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Walter Benjamins Gebrauch der Fotografie Jessica Nitsche Kulturverlag Kadmos Berlin

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Walter Benjamins Gebrauch der Fotografie

Jessica Nitsche

Kulturverlag Kadmos Berlin

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

I BENJAMINS ARBEIT AN DER FOTOGRAFIE

1 Erste fotografietheoretische Verortung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

1.1 Malerei und Photographie. Pariser Brief (2). . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

1.2 Photographie und Gesellschaft – Benjamin und Gisèle Freund . . . 33

1.3 Zwischen Sammelrezension und Geschichtsschreibung.

Eine Kleine Geschichte der Photographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

2 Gebrauchsweisen des Aura-Begriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

2.1 Aura und (Natur-)Erfahrung unter Einbeziehung

etymologischer Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

2.2 Benjamins Abgrenzung von einem theosophischen Aurabegriff

in den Protokollen zu Drogenversuchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

2.3 Aurafotografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

2.4 Aura und Blick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53

2.5 Aura und Fotografie im Kunstwerkaufsatz. . . . . . . . . . . . . . . . . . 60

3 Fotografierezeptionen und -rezensionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

3.1 Benjamins Vorstellung auratischer Fotografie.

David Octavius Hill . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

3.2 Der neue Blick auf das Alte. Eugène Atgets Stadt-Fotografien . . 83

3.3 Benjamins Fotografiebetrachtungen im Kontext des

Neuen Sehens, der Neuen Sachlichkeit und des Surrealismus . . . . . 97

3.4 »Überantwortung an die Mode«.

Benjamins Kritik an Albert Renger-Patzsch. . . . . . . . . . . . . . . . . 123

3.5 Neues von Blumen. Karl Blossfeldts Pflanzenfotografien. . . . . . . . 130

3.6 Vom Porträt zum »Übungsatlas«.

August Sanders Antlitz der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136

3.7 Wie Benjamin Fotografien liest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

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6 Inhalt

II VON DER FOTOGRAFIE ZUM FOTOGRAFISCHEN

4 Fotografie und Spur. Fotografietheoretische Positionen nach Benjamin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153

4.1 Ordnungen und Phasen der Fotografie in Anlehnung an Philippe Dubois. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154

4.2 Die Konstituierung des Fotografischen aus der Ordnung des Index . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157

4.3 ›Punktierungen‹ bei Benjamin und Barthes . . . . . . . . . . . . . . . . . 163

5 Bilder von Spuren. Benjamins kriminalistische Bildlektüren . . 171

5.1 Interieur, Stadtraum und Spur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1715.2 Tatort-Fotografie als Bestandteil der erkennungsdienstlichen

Spurensicherung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1785.3 Vom Flaneur zum Detektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1825.4 Registrierungen: Physiologien und Verbrecheralben . . . . . . . . . . 1865.5 Benjamins Krimis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1895.6 Der Umschlag kriminalistischer Praktiken in ästhetische

Denkweisen: Der Tatort als spurenträchtige Zone. . . . . . . . . . . . 191

6 Beschriftungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193

6.1 Beschriftung und Literarisierung bei Benjamin und Brecht . . . . 1946.2 »Beschriftung, die als Zündschnur den kritischen Funken an

das Bildgemenge heranführt«. Fotomontageverfahren von John Heartfield und Sasha Stone. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

6.3 Surrealistische Beschriftungsverfahren am Beispiel von André Bretons Nadja . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

III BENJAMINS FOTOGRAFISCHE SCHREIBWEISEN

7 Unterwanderungen / Überschreibungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

7.1 Fotografische Distanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2187.2 Mehr und weniger Distanz bei Benjamin: Spur und Aura . . . . . 2217.3 Erinnerungsspur und Fotografie bei Sigmund Freud. . . . . . . . . . 2237.4 Verwandlungen und Doppelbelichtungen im Schreiben über

zwei Kinderfotografien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2277.5 Bildentwicklung im Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

8 Erinnerung(s)-Raum-Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237

8.1 Abschüssige Wege in den Text . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238

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Inhalt 7

8.2 Zeitliche und räumliche Distanzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2408.3 Strukturen der Erinnerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2428.4 Die Fotografie gegen das Gedächtnisbild ausgespielt?

Siegfried Kracauer: Die Photographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2498.5 Fotografische Erinnerungsbilder in der Berliner Kindheit um

neunzehnhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255

9 Vom Erinnerungsbild zum Geschichtsbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262

9.1 Fotografie und Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2629.2 Der subjektive Blick auf den kollektiven Stadt-Raum und die

geschichtsphilosophische Dimension der Berliner Kindheit . . . . . 2669.3 »Raumgewordene Vergangenheit« – über eine Fotografie von

Sasha Stone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2769.4 Erinnerung(s)-Bild-Montage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2799.5 Schauplätze und Kulissen als Schwellenorte und Bildräume . . . . 2849.6 Koordinaten des Bildraums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2889.7 »Architekturen des Augenblicks«, Eisenkonstruktionen

und Passagen. Einige Anmerkungen zu Germaine Krull . . . . . . . 293

10 Epistemologie und Fotografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308

10.1 Die Fotografie als absolute Metapher (nach Hans Blumenberg) 30810.2 Die Fotografie gegen das Fotografische ausgespielt? Benjamin

in Rosalind Krauss’ »diskursiven Räumen der Fotografie« . . . . . . 31010.3 Die Fotografie als Verdoppelung und andere Rahmung . . . . . . . 31410.4 Schreiben im blinden Fleck der Fotografie / Einverleibung

des Fotografischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31910.5 Theoretische Apparaturen / dialektische Optiken: Stereoskopie,

Teleskopie, Kaleidoskopie, Fotografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32110.6 Ein fotografisches Bild für die Darstellung von Geschichte. . . . . 32710.7 Entstaltung und Einverleibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330

11 Aktualisierbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

11.1 Benjamins Atget-Rezeption auf der Grundlage seiner Begriffe »Destruktion« und »Prophetie«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337

11.2 Aktualität und Geistesgegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343

ANHANG

Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349Abbildungsverzeichnis und Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366

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Einleitung

Die Fotografie wird in dieser Studie als Medium vorgestellt, das für Walter Ben-jamins Schreiben von grundlegender Bedeutung war.

Ein Blick auf sein Werk legt dies nicht unbedingt nahe. Zwar spricht er in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit über das »Aufkommen des ersten wirklich revolutionären Reproduktionsmittels«1 und meint damit die Fotografie, doch stößt man – gemessen an der Reichweite dieser Aussage – zunächst auf nur wenige intensive Auseinandersetzungen mit dem Medium. Weder ist Benjamin Autor eines großen Werks über Fotografie noch hat er selbst fotografiert. Sein ausführlichster Text zu diesem Thema ist eine 16-seitige Kleine Geschichte der Photographie.2 Entscheidend ist aber, dass er Fotografie /n auf neue Weise rezipiert und gedacht hat und seine Position sowohl für die Fotografietheorie wie auch die Kunst außerordentlich folgenreich war. Rolf Krauss zeigt dies in seiner Studie Walter Benjamin und der neue Blick auf die Photographie.3 Dass es sich aber nicht allein um einen neuen Blick auf ein (neues) Medium handelt, sondern um ein Arbeiten mit diesem Medium, ist die These, die meiner Untersuchung zugrunde liegt. Anders als Krauss gehe ich der Frage nach, wie sich die Fotografie in Benjamins Werk eingeschrieben hat, und weniger, wie sich Benjamins Position in Fotografie- und Kunstgeschichte weitergeschrieben hat. Der Schwerpunkt verlagert sich von einem neuen Blick auf die Fotografie hin zu deren theoretischen und litera rischen Gebrauchsweisen.

