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Insel Verlag Leseprobe Dammel, Gesine Weihnachten, so schön, wie es früher einmal war © Insel Verlag insel taschenbuch 4667 978-3-458-36367-5

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Insel VerlagLeseprobe

Dammel, GesineWeihnachten, so schön, wie es früher einmal war

© Insel Verlaginsel taschenbuch 4667

978-3-458-36367-5

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insel taschenbuch

Weihnachten, so schön, wie es frühereinmal war

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WeißeWeihnachtenmit fröhlichenRodelpartien, einbunt geschmückterWeihnachtsbaum voller Süßigkeiten und Lametta, das Haus erfüllt vomDuft nach warmen Plätzchen und nach Tannennadeln – und knisterndeSpannung, während wir auf das Christkind warteten …

Alle Jahre wieder werdenandenWeihnachtstagenauchErinnerungenan frühere Feste wach und wie schön es damals war. Davon erzählen dieAutorinnen und Autoren dieses Bandes.

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INSEL VERLAG

Weihnachten,so schon, wie es fruher

einmal warDIE SCHÖNSTEN GESCHICHTEN

HERAUSGEGEBEN VON GESINE DAMMEL

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Erste Auflage insel taschenbuch

Originalausgabe© Insel Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das derÜbersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder

unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.

Quellennachweise am Schluss des BandesVertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Umschlag: zero-media.net, MünchenUmschlagabbildungen: Getty Images; Imagno; FinePic®Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,Waldbüttelbrunn

Druck: CPI – Ebner & Spiegel, UlmPrinted in Germany

ISBN ----

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INHALT

BEI UNS WAR ES AM ALLERSCHÖNSTEN

Hans Fallada, Bei uns war es am allerschönsten Joachim Ringelnatz,Weihnachtserinnerungen Dylan Thomas,Gespräch über Weihnachten Frédéric Mistral, Provenzalische Weihnacht

Marie Luise Kaschnitz,Weihnachten in Königsberg Walter Benjamin, Blumeshof

ALS WIR NOCH AUF DAS CHRISTKIND WARTETEN

Walter Benjamin, Ein Weihnachtsengel Marieluise Fleißer, Als wir noch auf das

Christkind warteten Hanns-Josef Ortheil,Warten aufs Christkind

Jutta Richter,O du fröhliche! Urs Widmer, Meine Lieblingsweihnachtsgeschichte

DER ADVENTSSCHNEEWEIHNACHTSMANN

Robert Walser, Die kleine Schneelandschaft Karl Krolow, Eine Weihnachtserinnerung,

die ich nicht vergaß Herbert Rosendorfer,Winterliches Choas

Karl Valentin,Winterstreiche AlfonsSchweiggert,DerAdventsschneeweihnachtsmann

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GLOCKENGELÄUT UND BRATAPFELDUFT

Oskar Maria Graf, Die Christmette Joseph Roth,Weihnachten in Cochinchina Ludwig Tieck, Auf dem Weihnachtsmarkt

Alfred Polgar, Der Maronibrater Walter Benjamin,Wintermorgen

DAS FEST DER LIEBE

Thomas Bernhard,Von sieben Tannen und vom Schnee …Eine märchenhafte Weihnachtsgeschichte

Ludwig Marcuse,Weihnachten ist Sichverlieben Rebecca Casati, Königin Eva Corino, Advent

WAS WAR DAS FÜR EIN FEST?

Marie Luise Kaschnitz,Was war das für ein Fest? Dino Buzzati, Zuviel Weihnachten Peter Bichsel,Weiße Weihnachten

Quellenverzeichnis

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BEI UNS WAR ESAM ALLERSCHÖNSTEN

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HANS FALLADABei uns war es am allerschönsten

