findet sich Deutschland im europäischen Kontext in einerungewollten Führungsrolle wieder. Trotz der verschiedentlichen und dringli-chen Weckrufe, zum Beispiel von Bundespräsident Joachim Gauck, Außenmi-nister Frank-Walter Steinmeier und Verteidigungsministerin Ursula von derLeyen, verschließt die sicherheitspolitische Debatte in Deutschland vor diesenRealitäten nach wie vor weitestgehend die Augen. Um in dieser Hinsicht Abhilfezu schaffen, wurde an der Universität Bonn im Jahre 2014 gemeinsam mit derEinrichtung einer Henry-Kissinger-Professur für Fragen der internationalenSicherheit und globaler Governance ein »Center for International Security andGovernance« gegründet. Der vorliegende Band ist Teil der Bemühungen desCenter, der sicherheitspolitischen Debatte in Deutschland neue Impulse zugeben.

Zu diesem Zweck zeichnen renommierte Experten aus dem In- und Auslandhier ein Panorama der internationalen Sicherheitsherausforderungen. Gleich-zeitig zeigen sie aber auch strategische Ansätze auf, wie man ihnen effektiv undsinnvoll gegenübertreten kann.

Das Buch setzt sich nach der Einführung mit drei größeren Aspekten vonSicherheit im 21. Jahrhundert auseinander. Im ersten Teil wird das Thema »Si-cherheit und Völkerrechtsordnung: Kollektive Sicherheit und nationale All-eingänge« behandelt, bei dem der völkerrechtliche Rahmen und die sicher-heitspolitische Rolle der wichtigsten internationalen Akteure und Institutionenthematisiert wird. Die rechtliche Grundlage für Sicherheit analysiert MatthiasHerdegen in seinem Essay »Sicherheit in der modernen Völkerrechtsordnung«.Ihm folgen Ulrich Schlie über »Weltordnung: Zur Zukunft der Staatenwelt«,Joerg Forbrig über »Russland und der Westen: Vom schwierigen Partner zumsystemischen Widersacher«, Xuewu Gu über »Chinas Aufstieg zur Großmachtund seine Herausforderungen für den Westen«, Jackson Janes über »Prinzip,Politik und Zweck: Das Gleichgewicht von Werten und Interessen«, ChristophRaab über »Deutschlands Sicherheitspolitische Rolle im 21. Jahrhundert. EinPlädoyer für eine Anpassung des Sicherheitsbegriffs«, Karl-Heinz Kamp über»Die Macht der Institutionen: EU, NATO, OSZE« und Joachim Krause über »Vorwelchen Aufgaben steht die deutsche Verteidigungspolitik«.

Der zweite Teil »Globale Herausforderungen« untersucht die vielfältigen si-cherheitspolitischen Bedrohungen unserer Zeit. Zunächst schreibt WolfgangIschinger in seinem Essay über »Die Ukrainekrise und die europäische Sicher-heitsordnung«. Ihm folgt Harald Müller mit »Sicherheitspolitik heute«, AugustHanning über »Kampf gegen den Terror«, Oliver Gnad über »Wie strategiefähig

Einführung12

ist deutsche Politik? Vorausschauende Regierungsführung als Grundlage zu-kunftsrobuster Entscheidungen«, Stefan Heumann über »Sicherheit im Cyber-raum: Eine Kritik des nationalstaatlichen Sicherheitsdenken angesichts einesglobalen Netzwerks«, Matthew Green und Matthew Smith über »Hintertüren:Effektivität, Kollateralschäden und Ethik«, Jakob Rhyner über »Umweltrisikenund menschliche Sicherheit im Kontext des globalen Wandels«, FriedbertPflüger über »Europas Erdgassektor und das Streben nach Energiesicherheit –Geopolitik, aktuelle Entwicklungen und Auswirkungen auf die breitere Sicher-heitsdebatte«, Lena Guesnet über »Konfliktrohstoffe und menschliche Sicher-heit« und Stephan Klingebiel und Annamarie Bindenagel Sehovic über »Einefunktionsfähige globale Gesundheitspolitik: Empfehlungen vor dem Hinter-grund der Ebola-Krise«.

