Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und...

113
Herausgegeben vom Deutschen Akademischen Austauschdienst in Zusammenarbeit mit dem Fachverband Deutsch als Fremdsprache Nr. 4 31. Jahrgang August 2004 Inhalt Mitteilung der Redaktion 399 Artikel Ursula Boos-Nünning und Thomas Schwarz Traditionen der Eingliederung von Migranten in der Bundesre- publik Deutschland am Beispiel der Bildungs- und Sozialpolitik 400 DaF im Ausland Alexis Ngatcha Was kann Aktionsforschung zur Praxis des Fremdsprachenun- terrichts Deutsch beitragen? 422 Corinna Scheurer Sprachpraxis und Fremdverstehen in der Auslandsgermanistik: Eine Seminarkonzeption für französische Studierende der Ger- manistik 431 Stefan Hajduk Sprache als Fremde. Deutschlernen gestern und heute am Bei- spiel Indiens 444 N. Anuradha Srinivasan Interkulturelles Konzept beim Fremdsprachenerwerb – zwi- schen Theorie und Praxis. Überlegungen zu einem DaF-Lehr- werk für indische Lerner der Altersgruppe 19–24 455 Dietmar Rösler Der Chinese unter anderen. Repräsentationen konkreter Fremde und konkreter Fremder in einsprachigen Lehrwerken 462 Feruzan Akdogan Das neue Ausbildungsprogramm für Deutschlehrer an türki- schen Universitäten – kompatibel und zukunftsträchtig? Ein kri- tischer Erfahrungsbericht am Beispiel der Universität Marmara 475 (Fortsetzung umseitig)

Transcript of Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und...

Page 1: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

Herausgegebenvom DeutschenAkademischen

Austauschdienstin Zusammenarbeit

mit demFachverband

Deutsch als Fremdsprache

Nr. 4 31. Jahrgang August 2004

InhaltMitteilung der Redaktion 399

Artikel Ursula Boos-Nünning und Thomas SchwarzTraditionen der Eingliederung von Migranten in der Bundesre-publik Deutschland am Beispiel der Bildungs- und Sozialpolitik 400

DaF im Ausland Alexis NgatchaWas kann Aktionsforschung zur Praxis des Fremdsprachenun-terrichts Deutsch beitragen? 422

Corinna ScheurerSprachpraxis und Fremdverstehen in der Auslandsgermanistik:Eine Seminarkonzeption für französische Studierende der Ger-manistik 431

Stefan HajdukSprache als Fremde. Deutschlernen gestern und heute am Bei-spiel Indiens 444

N. Anuradha SrinivasanInterkulturelles Konzept beim Fremdsprachenerwerb – zwi-schen Theorie und Praxis. Überlegungen zu einem DaF-Lehr-werk für indische Lerner der Altersgruppe 19–24 455

Dietmar RöslerDer Chinese unter anderen. Repräsentationen konkreter Fremdeund konkreter Fremder in einsprachigen Lehrwerken 462

Feruzan AkdoganDas neue Ausbildungsprogramm für Deutschlehrer an türki-schen Universitäten – kompatibel und zukunftsträchtig? Ein kri-tischer Erfahrungsbericht am Beispiel der Universität Marmara 475

(Fortsetzung umseitig)

Page 2: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

398

Didaktik DaF /Aus der Praxis

Margarete OttErzählte Geschichte/n. Geschichtliche Erfahrungen im Mediumder Fremdsprache. Zur Übereinstimmung von Hochschuldidak-tik und Fachdidaktik im Fremdsprachenstudium 483

Berichte 397

Tagungsankündigung Workshops des Kontaktstudiums »Sprachandragogik – Fremd-sprachen für Erwachsene« am 8./9. Oktober 2004 in Mainz:»Und wo bleibt die Aussprache? Wege zur Vermittlung vonRhythmus, Intonation und Artikulation der Fremdsprache« 499

Rezensionen Gabriele Leupold; Eveline Passet; Olga Radetzkaja; Anna Schiba-rowa; Andreas Tretner: Spurwechsel (Viola Theunissen) 500

Über die Autoren 504

Abstracts 506

Page 3: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

399

Mitteilung der Redaktion

Nach 30jähriger Mitarbeit bei Info DaF istFrau Dr. Gabriele Neuf-Münkel aus derRedaktion ausgeschieden. Wir dankenihr für hohes Engagement, Zuverlässig-keit und stets abwägend kompetentesUrteil. Für die Mitarbeit in der Redaktion konn-ten wir gewinnen:

Professor Dr. Dietmar Rösler, UniversitätGießen Professor Dr. Andreas Kelletat, Universi-tät Mainz/Germersheim.

Professor Rösler vertritt das FachDeutsch als Fremdsprache, Professor Kel-letat im Fachbereich AngewandteSprach- und Kulturwissenschaft die Teil-disziplin Dolmetschen/Übersetzen. Derzunehmenden Bedeutung dieser Teildis-ziplin sowohl für Forschung als auch fürpraxisorientierte Ausbildung wollen wirzukünftig auch in Info DaF Rechnungtragen. Wir danken Professor Rösler und Profes-sor Kelletat für die Bereitschaft, in derRedaktion mitzuwirken.

Für den DAAD Für den FaDaFWerner Roggausch Armin Wolff

Info DaF 31, 4 (2004), 399

Page 4: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

400

Traditionen der Eingliederung von Migranten inder Bundesrepublik Deutschland am Beispiel derBildungs- und Sozialpolitik1

Ursula Boos-Nünning und Thomas Schwarz

Wie in allen Einwanderungsgesellschaf-ten so teilt sich die Immigrationspolitikauch in der Bundesrepublik Deutschlandeinerseits in die Versuche, durch das Öff-nen und Schließen von EingangstorenZuwanderung zu regulieren. Anderer-seits umfaßt Immigrationspolitik aberauch die Statuten und Verfahren zur zeit-weisen oder dauerhaften Eingliederungvon Migranten. Hierzu gehören die An-erkennung politischer und individuellerRechte für Zuwanderer ebenso wie dieRegularien zur Aufnahme von Arbeitoder Ausbildung, die Eingliederungspro-gramme ebenso wie die moralisch-ethi-schen Normen und Werte, die im politi-schen Milieu oder in anderen Bereichendes gesellschaftlichen Lebens gegenüberZuwanderern manifest werden. Diese analytische Trennung ist auch des-halb notwendig, weil in der politischenPraxis nicht nur in Deutschland immerwieder versucht wurde, die Politik derEingliederung als Hebel zur Migrations-regulierung zu nutzen, wenn etwa durchEinschränkungen in der sozialen Betreu-ung Immigration reduziert werden sollte.Diese Versuche blieben häufig erfolglos.

Darüber hinaus scheint diese Trennungzwischen zwei Politikfeldern aber auchdeshalb sinnvoll, weil nur so unter-schiedliche politische Ebenen, Akteureund Strategien in der deutschen Debatteder letzten vierzig Jahre verdeutlichtwerden können. Dies scheint umso notwendiger, als ge-rade in den letzten Jahren auch sozialwis-senschaftliche Analysen immer stärkerdazu neigen, diese Ebenen nicht vonein-ander zu trennen, sondern die Problemeder Immigration nach Deutschland aufmonokausale Faktoren, z. B. auf das Pro-blem des Staatsbürgerschaftsrechts, desjus sanguinis etc. zurückzuführen. DerZentralstaat erhält in diesen Erklärungs-ansätzen (so z. B. Brubaker 1992), eineBedeutung, die ihm gerade in der Ein-gliederung von Migranten nicht zu-kommt. Es wird zu selten bedacht, daßgerade dieses Politikfeld in der Bundes-republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat undföderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategienbestimmt wird. Gerade das Leugnen derTatsache, daß Deutschland ein Einwan-

1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um den Eröffnungsvortrag im Rahmen der 31.Jahrestagung Deutsch als Fremdsprache des Fachverbandes Deutsch als Fremdsprache(FaDaF) vom 29.–31. Mai 2003 an der Universität Essen. Der Beitrag wird ebenfallsabgedruckt im Tagungsband für diese Tagung, der in der Reihe Materialien Deutsch alsFremdsprache (MatDaF) als Heft 73/2004 erscheinen wird. Siehe auch Hans Barkowski:»30 Jahre Deutsch als Zweitsprache – Rückblick und Ausblick«, Info DaF 6 (2003), 521–540.

Info DaF 31, 4 (2004), 400–421

Page 5: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

401

derungsland ist, und damit das Fehleneiner zentralstaatlichen Gesamtkonzep-tion, haben zu einer Diversifizierung desPolitikfeldes geführt, die monokausaleErklärungsansätze obsolet macht. Alle Eingliederungsstrategien gegenüberEinwanderern sind dagegen seit derGründung der Bundesrepublik Deutsch-land 1949 nicht über das Stadium reakti-ver Politikmodelle hinausgekommen.Der föderale und parteipolitische Einflußwar dabei für das Fehlen einer Gesamt-konzeption deutscher Immigrationspoli-tik wesentliche Ursache. Eine für die Fol-gen der Arbeitsmigration der sechzigerJahre bis heute fehlende Gesamtkonzep-tion hat insgesamt deshalb zu einemKompetenzgerangel geführt, das sich inverschiedenen Versuchen widerspiegelt,einerseits durch ein neues Ausländerge-setz Zuständigkeiten von den Bundeslän-dern wiederzugewinnen. Andererseitssind aber auch Versuche nachweisbar, dieKompetenz der Bundesländer etwa imBereich bilateraler Abkommen mit Her-kunftsländern z. B. im außenpolitischenBereich zu erweitern. Gleichzeitig spie-geln die ausländerpolitischen Konzeptio-nen aber auch parteipolitische Differen-zen wider, die sich zeitweise selbst inner-halb eines Bundeslandes manifestierenkönnen. So wurde etwa die Politik derersten Länderbeauftragten für Auslän-derfragen in Berlin durch einen Erlaß desInnensenats konterkariert, der die Bedin-gungen der Familienzusammenführungfür Arbeitsmigranten verschärfte. Aus-länder- oder bildungspolitische Vorga-ben der Bundesländer werden dann nichtselten auf kommunaler Ebene wiederumgedeutet. So gibt es in Bundesländernmit restriktiver Ausländerpolitik (z. B.Bayern, Baden-Württemberg) Stadtparla-mente mit liberaler Grundhaltung undumgekehrt. Die fehlende Gesamtkonzeption einerEinwanderungs- und Eingliederungspo-

litik bei gleichzeitiger Zunahme der Im-migrationszahlen führte dementspre-chend auch zu einer Verlagerung derAuseinandersetzungen in diesem Bereichauf die Bildungs- und Sozialpolitik ge-genüber Zuwanderern. Hier werden»Stellvertreterkriege« geführt, da eineentsprechende Gesamtkonzeption poli-tisch bis heute nicht durchsetzbar war. ImGegensatz aber zu politischen Verlautba-rungen, die immer stark auf die Unter-schiede der Migrationsbewegungen ver-wiesen haben, überwiegen bei einer Ge-samtbetrachtung der bildungs- und sozi-alpolitischen Maßnahmen und Strategiengegenüber Zuwanderern in der Bundes-republik Deutschland Parallelen. Diesesollen das Thema des vorliegenden Auf-satzes sein. Deshalb sollen im folgendendiese unterschiedlichen Ebenen politi-scher Auseinandersetzung sowie die un-terschiedlichen Akteure an Beispielenaus der Bildungs- und Sozialpolitik ge-genüber Zuwanderern in der Nach-kriegsgeschichte der BundesrepublikDeutschland verdeutlicht werden. Notwendig sind an dieser Stelle einigekritische Bemerkungen zur wissenschaft-lichen Auseinandersetzung mit bundes-deutscher Immigrationspolitik. Beein-flußt wird die Überschätzung deutscherzentralstaatlicher Politikstrukturendurch Untersuchungen, die die Bundes-republik Deutschland als das klassischeBeispiel erfolgreicher korporatistischerPolitik analysieren. Diese Überschätzungist auch in der US-amerikanischenDeutschlandforschung nachweisbar. Soist beispielsweise dem Theorieansatz vonPeter Katzenstein (1987) zu widerspre-chen, der gerade in der Zuwanderungs-und Integrationspolitik ein besondersstark zentralstaatlich organisiertes Poli-tikfeld identifizierte, während die Bun-desrepublik Deutschland in anderen Po-litikbereichen eher nach Modellen eines»kooperativen Föderalismus« und von

Page 6: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

402

»paraöffentlichen Institutionen« wie derBundesbank, den Wohlfahrtsorganisatio-nen und den Kirchen in einem »semisou-veränen« Staat organisiert sei. Ähnlichargumentiert etwa Peter O’Brien (1991).Auch in den zahlreichen Veröffentlichun-gen zu der »new geography of Europeanmigrations« (Begriff von R. King 1993)reduziert sich die Analyse der deutschenSituation zumeist auf zentralstaatlicheProzesse und Debatten.

Erste Phase: Von der Notaufnahme zumLastenausgleich Dieser Rekurs auf die Eingliederungspo-litik gegenüber mehrheitlich deutsch-sprachigen Zuwanderern in der frühenBundesrepublik soll als Beispiel für einzwar aus der Not heraus geborenes Poli-tikmodell dienen, das aber zu heute nochbeispielhaften und erfolgreichen Ergeb-nissen geführt hat. Dabei waren die Vor-aussetzungen schon aufgrund der schie-ren Zuwanderungszahlen denkbar un-günstig: Nach der Volkszählung von 1950waren von 47,7 Millionen Einwohnern inder Bundesrepublik Deutschland 9,6 Mil-lionen während oder kurz nach demKrieg zugewandert. 7,9 Millionen vonihnen hatten den rechtlichen Status eines»Vertriebenen«. Bis zum Mauerbau 1961wanderten weitere 3,6 Millionen Men-schen vor allem aus der DDR zu. Imwesentlichen war die Verantwortung fürfolgende Migrantengruppen von denWestalliierten auf die Länder und späterauf Bundesbehörden übergegangen:

– Vertriebene und Aussiedler aus denLändern Osteuropas und aus Gebietendes ehemaligen Deutschen Reiches;

– Flüchtlinge aus der Sowjetischen Besat-zungszone und späteren DDR;

– Deutsche und nichtdeutsche depla-zierte Personengruppen, heimkehrendeKriegsgefangene, getrennte Familien,ehemalige politische Häftlinge etc.

Das Modell basierte einerseits auf einerkonzertierten Aktion aller förderalenpolitischen Ebenen, andererseits aberauch auf einer weitgehenden Anerken-nung und Unterstützung von Selbsthil-feinitiativen der Zuwanderer. Erstereswar vielleicht weniger eine Folge ausge-arbeiteter politischer Strategien als pureEinsicht des Bonner Zentralstaats in dieNotwendigkeit, die politischen Maßnah-men der vorher gegründeten Länder zuakzeptieren. Diese hatten ihren Verant-wortungsbereich längst vor der Grün-dung der Bundesrepublik Deutschlandim August 1949 von den Westalliiertenübernommen. Eine Politik der Migrati-onsregulierung war ebenfalls nichtmehr möglich: Die Mehrzahl der Zu-wanderer hielt sich längst auf dem Ge-biet des halben Nationalstaates auf1. Ge-gen deren Interessen war kaum Politikdurchsetzbar, schon aufgrund ihrer ab-soluten Zahl. Ziel war deshalb vor allemauch die politische Integration der zahl-reichen Selbstorganisationen von Ver-triebenen und Flüchtlingen in das neuentstehende politische System der Bun-desrepublik Deutschland2. Ein dritter

1 Dies bedeutet nicht, daß Migrationsregulierungsinstrumente für damals aus der DDRZuwandernde nicht eingesetzt wurden. So wurde im Anfang der fünfziger Jahreversucht, die Immigration aus der DDR über die Verweigerung des Flüchtlingsstatus zubremsen.

2 Absolut die größte Zuwanderergruppe waren deutsche Vertriebene und Flüchtlinge ausden ehemaligen Ostgebieten des Deutschen Reiches. Profitiert haben aber auch die rund300.000 zumeist osteuropäischen displaced persons und Flüchtlinge. Auf Druck derWestalliierten und im Zuge des Kalten Krieges wurden ihre Exil- und Kulturgruppen indie sozialpolitischen Maßnahmen mit einbezogen, für ihre Betreuung wurde ab 1949 dasBundesministerium für Vertriebene zuständig.

Page 7: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

403

Aspekt dieser erfolgreichen Strategiewar wohl auch das Fehlen von Alterna-tiven. So blieb ein Ausgleich durch Aus-wanderung, ein wichtiges Instrumentder europäischen Migrationsregulie-rung des 19. und frühen 20. Jahrhun-derts, im Vergleich zu den Zuwande-rungszahlen begrenzt, obwohl nur inden ersten Nachkriegsjahren die Aus-wanderung von den Alliierten untersagtwurde.1 Sozialpolitisch wurde über Notaufnah-meverfahren, Soforthilfen und Wohnbau-programme der Lastenausgleich zumwichtigsten Instrument der Eingliede-rung dieser Bevölkerungsgruppen. Diesedrastische Form der finanziellen Umver-teilung zugunsten von Kriegsgeschädig-ten über Vermögensabgaben, Steuermit-tel und andere Formen der Geldwert-schöpfung schuf mit ihren rund 127 Mil-liarden DM Transferleistungen eine ein-malige Finanzierungsgrundlage für alleFormen von Eingliederungsmaßnahmen,von Ansiedlungsprogrammen, Arbeits-platzbeschaffung, Ausbildungsbeihilfenund einer späteren Rentenfinanzierungbis zur Unterstützung von Selbstorgani-sation über Kulturförderung etc. Wahr-scheinlich handelte es sich um die größtegewaltlose Vermögensumverteilung derGeschichte.

Die über unmittelbare Versorgung hin-ausgehende »Eingliederung im kulturel-len Bereich« hatte (nach Art. 74, 6 desGrundgesetzes der BundesrepublikDeutschland) Verfassungsrang. Art. 96legt eine gemeinsame Verpflichtung fürBund und Länder fest, ohne allerdingseine spezifische föderale Kompeten-zaufteilung vorzuschreiben. Mit der Lö-sung der unmittelbaren Nachkriegspro-bleme stieg der Anteil dieser Kulturför-derung deutlich an. Mit der Gründungdes Bundes der Vertriebenen 1951 warneben den Kirchen, den Wohlfahrtsver-bänden2 und den zahlreichen ethnischorganisierten Landsmannschaften auchein zentraler Ansprechpartner und Lei-stungsempfänger aus den Reihen derBetroffenen vorhanden. Der Bund unddie Länder schufen über ihre Flücht-lingsverwaltungen, deren bundesweiteArbeitsgemeinschaft sowie über dasBundesministerium für Vertriebene einaus heutiger Sicht modernes System derpermanenten Kommunikation undKompetenzaufteilung der Administra-tion, andererseits der Selbstorganisati-onsfinanzierung und -kontrolle für Mi-grantengruppen, das bis heute trotz derpolitischen Auseinandersetzungen umdas Immigrationssystem deutscher Min-derheiten funktioniert.

1 Zwischen 1948 und 1960 wanderten rund 376.000 Deutsche in die USA ein, etwa dieHälfte aller Auswanderer. Aber etwa der Walter-Bericht für die US-amerikanischeRegierung bezeichnete in den fünfziger Jahren die Auswanderung von bis zu 1,3Millionen Deutschen als notwendig, um einen demographischen Ausgleich zu ge-währleisten. Selbst Vorschläge für eine staatlich kontrollierte Geburtenkontrollewurden gemacht, da Ende der vierziger Jahre die Integration der Vertriebenen alsunmöglich erschien: »There is no room for them in the German economy« (Kulischer1948: 318).

2 Die Wiederzulassung der Wohlfahrtsverbände sowie des Deutschen Roten Kreuzesdurch die Westalliierten erfolgte im Zuge der ersten internationalen Hilfsmaßnahmenfür die deutsche Bevölkerung, als deutsche Organisationen zur Lebensmittelverteilungund zu anderen Hilfsdiensten benötigt wurden, die die Nationalsozialistische Volks-wohlfahrt (NSV) ersetzen konnten. Bei der Betreuung von heimatlosen Ausländern unddeutschen Flüchtlingen konnte unter anderem auf Gelder der US-amerikanischen FordFoundation zurückgegriffen werden.

Page 8: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

404

Der Aufbau dieses umfassenden Systemsder Integration von Vertriebenen, Flücht-lingen und Aussiedlern erleichterte auchdie schulische Eingliederung ihrer Kin-der. Zum größten Problem wurden in derunmittelbaren Nachkriegszeit wenigerdie Eingliederungsbedingungen als dasDefizit an Schulräumen und Lehrern. Be-reits in den fünfziger Jahren mußten überFörderschulen, Sonderklassen, außer-schulische Betreuung und Internate vorallem sprachliche Defizite bei jugendli-chen Zuwanderern ausgeglichen wer-den. Je jünger diese waren und je spätersie immigrierten, desto geringer warendie deutschen Sprachkenntnisse bei die-sen »deutschstämmigen« Zuwanderern. Insgesamt zeichnete sich diese Phase derEingliederungspolitik also durch eine da-mals sozialpolitisch zwar umstrittene,aber konsequent umgesetzte Politik derUmverteilung aus, die erst die Vorausset-zung für die Eingliederung schuf. DieKonsequenz war eine starke Einbindungsubsidiärer Träger sowie von Selbsthilfe-organisationen und Verbänden der Mi-granten, die bis hin zu politischem Druckauf die internen Organisationsstrukturendieser Verbände reichte. Obwohl also eine ad hoc-Formulierungdieser Politik mit der Übernahme derProbleme durch die deutsche Verwaltungunumgänglich war, kam es zu einemrelativ reibungslosen Interessenausgleichzwischen den föderalistischen Institutio-nen, den Selbstorganisationen der Betrof-fenen und den politischen Parteien. Die-ser Konsens wurde nicht konfliktfrei ge-funden, sondern gewann seine Festigkeitauch aus der Tatsache, daß die Dominanzder politischen Parteien mit der Integra-tion der Vertriebenenfunktionäre in ihreReihen gewahrt werden konnte. Förderlich für die Entwicklung undDurchsetzung einer solchen Konzeptionwar sicherlich, daß die Eingliederung al-ler betroffenen Migrantengruppen als

Ziel politischer und kultureller Aktivitä-ten nicht in Frage gestellt wurde und daßvon vornherein auf die Gemeinsamkeitvon Sprache, Kultur und Lebenswechselabgestellt wurde und damit – trotz lands-mannschaftlicher Unterschiede unddurchaus beträchtlichen Problemen imZusammenleben – die gemeinsame Zu-kunft sinnstiftende Bedeutung für dieGegenwart bekam. Trotzdem sollte hier insgesamt nicht derEindruck dominieren, die erfolgreicheEingliederung der deutschstämmigenMigranten in der Nachkriegszeit sei nurdie Konsequenz entsprechender politi-scher Strategien und Programme. Viel-mehr stand mit dieser Bevölkerungs-gruppe eine hochmobile Arbeitskraftre-serve zur Verfügung, die das »deutscheWirtschaftswunder« und somit die Mo-dernisierung der westdeutschen Gesell-schaft wesentlich prägten. Der deutscheSoziologe Helmut Schelsky kam 1957 imBezug auf jugendliche Migranten zu demSchluß: »Auch die Flüchtlingsjugend istkeine eigenständige Verhaltensgruppe,sondern allenfalls der Vortrupp des indu-striegesellschaftlichen Gestaltwandelsder Jugend überhaupt gewesen«(Schelsky 1955: 332).

Zweite Phase: Arbeitsmigranten zwi-schen Rotation und Einwanderung Im Gegensatz zu den oben beschriebenenPolitikinstrumentarien gestaltete sich diePolitik gegenüber den »Gastarbeitern«als ein Auf und Ab widersprüchlicherund nichtgetroffener Entscheidungen.Damals wie heute existierten im Grundedrei Kontraktarbeitssysteme: KleinereGruppen von Saisonarbeitern undGrenzgängern schlossen Arbeitsmarkt-lücken in verschiedenen Industriesekto-ren bzw. im grenznahen Raum. »Gastar-beitnehmer« kamen zur Vervollständi-gung ihrer Ausbildung oder Sprach-kenntnissen unabhängig von der Arbeits-

Page 9: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

405

marktlage. Dritte und größte Gruppewurden die Vertragsarbeitnehmer ausdem Mittelmeerraum. Bis 1973 wurdenmehrere Millionen »Gastarbeiter« ange-worben, die zumeist einmal oder garmehrfach rotierten. 1973 stellten sie mitrund 2,6 Millionen Arbeitern fast 12 Pro-zent der Erwerbstätigen in der Bundesre-publik Deutschland. Nach dem Anwer-bestopp von 1973 sank diese Quote aufunter zehn Prozent bei gleichzeitiger Zu-nahme der Ausländerzahl durch die indiesem Umfang nicht erwartete Famili-enzusammenführung. Die Forderung nach der Anwerbung»ausländischer Arbeitnehmer« wurdefür einzelne Arbeitsmarktsegmente be-reits Anfang der fünfziger Jahre durchinteressierte Berufsverbände gestellt(z. B. für die baden-württembergischeund rheinland-pfälzische Landwirt-schaft). 1955 trug die Bundesregierungdieser Diskussion über einen bilateralenVertrag mit Italien Rechnung, der ent-sprechende Abkommen aus den dreißi-ger Jahren aktualisierte. Die Bundesan-stalt für Arbeit wurde mit der Umset-zung dieses Abkommens betraut. Ein In-teressenausgleich zwischen Arbeitge-bern, Gewerkschaften und Bundesregie-rung ermöglichte den zunächst konflikt-freien Ablauf dieser Anwerbeaktion, zu-mal andere Alternativen, etwa dieVerlängerung der Arbeitszeit, als nichtdurchsetzbar eingeschätzt wurden. Grundlage der Anwerbung waren reinökonomische Überlegungen. KritischeAnmerkungen (Föhl 1967) über die Aus-wirkungen dieser Politik wurden nichtübernommen. Ziel war der zeitweiseAufenthalt der Gastarbeiter in der BRD,aber expressis verbis nicht etwa der be-reits damals diskutierte notwendige de-mographische Ausgleich für eine al-ternde deutsche Bevölkerung. Deshalbwurde in dieser Zeit der Satz, die BRD sei

kein Einwanderungsland, geboren (Ar-beitsminister Arendt 1970). Dabei spieltedie Angst vor der Entwicklung eines Sub-proletariats eine wichtige Rolle, die auchdurch die Wissenschaft befördert wurde(Hoffmann-Nowotny 1975; 1976). Ent-sprechend wurden sozial- und bildungs-politische Konsequenzen gezogen, diemit dem Aufbau einer eigenständigenund damit von den deutschen Beratungs-einrichtungen völlig separierten Auslän-dersozialarbeit sowie einer in erster Liniean Rückkehr orientierter Schulpolitik(Beschluß der Kultusministerkonferenzaus dem Jahre 1964) die Rotation ermög-lichen sollten. Nicht zuletzt die Sorge voraus Chancenlosigkeit resultierender Ra-dikalisierung und Verwahrlosung dik-tierte die Einbeziehung in Bildungs- undSozialmaßnahmen (Käfferbitz 1989). Die vor allem nach dem Anwerbestopvon 1973 einsetzende Familienzusam-menführung wurde aufgrund von huma-nitären Überlegungen und entsprechen-den internationalen Abkommen akzep-tiert. Bis heute bleibt der Familiennach-zug auf Kinder bis zum 16. Lebensjahrund unter bestimmten Einschränkungenfür Aufenthalt und Arbeitserlaubnis aufEhepartner beschränkt. Die Geschichteder Ausländerpolitik ist eine Geschichteder Einschränkung von Zuwanderungs-rechten für Familienangehörige: Herab-setzung des Nachzugsalters von 18 auf 16Jahre, Koppelung des Nachzugs anWohnraum, Erschwernisse bei der Ar-beitsaufnahme (§ 19 Arbeitsförderungs-gesetz, AFG), Restriktionen für den Ehe-partner-Nachzug, Verbot des Zuzugs insogenannte belastete Wohngebieteu. a. m. (Boos-Nünning 1990). Alle Ein-schränkungen galten und gelten nur fürAusländer außerhalb der EuropäischenUnion und mußten teilweise wieder mo-difiziert werden. Sie führten zu entspre-chenden Konsequenzen:

Page 10: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

406

1. Sie trugen entscheidend zu einer tief-gehenden Verunsicherung der Immi-granten bei;

2. sie erweckten bei der einheimischenBevölkerung den Eindruck, die Wan-derung sei nicht nur steuerbar, son-dern nicht mehr gewünschte und/oder benötigte Personen könntendazu gezwungen werden, Deutsch-land zu verlassen.

3. Die Rotation blieb somit in den Köp-fen von Zuwanderern und Einheimi-schen ein mögliches Lösungsmodell.

Der Anwerbestop von 1973 war bei Ge-werkschaften, Wohlfahrtsverbändenoder den Kirchen unumstritten (Albrecht1976). Auch der wissenschaftliche Beiratder Bundesregierung empfahl (1974), denUmfang oder zumindest das weitere An-wachsen der Ausländerbeschäftigung zubeschränken. Dazu sollten im ungünstig-sten Fall auch Zwangsmaßnahmen er-griffen werden, die die Verlagerung vonProduktionsstätten in die Herkunftslän-der einschlossen. Die Doppelstrategiewar geboren:

»Diese Gründe sprechen dafür, den Um-fang und die Schwere der Eingliederungs-aufgabe keinesfalls dadurch zu vergrößern,daß ein weiterer Zustrom der ausländi-schen Arbeitskräfte zugelassen wird.« (Derwissenschaftliche Beirat der Bundesregie-rung 1974: 570)

Der Anwerbestop setzte der Rotationweitgehend ein Ende. Zwischen 1962und 1973 wanderten rund 9,1 MillionenAusländer zu und im gleichen Zeitraumkehrten 5,9 Millionen zurück oder wan-derten in andere Staaten ab. Die Aufent-haltsdauer verlängerte sich kontinuier-lich, gleichzeitig stieg die Zahl der Aus-länder durch Familienzusammenfüh-rung und dadurch die Anforderungen andie Infrastruktur. Auch änderte sich dieAlters- und Geschlechtsstruktur der aus-ländischen Bevölkerung. Zwischen 1974und 1980 sank die Zahl der erwachsenen

Ausländer bei gleichzeitigem Anstieg derJugendlichen unter 16 Jahren um 60 Pro-zent. Die politische Folge war eine ambi-valente Integrationsstrategie der sozial-liberalen Bundesregierung, die weder auf(etwa ordnungspolitisch durchgesetzte)Rotation, noch auf dauerhafte Integrationsetzte. Zu kritisieren ist an einer solchen Dop-pelstrategie ihre fehlende Konsequenz.Damals stellte eine dauerhafte Eingliede-rung auch bei den Arbeitsmigrantenselbst noch keine Alternative dar. In einerUmfrage aus dem Jahre 1972 wollten nur20 % von ihnen für immer bleiben. Schondamals wurde aber die zentralstaatlicheStrategie kritisiert, die Folgen der Zu-wanderung ohne politische Konsequen-zen zu regeln: »Mit rechtsstaatlichen Prinzipien ist es nichtvereinbar, die Stellung der Ausländer in derGesellschaft überwiegend durch Kabinetts-beschlüsse und Verwaltungsrichtlinien zubestimmen.« (Albrecht 1976: 37)

Noch 1980 bekundeten in einer Umfragedrei Viertel der befragten Ausländer ihreRückkehrabsicht (Mehrländer/Hoff-mann/König/Krause 1981: 544). Solche Ergebnisse weisen aber Parallelenzu anderen europäischen Umfragen derletzten Jahrzehnte auf, die immer wiederverdeutlichen, wie stark die Schere zwi-schen Absicht und Verwirklichung derRückkehr auseinanderklafft. Der Unfähigkeit einer bundespolitischenGesamtkonzeption der sozialliberalenKoalition in Bonn ging der Verlust derMeinungsführerschaft in diesem The-menbereich voraus. Diese ging einerseitsauf die Bundesländer über, andererseitsbildete sich eine kritische »Gegenöffent-lichkeit«, die reformorientierte Maßnah-men, verstärkte Integrationsprogrammeund politische Gleichstellung forderte.Auch parteipolitische Einflüsse spieltenhier eine wichtige Rolle. So motiviertendie zentralstaatlichen Politikdefizite in

Page 11: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

407

diesem Bereich christdemokratisch wiesozialdemokratisch regierte Bundeslän-der zur Erarbeitung entsprechender Ge-samtkonzeptionen, aber eben auch unter-schiedlicher Programme und Schwer-punkte für die Sozial- und Bildungspoli-tik. Entsprechend wurden drei Gesamtlö-sungsmodelle auf Ebene der Bundeslän-der diskutiert, so etwa 1972 im damalsnoch sozialdemokratisch dominiertenBerlin: – das Einwanderungslandmodell, das

von einer Integration der Ausländerausging;

– das Kontraktionsmodell, das eine all-mähliche Rückführung aller Nicht-EG-Ausländer vorsah;

– das Rotationsmodell, das einen steti-gen Wechsel der in Deutschland leben-den und arbeitenden Ausländer vor-aussetzte.

Alle drei Modelle wurden vom Senats-planungsteam, das ein Einwanderungs-modell zur Konjunkturstabilisierung ent-wickeln sollte, zugunsten eines »bedarfs-orientierten Integrationsmodelles« ver-worfen. Eine andere Gesamtkonzeption, die denGedanken einer freiwilligen und geför-derten Rückkehr zur Senkung der Zahlder Ausländer favorisierte, wurde 1975von der christdemokratisch geführtenLandesregierung Baden-Württembergentwickelt. Ziel war die grundsätzlicheBegrenzung des Aufenthalts von Arbeits-migranten. Nicht einmal EG-Bürger wur-den aus diesen Überlegungen ausgenom-men. Gefordert wurde außerdem eineneue, aber saisonal ausgerichtete Anwer-bepolitik, die den Interessen der baden-württembergischen Wirtschaft entgegen-kam. Ähnlich lautende Leitlinien wurdenbereits 1973 durch die konservative bay-erische Landesregierung erarbeitet. Spä-testens zu diesem Zeitpunkt war eine

landespolitische Dominanz in der Kon-zeption von Ausländerpolitik deutlich. Die Antwort der Bundesregierung be-stand in der Einrichtung einer Bund-Länder-Kommission im Jahre 1976, diedie unterschiedlichen Konzepte harmo-nisieren sollte. Diese legte 1977 die Richt-linien künftiger Politik als Kompromißaus allen Vorstellungen fest: – Negierung eines Einwanderungs-

landstatus; – Beibehaltung des Anwerbestops; – Förderung der Rückkehrbereitschaft; – Absicherung der Integration bei gleich-

zeitiger Konzentration auf die zweiteGeneration der Zuwanderer.

Das Memorandum des Beauftragten derBundesregierung für Ausländer aus demJahre 1979 formulierte dagegen die Vor-stellungen der sozialliberalen Koalition:Anerkennung der Einwanderungssitua-tion, Einbürgerungs- und Rechtserleich-terungen und das kommunale Wahl-recht. Bis heute konnten die meisten die-ser Forderungen nicht durchgesetzt wer-den. Im Bereich der Sozialbetreuung und Bil-dung spezifizierten sich demgemäß dieAnsätze und Schwerpunkte je nach po-litischer Ausrichtung in den Bundeslän-dern (Schwarz 1992a). Sozialpolitischwar die Weichenstellung bereits in densechziger Jahren erfolgt. Die Zuwande-rung von relativ großen und wenigenMigrantengruppen ermöglichte eineStrategie der subsidiären Zuteilung derArbeitsmigranten auf die Wohlfahrts-verbände nach religiösen Kriterien. Sowurden katholische Arbeitsmigrantenvor allem aus Italien, Portugal und Spa-nien durch die katholische Caritas, an-dere christliche Gruppen durch das pro-testantische Diakonische Werk betreut.Alle nichtchristlichen, d. h. islamischenArbeitsmigranten fielen unter das Man-dat der aus dem sozialdemokratischenMilieu entstammenden Arbeiterwohl-

Page 12: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

408

fahrt.1 Es entstand eine nach ethnisch-religiösen Kriterien definierte Auslän-dersozialarbeit in der Kompetenz derBundesländer, weitgehend abgetrenntvon den übrigen Angeboten für die au-tochthone Bevölkerung. Das erfolgrei-che Modell einer starken Beteiligungvon Selbstorganisationen der Zuwande-rer wurde im Falle der Arbeitsmigran-ten aber trotz positiver Erfahrungennicht eingesetzt2. Die Haltung gegen-über den bereits Ende der sechzigerJahre gegründeten ethnischen Selbstor-ganisationen blieb ambivalent. Einer-seits wurden sie als segregativ abge-lehnt, andererseits war in der Praxiseine Ausländersozialarbeit ohne selbst-organisierte Strukturen, ohne Betreu-ungspersonal aus den Zuwanderermi-lieus kaum denkbar.3 Die Ausländerpolitik in der Bundesrepu-blik Deutschland war (und ist) gekenn-zeichnet durch das Fehlen vorausschau-ender Planung oder zumindest mittelfri-stiger Konzepte durch – in vielen Fällen

halbherzige und widersprüchliche – Re-aktionen auf ökonomisch determinierteEntwicklungen und durch eine relativkonsequente Orientierung an den Interes-sen der einheimischen Mehrheit bzw. ei-nes Teiles dieser Mehrheit, aber nicht anden Interessen der Minderheit. Weitge-hende Übereinstimmung zwischen Aus-länderpolitik und Ausländerbildungspo-litik auf dieser sehr allgemeinen Ebenebedeutet hingegen nicht, daß im Hinblickauf Inhalte nicht Widersprüche und ge-genläufige Tendenzen zwischen beiden zubeobachten wären. Es gibt ausschließlichadministrative Vorgaben für den Unter-richt mit ausländischen Schülern: Richtli-nien und Erlasse der Kultusministerienmit einem breiten Ermessensspielraumfür die Schulverwaltung, die Schulen undLehrer. Diese Ländererlasse wiederum be-ruhen in der Regel auf Vereinbarungender Kultusministerkonferenz (KMK), diezwar nur empfehlenden Charakter haben;da aber das Prinzip der Einstimmigkeitherrscht, kommt den Beschlüssen durch-

1 Diese paternalistische Zuteilungspolitik war nicht zuletzt das Resultat von Traditionender Vertriebenen- und Flüchtlingssozialarbeit aus der unmittelbaren Nachkriegszeit.Administration und Wohlfahrtsverbände verfügten über entsprechende Erfahrungenmit der Sozialbetreuung von Zuwanderern. Vorhandene Kapazitäten mußten nach dererfolgreichen Eingliederung der Vertriebenen ausgefüllt werden.

2 Die Ursache für das völlige Übersehen der Parallelitäten zwischen der Eingliederungder Vertriebenen und der Arbeitsmigranten hat vielleicht typisch deutsche Züge. Soverstand die politische Klasse die Zuwanderung deutscher Minderheiten aus Osteuropanie als klassische Einwanderung sondern eher als »Heimkehr«. Vergleiche etwa dersozialpolitischen Maßnahmen gegenüber deutschen oder ausländischen Zuwanderernwurden deshalb immer scharf abgelehnt. Gleichzeitig ist hier auch ein kritisches Wortzur Rolle der Wissenschaft angebracht. Die Forschung zu Fragen deutscher Flüchtlingeund Migranten wurde in den fünfziger und sechziger Jahren fast ausschließlich von»völkisch« orientierten Wissenschaftlern betrieben, die politisch und personell aus demUmfeld der Vertriebenenverbände kamen. »Ausländerforschung« wurde dagegen dieDomäne einer neuen, eher linksliberal orientierten Forschergeneration, die jede Zusam-menarbeit mit der »reaktionären Vertriebenenforschung« ablehnte.

3 Diese ambivalente Einschätzung gegenüber ethnischen Selbstorganisationen zog sichdurch alle sozialen Bereiche. So postulierte der Deutsche Sportbund, in dem knapp einDrittel aller Deutschen organisiert ist, die Integration des einzelnen Ausländers in diedeutschen Vereine als Ziel. Ausländische Sportvereine waren demgemäß nur eineÜbergangslösung bis zur endgültigen Integration. Gleichzeitig verhinderte diese Ideo-logie aber nicht, daß auf Länderebene Programme zur Unterstützung ausländischerSportvereine etwa in der Jugendarbeit etabliert wurden (Schwarz 1986).

Page 13: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

409

aus Bedeutung für die administrative Pra-xis in den Bundesländern zu. Grundlage des ersten Versuchs, den »Un-terricht für Kinder von Ausländern«(KMK-Beschluß 1964) länderübergrei-fend zu organisieren, war die Annahme,daß die Ausländer nur für eine begrenzteZeit in der Bundesrepublik Deutschlandbleiben würden (vgl. Siewert 1980: 1090).Dementsprechend wurde schon damalseine Art Doppelstrategie formuliert: DerEintritt in die deutsche Schule – es wurdefestgelegt, daß die ausländischen Kindergrundsätzlich der deutschen Schulpflichtunterliegen – sollte durch »geeigneteMaßnahmen« (zusätzlicher Unterrichtzur Vermittlung von Deutschkenntnis-sen, möglichst in Vorklassen) ermöglichtund erleichtert werden; der Förderung inihrer Muttersprache wurde »eine beson-dere Bedeutung zugemessen«. Insge-samt, vor allem im Hinblick auf Fragender Realisierung, blieb der Beschluß äu-ßerst vage, die Praxis in den einzelnenBundesländern sehr unterschiedlich: Dieverhältnismäßig niedrigen Schülerzahlenmachten es möglich, gegenüber der alsneu erfahrenen Situation in einer indiffe-renten Haltung zu verharren. 1973 wurden diese Empfehlungen durchweitere Absprachen der Kultusminister-konferenz ergänzt und unter dem ange-messenen Titel »Unterricht für Kinderausländischer Arbeitnehmer« veröffent-licht (KMK 1973). Wenn diese Kinder demUnterricht »ohne erhebliche Sprach-schwierigkeiten hätten folgen können«bzw. nach in der Regel einjährigem Besucheiner Vorbereitungsklasse, sollten sie indie ihrem Alter oder ihren Leistungenentsprechende Regelklasse eingeschultwerden. Die Empfehlungen enthielten ei-nen detaillierten Maßnahmenkatalog, dergewährleisten sollte, daß »die im deut-schen Schulsystem liegenden Bil-dungschancen von den Kindern ausländi-scher Arbeitnehmer in verstärktem Maße

wahrgenommen werden können«. Dermuttersprachliche Unterricht hingegenerfuhr wenig Beachtung: Die Schüler »sol-len die Möglichkeit haben«, daran teilzu-nehmen. Es blieb weiterhin den Ländernüberlassen, ob er »innerhalb oder außer-halb des Verantwortungsbereichs der Kul-tusverwaltung steht«. Welche Sprache alsMuttersprache zu gelten hat, wurde nichtthematisiert; die Aufgabe des mutter-sprachlichen Unterrichts wenig auf-schlußreich umschrieben: »… um die Er-haltung der Verbindung der Schüler zurSprache und Kultur ihrer Heimat bemühtzu sein«. Das Schwergewicht der Empfeh-lungen aus dem Jahre 1973 lag deutlich aufdem Pol »Integration«. Damit standen siedurchaus im Widerspruch zur damaligenAusländerpolitik, die noch von einer »na-turwüchsigen« Rotation ausging. Obwohl die zur gleichen Zeit oder kurzdarauf in den meisten Ländern verab-schiedeten Erlasse in den Grundlinienmit den KMK-Empfehlungen überein-stimmten, folgten in der Praxis nicht dienotwendigen Bemühungen, die auf Inte-gration gerichteten Zielvorstellungen zurealisieren. Das Anwachsen der Zahlenausländischer Schüler in den Ballungsge-bieten führte aufgrund der Inflexibilitätdes schulorganisatorischen Instrumenta-riums und unter der Prämisse einer »be-schränkten Belastbarkeit« der deutschenKlasse zu segregativen Maßnahmen (inden KMK-Empfehlungen hatte es gehei-ßen, daß der »Anteil der ausländischenKinder in einer Klasse … ein Fünftel nichtübersteigen (soll)«). Schon 1971 ließ Ber-lin »besondere Klassen« zu, weiterge-hende segregierende Schulmodelle wur-den eingerichtet, die den Anspruch erho-ben, der sozialen Lage, den Bedürfnissenund Fähigkeiten der ausländischen Schü-ler durch Berücksichtigung ihrer Mutter-sprache und teilweise andere Lehrinhaltebesser gerecht zu werden als der Unter-richt in deutschen Regelklassen.

Page 14: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

410

Bayern begründete sein »offenes Modell«(das faktisch einem vollständig segre-gierten Schulsystem für die gesamteDauer der Pflichtschulzeit gleichkommt,wenngleich formal eine Überleitung inRegelklassen möglich ist) damit, daßMaßnahmen getroffen werden müßten,die sowohl die Eingliederung in dasdeutsche Schulsystem als auch den An-schluß an das heimatliche Bildungssy-stem ermöglichten, und daß die Bedeu-tung der Muttersprache für die geistig-seelische Entwicklung der Kinder bis da-hin unterschätzt worden sei (zur Kritiksiehe Boos-Nünning 1981). Mit ganz ähn-lichen Argumenten verteidigte die Lan-desregierung von Baden-Württembergdie »nationalen Modellklassen«, die ab1975/76 in einzelnen Grundschulen, spä-ter auch in Hauptschulen eingerichtetwurden. In Nordrhein-Westfalen er-probte man in Einzelfällen die 1976 offizi-ell eingeführten und 1982 wieder abge-schafften Vorbereitungsklassen in Lang-form. 1976 verabschiedete die KMK eine neueEmpfehlung, die alle inzwischen getrof-fenen – von der Empfehlung von 1971abweichenden – Maßnahmen, insbeson-dere auch die segregativen Organisati-onsformen, legalisierte. Zugleich wurdeder Spielraum für die Länder erweitert:»Den Ländern bleibt es unbenommen,andere Formen schulischer Förderungausländischer Schüler zu erproben« (Be-schluß der Kultusministerkonferenz vom8.4.1976, Punkt 8; zur Auseinanderset-zung mit den Beschlüssen der KMK sieheKischkewitz/Renter 1980; Abdruck derEmpfehlungen und Langenfeld 2001). Bei diesen Empfehlungen zeigen sichÜbereinstimmungen mit allgemeinenTendenzen der Ausländerpolitik. DieKMK hatte eine Kommission in demsel-ben Monat eingesetzt, in dem der Anwer-bestop verfügt wurde, und ihr folgendenAuftrag erteilt:

»… die Empfehlungen der Kultusminister-Konferenz vom 3. Dezember 1971 … auf-grund der inzwischen vorliegenden Erfah-rungen und teilweise veränderten Gesamt-situation hinsichtlich der Beschäftigungausländischer Arbeitnehmer in der Bundes-republik Deutschland zu überarbeiten undweiterzuentwickeln« (Pressemitteilung desSekretariats der KMK aus Anlaß der 162.Plenarsitzung vom 09.11.1973, 162/2; zitiertnach Siewert 1980: 1096).

Die veränderte Gesamtsituation schlugsich nieder in der nun in der Präambelder neuen Empfehlungen explizit formu-lierten Doppelaufgabe. Es wurde auf dieBemühungen der Länder hingewiesen,den »ausländischen schulpflichtigen Kin-dern und Jugendlichen eine erfolgreicheMitarbeit in den deutschen Schulen zuermöglichen und ihnen die Wiederein-gliederung in die heimatlichen Schulenoffen zu halten« (Beschluß der Kultusmi-nisterkonferenz vom 8.4.1976). Zukünftig solle es darum gehen,

»die ausländischen Schüler zu befähigen,die deutsche Sprache zu erlernen und diedeutschen Schulabschlüsse zu erreichen so-wie die Kenntnisse in der Muttersprache zuerhalten und zu erweitern. Gleichzeitig sol-len die Bildungsmaßnahmen einen Beitragzur sozialen Eingliederung der ausländi-schen Schüler für die Dauer des Aufenthal-tes in der Bundesrepublik Deutschland lei-sten. Außerdem dienen sie der Erhaltungihrer sprachlichen und kulturellen Identi-tät« (ebd.).