In medientheoretischer Hinsicht unterscheidet sich die vorliegende Untersu-chung von den Forschungsarbeiten Burkhardt Lindners, soweit diese Benjamins

1 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schwep-penhäuser. Frankfurt am Main 1991, Bd. VII, S. 350−384, hier S. 356 (im Folgenden kurz Kunstwerkaufsatz). Anmerkung zur Zitierweise: Die Benjamin-Zitate sind, soweit nicht anders vermerkt, der Taschenbuch-Edition der Gesammelten Schriften von 1991 entnommen. Sie werden in den Fußnoten durch Kurztitel, Bandangabe (römische Ziffer) und Seitenzahl nachgewiesen, sofern die Quelle aus dem Text unmissverständlich hervorgeht, ohne Kurztitel im Textverlauf; Zitate aus Benjamins Briefen stammen, soweit nicht anders vermerkt, aus der sechsbändigen Ausgabe der Briefe von Christoph Gödde und Henri Lonitz. Sie werden durch das Kürzel Br, Bandangabe (arabische Ziffer) und Seitenzahl in Klammern im Text nachge-wiesen; Literaturverweise werden bei Erstnennung vollständig – danach durch Kurzangaben (Autor, Kurztitel, Seitenzahl) nachgewiesen; Verweise auf Seiten, Kapitel oder Abbildungen innerhalb dieser Untersuchung stehen in eckigen Klammern.

2 Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie, II, 368−385 (im Folgenden kurz Fotografie-aufsatz).

3 Rolf Krauss: Walter Benjamin und der neue Blick auf die Photographie. Ostfildern: Hatje Cantz 1998.

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12 Einleitung

Problematik der technischen Reproduzierbarkeit ins Zentrum rücken. Diese Pro-blematik eröffnet einen neuen Mediendiskurs, der folgende Aspekte verfolgt: die Umstellung von Ästhetik auf aisthesis, die Entortung des Kunstwerks, die chockförmige Adaption des Rezipienten an Apparatur und Montage, die Zer-streuung als kollektive Wahrnehmungsweise und die Bestimmung des Films als Übungsinstrument wie Spielform einer befreienden Technikpolitik. Es ist dies eine Perspektive, die sich im 19. Jahrhundert mit der Fotografie, der Phonogra-phie und der Illustrierten erst noch verborgen ankündigte. Benjamin hat in der Kleinen Geschichte der Photographie zum ersten Mal die Problematik der neuen technischen Reproduzierbarkeit, die die Fotografie darstellt, thematisiert, ehe sie im Kunstwerkaufsatz, und nun am Leitfaden des fotografischen Films, in den medientheoretischen Kontext einer weltgeschichtlichen Traditionskrise und kulturellen Umwälzung seiner Gegenwart gestellt wird.4 Benjamins historische Konstruktion, die die Fotografie in die filmische Reproduzierbarkeit münden lässt und in die Geschichte einer massenmedialen Umwälzung durch die technische Reproduzierbarkeit des Audiovisuellen stellt, wird in der vorliegenden Arbeit nicht primär verfolgt. Sie analysiert vielmehr die Fotografie als eigenständiges Medium, als Gegenstand und Impuls der schriftstellerischen Praxis und als epistemologische Metapher. Mit diesem Blick ist gewonnen, dass die Fotografie nicht auf ein Me-dienphänomen und eine technische Apparatur reduziert bleibt, sondern zu einer theoretischen Apparatur ausgeweitet werden kann.

›Auslöser‹ der Untersuchung war die Beobachtung, dass die Fotografie auf ganz unterschiedlichen Ebenen Eingang in Benjamins Schriften gefunden hat. Er be-spricht konkrete Fotografen seiner Zeit, schreibt über Besuche in den Fotostudios des 19. Jahrhunderts, Fotografien werden zu Auslösern für Erinnerungen und andernorts funktioniert die Fotografie als theoretische Apparatur und Gedächt-nisanalogie. Diese verschiedenen und selten widerspruchsfreien Einsätze des Me-diums werden vorge stellt und ergeben in ihrer Anordnung und Überlagerung ein Bild von Benjamins Gebrauch der Fotografie.

Der Begriff des Gebrauchs erweist sich dabei aus verschiedenen Gründen als sinnvoll. Er lässt den ›Kunstwert‹ der Fotografie und Fragen wie Ist Fotografie Kunst, seit wann und warum? oder Wie verändert sich die Kunst durch die Fotografie? in den Hintergrund treten und betont stattdessen Praktiken, ein Verwenden, Einsätze. Dies hat zugleich zur Konsequenz, dass sich das Medium nicht durch seine Geschichte oder die Geschichte der Bilder, die es hervorgebracht hat, erklärt. Eine Antwort auf die Frage, was die Fotografie sein (oder gewesen sein) könnte, muss in diesem

4 Siehe dazu: Burkhardt Lindner: »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Repro-duzierbarkeit« wie auch »Zu Traditionskrise, Technik, Medien«, in: Ders. (Hg.): Benjamin Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart: Metzler 2006, S. 229−251 und S. 451−464; wie auch Ders.: Die Medienprophetien der elektronischen Digitalisierung und die Resistenz von Bild und Schrift. In: kulturrevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie, H. 1/2 (2003), S. 24−32.

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Einleitung 13

Fall modifiziert ausfallen: »Die Fotografie gibt es nicht. Sie besitzt keine Identität, keine Eigenart, keine spezifische Bedeutung unabhängig von derjenigen, die ihr in den kulturellen, gesellschaftlichen und institutionellen Kontexten ihrer vielfältigen Einsätze zugewiesen wird.«5 Die Einsätze, von denen Susanne Holschbach hier spricht und die in besonderem Maße von Pierre Bourdieu thematisiert werden, können zum einen als praktische verstanden werden, als die »sozialen Gebrauchs-weisen« der Fotografie.6 In Bezug auf diesen Fokus wären unter anderem folgende Fragen zu stellen: Wie bestimmt die Fotografie den privaten Alltag, wie geht sie in die Berichterstattung ein, wer repräsentiert sich durch Fotografien etc. Mir geht es hingegen um die vielfältigen theoretischen und literarischen Gebrauchsweisen, die im Schreiben Benjamins ihren Niederschlag finden. Auch für sie gilt: Eine allgemein gültige Formel, mit der Benjamins Fotografiebegriff zu entschlüsseln wäre, gibt es nicht. Mal ist die Fotografie jenes Bild von den Dingen, das das Wesentliche im Verborgenen hält, mal wird Erfahrung und Erfahrbarkeit mit Fotografierbarkeit in eins gesetzt. Handhabbar wird das Thema nicht durch den Versuch, eine Definition für Benjamins Fotografiebegriff zu finden, sondern durch die Analyse der vielfältigen und divergierenden Einsätze des Mediums innerhalb seiner Schriften.

Dies erfordert, den Blick zunächst auf seine medientheoretisch orientierten Schriften wie Fotografie- und Kunstwerkaufsatz zu richten. Doch kann es nicht genügen darzulegen, wie Benjamin über Fotografien schreibt, sondern es gilt zu zeigen, wie sich die Fotografie in seine Texte einschreibt und im Medium der Schrift auf seine eigenen Leerstellen, Mängel und blinde Flecken verweist.7

Der deutliche Schwerpunkt der bearbeiteten Texte liegt auf den nach 1927 ent-standenen, denjenigen also, die im Wirkungsfeld der Passagenarbeit stehen. Als Prolegomena zu eben dieser bezeichnet Benjamin auch seine Kleine Geschichte der

5 Susanne Holschbach: Einleitung. In: Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003, S. 7−21, hier S. 7.

6 Vgl. Pierre Bourdieu u. a. (Hg.): Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1983.

7 Benjamin selbst spricht in seinem Text Der Autor als Produzent von dem »revolutionären Gebrauchswert« (II, 693) der Fotografie. Der aus Karl Marx’ Terminologie stammende Be-griff des Gebrauchwerts meint zunächst einmal die »nützlichen Eigenschaften eines Dinges, die menschliche Bedürfnisse befriedigen« (Konrad Lotter (Hg.): Das Marx-Engels-Lexikon. Begriffe von Abstraktion bis Zirkulation. Köln: PapyRossa-Verlag 2006, S. 116). Er bildet den Gegenbegriff zu dem des Tauschwerts, d. h. des möglichen kommerziellen Gewinns, den ein Gegenstand als Ware bietet. Marx geht es darum, die Umwertung der Werte darzulegen, d. h. zu zeigen, wie sich Gebrauchswerte in Konstellation zu den Tauschwerten verändern und umkehren. Sein Begriff des Gebrauchswerts wird von Benjamin in der Passagenarbeit vielfach aufgegriffen, vgl. beispielsweise V, 559/560 (der Flaneur), 433 (Baudelaire), 290/291 (das Interieur, die Spur). Wenn Benjamin von einem revolutionären Gebrauchswert der Fotografie spricht, so impliziert dies ihren gesellschaftlichen und politischen Wert jenseits ihres kommer-ziellen Nutzens, jenseits ihres Werts als Ware und ihres ›Tauschwerts‹. Diesen ›Gebrauchswert‹ zu erkennen und zu nutzen, ist eine Forderung, die er in dem Text Der Autor als Produzent nicht etwa an die Fotografen, sondern an die Schriftsteller richtet.