Der dritte Abschnitt »Implikationen für Deutschland« setzt sich mit der si-cherheitspolitischen Verantwortung Deutschlands auseinander und beginnt mitdem Beitrag von Herfried Münkler über »Deutschlands internationale Verant-wortung«. Ihm folgen Hans-Dieter Heumann über »Deutschlands sicherheits-politische Verantwortung«, Karl Kaiser über »Transatlantische sicherheitspoli-tische Verantwortung« und Tilman Mayer über »Demografie als sicherheits-politische Herausforderung«.

Im letzten Abschnitt analysiert James Bindenagel Ziele und Aufgaben der»Sicherheitspolitische Verantwortung und strategische Wissenschaft im21. Jahrhundert«.

James Bindenagel, Matthias Herdegen, Karl KaiserIm April 2016

Einführung 13

Wolfgang Ischinger

Die Ukrainekrise und die europäische Sicherheitsordnung

Unsere kollektiven jahrzehntelangen Bemühungen um eine krisenfeste euro-atlantische Sicherheitsordnung, die vor über 40 Jahren in Helsinki begannen,sind – zumindest vorerst – gescheitert. Alle Anstrengungen, Russland bessereinzubinden, neue Trennlinien in Europa zu verhindern sowie ein Netz vonsoliden Institutionen, Regeln und Vereinbarungen zu schaffen, haben nichtverhindern können, dass in und um Europa alte Konflikte wieder aufflammenund neue entstehen.

Insbesondere die anhaltende Krise in der Ukraine hat sich zu einer existen-ziellen Bedrohung für die Sicherheitsordnung des gesamten europäischenKontinents entwickelt. Territoriale Integrität, nationale Souveränität, Gewalt-verzicht – durch die Annexion der Krimund dieDestabilisierung der Ostukrainewerden einst gemeinsam von den KSZE-Staaten vereinbarte Grundprinzipienaufs Spiel gesetzt.

Durch die Ukrainekrise und damit verknüpfte Fragen von NATO-Osterwei-terung und EU-Assoziierung sind auch solche Konflikte wieder in den Vorder-grund gerückt, die meist nur eine kleine Nebenrolle spielten, nämlich diejenigenin Moldau und Georgien.

Doch der Schlüssel zu einer Verbesserung der europäischen Sicherheitsord-nung liegt in Moskau – und in der Ukraine.Was ist notwendig, um die Integritätder Ukraine langfristig wiederherzustellen und die Sicherheitsarchitektur desgesamten europäischen Kontinents auf Dauer zu festigen?

Eine westliche Doppelstrategie für die Ukrainekrise

Territoriale Integrität, politisch-militärische Sicherheit und die mindestensgenauso wichtige wirtschaftliche Rehabilitation der Ukraine lassen sich nicht ineiner dauerhaft antagonistischen Beziehung zum großen Nachbarn Russlandverwirklichen. Eine tragfähige Sicherheitsarchitektur Europas kann nicht gegen,sondern sollte mit Russland gestaltet werden.

Richtig ist aber auch, dass ohne eine kooperativere Politik Russlands vielekonstruktive Vorschläge Makulatur bleiben werden. It takes two to tango. Indesmuss in Europa auch Sicherheit vor Russland gewährleistet sein.

Ich schlage daher eine Doppelstrategie mit zehn Punkten vor, die im Sinneklassischer deutscher Ostpolitik sicherheitspolitische und rückversicherndeElemente einerseits mit Angeboten zur Zusammenarbeit im euro-atlantischenRaum andererseits kombiniert.

Erstens: Eine klare militärische Botschaft ist weiterhin unabdingbar. Unsereöstlichen NATO-Partner in den baltischen Staaten und in Polen sind durch dierussische Annexion der Krim und die andauernde russische Unterstützung derSeparatisten in der Ostukraine massiv verunsichert. Das Bündnis hat darauf zuRecht mit einem Programm der politisch-militärischen Rückversicherung(Reassurance) reagiert. So wie unsere Bündnispartner jahrzehntelang ihre So-lidarität an der innerdeutschen Grenze unter Beweis stellten, ist nun unsereSolidarität gegenüber unseren Verbündeten gefragt.