Diese Empfehlungen, in einer leicht ver-änderten Fassung von 1979, galten bis2000. Neben einigen Erweiterungen ge-genüber den Empfehlungen von 1971,die notwendig geworden waren, weilinzwischen ausländische Schüler nichtmehr nur Grund- und Hauptschulen be-suchten, sondern sich, wenn auch un-gleich, über das gesamte Spektrum derschulischen Angebote verteilten, lag derentscheidende Unterschied in der fakti-schen Rücknahme des Integrationskon-zeptes. Daß an seine Stelle nun gleich-

Page 15: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

411

rangig die Ziele »Integration« und »Of-fenhalten der Möglichkeit zur Reintegra-tion« getreten sind, steht zwar in derPräambel und ist als Absichtserklärungder Politiker wohl auch ernst gemeint,die vorgeschlagenen Maßnahmen ent-sprechen jedoch beiden Zielvorstellun-gen nicht: – Dem Ziel der Integration läuft das An-

gebot von gleich drei segregativen Mo-dellen direkt zuwider (nationale Er-satzschulen werden zugelassen, beson-dere Klassen und zweisprachige Klas-sen).

– Da dem muttersprachlichen Unterrichtdie Funktion zugewiesen wird, die na-tional-kulturelle Identität aufrechtzu-erhalten – was wiederum als Voraus-setzung der Rückkehrbereitschaft und-möglichkeit angesehen wird –, müßteaus den Vorgaben ein deutliches Bemü-hen in diesem Bereich resultieren. Dasaber war (und ist) nicht der Fall.

Auch wenn man in Rechnung stellt, daßeinem Gremium wie der KMK wegender Pflicht zur Einigung sehr enge Gren-zen gesetzt sind, läßt sich der Beschlußvon 1976 bzw. 1979 nur als Verzicht aufbundeseinheitliche bildungspolitischeZielsetzungen interpretieren. Folgerich-tig kam es in Ländern zu sehr unter-schiedlichen Modellen mit sehr ver-schiedenen Begründungen, die aber imResultat für ausländische Schüler einan-der ähnlich sind: Sie veränderten nichtsan der Benachteiligung dieser Gruppe.Auch die Bundesländer, die neuerdings»Integration« als Ziel ihrer Ausländer-bildungspolitik nennen, vollzogen dieseÄnderung nicht in erster Linie aus derEinsicht in die Benachteiligung, sondernaus Sorge um den sozialen Frieden, denman durch eine vernachlässigte unddesintegrierte Immigrantenjugend be-droht sah. Dieses Motiv war in Verbin-dung mit einem erheblichen Hand-lungsdruck, der von der öffentlichen

Diskussion ausging, tragfähig genug,»Integration« – vor allem in den SPD-regierten Ländern – nicht nur zu postu-lieren, sondern auch zu praktizieren, zu-mal dann, wenn sie sich kostenneutralrealisieren ließ. Es fand eine forcierteÜberleitung in Regelklassen statt, diedann, wenn sie die Kinder unvorbereitetmit nicht zu bewältigenden Anforde-rungen konfrontierte, dem Integrations-konzept geradezu widersprach. Bei derVielzahl von inner- und außerschuli-schen begleitenden Maßnahmen han-delte es sich entsprechend dem Ver-ständnis von Integration als Anpassungund der Einschätzung der ausländi-schen Kinder und ihrer Eltern als defizi-tär um kompensatorische Programme.Die Muttersprachen – weil funktionslosfür ein Leben hier – wurden vernachläs-sigt. Die Kritik an den schulorganisatorischenLösungen läßt nach den Chancen fragen,die ausländischen Schülern im deutschenBildungssystem eröffnet werden, be-schränkt allerdings auf solche Aussagen,die die Statistik zur Verfügung stellt, d. h.Bildungsbeteiligung, erreichte Schulab-schlüsse und Übergänge in die Berufs-ausbildung. Wenn auch berücksichtigt werden muß,daß sich Daten, die Auskunft über Schul-erfolg gaben – gemessen an der Zeit zuBeginn des Familiennachzugs – entschei-dend verbessert hatten, blieb die Schulsi-tuation eher desolat und war der Ab-stand zu den deutschen Schülern be-trächtlich. Als positiv zu bewerten war,daß die Vollzeitschulpflicht schon Mitteder achtziger Jahre im allgemeinbilden-den Bereich weitgehend realisiert warund daß die Anteile an den weiterführen-den Schulen (= Realschule und Gymna-sium) zu steigen begann und die Zahl derSchüler, die einen Hauptschulabschlußerhielten, beträchtlich zunahm. In Nordr-hein-Westfalen waren am Ende des

Page 16: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

412

Schuljahres 1984/85 von allen ausländi-schen Abgängern aus allgemeinbilden-den Schulen nur mehr 24,7 % ohneHauptschulabschluß (zu Beginn ca.80 %), 44,8 % erreichten einen Haupt-schulabschluß, 24,6 % die Fachschulreifeund 5,9 % die Hochschul- oder Fachhoch-schulreife. Wenn die Zahlen hinterfragt wurden,wurde schnell deutlich, daß sie nur teil-weise eine echte Verbesserung bedeute-ten. Der relative Anteil ausländischerSchüler an Realschulen und Gymnasienstieg allein deshalb, weil die Zahl derdeutschen Schüler absolut sank; dieZahl der ausländischen Schüler mitHauptschulabschluß nahm zu einer Zeitzu, zu dem dieser Abschluß allein keineberuflichen Chancen mehr eröffneteusw. Es gibt aber auch Daten, die eher auf eineVerschlechterung der Bildungssituationausländischer Schüler hinweisen. Alswichtigste muß hier die gestiegene Zahlvon Überweisungen in eine Sonder-schule – zu 80 Prozent in eine Sonder-schule für Lernbehinderte – genannt wer-den. Der Anteil der ausländischen Schü-ler aus den sechs Hauptanwerbeländern,die eine Sonderschule besuchten, stiegvon 2,5 Prozent im Jahre 1970 über 4,6Prozent 1980 auf 5,8 Prozent 1983 undliegt damit über der durchschnittlichenSonderschulbesuchsquote von 4 Prozent(Daten nach KMK 1984). Tragfähige Er-klärungen für diese Entwicklung liegennicht vor. Auszuschließen ist nicht, daßdie schwierigen Bedingungen – z. B. dieunzureichende schulische Förderung derZweisprachigkeit – zu Störungen führen,die als »Lernbehinderung« stigmatisiertwerden. Denkbar ist auch, daß mit stei-gender Aufenthaltsdauer der Ausländerden Kindern zu leichtfertig eine »guteSprachkompetenz im Deutschen« unter-stellt, Schulversagen also fälschlicherwei-se mit einer Lernbehinderung erklärt

wird. Vielleicht werden nun auch ver-stärkt auf irgendeine Art »auffällige«Schüler in die Sonderschulen überwie-sen, die früher – als es sie noch in größe-rer Zahl gab – in Vorbereitungsklassenblieben. Deutlich blieb die Benachteiligung aus-ländischer Jugendlicher beim Übergangin den Beruf. Von einer der gestiegenenformalen Qualifikation entsprechendenVerbesserung des Übergangs in den Be-ruf konnte nicht die Rede sein. 1982 stan-den nur 6,5 % Ausländer in einem Aus-bildungsverhältnis gegenüber 14,2 % derDeutschen. Den schulorganisatorischen Regelungenzu jener Zeit lag das Ziel der Anpassungder Schüler an die deutsche Schule zu-grunde. Dieses Ziel wurde weder in derpädagogischen Praxis noch in der auslän-derpädagogischen Literatur überwun-den – es sei denn um den Preis derSeparation der Schüler, ohne reale Mög-lichkeiten zu einem Überwechseln insdeutsche System und damit in der Regelohne entsprechende berufliche und sozi-ale Chancen in der BundesrepublikDeutschland. Schon damals integriertedie Schule – wie es später die Ausländer-politik deutlicher formuliert – die inte-grationswilligen und -fähigen Schülerüberwiegend aus den Mittelschichtenund öffnete ihnen, im Laufe der Zeit inimmer stärkerem Maße, den Zugang zurRealschule und zum Gymnasium, selte-ner zur beruflichen Ausbildung, kaum zuprivilegierten beruflichen Positionen.Gleichzeitig wurden ausländische Schü-ler ausgesondert; in separate Klassen; inFördergruppen, die vordringlich nichtFörderung der ausländischen Schüler,sondern Entlastung der Regelklassenzum Ziel haben; in Sonderschulen, inberufsvorbereitende Maßnahmen nur fürAusländer. Integration wurde auch imschulischen Bereich als Anpassung ver-standen.

Page 17: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

413

Auf dem Hintergrund solcher Vorstellun-gen, die wahrgenommenen Defizite aus-ländischer Schüler kompensatorisch auf-arbeiten zu müssen, und gestützt durchdie gesellschaftspolitisch motivierteÜberlegung, daß nur eine ausreichendeSchulbildung der ausländischen Kinderund Jugendlichen der »Zweiten Genera-tion« Berufs-, Lebenschancen und dar-über hinaus gesellschaftliche Integrationermöglicht – durchaus auch hier mit demHintergedanken, daß dadurch möglichesUnruhepotential für die deutsche Gesell-schaft verhindert werden könnte –, wur-den ab Mitte der siebziger Jahre einegroße Zahl von Projekten und Modellver-suchen initiiert und finanziert. DieserModellpluralismus war also die direkteFolge der geschilderten Kompetenzverla-gerung auf die Bundesländer und desdaraus resultierenden Konzeptionswirr-warrs.

Dritte Phase: Modellpluralismus unterdem Schutz des Eisernen Vorhangs Die in dieser Form häufig nicht ge-wünschte dauerhafte Einwanderung derArbeitsmigranten führte also eherzwangsweise zu einer Ideologie der Inte-gration des einzelnen Zuwanderers beigleichzeitiger Restriktion gegenüberneuer Immigration. Aber nur der zweite Teil der Doppelstra-tegie, die Verhinderung weiterer Zuwan-derung, wurde versucht, konsequent,aber auch hier im Grunde wenig erfolg-reich, umzusetzen. Die politischen Kon-sequenzen aus einer mehr oder wenigergeplant verlaufenden Integration wur-den nicht gezogen. Deutlich wird dieVerspätung der Politik gerade im Bereichpolitischer Partizipation von Zuwande-rern in der Bundesrepublik Deutschland.Die in den Großstädten immer stärkerePräsenz von Ausländern in allen Lebens-bereichen machte es auch notwendig, ih-nen zumindest Anhörungs- und be-

schränkte Beteiligungsrechte einzuräu-men. Auch der Modellpluralismus zurEingliederung der Arbeitsmigranten indas soziale System der BundesrepublikDeutschland verstärkte eher die Notwen-digkeit einer Mitsprache dieser Bevölke-rungsgruppen. Bereits in den sechzigerJahren hatten sich die türkischen Arbeits-migranten auch nach politischen und re-ligiösen Kriterien organisiert, ohne daßihnen entsprechende Beteiligungsmög-lichkeiten eingeräumt wurden. Eine Mit-arbeit in deutschen politischen Parteienund anderen gesellschaftlichen Gruppenwar zwar möglich, die fehlende Einbür-gerung verhinderte aber wirkliche Ein-flußmöglichkeiten. Einen Ausweg aus diesem Dilemmaschien das System der Ausländerbeauf-tragten zu bieten, aber es machte eher aufdie Defizite deutscher Integrationspolitikaufmerksam: Die Interessen der Zuge-wanderten sollten, obgleich sie eigenepolitische und kulturelle Eliten ausgebil-det hatten, durch einen deutschen Reprä-sentanten stellvertretend wahrgenom-men werden. Ziel der Einsetzung desBeauftragten der Bundesregierung fürAusländerfragen Ende der siebzigerJahre war damals allerdings weniger dieVertretung von konkreten Zuwanderer-interessen, als über die nationale Homo-genisierung ausländerpolitischer Leitli-nien den Einfluß des Zentralstaates indiesem Politikbereich wieder zu vergrö-ßern. 1981 wurde eine solche Stelle erst-mals im Bundesland Berlin eingerichtet.Sie ist bis heute die bundesweit wichtig-ste ausländerpolitische Einrichtung ge-blieben. Bis heute sind nur sechs der elfalten Bundesländer dieser Initiative ge-folgt. In einigen sind andere Modelle,etwa das der Ausländerbeiräte, umge-setzt worden, wieder andere verzichtenganz auf solche Institutionen. Anders seitder Vereinigung in den fünf neuen Bun-desländern: Hier existiert ein Netz von

Page 18: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

414

Ausländerbeauftragten von der Stadtteil-bis zur Landesebene, und das bei einemAusländeranteil von nur 1,6 %. Dies istdas (für deutsche Verhältnisse) erstaunli-che Ergebnis der Initiative einer privatenStiftung, die die ersten Ansätze für solcheBehörden quasi privat finanzierte. Auchdas von grünen Politikern durchgesetzteAmt für multikulturelle Angelegenheitender Stadt Frankfurt/Main bleibt imGrund beim Versuch stehen, paternalisti-sche Politik mit nur symbolischer Beteili-gung der Betroffenen zu betreiben. Dafürzementierte die Einrichtung von Auslän-derbeauftragtenstellen auf Bundeslän-derebene die länderpolitische Dominanzin diesem Politikfeld. Die restriktive Zuwanderungspolitikzwang neue Migranten zur Nutzung deseinzigen Eingangstors, des Asylrechts,neben der international vereinbarten Fa-milienzusammenführung und der fürDeutschstämmige reservierten gates ofentry. Die gewünschte Verfestigung einerArt Dreiklassen-Einwanderer-Hierarchiezwischen deutschem Aussiedler, auslän-dischem Arbeitnehmer und ausländi-schem Flüchtling konnte allerdings in derPraxis kaum durchgehalten werden. Sobesteht z. B. in fast allen Bundesländernein Angebot zum Schulbesuch für Kinderaus Asylbewerber-Familien. Auch dieFörderung von Zuwanderer-Organisatio-

nen über kommunale oder bundeslän-derspezifische Selbsthilfemodelleweichte – im Grunde auf informellerEbene – das Modell der individuellenIntegration in die deutsche Gesellschaftendgültig auf. Hinzu kam ein Wirrwarrvon Finanzierungsinstrumenten, etwavon Modellprojekten durch Bundesmit-tel, aus Töpfen der Europäischen Unionsowie aus Mitteln der Bundesanstalt fürArbeit, die parallel zu Entwicklungen imalternativ-deutschen Milieu Selbsthilfeund damit einen kleinen Arbeitsmarkt inethnischen Selbstorganisationen förder-ten. Die bisher von Wohlfahrtsverbänden ge-tragene Ausländersozialarbeit geriet un-ter Druck: Sie mußte sich nicht nur gegenden Vorwurf wehren, zu teuer zu seinund aufgrund ihres segregativen Ansat-zes eine Integration zu verhindern. Estauchten mit der ethnischen Selbsthilfe-bewegung, aber auch mit etablierten Trä-gern der Jugendhilfe neue Anbieter aufdiesem Markt auf, was zu einer verstärk-ten Spezialisierung in der Sozialarbeitmit Zuwanderern führte (Schwarz1992b). Nicht zuletzt fordern die ethni-schen Communities, in der der Anteil gutausgebildeter Mittelschichten wächst, inimmer stärkerem Maße, die Beratung»ihrer Landsleute« in Eigenverantwor-tung übernehmen zu können.1

1 Diese Konkurrenzsituation zwischen den verschiedenen Trägern der Ausländersozial-arbeit hat sich in den letzten Jahren eher noch verschärft, vor allem seit auch anderesoziale Dienste, etwa Angebote für Frauen oder Drogenabhängige, immer häufiger aufzeitlich begrenzte Projektfinanzierung umgestellt werden. Die Folge ist weniger eineAuseinandersetzung zwischen Geldgebern und Anbietern sozialer Dienste als zwischenethnisch und nicht-ethnisch organisierten Projekten. Ähnlich wie seit langem in denUSA wird eine Rassismus-Debatte um die Rolle der »weißen« Sozialarbeiter geführt, dieeher die strukturellen Ursachen für die Benachteiligung ethnischer Projekte verschleiert.Ein eher kurioses Beispiel sei aus Berlin zitiert: Die Einführung spezieller AIDS-Beratungsangebote für türkische Zuwanderer sollte nicht in die alleinige Verantwortungtürkischer Organisationen übergehen. Deshalb wurde für die Leitung des Projekts einedeutsche Ärztin eingestellt, die schnell unter Legitimationszwang geriet. Sie verteidigteihre Leitungsfunktion in einem türkischen Projekt mit Hinweis auf ihren türkischenEhemann.

Page 19: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

415

Die bildungspolitische Debatte über In-tegration bei Wahrung der kulturellenIdentität und Erhalt der Rückkehrfähig-keit wurde in Deutschland später als inanderen europäischen Ländern (vgl.Boos-Nünning/Hohmann/Reich/Wit-tek 1986) abgelöst durch die Diskussionvon Konzepten einer interkulturellenPädagogik. Interkulturelle Pädagogikfordert, nicht an den Defiziten der Schü-ler ausländischer Herkunft anzusetzen,sondern deren Zweisprachigkeit undmehrkulturelle Sozialisation als Res-source zu betrachten, die sie in Schuleund außerschulisches Umfeld einbrin-gen. Sie betont, daß die Bewältigung derdurch die Zuwanderung entstandenenSituation Veränderungen nicht nur beiden Migranten, sondern auch bei denAutochthonen verlange und daß des-halb eine Pädagogik notwendig sei, diesich an deutsche Schüler und Schülerausländischer Herkunft in gleicherWeise richtet. Seit etwa 1980 haben sich Begriff undKonzeption der interkulturellen Erzie-hung soweit stabilisiert, daß sie zu ei-nem festen Bestandteil pädagogischerDiskussionen um Migrationsfragenwurden, wenn auch von einem einheit-lichen Wortgebrauch bis heute nicht ge-sprochen werden kann. Die Zahl derPublikationen zu diesem Thema wurdenun unübersehbar: »Interkulturell« ent-wickelte sich zum Modebegriff. Zahlrei-che Modellversuche widmeten sich derinterkulturellen Erziehung in Kinder-garten und Schule bzw. in der außer-

schulischen Arbeit; zahlreiche Sammel-bände erschienen zum Thema, auchvon Kultusministerien herausgegebeneund veranlaßte (in englischer Sprachesiehe dazu Boos-Nünning/Hohmann1989). Unterhalb der programmatischen Ebeneund oberhalb der vielen – teils unzuläs-sigerweise – als interkulturell deklarier-ten Aktivitäten auf Schul- oder Stadt-ebene (interkulturelle Wochen, Festeetc.) blieben alte Mängel in Schulorgani-sation und Unterricht bestehen. Nachwie vor wird die Familiensprache derImmigranten-Kinder im Schulsystemnicht hinreichend berücksichtigt und ge-stützt, wenn es auch neben der völligenSeparation dieses Bereiches vom regulä-ren Schulsystem (z. B. in Berlin, Ham-burg und Baden-Württemberg)1 die Öff-nung zu den Herkunftssprachen der El-tern oder Großeltern der Kinder durchdie Möglichkeit des Unterrichtes in die-sen Sprachen an den Gymnasien gibt (soz. B. in Berlin und Nordrhein-Westfa-len)2. Halbherzig und zögernd werdenAnsätze verfolgt, islamischen Religions-unterricht als reguläres Fach an denSchulen anzubieten. Dabei spielt dieVorstellung, daß dem Bedürfnis musli-mischer Eltern nach religiöser Erzie-hung auch im Rahmen schulisch-öffent-licher Erziehung Rechnung getragenwerden sollte und müßte, ebenso eineRolle wie das Interesse, den Einfluß derMoscheen und der religiösen Erziehungin den Korankursen zu verringern.

1 Es ist schwer nachzuvollziehen, daß auch heute noch in einem Teil der Bundesländer dermuttersprachliche Ergänzungsunterricht der Schulaufsicht der Herkunftsländer über-lassen ist und nicht als originäre Bildungsaufgabe des deutschen Schulsystems ange-nommen wird.

2 Die Universität Essen eröffnete ab Wintersemester 1995/1996 einen Studiengang inTürkisch als Unterrichtsfach für Lehrer. Dies bedeutet einen wesentlichen Schritt inRichtung auf die Akzeptanz dieser Sprache und damit der Biographie der Schülertürkischer Herkunft.

Page 20: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

416

Dieser Modellpluralismus war auchmöglich, weil eine ungeregelte Zuwan-derung in die BRD kaum stattfand. DerEiserne Vorhang verhinderte dies weit-gehend. So war der WanderungssaldoAnfang der achtziger mehrere Jahrelang negativ. Erst ab 1988 wanderten biszu einer Million Menschen jährlich(1989) in die Bundesrepublik Deutsch-land zu. Aber auch diese Phase der Kon-solidierung wurde nicht für die Umset-zung einer Einwanderungskonzeptionund für die Verwirklichung bildungspo-litischer und pädagogischer Vorstellun-gen, die der Gestaltung des Zusammen-lebens und -lernens für Autochthoneund Zugewanderte dienten, genutzt. Imbildungspolitischen und (sozial-) päd-agogischen Bereich blieben viele Ansät-ze halbherzig. Ein wichtiger Grund fürdiese Stagnation liegt in der Weigerungpolitischer Entscheidungsträger, die Zu-wanderung als Prozeß anzusehen, derdie bundesdeutsche Gesellschaft ent-scheidend und irreversibel geändert hat,und in einer Pädagogik, die – sowohlauf der Ebene der Wissenschaft als auchauf der Ebene der Praxis in Schule undSozialarbeit – den Defizitansatz und dasauf ihm beruhende kompensatorischeDenken bis heute nicht überwundenhat. Als Folge der geschilderten Kompetenz-verlagerung auf die Bundesländer kamenneue ausländerpolitische Debatten des-halb vor allem aus diesem Bereich oderaus den großen Städten des Landes. Hierkonnten einzelne Reformmaßnahmen,etwa bei der Aufenthaltsverbesserungfür de facto-Flüchtlinge, bei der Aufwei-chung des Ausbildungsverbots für Asyl-bewerber, bei der erleichterten Einbürge-

rung, bei der Arbeitsplatzvergabe im Öf-fentlichen Dienst etc. durchgesetzt wer-den, die wiederum als Modelle für an-dere Bundesländer dienen konnten. DerPluralismus der Ansätze schuf aber teil-weise auch die Möglichkeit, Problembe-reiche auf andere Bundesländer oderKommunen abzuwälzen, weil zentraleRegelungen fehlten1. An der Forschung ging dieser Kompe-tenzwirrwarr ebenfalls nicht spurlosvorüber: Folge war eine gewisse Provin-zialisierung und Pädagogisierung, diemit veränderten, kleinräumigeren Fra-gestellungen zu erklären ist. Die Folgewar auch der bedauerliche Verlust inter-nationaler Kooperation und theoriege-leiteter Überlegungen in der Erfor-schung von Migration und ethnischenBeziehungen. Auch eine reformorien-tierte deutsche Linke hat sich diesemNiveau angepaßt. So hat die ausuferndeDebatte um das kommunale Wahlrechtoder um die doppelte Staatsbürger-schaft der achtziger Jahre auch dazugeführt, das Gesamtkonzept einer deut-schen Einwanderungspolitk weiter ausden Augen zu verlieren.

Vierte Phase: Die Angst vor der »neuenEinwanderungswelle« Die Öffnung des Eisernen Vorhangs hatzu einer radikalen Veränderung und Ver-größerung der Migrationsbewegungengeführt, aber auch die Chancen für einenpolitischen Grundkonsens durch dieKonzentration auf die deutsche Vereini-gung und die Abwehr weiterer Zuwan-derung eher verringert. Am Anfang die-ser vierten Phase stand 1989 mit demneuen Ausländergesetz der bundespoliti-sche Versuch, die Handlungsfreiheit der

1 Beispiel hierfür ist die unterschiedliche Praxis von Kommunen oder Bundesländern, dieSozialhilfe für Flüchtlinge in Sachleistungen oder in Geld auszuzahlen. Erstere Möglich-keit führte häufig zu einer beabsichtigten Abwanderung von Asylbewerbern in andereBundesländer oder Kommunen.

Page 21: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

417

Bundesländer wieder einzuschränken1.Die Angst vor der großen Zuwande-rungswelle hat in den letzten Jahren zueiner Konzentration auf Verhinderungs-strategien geführt, die allerdings wiederzentralstaatlich geregelt werden mußten.So erklären sich der Asylkompromiß deretablierten Parteien oder die Einschrän-kungen für deutschstämmige Übersied-ler ebenso wie eher progressive entwick-lungspolitische Strategien zur Migrati-onsregulierung oder die Öffnung kleine-rer Einwanderungstore für osteuropä-ische Immigranten über Werkverträge,Saisonarbeit oder Au-pair. Eine Änderung der sozial- und bildungs-politischen Konzepte ist dagegen kaumauszumachen, sieht man von der über-stürzten sozialpolitischen Reaktion aufdie ausländerfeindlichen Aktionen derletzten drei Jahre ab. Hier wurden teil-weise mit sehr viel Geld kaum ausge-reifte Konzepte einer »antirassistischen«Jugendsozialarbeit in Gang gesetzt, dievor allem etablierten Trägern zugutekommt, die schnell Konzepte liefernkonnten. Das jahrzehntelange Fehlen einer auslän-der-, bildungs- und sozialpolitischen Ge-samtkonzeption hat sich insbesondereauf die Lebens- und Bildungssituationder Arbeitsmigranten und deren Nach-kommen negativ ausgewirkt. Zwar gibtes – und dies ist wichtig zu betonen – einAnwachsen der Mittelschicht unter denArbeitsmigranten: Selbständige (z. B. Un-ternehmer, Ärzte), eine steigende Zahl

von Studierenden und Schülern an Gym-nasien. Aber noch immer fallen viele imBildungssystem durch und noch mehrwird der Zugang zu Berufsbildung undqualifizierter Arbeit vorenthalten. Es fin-det ein Ausschluß aufgrund ethnischerZugehörigkeit statt. In dieser Zeit waren38 % aller Schüler in den Berliner Sonder-schulen, die für lernschwache und ver-haltensauffällige Kinder eingerichtetwurden, türkischer Herkunft. FürDeutschland insgesamt betrug 1990 derAnteil der sog. Lernbehinderten an derGesamtzahl der Schüler der jeweiligenNationalität in allgemeinbildenden Schu-len bei den Schülern ausländischer Her-kunft 3,9 % mit großen nationalitätenspe-zifischen Unterschieden (von 2,2 % beiden Schülern griechischer Herkunft biszu 4,6 % bei Schülern türkischer und5,8 % italienischer Herkunft). Bemerkens-wert sind wiederum der große Abstandzu den deutschen Schülern, die beträcht-lichen Unterschiede zwischen den Natio-nalitäten mit herausragenden Werten fürdie Italiener und Türken und die geradefür diese Nationalitäten großen regiona-len Differenzen: 1989 waren in Baden-Württemberg 8,2 % aller Italiener in Son-derschulen für Lernbehinderte, in Rhein-land-Pfalz nur 4,3 %; für die Türken erga-ben sich in diesen beiden Ländern Wertevon 7,3 % bzw. 4,4 %. (Zum Vergleich: Beiden deutschen Schülern bilden 1,5 % inBaden-Württemberg und 1,9 % in Rhein-land-Pfalz die Eckpunkte des Spek-trums.)

1 Ein eher kurioses Beispiel für das Kompetenzgerangel im Zuwanderungsbereichzwischen Zentralstaat und Bundesländern bietet die Anwerbung kleiner Kontingentevon Arbeitsmigranten der letzten Jahre. So hatten die Bundesländer seit Anfang derachtziger Jahre versucht, Arbeitsmarktlücken etwa im Hotel- und Gaststättengewerbeoder im Gesundheitsbereich über eigene Anwerbeabkommen mit osteuropäischenLändern zu füllen. Dieses wurde in Bonn immer als Eingriff in die außenpolitischeKompetenz des Zentralstaats gewertet. Deshalb wurden von der Bundesregierung nachder endgültigen Öffnung des Eisernen Vorhangs entsprechende Verträge mit fast allenosteuropäischen Ländern geschlossen, um so diesen Kompetenzbereich wieder demZentralstaat zuzuweisen.

Page 22: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

418

Die Statistik über die ausländischenSchulabgänger aus allgemeinbildendenSchulen zeigt bis 1990 eine Verbesserungder Situation, wenn man die gestiegenenProzentsätze bei der Fachoberschul- undder Hochschulreife betrachtet. Der Anteilder Abgänger ohne Hauptschulabschlußhat sich allerdings von 1988 auf 1989nicht weiter verringert, und die Quoteder Abgänger aus der Sonderschule istnach einem Anstieg bis 1986 in den fol-genden Jahren in etwa konstant. BeideWerte zusammen ergeben für 1992 gut 19Prozent, d. h. daß das allgemeinbildendeSchulsystem in diesem Jahr etwas weni-ger als ein Fünftel aller Schüler ausländi-scher Herkunft als endgültig Geschei-terte entlassen hat (nur BundesgebietWest). Der Abstand zu dem Schulab-schlußniveau der deutschen Schüler hatsich in den vergangenen Jahren nur ge-ringfügig verringert und war auch vorallem am unteren und oberen Rand sehrgroß: Der Anteil der Abiturienten an derGesamtzahl der Schulabgänger aus allge-meinbildenden Schulen lag bei den deut-schen fast viermal so hoch wie bei denausländischen Schülern und es gab drei-mal so viele ausländische wie deutscheAbgänger ohne Hauptschulabschluß(ohne Sonderschulabgänger). Betrachtet man die Abgängerstatistik aufLänderebene, so lassen sich ebenfalls seitJahren beträchtliche, die Varianz der Ab-schlußniveaus der deutschen Schülerweit übertreffende Unterschiede zwi-schen den einzelnen Bundesländern fest-stellen: So erreichten 1990 von allen aus-ländischen Abgängern aus allgemeinbil-denden Schulen im Stadtstaat Hamburg10,5 % die Hochschulreife, in Rheinland-Pfalz nur 3,2 %; die Fachoberschulreifeerreichten in Nordrhein-Westfalen33,5 %; in Bayern 14,4 %; ohne Haupt-schulabschluß blieben in Berlin 29,5 %; inNordrhein-Westfalen 18,2 % (einschließ-lich Sonderschulabgänger; 1991: 15,2 %).

Trotz der immer stärker ethnisch-religiösstrukturierten Ausländersozialarbeit be-stehen für diejenigen, die in Krisensitua-tionen Hilfe und Beratung brauchen, nurin wenigen Städten adäquate, d. h. kul-tur- und sprachspezifische Angebote.Auch im Schulbereich werden erst ineinigen Bundesländern ernstlich Konse-quenzen aus der Zuwanderung gezogen,z. B. durch interkulturelle Ansätze in al-len Unterrichtsfächern und allen Schul-formen. Noch immer sind Angebote inder Herkunftssprache unzureichend undein islamischer oder orthodoxer Religi-onsunterricht stellt die Ausnahme dar.Die Konsequenzen dieser Defizite(schlechtere Ausbildung, höhere Arbeits-losigkeit, verstärktes deviantes Verhal-ten) müssen alle tragen, insbesondereaber die Immigranten und ihre Nach-kommen.

Fazit und Perspektiven Die Eingliederung von Arbeitsmigrantenund anderen ausländischen Zuwande-rern ist bis heute ein Sammelsurium un-terschiedlicher Ansätze, Programme undStrategien geblieben. Dies ist die Folgeeiner einseitigen Verlagerung politischerKompetenz für diese Zuwanderer auf dieföderale Ebene bei gleichzeitiger politi-scher Abstinenz des Zentralstaats, die indem Satz »Deutschland ist kein Einwan-derungsland« gipfelt. Trotz graduellerDifferenzen sind für dieses Dilemma par-teipolitische Unterschiede weniger ent-scheidend als zentralstaatliche Entschei-dungsschwächen und föderales Kompe-tenzgerangel. Mit der deutschen Vereini-gung ist eine Lösung offensichtlich ehererschwert worden, auch wenn der Asyl-kompromiß und andere Aktivitäten alsbundespolitische Initiativen gewertetwerden können. Einer Einwanderungs-politik haben uns diese restriktiven Maß-nahmen nicht nähergebracht.

Page 23: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

419

Offensichtlich wächst aber die Notwen-digkeit sozial- und bildungspolitischerKonsequenzen nicht nur aufgrund derSituation der Arbeitsmigranten und ihrerFamilien. Seit der Öffnung nach Ostenhaben sich die Migrationssysteme deut-lich zugunsten Osteuropas verändert.Aufgrund der dort stattfindenen ethni-schen Konflikte steigt die Zahl kleinerImmigrantengruppen, deren ethnischeLoyalität kaum identifizierbar ist. DieZeiten einzelner großer Immigrations-gruppen scheint vorerst vorbei. Der Auf-bau von ethnischen Organisationen istauf absehbare Zeit aufgrund fehlenderFunktionseliten in diesen kleinen Com-munities nicht zu erwarten. Unter diesen Umständen werden eta-blierte Träger der Wohlfahrt mit Zuwan-derern wieder stärker gefordert werden,da nicht alle Gruppen über die Finanzie-rung von Selbsthilfestrukturen, von Kul-tur- oder Begegnungsstätten etc. einge-gliedert werden können, wobei gleichzei-tig Beratungsangebote eher verstärktwerden müßten. Die Zunahme illegalerEinwanderer sowie eine deutsche legali-stische Tradition, die mit solchen Bedin-gungen kaum umzugehen versteht1, hatdiese Problematik noch einmal ver-schärft. Eine Gesamtkonzeption der Zuwande-rungs- und Integrationspolitik in derBundesrepublik Deutschland muß alsonicht nur die alten Defizite aufarbeiten,sondern auch Strategien für neue Migra-tionssysteme erarbeiten. Dabei kanndurchaus auf Erfahrungen in der Einglie-

derung deutscher Vertriebener undFlüchtlinge zurückgegriffen werden.Dazu ist allerdings ein politischer Willeauf zentralstaatlicher Ebene notwendig,der bisher in allen großen politischenParteien kaum auszumachen ist2.

Literatur Albrecht, Georg (Hrsg.): Das Düsseldorfer

Reformprogramm zum Ausländerrecht(AuslG E 76). Vorgelegt vom Initiativkreisfür die Reform des Ausländerrechts beimDiakonischen Werk der Evangelischen Kircheim Rheinland. Bonn: Europa Unionverlag,1976.

Arendt, Walter: »Die Eingliederung auslän-discher Arbeitnehmer in der Bundesre-publik Deutschland«, Auslandskurier 11, 5(1970), 2–3.

Boos-Nünning, Ursula: »MuttersprachlicheKlassen für ausländische Kinder: Einekritische Diskussion des bayerischen of-fenen Modells«, Deutsch lernen 2 (1981),40–70.

Boos-Nünning, Ursula: »Einwanderungohne Einwanderungsentscheidung: aus-ländische Familien in der Bundesrepu-blik Deutschland«, Aus Politik und Zeitge-schichte, Beilage 23–24 (1990), 16–25.

Boos-Nünning, Ursula; Hohmann, Manf-red: »The educational situation of mi-grant workers’ children in the FederalRepublic of Germany«. In: Eldering,Lotty; Kloprogge, Jo (Hrsg.): DifferentCultures same school. Ethnic minority child-ren in Europe. Amsterdam: Swets + Zeit-linger, 1989, 39–59.

Boos-Nünning, Ursula; Hohmann, Manf-red; Reich, Hans H.; Wittek, Fritz: Towardsintercultural education of migrant children inBelgium, England, France and The Nether-lands. London: CILT, 1986.

1 Die deutsche Erfahrung mit einer starken und paternalistischen Administration geradein der Zuwanderungs- und Eingliederungspolitik verhindert bis heute, daß die illegaleZuwanderung außer als Kriminalitätsproblem überhaupt wahrgenommen wird. Selbstlinksliberale Politik weicht diesem Thema aus. Die Wohlfahrtsverbände sind bishergezwungen, auch im Sinne der autochthonen Bevölkerung dringend notwendige Sozial-und Gesundheitsberatung für diese Zuwanderergruppen in der Halblegalität zu leisten.

2 In den Kernargumenten wurde der Text 1995 konzipiert. Er ist nicht zuletzt wegen dernicht ernsthaft beendeten Politikverweigerung auch heute noch aktuell.

Page 24: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

420

Brubaker, W. Rogers: Citizenship and na-tionhood in France and Germany. Cam-bridge; London: Harvard UniversityPress, 1992.

Bundesministerium für Arbeit und Sozial-ordnung (Hrsg.): Vorschläge der Bund-Län-der-Kommission zur Fortentwicklung einerumfassenden Konzeption der Ausländerbe-schäftigungspolitik (II a 5.24 200/22). Bonn:Eigenverlag, 1977.

Föhl, Carl: »Stabilisierung und Wachstumbei Einsatz von Gastarbeitern«, Kyklos 20,1 (1967), 119–146.

Hoffmann-Nowotny, Hans-Joachim: »Sozi-alstrukturelle Konsequenzen der Kom-pensation eines Geburtenrückgangsdurch Einwanderung«. In: Kaufmann,Franz Xaver (Hrsg.): Bevölkerungsbewe-gung zwischen Quantität und Qualität –Beiträge zum Problem einer Bevölkerungspo-litik in industriellen Gesellschaften. Stutt-gart: Enke, 1975, 72–81.

Hoffmann-Nowotny, Hans-Joachim: »Gast-arbeiterbewegungen und Soziale Span-nungen«. In: Reimann, Helga; Reimann,Horst (Hrsg.): Gastarbeiter. München: Wil-helm Goldmann, 1976, 43–62.

Käfferbitz, Jakob: »Eingliederung ausländi-scher Arbeitnehmer in die Wirtschaft unddie Gesellschaft der BundesrepublikDeutschland«, Bundesarbeitsblatt 1968,19–20, 541–546.

Katzenstein, Peter J.: Policy and Politics inWest Germany. The Growth of a Semisove-reign State. Philadelphia: Temple Univer-sity Press, 1987.

King, Russell (Hrsg.): The new geography ofEuropean migrations. London; New York:Belhaven Press, 1993.

Kischkewitz, Peter; Renter, Lutz-Reiner: Bil-dungspolitik zweiter Klasse? Ausländerkin-der im Schulsystem der BundesrepublikDeutschland. Frankfurt a. M.: Rita G. Fi-scher, 1980.

Kühn, Heinz: Stand und Weiterentwicklungder Integration der ausländischen Arbeitneh-mer und ihrer Familien in der BundesrepublikDeutschland – Memorandum des Beauftrag-ten der Bundesregierung. Teil I und II (1–7).Bonn: Eigenverlag, 1979.

KMK: Empfehlungen der Kultusministerkonfe-renz (1964): Unterricht für Kinder von Aus-ländern (Beschluß der Kultusministerkon-ferenz von 14./15.05.1964).

KMK: Empfehlungen der Kultusministerkonfe-renz (1971): Unterricht für Kinder ausländi-scher Arbeitnehmer (Beschluß der Kultus-ministerkonferenz von 03.12.1971).

KMK: Empfehlungen der Kultusministerkonfe-renz (1976): Neufassung der Vereinbarung»Unterricht für Kinder ausländischer Ar-beinehmer« (Beschluß der Kultusminister-konferenz von 08.04.1976).

KMK: Liste der Beschlüsse der Kultusminister-konferenz 1984.

Kulischer, Eugene M.: Europe on the move.War and population changes, 1917–1947.New York: Columbia University Press,1948.

Langenfeld Christine: Integration und kultu-relle Identität zugewanderter Minderheiten.Eine Untersuchung am Beispiel des allge-meinbildenden Schulwesens in der Bundesre-publik Deutschland. Tübingen: Mohr Sie-beck, 2001.

Mehrländer, Ursula; Hofmann, Roland;König, Peter; Krause, Hans-Jürgen: Si-tuation der ausländischen Arbeitnehmerund ihrer Familienangehörigen in der Bun-desrepublik Deutschland. Repräsentativun-tersuchung ’80. Forschungsinstitut derFriedrich-Ebert-Stiftung. Forschungsbe-richt im Auftrag des Bundesministersfür Arbeit und Sozialordnung. Bonn:Eigenverlag, 1981.

O’Brien, Peter: »German-Polish migration:the elusive search for a German nation-state«, International Migration Review 26, 2(1991), 373–387.

Rist, Ray C.: Guestworkers in Germany. TheProspect of Pluralism. New York: PraegerPublishers, 1978.

Schelsky, Helmut: Wandlungen der deut-schen Familie in der Gegenwart. Darstel-lung und Deutung einer empirisch-soziolo-gischen Tatbestandsaufnahme. 3. durch ei-nen Anhang erweiterte Auflage. Stutt-gart: Enke, 1955.

Schönwälder, Karen: Einwanderung und eth-nische Pluralität. Politische Entscheidungenund öffentliche Debatten in Großbritannienund der Bundesrepublik von den 1950er biszu den 1970er Jahren. Essen: Klartext, 2001.

Schwarz, Thomas: Sport in an Ethnic Commu-nity. Turkish Sports Clubs in Berlin. Vortrags-manuskript für die Warwick University,Großbritannien. Arbeitsheft des BerlinerInstituts für Vergleichende Sozialfor-schung (B. I. V.S.) Berlin: Eigenverlag, 1986.

Page 25: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

421

Schwarz, Thomas: Zuwanderer im Netz desWohlfahrtsstaats. Türkische Jugendliche unddie Berliner Kommunalpolitik. Berlin: Edi-tion Parabolis, 1992a.

Schwarz, Thomas: »The Turkish commu-nity in Berlin. Youth cultures in the sy-stem of the German welfare state«. In:Palmgren, Cecilia; Lövgren, Karin; Bolin,Göran (Hrsg.): Ethnicity in youth culture.Report from a symposium in Stockholm, Swe-den June 3–6 1991. Stockholm: Youth Cul-ture at Stockholm University, 1992b,195–203.

Siewert, Peter: »Zur Entwicklung der Gast-arbeiterkinder und der schulpolitischenAbstimmung der Kultusministerkonfe-renz«. In: Max-Planck-Institut für Bil-

dungsforschung – Projektgruppe Bil-dungsbericht (Hrsg.): Bildung in der Bun-desrepublik Deutschland. Daten und Analy-sen (2 Bände). Reinbek: rororo, 1980.

Soysal, Yasemin Nuhoglu: Limits of citizen-ship: guestworkers in the contemporary na-tion-state system. Stanford: UniversityPress, Diss. 1991.

Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesmi-nisterium für Wirtschaft: »Probleme derAusländerbeschäftigung. Stellungnahmedes Wissenschaftlichen Beirats beim Bun-desministerium für Wirtschaft«. In:Presse- und Informationsamt der Bun-desregierung (Hrsg.): Bulletin Nr. 57 vom10. Mai 1974, 568–578.

Page 26: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

422

Was kann Aktionsforschung zur Praxis desFremdsprachenunterrichts Deutsch beitragen?

Alexis Ngatcha

0. EinleitungIn meinem Beitrag unternehme ich denVersuch, den Stellenwert der Aktionsfor-schung für die Praxis des Deutschen-als-Fremdsprache-Unterrichts in Kamerunherauszuarbeiten. Dabei gehe ich in dreiSchritten vor. Der erste Schritt gilt derBegriffsdefinition, der Konzeptspezifika-tion und der Kritik am Ansatz der Akti-onsforschung. Anhand von Daten, dieich elizitiert habe, zeige ich im zweitenSchritt auf, wie sich aktionsorientierterDeutschunterricht auf die Lernendenauswirken kann. Im dritten Schritt zieheich Konsequenzen für die Lehrerausbil-dung und das Lehrmaterial.

1. Begriff, Konzept und Kritik der Akti-onsforschungIn der gegenwärtigen Diskussion um dieErforschung des Fremdsprachenunter-richts stellt sich ein neues Konzept (vgl.Crookes 1993) unter der Bezeichnung»Aktionsforschung« vor. Aktionsfor-schung ist ein Ansatz, der in der Sozial-und in der Erziehungswissenschaft be-reits seit den 70er Jahren diskutiert wird,und danach fragt, wie Aktion und For-schung angenähert werden können. Ak-

tionsforschung wird in der sozialwissen-schaftlichen und in der erziehungswis-senschaftlichen Literatur umschriebenmit »Handlungsforschung«, »aktivieren-der Sozialforschung« bzw. »aktivieren-der Schulforschung« (vgl. Klafki 1976)und basiert auf dem amerikanischen Be-griff »action research« von Kurt Lewin(1953).Für Edmondson und House (2000) istAktionsforschung ein Ansatz, mit dessenHilfe Wissenschaftler versuchen, persön-lich die Wirklichkeit eines Forschungsfel-des (z. B. des Fremdsprachenunterrich-tes) zu verändern.In Anlehnung an Kemmis/Mc Taggart(1982) schreibt Nunan folgendes:»Action research is trying out ideas in prac-tice as a means of improvement and asmeans of increasing knowledge about thecurriculum, teaching and learning.«(Nunan 1990: 63)

Cohen/Manion definieren »action rease-arch« als »small scale intervention in thefunctioning of the real world and a closeexamination of the effects of such inter-vention« (vgl. Cohen/Manion 1985: 174).Wallace definiert Aktionsforschung »asthe systematic collection of data relatingto improvement of some area of profes-

DaF im Ausland

Info DaF 31, 4 (2004), 422–430

Page 27: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

423

sional practice« (vgl. Wallace 1998: 1). FürHarmer ist »action research the namegiven to a series of procedures teacherscan engage in, either because they wish toimprove aspects of their teaching, or be-cause they wish to evaluate the successand/or appropriacy of certain activitiesand procedures« (vgl. Harmer 2001: 344).Nach Bortz/Döring (2002) ist Aktionsfor-schung ein Ansatz, der sich auf sozialeund politische Themen konzentriert undauf konkrete Veränderungen in der Pra-xis hinarbeitet. Bortz/Döring heben her-vor, daß speziell die Situation von be-nachteiligten gesellschaftlichen Gruppentransparent gemacht und verbessert wer-den soll. Ferner gehört es zum Wesen derAktionsforschung, daß sie die Betroffe-nen weitgehend am Forschungsprozeßbeteiligt und sie als gleichberechtigte Ex-perten bei der Entscheidung von inhaltli-chen und methodischen Fragen betrach-tet.Aus diesen definitorischen Annäherun-gen ergibt sich, worum es bei Aktionsfor-schung geht. In Anlehnung an Klafki(1976: 31) lassen sich etwas modifiziertfolgende Grundzüge der Aktionsfor-schung festhalten:1. In ihrem Erkenntnisinteresse und da-

mit ihren Fragestellungen ist Aktions-forschung auf pädagogische bzw.fremdsprachenunterrichtliche Praxisbezogen und will helfen, die aus dieserPraxis resultierenden Probleme zu lö-sen.

2. Aktionsforschung hebt die Trennungzwischen Forschern und Praktikern(hier: den Fremdsprachenlehrern) auf,d. h. sie hebt auch die Trennung zwi-schen Theorie und Praxis zugunsteneines Zusammenwirkens von For-schern und Lehrern im Handlungs-und Forschungsprozeß auf. Hier wirddeutlich, was Nunan (2001: 199) »in-side out« und »outside in«-Annähe-rung an die Unterrichtswirklichkeit,

mit dem Ziel, mehr Professionalitätund mehr Effektivität zu erzielen,nennt. Im »inside out-approach« setztder Forschungsprozeß beim Lehrer an:Die Forschungsaktivitäten zielen abauf die Suche nach Lösungsmöglich-keiten von Problemen, mit denen derPraktiker konfrontiert ist. Im »outsidein«-Ansatz stellt der Experte/Forscherdem Lehrer im Rahmen von Work-shops und Seminaren Daten aus derTheorie zur Verfügung, mit deren HilfeKonzeptionierung, Durchführung undEvaluation des Unterrichts realisiertwerden können.