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14 Einleitung

Photographie. Ähnlich verhält es sich mit dem Essay Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz8, der entsteht, als der Autor die Pas-sagenarbeit zunächst beiseitelegt. Das große Passagen-Projekt – worüber Benjamin gegenüber Scholem die Befürchtung äußert: »aber was wird es da je mehr geben als Prolegomena und Paralipomena« (Br 4, 61) – erscheint wie eine regulative Idee für zahlreiche seiner Schriften. Irving Wohlfarth beschreibt es planetarisch: »Fast alle zwischen 1927 und 1940 entstanden Schriften Benjamins kreisen wie Satelliten um die halb verdeckte Sonne der Passagen-Arbeit.«9 Als zentral für meine Untersuchung hat sich letztlich die Berliner Kindheit herauskristallisiert, die sich ab 1934 als eigenständiges Projekt von der Passagenarbeit abgelöst hat.

Dass es sich bei dem, was Benjamin als Autor produziert, wiederum um ›Bilder‹ – ›Erinnerungsbilder‹, ›Vexierbilder‹, ›Denkbilder‹ – handelt, wurde in der Forschungsliteratur vielfach thematisiert.10 Gegenstand dieser Untersuchung ist, wie Benjamins ›Bilder‹ mit Fotografien und fotografischen Implikationen in Verbindung stehen.

Der Titel Benjamins Gebrauch der Fotografie könnte das Missverständnis entstehen lassen, Benjamin habe nicht geschrieben, sondern fotografiert. Auch wenn sein Aufruf, die Schriftsteller haben ans Fotografieren zu gehen, wie auch seine For-derung, Fotografien lesen zu lernen, die Differenzen zwischen dem Schreibenden, dem Lesenden, dem Fotografierenden und Wahrnehmenden durchaus ins Wanken bringen, mutiert der Autor in dieser Untersuchung nicht zum Fotografen – wohl aber seine literarische Arbeit zu einer fotografischen.

Löst man die Auseinandersetzung mit einem Autor im Hinblick auf die Foto-grafie in einem rein metaphorischen Sinne auf und lässt ihn zum Fotografen und seine Texte zu Fotografien werden,11 so hat dies den Preis, dass gerade die Schnitt-

8 Benjamin: GS, II, 295−310 (im Folgenden kurz Surrealismusaufsatz).9 Irving Wohlfarth: Die Passagenarbeit. In: Lindner: Benjamin Handbuch, S. 251−273, hier

S. 252.10 Vgl. u. a. Valérie Baumann: Bildnisverbot. Zu Walter Benjamins Praxis der Darstellung:

Dialektisches Bild – Traumbild – Vexierbild. Eggingen: Edition Isele, 2002; Helmut Kaf-fenberger: Orte des Lesens – Alchimie – Monade. Studien zur Bildlichkeit im Werk Walter Benjamins. Würzburg: Königshausen & Neumann 2001; Britta Leifeld: Das Denkbild bei Walter Benjamin. Die unsagbare Moderne als denkbares Bild. Frankfurt am Main u. a.: Lang 2000.

11 Die Bezeichnung der Fotografie als Schrift ist so alt wie die Fotografie selbst (vgl. Talbot: »pencil of nature« / »words of light«). In Bezug auf Benjamin spielen einige Autoren mit der Umkehrung dieses Gedankens und bezeichnen dessen Texte als ›Fotografien‹. So nennt Adorno Benja-mins Berliner Kindheit eine Sammlung von »Märchenfotografien« und »Momentaufnahmen«; Eduardo Cadava charakterisiert Benjamins Schriften als »Fotografien der Geschichte«. Caroline Duttlinger vollzieht in Bezug auf Kafka eine ähnliche Denkbewegung, indem sie als Resümee ihrer Untersuchung Kafka and Photography die Frage aufwirft: »Kafka the Photographer?«. Und über Marcel Proust schreibt Brassaï (d. i. Gyula Halász): »Im Lichte der Photographie ist mir jedenfalls ein neuer Proust erschienen, ein geistiger Photograph sozusagen, der den eigenen Körper als eine höchst empfindliche Schicht auffasst, dazu befähigt, in der Jugendzeit Tausende

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Einleitung 15

stellen zwischen Fotografie und Text aus dem Blick geraten. Das Spannungsfeld entsteht jedoch dort, wo Fotografie und Text gegengeschnitten werden und wo das eine Medium die Mängel wie auch (Un-)Möglichkeiten des anderen sichtbar werden lässt. Benjamins Gebrauchsweisen der Fotografie in den Blick zu nehmen, ermöglicht es, seine Auseinandersetzung mit Fotografien wie auch seine fotografische Arbeit innerhalb literarischer Texte in Konstellation treten zu lassen.

Was Benjamin im Surrealismusaufsatz über Breton schreibt, soviel sei vorweg-genommen, trifft mehr noch auf ihn selbst zu: Mitunter greift in seine Schriften »auf sehr merkwürdige Weise die Photographie ein« (II, 301). Und bezöge man sich konsequent auf das kleine Begriffslexikon, mit dem Vilém Flusser sein Werk für eine philosophie der photographie abschließt, so wäre Benjamin schließlich doch ein Fotograf, denn einen solchen definiert dieser dort wie folgt: »Fotograf: ein Mensch, der sich bemüht, die im Programm des Fotoapparats nicht vorgesehenen Informationen ins Bild zu setzen.«12

Zwischen Benjamin-Forschung und Fotografietheorie –

Anmerkungen zum Forschungsstand

Ronald Berg verweist noch 2001 auf das Forschungsdesiderat einer Diskursge-schichte der Fotografie: »Für eine geisteswissenschaftliche, man könnte auch sagen ideengeschichtliche oder diskurstheoretische Behandlung der Fotografie fühlte sich bisher keine der akademischen Disziplinen so recht zuständig.«13 Dies stimmt insofern, als es eine durchaus überschaubare Anzahl von Autoren und Autorinnen ist, die sich intensiv mit der Theoriegeschichte des Mediums auseinandergesetzt haben; Hubertus von Amelunxen bemerkt, noch heute werde »in kunsthistori-schen Kreisen und in Museen die Meinung kundgetan, der Fotografie mögen sich allenfalls gescheiterte Kunsthistoriker annehmen«14. Zu jenen, die die Foto-grafie hingegen als Forschungsgebiet innerhalb der Kunstgeschichte installieren

von Eindrücken zu erfassen und zu speichern, und der, auf dem Weg der eigenen Recherche du temps perdu, seine gesamte eigene Zeit darauf verwandte, diese Eindrücke zu entwickeln und zu fixieren, um so das latente Bild seines gesamten Lebens auf jener Riesenphotographie sichtbar zu machen, die die Suche nach der verlorenen Zeit ist. (Vgl. Theodor W. Adorno: Nachwort. In: Walter Benjamin: Berliner Kindheit um Neunzehnhundert. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1950, S. 168−171; Eduardo Cadava: Words of Light. Theses on the Photography of History. Princeton: University Press 1997; Carolin Duttlinger: Kafka and Photography. Oxford: Univer-sity Press 2007; Brassaï: Proust und die Liebe zur Photographie. (Marcel Proust sous l’emprise de la photographie (1997), dt. Übersetzung Max Looser). Frankfurt am Main: Suhrkamp 2001, S. 15/16).