Zweitens: Die militärische Aufrüstung der Ukraine darf nicht zum kategori-schen Tabu erklärt werden. Denn auch eine wehrlose Ukraine würde auf Dauerdie europäische Sicherheit gefährden. Mit einer erneuten Eskalation des Kon-flikts ist selbstverständlich niemandem gedient. Deshalb muss die Rehabilita-tion und Demokratisierung der ukrainischen Streitkräfte Teil eines umfassendabgestimmten politischen Prozesses sein.

Drittens: Europa muss die Ausgestaltung der Energieunion weiter voran-treiben – auch ganz dezidiert mit dem Ziel, beiÖl- und Gasimporten nochmehrzu diversifizieren und die Abhängigkeit von Russland strategisch zu reduzieren.

Viertens: Die Ukraine braucht viel größere finanzielle und wirtschaftlicheHilfe und Rückendeckung. Die Fokussierung auf den politisch-militärischenKonflikt mit Russland hat bei manchen den Blick auf die zweite, mindestensgenauso große Bedrohung für die ukrainische Stabilität verstellt: die Gefahr deswirtschaftlich-finanziellen Zusammenbruchs. Der Investor und FondsmanagerGeorge Soros hat zu Recht darauf hingewiesen, dass unsere Hilfen für dieUkraine existenziell und damit viel wichtiger sind als eine Abstrafung Russlandsmit Sanktionen.

Hier kann das »Draghi-Modell« helfen: So wie der EZB-Präsident die Märktemit einem einzigen Satz beruhigen konnte, so könnte die EU klarstellen, dass siealles ihr Mögliche tun wird, um die Ukraine auf dem Weg zur wirtschaftlichenGesundung zu unterstützen. Allein durch eine solche öffentliche Ankündigungkönnte bereits neue Zuversicht für die Ukraine geschaffen werden.

Natürlich reicht eine solche Ankündigung alleine nicht aus. Wenn Tatenfolgen sollen, kostet das Geld, viel Geld – das angesichts der Griechenlandkriseund des sich dramatisch zuspitzenden Zustroms von Flüchtlingen nach Europanirgendwo in der EU locker sitzt. Aber was ist die Alternative? Wären die Fol-

Wolfgang Ischinger102

gekosten – politisch, militärisch und finanziell – eines Zusammenbruchs derUkraine, des bei weitem größten östlichen Nachbarlands der EU, potenziellnicht noch viel größer?

Gleichzeitig darf ein solches finanzielles Unterstützungsprogramm keinemFreifahrtschein für die ukrainische Regierung gleichkommen, anstehende Re-formen, insbesondere im Bereich der Korruptionsbekämpfung, zunächst zu-rückzustellen. Im Gegenteil : Klare Fortschritte in diesem Bereich müssen Be-dingung für Unterstützungsleistungen sein.

Fünftens: Es geht um weitaus mehr als um die Sanierung des ukrainischenHaushalts. Die EU kann in dieser größten sicherheitspolitischen Krise seit demZerfall der Sowjetunion die Strahlkraft des europäischen Wertekanons bewei-sen. Dies sind wir der ukrainischen Zivilgesellschaft schuldig, insbesondere alldenen, die auf dem Maidan demonstrierten – nicht gegen Russland, sonderngegen eine korrupte ukrainische Elite, die der Jugend ihre Chancen auf eineeuropäische Zukunft nahm. Sie – junge JournalistInnen, die über Unterschla-gung berichten, Nachwuchspolitiker, die Nepotismus bekämpfen, Nichtregie-rungsorganisationen, die für Verständigung und Ausgleich zwischen denVolksgruppen werben – sind die Hoffnung auf eine bessere Ukraine, eine eu-ropäische Ukraine. Visumfreiheit, mehr Stipendien für ukrainische Studierendeoder die Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen vor Ort sind nureinige der Instrumente, die Europa hier bedienen kann und sollte.