3. Aktionsforschung ist von Anfang anInnovationsforschung, weil sie die zuerforschende Praxis als eine zu verän-dernde betrachtet. Somit ist sie nichtlediglich Anwendung der Wissen-schaft, sondern eher, um mit Kurt Au-rin (1976) zu sprechen, forschendeAuseinandersetzung der Wissenschaftmit einem bestimmten Feld, Auseinan-dersetzung der Praktiker mit den Ana-lysen, Versuchs- und Handlungspla-nungen der Wissenschaftler und ko-operierende Entwicklungsarbeit.

4. Im Aktionsforschungsansatz sind nichtnur die Forscher Träger der Verände-rungsprozesse, sondern auch und vorallem die Subjekte der Forschung (inunserem Falle: Fremdsprachenler-nende und Fremdsprachenlehrende).Zur schrittweisen Einbeziehung derSchüler in den Forschungsprozeßmeint Wallace:»Action research does not require thesubjects of the research to be kept in darkabout the researchers purposes. There-fore, there is no reason why learnersshould not be treated as partners in theaction research process.« (Wallace 1998: 4)Damit gibt der Aktionsforschungsan-satz die Trennung zwischen For-schungssubjekt und Forschungsobjektauf.

Page 28: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

424

5. Indem der Aktionsforschungsansatzdie gesellschaftlichen und politischenRahmenbedingungen, in denen derLehr- und Lernprozeß stattfindet, be-rücksichtigt und damit Selbstreflexi-ons- und Aktionsprozesse zum Abbauvon Herrschaft initiiert, hat er einenemanzipatorisch-politischen Charak-ter. Er ist also nicht wertneutral. Inno-vative Aktionsforschung ist, so Klafki(1976), gesellschaftskritisch, soziopoli-tisch orientiert und visiert die Demo-kratisierung der Gesellschaft und derErziehung an.

Der Ansatz der Aktionsforschung istnicht unkritisiert geblieben: Eine Reihevon Fragen werden gestellt hinsichtlichder Reliabilität und der Validität der Er-gebnisse, die mit dem Ansatz der Akti-onsforschung gewonnen werden. Sowird Zweifel daran angemeldet, ob einanderer Forscher bei einer erneuten Ana-lyse der elizitierten Daten zu denselbenErgebnissen kommen wird und ob diesesForschungsdesign es erlaubt, die Ergeb-nisse zu verallgemeinern (vgl. Nunan1992). Eine weitere Kritik sehe ich darin,daß die Aufhebung der Subjekt-Objekt-Relation zugunsten der Symmetrie zwi-schen Forschern und Beforschten in allenPhasen und in allen Fragen durchausproblematisch ist, weil die Forschungs-fragen selten einen Kompromiß der Inter-essen aller am Forschungsprozeß Betei-ligten darstellen.Trotz aller kritischen Einwände ist dieAktionsforschung meines Erachtens eininteressantes Aufgabengebiet.

2. Eigene Erfahrung mit Aktionsfor-schungIn einer der eingangs angeführten Defini-tionen heißt es, daß die Aktionsfor-schung in ihrem Erkenntnisinteresse undihren Fragestellungen auf konkrete Ver-änderungen in der Praxis hinarbeitet.Meiner Meinung nach kann man nicht

über die Facetten der Veränderungensprechen, ohne zunächst auf das Pro-blem, für dessen Lösung die Aktionsfor-schung eingesetzt werden soll, einzuge-hen. Bevor ich also anhand der von mirelizitierten Daten exemplarisch aufzeige,wie man in die Konzeption und Durch-führung des FremdsprachenunterrichtsDeutsch in Kamerun eingreifen und sieverändern kann, ja, wie sich aktionsori-entierter Unterricht auf die Schüler aus-wirkt, soll zunächst das fundamentaleProblem des FremdsprachenunterrichtesDeutsch in Kamerun (und ggf. in denfrankophonen Ländern Afrikas) kurz an-gesprochen werden. Dies soll deutlichmachen, warum es erforderlich ist, inzukunftsorientierter Spracharbeit akti-onsorientiert vorzugehen.

2.1 ProblemlageDas Problem möchte ich folgendermaßenformulieren: bei der heutigen Konzep-tion und Durchführung des Deutschun-terrichts geraten die Schüler als Personensowie die spezifischen gesellschaftlichenund politischen Rahmenbedingungen,denen sie unterworfen sind, aus demBlick. Deutschunterricht stellt (noch)nicht den Ort dar, wo die Schüler ihremittelbare und unmittelbare Lebenswelthinterfragen, über die anzunehmendenHerausforderungen und über sich selbstnachdenken und sprechen können.Dieses Problem ist auf eine Reihe vonFaktoren zurückzuführen: Beobachtun-gen aus dem Schulalltag sowie die Aus-wertung von Schülerfragebögen lassenfolgendes erkennen:

2.1.1 Das Lehrerverhalten ist nicht beson-ders schülerorientiert. Vorherrschend inder Unterrichtskonstellation und in derUnterrichtslandschaft sind das, was ichdie »6K« nenne. Es geht dabei um fol-gende Erscheinungen:

Page 29: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

425

a)Die Kultur der AbhängigkeitSie ist dadurch gekennzeichnet, daßder Lehrer durch die Überakzentuie-rung der Fremdkorrektur, d. h. auchüberspitzte Kontrolle des Lernprozes-ses, Eigeninitiative und Selbsttätigkeitder Schüler nicht zuläßt und somit dieAsymmetrie zwischen ihm und denLernern verstärkt. Dies führt dazu, daßSchüler in der Peripherie bleiben undnur eine Statistenrolle spielen müssen.

b)Die Kultur der DiktaturSie manifestiert sich darin, daß Lehrerihre Schüler in die Irre führen, indemsie richtige Schüleraussagen für falscherklären, ihre eigenen falschen Ant-worten bzw. eigenen Fehler jedochdurchsetzen. Eine Schülerin schreibt inihrem Fragebogen: »Ein Lehrer, der soviele Pannen verursacht, kann denSchülern nichts beibringen«.

c) Die Kultur der GewaltSie weist vielfältige Dimensionen auf:sie reicht von der körperlichen Züchti-gung (im Falle von Abweichungen vonder Sprachnorm oder bei der Infrage-stellung einer vom Lehrer zensiertenArbeit) über die psychisch-psychologi-sche Gewalt (z. B. durch die Isolationvon Schülern, die die Kompetenz desLehrers durch Karikatur oder offen inFrage stellen) bis hin zur Destruktiondes Selbstbewußtseins von Schülern(etwa wenn der Lehrer für die Korrek-tur einer Übung gerade den Schüler andie Tafel schickt, der etwas nicht kann).Ist das nicht Bloßstellung und Demüti-gung? Ich zitiere aus dem Fragebogeneiner Schülerin: »Unsere Lehrerin isteine pädagogische Katastrophe. Wennich könnte, würde ich meine Lehrerinwechseln«. Ein anderer Schülerschreibt: »Wenn ich an meinenDeutschlehrer und an die Deutsch-stunde denke, habe ich Kopfschmer-zen«. Kopfschmerzen, so die Neuro-biologen, sind Manifestationen von

Streß- und Depressionszuständen alsIndikatoren für eine dysfunktionale In-teraktion zwischen den handelndenPersonen (vgl. Strauss 1995). Bei Kin-dern, die öfter bestraft werden, sindVerhaltensstörungen, Aggressivität,Tendenz zur Kriminalität und zumSelbstmord zu beobachten. DepressiveSymptome wie Traurigkeit, Unbeha-gen, Verzweiflung hängen ebenfallsstark mit dem Einsatz von Strafen zu-sammen.

d)Die Kultur des SchweigensDieser Kardinalpunkt einer Erziehungund Bildung, die den Menschen seinerMenschlichkeit, d. h. seiner Freiheit be-raubt (vgl. Freire 1971), kommt imDeutschunterricht dadurch zum Aus-druck, daß der Lehrer die Anzahl derSchülerfragen reduziert mit der Be-gründung, viele Fragen würden dievollständige Durchnahme des geplan-ten Pensums verhindern. Dabei wirdübersehen, daß Fragen (vgl. hierzu No-vack/Macht 1996) nicht nur zur Ge-winnung von Erkenntnissen da sind,sondern auch die Aufmerksamkeit unddas Kurzzeitgedächtnis der Schülerunterstützen sowie als Suchhilfen imLangzeitgedächtnis gelten.

e) Die Kultur der WillkürSie findet ihre Manifestation darin, daßnur der Lehrer bei der Korrekturschriftlicher Aufgaben die Kriterienkennt und diese den Schülern nichtoffenlegen will. So erscheint den Schü-lern die Bewertung ihrer Aufgaben alseine undurchsichtige Praxis. Indemalso der Lehrende keine Rechenschaftablegt, fassen die Schüler seine Korrek-tur als repressive Verhaltensweise unddeutliches Indiz für Ungerechtigkeitund Blockade auf, insbesondere wennman bedenkt, daß Schüler ihre Leistun-gen nur dann verbessern, wenn mansie über Fehler als Zwischenstadiumdes Lernprozesses aufklärt.

Page 30: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

426

f) Die Kultur des MethodenmonismusHierbei handelt es sich um die Bezeich-nung für eine Unterrichtspraxis, in derdie Einsatzhäufigkeit und der Beliebt-heitsgrad einer Kooperationsform vor-herrscht und andere Formen kaumoder nie eingesetzt werden. Die Kulturdes Methodenmonismus zieht eineReihe von Problemen nach sich: Zumeinen die Balkanisierung der Klasse,die zur Isolation der einzelnen Schülerführt. Im Frontalunterricht z. B. wirddas Verwandeln des Nebeneinandersin ein Miteinander der Schüler schwie-rig. Zum anderen wird die Asymmetriein der Kommunikation zwischen Leh-rer und Schüler verstärkt; schließlichfehlt die Möglichkeit der Verarbeitungvon Einsprüchen, weil die Schülerkaum Interesse an den Beiträgen derMitschüler zeigen. Statt Multilogen,die die meisten Schüler in das Unter-richtsgeschehen einbeziehen, entste-hen vielmehr kleine, private Dialogezwischen dem Lehrer und dem dran-genommenen Schüler.

2.1.2 Die Durchsicht der Arbeitshefte von1312 Lernern der 11., 12. und 13. Klasse1

hat ergeben, daß Schreibübungen, dieMöglichkeiten zur Förderung der inter-kulturellen Kommunikation sowie zurSelbstreflexion darstellen, nicht einge-setzt werden. Gefördert wird in diesemZusammenhang weder das heuristische,noch das personale, noch das kommuni-kative Schreiben. Im Unterricht werdenz. B. kaum Texte zu so wichtigen Themenwie »Auswirkungen ethnischer Konfliktefür Afrika«, »Funktionieren der Demo-kratie«, »Probleme bei der Begegnungzwischen Afrikanern und Deutschen«verfaßt (vgl. Ihr und Wir, Band 3 und 4).

Es dürfte deutlich geworden sein, daßneuralgische Probleme der Selbstver-wirklichung der Lerner sowie die Proble-matisierung gesellschaftlicher Realitätenim Unterricht ausgespart werden. DerAnsatz der Aktionsforschung kann hierhelfen, diese nicht zufriedenstellende Si-tuation zu verändern. An dieser Stellemöchte ich auf ein von mir entwickeltesModell (Informieren-Erziehen-Kommu-nizieren-Modell) für die positive Verän-derung von Schülerbewußtsein aufmerk-sam machen, das ich im Sinne der Akti-onsforschung als direkte Intervention inden Lehr- und Lernprozeß verstehe (vgl.Ngatcha 2002). Ich möchte vor allem diepolitische Relevanz dieses Modells fürVeränderungsprozesse betonen und hebedamit hervor, daß Schule und Unterrichtzu den wirtschaftlichen, sozialen und po-litischen Problemen, vor allem in denLändern der Dritten Welt, Stellung neh-men müssen. Dies impliziert für den Un-terricht im Fach Deutsch als Fremdspra-che in diesen Ländern, daß auch dieserUnterricht zur Veränderung gesamtge-sellschaftlicher Verhältnisse beizutragenhat. Die Effektivität des Erlernens derdeutschen Sprache wird nur dann ge-währleistet, wenn es Lernende in diesenLändern dazu befähigt, über gesamtge-sellschaftliche Mißstände und Verhältnis-se nachzudenken und Transformations-möglichkeiten vorzuschlagen.

2.2 Aktionsforschung als AntwortUm Deutschlernende in Kamerun zurReflexion und Aktion zu bewegen, habeich im Jahre 2000/2001 Experimente undUnterrichtsversuche durchgeführt, in de-ren Mittelpunkt Schüler der 11., 12. und13. Klasse standen.

1 aus logistischen Gründen habe ich die im Jahre 2000 durchgeführte Untersuchung aufSekundarschulen in Yaoundé beschränkt.

Page 31: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

427

2.2.1 ExperimenteBei der Kontaktaufnahme mit den Schü-lern sensibilisierte ich sie (als potentielleFührungskräfte) in Richtung auf ihre ent-scheidende Rolle bei der Umgestaltungder kamerunischen Gesellschaft. DieAufgabe der Schüler bestand darin, zueinem politischen, wirtschaftlichen odersozialen Problem, das sie bewegt, einenText zu schreiben. Dieses Verfahren ord-net sich in den »process syllabus« im Rah-men der »task based instruction« ein (vgl.Skehan 1998). Dabei entscheiden dieSchüler autonom, zu welchen Themen sieTexte schreiben wollen. Im Schreibaktbesteht die Möglichkeit, sich über dieDinge und über sich selbst klar zu wer-den. Man verändert sich dadurch selbst.Auf diesem Wege hinterläßt das Schrei-ben nicht nur auf dem Papier Spuren,sondern auch in Seele und Geist (vgl.hierzu Herrmanns 1989; Mummert 1989).Aus dem Experiment entstanden Textezu folgenden Themen:– Friede in Gefahr– Justiz in Kamerun– Kapitalflucht– Kriminalität– Demokratie– Pressefreiheit– Armut– Schulden– Waldzerstörung– Korruption– Mein Problem ist …– Straßenkinder– MenschenrechteDie Texte, die ich im Rahmen diesesAufsatzes aufgreife, gebe ich unkorrigiertwieder, also mit »Fehlern«. Das ist fürmich eine Möglichkeit, die »Intimität«der Autoren zu respektieren und zu-gleich darauf aufmerksam zu machen,daß Schüler nicht nur Texte schreibensollten, um Noten zu bekommen.Schließlich ist es besser, Fehler beimSchreiben zu machen als perfekt zu

schweigen. Aus der Analyse der schü-lerinitiierten Texte ergibt sich folgendes:a)Texte problematisieren Situationen, die

im außerschulischen Kontext erlebbarsind.

b)Bei der Themenauswahl fällt das Krite-rium Betroffenheit besonders ins Ge-wicht. Die Themen, zu denen SchülerTexte verfaßt haben, sind von brennen-der, erregender Aktualität.

c) Aktionsorientierter Deutschunterrichteröffnet den Schülern die Möglichkeitzu einer Bestandsaufnahme der sozi-alen Wirklichkeit. Der folgende Texteiner Sechzehnjährigen bringt auf denPunkt, welche Probleme in politischer,wirtschaftlicher und sozialer Hinsichtim Zentrum der Aufmerksamkeit derheranwachsenden Generation stehen:»Wir haben einen Präsident gewählt, aberer ist oft nicht da, wenn wir Problemehaben. Ich möchte ihm sagen, daß unsereEltern uns nicht mehr ernähren, weil derStaat sein Gehalt genommen hat. Ichmöchte ihm sagen, daß wir in der KlasseHunger haben. Wir sind müde, wenn wirin die Schule kommen, weil der Weg langist und wir haben kein Geld für das Taxi.Ich möchte ihm sagen, es gibt 123 Schülerin meiner Klasse. Ich möchte ihn fragen,warum er eine Schule für seine drei kleineKinder im Palais gebaut hat. Wir sind alsonicht seine Kinder? Warum macht er dieDiskriminierung? Ich möchte fragen, wa-rum hat Kamerun zwei Verfassungen –das hat uns unser Lehrer von Instructioncivique gesagt. Ich möchte ihm fragen,warum wir arm sind, aber wir haben vielErdöl und Holz, und Kaffee und Kakao.Ich möchte ihm fragen, warum Trans-parency International sagt, wir sind dasmehr korrupte Land der Welt seit 1999.Ich möchte ihm sagen, ich habe vier Brü-der, sie haben studiert, haben ihre Di-plome, aber sie sind alle in Haus, weil siekeine Arbeit finden. Mein Problem ist,der Präsident hat uns vergessen.«

d)Die Wahrnehmung der unmittelbarenLebenswelt löst in den Köpfen derSchüler Probleme, Fragen, Irritationenaus, vermittelt aber auch Lösungsan-

Page 32: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

428

sätze. Hinsichtlich der Bekämpfungder Korruption schreibt ein Schüler ineinem Gedicht:»Korruption, Negation der kameruni-schen Gesellschaft, wir junge Generation,versprechen dir die Ausschaltung, denVerfall, den Abstieg in die Hölle / Wiralle sind überzeugt, daß du einst ver-schwinden wirst, dank unserem Willenund unser bewußten Determination, un-serem erhabenen Land seine ehemaligeGlänze und Ehre wiederzugeben«.Ein anderer Schüler schreibt hinsicht-lich der Schuldenproblematik:»Ich frage mir: warum geben die Welt-bank und der FMI und viele andere Län-der Kamerun Kredite, obwohl sie wissen,die großen Leute werden dieses Geldstehlen? Wenn die Weißen uns helfenwollen, müssen sie mit ihrem Geld kom-men und selbst die Projekte führen, odersie geben kein Geld mehr.«

e) Im Erfahrungsraum der Fremdsprachekonstruieren die Schüler eine neueWelt. Ein Schüler schreibt:»Wenn ich Finanzminister wäre, würdeich weniger Geld für Luxuswagen ausge-ben. Ich würde nicht immer die Pro-gramme von FMI und Banque Mondialeakzeptieren, weil nur die armen Leuteihren Lebensstandard reduzieren müs-sen. Ich würde die Leute kontrollieren,die viel Geld haben. Leute, die in denBanken in Europa Geld haben, müßtendieses Geld nach Kamerun zurückbrin-gen und hier investieren.«

2.2.2 UnterrichtsversucheUnter Unterrichtsversuch verstehe ichdie Bereitschaft, Konzeption, Durchfüh-rung und Evaluation des Deutschunter-richts zu erneuern, Risiken einzugehen,Neues auszuprobieren, mit dem Ziel, dieWirklichkeit zu berühren. Die für dieDurchführung der Unterrichtsversucheausgewählten Vorlagen erwuchsen ausder Auswertung von Schülertexten, ausdenen der Wille deutlich hervorging,handelnd auf die soziale Wirklichkeiteinzuwirken. Ich halte es für erforderlich,daß sich Schüler bestimmte Qualifikatio-

nen im Sinne von Fertigkeiten und Fähig-keiten aneignen, mit deren Hilfe sie ihreLebenswelt umzugestalten vermögen.Aus der Auswertung der durchgeführtenUnterrichtsstunden ergibt sich,a)daß in den Jugendlichen ein mächtiges

Potential schlummert, das man zur vol-len Entfaltung bringen kann;

b)daß bei der Auseinandersetzung mitThemen, die sich auf die soziale Wirk-lichkeit beziehen, die Schüler Klarsichtund Zivilcourage zeigen: Schüler sehenein, daß die Umgestaltung der Gesell-schaft nicht zum Nulltarif erfolgenkann:Schüler 20: »Ohne Mut kann man nichtetwas positiv erreichen«S21: »Ohne Mut kann man nicht ein Landbauen«S22: »Ohne Mut kann man nicht etwasändern«S23: »Ohne Mut keine guten Noten imDeutschunterricht«S24: »Ohne Mut kein Fortschritt«S25: »Ohne Mut keine Freiheit«S26: »Ohne Mut keine Unabhängigkeit«;

c) daß die Texte bzw. Aussagen der Schü-ler nicht nur kognitiv-argumentativsind, sondern auch viel Affekt enthal-ten. Schüleraussagen und -texte habenetwas Beschwörendes und lassen aufdie Entwicklung einer Art mentalerRebellion schließen;

d)daß an die Stelle von VerzweiflungHoffnung und an die Stelle von Resi-gnation Vertrauen tritt. Hoffnung, Ver-trauen, aber auch Tugenden wie Mutund Verantwortungsgefühl bilden mei-nes Erachtens nach die Grundlage fürdie Rekonstruktion (den Aufbau) einerstabilen Gesellschaft, die auf ethischenund demokratischen Prinzipien grün-det.

Wie man also sehen kann, verknüpft akti-onsorientierter Deutschunterricht dialek-tisch Reflexion und Aktion.

Page 33: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

429

3. Konsequenzen für Lehrerausbildungund LehrmaterialAufgrund der durchgeführten Studie undder gewonnenen Ergebnisse bin ich ausguten Gründen fest davon überzeugt, daßdie im Rahmen der Aktionsforschung er-reichten Leistungen im Denken und Han-deln-Wollen für die Schüler ein berei-cherndes Kapital bedeutet haben. Willman also die Praxis des Fremdsprachen-unterrichts Deutsch so verändern, daß dieSchüler dort Schlüsselqualifikationen er-werben, die für die Umgestaltung derGesellschaft notwendig sind, muß manbei der Verbesserung der Lehre, d. h. beider Lehrerausbildung ansetzen. Eine ganzentscheidende Qualifikation ist die Ent-wicklung des Muts, Unterricht zu machenmit dem Ziel der Sensibilisierung für dieNotwendigkeit, gesellschaftliche Verän-derungen zu erreichen. Wenn Deutsch-als-Fremdsprache-Unterricht in Kamerun(ggf. auch in anderen Ländern der DrittenWelt mit kolonialer Vergangenheit) aufGrund der politischen und gesellschaftli-chen Rahmenbedingungen sich prioritärdie Existenzanalyse zu eigen machen muß,muß der Lehrer seine Stunde so gestalten,daß sie die Lernenden zu einer scho-nungslosen Betrachtung von gesamtge-sellschaftlichen Problemen animierenkann. Ein Lehrer, der vor einer eventuellenStrafversetzung Angst hat, wird eher aufden Ansatz der Aktionsforschung ver-zichten. Im Rahmen der Ausbildung undwährend der Fortbildungskurse müssendie Lehrer mit dem »balanced teaching«(van Lier 1996) vertraut gemacht werden.»Balanced teaching« impliziert die Kom-bination von Planung und Improvisation,was vom Lehrer verlangt, daß er auf dasFesthalten am zu Hause geplanten Lehr-stoff verzichtet, daß er aber auch die Kunsterlernt und beherrscht, Neues in den Un-terrichtsprozeß einzubauen. Allerdingsmuß der Lehrer bereit sein, von seinertraditionellen Rolle als Wissensvermittler

Abschied zu nehmen und sich vielmehrder neuen Aufgabe als »problem maker«anzunehmen. Ein solcher Lehrer verstehtseine Aufgabe als Aufklärer der Jugendli-chen, indem er ihnen zeigt, wie man mitoffenen Augen durch die Welt geht, Ge-fahren erkennt und sie bekämpft sowieTabu-Themen zum Unterrichts- und Re-flexionsgegenstand macht. Dies impli-ziert, wie man sehen kann, eine durchdachteAuswahl des einzusetzenden Lehrmaterials.Durch die Einbeziehung zusätzlicher Ma-terialien entstehen neue Möglichkeiten,den Unterricht interessanter zu gestalten.Die im Zusammenhang der Aktionsfor-schung durchgeführten Unterrichtsversu-che haben erkennen lassen, daß Texte inanderen Fremdsprachen auch imDeutschunterricht Verwendung findenkönnen, soweit sie zur Verhaltens- undEinstellungsänderung verhelfen. Ein sol-ches Verfahren trägt dem Prinzip derMehrsprachigkeit Rechnung. Grundvor-aussetzung ist, daß die Unterrichtsspra-che Deutsch ist und daß die Schüler einpaar Tage vor der Durchnahme des Texteseine Kopie erhalten, damit sie im VorfeldWortschatzarbeit zu Hause machen kön-nen. Der Vorteil eines solchen Ansatzes istder, daß die Lernenden einsehen: mankann das in anderen Sprachen erworbeneWissen für das Erlernen des Deutschenfruchtbar einsetzen. Die unmittelbareFolge ist, daß Schüler fremdsprachigeAusdrücke in ihre deutschen Sätzen ein-bauen, um den Gedankenfluß nicht abzu-brechen, und daß sie erst dann den Lehrerum die deutsche Entsprechung bitten.Abschließend sei gesagt, daß der Ansatzder Aktionsforschung vor dem Hinter-grund des Vorausgegangenen eine realeChance darstellt, sowohl die soziale alsauch die fremdsprachenunterrichtlichePraxis entscheidend zu verändern. Somitpaßt der Aktionsforschungsansatz genauin das Brechtsche Verständnis von Wissen-schaft. Im »Leben des Galilei« heißt es:

Page 34: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

430

»können wir uns der Menge verweigernund doch Wissenschaftler bleiben? […] Ichhalte dafür, daß das einzige Ziel der Wis-senschaft darin besteht, die Mühseligkeitder menschlichen Existenz zu erleichtern.Wenn Wissenschaftler – eingeschüchtertdurch selbstsüchtige Machthaber – sich da-mit begnügen, Wissen um des Wissens wil-len aufzuhäufen, kann die Wissenschaftzum Krüppel gemacht werden, und eureneuen Maschinen mögen nur neue Drang-sale bedeuten.« (Brecht 1997: 103)

LiteraturAurin, K.: »Das Dilemma pädagogischer

Begleitforschung«. In: Werres, W.: Innova-tionsmodelle für Schule und Unterricht.Düsseldorf: Henn, 1976, 9–30.

Bortz, Jürgen; Döring, N.: Forschungsmetho-den und Evaluation für Human- und Sozial-wissenschaftler. Berlin: Springer, 2002.

Brecht, Bert: Leben des Galilei. Frankfurt amMain: Suhrkamp, 1997.

Cohen, L.; Manion, L.: Research Methods inEducation. London: Croon Helm, 1985.

Crookes, G.: Action Research for Second Lan-guage Teachers: Going Beyond Teachers Re-search. Applied Linguistics 14 (1993), 130–144.

Edmondson, Willis; House, Juliane: Einfüh-rung in die Sprachlehrforschung. Tübingen:Francke, 1993.

Freire, P.: Pädagogik der Solidarität. Für eineEntwicklungshilfe im Dialog. Bielefeld2000.

Harmer, J.: The practice of English LanguageTeaching. Cambridge: Cambridge Univer-sity Press, 2001.

Herrmanns, F.: »Schreiben als Lernen. Ar-gumente für das Schreiben im UnterrichtDeutsch als Fremdsprache«. In: Heid,Manfred; Goethe-Institut (Hrsg.): DieRolle des Schreibens im Unterricht Deutschals Fremdsprache. Dokumentation eines Kol-loquiums im Juli 1988 in Grassau (Obb.).München: iudicium, 1989, 28–50.

Kemmis, S.; Mc Taggart, R. (eds.): The ActionResearch Reader. Deakin: Deakin Univer-sity Press, 1982.

Klafki, W.: »Handlungsforschung im Schul-feld«. In: Werres, W.: Innovationsmodellefür Schule und Unterricht. Düsseldorf:Henn, 1976, 31–56.

Lewin, K.: »Tatforschung und Minderheits-probleme«. In: ders.: Die Lösung sozialerKonflikte. Bad Nauheim: Christian Verlag,1953, 278–298.

Mummert, Ingrid: Nachwuchspoeten. Jugend-liche schreiben literarische Texte im Fremd-sprachenunterricht Deutsch. München:Goethe-Institut/Klett, 1989.

Ngatcha, Alexis: Der Deutschunterricht inKamerun als Erbe des Kolonialismus undseine Funktionen in der postkolonialen Ära.Frankfurt am Main: Lang, 2002.

Novack, J. R.; Macht, K.: Die Kunst desFragens. Theorie und Praxis der Frage alsdidaktisches Steuerungsinstrument. Augs-burg 1996.

Nunan, David: »Action Research in the Lan-guage Classroom«. In: Richards, J. C.;ders. (eds.): Second Language Teachers Edu-cation. Cambridge: Cambridge UniversityPress, 1990.

Nunan, David: Action Research in LanguageLearning. Cambridge: Cambridge Univer-sity Press, 1992.

Nunan, David: »Action Research in Lan-guage Education«. In: Hall, D. R.; Hen-nings, A. (eds.): Innovation in English Lan-guage Teaching. A Reader. London; NewYork: The Open University, 2001, 197–207.

Skehan, P.: Task-based instruction. AnnualReview of Applied Linguistics 18 (1998),268–286.

Strauss, M. A.: Punishment of children andadult depression. Cambridge: CambridgeUniversity Press, 1995.

van Lier, Leo: Interaction in the LanguageCurriculum: awareness, autonomy and au-thenticity. London: The Open University,1996.

Wallace, M. J.: Action Research for LanguageTeachers. Cambridge: Cambridge Univer-sity Press, 1998.

Page 35: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

431

Sprachpraxis und Fremdverstehen in der Auslandsgermanistik: Eine Seminarkonzeption für französische Studierende der Germanistik1

Corinna Scheurer

Bei der Fülle der jährlich neu erscheinen-den Publikationen zu Fragen der Inter-kulturalität im Fachgebiet Deutsch alsFremdsprache ist zweifelsohne ein Über-hang an theoretischen Arbeiten zu Lastenvon unterrichtskonzeptionellen Überle-gungen sowie Dokumentationen praxi-serprobter Seminarprojekte zu verzeich-nen.In Anbetracht dieses Ungleichgewichtssollen in diesem Aufsatz Überlegungenzur Problematik des Fremdverstehens inder Auslandsgermanistik anhand derPräsentation eines für französische Stu-dierende der Germanistik konzipiertenSeminars zum Themenfeld »Heimat –Fremde« entwickelt werden. Es handeltsich hierbei um eine gemäß der Studien-ordnung für das erste Studienjahr mitdem Titel »activités de communicationécrite et orale« versehene Veranstaltung,deren inhaltliche Ausrichtung von denjeweiligen Dozentinnen und Dozentenfrei bestimmt werden kann. Die der Aus-landsgermanistik spezifische Problema-tik des Fremdverstehens soll im folgen-den anwendungsbezogen reflektiert wer-den und nach Möglichkeit unmittelbareImpulse und Anregungen für die Unter-richtsgestaltung im DaF-Bereich schaf-

fen, wobei ebenfalls die Ebene derSprachvermittlung, eine weitere zentraleDimension der Auslandsgermanistik, Be-achtung findet.

0. Vorüberlegungen zur Seminarkon-zeptionDie inhaltliche Orientierung eines Semi-nars am Themenkomplex des Fremdver-stehens scheint mir gerade für die amBeginn eines Fremdsprachenstudiumssich befindenden Studierenden von be-sonderer Relevanz. Die vielfältigen An-gebote im Rahmen dieses Seminars, sichmit der fremden deutschen Sprache undKultur auseinanderzusetzen, regt die Se-minarteilnehmerInnen dazu an, sich ei-gener Deutschlandbilder bewußt zu wer-den, diese begrifflich zu fassen und gege-benenfalls zu überdenken. Im Um-kehrschluß sind diese Überlegungenselbstverständlich auch prägend für ihreHaltung der eigenen französischen Kul-tur gegenüber.Auch für Unterrichtende der Germani-stik im Ausland ist das Spannungsver-hältnis von Eigenem und Fremdem – alsSeminartitel wurde das etwas wenigerabstrakte, den Studierenden einen un-mittelbaren emotionalen Zugang ge-

1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete Fassung eines Beitrags für einSeminar, das ich im Rahmen des Einführungsseminars für neue DAAD-Lektorinnenund -Lektoren in Frankreich vom 13.11.–16.11.2002 in Marly-le-Roi durchgeführt habe.

Info DaF 31, 4 (2004), 431–443

Page 36: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

432

währende Begriffspaar »Heimat –Fremde« gewählt – eine stets gegenwär-tige Dimension, die sich auf vielerleiEbenen manifestiert: Zum einen prägtsie die Lebenspraxis deutscher Lehrkräf-te in einem französischen Lebensum-feld, zum anderen bildet sie eine Kon-stante ihrer Tätigkeit als Lehrende derGermanistik in Frankreich, da sie eigen-kulturelle Zeugnisse aus Literatur, Ge-schichte etc. in einen fremdkulturellenKontext stellen und den Vermittlungs-prozeß zwischen den Kulturen aktiv ge-stalten müssen. Untrennbar verknüpftmit den spezifischen Herausforderun-gen der Behandlung germanistischer Se-minarinhalte in einem fremden Kultur-kreis ist die Ebene der Vermittlungs-weise. Die in Frankreich lebenden Leh-renden deutscher Herkunft im FachGermanistik haben ihre Bildungssoziali-sation zumindest zum größten Teil inDeutschland erfahren und sind demzu-folge von deutschen Bildungstraditio-nen und hierzulande praktizierten Un-terrichtsformen geprägt. Die Koopera-tion mit französischen FachkollegInneneinerseits sowie andererseits die Kon-frontation mit einem studentischen Pu-blikum, das seine Schullaufbahn in allerRegel ausschließlich im französischenKontext absolviert hat, verlangt ihnenein hohes Maß an interkultureller Kom-petenz ab. Die Thematisierung und Re-flexion der Dimension des Spannungs-verhältnisses zwischen Fremdem undEigenem im Austausch mit den Studie-renden kann für beide Teile fruchtbarsein und sich förderlich auf die Zusam-menarbeit auswirken. Hinsichtlich derin diesem Kontext mittlerweile abgegrif-fenen Metapher des Brückenbaus zwi-schen den Kulturen habe ich Vorbehalte,da hiermit oftmals die naive Vorstellungeinhergeht, Begegnung führe zwangs-läufig zu wechselseitigem Verständnis.Eine distanzlose, Differenzen übersprin-

gende Einfühlung in den jeweiligenNachbarn birgt jedoch die Gefahr, daskulturell Fremde vorschnell in Ähnlich-keitsimpressionen aufzulösen, indemdie kulturellen Verschiedenheiten zu-gunsten eines auf identifikatorischeSelbstvergewisserung zielenden illusori-schen Gleichheitskonzepts eingeebnetwerden. Die Auslandsgermanistik imbesonderen sollte ihre spezifische her-meneutische Situation zum Erkenntnis-gewinn durch Alterität nutzen, um ineinem Akt geschichtlicher Selbstaufklä-rung im Dialog mit dem Fremden dieeigenkulturellen Voraussetzungen zu re-flektieren.

1. Begriffsbestimmung: Zur Problema-tik des FremdverstehensZunächst soll eine kurze theoretische Be-griffsbestimmung des Phänomens desFremden respektive der Problematik desFremdverstehens vorgenommen werden,um im Anschluß in der Skizzierung derjeweiligen Seminarinhalte begründetdarzulegen, welche Kriterien die Mate-rialauswahl sowie die methodische Ori-entierung bei der Unterrichtsgestaltunggeleitet haben.Da das Fremde eine relative Größe dar-stellt, der nichts Substanzielles eignet, isteine Auseinandersetzung mit diesemPhänomen ohne die Einbeziehung derDimension des Eigenen nicht möglich.Das Fremde wird stets nur vermitteltüber die eigenen subjektiven Wahrneh-mungskategorien erfahrbar; seine Be-stimmung resultiert demzufolge aus ei-ner relationalen Differenzerfahrung. Un-geachtet dessen, an welches Extrem einerSkala, deren äußere Begrenzungen »Fas-zination« und »Ablehnung« bilden, un-sere Reaktion auf das Fremde sich annä-hern mag, ist sie doch immer Produkteigener Interpretationen, für die diewahrnehmenden Subjekte bürgen.

Page 37: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

433

Ist in einem ersten Schritt der Blick fürdie Interdependenz des Eigenen undFremden einmal geschärft, kann in einemzweiten Schritt zu ergründen versuchtwerden, welche Funktion dem Fremdenbei der Erfassung von Wirklichkeit je-weils zugewiesen wird.Fremdverstehen erfordert demnach dasBemühen, jene Wechselseitigkeit zu re-konstruieren und zur Geltung zu brin-gen,»in der sich das ›Eigene‹ wie das ›Andere‹im Akt ihrer Unterscheidung jeweils in be-stimmter Weise bildet, – [und wie] mit dem›Anderen‹ zugleich auch das ›Eigene‹ defi-niert wird […]« (Matthes 1992: 8).

Die eigenen Fremdheitswahrnehmungenmüssen stets vor dem Hintergrund ihresBedeutungsgehaltes für die Selbstkon-struktion begriffen werden, nur soscheint ein Fremdverstehen möglich, dasprojektive Verzerrung und Stereotypisie-rung bei der Wirklichkeitsverarbeitunggering hält.Dem Fremdverstehen muß zwangsläufigeine dialogische Dimension zukommen,da im Prozeß des Verstehens das Fremdesowie die eigenkulturelle Befindlichkeitzugleich in den Blick genommen undmiteinander vermittelt werden müssen.Beim Akt der Rezeption muß stattfinden,was Adorno im Sinne einer kritischenSelbstreflexion in seinem Aufsatz »Erzie-hung nach Auschwitz« »die Wendungaufs Subjekt« (Adorno 1969: 89) genannthat, da die Menschen, so Adorno, ohneReflexion auf sich selbst nicht davon ab-zubringen sind, nach außen zu schlagen.Ebensowenig wie es darum gehen kann,das Fremde als Projektion möglicher Ge-genentwürfe zum Eigenen zu konstruie-ren und als Kontrastfolie zur Bestim-mung des Eigenen zu mißbrauchen,sollte im Gegenzug das Individuum umdes redlichen Bemühens willen, den an-deren nicht der Unterwerfung unter dieeigenen Wahrnehmungskategorien aus-

zusetzen, als erkennendes Subjekt zu-rückzutreten versuchen. Mit TzvetanTodorov möchte ich hier für eine Vermitt-lung dieser beiden extremen, ins Aus-weglose weisenden Positionen desFremdverstehens zugunsten einer dialo-gischen Struktur plädieren:

»Ich habe versucht, nicht in zwei Extremezu verfallen. Das erste ist die Versuchung,der Stimme dieser Personen als solcher Ge-hör zu verschaffen, also selbst gänzlich inden Hintergrund zu treten, um dem ande-ren besser zu dienen. Das zweite Extrem ist,sich die anderen zu unterwerfen, sie zurMarionette zu machen, deren Fäden manalle unter Kontrolle hat. Zwischen diesenbeiden Extremen habe ich kein Terrain desKompromisses gesucht, sondern den Wegdes Dialogs. Ich befrage, ich transponiere,ich interpretiere diese Texte; aber ich lassesie auch sprechen […] Man kann den ande-ren nicht lebendig werden lassen, wennman ihn ganz unangetastet läßt, so wenigwie das zu erreichen ist, wenn man seineStimme gänzlich unkenntlich macht. Ichwollte in ihnen, die mir zugleich nah undfern sind, einen der Gesprächspartner unse-res Dialogs sehen.« (Todorov 1985: 295 f.)

Verweist Todorov hier zum einen auf dieVergeblichkeit einer erkenntnistheoreti-schen Position, die zum voraussetzungs-losen Verstehen fremder Individualitätvordringen will, sowie zum anderen aufdie Gefahr der Fixierung und Verdingli-chung des Fremden in der vereinnah-menden Rede, so berührt er an andererStelle noch einen weiteren, ganz entschei-denden Aspekt bei der Entdeckung desFremden, wenn er von dem anderen insich spricht:

»Man kann die anderen in sich entdecken,kann herausfinden, daß man keine homo-gene Wesenheit ist, die mit nichts außer sichselbst etwas gemein hätte: Ich ist ein ande-rer.« (Todorov 1985: 11)

Dieser Aspekt wird von Julia Kristeva inihrem Essayband Fremde sind wir unsselbst als die zentrale Kategorie jeglicherFremdwahrnehmung entwickelt: Ge-

Page 38: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

434

meint ist die Bezugnahme auf einen Sub-jektentwurf, der die Einbindung desFremden in die menschliche Psyche nichtlänger pathologisiert, sondern dieFremdheit des eigenen Unbewußten alsintegralen Bestandteil des Selbst aner-kennen und aushalten lernt:

»Das Fremde ist in uns selbst. Und wennwir den Fremden fliehen oder bekämpfen,kämpfen wir gegen unser Unbewußtes –dieses ›Uneigene‹ unseres nicht möglichen›Eigenen‹. Feinfühlig, Analytiker, der er ist,spricht Freud nicht von den Fremden: erlehrt uns, die Fremdheit in uns selbst aufzu-spüren. Das ist vielleicht die einzige Art, siedraußen nicht zu verfolgen.« (Kristeva1990: 208 f.)

Sowohl bei Adorno als auch bei Todorovund Kristeva knüpft sich an den vonihnen entwickelten Begriff der Fremd-wahrnehmung eine ethisch-moralischeDimension von dezidiert politischerTragweite, die für eine friedliche Koexi-stenz mit den Fremden plädiert.Eingedenk der erkenntnistheoretischenPrämisse, daß der Interpret den Traditi-onszusammenhang, durch den seineSubjektivität gebildet wird, nicht willent-lich suspendieren kann (vgl. Habermas1968: 227 f.), ist dennoch zu Recht davonauszugehen, daß eine im Akt des Fremd-verstehens eingenommene Haltung, diedie Positionsgebundenheit des eigenenBlicks auf das Fremde reflektiert undgleichermaßen um das eigene innerpsy-chische Fremde weiß, die Rahmenbedin-gungen des Fremdverstehens begünstigt.Eine Rezeptionsweise, die sich der prin-zipiell unaufhebbaren Vorurteilsstrukturdes Fremdverstehens und des Zusam-menhangs zwischen dem im Außen situ-ierten Phänomen des Fremden und dereigenen Fremdheit im Inneren bewußtwird, trägt zur Ermöglichung einer pro-duktiven kulturellen Teilhabe und einemkritischen Umgang mit Traditionen bei.Bewußtgemachte Vorurteile haben einen

anderen Status als solche, die sich nur aufunreflektierte Autoritäten gründen, »dietransparent gemachte Vorurteilsstrukturkann nicht mehr in der Art des Vorurteilsfungieren« (Brenner 1991: 52).

2. Vorstellung der eingesetzten Materi-alienLeitendes Kriterium bei der Materialaus-wahl für dieses Seminar war es, sprach-lich möglichst einfache, inhaltlich jedochanspruchsvolle Text- und Filmbeispieleauszusuchen, die sich entweder generellmit dem Phänomen des Fremden be-schäftigen oder aber Auseinanderset-zungsmöglichkeiten mit der deutschenKultur bieten, die die RezipientInnennicht von einer kritischen Selbstreflexionentbinden. Neben Beiträgen aus Film,Dokumentarfilm, zeitgenössischer Presseund Literatur aus dem Bereich Gesell-schaftswissenschaften wurden verstärktliterarische/fiktionale Textbeispiele ein-gesetzt, da die poetische Dimension derSprache, die sich manifestiert in Reflexi-vität, Desautomatisierung, Verfremdungund Vieldeutigkeit, besonders geeignetscheint, vorschnelle Fixierungen aufDeutungsschemata aufzulösen und sieder Reflexion zugänglich zu machen.Zunächst soll ein kurzer Gesamtüber-blick über das im Seminar eingesetzteMaterial gegeben und im Anschluß ex-emplarisch anhand zweier Beispiele dieKonzeption und Durchführung der je-weiligen Seminarsitzung vorgestellt wer-den. Folgende Aspekte des Fremdverste-hens wurden im Rahmen dieses Semi-nars berücksichtigt:– (Fremd-)Sprache als wirklichkeitsper-

spektivierendes Ausdrucksmedium;– Wahrnehmung von Fremdkulturellem;– Erfahrung innerpsychischer Fremd-

heit;– Begriffsbestimmungen von »Heimat«

und »Fremde«;

Page 39: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

435

– Gruppenpsychologische Phänomenebei der Begegnung mit Fremden;

– Politisch-rechtlicher Status der Frem-den in Deutschland.

Der Einsatz von Texten und audiovisuel-lem Material hat es erlaubt, die vier Teil-fertigkeiten Leseverstehen, Hörverste-hen, mündliche und schriftliche Aus-drucksfähigkeit in einem ausgewogenenVerhältnis zu schulen und die in denSeminarsitzungen praktizierten Unter-richtsformen variabel zu gestalten.

3. Überblick über die einzelnen Semi-narsitzungen

Sitzung 1:– Präsentation des Seminarprogramms;– Partnerinterview zu einem ersten ge-

genseitigen Kennenlernen, basierendauf einem vorab ausgearbeiteten Fra-gebogen (Arbeit im Tandem: mündli-che Ausdrucksfähigkeit);

– Häuslicher Schreibauftrag zur Erstel-lung eines Portraits der interviewtenPerson (schriftliche Ausdrucksfähig-keit).

Sitzung 2:– Anekdote über das (Sprach-)Verhalten

der Deutschen gegenüber Ausländern:Karl R. Pogarell: »Warum nicht deutsch?«;

(Textanalyse im Unterrichtsgespräch,Diskussion in Kleingruppen über eigenein Deutschland gemachte Erfahrungen:Leseverstehen, mündliche Ausdrucksfä-higkeit).

Sitzung 3:Auszug aus der Autobiographie Elias Ca-nettis: »Die gerettete Zunge«; über die ersteBegegnung des Autors mit der deutschenSprache (Seite 86–90);(Textanalyse im Unterrichtsgespräch,Schreibauftrag bezüglich der eigenen er-sten Begegnung mit der deutschen Spra-che unter Zuhilfenahme einer vorab er-stellten Liste von Redemitteln zum Wort-

feld Erinnerung: Leseverstehen, mündli-che und schriftliche Ausdrucksfähigkeit).

Sitzung 4:– Auswertung des häuslichen Schreib-

auftrags;– Erste Definitionsversuche zum Be-

griffspaar »Heimat – Fremde« basie-rend auf einer in den Lehrwerken»Leselandschaften 1« (Seite 37 ff.) und»Zwischen den Pausen 1« (Seite 114) kon-zipierten Lektion;

(Arbeit in Kleingruppen, Auswertung imPlenum: mündliche Ausdrucksfähig-keit).

Sitzung 5:Besprechung eines 1993 in der Wochen-zeitung »DIE ZEIT« erschienenen Bei-trags zum Heimatverständnis heutigerdeutscher Jugendlicher im Vergleich mitder Generation ihrer Eltern und Großel-tern: Juliane Herlyn und Juliane Schulz-Gibbins: »Heimat. Da, wo ich mich wohlfühle«;(Textanalyse im Unterrichtsgespräch,kulturvergleichender Blick auf das Hei-matverständnis der französischen Stu-dierenden in Kleingruppen, Auswertungder Diskussionsergebnisse im Plenum,Schreibauftrag zum Vergleich der Hei-matvorstellungen französischer jungerErwachsener mit dem in Deutschlandexistierenden Heimatbegriff: Leseverste-hen, mündliche und schriftliche Aus-drucksfähigkeit).

Sitzung 6:Vergleich von Franz Kafkas Parabel »Heim-kehr« (Seite 36) mit dem biblischen»Gleichnis vom verlorenen Sohn« des Lu-kas-Evangeliums 15, 11 ff.;(Textanalyse im Unterrichtsgespräch,schriftliche Ausarbeitung der Fortset-zung der Parabel Kafkas: Leseverstehen,mündliche und schriftliche Ausdrucksfä-higkeit).