12 Flusser, Vilém: für eine philosophie der photographie, hg. v. Andreas Müller-Pohle. Göttingen: Hubert & Co 2006. (Edition Flusser, Bd. 3, Berlin: European Photography), S. 75−77, hier S. 77.

13 Ronald Berg: Die Ikone des Realen. Zur Bestimmung der Photographie im Werk von Talbot, Benjamin und Barthes. München: Fink 2001, S. 14.

14 Hubertus von Amelunxen (Hg.): Theorie der Fotografie IV, 1980−1995. München: Schir-mer / Mosel 2000, S. 11 (Einleitung).

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16 Einleitung

wollten, gehört in besonderem Maße Wolfgang Kemp, der mit seinen bereits 1978 erschienenen Foto-Essays den Versuch unternahm, einer positivistischen Fo-tografiegeschichte systematische Fragestel lungen (nach Herstellung, Vorstellung und Darstellung) entgegenzusetzen, und der dafür eintrat, »die Kompetenz eines Fachs zu nutzen, das sich schon seit 90 Jahren mit Bildern und ihrer Geschichte befaßte«15, d. h. die Mittel, die die Kunstgeschichte zur Verfügung stellt, für die Fotografietheorie fruchtbar zu machen; er ist zugleich Herausgeber der ersten drei Bände der Theorie der Fotografie, der ersten großen deutschsprachigen Sammlung fotografietheoretischer Texte.16

Wirft man den Blick zurück auf die Benjamin-Rezeption, dessen Bedeutung für die Literaturwissenschaft unumstritten ist, so fällt auf, dass sich der Autor auch innerhalb der Fotografietheorie großer Prominenz erfreut. Herbert Molderings nennt ihn den »bedeutendsten Fototheoretiker der Weimarer Republik«17, für Rosalind Krauss ist er neben Roland Barthes schlicht der ›andere Held‹ der Foto-grafietheorie.18 Ronald Berg, der mit seiner Untersuchung zeigen will, »wie die Photographie in der Theorie erscheint«19, wählt neben Henry Fox Talbot und Barthes Benjamin als repräsentativen Autor der Theoriegeschichte aus. Auch die 2006 erschienene Theoriegeschichte der Photographie von Bernd Stiegler widmet Benjamins medientheoretischer Position ein eigenes Kapitel.20 Anders als die Bände zur Theorie der Fotografie von Kemp und Amelunxen (s. o.), die fotografietheo-retische Texte chronologisch anordnen, und auch anders als die von Herta Wolf herausgegebenen systematisch angeordneten Bände Diskurse der Fotografie und Paradigma Fotografie 21, unternimmt Stiegler den Versuch, die zahlreichen Positio-nen miteinander in Beziehung zu setzen und als Theoriegeschichte anzuordnen, die er zugleich als »Wahrnehmungs geschichte«22 charakterisiert.

15 Wolfgang Kemp: Der Sonnenhut des Heliographen: Zwei Aufnahmen – 30 und 160 Jahre danach. In: Ders.: Foto-Essays. Zur Geschichte und Theorie der Fotografie. Erweiterte Aus-gabe. München: Schirmer / Mosel 2006, S. 141−172, hier S. 142.

16 Wolfgang Kemp (Hg.): Theorie der Fotografie I−III, 1839−1980. München: Schirmer / Mosel 1999.

17 Herbert Molderings: Fotografie in der Weimarer Republik. Berlin: Nishen 1988, S. 23.18 Vgl. Rosalind Krauss: Das Photographische. Eine Theorie der Abstände. München: Fink

1998, S. 14. 19 Berg: Ikone des Realen, S. 19. 20 Bernd Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie. München: Fink 2006, S. 255−278. 21 Herta Wolf (Hg.): Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters,

Bd. 2. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003; Dies.: Paradigma Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Bd. 1. Frankfurt: Suhrkamp 2002.

22 Stiegler: Theoriegeschichte der Photographie, S. 10. Dieser Blick auf das Medium hat dazu beigetragen, es in den letzten Jahren auch zu einem zentralen Thema innerhalb der Literatur-wissenschaft werden zu lassen. Bernd Stieglers Studie Philologie des Auges. Die photographische Entdeckung der Welt im 19. Jahrhundert (2001) wie auch Rolf Krauss’ Untersuchung Photo-graphie und Literatur. Zur photographischen Wahrnehmung in der deutschsprachigen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts (2000) gehen (auf sehr unterschiedlichen Wegen) der Frage nach,

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Einleitung 17

Die Fotografie(theorie)geschichte als Wahrnehmungsgeschichte in den Blick zu nehmen, impliziert, die Logik des Mediums innerhalb eines Systems der Repräsentation zu untersuchen. Hier stellt sich die Frage danach, was die Fotografie repräsentiert. Unter dem Mimesisparadigma lautet die Antwort: Die Fotografie repräsentiert auf perfektionierte Weise das, was wir sehen, gesehen haben oder auch nicht selbst gesehen haben. In der Folge wird sie als Authentizität versprechendes Medium aufgefasst. Dieser Auffassung zufolge gilt die Wirklichkeit als vollständig erfassbar und erfahrbar, die Bilder tragen zur Erweiterung dieser ›Erfassung‹ bei. Anders verhält es sich, wenn davon ausgegangen wird, dass die Beziehung zur Wirklichkeit immer eine fragmentarische, unvollständige, möglicherweise ›gestörte‹ ist. Hier wäre vielmehr die Frage zu stellen, wie die Fotografie in diese ›Beziehung‹ eingreift. Sie verspricht nunmehr nicht Authentizität, sondern wird zu einem Bestandteil der Konstruktion von Wirklichkeit. Was sie zeigen und dokumentieren kann, ist weniger ›die Wirklichkeit‹, als vielmehr deren Konstruierbarkeit. Die Frage danach, was die Fotografie repräsentiert, wäre demnach umzuformulieren in die Frage, was sie präsentiert oder vielmehr: was in ihr präsent wird.

Benjamins Position ist für die Fotografietheorie nicht zuletzt deshalb interessant, weil seine vielschichtige – medientheoretische wie literarische – Auseinandersetzung mit dem Medium den Blick auf Problemstellungen freigibt, die ihre Virulenz erst in der späteren Fotografietheorie entfaltet haben. Wenn Amelunxen konstatiert, die Fotografie sei in den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu einem »Ort des philosophischen Zweifels«23 geworden, so ist sie dies bei Benjamin bereits auf vielfache Weise.

Die Forschungsliteratur, die sich schwerpunktmäßig dem Thema ›Benjamin und Fotografie‹ zuwendet, ist in Anbetracht der sonstigen Benjamin-Forschung durchaus überschaubar geblieben, entstanden ist sie vornehmlich innerhalb der letzten zehn Jahre. Neben einigen für den Kontext wichtigen Aufsätzen24 und Ben-jamins exponierter Stellung in Stieglers Theoriegeschichte der Photographie sind drei

wie die veränderten Formen des Sehens und Wahrnehmens Eingang in literarische Texte des 19. Jahrhunderts gefunden haben; Michael Neumann entwirft in seiner Dissertation begin-nend mit E. T. A Hoffmann und abschließend mit Thomas Bernhard Eine Literaturgeschichte der Photographie (2006). Ausschließlich am 20. Jahrhundert orientiert ist die Studie von Thomas von Steinaecker, der literarische Foto-Texte von Rolf Dieter Brinkmann, Alexander Kluge und W. G. Sebald bearbeitet (2007), die Untersuchung Kafka and Photography von Carolin Duttlinger wie auch die Arbeit Nachbilder. Fotografie und Gedächtnis in der deutschen Gegenwartsliteratur von Silke Horstkotte (2009).