Dies ist die eine Seite der Doppelstrategie: Rückversicherung der NATO-Partner und umfassende Hilfe für und Zusammenarbeit mit der Ukraine. Dieandere Seite muss aus Elementen bestehen, die sich insbesondere auch anRussland richten.

Sechstens: Soweit und solange Moskau und die Separatisten bei der Umset-zung der Minsker Beschlüsse nicht umfassend mitziehen, müssen die Sanktio-nen in Kraft bleiben. Aber auch Kiew muss sich bei der Umsetzung von Minskvoll engagieren, sonst verlieren die Sanktionen ihren politischen Sinn. Hier istKlartext gegenüber beiden Seiten notwendig.

Siebtens: Der Streit um die ukrainische NATO-Perspektive muss im Interesseder Ukraine beigelegt werden. Die Frage einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraineist im Bündnis de facto negativ entschieden worden. Nur die Regierung in Kiewhängt – verständlicherweise – noch an dieser Vorstellung.

Die EU könnte das zuvor geschilderte finanzielle Hilfsangebot an Kiew an dieErwartung koppeln, dass die Ukraine sich stärker alsWest-Ost-Brücke definiert,dem Beispiel Finnlands und Österreichs oder auch der Schweiz folgend. DieseEntscheidung liegt selbstverständlich bei der Ukraine allein, könnte den Blickjedoch viel stärker noch auf das jetzt Erreichbare lenken: auf eine unabhängige,selbstbestimmte Ukraine mit Bindungen nach West und Ost.

Achtens: Der Ausschluss Russlands aus dem G-8-Kreis ist politisch wenig

Die Ukrainekrise und die europäische Sicherheitsordnung 103

hilfreich. Vor allem mit Blick auf das Thema Krim lässt er sich kurz- und mit-telfristig jedoch kaum ohne Gesichtsverlust für denWesten rückgängig machen.Ein denkbarer Ausweg könnte sein, das »5 plus 1«-Format, das seine Hand-lungsfähigkeit in den Iranverhandlungen eindrücklich bewiesen hat, künftigauch über die Iranfrage hinaus pragmatisch als Plattform mit Russland zunutzen. Das hätte den zusätzlichen Charme, dass für das Krisenmanagement imFall der Ukraine endlich wieder ein Format zur Verfügung stünde, bei dem dieUSAvollwertiger Teilnehmer wären: Weder im Normandie-Format noch in dersogenannten trilateralen Kontaktgruppe der OSZE ist Washington dabei. Das istweder im Interesse der Ukraine noch im Interesse der EU.

Neuntens: Alle Teilnehmerstaaten der OSZE, also auch Russland, müssengemeinsam nach Wegen zur Stärkung der europäischen Sicherheitsarchitektursuchen. Konventionelle und nukleare Rüstungskontrolle müssen als gemeinsa-me Projekte der Krisenprävention und der Vertrauensbildung wieder auf dieTagesordnung. Für militärische Muskelspiele darf angesichts fortbestehendernuklearer Bedrohungen kein Platz in Europa sein. Auch Visionen strategischerwirtschaftlicher Zusammenarbeit verdienen Aufmerksamkeit, in Anknüpfungan frühere Vorstellungen – »von Lissabon bis Wladiwostok«.

Schließlich hat sich die fast tot geglaubte OSZE in der Krise bewährt, insbe-sondere durch die unter schwierigsten Bedingungen arbeitende Beobachter-mission in der Ukraine. Was liegt näher, als den multilateralen Rahmen derOSZE wieder stärker auszuschöpfen, um nach dem Ukrainedesaster Sicherheitund Zusammenarbeit in ganz Europa wieder zu thematisieren? Sogar im KaltenKrieg konnte ein diplomatisch-politischer Prozess in Gang gebracht werden.Wir sollten Moskau einen solchen Prozess anbieten. Dabei muss es darumgehen, ob wir gemeinsam die aufgestellten europäischen Sicherheitsprinzipienund Verhaltensnormen bekräftigen, stärken und, wo sinnvoll, ergänzen können.Es ist dann an Moskau, Ja oder Nein zu sagen – und sich gegebenenfalls miteinem Nein unter den 57 Teilnehmerstaaten der OSZE noch weiter zu isolieren.