Page 40: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

436

Sitzung 7:Kurzfilm von Pepe Danquart (1993):»Schwarzfahrer« zum Thema Rassismusim Alltag;(Präsentation des ersten Filmteils, Speku-lationen über den weiteren Verlauf inKleingruppen, Auswertungen der Grup-penergebnisse im Plenum, Präsentationund Analyse des tatsächlichen Filmen-des: Hörverstehen, mündliche Aus-drucksfähigkeit).Sitzung 8:Textauszug aus Hans Magnus Enzensber-gers Essayband »Die große Wanderung«(Seite 11–15) über das Zusammentreffenfremder Reisender in einem Eisenbahn-abteil;(Textanalyse im Unterrichtsgespräch,szenische Umsetzung der von Enzens-berger geschilderten Ereignisse in Klein-gruppen: Leseverstehen, mündliche undschriftliche Ausdrucksfähigkeit).Sitzung 9:Bearbeitung des Videobeitrags der ReiheKubus zur Reformierung des deutschenStaatsangehörigkeitsrechts (Kubus 27);(Präsentation des Videodokuments, Fra-gen zum Hörverständnis, Diskussionüber den Integrationsbeitrag der doppel-ten Staatsbürgerschaft im Plenum: Hör-verstehen, mündliche Ausdrucksfähig-keit).Sitzung 10:Bearbeitung des Videobeitrags der ReiheKubus »Deutschland mit anderen Augen«(Kubus 33), in dem die französischeDeutschlandkorrespondentin PascaleHugues durch die neue Hauptstadt Ber-lin flaniert und dabei ihre Sicht über daswiedervereinigte Deutschland, das inVeränderung begriffene Stadtbild Berlinssowie die Mentalitäten der Deutschen inOst und West mitteilt,(Präsentation des Videodokuments, Fra-gen zum Hörverständnis, Diskussionüber die von Pascale Hugues geäußerten

Ansichten über Deutschland und derenPrägung durch die französische Aus-gangskultur der Berichterstatterin: Hör-verständnis, mündliche Ausdrucksfähig-keit)

Sitzung 11:Bearbeitung des Vorwortes von KarlHeinz Götzes Essayband »Französische Affä-ren. Ansichten von Frankreich«, in dem sichder Autor, ein in Frankreich lehrenderGermanistikdozent deutscher Herkunft,kritisch mit den Projektionen deutscherKulturkritiker auf das im Gegensatz soparadiesisch anmutende Frankreich aus-einandersetzt;(Diskussion über die in Deutschland exi-stierenden Vorurteile und Stereotypen inBezug auf das französische Nachbarland,Spekulationen über das in den frankophi-len Projektionen sich widerspiegelndeSelbstbild der Deutschen, Schreibauftragzum Verfassen einer Rezension des Bu-ches von Karl Heinz Götze für eine großefranzösische Tageszeitung unter beson-derer Berücksichtigung der von diesemWerk ausgehenden neuen Impulse fürdie deutsch-französischen Beziehungen:Leseverstehen, mündliche und schriftli-che Ausdrucksfähigkeit).

Sitzung 12:Bearbeitung eines Textauszugs aus KarlHeinz Götzes Essayband »Französische Affä-ren. Ansichten von Frankreich«, in dem derehemalige DAAD-Lektor und heutigeProfessor der Germanistik in Frankreichseine Eindrücke vom französischen Uni-versitätssystem bzw. der Mentalität derfranzösischen Studierenden aus der Per-spektive des in Deutschland sozialisier-ten Wissenschaftlers schildert;(Gruppendiskussion über die Berechti-gung der von Götze geäußerten Kritik,Informationen zum deutschen Universi-tätssystem, Verfassen eines Leserbriefesan den Autor: Leseverstehen, schriftli-cher und mündlicher Ausdruck).

Page 41: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

437

4. Ausführliche Dokumentation der Ge-staltung zweier Seminarsitzungen

4.1 Sitzung 3: Auszug aus Elias CanettisAutobiographie »Die gerettete Zunge«(Seite 86–90)Die Studierenden hatten eine Woche Zeit,den Text intensiv zu lesen und vorzuberei-ten. Außerdem wurden ihnen in einemkurzen Vortrag zentrale Informationen zuElias Canettis Leben und Werk mitgeteilt,insbesondere was sein Festhalten an derliterarischen Produktion in deutscherSprache selbst in der Exilsituation betrifft.Dieser Textauszug steht bewußt am An-fang der Unterrichtsreihe, da er durch diethematische Anknüpfung an den Erfah-rungshintergrund der Lerngruppe eineneinfachen Zugang bietet; auch die Studie-renden selbst sind vor einigen Jahren mitder deutschen Sprache zum ersten Mal inBerührung gekommen, wenn auch unteranderen soziohistorischen Voraussetzun-gen.Der Ich-Erzähler der ausgewählten Text-passage erinnert sich rückblickend anseine Kindheit, als seine Mutter ihm imAlter von acht Jahren die deutsche Spra-che »unter Hohn und Qualen« beibringt.Diese Unterweisung vollzieht sich in einerbefremdlich autoritären, rigiden, keines-wegs kindgerechten und zudem metho-disch höchst fragwürdigen Form, die zu-nächst mit den Studierenden unter Bezug-nahme auf Textbelege herausgearbeitetwerden muß. Das mütterliche Gebot,komplexe Sätze auswendig nachzuspre-chen, deren Bedeutung dem Jungen oft-mals nicht mitgeteilt wird, führt zu einementfremdeten, verdinglichenden Spre-chen, das keinerlei kreatives, kommunika-tionsorientiertes Sprachhandeln zuläßt.Diese sich eng am literarischen Text voll-ziehende Arbeit sichert zum einen dasTextverständnis der Gruppe, zum ande-ren stellt es eine sprachliche Entlastungdar, denn die einzelnen können sich in

ihrem mündlichen Beitrag auf Bausteineder literarischen Vorlage stützen. Da Ca-netti zudem sehr viele stimmungstra-gende Formulierungen und Begriffe ver-wendet (»daß sie mir das Buch vorent-hielt wie ein Geheimnis«, »sie […] sahmich gebieterisch an«, »Ich weiß nicht,wie viel Sätze sie mir das erste Mal zumu-tete«), lohnt es sich, diese aus dem Textherauszulösen und deren Wirkungs-weise zu analysieren. Gemeinsam mitden Studierenden wurde ein Tafelbildentwickelt, das den Unterrichtsstil derMutter sowie die Reaktionen des Jungenveranschaulicht (vgl. Abb. 1).Da die Szene aus der Perspektive desKindes geschildert wird, lassen sich dieBeschreibungen des Lehrstils und dessenAuswirkungen auf die psychische Be-findlichkeit des Jungen nicht immertrennscharf auseinanderhalten, dennochschien es sinnvoll, die beiden Aspektegraphisch gesondert festzuhalten und ge-genüberzustellen.Das Tafelbild spiegelt darüber hinaus dentatsächlichen Ablauf des Unterrichtsge-sprächs wider, denn neben den rein de-skriptiven Beobachtungen wurden vonden Studierenden bereits Deutungen undWertungen vorgenommen, die in den Ta-felanschrieb miteingeflossen sind. Wasdie sprachlichen Anforderungen an dieLerngruppe betrifft, mischen sich hiersprachrezeptive Fertigkeiten beim vorbe-reitenden Lesen, sprachverarbeitendeElemente bei der in Anlehnung an dieVorlage stattfindenden Textarbeit sowiebereits in Ansätzen sprachproduktivePhasen bei der literarischen Deutung.Ist dieser Auszug aus Canettis Autobio-graphie zum einen deshalb lohnend, weiler zur Reflexion über den Fremdspra-chenerwerb begünstigende oder hem-mende Lehrmethoden anregt, so kann erdes weiteren zur Problematisierung einesauch bei den Studierenden häufig ver-breiteten mechanistischen Sprachver-

Page 42: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

438

ständnisses beitragen, wobei ich unterdiesem Begriff die unreflektierte Vorstel-lung von einem abstrakten, von kulturel-len Bezügen losgelösten System Spracheals reinem Informationsträger verstehe.Der Text schweigt nicht über die psycho-sozialen Hintergründe, die die Mutter zurDurchführung dieser autoritären Exerzi-tien veranlassen. Durch den Tod ihresMannes der wichtigsten Bezugsperson be-raubt, will die Mutter den Sohn an dieStelle des verstorbenen Gatten setzen.Diese privilegierte Liebesbeziehung warfür die Mutter untrennbar verknüpft mitdem Gespräch in deutscher Sprache. DasDeutsche ist »die Sprache ihres Vertrau-ens«, die Sprache ihres »Liebesge-spräch[s]«, die Sprache, in der sich »ihreeigentliche Ehe abgespielt« hat. Sprachewird hier demnach nicht als bloßes Vehi-kel zur Informationsübermittlung ge-dacht, sondern als ein von den Individuenaffektiv hoch besetztes, wirklichkeitskon-stituierendes Ausdrucksmedium.Der Intensität der emotionalen Verbun-denheit der Mutter mit dem Deutschen

ist es zu verdanken, daß sie ihrem Sohndiese Fremdsprache trotz der widrigen,von »Hohn und Qualen« begleitetenLernbedingungen nahebringen konnte,wenn er diese Sprache rückblickend als»eine spät und unter wahrhaftigenSchmerzen eingepflanzte Mutterspra-che« charakterisiert.Auch dieser Themenkomplex des Textes,die jeweilige Bedeutung des Deutschenfür Mutter und Sohn, wird mittels einesTafelbildes visualisiert und hilft den Stu-dierenden beim häuslichen Schreibauf-trag, ihre eigene Beziehung zur deutschenSprache zu verbalisieren (siehe Abb. 2).Am Ende der Sitzung wurde den Studie-renden ein Arbeitsblatt mit Redemittelnzum Wortfeld »Erinnerung« und »Ge-dächtnis« ausgeteilt und sie wurden ge-beten, in Anlehnung an die literarischeVorlage Canettis schriftlich von ihren ei-genen Erinnerungen an ihre erste Berüh-rung mit der deutschen Sprache zu be-richten. Im Zusammenhang mit dieserAufgabenstellung werden verstärktsprachverarbeitende sowie sprachpro-

Abb. 1: Tafelbild zu Elias Canetti: »Die gerettete Zunge«, »Deutschstunden«

Unterrichtsform ================> Wirkungsweise

Lehrmittel: deutsch-englische Grammatik – der Junge ist neugierig

Auswendiges Nachsprechen von Sätzen – er gibt sich Mühe, um nicht verhöhnt zu werden

Autoritärer Lehrstil:– sie verhöhnt und verspottet ihn bei Fehlern

– er ist ratlos und sich selbst überlassen

– sie sieht ihn gebieterisch an– sie mutet ihm viele Sätze zu– sie läßt den Jungen allein

– er fühlt sich hilflos

– sie verweigert ihm Hilfe– sie blockiert ihn durch eine zu hohe Erwartungs-

haltung– er stottert und verstummt

– sie reagiert zornig und vorwurfsvoll– sie ist ungeduldig– sie beschimpft ihn und setzt ihn moralisch unter

Druck (»was würde dein Vater dazu sagen?«)

– er fühlt sich überfordert und gequält

Page 43: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

439

duktive Fähigkeiten gefordert, wobei –und das scheint mir bei Studierenden desGrundstudiums unerläßlich – die hier inschriftlicher Form ablaufende Sprachpro-duktion sich auf die sprachliche Vorar-beit im Seminar sowie auf für den Kon-text relevante Redemittel stützen kann.

4.2 Sitzung 6: Vergleich der Parabel»Heimkehr« von Franz Kafka mit dembiblischen »Gleichnis vom verlorenenSohn« des Lukas Evangeliums 15, 11 ff.Die Behandlung der von Franz Kafka1920 verfaßten und zwei Jahre später vonMax Brod herausgegebenen Parabel»Heimkehr« erlaubt es, neben dem litera-rischen Stilmittel der Verfremdung –Kafka behält den Handlungsrahmen desbiblischen Gleichnisses vom verlorenenSohn, also die Rückkehr des Sohnes zumväterlichen Hof, bei, setzt jedoch die we-sentlichen sinnverheißenden Elementeder Vorlage wie beispielsweise die Erlö-sung des reuevoll Zurückgekehrtendurch die väterliche/göttliche Gnade,seine Wiedereingliederung in die famili-

äre Gemeinschaft etc. außer Kraft – dieInnenseite des Problemkomplexes desFremdverstehens ins Blickfeld zu heben:Das reflektierende Ich in Kafkas Parabelwird sich bei der Ankunft im väterlichenHof seiner eigenen Fremdheit bewußt:»Je länger man vor der Tür zögert, destofremder wird man«.Eine Lesart, welche Kafkas Parabel»Heimkehr« in wechselseitiger Erhellungmit ihrer biblischen Vorlage zu erschlie-ßen sucht, ermöglicht es, Einblick zu ge-winnen in die historische Verankerungästhetischer Praktiken sowie in die denTexten jeweils immanenten Wirklich-keitsdeutungen. Der biblische Stoff, derdurch zahlreiche Neubearbeitungen inder europäischen Geistesgeschichtebreite Wirkung entfalten konnte, ist denStudierenden in aller Regel bekannt undliefert den Hintergrund, vor dem sich dieDeutung der Kafkaschen Parabel voll-zieht. Trotzdem ist es sinnvoll, die Studie-renden zum Zwecke einer profundenVorbereitung um eine erneute Lektüredes biblischen Gleichnisses zu bitten und

Bedeutung der deutschen Sprache

Für die Mutter: für das Kind:

Ambivalente, hochintensiveBindung zur deutschen Sprache

– Sprache ihres Vertrauens – eine unter Schmerzen ein-gepflanzte Muttersprache– Sprache ihres Liebesge-

sprächs

– Sprache der Ehe

– Erinnerung an den toten Ehemann

Abb. 2: Tafelbild zu Elias Canetti: »Die gerettete Zunge«, Bedeutung der deutschen Sprache für die Figuren

Page 44: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

440

zu Beginn der Sitzung die TeilnehmerIn-nen mit einer mündlichen Zusammenfas-sung zu beauftragen. Ein Tafelanschriebillustriert das Handlungsgerüst des bibli-schen Gleichnisses.Bevor die Gruppe mit Kafkas Parabelkonfrontiert wird, wird lediglich der Ti-tel präsentiert und um die Formulie-rung der durch den Begriff »Heimkehr«ausgelösten Assoziationen gebeten. DieEffizienz dieser Vorgehensweise, diedarauf zielt, einen Erwartungshorizontaufzubauen, der die verfremdende Be-arbeitung Kafkas umso schärfer hervor-treten läßt, hängt selbstverständlich instarkem Maße vom Sprachvermögender Lerngruppe ab. Da die Behandlungdieses Textes jedoch nicht zu Seminar-beginn stattfindet, kann davon ausge-gangen werden, daß mittlerweile aus-reichend themenspezifischer Wort-

schatz erworben wurde, um spontaneEinfälle zu versprachlichen. Zudempraktiziere ich (vor allem in inhaltlichrelevanten Erarbeitungsphasen) dasPrinzip der aufgeklärten Einsprachig-keit, d. h. ich akzeptiere bei sprachli-chen Engpässen der Studierenden auchihre in Französisch formulierten Äuße-rungen, die jedoch anschließend insDeutsche übersetzt werden. In aller Re-gel weckt der Titel positive Assoziatio-nen (siehe Abb. 3).Anschließend wird der Gruppe die Para-bel präsentiert, wobei während des stil-len Lesens Fragen zum Vokabular gestelltwerden dürfen.Nach beendeter Lektüre werden die Stu-dierenden um Titelvorschläge gebeten,die mit den vom Originaltitel ausgelöstenAssoziationen verglichen werden (vgl.Abb. 3).

Franz Kafka: »Heimkehr«Assoziationen zum Titel

Ankunft Geborgenheit

Eltern, Familie Heimkehr FreudeFreunde

Sicherheit zu Hause

Titelvorschläge der Studierenden:– Entwurzelung– Einsamkeit– Fremde– Trauer– Hoffnungslosigkeit– Unsicherheit– Angst– Orientierungslosigkeit

Abb. 3: Tafelbild – Assoziationen zu Franz Kafkas »Heimkehr« und alternative Titelvorschläge der Studierenden

Page 45: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

441

Die verfremdende Bearbeitung Kafkas,die auf den Wiedererkennungseffekt desbiblischen Stoffes setzt, nur um die andiesen geknüpften Sinnerwartungen umso radikaler zurückweisen zu können,rückt die Lesenden in ästhetische Di-stanz. Diese Lektürehaltung sensibilisiertdafür, Kafkas literarische Technik der ir-ritierenden Umkehrung gewohnter Bild-vorstellungen wahrzunehmen, und soll

für die Textarbeit fruchtbar gemacht wer-den, in deren Rahmen sprachverarbei-tende und sprachproduktive Fähigkeitenim mündlichen Ausdrucksbereich ge-schult werden.Das Tafelbild (Abb. 4) macht graphischdeutlich, daß Kafkas Parabel zu einer Mo-mentaufnahme gerinnt, die ausschließlichdie Ankunft des Sohnes und dessen inne-res Erleben in den Blick nimmt.

Die vormals neutrale Erzählhaltung desbiblischen Gleichnisses wird aufgegebenzugunsten eines reflektierenden Ich-Er-zählers, der die stringente Erzählweiseder Vorlage nicht fortführt. Vielmehr ver-weisen die vielen Fragen und Vermutun-gen auf die Verunsicherung und Irrita-tion, die die Wiederbegegnung mit demväterlichen Hof in der Ich-Figur auslöst.Die äußere Wirklichkeit, der das Ich er-neut habhaft zu werden sucht, entziehtsich ihm bereits in dem Moment dersprachlichen Benennung. Die Dinge sindwertlos (»altes, unbrauchbares Gerät«),

beschädigt (»zerrissenes Tuch«), bedroh-lich (»die Katze lauert«), fremd und ohneZusammenhang (»kalt steht Stück nebenStück«). Sie bieten dem Ich keine Orien-tierung, weisen ihm den Weg nicht zu-rück in die Vergangenheit, verstellen ihmvielmehr den Zugang zum Ursprung,dem elterlichen Hof.Da die Außenwelt dem Ich Orientierungund Halt versagt, antwortet es mit inne-rem Rückzug. Jedoch auch dort findet eskeine Erlösung, denn nicht nur die Weltder Objekte ist ihm fremd geworden,auch das eigene Selbst tritt ihm als Ge-

»Gleichnis vom verlorenen Sohn«äußeres Handlungsgerüst

Franz Kafka: »Heimkehr«Inneres Erleben/Momentaufnahme

der Ankunft

– Vorgeschichte

– Auszug– Erlebnisse in der Fremde– Entschluß zur Umkehr– Heimkehr– Lehre

Wahrnehmung der äußeren Wirklichkeit– »altes unbrauchbares Gerät«– »die Katze lauert«– »zerrissenes Tuch«– »kalt steht Stück neben Stück….«Selbstwahrnehmung:– Unsicherheit– Nutzlosigkeit– Fremdheit

Orientierungslosigkeit, Heimatlosig-keit, innere und äußere Fremdheit

Abb. 4: Tafelbild – Vergleich von Erzählrahmen und Erzählhaltung

Page 46: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

442

heimnis entgegen. Die Subjektivität desIch erscheint brüchig, löst Ungewißheitund Zweifel aus. Die Hoffnungslosigkeitund Aussichtslosigkeit der Suche des Ichnach Heimat wirkt bedrückend, die äu-ßere und innere Fremdheit kann nichtüberwunden werden.Die unaufgelöste Ambivalenz desFremde/Nähe Motivs in Kafkas »Heim-kehr« verdichtet sich innerhalb des Tex-tes noch einmal in der Frage: »Ist dirheimlich, fühlst du dich zu Hause?« Indiesem Zusammenhang kann auf die einJahr vor Kafkas Parabel entstandeneSchrift »Das Unheimliche« von SigmundFreud verwiesen werden, in der er an-hand der semantischen Untersuchungdes Adjektivs heimlich darlegt,»daß dies Wort heimlich nicht eindeutig ist,sondern zwei Vorstellungskreisen zuge-hört, […] dem des Vertrauten, Behaglichenund dem des Versteckten, Verborgengehal-tenen« (Freud 1982: 248).

So verkehrt sich in dem Begriff heimlichdas Vertraute in sein Gegenteil und fälltmit dem entgegengesetzten Begriff vonbeunruhigender Fremdheit zusammen,der in unheimlich steckt. Diese »Imma-nenz des Fremden im Vertrauten« (Kri-steva 1990: 199), der Kafkas Ich im Laufeseiner Selbstreflexionen gewahr wird,führt bei ihm zu Selbstverlust und Gefüh-len von Entwurzelung. Diese Erkenntniskönnte jedoch auch ein erster Schritt sein,der Mut macht, sich mit den eigenenfremden, unbewußten Anteilen ausein-anderzusetzen, was nach Julia Kristevadie einzige Möglichkeit ist, das Fremdeim Außen nicht zu verfolgen.Nach dieser Erarbeitungsphase wurdeden Studierenden der Schreibauftrag er-teilt, eine Fortsetzung der KafkaschenParabel zu verfassen, die ihnen die sub-jektive Verarbeitung der durch das Er-zähl-Ich ausgelösten Emotionen ermög-lichte und sie zu einem kreativen Schreib-prozeß ermunterte.

LiteraturAdorno, Theodor W.: »Erziehung nach

Auschwitz«. In: Kadelbach, Gerd (Hrsg.):Theodor W. Adorno. Erziehung zur Mündig-keit. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1969, 88–104.

Brenner, Peter J.: »Interkulturelle Herme-neutik. Probleme einer Theorie kulturel-len Fremdverstehens«. In: Zimmermann,Peter (Hrsg.): Interkulturelle Germanistik.Dialog der Kulturen auf deutsch? Frankfurta. M.: Lang, 1991, 35–55.

Canetti, Elias: Die gerettete Zunge. Frankfurta. M.: Fischer, 2002, 86–90.

Danquart, Pepe: Kurzfilm »Schwarzfahrer«,1993, (zu beziehen über Inter Nationes,Bestellnummer IN 1611).

Enzensberger, Hans Magnus: Die großeWanderung. 33 Markierungen. Frankfurta. M.: Suhrkamp, 1992, 11–15.

Freud, Sigmund: »Das Unheimliche(1919)«. In: ders.: Studienausgabe Band IV.Psychologische Schriften. Frankfurt a. M.:Fischer, 1982, 241–274.

Götze, Karl Heinz: Französische Affären. An-sichten von Frankreich. Frankfurt a. M.: Fi-scher, 1995.

Habermas, Jürgen: Erkenntnis und Interesse.Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1968.

Hasenkamp, Günther: Leselandschaft 1. Un-terrichtswerk für die Mittelstufe. Ismaning:Verlag für Deutsch, 1995, 37 ff.

Hasenkamp, Günther: Zwischen den Pausen1. Ismaning: Verlag für Deutsch, 1997,114.

Herlyn, Juliane; Schulz-Gibbin, Juliane:»Heimat. Da, wo ich mich wohl fühle«.In: Zeitmagazin, Nr. 14, 2.4.1993, Seite 16.Abgedruckt in: Aufderstraße, Hartmut;Bock, Heiko; Bönzli, Werner; Lohfert,Walter; Müller, Jutta; Müller, Helmut(Hrsg.): Themen neu. Ausgabe in zwei Bän-den. Kursbuch 2. Ismaning: Hueber, 1995,75.

Kafka, Franz: »Heimkehr«. In: ders.: DieErzählungen. Frankfurt a. M.: Fischer,1961, 36.

Kristeva, Julia: Fremde sind wir uns selbst.Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1990.

Kubus 27: Doppelte Staatsbürgerschaft. 1999.(Zu beziehen über Inter Nationes).

Kubus 33: Deutschland mit anderen Augen.2000. (Zu beziehen über Inter Nationes).

Page 47: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

443

Matthes, Joachim: »›Zwischen‹ den Kultu-ren?« In: ders. (Hrsg.): »Zwischen« denKulturen? Die Sozialwissenschaften vor demProblem des Kulturvergleichs. Göttingen:Schwartz, 1992, 3–9.

Pogarell, Karl R.: »Warum nicht deutsch?«In: Die Zeit vom 24.4.1987. Abgedruckt in:

Neuner, Gerd; Scherling, Theo; Schmidt,Reiner; Wilms, Heinz (Hrsg.): Deutsch ak-tiv Neu. Ein Lehrwerk für Erwachsene. Lehr-buch 1B. Berlin: Langenscheidt, 1987, 119.

Todorov, Tzvetan: Die Eroberung Amerikas:das Problem des anderen. Frankfurt a. M.:Verlag, 1985.

Page 48: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

444

Sprache als Fremde. Deutschlernen gestern undheute am Beispiel Indiens

Stefan Hajduk

1. EinleitungWer eine Fremdsprache zu lernen be-ginnt, hat sich zumeist und zuvor überden Wert eines solchen UnternehmensRechenschaft abgelegt; oder andere ha-ben es für ihn an seiner Stelle getan.Dennoch wird, zumal insofern es darüberhinaus um die Aneignung von Kultur-kompetenz geht, in zunehmendem Maßeüber die Motive der Entscheidung für dieeine und gegen die andere oder über-haupt für eine Fremdsprache nachge-dacht. Auch auf institutioneller Ebene istim Zuge verstärkter Sparzwänge welt-weit der Druck zu kritischer Neurefle-xion und Selbstlegitimierung vonDeutschstudien gewachsen (zur Funk-tion des Deutschen im Ausland und ausder Perspektive der Auslandsgermani-stik vgl. Krusche 1987).Wie überall außerhalb des deutschspra-chigen Raums stellen sich auch in Indienheute die folgenden oder doch ähnlicheFragen mehr denn je: wieso eigentlichDeutsch lernen? Warum nicht eine an-dere Fremdsprache? Vielleicht Spanisch,Portugiesisch oder Französisch, Japa-nisch oder Russisch? Und reicht nichteigentlich auch das Englische? Nicht nurdie Studienberatung und Departments-leitungen, sondern jeder einzelne Dozentsowie das Hochschulsystem insgesamtsind deutlicher denn je gefragt, welcheBedeutung der deutschen Sprache undLiteratur für die akademische Ausbil-dung zukommt. Dies gilt auch dann,

wenn das Deutschlernen sich – wie in derUniversitätsstadt Pune (Bundesstaat Ma-harashtra/Indien) – einer ungebroche-nen Tradition folgend – großer Beliebt-heit erfreut. Im folgenden möchte ich:1. Beobachtungen zur Vorrangstellung

des Englischen in Indien skizzieren;2. auf die Frage nach der Stellung des

Deutschen im engeren Sinne einerfremdkulturellen Sprache eingehenund sie mit Blick auf die indische Inter-essenslage zu beantworten suchen;

3. mit Blick auf die Vergangenheit desDeutschen seine mögliche Zukunft ne-ben dem Englischen skizzieren;

4. auf einige allgemeinere Aspekte desErlernens einer Fremdsprache einge-hen, insofern sie ein oft unterschätzteskulturphilosophisches Erfahrungspo-tenzial berühren.

2. Englisch selbstverständlichUngeachtet der beachtlichen Erfolge vonHindi als Nationalsprache Indiens ist dieSprache des höheren Bildungssystemsbis heute Englisch geblieben. Englischallein garantiert nicht nur die semanti-sche Erschlossenheit von ganzen Wis-sensgebieten, die ansonsten jenseits derSprachgrenze lägen, sondern auch dasunentbehrliche Maß an Rationalität inden administrativen Abläufen der Büro-kratie.Dennoch ist hinsichtlich des Englischenin Indien eine Ambivalenz zu beobach-ten, die sich von derjenigen deutlich un-

Info DaF 31, 4 (2004), 444–454

Page 49: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

445

terscheiden läßt, die gewissermaßen alsnatürliche Reaktion auf die Begegnungmit fremden Sprachen und Kulturen ein-zutreten pflegt. Die ›indische‹ Ambiva-lenz gegenüber dem Englischen ist nichtmehr (nur) ein affektiv-evaluatives Reak-tionsmuster, wie es aus dem xenologi-schen Diskurs bekannt ist. Vielmehrmüßte sie in ihrer historischen Überfor-mung und Differenziertheit verortet wer-den in einem interkulturellen Feld, aufdem die Figuren des Fremden und Eige-nen ihre Konturen und damit ihre Deu-tungskraft weitestgehend verloren ha-ben. Auf der einen Seite ist das Englischein Indien nicht wirklich fremd, nament-lich im Neugierde erweckenden Sinneeiner sprachlichen Verkörperung des auf-fälligen Anderen. Zusammen mit 16 wei-teren Sprachen gehört Englisch zu denindischen Amtssprachen und fungiertneben Hindi als lingua franca auf demSubkontinent. Nach über einem halbenJahrhundert postkolonialer Weiterverar-beitung ist es assimiliert zum Indian Eng-lish und gleichsam ins kulturelle Erbgutdes Eigenen eingeschrieben. Englisch istfür die Schicht der Gebildeten selbstver-ständlich. Auf der anderen Seite – undzumal für die weniger gebildete Bevölke-rung Indiens – steht Englisch für dasFremde insgesamt; sein Klang beherrschtdie Imagination einer weiten Welt jen-seits des eigenkulturellen Horizontes.Auch nach dem Ende der Kolonialherr-schaft gibt das Englische den Ton an,wenn es um die indische Selbstreflexionim Medium des Anderen geht.Einerseits können die indischen Kandida-ten für Fremdsprachen Englisch bereits,da es in vielen, vor allem den weiterfüh-renden Schulen, Unterrichtssprache ist.

Der sprachliche Zugang zur großen wei-ten Welt der Wissenschaften, wie sie sichseit der europäischen Neuzeit aufgrundtechnischer Anwendung und kraft ökono-mischer Verwertung zum universell do-minanten Kulturgut ausgebildet haben, istgleichsam von Haus aus gesichert.1

Andrerseits wird Englisch deshalb auchnicht ohne weiteres als ein kontrastieren-des Medium wahrgenommen, durchwelches sich eine andere Kultur erschlie-ßen läßt, von deren Andersheit zugleichjene reflexiven Impulse zur Ausdifferen-zierung des Eigenen ausgehen können.Wo dies dennoch der Fall zu sein scheint,gerät das ›englisch‹ besetzte Fremdeleicht ins postkoloniale Spannungsfeldzwischen emanzipatorischer Progressionund fundamentalistischer Regression.Beinahe allzu vertraut geworden imWechselbezug des schon längst Eigenenund doch noch Fremden scheint demEnglischen in Indien ein Mangel an jenerdifferenziellen Dynamik anzuhaften, wiesie für die Produktivität interkulturellerWahrnehmung als unverzichtbar geltenkann.

3. Fremdes DeutschMit dem Sprung ins 21. Jahrhundertscheint sich die Globalisierung von Wirt-schaft und Medien, aber auch von Bil-dung und Wissenschaft sowie – allge-mein oder zumindest dem Anspruchnach – auch der Wahrnehmung unter poli-tischen, militärischen und kulturellenVorzeichen zu beschleunigen. Eine solcheins Universelle ausgerichtete Globalisie-rung könnte das Erlernen einer Sprachevon vergleichsweise wenigen Mutter-sprachlern (ca. 120 Millionen) fragwür-dig erscheinen lassen.

1 Im ohnehin englischsprachigen Universitätsbetrieb Indiens ist Englisch normalerweisenicht dem Department of Foreign Languages eingegliedert, sondern institutionelleigenständig.

Page 50: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

446

Der Nutzen Deutsch zu lernen ist freilichnur auf den ersten, rational oberflächli-chen Blick gering. Denn näher besehengibt es sogar aus statistischen Erwägun-gen gute Gründe, sich für das Deutschler-nen zu entscheiden. Gemessen etwa ander Wirtschaftskraft der deutschenSprachgemeinschaft, also des zusam-mengerechneten Bruttoinlandsproduktsaller deutschen Muttersprachler, liegtDeutsch an dritter Stelle hinter Japanischund – natürlich möchte man sagen –Englisch mit Amerikanisch. Erst nachDeutsch folgen in dieser ökonomischenPerspektive Spanisch und Französisch.(Die diesen Aussagen zugrunde liegen-den Daten entnehme ich statistischen Er-hebungen, die publiziert bzw. für dieAuslandsgermanistik ausgewertet wur-den von Ammon 1991, 1999 und 2000).Aber auch in der weltweiten Beliebtheits-skala der meist gewählten Fremdspra-chen hält Deutsch hinter Englisch undFranzösisch den dritten Rang; trotz dersteigenden Bedeutung von Sprachen wieSpanisch und Portugiesisch oder Chine-sisch und Japanisch. Weitere Daten spre-chen für das Deutsche, wie etwa die Zahlan wissenschaftlichen Publikationen derMuttersprachler oder auch die schnellerals in anderen Sprachen wachsende Zahlan deutschsprachigen Websites im Inter-net (vgl. Ammon 2000).Solche für manch einen poetischenSprachliebhaber, die es unter den Agen-ten der deutschen Sprache und Kulturimmer noch zahlreich gibt, prosaisch an-mutenden Kriterien nicht zu beachtenoder für weniger wichtig zu erachten,bedeutete die Tatsache zu verkennen,daß nicht nur die meisten jungen Inderin-nen und Inder diese für Anfänger alsschwierig geltende Sprache vor allem ausMotiven lernen, die in der Attraktivitätdes Deutschen als wichtiger Wirtschafts-sprache gründen. In der Tat kann dies eingutes Argument für das Erlernen des

Deutschen sein, da es die Sprache derstärksten nationalen Wirtschaft in Europaist, deren Zukunftspotenzial in der Ent-wicklungsperspektive einer globalisier-ten Wirtschaft eher noch hinzugewinnenkönnte. Zudem wird mancherorts in In-dien – noch verstärkt seit den Ereignissenvom 11. September 2001 und deren Fol-gen – Deutschland als Wirtschafts-, Wis-senschafts- und Kulturraum wahrge-nommen, der neben dem angloamerika-nischen Großraum eine Art ergänzendeAlternative zu diesem darzustellen ver-mag. Mit Blick auf den indischen Bil-dungsmarkt spielt auch der Aspekt eineRolle, die sprachkulturell scheinbarselbstverständliche Vereinseitigung ver-meiden zu wollen, wenn es darum geht,die akademische Ausbildung zu fachli-cher Professionalität durch den Erwerbvon Fremdsprachenkompetenz abzurun-den.Eine weit verbreitete und zweifellos gutzu begründende Antwort auf die Frage»warum Deutsch lernen?« liegt gewiß aufeiner solchen Linie der Orientierung anberuflicher (Zusatz-) Qualifikation fürdie wissenschaftlichen, technischen undwirtschaftlichen Branchen der Zukunft.Andere, weniger am Postulat der Nütz-lichkeit ausgerichtete Beantwortungender Frage »warum Deutsch?« dürftenihre Plausibilität aus der Neugierde aneiner in den vergangenen Jahrzehntenimmer liberaler und weltoffener gewor-denen deutschen Gesellschaft beziehen.Dieses ›jüngere‹ Deutschland gewährtzumal in den zahlreichen Großstädtenvielfältigen Raum für individuelle Selbst-entfaltung, für ein eigenständiges Experi-mentieren mit Lebensstilen, was in die-sem Maße in kaum einem anderen Landmehr oder ebenso der Fall sein dürfte.Dies könnte manch einen in DeutschlandStudierenden etwa die bedrohlich reiz-volle Möglichkeit freierer Subjektwer-dung erstmals als reale Möglichkeit spü-

Page 51: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

447

ren lassen. Denn schon der Eintritt in dasakademische Bildungssystem bringt –mit allen Vor- und Nachteilen der tradi-tionell geringeren Verschultheit seinerStudiengänge – eine Realität zum Vor-schein, deren Möglichkeit weitgehendauf den Prinzipien der Freiheit und(Selbst-)Verantwortung beruht.Zur kulturellen Attraktivität einer indivi-dualistisch gestimmten Atmosphäre inweiten Teilen Deutschlands und zu derseit dem Mauerfall erwachten Neugierdean einer als avanciert wahrgenommenenGesellschaftsmoderne hinzu kommt einseit je ungebrochenes Interesse an deut-scher Kultur auf den traditionell gut be-stellten Feldern von Musik und Theater,von bildender Kunst und Literatur; neuer-dings auch das Interesse an der Architek-tur des Neuen Berlin und dessen Aus-strahlung als eine aufstrebende Metropoleim nach Osten sich erweiternden Europa.

4. Zur Frage nach der »Bildung«In solch einer tendenziell gesamtkulturel-len Hinsicht käme ein Motiv für dasDeutschlernen auf neue Weise zum Tra-gen, welches kultur- und wissenschafts-geschichtlich heute mehr denn je als anti-quiert betrachtet oder geradezu belächeltwird: gemeint ist die Idee der ›Bildung‹,und zwar einer ›allgemeinen Bildung‹ improzessualen Sinne einer individuieren-den Subjektwerdung, deren Endziel improduktiven Einklang steht mit den Zie-len der politischen, wissenschaftlichenund ökonomischen Kultur insgesamt(vgl. Wilhelm von Humboldt 1964: 260).Von Humboldt einst gedacht als inspira-tive Entfaltung der geistigen Kräfte desIndividuums, schloß Bildung durch Wis-senschaft unter der Leitung der Selbsttä-

tigkeit des philosophischen Denkens äs-thetische Kompetenzen, ethische Orien-tierung und politisches Verantwortungs-bewußtsein mit ein.1 Hieran wäre zu er-innern, wenn im Lichte späterer Entwick-lungen des 19. Jahrhunderts dieses klassi-sche Bildungsideal heute gern als privati-stisch und überholt abgetan wird. ImUnterschied zur spezialistisch ausdiffe-renzierten Wissenschaft und der ihr ent-sprechenden berufsorientierten Ausbil-dung zielte die Humboldtsche Allge-meinbildung über die private Angele-genheit der Persönlichkeitsentwicklunghinaus auf eine sinnhafte Freisetzungnormativer Kräfte. Sie wäre aufgrund ih-rer wertebezogenen Orientierungspotenzund ihrer Fähigkeit, dem Ganzheitsver-langen der Vernunft in nachmetaphysi-schen Zeiten Rechnung zu tragen, für diegegenwärtige Bildungspolitik kritisch zurehabilitieren. Denn Bildung besitzt alsTräger kulturvermittelnder Funktioneneine eminent politische Dimension; sie istdas probate Medium individueller undkollektiver Selbstverständigung in ei-nem.Diese über Selbstverwirklichungsabsich-ten des eminent individuierten Bildungs-subjekts hinausreichende kulturpoliti-sche Dimension wird auch in der wiedermehr denn je aktuellen Legitimations-frage von Forschung, Bildung samt ihreraufwendigen Finanzierung leicht verges-sen. Dabei ist die durch Geistes-, Sozial-und Kulturwissenschaften vermittelte(post)humanistische Bildung konstitutivfür das, was über das kulturelle Gedächt-nis, eine geschichtsbewußte Zeitgemäß-heit und innovative Produktivität demwissenschaftlichen und gesellschaftli-chen Entwicklungsprozeß erst eine Rich-

1 Das Humboldtsche Bildungskonzept kann rückblickend als die gemeinschaftlich kulti-vierte Spätfrucht des Deutschen Idealismus, der Deutschen Klassik und Romantikangesehen werden.

Page 52: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

448

tung geben könnte. Denn ohne eine refle-xive Verarbeitung der kulturellen Errun-genschaften des historisch Gewesenen istein Denken und Handeln, das an der Zeitist, nicht vorstellbar und schon gar nichtzukunftsfähig. In ihrer öffentlichen Sphä-re ist Bildung die Schaltstelle zwischenhistorisch eingeholter Vergangenheit,zeitgeschichtlich wacher Gegenwart undeiner werthaft orientierten Zukunft. Inder differenzierten Perspektive einer sol-chen Bildung – über das intellektuelleIndividuelle hinaus verstanden als Desi-derat und Selbstvoraussetzung des Funk-tionierens moderner Gesellschaften – istvertieftes Sprachenlernen über Nützlich-keitserwägungen hinaus kulturelle Basis-arbeit.Unzweifelhaft ist zudem der praktischeNutzen der unausgesetzten Pflege einerhistorisch gewachsenen Sprache. Er zeigtsich im Fall des Deutschen darin, daßdieses über seine mediale Funktion miteiner spezifischen Literatur, Philosophieund Forschungstradition vertraut macht.Zugleich verschafft Deutsch Zugang zueiner weiterhin intakten Sprachkultur,welche die wissenschaftlichen, kulturel-len, politischen und ökonomischen Insti-tutionen einer modernen Demokratie be-dient und sie zu einem öffentlichen Kom-munikationssystem vernetzt. Weiterhingehört Deutsch auch zu den Sprachen,deren linguistische Entwicklung bisheute Schritt gehalten hat mit den dyna-mischen Wissensprozessen einer fortge-setzten Modernisierung; vor allem mitden Erfindungen und Ausdifferenzierun-gen in den Naturwissenschaften undKünsten, der Technik, Ökonomie undden Sozialwissenschaften. Noch immerläßt sich in allen avancierten Bereichenfast alles (auch) auf Deutsch sagen, wasfür manche andere Sprache nicht mehroder nie gegolten hat. Damit dies auch inZukunft so bleibt, bedarf es freilich einerpolitisch wachsamen Sprachkultur.

5. Deutschland und der ferne WestenImmer jedoch mag – so auch im heutigenIndien – die mit Blick auf die beruflicheAusbildung bzw. persönliche Bildungganz unterschiedlich zu beantwortendeFrage nach dem »Warum?« oder »Warumnicht?« Deutsch (oder eine andere Fremd-sprache) lernen mit mancherlei privatenMotiven und ohnehin mit biographischKontingentem gekoppelt sein. Jedoch las-sen sich – seien sie auch mehr oder weni-ger bewußt und unterschiedlich deutlichanalysierbar – auch mögliche allgemein-politische Aspekte im Entscheidungspro-zeß benennen, deren Provenienz alsonicht auf die individuelle Wahrnehmungvon Berufsinteressen oder einen bil-dungsbiographischen Selbstentwurf zu-rückgeht.Zunächst wäre hierzu die historischeKontur des deutschen Kulturraums im20. Jahrhundert etwa vom fernen Süd-Osten ins Auge zu fassen. In einer welt-politisch mitbedingten Perspektive magim Falle Indiens Deutschland eine unge-wöhnlich günstige Position zukommen,insofern sie weniger durch die Zentrie-rung der Schuld an den Weltkriegen unddie nationalsozialistische Barbarei be-stimmt ist als vielmehr durch deren Fol-gen. Namentlich die ExzentrierungDeutschlands aus dem globalen Kräfte-spiel nach 1945 läßt ein wirtschaftlichstarkes Land weitgehend frei von koloni-aler Vergangenheit und großmachtpoliti-schen (Alt-)Lasten erscheinen, die beideeinen nach Zukunftsorientierung su-chenden Blick irritieren können.Zumindest aus indischer Sicht, die ihreintellektuelle Eigenständigkeit samt natio-nalem Selbstverständnis zunehmend seitder politischen Unabhängigkeit 1947 ent-wickelt hat und weiter entwickelt, er-scheint das zweigeteilte Deutschland seitlangem gewissermaßen neutral. Es war inden Zeiten des Kalten Krieges wenigerAkteur, als vielmehr Gegenstand oder

Page 53: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

449

Durchsetzungsmedium von Machtinter-essen. Aus Indiens gleichsam schicksal-haftem Selbstverständnis ist mangelndeSouveränität oder Ohnmacht im weltpoli-tischen Forum bei gleichzeitig unbestreit-bar großen Kulturbeiträgen aus alter Tra-dition eine eher sympathische Konfigura-tion, die das weit entfernte Deutschlandfür einen kurzen Moment als westlichesSpiegelbild erscheinen lassen mag.1

Der im letzten Dezennium des 20. Jahr-hunderts einsetzende Prozeß der Wieder-vereinigung Deutschlands koinzidiertezeitlich und weltpolitisch mit der allmäh-lichen Öffnung Indiens gegenüber denModernisierungsimpulsen, die vom in-ternationalen Marktgeschehen und derVerbreitung von Informationstechnolo-gie ausgehen. Seit Beginn der 90er Jahrehaben sich beide, Indien und Deutsch-land – selbstverständlich auf je eigeneWeise und mit unterschiedlichen Bedin-gungen und Zielen – auf den Weg zueiner notwendigen Selbstdefinition undNeupositionierung in internationalemRahmen und damit zu neuen wirtschaft-lichen und politischen Horizonten ge-macht. Der Hinweis auf solche oberfläch-lich anmutenden Gemeinsamkeiten sollnicht die immensen Unterschiede dieserLänder verdecken oder gar strukturpoli-tische Affinitäten auf Kosten kulturana-lytischer Präzision suggerieren; vielmehrdeutet er auf mögliche Schnittstellen ei-ner vorläufigen interkulturellen Wahr-nehmung, welche die Entscheidung für

eine eingehendere Beschäftigung mitdem jeweils anderen – auch in der Weisedes Sprachenlernens – allerdings undgleichsam immer schon mitbestimmt.Außer Frage steht namentlich die Fremd-heit des Deutschen, dessen Differenzqua-lität in den Blick zu nehmen ist, um seineBildungsfunktion innerhalb der englisch-sprachigen Universitätsausbildung in In-dien zu bestimmen. Denn die Andersheitdes Deutschen ist in Indien eine dop-pelte. Es ist fremd und doch nicht eng-lisch. Da es nicht englisch ist, ist es über-haupt erst wirklich fremd. Deutschkommt in Indien dem produktiven Be-dürfnis nach einer Begegnung mit dereuropäischen Kultur besonders entge-gen, insofern es als extreme Fremde zu-gleich eine relationale Wahrnehmung desEigenen ermöglicht. Diese wichtige Di-mension interkultureller Erfahrung istzudem frei von historisch belasteter Se-mantik, da Deutschland in Indien keineKolonialmacht gewesen ist. DeutscheSprache und Kultur formieren also dasEuropäische als eine Fremde, welche ken-nenzulernen über eine konnotativ unver-stellte Annäherung erfolgen kann. DieAuseinandersetzung mit Deutschlandbildet in Indien also eine Alternative zurambivalent vertrauten und historischüberkommenen mit Großbritannien.Von Interesse ist dabei die Funktion derKontrastbildung. Vor dem fremdkulturel-len Hintergrund Deutschlands, wie er ins-besondere durch literarische Texte verge-

1 Äußerst bedenklich bleibt freilich die in Indien diffus verbreitete Sympathie undungeheure Faszination für Adolf Hitler und seine Machtpolitik unterm Hakenkreuz(was bekanntlich als indische Swastika ein mythologisches Symbol für Glück oder Heilist). Dies gehört auch insofern in diesen Zusammenhang, als daß noch heute junge Inderin Hitler-Deutschland vor allem einen geschichtsmächtigen und zudem anti-moderni-stischen Widerstand gegen die (koloniale) Hegemonie Großbritanniens bewundern.Dies gilt insbesondere auch der militärischen Aggressivität des damaligen DeutschenReiches in dem Maße, wie ein Großteil der Enkel der Gandhi-Generation angesichts destrotz zweier Kriege weiterschwelenden Kaschmir-Konfliktes ihr nationales Heil eher ineiner martialischen Einstellung (gegenüber Pakistan) und damit zugleich sich amüberkommenen Submissionskomplex Indiens abzuarbeiten suchen.