23 Amelunxen: Theorie der Fotografie, Bd. 4, S. 12 (Einleitung).24 Bernd Stiegler: Benjamin und die Photographie. Zum historischen Index der Bilder. In: Detlev

Schöttker (Hg.): SCHRIFT BILDER DENKEN. Walter Benjamin und die Künste. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004, S. 128−143; Sigrid Weigel: Techne und Aisthesis photo- und kinematographischer Bilder – Die Geburt von Benjamins Theorie optischer Medien aus dem Detail. http://www.iwbg.uni-duesseldorf.de/Pdf/Weigel11.pdf (Vortrag 2003, ZKM Karlsruhe, letzter Zugriff am 15.04.2008); Eckhardt Köhn: Kleine Geschichte der Photographie. In: Benjamin-Handbuch, S. 399−405.

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18 Einleitung

Studien anzuführen, die Benjamins Arbeit an der Fotografie ins Zentrum stellen.25 Zum einen die bereits zu Beginn erwähnte Untersuchung Walter Benjamin und der neue Blick auf die Photographie von Rolf Krauss. Der Autor verfolgt zwei Thesen, die erste besagt, dass sich der Blick auf die Fotografie mit Beginn der 60er Jahre grundlegend gewandelt habe, die zweite, dass Walter Benjamins Auseinandersetzung mit dem Medium einen signifikanten Einfluss auf diesen Wandel hatte. Der Titel der Untersuchung impliziert in seiner Doppeldeutigkeit beide Thesen: Zum einen wirft Benjamin in den 30er Jahren selbst einen ›neuen Blick‹ auf das Medium – bis dieser im Bereich der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Fotografie wirksam wird, vergehen jedoch einige Jahrzehnte. Erst nachdem grundlegende Veränderungen innerhalb der Kunst stattgefunden haben, die mit dem ›neuen Blick auf die Fotografie‹, der in den 60er Jahren seinen Anfang nimmt, unmittelbar verbunden sind, ist Krauss zufolge die Basis für eine erneute Auseinandersetzung mit Benjamins Position innerhalb des Fotografiediskurses geschaffen.

Ronald Berg entwickelt unter dem Titel Die Ikone des Realen (2001) ein eigenes Format, um auf das von ihm beklagte Forschungsdesiderat einer Diskurs-geschichte der Fotografie zu reagieren. Benjamin erhält darin eine ›Hauptrolle‹ und wird zu einem der drei repräsentativen Autoren der Fotografietheorie erklärt. Als »Anfang, historischer Zenit und Ende der photographischen Epoche«26 soll seine fotografie theoretische Position zusammen mit den Positionen von William Henry Fox Talbot und Roland Barthes die »Epoche der Fotografie« umreißen. Berg positioniert sich selbst an der Schwelle zum sogenannten postfotografischen Zeitalter, die foto grafische Epoche erklärt er für beendet: »Wie der Kreis der Theoretiker, so schließt sich auch der Kreis, mit dem man die Epoche der Foto-grafie historisch umgrenzen könnte. In Sachen Photographietheorie war Talbot der erste und nach Barthes wird nichts Nennenswertes mehr kommen. Benjamin hält die Mittelstellung. Er ist nicht nur deshalb Dreh- und Angelpunkt für eine historische Perspektive auf die Photo graphie, deren Zeitalter, wie wir nun feststel-len können, mit der Moderne in eins fällt. Die drei ausgesuchten Autoren sind also hinreichend für eine Interpretation, die versucht, die Summe zu ziehen, was von der Theoriegeschichte der Photographie übrig bleibt.«27 Unabhängig von der etwas schnell anmutenden Verabschiedung von dem »Zeitalter der Fotografie« öffnet Bergs Untersuchung den Blick für die theoretischen Gebrauchsweisen des Mediums. Indem er die Fotografie als »epistemologisches Objekt« und »diskursive

25 In zahlreichen Untersuchungen, die hier nicht im Einzelnen angeführt werden, ist die Foto-grafie ein Nebenschauplatz; so beispielsweise in der Untersuchung Gedächtnisräume des Selbst von Anja Lemke, wo ihr im Kontext der Gedächtnis- und Erinnerungsthematik die Funktion zugeschrieben wird, die »traditionelle Chronologie des Narrativen« zu unterbrechen. Vgl. Anja Lemke: Gedächtnisräume des Selbst. Walter Benjamins »Berliner Kindheit um neunzehnhun-dert«. Würzburg: Königshausen & Neumann 2005, insb. S. 125−137, hier S. 137.

26 Berg: Ikone des Realen, S. 20. 27 Ebd., S. 21

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Einleitung 19

Erscheinung«28 bearbeitet, zeigt sich, wie Benjamin sich (neben Barthes und Talbot) in die Fotografietheorie eingeschrieben – und damit zugleich Fotografie(theorie)-geschichte geschrieben hat.

Bergs Resümee ist die Gegenüberstellung der drei bearbeiteten Autoren unter drei Schlagwörtern, die zugleich Tendenzen in der Diskursgeschichte anzeigen sollen: Registrieren (Talbot), Wahrnehmen (Benjamin), Imaginieren (Barthes).29 Eine Untersuchung, die die Diskursgeschichte der Fotografie zu systematisieren versucht, muss selbstverständlich vereinfachen und schematisieren. Benjamins fotografie theoretische Position auf den Begriff der Wahrnehmung zu münzen und die Imagination Barthes zuzuschlagen, unterschlägt jedoch, dass die beiden Begriffe bei Benjamin nicht voneinander zu trennen sind und dass gerade die-jenigen Orte in Benjamins Schriften bemerkenswert sind, in denen das Eine in das Andere umschlägt.

Neben der Erstellung eines zu untersuchenden Textkorpus (vgl. Rolf Krauss) besteht die Möglichkeit, sich einem Forschungsgegenstand über die für ihn rele-vanten Be griffe zuzuwenden.30 Dieser Zugriff ist in Bezug auf Benjamin durchaus naheliegend, denn untersucht man seine Schriften im Hinblick auf ein konkretes Thema, so kann man sicher sein, dass sich das relevante Material über das nahezu gesamte Werk des Autors verstreut. Die Orientierung an Begriffen ermöglicht es, die versprengten Stellen zusammenzuführen und neu anzuordnen. Auch die Auseinandersetzung mit Benjamins ›Gebrauch der Fotografie‹ ist eine Arbeit am Begriff (der Fotografie) und dessen Einsätzen, ein Aufspüren der Fotografie und des Fotografischen innerhalb des Gesamtwerks.

Mit einem am Begriff orientierten Verfahren arbeitet auch Eduardo Cadava, der seine Untersuchung nach einer von Talbots Bezeichnungen für die Fotografie benannt hat: Words of Light 31. Seine Untersuchung gliedert sich in 28 Kapitel, denen jeweils ein Begriff zugeordnet ist, wie beispielsweise »History«, »Death«, »Similarity«, »Stars«, »Twilight«, »Politics«, »Ghosts«. Diese übergeordneten Be-griffe, Überschriften oder Beschriftungen stehen innerhalb von Benjamins Werk mehr und weniger explizit mit der Fotografie in Verbindung. Damit verweist die Form von Cadavas Studie unmissverständlich auf die zugrunde liegende These, dass Benjamins Schreiben mit der Fotografie verwoben und von einem fotografischen

28 Ebd., S. 16f. 29 Ebd., S. 301−314.30 Sich Benjamins Werk auf diesem Weg zu erschließen, hat mittlerweile Tradition, vgl. ins-

besondere Michael Opitz / Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, Bd. 1 und 2.