Zehntens: Unabhängig vomweiterenWeg, für den Russland sich entscheidet,liegt die größte Verantwortung für ein sicheres und stabiles Europa allerdingsbei den EU-Mitgliedstaaten selbst. Dochwährend sich die sicherheitspolitischenKrisen in unserer Umgebung verschärfen, nehmen die europäischen verteidi-gungspolitischen Fähigkeiten weiter ab. Die Verteidigungshaushalte der EU-Mitgliedstaaten sind heute auf enorm niedrigem Niveau.

Dabei ist der Zeitpunkt längst gekommen, das Prinzip der Integrationund derSynergiegewinnung endlich auch im Verteidigungs- und Rüstungsbereich ein-zuführen. Damit würde die EU nicht nur ihre sicherheitspolitische Hand-lungsfähigkeit stärken, sondern auch ein deutliches Signal nach Russland sen-den.

Dies gilt umso mehr, da die USA die Rolle der europäischen Schutzmacht

Wolfgang Ischinger104

heute nicht mehr so komplett ausfüllen wollen wie zuvor. Ein verständlicher Rufnach mehr Eigenverantwortung, betrachtet man die Größe des europäischenPfeilers im transatlantischen Bündnis: 2007 machten die Militärausgaben dereuropäischen Alliierten 30 Prozent der Ausgaben der Nato-Staaten aus, 2013waren es gerade noch 25 Prozent.

Verteidigungspolitische Integration und Effektivitätssteigerung sind heutealso nicht mehr nur schöne Zukunftsvision, sondern blanke Notwendigkeit.Doch verglichen mit den eingesetzten Mitteln ist Europas Schlagkraft äußerstgering. Die EU-Staaten leisten sich zusammen genommen rund 1,5 MillionenSoldaten, was der Zahl an US-Soldaten entspricht. Gleichzeitig verfügen die EU-Länder über sechsmal so viele verschiedene Waffensysteme wie die VereinigtenStaaten. Die tatsächliche militärische Schlagkraft der EU aber macht nur einenkleinen Bruchteil der amerikanischen aus. Diese Fragmentierung ist sowohl mitBlick auf die Finanzen als auch hinsichtlich der Fähigkeiten nicht tragbar.

Den europäischen Regierungen ist dieser ineffektive und ineffiziente Res-sourceneinsatz bewusst. Und ihnen ist auch klar, dass Kooperation und Inte-gration der einzige Weg sind, um dieses Dilemma zu überwinden. Dies ver-deutlicht auch eine von McKinsey für die Münchner Sicherheitskonferenzdurchgeführte Studie aus dem Jahr 2013, wonach die europäischen Staatenmehrals 30 Prozent im Jahr – das sind 13 Milliarden Euro – sparen könnten, wenn sienur bei der Beschaffung von Rüstungsgütern enger zusammenarbeiteten. Unddoch gibt es bis heute nicht einmal eine gemeinsame europäische Beschaf-fungsplanung.

Natürlich begrenzt verteidigungspolitische Integration staatliche Souverä-nität in einemwesentlichen Kernbereich. Aber was ist derWert der Souveränität,wenn der einzelne europäische Staat alleine gar nicht mehr handlungsfähig ist?Das ist sinnentleerte Souveränität und somit altes Denken.