Page 54: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

450

genwärtigt werden kann, lassen sich dieeigenkulturellen Strukturen Indiens deut-licher ins Auge fassen. Die in literarischeTexte eingeschriebenen sozialen, ökono-mischen und ästhetischen Praktiken etwawerden zum Anlaß einer vergleichendenBeleuchtung der ihnen jeweils entspre-chenden Praxis im eigenen Land. Deut-sche Geschichte und Kultur, die histori-schen Zusammenhänge von literarischerProduktion, gesellschaftlichem Prozeßund wirtschaftlichen Verhältnissen dienenin der akademischen Rezeption der Selbst-vergewisserung Indiens hinsichtlich sei-ner gegenwärtigen Entwicklungstenden-zen. Diese allgemeinste Modellfunktionder Fremde kann zum Aufdecken vonDefiziten ebenso wie zur Bestätigung derVorzüge des Eigenen führen (zum vieldis-kutierten Thema der Fremdheit im Kon-text der interkulturellen Germanistiksiehe Wierlacher 1985; Hammerschmidt1997; Wierlacher/Albrecht 2000).Zum Beispiel sind es die seit der europä-ischen Aufklärung des 18. Jahrhundertsverstärkt Geschichte machenden Ideen in-dividueller Selbstbestimmung, einer uni-versellen Vernunft, einer reflektierendenKritik, des humanistischen Ethos, einesästhetisch und moralisch autonomen Sub-jekts oder die Idee der Geschichte selbst,die durch ihre explizite oder implizite,konzeptionelle und literarische Vermitt-lung Anlaß geben zu einer Fremdstellungdes Eigenen. Im Licht der Fremde könnengesellschaftlicher Wandel, Veränderungüberkommener Rollen- und Verhaltens-muster oder gar das Infragestellen autori-tärer Traditionsbestände nicht nur attrak-tiv, sondern auch erreichbar erscheinen.Die Beschäftigung mit kulturellen Textender Fremde kann neben Abwehr oderGleichgültigkeit auch emanzipatorischebis subversive Effekte zeitigen. Zumal derUmgang mit Literatur eröffnet Spielräu-me reflexiver Wahrnehmung und schärftden Sinn für das Mögliche.

6. Vergangenheit und Zukunft desDeutschenWendet man den Blick auch nur flüchtigin die Vergangenheit zurück, so sind wei-tere Aspekte hinsichtlich der Frage nachder Bedeutung des Deutschen erkennbar.Wer vor einhundert Jahren Deutschlernte (in Indien, z. B. in Pune seit 1915),der wußte sofort warum. Denn Deutschwar seit der Mitte des 19. Jahrhundertsbis dahin die Sprache der idealistischenPhilosophie, war dann auch zur wichtig-sten Sprache in den neu entstandenenGeschichtswissenschaften, der klassi-schen Philologien, der Archäologie sowieder Volkswirtschaftslehre, der Soziologie,des Marxismus, der Psychologie (Psycho-analyse) und zumindest im populärwis-senschaftlichen Sinne auch der Biologiegeworden. Im frühen 20. Jahrhundertwurde Deutsch schließlich auch zur Spra-che der zur neuen Leitwissenschaft auf-steigenden Physik. Wer sich im zuneh-mend ausdifferenzierten Feld der Wis-senschaften gründlich orientieren undam Diskurs aktiv teilnehmen wollte, derlernte Deutsch (zum Deutschen als »Ge-meinsprache der modernen Wissenschaf-ten« vgl. Steinfeld 2000).Dies ist heute bekanntlich nicht mehr derFall. Stattdessen ist das Englische aus denbekannten Gründen zum Postulat einerwissenschaftskulturellen Selbstverständ-lichkeit geworden. Dennoch gilt für vielenoch heute – und nicht nur für Philoso-phie- und Wissenschaftshistoriker aufder ganzen Welt –: wer die Geschichteund die Geschichten rund um die Entste-hung der modernen Wissenschaftenwenn schon nicht selbst erzählen, so dochwenigstens ihr Erzähltwerden verstehenwill, wer deren Protagonisten in ihrenbiographischen und epistemischen Kon-texten sich nähern will – kurz: wer an derhistorischen Rekonstruktion der Diskurs-formation des zunehmend allgegenwär-tigen Abendlandes interessiert ist, der

Page 55: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

451

fühlt sich noch immer von der deutschenSprache auch als Sprache der Wissen-schaften und Philosophie angezogen.Hinzu kommt die Faszination, die schonimmer von den Künsten, insbesondereder deutschen Musik und Literatur aus-ging, welche früher einmal durch diedisziplinäre Integrationskraft der Philo-sophie in selbstverständlicher Verbin-dung mit den Wissenschaften standen.Nicht nur die großen Namen wie Mozartund Goethe, Beethoven und Schiller,Wagner und Nietzsche, oder – im geradevergangenen Jahrhundert – Maler wieMax Beckmann oder Georg Baselitz unddie Literaturnobelpreisträger ThomasMann, Hermann Hesse oder zuletzt Gün-ter Grass stehen weltweit für die Qualitätdeutscher Kultur – sie alle sind interna-tional allenfalls die medial einprägsamenIkonen eines breitgestreuten schöpferi-schen Reichtums.Freilich kann heute, wer über solcheKünstler oder über deutsche Wissen-schaftserfinder wie Marx, Freud und Ein-stein lesen und sprechen möchte, diesauch in Englisch oder anderen Sprachentun. Zum einen zeugt dies positiv von dertiefen Verwurzelung deutscher Kulturlei-stungen in anderen Sprachen und Gesell-schaften. Zum anderen ist es aber auchein Hinweis auf ein nicht hinreichendbewußtes Problem im aufkommendenZeitalter der multimedialen Globalisie-rung.Kein Problem ist hierbei die Tatsache, daßEnglisch im Prozeß der Globalisierungzur wichtigsten Sprache geworden ist.Dafür spricht schlicht die praktische Not-wendigkeit, sich international und welt-weit ohne umständliche Übersetzungrasch verständigen zu müssen, sei es aufReisen über alltägliche Gegebenheiten,sei es im wissenschaftlichen Forschungs-prozeß über neueste Ergebnisse. Hier istunzweifelhaft sogar ein bloßes Basis-Englisch von funktionalem Wert.

Allerdings ist es als Problem anzusehen,wenn die fein nuancierte und hoch diffe-renzierte englische Sprache noch dort alseine lingua franca fungiert, wo sie als biszu einem Sprachstumpf degenerierteForm des Englischen einem geltungsbe-dürftigen Sprecher nur das Image einesGlobal Speakers verleihen soll (zur Pro-blematik vom ›Englisch‹ als lingua francavgl. Weinrich 2000: 7 ff.). Die Pflege dereigenen Sprache als Kulturgut – und dasbedeutet weltweit der vielen verschiede-nen Sprachen – sollte nicht leichtfertig,d. h. ohne Mitteilungsnot, aufgegebenwerden zugunsten eines auf Minimal-strukturen reduzierten Basic English.Inder und Deutsche sind hinsichtlich desEnglischen in einer jeweils besonderenGefahr. In Indien wird Englisch aufgrundder kolonialen Vergangenheit fast über-all, in weiten Teilen der Bevölkerung undwie selbstverständlich als Indian Englishgesprochen. In Deutschland wird Eng-lisch normalerweise als erste Fremdspra-che gelernt und mitunter sehr bereitwil-lig eingedeutscht bzw. durch Einführungvon Anglizismen gerne adaptiert. Ober-flächlich besehen scheint für Deutschedas Englische aufgrund seiner linguisti-schen Verwandtschaftsbeziehungen zumDeutschen eine leicht erlernbare Sprachezu sein. In Wahrheit aber ist richtiges undgutes Englisch genauso schwer zu erler-nen wie andere Sprachen auf höheremNiveau. Für Inder wie für Deutsche be-steht nun aber die den anglophonen Mut-tersprachlern beinahe vergleichbare Ge-fahr einer mangelnden Motivation zumErlernen einer weiteren oder erst wirkli-chen Fremdsprache. Warum sollte mannoch Italienisch, Chinesisch oder Fin-nisch lernen, wenn doch die weltweiteVorrangstellung des Englischen denpraktischen Nutzen auf Reisen und dienotwendige Qualifikation für die Berufs-welt zu garantieren scheint?

Page 56: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

452

Durch den verkümmernden Anreiz aber,andere Fremdsprachen zu erlernen,droht ein empfindlicher Verlust an nurdurch diese vermittelter Kulturerfahrung:nämlich die in den verschiedenen Spra-chen manifestierte Vielfalt an Denkfor-men und Mentalitäten, Vorstellungswei-sen sowie Verhaltens- und Wahrneh-mungsmustern.

7. Fremde als sprachliche Selbsterfah-rungÜber diesen Verlust am Kennenlernenunterschiedlicher Sprachkulturen hinausdroht durch das Nichtlernen von Fremd-sprachen auch noch etwas einzigartigWertvolles zu verschwinden, das man alsdas sprachliche Initiationsmoment in dieeigene Fremdheit bezeichnen könnte.Viele Fremdsprachenlerner kennen denAugenblick des begrifflichen Stupors, ei-nes bis ins Existenzielle reichenden Stau-nens über wie von selbst entstehendeAusdrucksmöglichkeiten, kennen aberauch die fundamentale Irritation desmenschlichen Vermögens zur sprachli-chen Artikulation. Solche Irritation zeigtsich im Verstummen der automatisiertenRede des Selbst im Anderen. Vielleichtkann erst durch eine solche negativ faszi-nierende Begegnung in der Fremde derSprache deren Subjekt kulturell berei-chert zu sich kommen – und das heißt:wieder und expressiv versiert zur Spra-che kommen. Freilich kann die Möglich-keit einer solchen tiefenstrukturellenWirkung des Lernens einer Fremdspra-che nicht immer und überall eingelöstoder bewußt werden. Doch sollte diesemit dem Umgang mit einer Fremdspra-che verbundene philosophische Funktionder ›Bildung‹, welche die denkende Ent-faltung der Persönlichkeit einschließt,nicht ganz vergessen werden. EineFremdsprache gut erlernen ist immerauch ein intellektuelles Abenteuer.

Außerdem sollte die sprachpolitische Be-deutung der kulturellen Vielfalt nicht ausden Augen verloren werden. Denn einemonolinguale Welt des auf die verbalenMinimalbedürfnisse von ›Engineering‹und ›Business‹ zusammengesetzten Kon-ferenzenglisch würde eine katastrophaleVerarmung von über Jahrhunderte ge-wachsenen Sprachkulturen bedeuten.Und mit ihnen drohte nicht etwa nur dashumanistische Reich der Literaten, Philo-logen und Philosophen endgültig unter-zugehen. Vielmehr könnte die hochkom-plexe Struktur unserer institutionell, kul-turell und intellektuell heterogenen Ge-sellschaften zunehmend eingeebnet wer-den zu den sprachgeistigen Niederungenjener immer gleichen medialen Inszenie-rung der wissenschaftlich-technisch-öko-nomischen Imperative. Die einheitskul-turelle Zumutung einer Lingua-Franca-Welt triebe das sprach- und besinnungs-begabte Wesen ›Mensch‹ nur noch weiterhinaus in die sinnentleerte Weite imagi-närer Globalisierungshorizonte.Für wen diese apokalyptische Aussichtnoch nicht Grund genug sein sollte, dieeigene Muttersprache hochzuhalten, wei-tere Sprachen neben Englisch zu lernenund gleichsam ex negativo in das Fremd-sprachenlernen hohe Erwartungen zusetzen, darf sich zuletzt auch noch einmaldie positiven Aspekte verdeutlichen. Wiefür alle Fremdsprachen so gilt auch fürdas Deutsche, daß in ihm kulturspezifi-sche Formen des Vorstellens und Den-kens, bestimmte ethische sowie ästheti-sche Dispositionen des Wertschätzensund Handelns manifestiert sind. Dieseund weitere Aspekte der Sprache als ei-nes kulturproduktiven Geschehens ha-ben sich in einem über Jahrhunderte er-streckenden Prozeß semantisch sedimen-tiert. Das Erlernen einer Fremdsprache,sei es Deutsch, Französisch, Spanisch,Japanisch oder Russisch – um nur einigebevorzugte zu nennen –, bringt den Ler-

Page 57: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

453

ner in unmittelbaren Kontakt mit demsymbolischen Material, aus dem kultu-relle Systeme bestehen. Dadurch werdenimmer auch die realen Konstruktions-prinzipien und konkreten Imaginations-welten einer Sprache berührt oder dochberührbar; ein empathisches Auffassender Rede des ›Gegenüber‹ erscheint miteinemmal möglich, interkultureller Dia-log entsteht.Versteht man Sprache als ein offenes se-miotisches System, so erhält derjenige, dereine Fremdsprache erlernt, spielerisch Zu-gang zu einer fremden Kultur. Zugleichaber lernt er auch das kulturelle Eigene –vermittelt durch die Zeichen der Fremd-heit des anderen – in seiner Differenzqua-lität (und dadurch oft genug erst wirklich)kennen. Auf diese Weise kann Fremdspra-chenlernen ein fundamentaler Beitrag zurEntwicklung des individuellen Selbst-und Weltverständnisses sein. Fremdspra-chenlernen trägt in pädagogisch-philoso-phischem Sinne auch zur Ausbildung undBefestigung von ethischen Werten wieetwa dem der Toleranz bei; wozu im emi-nenten Sinne immer auch gehört: die An-erkennung des anderen als solchem. Dieswird jedoch nur dort gelingen können, wodie wahrnehmungsästhetische Basis imMedium der Sprache genügend sensibili-siert ist (zum ›Kulturthema‹ Toleranz vgl.Wierlacher 1996).Lernender und das heißt auch zuneh-mend: bewußter Umgang mit Sprachefordert das Interesse am Fremden anStelle der Angst vor demselben. Die inder Begegnung mit dem ethnisch undsprachlich Fremden oft mit auftauchendeFurcht und gleichsam instinktive Ab-wehr kann sich durch die Entdeckungdes im Eigenen verborgenen Fremden ineine heute mitunter als bloßes Ideal diffa-mierte Erfahrung verwandeln: in die derHumanität; einer die gesellschaftsmora-lisch gesicherten Subjektgrenzen aller-

dings überschreitenden Humanität, dienur aus der Berührung des ›unheimli-chen‹ Anderen in uns selbst aufkommenkann. Dies wäre als interkultureller Wie-dergewinn einer im Beschleunigungs-lärm der Moderne zunehmend verschüt-teten Erfahrungsmöglichkeit zu werten,die das unerhört(e) fremde Sein in unsselbst erschließt.Eine solche sinnstiftende Selbsterschlie-ßung des Anderen in uns – als Vorausset-zung der Begegnung des Anderen selbstim interkulturellen Dialog – vollzieht sichauf genuine Weise im Medium der Spra-che. Das Erlernen einer fremden Spracheführt immer auch durch die Fremde derSprache, die wir selbst sind. Aus dieserkann sich jedem, der eine fremde Sprachelernt, – analog zum Reisenden in fremdenLändern – immer auch eine neue Welteröffnen.

LiteraturAmmon, Ulrich: Die internationale Stellung

der deutschen Sprache. Berlin; New York:de Gruyter, 1991.

Ammon, Ulrich: Deutsche Sprache internatio-nal. Heidelberg: Groos, 1999.

Ammon, Ulrich: »Wird Deutsch verdrängt?Hinweise zum Bestand, zur Erklärungund zu Förderungsmöglichkeiten«. In:Passé und mega-out? Zur Zukunft der deut-schen Sprache im Zeitalter von Globalisie-rung und Multimedia. Köln: ImpressumDeutsche Welle, 2000.

Hammerschmidt, Annette C.: Fremdverste-hen – Interkulturelle Hermeneutik zwischenEigenem und Fremdem. München: iudi-cium, 1997.

Humboldt, Wilhelm von: »Werke in 5 Bän-den«. Hrsg. von Flitner, Andreas; Giel,Klaus; in Zusammenarbeit mit Herr-mann, Ulrich; Mattson, Philip; Unterber-ger, Rose: Band IV. Darmstadt: Wissen-schaftliche Buchgesellschaft 1964, 260 (6.Auflage 2002).

Krusche, Dietrich: »Warum geradeDeutsch? Zur Typik fremdkultureller Re-zeptionsinteressen«. In: Wierlacher, Alois(Hrsg.): Perspektiven und Verfahren inter-

Page 58: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

454

kultureller Germanistik. München: iudi-cium, 1987, 99–112.

Steinfeld, Thomas: »Tierleben im Eismeer«.In: Passé und mega-out? Zur Zukunft derdeutschen Sprache im Zeitalter von Globali-sierung und Multimedia. Köln: ImpressumDeutsche Welle, 2000.

Weinrich, Harald: »Deutsch in Linguafran-caland«. In: Passé und mega-out? Zur Zu-kunft der deutschen Sprache im Zeitalter vonGlobalisierung und Multimedia. Köln: Im-pressum Deutsche Welle, 2000, 7–16.

Wierlacher, Alois (Hrsg.): Das Fremde und dasEigene. Prolegomena zu einer interkulturellenGermanistik. München: iudicium, 1985.

Wierlacher, Alois (Hrsg.): Perspektiven undVerfahren interkultureller Germanistik.München: iudicium, 1987.

Wierlacher, Alois (Hrsg.): Kulturthema Tole-ranz – Zur Grundlegung einer interdiszipli-nären und interkulturellen Toleranzfor-schung. München: iudicium, 1996.

Wierlacher, Alois; Albrecht, Corinna et al.:Kulturthema Fremdheit – Leitbegriffe undProblemfelder kulturwissenschaftlicherFremdheitsforschung – Mit einer For-schungsbibliographie. München: iudicium,2000.

Page 59: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

455

Interkulturelles Konzept beim Fremdsprachener-werb – zwischen Theorie und Praxis

Überlegungen zu einem DaF-Lehrwerk für indische1 Lernerder Altersgruppe 19–24

N. Anuradha Srinivasan

Das Interesse an Deutschland undDeutsch hat in Indien mittlerweile einenAufschwung erlebt, da indische Fach-kräfte bzw. Kenntnisse im Bereich Infor-matik überall auf der Welt – so auch inDeutschland – begehrt sind. Aus diesemGrund sind die DaF-Kurse in Indien gutbesucht. Für ein zielsprachenfernesLand wie Indien trifft jedoch die in denDaF-Fachkreisen allgemein bekannteTatsache zu, daß die eigenkulturelle Prä-gung der Lernenden bei ihrer Interpre-tation der zu erlernenden Fremdkultureine wesentliche Rolle spielt. Denn nurwenige indische DaF-Lernende habeneinen freien Zugang zu Informationenüber den Alltag im deutschsprachigenRaum, obwohl Berichte über Deutsch-land in den hiesigen Zeitungen undZeitschriften häufiger zu lesen sind alsnoch vor ein paar Jahren.Will man im fremdsprachlichen Deutsch-unterricht interkulturelle Lernziele be-rücksichtigen, so soll sich der DaF-Unter-richt insbesondere in einem zielsprachen-fernen wie Indien »auf jede Art und

Weise bemühen, das Hinauswachsen desLernenden über die Grenzen seiner Ei-genkultur und Muttersprache zu för-dern« (Kaikkonen 1994: 57).Ein Vorschlag wäre, das interkulturelleKonzept, mit dem »die Frage gestelltwird, wie dem Lernenden geholfen wer-den kann, den je individuellen Ausgleichzwischen dem, ›was ich selber mitbringe,und dem, was von außen auf mich anAnforderungen zukommt‹, zu finden«(Neuner 1994: 26), als eine geeigneteGrundlage für ein indisches DaF-Lehr-werk in Betracht zu ziehen. Diese Ent-scheidung führt uns zu der Frage, wasdie theoretischen und praktischen Folgendieses Konzepts für den DaF-Unterrichtin Indien sind.Das interkulturelle Lernen umfaßt einigewichtige Aspekte, die bei der Gestaltungeines auf diesem Konzept basierendenLehrwerks einschlägig sind. Im folgen-den wird deshalb auf die Auswirkungendieser Aspekte im indischen Kontext ein-gegangen (vgl. dazu Neuner 1994: 14–39).

1 Dieser Beitrag ist das Ergebnis einer neunjährigen Forschungsarbeit im Bereich DaF inIndien.

Info DaF 31, 4 (2004), 455–461

Page 60: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

456

Wahrnehmung der eigenen Verhaltens-weiseDas Verhalten eines jeden Fremdspra-chenlernenden wird mehr oder wenigerunbewußt durch seine Umgebung unddie Gesellschaft geprägt. Es ist daher sehrwichtig, daß die Lernenden sich darüberklar werden, welchen Einfluß ihr Umfeldauf ihre Einstellungen und Haltungenhat, z. B. wie man sich in einer Bankverhält. Ein Vergleich von Handlungs-mustern würde bei der Lösung von Ver-ständnisproblemen der Lernenden schonein gutes Stück weiterhelfen.In Indien stellt man sich kaum in einerSchlange an und übt auch keine Diskre-tion, was in Deutschland selbstverständ-lich ist. Im Gegensatz dazu wird in Indiendas Schlangestehen sehr lässig gehand-habt. Wenn man dem Vordermann überdie Schulter schaut, könnte sogar ein hei-teres Gespräch zwischen zwei einandervöllig fremden Menschen zustande kom-men.Es wäre daher angebracht, im Lehrwerkunterschiedliche Verhaltensmuster zuversprachlichen, damit eine oberflächli-che Annäherung an die fremde Kulturoder, in anderen Worten, ein »naive(r)«Vergleich (Neuner 1994: 25) vermiedenwird. So könnte der Gefahr der zu schnel-len Verallgemeinerung durch unvorsich-tige Vergleiche und Gleichsetzungen derfremden mit der eigenen Welt ausgewi-chen werden, so daß die Lernenden dieWertmaßstäbe der eigenen Welt nicht un-reflektiert auf die fremde Welt übertra-gen. Außerdem können indische Ler-nende durch die Förderung bewußterWahrnehmung des eigenen Verhaltens zueiner kritischen Betrachtung der eigenenKultur angeleitet werden. Mit dieserAuseinandersetzung erhofft man sich,daß indische Lernende für die kulturellunterschiedlichen Auffassungen gegen-über bestimmten Aspekten wie Raum,Zeit u. ä. sensibilisiert werden.

Kritisches Nachdenken über die eigeneKulturJede Kultur ist von ihren eigenen Sittenund Gebräuchen geprägt. Daß die ei-gene Kultur den meisten von uns alsVorbild dient, ist nicht bestreitbar. Ausdiesem Grund tendiert man dazu, be-stimmte Einstellungen zu Gegebenhei-ten fremder Kulturen zu haben, diesich bei näherer Betrachtung als Vorur-teile erweisen können. Durch die Anre-gung zu kritischem Denken über dieeigene Lebensart im Fremdsprachenun-terricht versucht man, Vorurteile abzu-bauen und Stereotypisierungen zu um-gehen.Deutsche Texte/Textausschnitte über In-dien in einem DaF-Lehrwerk werden in-dische Lernende einschlägig erkennenlassen, daß ihre Kultur von Angehörigeneiner anderen Kultur anders wahrge-nommen wird:

»In Indien existiert viel weniger Privatlebenals bei uns. Das …« (Krack 1989: 86)

oder

»Erstaunlicherweise ist nicht Tee das wich-tigste Getränk in Indien […]. In Indien wirdso viel Tee angebaut, daß es schier unver-ständlich ist, wie sie so ein scheußliches, zusüßes, milchtrübes Getränk daraus kochenkönnen. Mit Tee hat dies wirklich nichts zutun.« (Gowther/Finlay/Raj/Wheeler 1992:85)

Wenn die Lernenden sich mit solchenBemerkungen über die eigene Kulturbefassen, werden sie einen kritischenAbstand zu ihren eigenkulturellen Ein-stellungen gewinnen können. Stelltman diese in Frage, so wird man auchdie Klischees und die Vorurteile, dieman über eine fremde Kultur hat, unterdie Lupe nehmen müssen. Dadurchwird ein zum Teil objektives Urteilsver-mögen gefördert, soweit es sich um dieGebräuche einer fremden Kultur han-delt.

Page 61: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

457

Negative Einstellung zu der indischengesellschaftlichen LageInder sind in der Regel sehr kritisch ge-genüber der gesellschaftlichen und poli-tischen Lage im eigenen Land eingestellt.Von daher bekommt man sehr oft sol-cherart Bemerkungen in den Zeitungenzu lesen:

»Indien wird sich wirtschaftlich nie verbes-sern«.»Inder sind korrupt«.»Inder wollen nur ins Ausland«.

Diese oft unreflektierte Kritik wird durchdie Überflutung mit Informationen ausentwickelten Ländern verschärft, dennder Vergleich führt in den Augen vielerInder nur zu einem schlechten Bild vomeigenen Land, obwohl diese von außenkommenden Informationen eher ober-flächlicher Art sind.Die Lernenden können zu Vergleichenzwischen Alternativen und Lösungen inder jeweiligen Kulturen angeregt werden,damit sie eigenständige Schlüsse über dieAngemessenheit bestimmter Systeme fürspezifische Situationen ziehen können.Die folgenden Themen könnten dabeiz. B. in Betracht gezogen werden:– Umweltschutz– Mülltrennung und Müllsammlung– öffentliche Verkehrsmittel– Altersheime usw.In Deutschland wird viel über die Vor-und Nachteile der Mülltrennung debat-tiert. Viele Inder beneiden die Deutschenum dieses System der Mülltrennung undMüllsammlung. Bei näherem Vergleichstellt man jedoch fest, daß auch in IndienMülltrennung sehr systematisch ge-schieht, obwohl diese nicht staatlich gere-gelt ist und nicht so augenfällig durchge-führt wird wie in Deutschland. Alte Zei-tungen, Plastiktüten, Flaschen und Mö-bel werden direkt von demjenigen abge-holt, der diese verwerten kann. Deshalb

sieht man in Indien keine getrenntenMülltonnen für Flaschen, Zeitungen usw.Zieht man die Aufmerksamkeit der Ler-nenden auf die Mannigfaltigkeit jedesSystems, werden sie vorsichtiger bei ihrerBeurteilung sein. Es ist auch zu hoffen,daß dies zum Abbau der negativen Ein-stellung beiträgt.

Ambiguitätstoleranz (Neuner 1994: 27)Gewisse Vorstellungen von einer Lebens-weise, die mit den indischen gesellschaft-lichen Normen nicht konform gehen, lö-sen während der Behandlung von The-men wie »das Zusammenleben (unverhei-rateter Paare)«, »alleinstehende Eltern-teile«, »Alterheime« im DaF-Unterrichteine Abwehrhaltung bei Lernenden aus.Die Verhaltensregeln für beide Geschlech-ter sind in der indischen Gesellschaft jenach Alter ziemlich klar definiert. Bei-spielsweise hat die Ehe und das Familien-leben eine zentrale Stellung in Indien undalleinstehende Frauen mit Kindern wer-den schief angesehen. Es kommt in Indiensehr selten vor, daß Väter ihre Kinderallein erziehen. In der Regel heiraten Wit-wer und geschiedene Männer wieder,während Witwen und geschiedeneFrauen dies nur in seltenen Fällen tun.Um die Abwehrreaktion bei Lernendenwährend der Behandlung der oben er-wähnten Themen zu vermeiden, könnendiese im Lehrwerk, wo nötig auch mitmuttersprachlichen Erklärungen verse-hen werden, damit die Lernenden dieMöglichkeit haben, »die Bedeutung des-sen, was man wahrnimmt, für sich selbstauszuhandeln« (Neuner 1994: 27) undsomit den sog. Ambiguitäten zwischenKulturen mit Toleranz zu begegnen.

Das interkulturelle Lehrkonzept im Un-terrichtNach dieser Auslegung des theoretischenAspekts wird die praktische Unterrichtse-bene bedacht. Während es offensichtlich

Page 62: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

458

ist, daß interkulturelle Kommunikationein wesentliches Ziel des Fremdsprachen-unterrichts in Indien sein soll, muß derSchwerpunkt nicht ausschließlich auf derAlltagskommunikation im deutschspra-chigen Raum liegen, sondern er kann auchauf Kommunikation mit Muttersprach-lern in Indien gelegt werden. Mit demZuwachs an deutschen und deutsch-indi-schen Gemeinschaftsunternehmen in In-dien sind Begegnungen mit Deutschenvor Ort keine Seltenheit mehr. Aus diesemGrund ist für indische Lernende die Ver-sprachlichung der eigenen Welt aufDeutsch sehr wichtig.Ein Schritt in diese Richtung ist die Be-handlung von Themen, die sich zu einemVergleich eignen, wie z. B.:– die Familie: Vater, Mutter, Geschwister;– Was bedeutet Urlaub für die Deutschen

bzw. Inder?– Unterscheidet sich Reisen in Indien

von Reisen in Deutschland?– Ehe;– Selbständigkeit: was bedeutet dies (im

Rahmen einer Familie/Gesellschaft)?– der Begriff »Ausländer«;– Ordnung und Sauberkeit/öffentliche

Hygiene vs. persönliche Hygiene.Anhand geeigneter Texte könnten Dis-kussionsanlässe im Unterricht geschaffenwerden. Das Wort »Ausländer« wird bei-spielsweise je nach dem Standpunkt desSprechers bzw. Ansprechpartners andersverstanden.Im folgenden wird aufgezeigt, wie mananhand von zwei Texten diesen Unter-schied im Lehrwerk zum Ausdruck brin-gen kann. Wir stimmen – soweit es umdie Frage der Authentizität von Textengeht – mit Gert Solmecke überein, daß»eine befriedigende und allseits akzep-tierte Definition von ›authentisch‹ nichtexistiert«. Der Zweck eines Textes ist es,»für den Unterricht geeignet zu sein, denLernern vor allem etwas von der außer-unterrichtlichen Sprachwirklichkeit zu

verdeutlichen und so darauf vorzuberei-ten. Das kann ein gut gemachter didakti-scher Text sicherlich genauso gut wie einauthentischer. […] Das Wichtigste ist […],daß die Lerner den Eindruck haben, derjeweilige Text konfrontiere sie mit ›richti-gem Deutsch‹« (Solmecke 1993: 39 f.).

Text 1:

Klaus ist ein Tourist aus Deutschland. Erbesucht Ullavi, ein Dorf in Western Ghatsvon Karnataka. Er fragt einen alten Mann:›Kommen viele Ausländer nach Ullavi?‹›Natürlich‹, sagt der alte Mann.Klaus ist erstaunt und fragt: ›Was?! Wirk-lich? Woher kommen die Touristen denn?‹Der alte Mann antwortet: ›Aus Dharwadund Hubli‹.(Aus: Krack 1989: 86)

Text 2:

Graffito

Dein Christus ist ein JudeDein Auto ist japanischDeine Pizza ist italienischDeine Demokratie ist griechischDein Urlaub ist türkischDeine Zahlen sind arabischDeine Schrift ist lateinischDein Nachbar ist nur ein Ausländer?(Aus: Lindquist-Mog 1996: 44)

Im ersten Text bezeichnet man als Aus-länder Menschen, die nicht aus dem DorfUllavi kommen. Für den alten Mann sindalle Menschen Ausländer, die nicht ausseinem Dorf kommen. Dagegen werdenim zweiten Text alle Menschen, die nichtdeutscher Herkunft sind, als Ausländerbetrachtet.Diese Texte regen die Lernenden an, überdie (Mit)menschen im eigenen Land undim Ausland nachzudenken. Sie führen zueiner Sensibilisierung des Umgangs mitFremden »durch die Infragestellung dereigenen, durch die Präsenz des Fremden«(Reich 1993: 106).Durch diese Betonung interkulturellerKommunikation im Lehrwerk wird denLernenden die Chance geboten, die an-

Page 63: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

459

dere Kultur wahrzunehmen, diese zuverarbeiten und vielleicht die fremdeKultur in ihrer Andersartigkeit zu akzep-tieren. Außerdem bleibt die Motivationfür das Lernen erhalten, da Lernende sichaus subjektiver Sicht an solchen Diskus-sionen beteiligen.

Diese Art der Behandlung von Themenstellt weiterhin sicher, daß die Lernendenauch die kulturspezifischen Bedeutun-gen des Wortschatzes beachten. Um dieseTendenz zu fördern, können andere Lern-hilfen, wie z. B. die folgende Tabelle aufEnglisch1, angeboten werden:

Diese Aufgabe soll klarstellen, »wie Be-griffe, die auf den ersten Blick kulturneu-tral bzw. in allen Kulturen identisch er-scheinen (wie z. B. Der Begriff Name/Vorname), unter bestimmten Fragestel-lungen kulturspezifische Ausformungenzeigen« (Müller 1994; 37).Das Gedicht »Das Unbestrittene Eine«wäre ein weiterer Text, der für Aufgabendieser Art angemessen wäre.

Das Unbestrittene Eine

So viel Licht – eine SonneSo viele Sterne – ein HimmelSo viel atmen – eine LuftSo viele Ideen – ein HirnSo viele Wörter – eine ZungeSo viel Lüge – eine WahrheitSo viele Gefühle – eine LiebeSo viel Liebe – ein Herz(Aus: Ziv 1986: 8)

Einzelne Beispiele sagen jedoch immernoch nichts darüber, ob dieses Konzept ineiner zusammenhängenden Lektion

funktionieren wird. Deshalb sind einigeLektionen entworfen worden, um diesesinterkulturelle Konzept in einem größe-ren Kontext zu prüfen. Im folgendenwird exemplarisch eine Lektion vorge-stellt, die die oben erwähnten didakti-schen Überlegungen berücksichtigt.

Thema: ZahlenZiel: Zahlen richtig aussprechen und schreiben,mit Flußdiagrammen arbeitenBeispiellektion 1: ZahlenWelche Zahl kommt aus Indien?Die größte Leistung der indischen Mathe-matik sind die Zahlzeichen. Diese Zahlzei-chen nennt man arabische Zahlen. Zumersten Mal zeigt eine Tempelschrift in Gwa-lior die Null. Das Nullzeichen der Inder warein (.). Später kam ein kleiner Kreis (o) undschließlich die Null (0), wie wir sie heuteschreiben. Das indische Wort für Null sunyabedeutet »leer«.(Aus: Highland, Harris; Highland, H. J.:Was ist was? Mathematik. Band 12. Ham-burg: Neuer Tessloff Verlag, 1973: 32.).

1 Die meisten DaF-Lerner in Indien besitzen Englischkenntnisse. Sie haben in der Schuleviele Jahre Englisch gelernt und in den meisten Fällen lernen sie Deutsch nach Englisch.

Possibilities of identifying cultural contexts (vgl. Müller 1994: 37)

Lesson Words that need to be explained Cultural aspects – compare with situations in India

1 Greeting When? Whom? How?Lucky? Unlucky? Why?

2 Profession

Children

Salary/who earns in the family? Are all profes-sions given the same respect?What role do children play in the family? How long is one treated as a child?

3 Leisure What is leisure?How important is it?Who has leisure time?When?

Page 64: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

460

Look at the flow-chart given below. Read the text and fill in the gaps in the flow-chart. Reconstructinga text from a flow-chart is a good reading strategy that helps you summarize information in a text.When you read the flow-chart you should be able to reconstruct the information in the original textwithout having to read it once again. This is because the flow-chart contains all the relevantinformation from the original text.

We now know how India gave the world itsmost important number. We also know that»null« means _________ in German. Let ussee what other numbers in German arecalled.

Zahlen 0–20Here are the numbers from 0–20.nulleins sechs elf sechzehnzwei sieben zwölf siebzehndrei acht dreizehn achtzehnvier neun vierzehn neunzehnfünf zehn fünfzehn zwanzig

Please write the numbers given below inwords5 20 16 3 7_______ _______ _______ _______ _______1 9 17 19 12_______ _______ _______ _______ _______

20–29The way numbers from 21 to 99 are writtenand spoken in German is similar to that inHindi. Unlike in English, these numbers arespoken in German and Hindi from right toleft.For example:24in Hindi in GermanSÉÉè¤ÉÒºÉ vierundzwanzig

Note: First comes the four and then the twenty

The numbers that do not follow this pattern are:dreißig siebzigvierzig achtzigfünfzig neunzigsechzig hundert

Combine correctlya. 24 1. dreißigb. 18 2. einundachtzigc. 3 3. dreid. 30 4. fünfundvierzige. 81 5. achtzehnf. 66 6. einhundertg. 71 7. sechsundsechzigh. 45 8. einundsiebzigi. 100 9. vierundzwanzig

Complete the following lists of numberszehn, neun, acht, ________zehn, zwanzig, dreißig, ________siebenundneunzig, neunundachtzig, acht-

undneunzig, ________einundfünfzig, zweiundfünfzig, dreiund-

fünfzig, ________vierzig, sechsunddreißig, zweiunddreißig,

________zwanzig, neunzehn, achtzehn ________

Zahlen 101 bis 1.000.000einhunderteins hunderttausendvierhundertvier eine Millioneintausend fünftausendsieben-

hundertacht

What is the difference?For usLakh – 1,00,000Ten lakhs – 10,00,000One crore – 1,00,00,000

for the Germans hunderttausend – 100.000eine Million – 1.000.000zehn Millionen – 10.000.000

Titel:

Leistung: Name:

früherNullzeichen

später:bedeutet

Page 65: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

461

We have learnt quite a bit about numbers.Let us see why we need to know numbers inGerman.For example: To give different kinds ofinformation:Ich bin _________ Jahre alt.Ich bin _________cm groß.Meine Telefonnummer ist __________.Meine Wohnung hat _______ Schlafzimmer.Meine Personalausweisnummer ist ______.Dieses Buch kostet __________ Rupien.Der Zug kommt um _________ Uhr an.To be able to avoid any misunderstanding itis necessary to know numbers in German.

Die Beispieltexte sind nach ihrer Einsetz-barkeit in Indien, nach gemeinsamer kul-tureller Basis beider Kulturen und nachsprachlicher Einfachheit gewählt wor-den. Dieser Beitrag ist ein Versuch, dasinterkulturelle Konzept in ein DaF-Lehr-werk für Indien in die Praxis umzuset-zen1, dabei wird jedoch kein Anspruchauf Vollständigkeit erhoben.

LiteraturGowther, Geoff; Finlay, Hugh; Raj, A. Pra-

kash; Wheeler, Tony: Indien-Handbuch.Bremen: Walther, 1992.

Highland, Harris; Highland, H. J.: »Was istwas?«. Mathematik. Band 12. Hamburg:Neuer Tessloff Verlag, 1973.

Kaikkonen, Paul: »Kultur und Fremdspra-chenunterricht – einige Aspekte zur Ent-

wicklung des Kulturbildes der Fremd-sprachenlernenden und zur Gestaltungdes schulischen Fremdsprachenunter-richts«. In: Neuner, Gerhard (Hrsg.):Fremde Welt und eigene Wahrnehmung.Konzepte von Landeskunde für den fremd-sprachlichen Deutschunterricht. Eine Ta-gungsdokumentation. Kassel: UniversitätGesamthochschule Kassel, 1994, 54–70.

Krack, Rainer: Kulturschock Indien. Bielefeld:Rump, 1989.

Lindquist-Mog, Angelika: Spielarten. Ar-beitsbuch zur deutschen Landeskunde. Ber-lin; München: Langenscheidt, 1996.

Müller, Bernd-Dietrich: Wortschatzarbeit undBedeutungsvermittlung. München: Lan-genscheidt, 1994.

Neuner, Gerhard: »Fremde Welt und eigeneWahrnehmung. Zum Wandel der Kon-zepte von Landeskunde für den fremd-sprachlichen Deutschunterricht«. In Neu-ner, Gerhard (Hrsg.): Fremde Welt undeigene Wahrnehmung. Konzepte von Landes-kunde für den fremdsprachlichen Deutschun-terricht. Eine Tagungsdokumentation. Kas-sel: Universität Gesamthochschule Kas-sel, 1994, 14–39.

Reich, Hans H.: »Die Entwicklung interkul-tureller Curricula«. In Reich, Hans H.;Pänbacher, Ulrike (Hrsg.): InterkulturelleDidaktiken. Fachübergreifende und fachspezi-fische Ansätze. Münster; New York: Wax-mann, 1993, 106–117.

Solmecke, Gert: Texte hören, lesen und verste-hen. Berlin; München: Langenscheidt,1993.

Ziv, Benjamin: »Das Unbestrittene Eine«, ImGespräch 3 (1986), 8.

1 In diesem Beitrag wird sehr bewußt auf den Aspekt verzichtet, wie der Einfluß desKastensystems in Indien und die Religion das Lernen beeinflußt, weil dieser Aspekt alsTabuthema gilt.

Page 66: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

462

Der Chinese unter anderen. Repräsentationen konkreter Fremde und konkre-ter Fremder in einsprachigen Lehrwerken1

Dietmar Rösler

1. EinleitungSprachlich und kulturell kontrastiveLehrwerke sind nicht allein schon auf-grund ihrer Kontrastivität besser als ein-sprachige Lehrwerke. Lehrwerke sindviel zu komplex, als daß man ihnen mitsimplen Einschätzungen dieser Art ge-recht werden könnte. Was man sagenkönnte, ist, daß bei sonst gleicher Quali-tät der ästhetischen Gestaltung, derÜbungsvielfalt, der Beachtung der ver-schiedenen Progressionen, der Gramma-tikdarstellung usw. kontrastive Lehr-werke zusätzliche Aspekte beinhaltenkönnten, die sie für bestimmte Lerner-gruppen geeigneter machen als einspra-chige Lehrwerke, denn weltweit vertrie-bene einsprachige Lehrwerke können imHinblick auf Faktoren wie Ausgangskul-tur, Ausgangssprache, schon gelernteSprachen, Lerntraditionen usw. nicht aufkonkrete Lernergruppen eingehen (vgl.zum fehlenden Lernerbezug weltweitvertriebener Lehrwerke ausführlicherRösler 1984). Selbst ein Eingehen auf all-gemeinere Faktoren wie Alter oder Lern-ziele ist nur sehr beschränkt, z. B. durchdie Orientierung am Europäischen Refe-renzrahmen, an Prüfungen wie dem Zer-tifikat oder grobe Altersangaben wie Ju-

gendliche bzw. Erwachsene, möglich.Zumindest überall dort, wo qualitativhochwertige kontrastive Lehrwerke nichterstellt werden (können), stellt sich dieFrage nach den Alternativen zu ihnen.Eine Möglichkeit, dem fehlenden Ziel-gruppenbezug einsprachiger weltweitvertriebener Lehrwerke zu begegnen, be-steht in der Adaption von einsprachigenLehrwerken durch die Lehrenden oderGruppen von Lehrenden vor Ort (vgl.dazu Rösler 1984), eine andere in derpartiellen Anpassung des Lehrwerksselbst durch die sog. Regionalisierung.Die Diskussion um die Regionalisierungvon einsprachigen Lehrwerken für Län-der der sog. Dritten Welt ist in den frühen80er Jahren durch Beiträge wie die vonGerighausen/Seel (1984) vorangetriebenworden, hauptsächlich bezogen auf Fra-gen der Themenwahl, der kontrastivenSprachverarbeitung und der Art der Ver-mittlung. Je stärker unter dem Konzeptder Regionalisierung lediglich eine ober-flächliche – marketinggeleitete – Anpas-sung an die Lernenden verstanden wird,desto irrelevanter ist dieses Konzept un-ter Sprachlerngesichtspunkten. Je stärkeres tatsächlich auf die Lernenden eingehtund ihre Kulturgebundenheit, ihre

1 Überarbeitete Fassung des Festvortrags zum 60. Geburtstag von Ulrich Steinmüller,gehalten am 10. Dezember 2002 an der Technischen Universität Berlin. Ich danke WernerHess für seine vielen produktiven Hinweise zu diesem Text.

Info DaF 31, 4 (2004), 462–474

Page 67: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

463

Sprachlernerfahrungen usw. ernstnimmt, desto stärker nähert es sich in derPraxis einem eigenständigen, sprachlichund kulturell kontrastiven Lehrwerk an(vgl. dazu ausführlicher Rösler 1994). Umdas Konzept der Regionalisierung ist es –meiner Meinung nach zu Recht, wennman sich die praktischen Ergebnisse an-schaut – in letzter Zeit eher still gewor-den. Ich glaube aber: im Zuge der Digita-lisierung von Lehrmaterial wird das Kon-zept der Regionalisierung in den näch-sten Jahren wieder stärker in den Vorder-grund treten: Neue Vorstellungen vonKern und Peripherie eines Lehrwerksbzw. einer Lernumgebung werden Mi-schungen von zentralen Bestandteilen ei-nes Lehrwerks und dezentralen Kompo-nenten hervorbringen, und die Distribu-tionsfunktion des Internet wird die de-zentrale Produktion und Verbreitung vonLehrwerkteilen, die bisher als unökono-misch galten usw., erlauben (vgl. dazuausführlicher Rösler 1999).In einem einsprachigen Lehrwerk kanndie Versprachlichung des Blicks der Ler-nenden auf den deutschsprachigenRaum offensichtlich nicht der Blick einerbestimmten Gruppe von Lernenden sein,obwohl es auch beim prinzipiell einspra-chigen Lehrwerk die Möglichkeit gibt,durch kulturell-kontrastive Lehrwerk-teile Bezüge zu genauer definierten Ler-nergruppen herzustellen (vgl. dazu diekontrastiven Arbeitsbücher Brasilianischund Spanisch des Lehrwerks Sprachbrük-ke). Wollen sich die Lehrwerke nicht aufdie Darstellung von Deutschen undDeutschem beschränken, weil sie die In-tegration der Fremdperspektive in dasLehrwerk für notwendig halten, müssensie fiktionale oder ausgewählte konkreteFremdperspektiven in das Lehrwerk in-tegrieren. Am radikalsten ist dies in derFrühphase des sog. interkulturellen An-satzes im Lehrwerk Sprachbrücke mit derEtablierung des fiktionalen Lernorts Lila-

land und dem Einsatz von Texten nicht-deutscher Verfasser geschehen.Im folgenden soll nun, illustriert am Bei-spiel der Vorkommensweisen von Asi-aten und Asiatischem in neueren einspra-chigen DaF-Lehrwerken, systematisiertwerden, welche Funktionen konkreteFremde in einsprachigen Lehrwerken ha-ben können. Dabei geht es mir wenigerum eine Bewertung dieser Vorkommenals vielmehr um eine typologisierendeBestandsaufnahme: Wenn sich Lehrendeund Lehrmaterialmacher der Vielfalt derVerwendungsmöglichkeiten bewußtsind, können sie diese vielleicht einfacherund differenzierter als bisher produktiveinsetzen.

2. Beliebige ErwähnungenKeine besondere inhaltliche Relevanz hatein konkreter Chinese, der in einer der – invielen Büchern vorkommenden – multi-kulturellen Eröffnungen von Lehrwerkenerscheint. So ist China im ersten Band vonTangram ein Beispiel von mehreren für dieVerschriftlichung der Begrüßung im An-fängerunterricht (vgl. Abb. 1). KonkreteLernende aus anderen Ländern könnenChina ohne sprachliche Schwierigkeitendurch ihr eigenes Land ersetzen. Ebenfalls beliebig ist die Abbildung einerkonkreten Person aus der Geschichte Chi-nas (vgl. Abb. 2). Mao, dessen Name alseinziger der Abgebildeten in der Übungnicht genannt wird, ist zusammen mitMadonna, Odysseus und Cleopatra Mate-rial in einem kommunikativen Spiel zurEinübung der Adjektivendungen im Ak-kusativ. Mit Mao ist eine historische Per-son der Weltgeschichte Übungsanlaß, dieaufgrund ihres internationalen Bekannt-heitsgrades neben anderen ›icons‹ wieMadonna ausgewählt wurde; sie dient indieser Übung nicht dazu, einen konkretenChina-Bezug herzustellen, der eine inter-kulturelle Diskussion veranlassen soll.Falls diese doch stattfindet, erfolgt sie aus

Page 68: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

464

Abb. 1: Beliebiger Chinese in der Verschriftlichung der Begrüßung. Aus: Tangram, Bd. 1A, 5

Abb. 2: Ein historischer Chinese als Übungsanlaß. Aus: Eurolingua Deutsch, Bd. 2, 95

Page 69: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

465

dem Interesse konkreter Lernender, sie istim Lehrwerk selbst jedoch nicht angelegt,die Übung ist formfokussiert.