31 Talbot hat diese Formulierung in seinem Notizbuch vermerkt, vgl. dazu Larry J. Schaaf: Out of the Shadows. Herschel, Talbot and the Invention of Photography. New Haven: Yale University Press 1992, S. 65 (»In isolated phrases in Talbot’s personal notebook, there was growing evidence of his interest in modes of public expression. On 3rd March, he recorded various related thoughts: ›Nature magnified by Herself, or, Nature’s Marvels ›And look thro’ Nature up to Nature’s God‹ and the more simple and eloquent phrase, ›Words of Light‹.«)

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20 Einleitung

Denken durchsetzt ist. Die Anordnung von Words of Light hat die Qualität eines Albums. Versammelt werden nicht Fotografien, sondern Begriffe mit Texten über die Art und Weise, wie die Fotografie gedacht wird. Bei Cadava wird Benjamins Begriff der Geschichte wie auch seine Arbeit als Schreibender fotografisch ausge-deutet. Angelehnt an Benjamins Thesen Über den Begriff der Geschichte nennt der Autor seine Untersuchung im Untertitel Theses on the Photography of History und stellt damit eine Analogie zwischen Benjamins Schreibverfahren und der Fotografie her: »Citation, I would argue, is perhaps another name for photography. When Benjamin claims that ›to write history therefore means to quote history‹, he sug-gests that historiography follows the principle of photography.«32 Cadava behan-delt die Fotografie als Konzept, als ›principle‹, das innerhalb seines Begriffsrasters und den zugehörigen Texten sichtbar werden soll. In ihrer Struktur ähnelt seine Studie Bernd Stieglers Band Bilder der Photographie. Ein Album photographischer Metaphern (2006). Auch hier werden verschiedene Begriffe angeordnet, die inner-halb der Fotografietheoriegeschichte relevant geworden sind oder mit denen die Fotografie identifiziert wurde. Man stößt bei ihm auf zahlreiche Ähnlichkeiten zu Cadavas Begriffen (beispielsweise: »Geschichtsschreiberin«, »Tod«, »Äquivalent«, »Sternenlicht«, »Phantom« etc.). Die beiden Arbeiten haben gemeinsam, dass sie keiner linear verlaufenden, argumentativen Struktur folgen, sondern als Begriffs-raster angeordnet sind; diese kartographische Struktur erzeugt ein Nebeneinander verschiedener Aspekte. Eine solche Form lässt Fragmente wie Diskontinuitäten und Widersprüche nebeneinander bestehen. Die große Qualität der Studie von Cadava liegt darin, dass sie induktiv vorgeht und das Fotografische anhand einzel-ner Begriffe aus Benjamins Werk herauszudestillieren versucht, um die Fotografie als ›Konzept‹ zu denken.

Dort, wo man sich Benjamin unter medientheoretischen Gesichtspunkten nä-hert (Rolf Krauss), wird häufig derjenige Punkt ausgespart, wo die Fotografie in ein literarisches und diskursives Objekt umschlägt, während ausgehend von der literaturwissenschaftlich / philosophischen Perspektive, die Cadava einnimmt, möglicherweise das jenseits des Textes existierende materielle Bild, das Foto, aus dem Blick gerät. Benjamins Arbeit mit Fotografie /n ist zum einen geleitet durch ein medientheoretisches Interesse, zugleich nimmt sie jedoch signifikant Einfluss auf seine literarische Arbeit wie auch seine geschichtsphilosophischen Konstruk-tionen. Seine Fotografiebetrachtungen in Konstellation mit seinen literarischen Arbeiten zu erkunden, ist bisher ein Forschungsdesiderat geblieben. Die Fotogra-fie mit Benjamin als dasjenige Medium zu definieren, das den Verlust der Aura eingeleitet hat, greift zu kurz, ebenso wenig erschöpfen sich Benjamins Einsätze fotografischer Elemente in dem Begriff der ›fotografischen Metapher‹. Ich gehe daher der Frage nach, wie die Fotografie sowohl in Form materieller wie auch

32 Cadava: Words of Light, S. xvii. Cadava zitiert aus der Passagenarbeit, siehe V, 595.

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Einleitung 21

›theoretischer Bilder‹ in das Denken des Autors eingreift, um auf diesem Weg den Bogen zwischen seinen medien theoretischen Überlegungen und seiner literarischen Arbeit zu schlagen. Meine Untersuchung wendet sich damit jenen blinden Flecken zu, die die jeweiligen Zugänge bestehen gelassen haben, und unternimmt die Gratwanderung, weder den konkreten Fotografien verhaftet zu bleiben noch sie zu einem rein diskursiven Objekt gerinnen zu lassen.

Benjamin im Fokus kuratorischer Tätigkeit und die

für die Arbeit relevanten Ausstellungen

Neben den zahlreichen theoretischen Aneignungen Benjamins existiert auch »eine besonders rege und intensive kuratorisch-dokumentarische sowie künstlerische Auseinandersetzung mit seinem Werk«33, was für einen Schriftsteller und Philoso-phen des 20. Jahrhunderts durchaus ungewöhnlich ist. Thomas Küpper und Timo Skrandies deuten dies als Indiz für die »Popularisierung und Adaption Benjamin-scher Ausführungen und Theoreme (Reproduzierbarkeit, Aura-Verlust, Topos der Passage, Engel der Geschichte etc.) und deren Kanonisierung«34. Bezüglich einer Aneignung Benjamins im Bereich der Kunst ist weiterhin zu betonen, dass der Autor zu jenen Theoretikern gehört, die eine Erweiterung bzw. Revolutionierung des Kunstbegriffs postuliert haben, in dem die Medien Film und Fotografie ihren festen Platz haben. Die zu seiner Zeit noch umstrittene Frage, ob Fotografie als Kunst gelten kann oder nicht, überflügelte er kurzum dadurch, dass er sie bereits wie Kunst dachte und sie als konstitutiv für die Kunst und deren Veränderung vorausgesetzt hat. Er stellt die seiner Zeit vorauseilende Frage, »wie sich der Begriff von Kunst angesichts der Photographie verändert habe«35. Die Fotografie darauf-hin zu befragen, welche Sichtbarkeiten sie erzeugt und welche sie unterschlägt, hat aktuell an Relevanz gewonnen. Diese Problemstellung wird in besonderem Maße in der Kunst verhandelt und macht sie zu dem Ort, an dem zahlreiche der Problemstellungen, die Benjamin aufgeworfen hat, eine Virulenz entwickeln.

Ich möchte an dieser Stelle einige Ausstellungen anführen, die in die Zeit meiner Arbeit fielen und für sie von Bedeutung waren.

2004 fand im Berliner Haus am Waldsee die Ausstellung SCHRIFT BILDER DENKEN Walter Benjamin und die Kunst der Gegenwart 36 statt, die sowohl aktuelle

33 Küpper / Skrandies: Rezeptionsgeschichte. In: Benjamin-Handbuch, S. 53. Eine ausführliche Auflistung und Darstellung der zahlreichen Ausstellungen ist hier nachzulesen (S. 53−55).

34 Ebd., S. 53.35 Weigel: Techne und Aisthesis photo- und kinematographischer Bilder, S. 4.36 Entstanden sind zwei Kataloge, der erste versammelt theoretische Positionen zum Thema,

der zweite zeigt die Exponate der Ausstellung, die künstlerische Praxis. Siehe Schöttker: SCHRIFT BILDER DENKEN (s. o.) und Peter Herbstreuth et alii (Hg.): SCHRIFT BILDER DENKEN 2: Die Kunst der Gegenwart und Walter Benjamin. Formen des Gedenkens in der zeitgenössischen Kunst. Berlin: Haus am Waldsee e. V. 2005.

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22 Einleitung

künstlerische Auseinandersetzungen mit Benjamins Leben und Werk zu sehen gab, wie auch Werke aus seinem zeitgenössischem Kontext präsentierte, beispielsweise Fotografien von Sasha Stone, Karl Blossfeldt und Gisèle Freund.

2006 war zeitgleich mit dem Benjaminfestival NOW – das Jetzt der Erkenn-barkeit. Orte Walter Benjamins in Kultur, Kunst und Wissenschaft die Ausstellung Walter Benjamins Archive. Bilder, Texte und Zeichen 37 zu sehen, die bis dato un-veröffentlichte Fotografien aus Benjamins Privatbesitz zeigte und für den Kontext meiner Arbeit sehr hilfreich war.