Spätestens mit dem Vertrag von Lissabon sollte sich die Erkenntnis durch-gesetzt haben, dass Wohlstand und Sicherheit Europas in Zukunft maßgeblichdavon abhängenwerden, ob eine Abkehr von diesen alten Denkmustern gelingt,Kleinstaaterei künftig der Vergangenheit angehört und Europa stattdessen ge-meinschaftlich handelt. Angesichts wieder aufflammender Konflikte und neuerKrisen in unserer direkten Nachbarschaft gilt es heute umso mehr, Macht undMöglichkeiten zu nutzen, die ein vereintes Europa uns bietet. Wann, wenn nichtjetzt, ist der richtige Zeitpunkt, eine europäische Außen- und Sicherheitspolitikentschlossen weiterzuentwickeln? Eine starke EU, die mit einer Stimme sprichtund gemeinschaftlich handelt, kann auch nach außen die Strahlkraft entfalten,die es braucht, um die Sicherheitsordnung auf dem gesamten europäischenKontinent wieder zu festigen.

Die Ukrainekrise und die europäische Sicherheitsordnung 105

Autorenverzeichnis

Dr. Annamarie Bindenagel SehovicDozentin,Willy Brandt School of Public Policy, Universität Erfurt und AssociateFellow an der University of Warwick

Prof. James BindenagelHenry-Kissinger-Professor und Leiter des Center for International Security undGovernance

Dr. Joerg ForbrigTransatlantic Fellow für Mittel- und Osteuropa am Berliner Büro des GermanMarshall Fund of the United States

Dr. Oliver GnadVisiting Fellow, The Dahrendorf Forum (London/Berlin)

Prof. Dr. Xuewu GuDirektor Center for Global Studies, Universität Bonn

Lena GuesnetProject Leader ›Natural Resources & Conflicts‹, Bonn International Center forConversion (BICC)

Dr. August HanningPräsident, Bundesnachrichtendienst (a.D.) und Staatssekretär, Bundesministe-rium des Inneren (a.D.)

Matthew GreenAssistant Professor, Institute of Computer Science, Johns Hopkins University

Dr. Hans-Dieter HeumannMitglied des Direktoriums, Center for International Security and Governance,Botschafter a.D.

Stefan Heumann Ph.D.Mitglied der Geschäftsführung, stiftung j neue verantwortung

Prof. Dr. DDr. h. c. Matthias HerdegenDirektor, Center for International Security and Governance und Direktor, In-stitut für Öffentliches Recht und Institut für Völkerrecht, Universität Bonn

Botschafter Wolfgang IschingerVorsitzender, Münchener Sicherheitskonferenz

Jackson Janes Ph.D.President, American Institute for Contemporary German Studies, Johns Hop-kins University

Prof. Dr. Dr. h. c. Karl KaiserVorsitzender des Direktoriums, Center for International Security and Gover-nance und Senior Associate, Weatherhead Center for International Affairs,Harvard University

Dr. Karl-Heinz KampPräsident, Bundesakademie für Sicherheitspolitik

Dr. Stephan KlingebielAbteilungsleiter Bi- und multilaterale Entwicklungspolitik, Deutsches Ent-wicklungsinstitut (DIE)

Prof. Dr. Joachim KrauseInstitut für Sozialwissenschaften, Fachbereich Politikwissenschaft, UniversitätKiel

Prof. Dr. Tilman MayerInstitut für Politische Wissenschaft und Soziologie, Universität Bonn

Prof. Dr. Harald MüllerInstitut für Politikwissenschaft, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurtam Main

Autorenverzeichnis248

Prof. Dr. Herfried MünklerInstitut für Sozialwissenschaften, Humboldt Universität zu Berlin

Prof. Dr. Friedbert PflügerDirector of the European Centre of Energy and Resource Security (EUCERS),Department of War Studies, King’s College, London

Christoph RaabChairman, European Security Roundtable, Brussels

Prof. Dr. Jakob RhynerUN University Vice-Rector in Europe und Director of the UNU Institute forEnvironment and Human Security

Prof. Dr. Ulrich SchlieLehrstuhlinhaber für Diplomatie, Andrassy Universität, Budapest

Prof. Dr. Matthew SmithInstitute of Computer Science, Communication and Network Systems, Univer-sität Bonn

Autorenverzeichnis 249