3. Konkretes China als KontrastanstoßEbenfalls im Lehrwerk EurolinguaDeutsch Band 2 findet man zum eineneine Chinesin, die die chinesische Finger-haltung beim Zählen zeigt (vgl. Abb. 3)und damit als Kontrast sowohl zum deut-schen als auch zum Zählen im Land derLernenden dient, und zum anderen einenkonkreten Chinabezug in der Wort-schatzarbeit (vgl. Abb. 4). China ist dortzusammen mit England, Frankreich,Griechenland und Iran eines von fünfLändern, deren Frühstücksinhalte be-schrieben werden, wobei durch eine ein-fache Zuordnungsübung Speisen undLand miteinander in Verbindung ge-bracht werden müssen. Die Wahl derKontrastländer ist beliebig, wenn auchsicher durch Annahmen über die Verbrei-tung des Lehrwerks in bestimmten Län-dern mit gesteuert; durch die Kontrastewerden die Lernenden darauf verwiesen,daß es Unterschiede in der Gestik undden Eßgewohnheiten gibt. Auch ist zuerwarten oder zumindest zu hoffen, daßdie Lehrenden und Lernenden die Gele-genheit nutzen werden, über das Zählen

und das Frühstücken in der eigenen Kul-tur im Vergleich zum Deutschen zu re-den; aber wenn die Lernenden nicht ge-rade aus dem chinesischsprachigenRaum kommen oder sich nicht geradeinteressante Parallelen zur Kultur derLernenden ergeben, haben diese Erwäh-nungen des Chinesischen nur die Funk-tion, einen Anstoß für ein Gespräch überdas Eigene und das Deutsche abzugeben.

4. ›Authentische‹ Chinesen und Chinaals landeskundlicher Vergleichsgegen-standIn Abgrenzung zur Beliebigkeit in 2. unddem reinen ›Kontrastmittel‹ in 3. hat manes bei den in Abb. 5 und 6 wiedergegebe-nen Lehrwerkseiten mit Belegen konkre-ter Fremde zu tun, bei denen China undauthentische Chinesen in der Gegenüber-stellung mit anderen Kulturen dazu die-nen, bei einem landeskundlichen Lernge-genstand Versprachlichungen unter-schiedlicher Perspektiven zu transportie-ren. So werden in Einheit 13 aus Eurolin-gua (vgl. Abb. 5) Aussagen von zweiChinesen zu Glücks- und Unglückssym-bolen in Kontrast zu Aussagen ausFrankreich, dem Iran, Griechenland undEngland gesetzt. Umgekehrt eingesetztwird die Information über konkretes

Abb. 3: Chinesische Fingerhaltung beim Zählen als Kontrast zur deutschen Zählweise. Aus: Eurolingua Deutsch, Bd. 2, 125

Page 70: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

466

China in Abb. 6, da hier junge Leute,deren Nationalität zwar nicht genanntwird, zu denen aber zumindest partielldie Assoziation nahegelegt wird, daß essich um Personen aus deutschsprachigenLändern (Erika, Bruno) handeln könnte,Aussagen über China machen: »meineKette mit einem chinesischen Jadesteinist mein Glücksbringer. Alle Asiaten ha-ben einen« (Einheit 13, 131).Die unterschiedlichen Einschätzungender chinesischen und der sonstigen Lehr-

werkpersonen, deren Fotos Authentizitätsuggerieren, liefern hier nicht nur sprach-liche Modelle, mit denen die Lernendenüber ihre kulturspezifische Glückssym-bolik reden können. Die abgebildetenkonkreten Aussagen zum Univer-salthema Glückssymbolik können hierselbst zum Gesprächsthema werden: Ra-ben, Elstern, die Zahl 9 und der Jadesteinkönnen so Teil eines Klassengesprächswerden, das, unabhängig vom Lernort,China als konkreten Ort mitdiskutiert.

Abb. 4: China als eines von fünf Kontrastländern in einer landeskundlich orientierten Wortschatzarbeit. Aus: Eurolingua Deutsch, Bd. 2, 80

Page 71: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

467

Abb. 5: ›Authentische‹ Chinesen in Gegenüberstellung zu Lernenden aus anderen Ländern. Aus: Eurolingua Deutsch, Bd. 2, 126

Abb. 6: Informationen über China aus dem Munde deutschsprachiger Lehrwerkfiguren. Aus: Eurolingua Deutsch, Bd. 2, 129

Page 72: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

468

5. Konkrete asiatische Fremdheit als An-laß zur interkulturellen ReflexionKonkrete Fremdheit als Anlaß für einNachdenken über Mißverständnisse fin-det man z. B.1 in Einheit 13 von Eurolin-gua, in der das deutsche Zeichen des›Vogelzeigens‹ von einem Koreaner ver-wendet wird, wobei für ihn die Verwen-dung dieses Zeichens bedeutet, daß ersein Nachdenken signalisiert (vgl. Abb.7). Da er in diesem Fall das Zeichen inRichtung eines Schiedsrichters bei einerSportveranstaltung in Deutschland ge-macht hat, muß er nun über seinen Platz-verweis nachdenken.Hier wird die Wahrnehmung eines indi-viduellen Asiaten angeführt, der auf-grund von Erfahrungen im deutschspra-chigen Raum etwas bisher als selbstver-ständlich Angesehenes als neu undfremd thematisiert. Derartige Textetransportieren zum einen auf einer Me-taebene die Information, daß Dinge imdeutschsprachigen Raum anders seinkönnen als gewohnt, gleichzeitig istdurch die Auswahl eines Themenbe-reichs wie Kulturspezifik von Zeichengewährleistet, daß Transfermöglichkei-ten zu Mißverständnissen und Fremd-wahrnehmungen im Hinblick auf dieAusgangskultur der Lernenden zumin-dest wahrscheinlich sind.Der Text, obwohl formal als Ausriß ausder ›glaubwürdigen‹ Textsorte Zeit-schriftenartikel markiert, wird durch dieArbeitsanweisung doppelbödig: Er istzum einen Anlaß für eine Diskussionüber Mißverständnisse durch einen Zei-chentransfer über Kulturgrenzen, zum

anderen aber auch für eine Auseinan-dersetzung mit der Frage, inwieweitman mit den vermeintlichen kulturellenGründen für Mißverständnisse auchspielen (oder, wie in diesem Fall, sieauch als Entschuldigung einsetzen)kann.

6. Anwesenheit der Fremden imdeutschsprachigen Raum als landes-kundlich relevante InformationIn DaF in 2 Bänden ist ein in Deutschlandpraktizierender Asiate, der nur über sei-nen Namen, nicht aber durch seine Na-tionalität eingeführt wird, ein originellerAufhänger für die Einführung des Wort-schatzes der Körperteile. Hier wird dietraditionelle Einführung der Versprachli-chung von Körperteilen durch einenArztbesuch, die – sinnvoll bei Lernerninnerhalb des deutschsprachigen Raums– für Lernende außerhalb des deutsch-sprachigen Raums als simulierte Inlands-situation irrelevant sein kann, dadurchproduktiv gemacht, daß der hier prakti-zierende Arzt ein Fremder ist. Hier ist einRepräsentant Asiens, von dem wir nichtwissen, ob er eingewandert ist, inDeutschland geboren ist usw., also nichteine beliebig ins Lehrwerk gesetzteQuelle, hier wird ein Fremder imdeutschsprachigen Raum, der dort zumWachstumsbereich alternative Medizingehört, verortet und für den Sprachlern-gegenstand produktiv gemacht (vgl.Abb. 8 und 9). Das Vorkommen asiati-scher Medizin ist also Teil der Landes-kunde des deutschsprachigen Raums, diefür alle Lernenden von Interesse ist. Als

1 Themen Neu thematisiert in Band 2 des Kursbuchs die Geschlechtsspezifik in Verbindungmit nationalen Eigenschaften. Eine chinesische Germanistikstudentin in Deutschlandstellt fest, daß die Deutschen spontaner, aber auch hektischer seien. Auffällig sei für sie,daß die deutschen Frauen sich über zu viel Arbeit beschwerten, während sich diechinesischen Frauen, die doch eigentlich noch mehr arbeiten müßten, nie beklagten.Ausgewertet wird dieser Text mit einer nur assoziativ mit dem Thema verbundenenÜbung und einer Frage zur Einschätzung der eigenen Landsleute.

Page 73: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

469

Vorkommen des Eigenen im Fremden istes darüber hinaus für asiatische Ler-nende, die bei derartigen Vorkommens-weisen bisher eher an Touristikanzeigenund Speisegaststätten gedacht haben,von besonderem Reiz.

7. ExotisierungUngewöhnlich ist das Vorkommen desChinesischen im Hauptkurs des Lehr-werks em. Hier (vgl. Abb. 10) wird einBrief aus dem Buch Briefe in die chinesi-sche Vergangenheit von Herbert Rosen-dorfer verwendet, wobei zunächst überdas Titelbild und die Frage nach denintendierten Lesern, die über den Klap-pentext erschlossen werden sollen, derText situiert und danach ein Ausschnittgelesen wird. An dem Textausschnittsoll diskutiert werden, warum der Au-

tor hier eine Fremdperspektive wählt.Es wird also ein beliebtes literarischesVerfremdungselement, die exotisiertePerspektive auf das Eigene, im Sprach-unterricht dazu verwendet, Lernende,die mit einer eigenen Fremdperspektiveausgestattet sind, mit einem fremdenBlick auf das Deutsche zu konfrontieren.Diese Vorgehensweise ist nicht ohneReiz, aber auch nicht ohne Probleme:Während sie asiatischen Lernenden zu-mindest erlaubt, die darin mittranspor-tierte Exotisierung Chinas zu diskutie-ren, kann sie bei allen Lernern dazuführen, daß das dargestellte exotischeDeutschland als landeskundlich rele-vantes Deutschland wahrgenommenwird. Und chinesische Lernende dürfenmit einigem Recht verstimmt nachfra-gen, warum ihr Land für einen platten

Abb. 7: Konkrete Fremde als Ausgangspunkt für ein Mißverständnis. Aus: Eurolingua Deutsch, Bd. 2, 131

Page 74: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

470

Abb. 8: Ein asiatischer Arzt als Basis für die Wortschatzeinführung Körper (1). Aus: DaF in 2 Bänden, Bd. 1, 101

Page 75: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

471

Abb. 9: Ein asiatischer Arzt als Basis für die Wortschatzeinführung Körper (2). Aus: DaF in 2 Bänden, Bd. 1, 102

Page 76: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

472

Kulturkontrast herhalten muß. Inwie-weit der Einsatz derartiger Texte wieauch aller ironischen, spielerischen usw.Umgangsweisen mit nationalen Stereo-typen produktiv oder problematisch ist,hängt nicht zuletzt von den schon vor-handenen Kenntnissen der Lernendenüber den zielsprachigen Raum ab, vonihrer Kompetenz, mit derartigen Text-sorten umzugehen, und von der gene-rellen Bereitschaft, sich auf der Meta-Ebene mit derartigen Texten überhauptauseinandersetzen zu wollen.

8. Transfer chinesischer Weisheiten aufdas SprachenlernenEine gewagte, aber interessante Verknüp-fung wird im Lehrwerk Moment mal ver-sucht: eine chinesische Volleyball- undTai Chi-Lehrerin redet über das Spra-

chenlernen. Zuerst breitet sie ihre Sprach-lern-Biographie aus und redet dabei auchüber den Verlauf ihres Lernens, dannerfolgt im zweiten Teil (vgl. Abb. 11) diekühne Parallele:

»Diese Sprache ist für mich ganz neu undfremd. Ähnlich wie Tai Chi für die Leutehier in Europa. Jetzt lerne ich eher so Schrittfür Schritt vorwärts und aufwärts. Im Sportund beim Fremdsprachenlernen muß manviel wiederholen.« (9)

In einem Lehrwerk, das seinem Selbst-verständnis nach der Förderung von Ler-nerautonomie verpflichtet ist, wird einekonkrete Fremde zum einen dazu ver-wendet, Lernweisen zu thematisieren.Lernende in aller Welt könnten aber auchfragen, warum sich die Lehrwerkmacherhier hinter einer Tai-Chi-Lehrerin ver-stecken.

Abb. 10: Der literarische Blick von außen. Aus: em Hauptkurs, 114

Page 77: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

473

Abb. 11: Parallelisierung von chinesischem Lernen und Sprachenlernen. Aus: Moment mal! Bd. 3, 9

Page 78: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

474

Literatur

a) LehrwerkeAlke, Ina; Dallapiazza, Rosa-Maria; von Jan,

Eduard; Maenner, Dieter: Tangram.Bd. 1A. Ismaning: Hueber, 1998.

Aufderstraße, Hartmut; Bock, Heiko; Mül-ler, Jutta; Müller, Helmut: Themen Neu.Bd. 2. Ismaning: Hueber, 1993.

Dienst, Leonore; Koll, Rotraut; Rabofski;Birgit: DaF in 2 Bänden. Bd. 1. Ismaning,Verlag für Deutsch, 1998.

Funk, Hermann; Koenig, Michael: EurolinguaDeutsch. Bd. 2. Berlin: Cornelsen, 1998.

Mebus, Gudula; Pauldrach, Andreas; Rall,Marlene; Rösler, Dietmar: Sprachbrücke.Bd. 1. Stuttgart: Klett, 1987.

Perlmann-Balme, Michaela; Schwalb, Su-sanne: em Hauptkurs: Deutsch als Fremd-sprache für die Mittelstufe. Ismaning: Hue-ber, 1997.

Scherling, Theo; Wertenschlag, Lukas; Gick,Cornelia; Müller, Martin; Rusch, Paul;Schmitt Reiner: Moment mal! Lehrwerk fürDeutsch als Fremdsprache. Lehrbuch 3. Ber-lin: Langenscheidt, 1998.

b) Sonstige zitierte LiteraturGerighausen, Josef; Seel, Peter: »Der

fremde Lerner und die fremde Sprache.Überlegungen zur Entwicklung regio-nalspezifischer Lehr- und Lernmateri-alien für Länder der Dritten Welt«. In:Jahrbuch Deutsch als Fremdsprache 10(1984), 126–162.

Rösler, Dietmar: Lernerbezug und Lehrma-terial Deutsch als Fremdsprache. Voraus-setzungen für die Adaption von konventio-nellem Material. Heidelberg: Groos,1984.

Rösler, Dietmar: Deutsch als Fremdsprache.Stuttgart; Weimar: Metzler, 1994.

Rösler, Dietmar: »21 Anmerkungen zurEntwicklung von Lehrmaterialien imKontext der Neuen Medien«. In:Bausch, Karl-Richard et al. (Hrsg.): DieErforschung von Lehr- und Lernmaterialienim Kontext des Lehrens und Lernens frem-der Sprachen. Tübingen: Narr, 1999, 189–196.

Page 79: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

475

Das neue Ausbildungsprogramm für Deutschleh-rer an türkischen Universitäten – kompatibel undzukunftsträchtig?

Ein kritischer Erfahrungsbericht am Beispiel der UniversitätMarmara1

Feruzan Akdogan

1. Themenumriß Die Deutschlehrerausbildung an türki-schen Universitäten in ihrer neuen Aus-prägung wurde mehrfach diskutiert, eswurden unterschiedliche Formen ihrerpraktischen Umsetzung vorgestellt sowieauch mögliche Differenzierungen desProgrammentwurfs aufzuzeigen ver-sucht (vgl. Akdogan 2000 und 2003; Ta-pan 2000). Und trotzdem sind auch heutenoch längst nicht alle Fragen und Wegezum Curriculum, wie u. a. eine differen-zierte Darstellung profilbildender Berei-che des Programms oder Fragen undAntworten zu Aspekten der Gesamtphi-losophie des Curriculums wie auch Über-legungen zu weiteren möglichen Varian-ten der Umsetzung, gestellt und hinrei-chend geklärt. Dazu gehört auch der Ver-such, konkrete Lösungsvorschläge zuProblembereichen des Studienprogam-mes anzudenken als Grundlage für einemögliche Neugewichtung des curricula-ren Konzeptes, nicht aber, und dies sei

besonders hervorgehoben, für ein grund-legend neues, aber an verschiedenen Stel-len durchaus weiterhin modifizierbaresund erweiterbares Programm. Erste um-fangreiche Empfehlungen wurden alsZwischenergebnis der Arbeiten einer Ex-pertengruppe bereits an das türkischeUniversitätsministerium weitergeleitet. In diesem Beitrag soll im wesentlichenversucht werden, nach einer relativ kur-zen Darlegung der wichtigsten Inhalte,noch einmal die Argumente zu nennen,die eine Verbesserung des Lehrerausbil-dungsprogramms erwirkt haben, umdann etwas ausführlicher auf die kriti-schen Punkte einzugehen. Im letzten Teilwerde ich konstruktive Vorschläge füreine Weiterentwicklung des Curriculumsmachen. Ich halte dies, insbesondere imHinblick auf die thematisch wie auchorganisatorisch sehr weit gediehenen Ko-operationsgespräche zwischen deut-schen und türkischen Hochschulen imRahmen der Sokrates- und Erasmusab-

1 Der Text basiert auf einem Vortrag, der im Rahmen des vierten Workshops am 10./11.4.2003 zum Thema: »Berufsbezogene Deutschlehrerausbildung. Zwischenbilanz zumneuen Curriculum«, veranstaltet vom Goethe-Institut in Istanbul, gehalten wurde.

Info DaF 31, 4 (2004), 475–482

Page 80: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

476

kommen, für erforderlich und unaus-weichlich. Denn Internationalisierungbedeutet auf beiden Seiten auch die Be-reitschaft zur Schaffung von Standards,auch wenn dies bedeuten kann, von eige-nen Überzeugungen Abstand nehmen zumüssen. In diesem Sinne wird hier noch einmaldas seit 1998 mit der Hochschulreformund der Verlängerung der Schulpflichtvon 5 auf 8 Jahre verbindliche Curricu-lum zur Deutschlehrerausbildung kri-tisch und konstruktiv betrachtet.

2. Profilbildende Bereiche des Curricu-lums Das neue Curriculum berücksichtigtohne Zweifel und Einwände im Vergleichzu dem Lehrerausbildungsprogrammzuvor gezielt und somit einschlägiger,sprich besser, die beruflichen Perspekti-ven und Anforderungen des angehendenDeutschlehrers. Das Programm bietet einvielfältiges Lehrangebot, wodurch auchdie Breite des Faches optimaler mit einge-bunden ist.Das Curriculum teilt sich auf in vierthematische Blöcke:1. Sprachpraxis2. Sprachwissenschaft3. Literaturwissenschaft und Literatur-

didaktik4. Fachdidaktik Deutsch als Fremdspra-

che. Hinzu kommen ergänzend die Lehrver-anstaltungen zur Allgemeinen Pädago-gik und Allgemeinen Didaktik. Das Studium ist auf 8 Semester angelegt,die Einrichtung von Vorbereitungsklas-sen dabei aber nicht zwingend vorgese-hen. Insgesamt gibt es 50 unterschiedli-che Lehrveranstaltungen einschließlichder praktischen Teile. Einige Lehrveran-staltungen erstrecken sich über 2 Seme-ster. Dabei handelt es sich i. d. R. umVeranstaltungen, die Grundlagenwissenvermitteln, wie u. a. die Seminare zur

Einführung in die Linguistik, zur Einfüh-rung in die Literaturwissenschaft und indie Didaktik Deutsch als Fremdsprache.Hinzu kommen noch 5 Veranstaltungenzur Allgemeinen Pädagogik und Didak-tik. Diese Zahlen sind jedoch nicht durch-weg für alle Universitäten maßgeblich,auf Grund der z. T. unterschiedlichenAufteilung des Lehrangebotes zwischenden jeweiligen Fachabteilungen. Unei-nigkeit über die Zuordnung betrifft ins-besondere die Veranstaltungen zur kon-trastiven Spracharbeit und zur Allgemei-nen Pädagogik und auch teilweise zurFachdidaktik Deutsch als Fremdsprache. Das Programm ist (wenn ich es insgesamtzu umschreiben versuche) ein berufsbe-zogenes, integriertes Ausbildungskon-zept für angehende Lehrer, die mittel-und längerfristigen Anforderungen desBerufes genügen können und sollen, Leh-rer mit einem guten Allgemeinwissen,mit einem guten Fachwissen in Deutschund mit den Fähigkeiten eines guten Leh-rers für Deutsch als Fremdsprache ausge-stattet.

2.1 Profilbildende Einzelteile des Pro-gramms

2.1.1 Sprachpraxis Das Lehrangebot für den gesamten The-menbereich in und um die Sprachpraxisumfaßt das erste Studienjahr. Dabei han-delt es sich um klassische sprachprak-tisch orientierte Themen, die das Sprach-wissen wie auch Sprachkönnen unter-stützen, mit einem Angebot für gramma-tische, sprechorientierte, lese- und hör-verstehenbezogene Inhalte. Hinzukommt, daß schon im 2. Semester daserste Schulpraktikum angesetzt ist. Die-ses versteht sich im wesentlichen als Hos-pitation mit dem Zweck, relativ früh ei-nen ersten praktischen Eindruck vom Be-ruf und von der Institution Schule zugewinnen. Die beiden Übungen zur wei-

Page 81: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

477

terführenden Lese- und Schreibfertigkeitzu Beginn des 2. Studienjahres sind imHinblick auf das gesamte Lehrangebotdes 2. Studienjahres mehr vorbereitendeSeminare auf die im 4. Semester begin-nenden Grundlagenfächer.

2.1.2 Literaturwissenschaft und Literatur-propädeutik Ein auch im Kontext der Lehrerausbil-dung unverzichtbarer Bereich ist die Li-teraturwissenschaft und die Literatur-propädeutik. Im Gegensatz zur Sprach-wissenschaft, deren Bedeutung für dieLehrerausbildung unumstritten ist, gibtes bezüglich der Notwendigkeit einerguten Einführung in die Literaturwis-senschaft im Rahmen der Lehrerausbil-dung unterschiedliche Auffassungen.Ohne an dieser Stelle auf das Für undWider der Diskussion um die Bedeu-tung literaturwissenschaftlicher Inhalteeingehen zu wollen, sei hier nur ver-merkt, daß der Themenbereich Literatursowie Literaturver- und -bearbeitungfür die Schule grundsätzlich einer me-thodischen wie auch thematischen Ak-tualisierung bedarf. Das Seminar zurEinführung in die deutsche Literaturbzw. Literaturwissenschaft im 2. Studi-enjahr wird ergänzt durch die Veranstal-tungen zu den einzelnen Gattungen, miteinem einsemestrigen Seminar zurKurzprosa, zur Gattung Roman, zu Dra-men und abschließend im letzten Seme-ster zur Lyrik. Allen diesen Veranstal-tungen gemeinsam ist, neben einer Ein-führung in gattungstypologische Analy-severfahren, auch Didaktisierungsmo-delle und unterrichtsbezogene Vorge-hensweisen zu erarbeiten.

2.1.3 Sprachwissenschaft und Linguistik Wie wichtig fundierte Kenntnisse überdie linguistische Struktur von Sprachefür das Verständnis und die didaktischeArbeit für das Erlernen einer Sprache

sind, ist hinreichend bekannt. Gleichgül-tig, welches Lehrwerk oder welche theo-retische Einführung zum Fremdspra-chenerwerb herangezogen wird, in allenwird auf die Notwendigkeit einer grund-legenden Einführung in linguistischeSachverhalte hingewiesen. Je klarer dieStruktur einer bestimmten Sprache er-kannt wird, um so besser gelingt Lehren-den und Lernenden der Zugang zu ihr.Das Curriculum sieht eine Einführung indie Linguistik im 5. und 6. Semester vor.Unterstützt wird dieses Fach allerdingsnur durch eine weitere Veranstaltungzum Spracherwerb. Das ist viel zu wenig.Die Abteilung für Deutsche Sprache undihre Didaktik der Marmara Universitätbietet aus diesem Grund weitere Veran-staltungen zu linguistischen Themen inden Wahlfächern an. Zur Linguistik gehören auch die Semi-nare zur kontrastiven Spracharbeit undSprachanalyse im dritten und vierten Se-mester mit einer Einführung in die Pho-netik und Morphologie und einem Semi-nar zur Syntax und Semantik des Türki-schen. Denn die Einführung in linguisti-sche Themen der türkischen Sprache bie-tet insbesondere für die didaktische Um-setzung von sprachrelevanten Teilen ei-nen erheblichen Zugewinn, auch kanndann die Frage andiskutiert werden, wieweit eine Einbeziehung der Mutterspra-che im Fremdsprachenunterricht sinn-voll ist und wie, wenn diese Frage grund-sätzlich mit ja beantwortet wird, eineDidaktisierung der Muttersprache imund für den Fremdsprachenunterrichtaussehen muß.

2.1.4 Didaktische Fächer Der Bereich Didaktik und Methodik desDeutschen als Fremdsprache umfaßt wiefolgt eine ganze Reihe von unterschiedli-chen Veranstaltungen, einschließlich derPraktika:

Page 82: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

478

2. Semester:Allgemeines Schulpraktikum I. (8)1 4. Semester:Ansätze der Deutschdidaktik (3) 5. Semester:Methoden der Deutschdidaktik I. (2) 6. Semester:Deutschdidaktik in der Primarstufe (3) Methoden der Deutschdidaktik II. (2) 7. Semester:Prüfungsvorbereitung im Deutschunter-richt (3) Unterrichtsmaterialien für den Deutsch-unterricht (3) Lehrbuchanalyse im Deutschunterricht(2) Allgemeines Schulpraktikum II. (8) 8. Semester:Fachspezifisches Schulpraktikum (13) Das sind insgesamt 6 Veranstaltungenmit einem Anteil von 18 Stunden. ImVergleich zu den anderen Bereichen isthier der Anteil der Fachdidaktik Deutschals Fremdsprache relativ hoch. Auch dieThemen sind so breit gefächert, daß sieeinen wesentlichen Teil der didaktischenFelder abdecken. Hinzu kommen die Veranstaltungen zurAllgemeinen Pädagogik und Didaktik: 1. Semester:Einführung in das Berufsbild des Lehrers(3) 3. Semester:Entwicklungs- und Lernpsychologie (3) 4. Semester:Unterrichtsplanung und Bewertung (3) 5. Semester:Bewertung und Analyse von Unterrichts-materialien (2) 6. Semester:Interaktion im Unterricht (2) 8. Semester:Seminar zur pädagogischen Beratung (3)

Auch dieses Angebot ist ausgewogenund vielfältig und analog zur Fachdi-daktik Deutsch als Fremdsprache gestal-tet. Die Anordnung der Fächer machtSinn: Die Studierenden werden vor Be-ginn des ersten Allgemeinen Schulprak-tikums gleich im ersten Semester theore-tisch in das Berufsbild des Lehrers ein-geführt. Das Praktikum selbst wirddurch ein begleitendes Seminar unter-stützt, das als Forum für einen Erfah-rungsaustausch und als Schnittstelle fürdie Zusammenführung der universitä-ren und schulpraktischen Arbeit genutztwerden soll. Die Veranstaltungen zurAllgemeinen Pädagogik sind den the-matisch gleichgeordneten Veranstaltun-gen zur Fachdidaktik Deutsch alsFremdsprache vorausgeschaltet, so ge-sehen erfolgt jeweils nach einer allge-meinen Einführung dann die fachbezo-gene Spezifikation. Allerdings erfordertdies auch eine enge Zusammenarbeitmit den Kollegen der Abteilung für Päd-agogik. Die Inhalte der hier aufgelisteten Semi-nare sind nur grob skizziert; verbindlichekonsensfähige Seminarbeschreibungensind noch in Arbeit. Es sind obligatorisch Wahlfächer vorge-sehen. Die Inhalte können jeweils nachBedarf unterschiedlich belegt werden.Die Abteilung für Deutsche Sprache undihre Didaktik der Universität Marmarahat dies wie folgt getan: 1. Semester: Wahlfach I: Einführung in die Überset-zungswissenschaft 5. Semester:Wahlfach II: Deutsche Grammatik 5. Semester:Wahlfach III: Morphologie des Deut-schen

1 Die in Klammern stehenden Zahlen sind die jeweiligen Wochenstunden.

Page 83: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

479

6. Semester:Wahlfach IV: PC-gestützte Grammatikar-beit 7. Semester:Wahlfach V: Einführung in die Textlin-guistik

3. Ausbaufähige Bereiche des Curricu-lumsNach dieser kurzen Beschreibung derwichtigsten Teile des Studienprogrammsmöchte ich im folgenden diese noch ein-mal kritisch hinterfragen: Sind Umsetz-barkeit, Anwendbarkeit und Relevanzfür eine ausgewogene und zukunfts-trächtige Deutschlehreraubildung mitdiesem Curriculum gewährleistet?

3.1 Die Gesamtphilosophie des Curricu-lums Das Programm zeichnet ein ganz be-stimmtes Lehrerprofil, für das der ange-hende Lehrer eine möglichst umfas-sende Ausbildung erhalten soll. Konkretimpliziert dies ein gutes Allgemeinwis-sen, fundierte Deutschkenntnisse undinsbesondere eine ausbaufähige didak-tisch-pädagogische Eignung. Die Kennt-nisse in Deutsch sind (wie auch in ver-gleichbaren Studiengängen) auf die wis-senschaftlichen Teilbereiche des FachesDeutsch bezogen und durch die jeweili-gen Einführungen mit jeweils 2 Seme-stern auch fester Bestandteil des curricu-laren Konzeptes. Die Seminare zumAusbau der Lesefähigkeit wie auch dieVeranstaltungen zu den einzelnen litera-rischen Gattungen sind mit ein Hinweisdarauf, daß eine breite Kenntnis derdeutschen Literatur im Vergleich zumLehrangebot im linguistisch-sprachwis-senschaftlichen Teilbereich einen großenStellenwert hat. An diesem Punkt möchte ich ganz kurzauf die Diskussion der Frage eingehen,wie weit und ob überhaupt eine litera-turwissenschaftliche Einführung im

Rahmen eines DaF-Studiums für Nicht-Muttersprachler wichtig ist. Es wird dieAnsicht vertreten, daß eine solche Ein-führung notwendig ist. Es gibt jedochauch die Meinung, vorerst darauf zuverzichten und neu darüber nachzuden-ken, wie der Stoff deutsche LiteraturDaF-orientiert gestaltet werden kann.Ein konkreter Vorschlag dazu ist, Litera-tur nur mit Blick auf die spätere Didak-tisierung im Unterricht zu bearbeiten;das hieße dann aber, nur die Werke her-anzuziehen, die für den Schulalltag ge-eignet sind. Darüber muß sicher nochintensiver nachgedacht werden. Vorerstbleiben folgende Überlegungen anzu-merken: 1. Wie kann die Auswahl von Literatur

gesteuert werden, wenn keine fun-dierte Kenntnis zugrunde liegt?

2. Ein systematisches Herangehen anTexte ist eine Vorarbeit, die der Lehrerfür sich leisten muß, um dann je nachZielgruppe und definiertem Lernzieleinen Unterrichtsentwurf zu gestal-ten.

Es muß meiner Ansicht nach ein Anlie-gen des Fremdsprachenunterrichts sein,an systematisches analytisches Arbeitenheranzuführen. Diese Ebene setzt eineeher unbewußt textgebundene Unter-richtsarbeit sicher voraus, aber je weiterder Text in den Mittelpunkt des Unter-richtsgeschehens rückt, um so deutli-cher müssen auch die Struktur des Tex-tes, die spezielle Ausdrucksweise wieauch der Aussageinhalt erarbeitet wer-den können. Das Curriculum machtnicht ganz deutlich, ob mit dem Seminarzur Einführung in die deutsche Litera-tur auch eine wissenschaftliche Einfüh-rung in Form eines Grundlagenseminarsgemeint ist. Ein weitere Tendenz des Curriculumsergibt sich aus dem unzureichenden An-gebot zur Sprachpraxis. Wenn dieÜbungen zur Sprachpraxis auf ein We-

Page 84: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

480

sentliches reduziert sind und nur nochim ersten Studienjahr angeboten wer-den, dann muß man davon ausgehenkönnen, daß die Sprachkompetenz derStudierenden nach einem Jahr so hochist, daß eine erfolgreiche Fortsetzungder Fachausbildung in den folgendenSemestern ohne größere sprachlicheProbleme möglich ist. Ich betrachte die-ses erste Studienjahr als ein vorbereiten-des Jahr auf das eigentliche Fachstu-dium mit dem Ziel, ein möglichst hohessprachliches Niveau zu erreichen. Dasheißt, der Studienanwärter sollte bereitsgute Kenntnisse in der Zielsprache mitin das Studium einbringen. Studierendeohne oder mit sehr geringen Deutsch-kenntnissen können selbst nach Ab-schluß eines intensiven Vorbereitungs-jahres dieses Studienziel kaum errei-chen. Angesichts der sich nach Verlän-gerung der Schulpflicht von 5 auf 8Jahre verändernden Schulsituation ist esdringend erforderlich, über die feste Im-plementierung des Deutschen als zweiteFremdsprache möglichst früh nachzu-denken und entsprechende Maßnahmendafür zu ergreifen. Die Alternative, diesich bereits jetzt ergibt, ist, über einemögliche Revision bzw. Umschichtungoder auch Erweiterung des Programmsnachzudenken, die auch Studienanwär-tern ohne oder mit nur schwachenDeutschkenntnissen eine vertretbareAusbildung gewährt und das Studien-ziel erreichbar macht. Ein letzter wichtiger Aspekt ist die imgesamten Curriculum fehlende Spezifi-zierung nach Schultypen und deren An-forderungen. Deutsch als Zielsprache istim türkischen Schulsystem in drei unter-schiedlichen Konzepten verankert: 1. Deutsch als erste Fremdsprache in der

Grundschule mit Beginn in der Vor-schule oder der 1. Klasse der Grund-schule;

2. Deutsch als erste Fremdsprache in derSekundarstufe II mit Beginn in der 9.Klasse;

3. Deutsch als zweite Fremdsprache inder Sekundarstufe I mit Beginn in der6. Klasse.

Letzteres ist das Konzept Deutsch nach Eng-lisch, das sich wahrscheinlich langfristigdurchsetzen wird. Alle drei Konzepte be-inhalten grundlegend andere, sehr unter-schiedliche Anforderungen, Lehrpläne,Lernziele, Lehrwerke und basieren aufeinem auch grundlegend voneinanderabweichenden Schülerprofil. Das Curri-culum bietet keinen Ansatz, diese dreiunterschiedlichen Konzepte für DaF zuberücksichtigen. Das Seminar zum fremdsprachlichenDeutschunterricht in der Grundschule istwichtig und ein erster Schritt in dieseRichtung, aber nicht ausreichend. MeinVorschlag ist, den Studierenden im 4.Studienjahr die Möglichkeit zu eröffnen,Schwerpunkte zu setzen bezüglich derSchultypen und Schulstufen. Die Mar-mara Universität fängt dies ein wenigdurch die je nach Profil, Niveau undBerufswunsch des Studierenden durch-geführte Zuteilung der Praktikumsplätzeauf.

3.2 Die einzelnen Teilbereiche des Cur-riculums Die Teilbereiche sind wesentliche Be-standteile eines fundierten DaF-Studi-ums und als solche auch sinnvoll undberechtigt. Gut ist, daß es sich hier um einvon der klassischen Germanistik abge-koppeltes berufsbezogenes und DaF-ori-entiertes Konzept handelt, welches deut-liche Schwerpunkte im didaktisch-päd-agogischen Bereich setzt. Das ist ganzsicher zukunftsträchtig und mit europä-ischen Standards und Programmen auchkompatibel. In allen Teilbereichen sind die für einLehrerstudium relevanten Themen und

Page 85: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

481

Schwerpunkte mit berücksichtigt. DieGewichtung der Teilbereiche ist abge-stimmt auf das Studienziel und auf dasfür einen erfolgreichen Abschluß defi-nierte Profil. Die Wahlfächer bieten dieMöglichkeit, Mängel in Teilbereichendurch ein zusätzliches Angebot aufzu-fangen. Das kann genutzt werden u. a.zur Erweiterung des Angebots im lingui-stischen Bereich oder aber zur Unterstüt-zung des kulturgeschichtlich-literari-schen Angebotes. Die Frage, welche Regelungen kurz- undmittelfristig zur Optimierung des Curri-culums beitragen könnten, möchte ichabschließend wie folgt zusammenfassen: 1. Wünschenswert ist eine engere Zusam-menarbeit mit der Abteilungen für Allge-meine Pädagogik und Didaktik. 2. Wünschenswert ist auch eine Zusam-menarbeit mit den Abteilungen für Eng-lisch und Französisch. 3. Wünschenswert ist ferner eine themen-gebundene Zusammenarbeit mit der Ab-teilung für Türkisch. 4. Wünschenswert ist eine projektbasierteZusammenarbeit mit Schulen und Vor-schulen mit Deutsch als erster und zwei-ter Fremdsprache. 5. Wünschenswert ist eine noch deutli-chere alters- und schulkonzeptorientierteAusrichtung des gesamten Curriculums.Ich mache dazu folgenden Vorschlag: Man könnte die Einführungsveranstal-tungen1 aufsplitten und spezialisieren,die sich über 2 Semester erstrecken. Dastrifft in erster Linie auf die »Einführungin die Fachdidaktik Deutsch als Fremd-sprache« zu. Das erste Semester kanndazu genutzt werden, allgemeines

Grundlagenwissen zu aktuellen metho-dischen Unterrichtskonzeptionen des Fa-ches Deutsch als Fremdsprache zu ver-mitteln. Anschließen könnte sich dann im2. Teil jeweils eine Ausrichtung auf einspezielles DaF-Konzept. Das Lehrange-bot umfaßt dann im 6. Semester dreiunterschiedliche Veranstaltungen mitdrei unterschiedlichen Schwerpunkten: – DaF-Konzepte zum Deutschen als erste

Fremdsprache in der Primarstufe; – DaF-Konzepte als erste Fremdsprache

in der Sekundarstufe II; – DaF-Konzepte als zweite Fremdsprache

in der Primarstufe und Sekundarstufe I. Dieses Prinzip wäre auch sinnvoll an-wendbar bei den Veranstaltungen zu deneinzelnen literarischen Gattungen, diedann wie folgt aussehen könnten: – Didaktisierung von lyrischen Texten in

der Grundschule für die Zielgruppeder 6- bis 10jährigen;

– Didaktisierung von lyrischen Texten inder Sekundarstufe II für Jugendliche;

– Didaktisierung von lyrischen Texten inder Sekundarstufe I. für Jugendliche imRahmen Deutsch als zweite Fremd-sprache.

Diese Regelung kann je nach Infrastruk-tur und spezifischen Gegebenheiten auchausgedehnt werden auf die weiteren di-daktischen Fächer wie u. a. im Rahmendes Seminars zur Lehrwerksanalyse, woLehrwerke je nach unterschiedlicherKonzeption und Zielgruppe gezielt inden Mittelpunkt gestellt werden und wodarüber hinaus auch eigene Lehrwerks-entwürfe erarbeitet werden könnten. 6. Wünschenswert ist eine organisatorischewie auch thematische Einbindung der

1 Ein weiterer Vorschlag im Rahmen des Workshops zu diesem Punkt war die Nutzungder Wahlfächer für eine mögliche Spezifizierung. Insgesamt haben sich die meistenTeilnehmer gegen eine Schwerpunktsetzung ausgesprochen mit dem Argument, daßsich so dann auch die beruflichen Perspektiven einengen würden. Zudem, und dies istsicher ganz wichtig, bleibt dann kaum die Möglichkeit, auf marktbedingte Veränderun-gen reagieren zu können.

Page 86: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

482

Vorbereitungsklassen in das Programmund die Abteilungen für eine gezieltereFörderung von Studienanwärtern mit ge-ringen oder gar keinen Deutschkenntnis-sen. 7. Wünschenswert ist eine noch genauereAbgrenzung der Seminarinhalte undSchwerpunkte der Veranstaltungen. 8. Wünschenswert ist eine noch intensivereBetreuung der Schulpraktika durch dieEinführung von Tutorien in Kleingrup-pen. 9. Wünschenswert ist eine verbindlicheHauptfach-Nebenfach-Regelung insbe-sondere im Hinblick auf das sich verän-dernde Studentenprofil. Dem Lehramts-anwärter böte sich mit dem Nebenfacheine breitere berufliche Perspektive. DieAnforderungen an die zukünftigenDeutschlehrer werden steigen, wenn diezweite Fremdsprache zu einem obligato-rischen Fach wird und sich Deutsch alszweite Fremdsprache in den türkischenSchulen mittelfristig gegenüber Franzö-sisch durchsetzen wird.1

Literatur Akdogan, Feruzan: »Einige Anmerkungen

zu den neuen Inhalten der Deutschlehrer-ausbildung am Beispiel der MarmaraUniversität«. In: Tapan/Polat/Schmidt(Hrsg.) 2000, 57–63.

Akdogan, Feruzan: »Die schulpraktischeAusbildung nach dem neuen Curricu-lum. Chancen und Probleme der Umset-zung am Beispiel der Marmara Universi-tät«. In: Tapan/Polat/Schmidt (Hrsg.)2000, 99–103.

Akdogan, Feruzan: »Bericht der Arbeits-gruppe Literaturwissenschaft und Litera-turpädagogik«. In: Tapan/Polat/Schmidt (Hrsg.) 2000, 17–19.

Akdogan, Feruzan: »Deutsch als Fremdspra-che in der Türkei. Bestandsaufnahme undPrognosen«, Info DaF 30 (2003), 46–55.

Tapan, Nilüfer; Polat, Tülin; Schmidt, Hans-Werner (Hrsg.): Berufsbezogene Deutsch-lehrerausbildung. Dokumentation zumWorkshop am 26./27. Mai in Istanbul. Istan-bul: KG Ajans: Goethe-Institut und Türki-scher Deutschlehrerverein, 2000.

Tapan, Nilüfer: »Entwicklungen und Per-spektiven der Deutschlehrerausbildungin der Türkei«. In: Tapan/Polat/Schmidt(Hrsg.) 2000, 37–45.

1 Die zweite Fremdsprache wird ab dem Schuljahr 2004/2005 obligatorisch eingeführtwerden. Dieser Beschluß umfaßt in der ersten Phase der Umsetzung alle AnadoluSchulen. Das betrifft türkeiweit ca. 92 Schulen.

Page 87: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

483

Erzählte Geschichte/n. Geschichtliche Erfahrun-gen im Medium der Fremdsprache1

Zur Übereinstimmung von Hochschuldidaktik und Fachdi-daktik im Fremdsprachenstudium

Margarete Ott

1. EinleitungDer vorliegende Beitrag befaßt sich miteinigen Aspekten des Fremdsprachen-lehrens und -lernens in einer ganzheitli-chen Sichtweise und deren Bedeutsam-keit in der universitären Lehre zukünfti-ger Lehrkräfte für Fremdsprachen. Das inKapitel fünf angeführte Beispiel beziehtsich ganz konkret auf die Deutschlehrer-ausbildung in Ungarn.In der aktuellen Fremdsprachendidaktikspielt das pädagogische Konzept eineskommunikativen Unterrichts weiterhineine bedeutende Rolle. Auch in Ungarnwird dieser Ansatz seit der Wende starkrezipiert. Kommunikativer Unterrichtsieht den Lerner als konstituierendes Ele-ment des Unterrichts und als Subjektseines eigenen Lernprozesses. Ihm wirdgrundsätzlich die Kompetenz zugestan-

den, zu seinem eigenen Lernen und demder anderen in seiner Lerngruppe verant-wortlich beitragen zu können: Der Lernerist Subjekt des Unterrichts und er hatetwas zu sagen. ›Etwas zu sagen zu ha-ben‹ impliziert, daß neben den pädagogi-schen Komponenten der Lerner- undHandlungsorientierung mit der Demo-kratisierung des Unterrichts eine gesell-schaftspolitische zum Tragen kommt.Kommunikativer Unterricht ist nicht imKontrast zu schriftlichen Ausdrucksfor-men zu sehen (so auch Wolff 2002b),sondern im Kontrast zur traditionellenAuswahl der Inhalte und ihren Metho-den der Vermittlung:

»Kommunikativer Unterricht ist bestimmtdurch die Absicht des Lehrers, mit denSchülern eine Lerngemeinschaft auf Zeit zuetablieren, in der unter dem emanzipatori-

1 Grundlage dieses Beitrags ist ein Referat, das auf der 10. Göttinger Fachtagung 2003(vom 5.–7.3.2003) vorgetragen wurde. Thema der Tagung war: Fremdsprachenausbil-dung an der Hochschule, Emotion und Kognition im Fremdsprachenunterricht.

Didaktik DaF / Praxis

Info DaF 31, 4 (2004), 483–498

Page 88: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

484

schen Erziehungsinteresse symmetrischeKommunikation realisiert werden soll.Prinzipiell wird damit der Lehrer wie derSchüler instand gesetzt, seine Absichten,seine Bedürfnisse, seine Interessen, seineKompetenzen einzubringen und in Gleich-heit und Gegenseitigkeit über die dabeieinzuhaltenden Normen, Spielregeln, ein-zugehenden Verpflichtungen und zu über-nehmenden Aufgaben mitzubestimmen.«(Bönsch 2000, 49 f.)

Die neuere Fremdsprachendidaktik wirdseit einiger Zeit verstärkt beeinflußt vonkognitiven Lerntheorien, wie sie sich aufder Basis von Erkenntnissen der Kogniti-ons- und Spracherwerbsforschung her-ausgebildet haben. Unter Kognition kön-nen zunächst alle mentalen Vorgängesubsumiert werden, durch die Menschenihre Erlebnisse auf der Grundlage ihrermentalen Ausstattung verarbeiten (vgl.Edmondson 1998). Kernpunkt kognitiverLerntheorien ist, Lernen als einen indivi-duellen Aneignungsprozeß, als eine kon-struktive innere Tätigkeit zu beschreiben:Neues Wissen wird auf der Grundlagevorhandener kognitiver Strukturen ei-genaktiv konstruiert und integriert, wo-bei Restrukturierungsprozesse wesent-lich sind. Eine auf diese Theorien sichberufende konstruktivistische Fremd-sprachendidaktik betont die Notwendig-keit einer Individualisierung des Lern-prozesses, da Lernen nur stattfindet,wenn an das vorhandene, individuell un-terschiedlich ausgeprägte Wissen ange-knüpft werden kann.In Bezug auf die Rolle des Lerners (unddes Lehrers) und die Art des Lernensergeben sich Verbindungen zum Kom-munikativen Unterricht, da beide Kon-zeptionen – wenn auch aus unterschiedli-cher Perspektive – die Selbstverantwor-tung des Lerners hervorheben. Dies wirdz. B. bei Vollmer deutlich (1998: 199):

»Kognitivismus intendiert […] die Rückbe-sinnung auf ein Menschenbild und ein ent-sprechendes Modell menschlichen Lernens

und Handelns, in dem das Subjekt desLernens in seiner Eigenaktivität, seiner Ei-genverantwortung und seiner ›Autonomie‹ernst genommen wird […].« (Vollmer 1998:199)

Wolff (2002b) weist darauf hin, daß die inder englischsprachigen Fachdidaktik un-ter dem Namen learner autonomy be-kanntgewordene Bewegung schon seitüber 10 Jahren auch in verschiedenenkleineren Ländern Europas (Dänemark,Finnland, Irland, den Niederlanden) eineRolle spielt und in zunehmendem Maßevon theoretischen Überlegungen desKonstruktivismus gestützt wird.In einem Fremdsprachenunterricht, dereinem konstruktivistischen oder einemkommunikativen Ansatz verpflichtet ist,kann eine instruierende Wissensvermitt-lung durch die Lehrperson nicht mehr alsvorrangig geeignete Methode des Wis-senserwerbs betrachtet werden. Schlag-wortartig könnte man für das Konzeptdes Kommunikativen Unterrichts formu-lieren: Von der Instruktion zur Kommu-nikation – und für eine konstruktivisti-sche Fremdsprachendidaktik: Von der In-struktion zur Konstruktion. Beide Kon-zepte führen in der Gestaltung der Unter-richtspraxis zu ähnlichen Ergebnissen(Wolff 1999 spricht von einem ›glückli-chen Zufall‹). In beiden Konzepten wirdder Interaktion (und damit verbundenauch der Kooperation), der Lernerorien-tierung und der Verantwortung für daseigene Lernen und daraus resultierendder Selbsttätigkeit und dem autonomenLernen – wenn auch aus unterschiedli-chen Gründen – ein hoher Stellenwerteingeräumt.An den Schulen in Deutschland findetman nun nach Wolff im Fremdsprachen-unterricht häufig eine andere Art desLernens:

»Die Rolle des Lehrers ist die eines Instruk-tors, er gibt Wissen an die Schüler weiter, […]das aber der Lerner nur selten mit dem

Page 89: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

485

eigenen Wissen in Verbindung bringen kann.Noch problematischer ist, daß die Lernen-den nicht dazu ermutigt werden, ihr eigenesWissen selbständig zu erweitern. Instruktionist das typischste Merkmal unseres heutigenSchulsystems.« (Wolff 1999: 37)

Diese Einschätzung trifft vielfach eben-falls für das universitäre Fremdsprachen-studium zu. Die Situation an den Schulenund an den Universitäten ist in dieserBeziehung in Ungarn nicht wesentlichanders als in Deutschland, wenngleichgerade in Ungarn – auf das ich michspäter beziehe – durch die Verpflichtungzur Lehrerfortbildung und die zuneh-mende Verbreitung neuer Lehrwerke anden Schulen der kommunikative Ansatzinzwischen eine große Rolle spielt.