Neben diesen beiden Veranstaltungen sind jene anzuführen, die nicht Benjamins Denken, Leben und Werk in den Mittelpunkt stellten und zum Ausgangspunkt künstlerischer Auseinandersetzungen machten, sondern die Fotografien aus dem Kontext der 20er und 30er Jahre präsentiert haben. Auch hier fielen drei Aus-stellungen in die Zeit meiner Arbeit und haben es ermöglicht, einen großen Teil derjenigen Bilder, die Benjamin rezipiert hat, noch einmal – unabhängig von seinen ›Lesarten‹ – in eigenen Ausstellungskontexten wahrzunehmen:

2005 versammelte die Ausstellung Neues Sehen in Berlin einen Teil aus der für die Fotografiegeschichte folgenreichen Ausstellung Film und Foto von 1929; viele der Ausstellungsrezensionen, die der dazugehörige Katalog liefert, sind in meine Untersuchung eingeflossen.38

In Hamburg präsentierte man im gleichen Jahr unter dem Titel Begierde im Blick eine bis dato selten ausgestellte Bandbreite surrealistischer Fotografien.39

Eine kleine Einzelausstellung mit den Pflanzenfotografien Karl Blossfeldts war 2005 in Köln zu sehen; sie zeigte diese Fotografien in Konfrontation mit Stam-meskunst aus Afrika und Neuguinea, d. h. genau so, wie sie erstmalig ausgestellt wurden, was in die Rezeptionsgeschichte jedoch kaum eingegangen ist.40

Und schließlich fand 2007/2008 anlässlich des 150. Geburtstags Eugène Atgets im Berliner Martin-Gropius-Bau dessen erste Retrospektive in Deutschland statt. Auch diese Ausstellung ermöglichte einen Blick auf den Fotografen und dessen Werk, der durch eine reine Katalog-Rezeption nicht zu gewährleisten ist.41

37 Walter Benjamins Archive. Bilder, Texte und Zeichen, hg. v. Walter Benjamin Archiv. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006.

38 Neues Sehen in Berlin. Fotografien der Zwanziger Jahre. Ausstellungskatalog, hg. v. Bernd Evers. Berlin: Kunstbibliothek 2005.

39 Begierde im Blick. Surrealistische Photographie. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle vom 11.03. bis 29.05.2005, hg. v. Annabelle Görgen u. Uwe Schneede. Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2005.

40 Siehe: Urformen der Kunst. Aus Pflanzenreich und fremden Welten. Ausstellungskatalog anlässlich der gleichnamigen Sonderschau der Art Cologne vom 28. Oktober bis 1. November 2004, hg. v. Karl Blossfeldt Archiv – Dierk E. Dierking / Ann und Jürgen Wilde. Zülpich / Köln 2004.

41 Siehe: Eugène Atget. Retrospektive. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Martin-Gropius-Bau Berlin, 28. September bis 14. Januar 2007/2008. Berlin: Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH 2007.

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Einleitung 23

Aufbau der Untersuchung

I

Der erste Teil – BENJAMINS ARBEIT AN DER FOTOGRAFIE – beinhaltet die Darstellung seiner fotografietheoretischen Position wie auch seiner Auseinander-setzungen mit konkreten Fotografien und Fotografen. Für eine erste fotografie-theoretische Verortung werden drei seiner Texte vorgestellt, die sich explizit mit der Fotografie befassen. Während auf der Grundlage des 2. Pariser Briefs (Malerei und Photographie) Benjamins Anliegen deutlich werden kann, einen neuen Kunstbegriff zu installieren und damit einen alten, überholten abzulösen, wird auf der Basis seiner Auseinandersetzung mit Gisèle Freunds Werk Photographie und Gesellschaft die Bedeutung des politischen Aspekts für seine fotografietheoretische Position zugespitzt. Der dritte an dieser Stelle bearbeitete Text ist die Kleine Geschichte der Photographie; als ›Schlüsseltext‹ für Benjamins fotografietheoretische Position ist er nicht nur ein Ausgangspunkt der Analyse, sondern die Auseinandersetzung mit diesem Text durchzieht das gesamte Projekt. Das zweite Kapitel gilt dem für Benjamins Arbeit an der Fotografie konstitutiven Begriff der Aura.

Von diesen beiden einführenden Kapiteln ausgehend wird Benjamins Aus-einandersetzung mit konkreten Fotograf(i)en vorgestellt. Diese zeichnet sich da-durch aus, dass er sie insbesondere auf der Basis der Lektüre von Texten (häufig den Vorworten zu entsprechenden Fotografie-Publikationen) rezipiert hat, die erheblichen Einfluss auf seine ›Lesart‹ der Bilder hatten; mitunter haben seine Ausführungen über Fotografien eher den Charakter einer Textrezension als ei-ner Fotografie-Betrachtung. Ein Ineinandergreifen von Bildbetrachtungen und Textlektüren zeichnet sich hier bereits deutlich ab. Zwei Fotografen kommt in diesem Kontext besondere Bedeutung zu: David Octavius Hill und Eugène At-get. Sie repräsentieren innerhalb des fotografietheoretischen Ansatzes Benjamins Eckpunkte: Hill als ein Vertreter der ganz frühen Fotografie, Atget als Vertreter einer zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeitgenössischen Fotografie. Diese beiden Fotografen sind es, die Benjamin für seine theoretische Konzeption von Aura und Auraverfall die fotografischen Bilder liefern.

Benjamins Blick auf Atget ist wiederum geprägt durch sein Interesse am Surrealismus und an den neuen Sichten und Sehweisen, die dieser eröffnet. Das Verhältnis von Surrealismus, Neuer Sachlichkeit und Neuem Sehen – denjenigen Richtungen der Zeit, die in sein Denken eingreifen und in die sein Denken eingreift – ist ebenso auszuloten wie seine konkrete Arbeit an den fotografischen Strategien August Sanders, Karl Blossfeldts, Albert Renger Patzschs, John Heart-fields und Karl Dauthendeys. Hier ist mir an einem Blick gelegen, der Benjamins Rezeptionsweise sowohl aufnimmt als auch kritisch beleuchtet und die Bilder nicht nur durch seine ›Beschriftungen‹ und Bildlektüren zu Wort kommen lässt. Die Vorstellung der Fotografierezeptionen schließt mit einer Charakterisierung der für Benjamin spezifischen Weise, Fotografien zu lesen.

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24 Einleitung

II

Der Titel des zweiten Teils beschreibt einen Übergang VON DER FOTOGRAFIE

ZUM FOTOGRAFISCHEN. Während im ersten Teil vornehmlich von Fotogra-fien und Texten über Fotografien ausgegangen wird, wird nun die Frage relevant, wie die Fotografie gedacht wird und welche Implikationen für sie bestimmend sind. Ich verwende den in besonderem Maße von Rosalind Krauss geprägten Begriff des Fotografischen, um die Fotografie als theoretisches und diskursives Objekt in den Blick zu rücken. Er lenkt den Blick weg vom Apparat und von einzelnen Fotografien hin zu den »Charakteristika, mit denen dieses Medium seit seinen Anfängen behaftet ist bzw. behaftet wurde«42. Im Hinblick auf Benjamins Schriften sind insbesondere jene fotografietheoretischen Positionen interessant, die die Fotografie als Spurenmedium vorstellen. Zum einen zeigt sich hier, in welcher Form sich Elemente, die in seinen Texten bereits angelegt sind, in den Fotografiediskurs weitergetragen haben und weiter ausformuliert wurden, zum anderen stellen die jüngeren Ansätze Topoi zur Verfügung, die bestimmte fotogra-fische Elemente in Benjamins Schriften erst beschreibbar machen. Insbesondere die Ansätze von Philippe Dubois, Rosalind Krauss und Roland Barthes werden hinzugezogen und liefern das notwendige Fundament, um Benjamins Gebrauch der Fotografie engzuführen.