2. Kognition, Interaktion und EmotionWenngleich festzuhalten ist, daß Lernenein komplexer, von letztlich nicht voll-ständig zu erforschenden interagieren-den Faktoren beeinflußter Vorgang ist,soll hier auf einzelne der mit den voran-gehenden Überlegungen angesproche-nen und für das Fremdsprachenlernen(und das Sprachlernen überhaupt) alswesentlich betrachteten Aspekte kurzeingegangen werden.

2.1 Kognition und InteraktionUngeachtet dessen, inwieweit einem in-ternen kognitiven System Unabhängig-keit zugestanden wird, gilt die nächsteÜberlegung der Relation von externerErfahrung und internem kognitivem Sy-stem. Dabei können für das Fremdspra-chenlernen vier klassische Varianten un-terschieden werden (vgl. zu dem folgen-den Abschnitt Hatch/Hawkins 1987:249 ff.):– Kontaktrelation (Sprachbad);– Kausalrelation (Input = Output);– Auslöserelation (triggering relation);– Interaktions- (Beziehungen

relation realisieren)

Die erste Relation spielte in den Konzep-tionen der sog. Direkten oder natürlichenMethode eine Rolle, die zweite in beha-vioristischen Lernmodellen.In der neueren Spracherwerbsforschungwaren insbesondere die beiden letzterenvon Bedeutung. Die dritte Position gehtvon einer individuell von vornhereinvorhandenen Universalgrammatik aus,die jedoch externer Erfahrung bedarf, umgebrauchsrelevant zu werden. Die viertePosition dagegen nimmt an, daß sich dasgesamte Kommunikationssystem auf derBasis der Interpretation unserer Erfah-rungen entwickelt. Jede Erfahrung agiertals Katalysator für kognitive Reaktionenmit dem Ergebnis der Integration in be-stehende oder in zu verändernde oderneu aufzubauende Strukturen. Struktur-veränderung (also Lernen) geschieht aufder Basis einer fortgesetzten Interaktionzwischen Subjekt und Objekt dabei eherschrittweise aufbauend als sprunghaft.Der Interaktion kommt also eine zentraleBedeutung für den Wissenserwerb zu, danur so Hypothesen gebildet, überprüftund ggf. verändert werden können. DieProgression des Fremdspracherwerbsweist in konstruktivistischer Perspektivedemnach Relationen auf zu Quantitätund Qualität der Interaktionen zwischenLerner und Lernumgebung (einschließ-lich der personalen).Aus didaktischer Perspektive ist wesent-lich, daß hier nicht ein bloßes Ausgesetzt-sein der Lernenden gegenüber der Lern-umgebung genügt, sondern entschei-dend ist, wie diese sich zu ihr in Bezie-hung setzen, welche ›cognitive respon-ses‹ (Hatch/Hawkins 1987: 250) gegebenwerden können. Lernumgebungen sinddaher keine statischen Einrichtungen,sondern dynamische Konzeptionen, dieimmer wieder neu geschaffen werdenmüssen (vgl. Wolff 2002a: 56). Dabei müs-sen auch gezielte feedback-Meldungenals externe Erfahrung eingestuft werden,

Page 90: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

486

denn sie können ebenfalls erst durch ei-genaktive Aneignungsprozesse in diesubjektiven kognitiven Strukturen inte-griert werden (Dies belegen z. B. For-schungen zur Verarbeitung von automa-tischen Fehlerkorrekturen, vgl. dazu z. B.Knapp-Potthoff 1998: 102).

2.2 Emotion und KognitionMaßgeblich für erfolgreiches Fremdspra-chenlernen ist nicht nur eine auf dievorhandenen kognitiven Strukturen ab-zielende Passung1, sondern auch einepersonale Passung, die den Lerner alsGanzes im Blickfeld hat, also auch diedurch den Lerngegenstand und die Lern-methoden ausgelösten und stets vorhan-denen Affekte. So formuliert List:

»Fremd- und zweitsprachliche Lern- undKommunikationsprozesse unterscheidensich in einer Hinsicht nicht von allen ande-ren menschlichen Wahrnehmungen undHandlungen, nämlich darin, daß […] unserGehirn, in allem, was wir erfahren und tun,Kognitionen und Affekte unverbrüchlichzusammenschließt.« (List 2000: 154)

Es sind also affektive Evaluationspro-zesse, die darüber entscheiden, »welchenInformationen wir uns mit welchen Moti-vationen zuwenden und welchen nicht«(ebd.: 155). Damit ist einer der Unter-schiede zwischen menschlichem Wissens-erwerb und technischen informationsver-arbeitenden Systemen angesprochen.Voraussetzung allen Lernens ist erstensein Gerichtetsein der Aufmerksamkeitauf das zu Lernende – also eine Zuwen-dung des Lerners zum Lerngegenstand –und zweitens ein Andauern dieser Zu-wendung bis zur Zielerreichung. Beideskann nur bei entsprechender Motivationgelingen. Wir müssen also von einer Ver-wobenheit von Kognition und Emotionausgehen. Diese Verwobenheit zeigt sich

auch darin, daß der Grad der kognitivenHerausforderung Einfluß auf die Attrak-tivität eines Lerngegenstandes hat unddamit auf dessen affektive Bewertung(zum Zusammenhang von Emotion undKognition/Lernleistung vgl. auch Zim-mermann 1998). Unangemessene Anfor-derungen führen nahezu zwangsläufigzu negativen Reaktionen. Unterforde-rung kann z. B. zu Langeweile und Über-forderung zu Vermeidungs- und Aus-weichstrategien führen. Es gilt also:

»Ein Motivierungskonzept, das Selbstmoti-vierung fördert und somit auf autonomesLernen verweist, ist auf unterrichtlicheRahmenbedingungen angewiesen, in de-nen das lernende Subjekt sich sowohl ko-gnitiv als auch affektiv entwickeln kann.«(Düwell 2002: 175)

Evident ist ebenso, daß desto eher danneine anspruchsvolle Herausforderungangenommen wird, wenn das Vertrauenin die eigene Leistungsfähigkeit gestärktund die Fähigkeit selbsttätigen Lernensentwickelt wurde. Das Konzept der Ler-nerautonomie im Fremdsprachenlernenweist somit ebenfalls eine unmittelbareVerknüpfung zu affektiven Komponen-ten des Lernens auf: eine Stärkung desSelbstbewußtseins und positive Gefühlein Bezug auf die eigene Lernleistung wer-den v. a. dann entwickelt, wenn die Lei-stung der eigenen Anstrengung zuge-schrieben werden kann (vgl. dazu z. B.Edelhoff/Weskamp 1999).Eine dauerhafte Motivierung, Leistungenin der Fremdsprache – auch unterschwierigen Bedingungen – zu erbrin-gen, wird nur dann möglich sein, wennden erforderlichen Tätigkeiten persönli-cher Sinn zugeschrieben werden kann.Sinn ergibt sich für den Lerner zum Teilaus dem curricularen Zusammenhang,aber hinzutreten muß eine pragmatische

1 Passung wird hier verwendet im Sinne von Abgestimmtsein auf gegebene Voraussetzun-gen.

Page 91: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

487

(z. B. antizipierte Berufserfordernisse)und eine existenzielle (d. h. sich aus denLebenszusammenhängen ergebende)Sinnbestimmung (vgl. Bönsch 2000: 77).

3. Didaktische KonsequenzenAus diesen Überlegungen ergeben sichfür das Fremdsprachenlernen zumindestdrei Konsequenzen:– Notwendigkeit der häufigen, wieder-

holten Interaktion in der Fremdsprache– Gelegenheit zur individuell passenden

Interaktion– Herausforderungscharakter der Lern-

umgebung bzw. der Aufgabenstellungunter Einbeziehung kognitiver, emo-tionaler und sozialer Aspekte.

Der Fremdsprachenunterricht (und dieuniversitäre Fremdsprachenlehre) hatnun die Aufgabe, Aneignungsprozesse ingeeigneter Weise zu unterstützen (scaffol-ding), d. h. ›konstruktivistische Lernum-gebungen‹ (vgl. dazu Wolff 2002a: 359) zuschaffen. Dabei muß in Schule und Uni-versität neben der Lernerorientierunggleichberechtigt die Zielorientierung ste-hen, da Fremdspracherwerb immer nurselektiv sein kann (zum folgenden vgl.Little 1999: 28 f.). Es ist nicht mit derBereitstellung attraktiver und lernförder-licher Angebote getan, sondern notwen-dig ist eine Zielbestimmung vor demHintergrund prospektiver Bedürfnisseund Anforderungen (so auch Portmann1991: 26). Daraus ergeben sich Konse-quenzen für die thematische Auswahlund die Art des Zugangs, wo neben derKommunikation in der Fremdspracheunterschiedliche analytische, bewußt-seinsfördernde Prozeduren ihre Berechti-gung haben, und es unterstreicht die Be-deutung fachspezifischer Lern- und Ar-beitstechniken. Aus denselben Gründensollten Schüler, aber insbesondere Studie-rende, zur Selbstevaluation befähigt wer-den (Was, warum, wie und mit welchemErfolg lernt man etwas?).

Einzelne, sich aus diesen Überlegungenergebende Anforderungen an die Ver-mittlungspraxis möchte ich im folgendenerörtern (vgl. dazu auch Wolff 2002:435 ff.). Aber auch hier gilt, daß sich zwi-schen den einzelnen Punkten zahlreicheÜberschneidungen ergeben (vgl. z. B.Timm 1998; Wolff 1999).

3.1 Kooperation und SelbsttätigkeitUnlösbar verbunden und interagierendmit kognitiven und affektiven Aspektenist der soziale Aspekt. Kooperation, wiesie innerhalb von Lerngruppen möglichist, erhöht zunächst einmal die Chancelernförderlicher Interaktionen, wobei derLehrer zunächst einen Sinn für Zusam-menarbeit zum Zweck der gemeinschaft-lich zu lösenden Aufgabe entwickelnmuß. Dies schließt die Bereitschaft deseinzelnen mit ein, Verantwortung fürsein eigenes und das Lernen der anderenmitzutragen, womit gleichzeitig eineWertschätzung und ein Anspruch gegen-über der individuellen Leistung der Ler-nenden verbunden ist. Little stellt dazufolgendes fest:

»It is essential to make clear from the begin-ning that the exercise of their responsibilityentails an unbroken process of planning,monitoring and evaluation; essential also tomake these processes as transparent andmanifest as possible, by using individuallearner journals and posters that summa-rize the outcome of group and whole-classdiscussions.« (Little 1999: 31)

Innerhalb einer Gruppe ist mit unter-schiedlichen fremdsprachlichen Fähig-keiten und differenten Wissensbeständenzu rechnen, die sich zumindest teilweiseergänzen können. Es können inhaltliche,methodische und sprachliche Problemediskutiert und geklärt werden, wasgleichzeitig eine anspruchsvolle sachan-gemessene Kommunikation in derFremdsprache erforderlich macht. DerLehrende, dem beim Fremdsprachenler-

Page 92: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

488

nen gleichfalls eine wichtige Rolle fürden Lernfortschritt zukommt (asymme-trische und Metakommunikation), kannsich abwechselnd auf jeweils eineGruppe und auch auf einzelne konzen-trieren. Kooperation bedeutet natürlichauch die Möglichkeit der Arbeitsteilungund somit eine bessere Erreichbarkeit desZiels, was sich wiederum positiv auf dieMotivation auswirkt. Kooperation istnicht nur denkbar innerhalb der Gruppe,sondern auch über die Gruppen hinweg(intergroupal). Erst die Existenz von ver-schiedenen Gruppen erzeugt ein Infor-mationsgefälle, das seinen natürlichenAusgleich in einer gruppenüberschrei-tenden Kommunikation finden kann.

3.2 Komplexität und OffenheitKomplexität der Aufgabenstellung beigleichzeitiger relativer Offenheit ist dieVoraussetzung dafür, daß individuellpassende Lernangebote zur Verfügungstehen und der damit verbundenen For-derung nach Eigenaktivität und Selbsttä-tigkeit Rechnung getragen werden kann.Gleichzeitig muß Klarheit über das ange-strebte Ergebnis herrschen, damit einer-seits der Anforderungscharakter deutlichund andererseits eine Planung des eige-nen Lern- und Arbeitsprozesses möglichwird. Freie kreative Verfahren sind zwarin begrenztem Rahmen sinnvoll, ihnensollte aber insbesondere im universitärenBereich nicht zu viel Platz eingeräumtwerden, da hierbei der Blick auf denLerner nicht ausbalanciert wird durchden Blick auf die zu erreichenden Zieleund Leistungspotentiale ohne Not nichtausgeschöpft werden. Die Ziele müssenzum einen erreichbar und lohnend er-scheinen und zum anderen hineinreichenin die Zone der nächsten Entwicklung(Wygotski), oder – um es mit den Wortendes Konstruktivismus auszudrücken –Perturbationen verursachen (vgl. dazuWendt 2002). Denn letztendlich kann es

nicht das Ziel sein, angenehme Lernum-gebungen zu schaffen, sondern solche,durch die sich die Lernenden herausge-fordert fühlen, sich Neues anzueignen(Hüther 2002 macht deutlich, daß mitSchlaraffenlandumgebungen die kogni-tive Entwicklung nicht optimal gefördertwird).Offenheit und Komplexität der Aufga-benstellung bedeutet auch, daß Lernendein ausgewählten Bereichen als Expertenfungieren können, die über ein Mehrwis-sen gegenüber anderen (und der Lehr-person) verfügen, d. h. sie haben etwaszu sagen. Es bedeutet des weiteren, daßdie Lernenden auf der kognitiven undaffektiven Ebene angesprochen werdenund ihre Erfahrungen, ihre Interessenund ihre Bedürfnisse eine Rolle spielen,womit u. a. die Authentizität von Aufga-ben angesprochen ist. Solchen Aufgaben,die jenseits des Klassenraums ihr Äqui-valent haben, ist im allgemeinen der Vor-zug zu geben, zumal deren Sinnhaftigkeitden Lernenden zumeist unmittelbar ein-sichtig ist. Eine geeignete thematischeAuswahl und Vorbereitung verstärkenpositive Einstellungen und Emotionenund damit die Entwicklung einer Selbst-motivierung.Mit der Bearbeitung einer Aufgabe müs-sen relevante Lern- und Arbeitstechnikenerprobt werden können, da diese nichttheoretisch lernbar sind. Ganz wesentlichim Zusammenhang mit dem Fremdspra-chenlernen ist die Entwicklung der Über-arbeitungskompetenz. Die Prozeßhaftig-keit des Fremdsprachenlernens und derTextherstellung sowie die prinzipielleMöglichkeit der Textoptimierung werdendadurch den Lernern bewußt. Die Bereit-schaft, die Anstrengungen des Überarbei-tens auf sich zu nehmen, wird wiederumwesentlich davon beeinflußt, welche Be-deutung für sich selbst und andere dementstehenden Text beigemessen wird (vgl.Pommerin/Mummert 2001: 68 f.).

Page 93: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

489

3.3 Schreiben in der FremdspracheSchriftliche Ausdrucksformen sind einer-seits von hoher Relevanz in unserenSchriftkulturen, so daß fortgeschritteneLerner und schon gar nicht Studierendebei der Ausbildung ihrer fremdsprachli-chen Kompetenz darauf verzichtenkönnten. Andererseits erlaubt das Arbei-ten mit schriftlichen Texten (rezeptiv undproduktiv) jedem einzelnen Lerner, sichwiederholt in den Unterrichtsprozeß ein-zubringen, wobei mündliche und schrift-liche Arbeitsphasen aufeinander bezogenwerden sollten.

»Im kooperativen vorbereitenden Planen,noch mehr im Überarbeiten, findet ein stän-diger Wechsel statt zwischen dem Lesenvon Geschriebenem und dem Sprechen dar-über sowie zwischen dem planenden undevaluierenden Sprechen und der Umset-zung der Ergebnisse in schriftliche Form.Dieser Wechsel […] kann auch in Bezug aufeinzelne Fragen des schriftlichen Kodes ex-plizit gemacht werden.« (Portmann 1991:422)

Der nicht flüchtige verschriftete Textbietet optimale Möglichkeiten, in sozi-alen und autoreflexiven Interaktions-prozessen den Fremdspracherwerb vor-anzubringen, denn beim Schreiben inder Fremdsprache muß intensiveSpracharbeit geleistet werden. Little(1999: 29) bezeichnet Schreiben als »thesingle most useful tool to learners insecond language classrooms«. Schriftli-che Texte, die als abstrakter, kontextre-duzierter, situationsferner als mündli-che zu charakterisieren sind, verlangenvon vornherein einen stärkeren Bezugauf die Sprache selbst, da nur bei ad-äquaten schriftsprachlichen Realisierun-gen erfolgreiche Sprachhandlungenmöglich sind. So können den Lernernbeim Schreiben fehlende Kompetenzenauf verschiedenen Ebenen bewußt undMaßnahmen zur Überbrückung dieserLücken ergriffen werden. Lern- und Ar-

beitsstrategien können in diesem Zu-sammenhang sinnvoll thematisiert wer-den. Schriftliche Texte bieten aber aucheine ideale Basis für kooperative (undinstruktive) Verfahren zum Ausbau derFremdsprache.

4. Lernbiographie und beruflichesSelbstverständnisWie Fremdsprachen gelehrt werden, wel-cher Raum den Lernern eingeräumtwird, wird im wesentlichen von derLehrperson bestimmt. Ihr kommt alsoeine Schlüsselrolle im Fremdspracher-werb zu.Es ist bekannt, daß Lehrer eher auf vonihnen bereits erfahrene Strukturen zu-rückgreifen, als daß sie etwas völligNeues probieren (vgl. Woods 1996).Häufig besteht dabei eine Diskrepanzzwischen dem, was man eigentlich will,und dem, was tatsächlich in der Stundegeschieht. Innovatives Verhalten – wiez. B. eine stärkere Schülerorientierung –scheitert häufig an einem wenig ausdif-ferenzierten berufsfeldbezogenen Hin-tergrundwissen. Dieses Wissen ist dyna-misch und seine Entwicklung beginntmit den eigenen Erfahrungen als Schü-ler. Veränderungen sind möglich durchuniversitäre Lehr- und Lernsituationen,durch relevante Lektüre und die Refle-xion über Unterrichtsprozesse und denDialog mit anderen Lehrenden (vgl.Weskamp 1999: 10 f.). Eine nur theoreti-sche Auseinandersetzung mit fachdi-daktischer Literatur beeinflußt jedochkaum die Vorstellungen über angemes-senes Unterrichtshandeln. So wird aufder Basis neuerer Untersuchungen kon-statiert, daß »wissenschaftliches Wissenund praktisches Handlungswissen kom-plementär nebeneinander stehen kön-nen und sich nicht zwangsläufig berei-chern müssen« (Schocker-v. Ditfurth2002: 155).

Page 94: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

490

Und an anderer Stelle heißt es:

»Das berufliche Selbstverständnis der Stu-dierenden basiert in erster Linie auf ihrempersönlichen Erfahrungswissen. Fachdi-daktische Wissensbestände, denen die Stu-dierenden in ihrer Ausbildung begegnetsind, spielen demgegenüber keine Rolle.Die Vorstellungen über adäquate Fremd-sprachenerwerbsprozesse werden stets mitden eigenen Lernerfahrungen verbunden.«(Schocker-v. Ditfurth 2001: 212)

Es besteht also die dringende Notwen-digkeit, in der universitären Ausbildungdas theoretische Wissen mit eigenem Er-fahrungswissen zu verknüpfen. EineMöglichkeit dazu ist die theoriegeleitetePlanung, Durchführung und Reflexionvon Unterricht in universitär begleitetenUnterrichtspraktika, eine andere dieAuseinandersetzung mit konkreten ei-genen lernbiographischen Erfahrungen.Gerade für zukünftige Fremdsprachen-lehrer, die ja in der Regel stets selbstFremdsprachenlerner sind, trägt letzte-res nicht unerheblich zur Ausbildungvon Vorstellungen darüber bei, wieFremdsprachenunterricht zu gestaltensei. Es ist daher keinesfalls ohne Belang,ob Forderungen an den fremdsprachli-chen Unterricht, wie sie in fachdidakti-schen Seminaren erhoben werden, hoch-schuldidaktisch ihre Entsprechung fin-den.Sofern die dort vertretenen Ansätze ernstgenommen werden wollen mit dem An-spruch praktischer Durchführbarkeit,sollten zumindest fachdidaktische undsprachpraktische Seminare nicht in kras-sem Widerspruch dazu stehen, dies umsomehr, da häufig auf relevante schulischeLernerfahrungen kaum zurückgegriffenwerden kann. Konkrete Begegnungenmit glaubwürdigen Lehr-/Lernmodellenbieten eine Basis zur Ausbildung vonberuflichen Handlungsdispositionenund sind meiner Ansicht nach eine we-sentliche Voraussetzung für die Effektivi-

tät und den nachhaltigen Nutzen vonfachdidaktischen Seminaren und vonFachpraktika. Leider scheint es jedoch bisheute so zu sein, daß die von der Fachdi-daktik entworfenen Modelle des Lehrensund Lernens einer Sprache in der Univer-sitätslehre selten umgesetzt werden (vgl.z. B. Wintersteiner 1995; Schocker-v. Dit-furth 2002). So argumentiert Winterstei-ner in seiner Kritik des Lehramtsstudi-ums in Österreich:

»Die Art der Vermittlung ist nicht oder zuwenig geeignet, auf die Anforderungen derPraxis vorzubereiten. Das stellt ein hoch-schuldidaktisches Problem besonderer Artdar. Wie wird zum Beispiel jemand, der inder eigenen Ausbildung nur Frontalunter-richt erlebt hat, als Lehrkraft auf Projektar-beit umsteigen können?« (Wintersteiner1995: 133)

Die Bedeutung berufsfeldrelevanter Er-fahrungen wird noch dadurch erhöht,daß den spezifisch auf den Beruf vorbe-reitenden Veranstaltungen im universitä-ren Curriculum häufig nicht der Rangeingeräumt wird, der ihnen eigentlichzukommen müßte. Die Möglichkeit zurErprobung und Reflexion neuer und al-ternativer Unterrichtskonzepte ist dahernur sehr eingeschränkt gegeben.In Seminaren, die nach den oben ge-nannten Prinzipien gestaltet sind, mußden Studierenden von Anfang an eineaktive Rolle eingeräumt werden, die siein ihrer Expertenrolle bestätigt, und dieablaufenden Prozesse sollten in stärke-rem Maße als in der Schulsituation vonReflexionen auf einer Metaebene beglei-tet werden. Idealerweise kann paralleldazu oder in einer Anschlußveranstal-tung die schulische Umsetzbarkeit einessolchen Modells diskutiert und erprobtwerden.Gerade dann jedoch, wenn universitä-ren Veranstaltungen diese didaktischenPrinzipien zugrunde gelegt werden,müssen sie sich von schulischen (und

Page 95: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

491

auch hier sind ja keine Einheitslösungenmöglich) in ihrer konkreten Ausfor-mung unterscheiden, um zu einer ko-gnitiven und affektiven Herausforde-rung zu werden. Es verbietet sich daherprinzipiell, Inhalte und Verfahren, dieals schulgemäß akzeptiert sind, ohneBedenken auf die universitäre Ebene zuverpflanzen. Genau dies geschieht m. E.jedoch relativ häufig. Auch wenn – etwabei Studienanfängern – noch mit einereingeschränkten Fremdsprachenkompe-tenz zu rechnen ist, kann dies nicht be-deuten, daß inhaltlich relativ anspruchs-lose Themen, wie sie vielleicht für Kin-der oder Jugendliche angemessen sind,bearbeitet werden sollten. Es ist zumeinen zu fragen, von welcher Relevanzder ausgewählte Teilbereich und die ein-gesetzten Verfahren für die fremd-sprachliche Progression der Studieren-den sind, zum anderen, welchen persön-lichen Sinn sie den zu behandelndenThemen prinzipiell zusprechen können.

5. Erzählte Geschichte/n. Ein BeispielAus diesen Überlegungen heraus habeich 2002 an der Universität Szeged/Un-garn ein projektorientiertes, sprachprak-tisches Seminar für fortgeschrittene Ger-manistikstudierende (Lehramt an Gym-nasien) mit dem Titel ›Erzählte Geschich-ten/Erzählte Geschichte‹ durchgeführt.In der Ankündigung wurde darüber in-formiert, daß Interviews zur jüngsten Ge-schichte Ungarns durchgeführt werdensollten mit dem Ziel der Erstellung einerTextsammlung zu diesem Thema. Damitwar von vornherein eine langfristigeZielsetzung gegeben.Ein Seminar zur jüngsten Geschichte Un-garns in der Germanistik durchzuführen,ist ungewöhnlich. Sofern geschichtlicheThemen eine Rolle spielen, beziehen siesich im allgemeinen auf Deutschlandbzw. deutschsprachige Länder oder auchRegionen. Die Entscheidung geschah

aber ganz bewußt, um die oben ange-sprochenen didaktischen Prinzipienglaubwürdig und optimal umsetzen zukönnen. Die Aufgabenstellung war vonhoher Komplexität und gleichzeitig vonhoher persönlicher Relevanz. Sie stellteauf der inhaltlichen und der sprachlichenEbene eine Herausforderung dar. DieStudierenden konnten vielfältige Bezügezu ihrem Sprachlernen und ihrer Lebens-wirklichkeit herstellen, so daß eine starkeMotivierung von vornherein gegebenwar. Authentizität war ebenso gegebenund Selbsttätigkeit unverzichtbar, dennes ging um ›wirkliche‹ Fragen, die dieStudierenden lösen mußten, wobei siesich gegenüber der deutschen Mutter-sprachlerin durch ihr bereits vorhande-nes Mehrwissen von vornherein in einerExpertenrolle befanden. Das eigene Sach-wissen wurde in Kooperation mit ande-ren gezielt erweitert, wobei sich zahlrei-che Anlässe einer anspruchsvollen Kom-munikation in der Fremdsprache erga-ben.Gleichzeitig bestand die Notwendigkeit,das fremdsprachliche Wissen zu erwei-tern und verschiedene Verfahren derWissens- und Sprachaneignung bei derVorbereitung und Planung der Arbeitund der sukzessiven Verfertigung derfremdsprachigen Texte einzusetzen. DieProzeßhaftigkeit des Lernens und derTextherstellung wurde deutlich erfahr-bar. Durch den thematischen Rahmenwurde ein (fach-)sprachlicher Teilbereichausgewiesen, in dem auch schwierigeSachverhalte in der FremdspracheDeutsch versprachlicht und sachadäqua-te Begriffe verwendet werden mußten.Die hier erworbenen sprachlichen Kom-petenzen sind jedoch zum großen Teilnicht gegenstandsspezifisch, sondernzum einen übertragbar auf andere histo-rische Bezugsfelder, wie zum Beispiel die(BRD- oder DDR-)deutsche Geschichte.Dies gilt umso mehr, da die ungarische

Page 96: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

492

Geschichte vielfache Beziehungen zu derder deutschsprachigen Länder aufweist.Zum anderen mußten Elemente undStrukturen verwendet werden, die allge-mein in schriftsprachlichen deutschenTexten eine Rolle spielen (vgl. Textbei-spiele, Anhang 3).Da die Textbasis durch die Interviewsselbst erstellt wurde, ergaben sich deut-lich vielfältigere Interaktionsmöglich-keiten als bei einer reinen Textarbeit.Über mögliche Inhalte der Gesprächemußte ebenso diskutiert werden wieüber die zu verwendende Interview-und Aufnahmetechnik. Während im Se-minar nur in der Fremdsprache Deutschkommuniziert wurde, wurden die In-terviews fast ausschließlich auf Unga-risch geführt. Damit ergaben sich Fra-gen der Übersetzung und der Übersetz-barkeit.

5.1 Durchführung des SeminarsIm folgenden wird ein kurzer Abriß zurDurchführung des Seminars gegeben,wobei drei Hauptphasen unterschiedenwerden (Vorbereitungs-, Durchführungs-und Schlußphase).

VorbereitungsphaseDas Thema wurde zunächst gemeinsamgenauer eingegrenzt. Dazu mußte ge-klärt werden, welche Interviewpartnerin Frage kamen und welche historischenEreignisse angesprochen werden soll-ten. Man einigte sich auf die Zeit nachdem ersten Weltkrieg bis hin zum aktu-ellen Geschehen. Nach einer vorberei-tenden Hausaufgabe entstand in Ge-meinschaftsarbeit eine Übersicht überwichtige Daten der neueren ungarischenGeschichte als sachliche Grundlage dergeplanten Interviews. Auf der Basis die-ser Daten wurden in Gruppenarbeit zuTeilabschnitten Fragenkataloge entwik-kelt und dann im Plenum diskutiert. DieFragen wurden so formuliert, daß das

Historische mit dem Individuellen, Per-sönlichen in Beziehung gesetzt werdenkonnte (Beispiele in Anhang 1). Sie dien-ten als Leitlinie bei den geplanten Inter-views, wobei je nach Interviewpartnerverschiedene Schwerpunkte gesetztwerden konnten.Die Studierenden besprachen sodannihre Zusammenarbeit in der Durchfüh-rungsphase, die Zeitplanung und dieWahl der Interviewpartner selbständig.Partnerarbeit erschien den meisten fürdie Interviews als am besten geeignet. Beiden zu Befragenden handelte es sichmeist um ältere Familienangehörige(meist Großeltern) oder Bekannte.Zum Abschluß der Vorbereitungsphasewurde ein Zeit- und Arbeitsplan erstellt,in dem genau festgelegt wurde, zu wel-chem Zeitpunkt welche Studierendenwelche Arbeiten im Seminar präsentie-ren. Damit wurde gewährleistet, daß dieeinzelnen Arbeitsschritte von Reflexions-und Evaluationsprozessen begleitet wer-den konnten.

DurchführungsphaseDiese Phase gliederte sich in fünf Ab-schnitte:1. kurze Vorstellung der Person/en, die

befragt werden sollte/n;2. Darstellung des methodischen Vorge-

hens;3. Durchführung der Interviews und an-

schließend mündliches Referieren derwichtigsten Ergebnisse;

4. Austausch der ersten schriftlichen Fas-sungen und Diskussion in der Klein-gruppe;

5. Erstellen einer vorläufigen Endfas-sung.

Schon bei der ersten Vorstellung der zuinterviewenden Personen und des ge-planten Vorgehens ergaben sich Fragenund Anregungen für die weitere Arbeit.Zeitlich gestaffelt präsentierten die Teil-nehmer sodann die wichtigsten Ergeb-

Page 97: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

493

nisse ihrer Interviews. Diese Referatestießen bei den Zuhörern auf starkes In-teresse, da die Inhalte bei den Studieren-den häufig eine unmittelbare Betroffen-heit auslösten. Es gab zahlreiche Nachfra-gen und heftige Diskussionen. Den Stu-dierenden war freigestellt, in welcherForm die notierten oder aufgenommenenGespräche verarbeitet werden sollten. Soentstanden ganz unterschiedliche Texte:vom verschriftlichten (reduzierten) Inter-view über die Beschreibung bis hin zurErzählung. Die ersten schriftlichen Fas-sungen wurden sodann innerhalb vonKleingruppen ausgetauscht, formal,sprachlich und inhaltlich diskutiert unddann entsprechend den Vorschlägenüberarbeitet. Zu diesem Zweck schlossensich zwei bis drei Interviewgruppen zueiner größeren Gruppe zusammen, inner-halb derer dann ›Schreibkonferenzen‹(vgl. z. B. Merz-Grötsch 2003: 810) statt-fanden.

SchlußphaseIn der Schlußphase stellten die Autorendie vorläufigen Endfassungen sukzessivedem Plenum vor. Weitere Anregungenund Überarbeitungsvorschläge wurdenaufgenommen. Erst danach wurde derText von mir bzw. von meiner DaF-Prak-tikantin gelesen und nochmals bespro-chen. Die endgültige Fassung konntedann bis zu einem vereinbarten Termineingereicht werden.Am Ende des Seminars diskutierten dieStudierenden darüber, wie mit den Tex-ten weiter verfahren werden sollte. Ver-einbart wurde, daß alle Teilnehmer dieentstandene Textsammlung erhalten soll-ten. Darüber hinaus sollte versucht wer-den, die Texte einem größeren Publikumzugänglich zu machen. Ein Text konntedirekt am Ende des Seminars in die ger-manistische Studentenzeitung der Uni-versität aufgenommen werden.

In einer abschließenden didaktischen Re-flexion waren z. B. folgende Überlegun-gen von Bedeutung:1. Erfahrungen der Studierenden wäh-

rend des Seminars;2. Schreiben in der Fremdsprache und die

Prozeßhaftigkeit der Textherstellungunter den Bedingungen von Autono-mie und Kooperation;

3. Relevanz der Erfahrungen für die Stu-dierenden in ihrer Rolle als zukünftigeLehrkräfte für Fremdsprachen;

4. Übertragbarkeit des Modells auf schu-lische Situationen.

5.2 DiskussionEs stellt sich hier natürlich die Fragenach der Legitimität des Vorgehens.Diese Frage, ob der Fremdspracherwerb(hier Deutsch in Ungarn) verbundenwerden kann mit spezifisch ungarischenInhalten, wurde auch nach meinem Vor-trag in Göttingen diskutiert. Mehrheit-lich bestand die Auffassung, daß – wiebereits oben ausgeführt – diese Thema-tik zum einen durch ihre hohe persönli-che Relevanz für die Studierenden undzum anderen aufgrund ihrer inhaltli-chen und sprachlichen Übertragbarkeitdurchaus ihre Berechtigung hat. Eswurde zudem hervorgehoben, daß ge-rade solche Sachverhalte auch einemdeutschsprachigen Publikum nahege-bracht werden sollten. Zur Rolle Fremd-sprachenkundiger gehört es ja auch, ihreigenes Land und ihre Geschichte undKultur in den Zielsprachenländern be-kannt zu machen. Insbesondere der In-terkulturalitätsdiskurs hat deutlich ge-macht, daß Fremdspracherwerb nichtals sprachliche und kulturelle Einbahn-straße begriffen werden kann. Es ver-steht sich jedoch von selbst, daß derGeschichte und Kultur der Zielspra-chenländer ebenfalls ein angemessenerPlatz eingeräumt werden muß.

Page 98: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

494

Die Ergebnisse des Seminars legitimie-ren meiner Ansicht nach voll und ganzdie Themenwahl. Die Studierendenwaren von Anfang an bereit, diesen›long term effort‹ zu erbringen. Der Er-halt dieser Motivation und damit dieerfolgreiche Durchführung der Auf-gabe wurde gesichert durch die Gele-genheit zum selbst verantworteten undkooperativ-solidarischen Handeln,durch die Möglichkeit, verschiedeneVerfahren (der Wissens- und Sprachan-eignung) anzuwenden, durch einetransparente Strukturierung (Prozeß-haftigkeit) und durch die wiederholtenund multiplen Reaktionen auf die ent-stehenden Texte.Das bearbeitete Thema war für die Stu-dierenden von unmittelbarem Interesse,da sie ihre eigene Situation und dieihrer Familie und ihres Landes zu denzur Debatte stehenden historischen Er-eignissen in Beziehung setzen konnten(vgl. Textausschnitte Anhang 3). Das In-teresse wurde noch dadurch erhöht,daß das Wissen um die jüngste Ge-schichte im allgemeinen als sehr lücken-haft empfunden wurde (existenzielleund pragmatische Sinnbestimmung,vgl. dazu das Textbeispiel in Anhang 2).Sowohl auf der emotionalen als auchauf der kognitiven Ebene stellte dasThema eine Herausforderung dar, undjedes der durchgeführten Interviewstrug zur Ergänzung und Neuperspekti-vierung vorhandenen Wissens der In-terviewer und der übrigen Seminarteil-nehmer bei.Geschichte erschien den Teilnehmern imMedium der Fremdsprache als leben-dige Erfahrung, wie sie von den Inter-viewten in einer ganz persönlichenWeise erlebt worden war (was impli-ziert, daß keine wie auch immer geartete›political correctness‹ angestrebtwurde). Es entstand dadurch eine natür-liche Mitteilungssituation, die das Auf-

schreiben, das Vortragen der Ergebnisseim Seminar und das Überarbeiten zueiner Selbstverständlichkeit werden lie-ßen (curriculare Sinnbestimmung).Durch die Zielvorgabe und das Rah-menthema ergab sich ein hoher inhaltli-cher und sprachlicher Anspruch und einZusammenhang zwischen den Texten.Überschneidungen und Parallelitätenverdichteten das historische Bild. Durchdas Medium der Fremdsprache wurdejedoch eine quasi natürliche Distanz zuden Ereignissen geschaffen, so daß indiesem Medium auch sensible Fragendiskutiert wurden. Durch die Komplexi-tät und Offenheit der Aufgabenstellungkonnten sich die Studierenden entspre-chend ihrer Möglichkeiten und Interes-sen in eigener Verantwortung ihre Zu-gänge zum Thema schaffen.Es könnte als nachteilig betrachtet wer-den, daß fast alle Interviews auf Unga-risch geführt wurden. Einerseits war daszwar in der Interviewsituation eine Er-leichterung, andererseits aber wurde da-durch von vornherein ein hohes inhaltli-ches und sprachliches Niveau vorgege-ben, das dann anschließend in derFremdsprache seine Entsprechung fin-den mußte.Fremdspracherwerb unter diesen Bedin-gungen war nicht nur von Bedeutung fürden individuellen Lernfortschritt der Stu-dierenden, sondern auch für sie als zu-künftige Fremdsprachenlehrende. DamitErfahrungen integriert werden können inberufsrelevante Handlungsdispositio-nen, müssen sie in Beziehung gesetztwerden zur eigenen (zukünftigen) Unter-richtspraxis. Ein erster Schritt ist eineReflexion über die zugrunde liegendendidaktischen Prinzipien und darüber, inwelcher Weise diese im eigenen zukünfti-gen Fremdsprachenunterricht umgesetztwerden können. Daß die Inhalte dabeider jeweiligen Schülerklientel angepaßtwerden müssen, war für die Studieren-

Page 99: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

495

den offensichtlich1. Für eine stabile Ver-ankerung als zukünftige beruflicheHandlungsdisposition ist es jedoch un-umgänglich, daß ein solches Arbeiten imkonkreten Fremdsprachenunterricht –etwa in universitär betreuten Fachprak-tika – erprobt und reflektiert wird2. Diesgilt umso mehr deshalb, da ein projekt-und schülerorientierter Unterricht immernur dann erfolgreich sein kann, wenn erauf die spezifische Situation einer ganzbestimmten Lerngruppe zugeschnittenwird.

LiteraturBönsch, Manfred: Variable Lernwege. Ein

Lehrbuch der Unterrichtsmethoden. 3. Auf-lage. Paderborn: Schöningh, 2000.

Düwell, Henning: »Motivation, Emotionund Motivierung im Kontext des Lehrensund Lernens fremder Sprachen«, Franzö-sisch heute 33, 2 (2002), 166–181.

Edelhoff, Christoph; Weskamp, Ralf(Hrsg.): Autonomes Fremdsprachenlernen.Ismaning: Hueber, 1999.

Edmondson, Willis: »Fremdsprachendidak-tik dekonstruiert. Eine Replik auf Mi-chael Wendt«, Zeitschrift für Fremdspra-chenforschung 13, 2 (2002), 131–138.

Hatch, Evelyn; Hawkins, Barbara: »Second-language acquisition: an experimentalapproach«. In: Rosenberg, Sheldon(Hrsg.): Advances in applied psycholingui-stics. Volume 2: Reading, writing, and lan-guage learning. Cambridge NY 1987, 241–283.

Hüther, Gerald: Bedienungsanleitung für einmenschliches Gehirn. 3. Auflage. Göttin-gen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2002.

Knapp-Potthoff, Annelie: »Fremdsprachen-lernen, Fremdsprachenforschung undKognition«. In: Bausch, Karl-Richard;Christ, Herbert; Königs, Frank G.;Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.): Kognitionals Schlüsselbegriff bei der Erforschung desLehrens und Lernens fremder Sprachen. Tü-bingen: Narr, 1998, 98–104.

Little, David: »Autonomy in second lan-guage learning. Some theoretical per-spectives and their practical implicati-ons«. In: Edelhoff, Christoph (Hrsg.): Au-tonomes Fremdsprachenlernen. Ismaning:Hueber 1999, 22–36.

List, Gudula: »Zur Rolle von Emotion undAkkomodation in der Interaktion«. In:Bausch, Karl-Richard; Christ, Herbert;Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.): Interaktionim Kontext des Lehrens und Lernens fremderSprachen. Tübingen: Narr, 2000, 154–160.

Merz-Grötsch, Jasmin: »Methoden der Text-produktionsvermittlung«. In: Bredel, Ur-sula; Günther, Hartmut; Klotz, Peter; Os-sner, Jakob; Siebert-Ott, Gesa (Hrsg.): Di-daktik der deutschen Sprache. Band 2. Pa-derborn: Schöningh, 2003, 802–813.

Pommerin, Gabriele; Mummert, Ingrid: »An-sätze einer kreativitätsorientierten Text-analyse und Textüberarbeitung I«, Deutschals Fremdsprache 38, 2 (2001), 67–77.

Portmann, Paul: Schreiben und Lernen.Grundlagen einer fremdsprachlichen Schreib-didaktik. Tübingen: Niemeyer, 1991.

Schocker-v. Ditfurth, Marita: »ForschendesLernen in der Fremdsprachenlehreraus-bildung. Erfahrungen mit einem multi-perspektivischen Ansatz«, Fremdsprachenlehren und lernen 31 (2002), 151–166.

1 Mögliche ›Forschungsthemen‹ für Schüler, die sich projektorientiert durchführen lassen,bieten sich z. B. im Rahmen der Interkulturalitäts- und Mehrsprachigkeitsdebatte an:Sprachen in meiner Familie (welche Sprachen haben meine Eltern, meine Großelterngelernt, Verwandte/Freunde in anderen Ländern), Sprachen an unserer Schule (Sprachender Lehrkräfte, ausländische Schüler), in der Stadt (wo spricht man zum Beispiel Deutsch?)usw. Ergebnisse könnten einem größeren Publikum an einem ›Tag der Sprachen‹ präsen-tiert und/oder in Form einer Textsammlung (natürlich angereichert durch Fotos, Bilder,Karten usw.) Schülern, Lehrern, Eltern zugänglich gemacht werden.

2 Einzelnen Studierenden in Szeged gelang dies im Rahmen ihrer auf das FachpraktikumBezug nehmenden Diplomarbeit. Voraussetzung dafür war allerdings, daß den Studie-renden vom Betreuungslehrer inhaltlich und zeitlich Handlungsspielraum gegebenwurde, was keinesfalls selbstverständlich war.

Page 100: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

496

Schocker-v. Ditfurth, Marita: ForschendesLernen in der fremdsprachlichen Lehrerbil-dung. Grundlagen, Erfahrungen, Perspekti-ven. Tübingen: Narr, 2001.

Timm, Johannes-Peter: »Zur Rolle von Ko-gnitionen in einem lernerorientiertenFremdsprachenunterricht«. In: Bausch,Karl-Richard; Christ, Herbert; Königs,Frank G.; Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.):Kognition als Schlüsselbegriff bei der Erfor-schung des Lehrens und Lernens fremderSprachen. Tübingen: Narr, 1998, 168–178.

Tönshoff, Wolfgang: »Zur Funktion desFaktors ›Interaktion‹ im Fremdsprachen-unterricht«. In: Bausch, Karl-Richard;Christ, Herbert; Krumm, Hans-Jürgen(Hrsg.): Interaktion im Kontext des Lehrensund Lernens fremder Sprachen. Tübingen:Narr, 2000, 234–240.

Vogel, Klaus: »Interaktion und Kognition inder Lernersprache«. In: Bausch, Karl-Richard; Christ, Herbert; Krumm, Hans-Jürgen (Hrsg.): Interaktion im Kontext desLehrens und Lernens fremder Sprachen. Tü-bingen: Narr, 2000, 249–257.

Vollmer, Helmut J.: »Dem Lerner auf derSpur: Kognitive, emotionale und interak-tive Aspekt des Fremdspracherwerbs«.In: Bausch, Karl-Richard; Christ, Herbert;Königs, Frank G.; Krumm, Hans-Jürgen(Hrsg.): Kognition als Schlüsselbegriff beider Erforschung des Lehrens und Lernensfremder Sprachen. Tübingen: Narr, 1998,197–206.

Wendt, Michael: »Kontext und Konstruk-tion: Fremdsprachendidaktische Theorie-bildung und ihre Implikationen für dieFremdsprachenforschung«, Zeitschrift fürFremdsprachenforschung 13 (2002), 1–62.

Weskamp, Ralf: »Unterricht im Wandel –Autonomes Fremdsprachenlernen alsKonzept für schülerorientierten Fremd-sprachenunterricht«. In: Edelhoff, Chri-stoph (Hrsg.): Autonomes Fremdsprachen-lernen. Ismaning: Hueber, 1999, 8–21.

Woods, Devon: Teacher Cognition in Lan-guage Teaching: Beliefs, Decision-Making &Classroom Practice. Cambridge: Univer-sity Press, 1996.

Wolff, Dieter: Fremdsprachenlernen als Kon-struktion. Grundlagen für eine konstruktivi-stische Fremdsprachendidaktik. Frankfurt:Lang, 2002a.

Wolff, Dieter: »Fremdsprachenlernen alsKonstruktion. Einige Anmerkungen zueinem viel diskutierten neuen Ansatz inder Fremdsprachendidaktik«, Babylonia 4(2002b) (Jahrgang und Seitenzahl nichtermittelbar. Zugriff am 31.3.2004 unterwww.babylonia-ti.ch/BABY402/dis-kwoolfde.htm.

Wolff, Dieter: »Zu den Beziehungen zwi-schen Theorie und Praxis in der Entwick-lung von Lernerautonomie«. In: Edelhoff,Christoph (Hrsg.): Autonomes Fremdspra-chenlernen. Ismaning: Hueber, 1999, 37–49.

Zimmermann, Günther: »Rolle und Funk-tion der Begriffe ›Kognition‹ und ›Emo-tion‹ bei der Erforschung des Lehrensund Lernens fremder Sprachen«. In:Bausch, Karl-Richard; Christ, Herbert;Königs, Frank G.; Krumm, Hans-Jürgen(Hrsg.): Kognition als Schlüsselbegriff beider Erforschung des Lehrens und Lernensfremder Sprachen. Tübingen: Narr, 1998,207–217.

Anhang 1Beispiele aus dem FragenkatalogHast du oder deine Familie Auswirkungender Inflation und der Wirtschaftskrise er-fahren?Welche Sprachen wurden (vor dem II. Welt-krieg) in der Familie gesprochen?Welche Auswirkungen hatte der Kriegsein-tritt auf das alltägliche Leben?Haben Angehörige oder Bekannte am Dongekämpft?Wie habt ihr die ›Befreiung‹ durch die so-wjetische Armee erlebt?Wie hast du die erste Kollektivierung undVerstaatlichung erlebt? Mußtest du viel-leicht eine andere Berufstätigkeit ausübenoder den Arbeitsplatz wechseln?Hast du oder Bekannte oder Verwandte ander Revolution teilgenommen?Heutzutage bildet sich ein Mythos der schö-nen glücklichen 60er-Jahre. Bist du damiteinverstanden oder glaubst du, daß es sichum eine falsche Nostalgie handelt?Kennst du Menschen, die während derKádár-Diktatur im Gefängnis waren?Welche Veränderungen waren für dich per-sönlich ab 88/89 zu spüren?