Changierend zwischen Sichtbarkeit und Verborgenheit ist der Begriff der Spur für Benjamin von großer Bedeutung – sowohl in Bezug auf die Fotografie, als auch unabhängig von ihr. Unter dem Titel Bilder von Spuren. Benjamins kriminalistische Bildlektüren wird die Fotografie als Spur mit Benjamin ›beim Wort‹ genommen. Es zeigt sich, dass er mit verschiedenen Begriffen der Spur operiert. Zum ei-nen geht es um intendierte, gelegte Spuren, die möglicherweise Orientierungen bieten, zum anderen um die nicht beabsichtigten Spuren, die auf etwas nicht Gesehenes hindeuten, Andeutungen machen, verbergen wie auch verraten (und möglicherweise desorientieren). Im Kontext des Begriffs der Spur geht es in diesem Kapitel daher um Verschiedenes: um kriminalistische und erkennungsdienstliche Einsätze der Fotografie, den Umschlag von der literarischen Figur des Flaneurs zum Detektiv (oder vom bürgerlichen Interieur zur Krimikulisse), um Benjamins Interesse an der ›Kriminalistik‹ und die Schnittstellen zwischen kriminalistischen und ästhetischen Praktiken.

Der andere zentrale Begriff für diesen Teil der Untersuchung ist die Beschriftung. Dieser Begriff markiert ein Zusammenspiel von Bild und Text. Das Verhältnis von Bild und Schrift, von dem Benjamin ausgeht, ist ein besonderes: Weder gelten Bilder als Illustrationen zum Text noch die Texte als Beschriftungen der Bilder, sondern vielmehr besitzen sie eigene Identitäten, stehen sich als ›das jeweils an-dere‹ gegenüber, kollidieren, verfremden und ergänzen sich gegenseitig. Sowohl

42 Wolf: Paradigma Fotografie, S. 7 (Einleitung ).

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Einleitung 25

Benjamins Orientierung an Brecht, seine Auseinandersetzung mit surrealistischen Strategien im Umgang mit Fotografie-Schrift-Konstellationen (insbesondere in Bretons Erzählung Nadja) als auch seine Rezeption der Fotomontagen John Heart-fields werden im Kontext der Beschriftung in den Blick genommen.

III

Der dritte Teil setzt Elemente des Fotografischen mit Benjamins literarischen Texten in Beziehung und deckt dessen FOTOGRAFISCHE SCHREIBWEISEN

auf. Dies impliziert eine weitere Verschiebung vom Foto zum Fotografischen. Der Blick fällt nicht mehr auf Fotografien, sondern auf die Entstehung fotografischer Bilder und die Analogien, die diese zu der Entstehung innerer Bilder aufweisen. Dubois’ Untersuchung Der fotografische Akt bildet auch hier den Ausgangspunkt der Analyse. Dessen fotografietheoretische Bestimmung des Begriffs der Spur als Einschreibung des Lichts in lichtempfindliches Material und als Index wird nun ergänzt und weitergeführt durch den Aspekt der zeitlichen und räumlichen Distanz, die die Fotografie – ebenso wie die indexikalische Nähe – ins Bild setzt; das Zusammenspiel von Nähe und Distanz, das Dubois für die Fotografie als konstitutiv herausstellt, korrespondiert wiederum mit Benjamins Entgegensetzung der Begriffe Spur und Aura. Der Zusammenhang zwischen Benjamins Einsatz der Spur und dem Verständnis der ›Fotografie als Lichtspur‹ – wie er im zweiten Teil dargestellt wird – mag zunächst konstruiert erscheinen. Es zeigt sich daran jedoch, dass sich in diesem Begriff technische und medienspezifische Eigenschaften der Fotografie mit Vorstellungen über sie vereinen. Die Fotografie als Spur zu verstehen, impliziert nicht allein die Erkenntnis, dass Licht auf einer bestimmten chemischen Beschaffenheit von Papier (Licht-)Spuren hinterlässt, sondern eine Reihe von Vorstellungen und Imaginationen. Dies wirft weniger die Frage auf: Wie entsteht ein Bild auf dem lichtempfindlichen Papier?, als vielmehr: Wie entsteht – durch die Fotografie und möglicherweise g e g e n die Fotografie – ein Bild in der Vorstellung?

Daran schließt sich wiederum die Frage an: Wie wird die Fotografie / der fo-tografische Akt zum Modell für Gedächtnis und Erinnerung. Ein fotografisches Modell bzw. eine Fotografiemetapher, die auf Benjamin großen Einfluss hatte, stammt von Sigmund Freud. Das fotografische Negativ als latent vorhandenes Bild vergleicht dieser mit dem Unbewussten, das fertige Foto als entwickeltes Bild mit dem Bewussten. Den nicht-ins-Bewusstsein-gedrungenen Ereignisse der Vergangenheit kommt in seinem Modell der Status von Erinnerungsspuren zu. In welchem Verhältnis Freuds Begriff der Erinnerungsspur zu Benjamins literarischer Arbeit an der Erinnerung steht, zeigt die Lektüre von Auszügen aus der Berliner Kindheit, Fotografieaufsatz und seinem Essay über Franz Kafka43. Auch in diesen Texten kann man noch von Benjamins Schreiben über Fotografien sprechen. Dieses

43 Benjamin: Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages, II, 409−438.

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26 Einleitung

hat jedoch eine vollständig andere Qualität als das, was im ersten Teil unter dem Titel Benjamins Arbeit an der Fotografie verhandelt wird. Anhand seiner Ausein-andersetzung mit Kinderfotografien von sich und Kafka wird gezeigt, wie die Fotografie in den Text eingreift, diesen unterbricht und das endgültige Bild, das sich nicht einstellen will, unaufhörlich in Bewegung hält.

Jedoch auch dort, wo die Fotografien gänzlich aus dem Text verschwinden, stößt man auf Schnittstellen zu Fotografie und Fotografischen. Dubois stellt räum liche und zeitliche Distanzen – den ›Schnitt durch Raum und Zeit‹ – als ein wesentliches Merkmal der Fotografie heraus. Dass Benjamin mit ganz ähnlichen ›Schnitten‹ arbeitet und dass sich seine Erinnerungsarbeit durch zeitliche und räum liche Distanzen strukturiert, wird anhand von Auszügen aus der Berliner Kindheit, der Passagenarbeit und den Städtebildern dargelegt.

Im Vergleich von Erinnerung und Fotografie gerät insbesondere eine Frage in den Fokus: In welchem Verhältnis stehen Erinnerungsbild / Gedächtnisbild und Foto-grafie zueinander? Hier zeigt sich, dass Benjamin Fotografien nicht in erster Linie als Gegenbilder zu Erinnerungsbildern begreift, sondern zum einen als Auslöser von Erinnerungsbildern, zum anderen als Beschreibungsmodell für Erinnerungspro-zesse. Er verwendet die Fotografie für seine literarische Erinnerungsarbeit. Diese will er jedoch nicht auf (s)eine individuelle und subjektive Geschichte reduziert wissen. Wie das Zusammenspiel von Fotografie und Erinnerung auf der Grundlage der Berliner Kindheit auf geschichtsphilosophische Zusammenhänge ausgeweitet werden kann, stellt das neunte Kapitel vor.

Insgesamt vollzieht die Untersuchung eine Bewegung von der Auseinander-setzung mit konkreten Bildern – Fotos – hin zum Einsatz der Fotografie als theoretisches Objekt. Die Fotos verschwinden mehr und mehr zu gunsten des Foto-grafischen. Genau diese Bewegung bestimmt Benjamins Gebrauch der Fotografie, welcher im zehnten Kapitel als eine Einverleibung des Mediums vorgestellt wird. Die Begriffe des Bildraums und der Schwelle dienen dazu, die Umschlagspunkte zwischen inneren und äußeren Bildern zu lokalisieren. Hier wird die Fotografie zum Modell und zur theoretischen Apparatur, die es dem Autor ermöglicht, andere Formen der Erinnerungs- und schließlich Geschichtsdarstellung zu ent wickeln.

Abschließend richtet sich der Blick noch einmal zurück auf den Fotografen Atget. Wie Benjamin dessen fotografische Arbeit beschreibt und wie diese im Verhältnis zu seiner eigenen – fotografisch gekennzeichneten – Arbeit zu denken ist, stellt diejenige Frage dar, auf deren Grundlage abschließend skizziert werden kann, was Benjamins »Gebrauchswert« der Fotografie auszeichnet.