Page 101: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

497

Anhang 2Beispiel für Motivation durch persönlichenBezug(Aus dem Text einer Studentin):Ich habe mir lange überlegt, mit wem ichdas Interview machen soll. Mein Großvaterist mir nicht gleich eingefallen. Ich weißnicht, warum. Dann habe ich meine Muttergefragt, was sie von dieser Idee hält, mitGroßvater ein Interview über die Ereignissevon 1956 zu machen. Sie meinte, er würdebestimmt nicht viel und gerne über dieseZeit sprechen wollen, wenn es nicht seinmuß. Großvater hat nie etwas über ‘56erzählt. Er war damals Polizist.Jetzt wollte ich das Interview noch liebermit ihm machen!

Anhang 3Ausschnitte aus den Endfassungen zu zweiMotiven1

Die Ausschnitte zu Ereignissen währenddes Zweiten Weltkriegs und während derRevolution von 1956 zeigen, daß die Vor-gänge unter einer ganz persönlichen Per-spektive thematisiert und emotional quali-fiziert werden. Sie zeigen oft ganz verschie-dene individuelle Erfahrungen zu den ›glei-chen‹ Ereignissen. Gerade dadurch werdensie für Schreiber und Leser interessant. Un-mittelbar evident ist auch, daß die Textereichlich Anlaß für Gespräche und Diskus-sionen bieten.

I. Textausschnitte zu Ereignissen währenddes Zweiten WeltkriegsText 1:Ich habe noch heute das Gesicht meinerMutter und meiner Frau vor mir, als ichihnen den Einberufungsbefehl zeigte. Ichwollte stark sein, ich beruhigte sie: »Ichkomme zurück!«, aber in meiner Seele warich voll mit Zweifeln. Ich wußte nämlichganz sicher, daß ich zur Donkurve gehenmuß. Die Regierung gab uns nicht viel Zeit.Innerhalb einer Woche mußten wir unserepersönlichen Sachen in Ordnung bringenund Abschied von den Freunden nehmen.Ich erinnere mich noch gut, was mein Vatermir gesagt hat: »Du mußt es überleben undwieder heimkehren, aber vergiß nicht, du

sollst Mensch bleiben!« Damals habe ichseine Worte nicht ganz verstanden, heuteaber weiß ich, was er damit gemeint hat.Meine Mutter gab mir ihr Gebetbuch, dasich dann immer bei mir hatte. Aber dasLiebste war mir der Ring an meinem Finger,der mir immer Kraft gab, nicht aufzugebenund neben den Schrecknissen des Kriegesdie Liebe in meinem Herzen zu bewahren.Wir hatten noch Glück, denn wir wurdenmit Lastwagen und mit dem Zug in dieDongegend gebracht. Aber dort war esnoch viel schrecklicher als ich gedacht hatte– blutüberströmte Leichen überall, Männer,die noch am Leben waren, aber alle ihreGliedmaßen verloren hatten.

Text 2:Ich habe mich so gefühlt, als ob es einer derwichtigsten Tage meines Lebens ist. Ichdachte, daß das Interesse unserer Heimat eserfordert, daß wir die Heimat weit entferntvon unserem Vaterland verteidigen müs-sen. Wir wußten, daß wir gehen müssen,aber wir haben gehofft, daß unsere Famili-enangehörigen in Sicherheit sind. Sehr vieleMenschen wollten von uns Abschied neh-men. Sie haben Zigaretten und Blumen inunsere Waggons geworfen.

Text 3:Die Nationalsozialisten haben schon 1944/45 viele junge Schwaben für die deutscheArmee rekrutiert. Die, die mitgenommenwurden, sind entweder da geblieben odersind gestorben. Von Einigen hat man niewieder gehört. Es gab aber auch Ungarn,die in die deutsche Armee gingen. Solchekannte mein Großvater auch. Die verstehter aber bis heute nicht.

Text 4:Die Kinder der Urgroßmutter wurden we-gen ihrer deutschen Abstammung währenddes Zweiten Weltkrieges nach Rußland ver-schleppt, die Tochter am 5. Januar und derSohn am 6. Januar 1942. Die Tochter kehrtean Weihnachten 1945 wieder zurück, vondem damals 16jährigen Károly erfuhr dieFamilie später nur, daß er 1945 verhungertsei.

1 Um die Anonymität zu wahren, sind Namen von Personen oder auch von Dörfernausgelassen.

Page 102: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

498

II. Textausschnitte zu den Ereignissenvon 1956Text 11956 habe ich bereits die zweite Klasse desGymnasiums in […] besucht. Zuerst erhiel-ten wir nur wirre Nachrichten darüber, wasim Kommen ist. Wir wußten aber nichtsKonkretes. Am 23. Oktober sind zwei Medi-zinstudenten zu uns in die Schule gekom-men und haben eine Versammlung in unse-rer Turnhalle gehalten. Dort erfuhren wir,daß die Ereignisse in Budapest eigentlichschon begonnen haben und die Revolutionim Land ausgebrochen ist. Dann haben sieuns zu einer Demonstration eingeladen.Eine große Menschenmasse ist vor unsererSchule vorbeigezogen, und wir schlossenuns ihnen an.Wir sind in die größte Eisenbahnwaggon-Fabrik gegangen, wo der Stern abgehauenwurde, während wir Parolen wie »Russengeht nach Hause!« und »Wir wollen Trans-sylvanien zurück!« hörten.

Text 2Der Terror wurde allgemein. Die Leute hat-ten Angst, daß sie irgendwann auch mitge-nommen und auch verschwinden werden.Kein Wunder, daß sie wütend waren. Dazukam, daß das Realeinkommen sank. Es gabkeine Kohle, um zu heizen. Und es gab zuwenig Essen. Aber in den Zeitungen lasensie, daß die Einwohner sehr zufrieden undglücklich seien, was überhaupt nichtstimmte.

Text 3Die Leute vom ÁVH (ungar. Staatssicher-heitsbehörde) wurden nach wie vor von der

Bevölkerung gejagt, und auch in […] wur-den welche getötet. Sie wurden erhängt.Neben der Straße an einem Baum aufge-hängt, damit jeder vom ÁVH sieht, was mitihm passieren kann. Ich hatte einen Bekann-ten, der bei der ÁVH war. Ich habe ihntagelang versteckt.

Text 4Auch auf dem Lande waren die Leute un-zufrieden, und eine kleine Demonstrationfand auch in […] statt. Die Organisatorenwaren die Eisenbahner, ihnen schlossensich die Grenzwächter, die Soldaten undEinwohner, später auch die Polizei an. DiePolizei hat die Organisatoren mit Waffenausgerüstet und ihnen geholfen, die Ruhezu erhalten. […]Nachdem die Revolution in Budapest nie-dergeschlagen worden war, veränderte sichdie Situation in […]. Obwohl die revolutio-nären Einwohner nichts Gewaltsames getanhatten, wurde kräftig Vergeltung geübt. […]in der Nacht verhaftete die Exekutive dieLeiter des revolutionären Nationalkomiteesund brachte sie gefesselt in die Polizeista-tion nach […].

Text 5Nach der Meinung von […] war das Zielder Revolution die Schaffung einer bedroh-lichen beängstigenden Atmosphäre. Es seischwierig für alle gewesen, gegen die all-täglichen Intrigen zu kämpfen. Die Men-schen konnten ihrer Arbeit nicht ungestörtnachgehen, denn sie wurden gegeneinan-der aufgehetzt. Nachdem die Revolutionniedergeschlagen worden war, wurden imKomitat mehr als 400 Menschen erhängt.

Page 103: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

499

Workshops des Kontaktstudi-ums „Sprachandragogik –Fremdsprachen für Erwachsene“am 8./9. Oktober 2004 in Mainz

Und wo bleibt die Aussprache? Wegezur Vermittlung von Rhythmus, Intona-tion und Artikulation der FremdspracheDie Entwicklung des Fremdsprachenun-terrichts von der Inhalts- zur Teilnehmer-orientierung führt zu einem größerenStellenwert der Aussprache. Welche Bedeutung und Funktion kanndie Aussprache im modernen Fremd-sprachenunterricht für Erwachsene ha-ben?Was sind die Eigenarten des Rhythmus,Klangs und der Melodie der Zielspracheund wie können sie vermittelt werden?Wie sehen Übungen aus, welche die Re-zeptivität fördern und die Wahrnehmungder Unterschiede zwischen Mutterspra-che und Fremdsprache erhöhen?Welche Fehler erscheinen bei der Aus-sprache der Laute in der Fremdsprache,wie können sie korrigiert werden, ohnedass die/der Lernende die Lust an derSprache verliert, sondern animiert wird?Wie können die Teilnehmer/innen fürdie artikulatorischen Vorgänge im Kör-per sensibilisiert werden?Wie kann man mit Hilfe von (Körper-)Bewegungen die rhythmischen, melodi-schen und lautlichen Charakteristika derFremdsprache „übersetzen“ und da-durch ihre Wahrnehmung und Repro-duktion fördern?

Welche Unterstützung bei der Vermitt-lung von „Phonetik“ können Gedichteleisten? Wie können sie zur Sensibilisie-rung und zum Interesse für die fremdeSprache beitragen?Gibt es schriftliche Übungen, die es er-möglichen, schriftlichen Ausdruck undIntonation bzw. Grammatik und Rhyth-mus zu verbinden?Wie kann das praktische Wissen der Teil-nehmer/innen über Aussprache und In-tonation eruiert werden, wo setzt die/derLehrende an, ohne die Lernenden mittheoretischem Wissen zu überfordern?In den sprachspezifischen Workshopsder nächsten Lerneinheit des Kontaktstu-diums „Sprachandragogik – Fremdspra-chen für Erwachsene“ am 08./09. Okto-ber 2004 sollen auf diese Fragen praxisbe-zogene Antworten gefunden werden.Das Kontaktstudium ist ein Weiterbil-dungsangebot für Lehrende von Fremd-sprachen in der Erwachsenenbildung,das an der Johannes Gutenberg-Universi-tät Mainz stattfindet.Ausschreibungen und Informationen zurLerneinheit oder zum Kontaktstudiumerhalten Sie beim Zentrum für wissen-schaftliche Weiterbildung der JohannesGutenberg-Universität Mainz, 55099Mainz, unter der Telefonnummer 0 61 31/ 39 - 2 60 80 sowie per E-Mail unter [email protected] informieren Sie sich online unterwww.sprachandragogik.uni-mainz.de

Gunther Blessing

Info DaF 31, 1 (2004), 499

Tagungsankündigung

Page 104: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

500

Gabriele Leupold; Eveline Passet; OlgaRadetzkaja; Anna Schibarowa; AndreasTretner:Spurwechsel. Ein Film vom Übersetzen.Ca. 90 Min. Gefördert von der RobertBosch Stiftung sowie dem DeutschenÜbersetzerfonds e. V. und der BerlinerSenatsverwaltung für Wissenschaft, For-schung und Kultur. Bestellungen: [email protected]: für Privatpersonen Video 20 €,DVD 25 €, für öffentliche Nutzung Preiserfragen.

(Viola Theunissen, Novgorod)

Bleibt beim literarischen Übersetzendie Kultur auf der Strecke?Wie oft haben sich Übersetzer geärgert,wenn aus Sorglosigkeit Ihre Namensnen-nung in den von ihnen geleisteten Über-setzungen in Büchern, Rundfunksendun-gen oder Filmen fehlte. Wo doch derpräsentierte Text ihr Text ist. Zu oft wer-den sie vergessen, wenn nur noch derRuhm des Autors zählt und wirkt, so alshabe dieser sein Buch auf Deutsch ge-schrieben.Mehr und mehr rückt aber das Übersetzenins Blickfeld. Die Frankfurter Buchmesse –eigentlich eine große Messe übersetzterLiteratur – thematisierte letzten Oktobererstmals diesen wichtigen Schritt einerBuchproduktion und richtete ein Über-setzerzentrum für interessiertes Laien-und Fachpublikum ein. Da gaben Vorträ-ge Einblicke in die Arbeit der Sprach-künstler und es wurde immer wieder einVideofilm vom Übersetzen gezeigt.Diesen Film, von den Menschen ge-macht, die fremde Kultur sprachlich er-

fahrbar machen, rückte StaatsministerinChristina Weiß bei der Buchmesseneröff-nung ins Zentrum ihrer Ansprache undlobte die Übersetzer als Mauerspechte,die sich auf die andere Seite der Grenzebegeben haben und sich mit ihr vertrautgemacht haben, um dann »das in FremdeGebannte« in der eigenen Sprache zuerlösen und sie so zu bereichern und zudifferenzieren.Nur mit ihnen, die sich schon lange vorden hiesigen Konsumenten auf den Wegin die andere Kultur gemacht hatten undjetzt als Experten gelten können, wird dieBegegnung mit der anderen Kultur mög-lich. Und mit ihr der Beginn eines lang-wierigen Prozesses des Miteinander-Kommunizierens der Kulturen.Aber wie viel weiß der Laie von der soviel gefragten Arbeit des literarischenÜbersetzens? Wenig Licht war bisher au-ßerhalb der Zunft auf die im DunkelnArbeitenden gefallen. Ein kleines Büch-lein für den interessierten Leser von CarlDedecius, Vom Übersetzen, ist seit Jahrenvergriffen. Und in unserer computerisier-ten Welt meint sogar so mancher, Über-tragen von einer Sprache in die andereließe sich 1 : 1 mit neuartiger Softwarebewerkstelligen. Doch selbst mit trocke-nen Fachtexten funktioniert das nicht. Soerst recht nicht mit literarischen Texten.Erstmals versucht also ein Videofilm,Mühen wie Glück fremder Kultur eineeigene Sprache zu geben, aufzureißen.»Spurwechsel« heißt der Film und sinn-fällig sein Titel.Nach der polnischen Grenze, in Weiß-Rußland, muß das Fahrgestell der Fern-züge ausgetauscht werden. Der ganzeZug wird hochgehievt – mit den Fahrgä-

Rezensionen

Info DaF 31, 4 (2004), 500–503

Page 105: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

501

sten darinnen –, denn die Spur der Gleisein Rußland ist eine andere – breiter. Wastut aber der Text, der diesen Weg geht –von einem Land ins andere, von einerSprache in die andere? Russisch –Deutsch, Deutsch – Russisch mag hierexemplarisch stehen für das Transportie-ren zwischen den Kulturen, den Spra-chen überhaupt und nicht zuletzt auchlange genug zwischen den Systemen.Und in der DDR wußten die Sprach- undKulturmittler oft die Spannweite des Be-deutungsfeldes beim Übersetzen zu nut-zen und weiteten den Freiraum mehr alsdie Autoren. Der Film »Spurwechsel«zeigt, wie spannend es ist, gerade indiesem Spannungsfeld den Erinnerun-gen namhafter Übersetzer – wie in die-sem Fall Thomas Reschke – zu lauschen(er übersetzte u. a. Bulgakov, Zoščenko,Pasternak).Der Film bleibt in Bewegung. Immer wie-der fährt die Moskauer Metro durchs Bildmit ihren vor dem Anfahren geräuschvollsich schließenden Türen oder ihren schierendlosen Rolltreppen in den Untergrundund wieder hinauf. Berliner S-Bahnzügerappeln durch den Film.Und eingeblendet werden zu Beginn pro-vokante Äußerungen wie die der Dosto-jevskij-Übersetzerin Swetlana Geier:»Keine Sprache eignet sich, in eine an-dere übersetzt zu werden«.Und waren nicht gerade die deutschenÜbersetzungen russischer Literatur oftrecht merkwürdig? Sie leisteten so man-ches Mal bei allem Interesse des Leserseinem kulturellen Unverständnis Vor-schub. Reichlich fremd muten da Aus-rufe und Anredeweisen der Romanfigu-ren an: »Söhnchen«, »Täubchen«. DieseRussen! kann man da nur konstatieren. –Diese Russen? – Wo und wie wechselt derText am besten die Spur? Soll er so merk-würdig fremd bleiben? Wo soll er über-haupt ankommen?

Wohl doch hier in Deutschland. Und dasmacht dann das Glück des Übersetzersaus: Wenn der transportierte Text in derdeutschen Sprache ankommt und so le-bendig ist, daß er sie in Bewegung setzt –sie ansteckt mit seiner Neuartigkeit, dieaber nicht im Befremden steckenbleibt.Das Transportieren hat dann dem Über-setzer große Mühen abverlangt, dennÜbersetzen ist Arbeit, oft verzweifelte;aber im Idealfall merkt man diese demangekommenen Text nicht an. Dann be-geistert sie, wird auch zum Kultbuch,denn ihr ist es gelungen, den Geist derErzählung zu transportieren.Für das Video interviewten fünf Überset-zerInnen zehn renommierte Übersetze-rInnen und gruppierten sie zu fünf Ge-sprächen, in denen im Wechsel sich eindeutscher und ein russischer Übersetzerzu zentralen gemeinsamen Themen äu-ßern:– Gabriele Leupold und Sergej Romaško:

Fremde Wörter, Zitate;– Swetlana Geier und Michail Rudnickij:

Körpersprache, Sprachkörper;– Dorothea Trottenberg und Marina Ko-

reneva: Das Gepäck der Wörter;– Ilma Rakusa und Tat’jana Baskakova:

Das Echo des Originals;– Thomas Reschke und Solomon Apt:

Der Geist der Erzählung.Oft betrauerter Verlust von Bedeutungs-ebenen und Nuancen des Originals ge-rade großer Dichter, die ihrer SpracheUngewöhnliches entlocken, der dannbeim Sprach- und Spurwechsel unver-meidlich scheint, ist natürlich auchThema der Gespräche. Doch die Fragewird von den Übersetzern andersherumformuliert: Was kann man vom Originalrüberretten? Und wunderbare Beispielebezeugen, daß das Jonglieren in der Ur-sprungssprache in ein ein wenig ande-res Spiel mit der eigenen Sprache über-setzbar ist. Das ist hohe Kunst, denn dieSprachsysteme sind in sich geschlossen

Page 106: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

502

und für den Übergang in das andereSprachsystem muß man die Spur wech-seln. Faszinierend den Beispielen desFilms zu lauschen. Strukturelle Differen-zen der Sprachen machen da dem Über-setzer zu schaffen: Welchen Ersatz fürdie typisch deutschen Nominalkompo-sita findet man im Russischen? Welchedeutschen Entsprechungen finden sichfür die unendlich reiche Auswahl anSuffixen, angefügte Wortbildungsele-mente, die die russische Sprache modu-lieren?Sprache vergleicht man in Hinblick aufihre Fähigkeit, die Welt abzubilden. Manahnt, daß hinter einer anderen Sprach-struktur ein anderes Weltverständnissteht. Und Wörter klingen in kulturhisto-risch gewachsenen Resonanzräumen.Dieser »Hinterhof« bleibt beim Überset-zen manches Mal auf der Strecke. Und sozieht sich durch die fünf Gespräche einThema: Kultureller Kontext läßt sichnicht ohne weiteres beim Spurwechseldes Übersetzens mittransportieren.Beispielhaft für den Wandel eines Wortesin einer Kultur zeigt Marina Korenevadie Bedeutungsverschiebung des Wortes»Ehre«. Von der Bezeichnung für ein ge-sittetes, anständiges Individuum beiPuschkin bis zur Vereinnahmung durchdie Partei zu Sowjetzeiten. Auf diesemMoral-Hintergrund sowie dem, durchAuswendiglernen von Kindesbeinen anausgeprägten russischen Gefühl für Lite-ratursprache funktioniert der für deut-sche Ohren so wüste sexualsprachlicherussische »mat«. In manchen Dissiden-tenkreisen war er ein Muß. Es ist leiderdas schwächste Kapitel des Films. Derskandalöse Tabubruch, den die Verwen-dung der russischen Untergrundsprachein der neueren Literatur bedeutet, wird inseiner breit gefächerten Anwendung be-leuchtet, bleibt aber ohne Beispiel unddamit für den des Russischen nichtMächtigen nicht nachvollziehbar.

Spannend aber die Repliken der beidenÜbersetzer Swetlana Geier und MichailRudnickij. Sie hat Furore gemacht mitihren Neuübersetzungen der großen Ro-mane Dostoevskijs, mit denen sie seinerSprache im Deutschen endlich gerechtzu werden suchte: seiner Modernitätund der Polyphonie der Stimmen derRomanfiguren. Rudnickij hat sich mitÜbersetzungen Franz Kafkas, ThomasBernhards und Christa Wolfs in Ruß-land einen Namen gemacht. Es geht umdas Körperliche in der Sprache. Um Kaf-kas Erzählweise, das Merkwürdige na-türlich und das Natürliche merkwürdigerscheinen zu lassen. Die Dostoevskij-Übersetzerin wiederum ließ die Fragenicht los, wie eine Kapitelüberschrift derBrüder Karamasov zu übersetzen sei:»Nadryv«, was die bewußte Selbstzer-störung als eine Möglichkeit der Freiheitbezeichnet. Und sie betont wie wichtiges ist, Begriffe in ihrer Wiederholung,aber getrennt von Hunderten von Sei-ten, beizubehalten und nicht durch Syn-onyme zu ersetzen.Vergnüglich, wie Ilma Rakusa ihre Auf-fassung vom Russischen als der wärme-ren, Gefühle differenzierenden Spracheillustriert: mit 65 Diminutivformen desweiblichen Vornamens Ekaterina. Sieund ihre Partnerin im Gespräch, Tat’janaBaskakova, lassen ganz besonders dieLiebe zu beiden Sprachen spüren, diebeider Übersetzerinnenleben erfüllt. Vonletzterer kommen auch die philoso-phischsten Gedanken des Films übersÜbersetzen. Und sie veranschaulicht dasschwierige Importieren des fragmentari-schen, expressionistischen Bewußtseins-stroms Döblins oder das sanfte Figuren-charakterisieren mit eigens kreierten rus-sischen Sprachmitteln; denn wie sonstsoll man deutschen Dialekt im dialektlo-sen Russischen wiedergeben?Und es gibt doch wohl auch den nichtübersetzbaren Text? Besonders Dichter

Page 107: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

503

fühlten sich herausgefordert von groß-artigen Sprachspielen in der Fremdspra-che. Hier muß der Dichter Übersetzerdes Dichters sein. Tat’jana Baskakovazeigt wunderbar, wie Paul Celan denSprachkünstler Velimir Chlebnikovübersetzte, der mit russischen Suffixenspielte. Celan behalf sich mit Adjekti-ven: »Luftiger Luftold«, »Sitziger Set-zold«.Wird das Russische als emotional emp-funden, so ist das Deutsche für russischesVerständnis genauer. Große Schwierig-keiten hat da Sergej Romaško, die LyrikDurs Grünbeins ins Russische zu übertra-gen, denn diese Sprache gemahnt imRussischen eher an Buchhaltung oderBilanzen.Der Film erzählt von Irrtümern, denenman leicht aufsitzt, weil man Internatio-nalismen lateinischen Ursprungs ver-wendet und meint, so Mißverständnissenaus dem Weg zu gehen. Lateinische Wör-ter sind im deutschen Sprachraum ge-schichtlich verwurzelt, doch der Russefängt bei Begriffen wie »Diskurs« an zu

rudern und muß sich die Assoziationenerst erschließen.Wichtig, und das wird deutlich, ist letzt-endlich, sich nicht am Geist der Erzäh-lung zu versündigen; auch wenn bei-spielsweise Ironie mal an einer Stellenicht transportabel ist, ist sie dann ebenan anderer Stelle möglich.Es ist ein feinfühliger Film, der zeigt, wiebehutsam die Übersetzer mit der Spracheumgehen, wie sie »im Sprachmaterialwühlen« und in einem geglückten Trans-portieren ihre Erfüllung finden. Und erstellt die Persönlichkeiten bildhaft vor,die uns das Original vermitteln, denn siesind es, die uns mit all ihrer individuellenErfahrung und eigenen Geschichte denfremdsprachigen Text übermitteln.Man kann den Film käuflich erwerben. Erist eine Fundgrube als Einführung in dieProblematik des literarischen Überset-zens für schulische oder universitäre Se-minare genauso wie für den privatenWunsch, einmal einen Einblick ins litera-rische Übersetzen zu bekommen oderanderen zu gewähren.

Page 108: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

504

Feruzan Akdogan Dr. phil. habil.; Studium der Fächer Ger-manistik und Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum; nach Abschluß derPromotion Zusatzausbildung für den hö-heren Bibliotheksdienst; derzeit als Do-zentin für deutsche Literaturwissen-schaft und Didaktik an der Abteilung fürDeutsche Sprache und ihre Didaktik derUniversität Marmara tätig. Forschungs-schwerpunkte: Neuere deutsche Litera-turwissenschaft, Literaturdidaktik,Deutschdidaktik und Frühfremdsprach-licher Deutschunterricht

Ursula Boos-Nünning Dr. phil.; geb. 1944; Professorin für Mi-grationspädagogik an der UniversitätDuisburg/Essen; Mitglied des Bundesju-gendkuratoriums; arbeitet seit 1971 zuFragen der schulischen, beruflichen undsozialen Situation von Kindern und Ju-gendlichen mit Migrationshintergrund.Veröffentlichungen u. a.: Die schulischeund berufliche Bildung von Schülern undSchülerinnen türkischer Herkunft. Berlin1999; »Interkulturelles Lernen in der Be-rufsbildung«, Deutsch lernen 4 (1994),307–322 (zusammen mit Renate Ren-scheid); »Muttersprachliche Klassen fürausländische Kinder: Eine kritische Dis-kussion des bayerischen ›offenen Mo-dells‹«, Deutsch lernen 2 (1981), 40–79.

Stefan HajdukDr. phil.; Studium der Germanistik, Phi-losophie und Theaterwissenschaft inFrankfurt am Main, München, Rom, Nea-pel, Baltimore; 1999 Promotion an derHumboldt-Universität zu Berlin; seit2000 Assistant Professorship an der Uni-

versität Pune; DAAD-Lektorat für Litera-turgeschichte. Er ist Autor des Buches DieFigur des Erhabenen. Robert Musils ästheti-sche Transgression der Moderne (Würzburg2000); Publikationen und derzeitige For-schungsarbeit über Interkulturelle Her-meneutik sowie über die Experimental-kultur(en) der Moderne um 1900.

Alexis NgatchaGeb. 1954; Studium der Germanistik undErziehungswissenschaften an der EcoleNormale Supérieure Yaoundé/Kamerun,1981–1988 Deutschlehrer am Lycée Oba-la; 1991 Promotion und 2002 Habilitationan der Universität Hamburg im FachSprachlehrforschung; seit 2003 Professorfür Sprachlehrforschung/DidaktikDeutsch als Fremdsprache an der Univer-sität Yaoundé I.

Margarete OttDr. phil.; Universität Osnabrück, Fachbe-reich Sprach- und Literaturwissenschaf-ten. Studium der Germanistik, Geografieund Erziehungswissenschaften für dasLehramt. Tätigkeit als Lehrerin in derPrimar- und Sekundarstufe. VHS-Dozen-tin für Deutsch als Fremdsprache. 1997Promotion im Fach Germanistik mit an-schließendem Hochschulstipendium undLehrtätigkeit an der Universität/Gesamt-hochschule Siegen (Spracherwerb,Deutsch als Zweit- und Fremdsprache,Fachdidaktik). 1999–2002 DAAD-Lekto-rin am germanistischen Institut der Uni-versität Szeged/Ungarn.

Dietmar RöslerVon 1986 bis 1996 Hochschullehrer amDepartment of German des King’s Colle-

Über die Autoren/Abstracts

Page 109: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

505

ge der University of London. Seit 1996Professur für Deutsch als Zweit- undFremdsprache an der Justus-Liebig-Uni-versität Gießen. Forschungsschwerpunk-te: das Verhältnis von gesteuertem undnatürlichem Zweit- und Fremdsprachen-lernen, Lehrmaterialanalyse, Interkultu-relle Kommunikation, Grammatikver-mittlung und Sprachtechnologie undFremdsprachenlernen. Ausführliche In-formationen finden sich unter: http://www.uni-giessen.de/~g91010/roes-ler.htm.

Corinna ScheurerStudium der Fächer Deutsch und Franzö-sisch für das Lehramt an Gymnasien anden Universitäten Frankfurt a. M. undParis III; 1. und 2. Staatsexamen; freibe-rufliche Autorentätigkeit für den StarkVerlag München; seit September 1999DAAD-Lektorin an der Universität Fran-çois Rabelais in Tours/Frankreich.

Thomas Schwarz Dr. phil.; geb. 1954; Leiter des BereichsDatensammlung an der EuropäischenStelle zur Beobachtung von Rassismusund Fremdenfeindlichkeit in Wien undbis 2003 stellvertretender Leiter des Berli-ner Instituts für Vergleichende Sozialfor-schung; arbeitet seit 1985 zu Fragen derZuwanderungs- und Integrationspolitikin Deutschland. Veröffentlichungen u. a.:»Integrationspolitik als Beauftragtenpoli-tik: Die Ausländerbeauftragte des BerlinerSenats«. In: F. Gesemann (Hrsg.): Migrati-on und Integration in Berlin. Opladen 2001;Zuwanderer im Netz des Wohlfahrts-staats. Türkische Jugendliche und die Ber-liner Kommunalpolitik. Berlin 1992.

N. Anuradha SrinivasanDr. phil.; Assistent-Professor for Germanam Department of Management Studies,Indian Institute of Science in Bangalore/Indien.

Page 110: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

506

Schw

äche

n u

nd F

ehle

r d

er V

erga

ngen

heit

wir

ken

sich

bis

in

die

Geg

enw

art a

us.

Info

DaF

31,

4 (2

004)

, 400

–421

Urs

ula

Boo

s-N

ünni

ng u

nd T

hom

as S

chw

arz:

Tra

dit

ion

en d

er E

ingl

ie-

der

un

g vo

n M

igra

nte

n i

n d

er B

un

des

rep

ub

lik

Deu

tsch

lan

d a

mB

eisp

iel d

er B

ild

un

gs- u

nd

Soz

ialp

olit

ik

Zu

wan

der

ungs

pol

itis

che

Mod

elle

und

die

bild

ungs

- und

soz

ialp

o-lit

isch

en K

onze

ptio

nen

für

Kin

der

aus

Zuw

and

erer

fam

ilien

bild

e-te

n nu

r in

der

ers

ten

Pha

se d

er d

euts

chen

Ein

wan

der

ung

, als

es

um

Ver

trie

bene

und

Flü

chtl

inge

gin

g, e

ine

Ein

heit

– u

nd d

iese

s M

odel

lw

ar e

rfol

grei

ch. D

ie G

rupp

en d

er A

rbei

tsm

igra

nten

, der

Flü

chtl

in-

ge u

nd d

er A

uss

ied

ler

hatt

en n

icht

nu

r w

echs

elnd

e u

nd i

nkon

si-

sten

te P

olit

iken

, son

der

n d

arü

ber

hina

us

Wid

ersp

rüch

e zw

isch

end

en b

eid

en P

olit

ikbe

reic

hen

zu e

rtra

gen

mit

der

Kon

sequ

enz,

daß

wen

ig b

ewir

kt w

urd

e. E

ntsc

heid

ungs

schw

äche

n au

f der

Ebe

ne d

esZ

entr

alst

aate

s un

d f

öder

alis

tisc

hes

Kom

pete

nzge

rang

el i

n d

enB

und

eslä

nder

n ha

ben

eine

eff

ekti

ve P

olit

ik, a

ber

auch

den

Au

sbau

ange

mes

sene

r B

ildun

gs-

und

Ber

atun

gsan

gebo

te v

erhi

nder

t. D

ie

Info

DaF

31,

4 (2

004)

, 455

–461

N.

Anu

radh

a Sr

iniv

asan

: In

terk

ult

ure

lles

Kon

zep

t b

eim

Fre

md

-sp

rach

ener

wer

b –

zw

isch

en T

heo

rie

un

d P

raxi

s. Ü

ber

legu

nge

nzu

ein

em D

aF-L

ehrw

erk

r in

dis

che

Ler

ner

der

Alt

ersg

rup

pe

19–2

4

Mit

die

sem

Bei

trag

wir

d d

er V

ersu

ch u

nter

nom

men

, das

inte

rku

l-tu

relle

Kon

zept

im D

aF-U

nter

rich

t in

ein

em v

om d

euts

chsp

rach

i-ge

n R

aum

ent

fern

ten

Lan

d w

ie I

ndie

n in

die

Pra

xis

um

zuse

tzen

.D

er B

eitr

ag e

rläu

tert

die

Unt

erri

chts

situ

atio

n an

hand

ein

iger

As-

pek

te d

es in

terk

ult

ure

llen

Ler

nens

. Ein

e L

ekti

on, d

ie n

ach

die

sem

Kon

zept

r in

dis

che

Ler

ner

gest

alte

t w

ord

en

ist,

biet

et

eine

Mög

lichk

eit

zur

Dis

kuss

ion

übe

r äh

nlic

he S

itu

atio

nen

in a

nder

enL

änd

ern.

Info

DaF

31,

4 (2

004)

, 422

–430

Ale

xis N

gatc

ha: W

as k

ann

Ak

tion

sfor

sch

un

g zu

r Pra

xis

des

Fre

md

-sp

rach

enu

nte

rric

hts

Deu

tsch

bei

trag

en?

Der

Unt

erri

cht i

m F

ach

Deu

tsch

als

Fre

md

spra

che

in d

en L

änd

ern

der

Dri

tten

Wel

t mit

kol

onia

ler

Ver

gang

enhe

it m

sich

au

f Gru

ndd

er p

olit

isch

en u

nd g

esel

lsch

aftl

iche

n R

ahm

enbe

din

gung

en p

rior

i-tä

r d

ie

Exi

sten

zana

lyse

zu

ei

gen

mac

hen.

D

ies

ist

nur

dan

nm

öglic

h, w

enn

Unt

erri

cht

so g

esta

ltet

wir

d, d

aß S

chü

ler

dad

urch

zu e

iner

kri

tisc

hen

Bet

rach

tung

der

ges

amtg

esel

lsch

aftl

iche

n Si

tua-

tion

ang

ereg

t w

erd

en.

Im B

eitr

ag w

erd

en W

ege

aufg

ezei

gt,

wie

man

mit

der

Akt

ions

fors

chun

g zu

Ref

lexi

onen

und

Akt

ione

nve

rhel

fen

kann

, mit

dem

Zie

l, d

ie b

este

hend

e W

irkl

ichk

eit

posi

tiv

zu v

erän

der

n.

Page 111: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

507

heit

mit

ein

schl

ießt

. N

eben

ein

em k

urz

en G

esam

tübe

rblic

k ü

ber

das

Sem

inar

prog

ram

m w

erd

en K

onze

ptio

n un

d D

urc

hfüh

rung

zwei

er S

emin

arsi

tzu

ngen

au

sfü

hrlic

h d

arge

stel

lt.

Info

DaF

31,

4 (2

004)

, 431

–443

Cor

inna

Sch

eure

r: S

pra

chp

raxi

s u

nd

Fre

md

vers

teh

en i

n d

er A

us-

lan

dsg

erm

anis

tik

: Ein

e S

emin

ark

onze

pti

on fü

r fra

nzö

sisc

he

Stu

-d

iere

nd

e d

er G

erm

anis

tik

In d

iese

m B

eitr

ag w

ird

die

Kon

zept

ion

eine

s Se

min

ars

für

fran

zö-

sisc

he S

tud

iere

nde

der

Ger

man

isti

k en

twic

kelt

, das

dem

The

men

-ko

mpl

ex d

es F

rem

dve

rste

hens

gew

idm

et i

st.

Ein

ged

enk

der

er-

kenn

tnis

theo

reti

sche

n P

räm

isse

, daß

die

Fre

md

wah

rneh

mun

g d

enei

genk

ult

ure

llen

Vor

auss

etzu

ngen

unt

erlie

gt,

biet

et d

iese

Ver

an-

stal

tung

den

Stu

die

rend

en in

eng

er A

nleh

nung

an

das

Beg

riff

spaa

r»H

eim

at –

Fre

md

e« v

ielf

älti

ge M

öglic

hkei

ten

der

Au

sein

and

erse

t-zu

ng m

it d

er d

euts

chen

Spr

ache

und

Ku

ltu

r. A

nhan

d v

ersc

hied

e-ne

r B

eitr

äge

aus

Lit

erat

ur,

Film

und

der

zei

tgen

össi

sche

n P

ress

eer

pro

ben

die

St

ud

iere

nden

u

nter

schi

edli

che

schr

iftl

iche

u

ndm

ünd

liche

Au

sdru

cksf

orm

en u

nd p

rakt

izie

ren

eine

n B

lick

auf d

asFr

emd

e, d

er a

uch

die

Erk

ennt

nis

eige

ner

inne

rpsy

chis

cher

Fre

md

-

sche

r P

rägu

ng w

ird

ver

tief

tes

Frem

dsp

rach

enle

rnen

übe

r se

ine

ind

ivid

uel

le u

nd g

esel

lsch

aftl

iche

Pra

gmat

ik h

inau

s al

s sy

mbo

li-sc

hes

Init

iati

onsm

omen

t in

die

eig

ene

Frem

dhe

it v

erst

and

en. S

ol-

che

spra

chlic

h ve

rmit

telt

e Se

lbst

ersc

hlie

ßung

des

And

eren

in

uns

ist

als

Erm

öglic

hung

sbed

ingu

ng i

nter

kult

ure

ller

Wah

rneh

mu

ngsk

izzi

ert.

Info

DaF

31,

4 (2

004)

, 444

–454

Stef

an H

ajdu

k: S

pra

che

als

Frem

de.

Deu

tsch

lern

en g

este

rn u

nd

heu

te a

m B

eisp

iel I

nd

ien

s

Die

ser

Bei

trag

zei

gt,

daß

Fre

md

spra

chen

lern

en n

eben

dem

ane

r-ka

nnte

n N

utz

en f

ür

die

ber

uflic

he Q

ual

ifik

atio

n au

ch i

n pä

dag

o-gi

sch-

philo

soph

isch

em S

inne

zu

r A

usbi

ldu

ng v

on e

this

chen

Wer

-te

n w

ie T

oler

anz

beit

rägt

. D

ie d

afü

r u

nabd

ingb

are

Ane

rken

nung

des

And

eren

als

sol

chem

kan

n fr

eilic

h nu

r d

ort

gelin

gen,

wo

die

wah

rneh

mu

ngsä

sthe

tisc

he B

asis

im

Med

ium

der

Spr

ache

gen

ü-ge

nd s

ensi

bilis

iert

ist.

Die

s ka

nn d

urch

die

em

inen

te F

rem

dhe

it d

esD

euts

chen

, w

elch

e d

esse

n B

ildun

gsfu

nkti

on i

m e

nglis

chsp

rach

i-ge

n U

nive

rsit

ätss

yste

m I

ndie

ns p

rofi

liert

, gef

örd

ert

wer

den

. Übe

rd

ie F

unkt

ion

der

Kon

tras

tbild

ung

lass

en s

ich

zud

em d

ie e

igen

kul-

ture

llen

Stru

ktu

ren

Ind

iens

sam

t ih

rer

gege

nwär

tige

n E

ntw

ick-

lung

sten

den

zen

deu

tlic

her

ins

Au

ge fa

ssen

.In

der

Per

spek

tive

des

trad

itio

nelle

n B

ildun

gsbe

grif

fes

Hum

bold

t-

Page 112: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

508

Info

DaF

31,

4 (2

004)

, 462

–474

Die

tmar

Rös

ler:

Der

Ch

ines

e u

nte

r an

der

en.

Rep

räse

nta

tion

enk

onk

rete

r Fre

md

e u

nd

kon

kre

ter F

rem

der

in e

insp

rach

igen

Leh

r-w

erk

en

Wel

twei

t ve

rtri

eben

e D

aF-L

ehrw

erke

kön

nen

auf

die

Spe

zifi

kako

nkre

ter

Ler

nend

er i

n be

stim

mte

n L

änd

ern

nich

t ei

ngeh

en. A

uf

die

ses

Def

izit

ist a

uf u

nter

schi

edlic

he W

eise

n re

agie

rt w

ord

en, m

itd

er s

og.

Reg

iona

lisie

rung

sdis

kuss

ion

eben

so w

ie m

it V

ersu

chen

,ei

n fi

ktiv

es ›

and

eres

‹ L

and

als

Han

dlu

ngso

rt i

n ei

n L

ehrw

erk

einz

ufü

hren

. Au

ßerd

em fi

ndet

sic

h, in

den

letz

ten

Jahr

en v

erst

ärkt

,d

er V

ersu

ch, k

onkr

ete

Frem

de

in d

en w

eltw

eit

vert

rieb

enen

Leh

r-w

erke

n zu

Wor

t ko

mm

en z

u l

asse

n. I

n d

iese

m B

eitr

ag w

erd

en,

illu

stri

ert

am B

eisp

iel

der

Vor

kom

men

swei

sen

von

Asi

aten

und

Asi

atis

chem

in n

euer

en e

insp

rach

igen

DaF

-Leh

rwer

ken,

die

Fun

k-ti

onen

kon

kret

er F

rem

de

in e

insp

rach

igen

Leh

rwer

ken

syst

emat

i-si

ert.

Unt

ersc

hied

en w

ird

dab

ei n

ach

belie

bige

n E

rwäh

nung

en,

konk

rete

n B

eisp

iele

n al

s A

nsto

ß zu

Kon

tras

tier

unge

n d

urc

h d

ieL

erne

nden

, ›a

uthe

ntis

chen

‹ A

siat

en

als

land

esku

ndlic

hen

Ver

-gl

eich

sgeg

enst

änd

en,

konk

rete

r as

iati

sche

r Fr

emd

heit

als

Anl

aßzu

r in

terk

ult

ure

llen

Ref

lexi

on,

der

Anw

esen

heit

der

Fre

md

en i

md

euts

chsp

rach

igen

Rau

m a

ls la

ndes

kund

lich

rele

vant

er In

form

ati-

on, d

em T

rans

fer

chin

esis

cher

Wei

shei

ten

auf

das

Spr

ache

nler

nen

und

der

Exo

tisi

eru

ng in

lite

rari

sche

n Te

xten

.

Info

DaF

31,

4 (2

004)

, 475

–482

Feru

zan

Akd

ogan

: Das

neu

e A

usb

ild

un

gsp

rogr

amm

r D

euts

ch-

leh

rer

an t

ürk

isch

en U

niv

ersi

täte

n –

kom

pat

ibel

un

d z

uk

un

fts-

träc

hti

g? E

in k

riti

sch

er E

rfah

run

gsb

eric

ht

am B

eisp

iel

der

Un

i-ve

rsit

ät M

arm

ara

Anl

iege

n d

iese

s B

eric

htes

ist

ein

e er

ste

um

fass

end

e w

ie a

uch

krit

isch

e Is

t-A

naly

se d

er 1

998

in K

raft

get

rete

nen

Hoc

hsch

ulre

form

als

gru

ndle

gend

er N

euan

satz

r d

ie L

ehre

rau

sbild

ung

an

Erz

ie-

hung

swis

sens

chaf

tlic

hen

Faku

ltät

en tü

rkis

cher

Hoc

hsch

ule

n. T

rotz

sukz

essi

ver

Um

setz

ung

des

neu

en C

urr

icul

um

s an

der

Abt

eilu

ngfü

r D

euts

che

Spra

che

und

ihr

e D

idak

tik

der

Uni

vers

ität

Mam

ara

kann

nac

h nu

nmeh

r vi

er Ja

hren

ein

e er

ste

Bila

nz g

ezog

en w

erd

en.

Das

Cu

rric

ulu

m w

ird

nac

h se

iner

Sch

lüss

igke

it h

inte

rfra

gt u

nd e

sw

erd

en F

rage

n na

ch d

er K

ompa

tibi

lität

mit

ver

glei

chba

ren

euro

pä-

isch

en A

nsät

zen

und

dam

it v

erbu

nden

der

Akt

ual

ität

und

Meß

bar-

keit

von

Akt

ual

ität

wie

au

ch Q

ualit

ät g

este

llt.

Ers

te A

ntw

orte

n

wer

den

geg

eben

und

mög

liche

den

kbar

e K

onze

ptio

nen

für

eine

lang

fris

tige

Per

spek

tive

des

neu

en C

urri

culu

ms

aufg

este

llt.

Page 113: Inhalt - DaF · republik Deutschland durch die Ausein-andersetzung zwischen Zentralstaat und föderalen Akteuren sowie zwischen ver-schiedenen parteipolitischen Strategien bestimmt

509

Info

DaF

31,

4 (2

004)

, 483

–498

Mar

gare

te O

tt:

Erz

ählt

e G

esch

ich

te/n

. G

esch

ich

tlic

he

Erf

ahru

n-

gen

im

Med

ium

der

Fre

md

spra

che.

Zu

r Ü

ber

ein

stim

mu

ng

von

Hoc

hsc

hu

ldid

akti

k u

nd

Fac

hd

idak

tik

im

Fre

md

spra

chen

stu

di-

um

Der

Bei

trag

bef

aßt s

ich

mit

der

Fra

ge, w

ie a

nerk

annt

e le

rnth

eore

ti-

sche

und

fre

md

spra

chen

did

akti

sche

Pos

itio

nen

in d

er u

nive

rsit

ä-re

n A

usb

ildun

g fü

r Fr

emd

spra

chen

lehr

kräf

te g

lau

bwür

dig

um

ge-

setz

t w

erd

en k

önne

n. N

icht

nu

r im

Hin

blic

k au

f d

ie D

ynam

ik d

erL

ernp

roze

sse,

son

der

n au

ch im

Hin

blic

k au

f die

zuk

ünft

ige

beru

f-lic

he P

raxi

s sc

hein

t es

von

erh

eblic

her

Bed

eutu

ng z

u se

in, w

elch

esu

bjek

tive

n E

rfah

rung

en L

ehra

mts

stu

die

rend

e be

im e

igen

en (a

uch

uni

vers

itär

en) F

rem

dsp

rach

ener

wer

b m

ache

n ko

nnte

n.So

woh

l kon

stru

ktiv

isti

sche

Ler

nthe

orie

n al

s au

ch d

er k

omm

uni

ka-

tive

A

nsat

z se

hen

den

L

erne

nden

al

s Su

bjek

t se

ines

ei

gene

nL

ernp

roze

sses

. Es

müs

sen

also

(ko

oper

ativ

e) S

itua

tion

en g

esch

af-

fen

wer

den

, d

ie e

s er

lau

ben,

vor

hand

enes

Wis

sen

und

eig

ene

Erf

ahru

ngen

ein

zubr

inge

n u

nd s

ich

dav

on a

usg

ehen

d w

eite

r zu

entw

icke

ln. E

in s

elbs

t ver

antw

orte

tes

Ler

nen

kann

jed

och

nur d

ann

eins

etze

n, w

enn

eine

Au

fgab

enst

ellu

ng a

uf d

er e

mot

iona

len

Ebe

neen

tspr

eche

nd p

osit

iv b

ewer

tet w

erd

en k

onnt

e. F

ür e

ine

dau

erha

fte

Mot

ivie

rung

ist

es

notw

end

ig,

daß

dem

Ler

nen

bzw

. d

em a

nge-

stre

bten

Ler

nerg

ebni

s ei

n pe

rsön

liche

r Si

nn z

uge

schr

iebe

n w

erd

enka

nn.

Nac

h ei

ner

theo

reti

sche

n E

rört

eru

ng w

erd

en d

ie a

nges

proc

hene

nP

unk

te a

m B

eisp

iel

eine

s u

nive

rsit

ären

spr

achp

rakt

isch

en S

emi-

nars

r an

gehe

nde

Deu

tsch

lehr

kräf

te i

n U

ngar

n er

läut

ert

und

dis

kuti

ert.

Das

Sem

inar

bef

aßte

sic

h in

halt

lich

mit

der

jün

gste

nG

esch

icht

e U

ngar

ns.