Überall, wo Kinder sind, ist das Weihnachtsfest schön, ichfinde natürlich, zu Haus bei uns war es am allerschönsten!Das Hauptverdienst daran trägt sicher der Vater, er hatteeine so liebenswürdig geheimnisvolle Art, unsere Erwartungzu steigern, uns ein bißchen zu foppen und zu necken.In Berlin halten dieWeihnachtsbäume zeitig ihren Einzug

auf Straßen und Plätzen. Dann fangen wir Kinder an,Vaterzu drängen, daß er auch einen Baum besorgt. Zuerst ver-schanzt sich Vater dahinter, daß das überhaupt nicht sei-ne Sache sei, sondern die desWeihnachtsmanns. Natürlichkommt er damit bei uns nicht mehr durch, selbst Ede glaubtnicht mehr an diese Figur, seit beim letzten Fest Herrn Mar-kuleits, unseres Portiers, Schuhe unter Vaters umgedrehtemGehpelz erkannt wurden. Nein, Vater soll machen und ei-nenBaumkaufen.AufdemWinterfeldtplatz gab es die schöns-ten.Schließlich versprach Vater, sich umzusehen, in diesen Ta-

gen habe er aber noch nicht recht Zeit dafür. Doch wir lie-ßen nicht nach mit Drängen. Schließlich ging Vater, undwir alle erwarteten seine Rückkehr mit Spannung. Natürlichkam er leer zurück. Das hattenwir auch nicht anders erwar-tet, denn Vater kaufte nie etwas sofort. Er erkundigte sicherst überall, wo er es am billigsten bekäme. Aber Vater kamauch recht niedergedrückt heim: die Weihnachtsbäume wa-ren in diesem Jahre unerschwinglich teuer! Er hatte uns dochrecht verstanden, wir wollten wieder einen Baum vomFuß-

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boden bis zur Decke –? Nun also, so etwas hatte er sichschon gedacht, aber solche Bäume gab es nicht unter neunMark, und mehr als fünf wolle er keinesfalls anlegen …

Wenn wir uns freilich mit einem auf den Tisch gestelltenBäumlein begnügen wollten –?Wir schrien Protest. Es gelang dem Vater immer wieder,

unsere Leidenschaft undunsernZweifel zu erregen, obwohlsich alljährlich das gleiche Spiel wiederholte.Wir wußten ja,daß Vater wirklich sehr sparsamwar, es war ja möglich, daßWeihnachtsbäume in diesem Jahre besonders teuer waren!Von nun an kam Vater fast alltäglich mit neuen Geschich-

ten über Weihnachtsbäume heim. Und diese Geschichtenklangen so echt, mit ihren drastischen Berolinismen, daß wirimmer sicherer wurden, Vater war wirklich auf der Suchenach einemTannenbaum,hatte aber nochkeinengefunden.Er erzählte uns, wie er am Viktoria-Luise-Platz beinahe,

beinahe einen herrlichen Baum gekauft hatte, als er im letz-ten Augenblick merkte, daß die meisten seiner Zweige nichtan ihm gewachsen, sondern in eingebohrte Löcher gestecktwaren.Vater berichtete von windschiefen Tannenbäumen undvon solchen, die jetzt schon nadelten, und von krummenBäumen. Am Bayrischen Platz hatte Vater einen Baum fastschon gekauft, er und der Händler waren nur noch um fünf-undzwanzig Pfennige auseinander, da war einWagen vorge-fahren, eine Damenstimme hatte gerufen: »Den Baum willich!« und fast aus VatersHänden wurde der Baum zumWa-gen getragen.Vater tat sehr geheimnisvoll wegen der Käuferin. Er ließ

es für möglich erscheinen, daß es vielleicht eine PrinzessinvomkaiserlichenHof gewesen sei, oder auch eineHofdame,

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und er stellte uns vor, daß nun vielleicht des KronprinzenKinder mit »unserer Tanne« Weihnachten feierten!Das versetzte unserer Phantasie einen Schwung, aber es

verhalf uns immer noch nicht zu einer Tanne. Und das Festzog näher und näher. Unser Drängen wurde heftiger. Abernun wurde Vater plötzlich gleichmütig: er habe diese ewigeLauferei nach Tannenbäumen satt, sie würden auch noch im-mer teurer. Nein, nun werde er bis zum . Dezember war-ten, wenige Stunden vor dem Heiligen Abend gingen dieHändler immer mit ihren Preisen herunter, um den Rest los-zuwerden. Freilich riskiereman, daß dann alles fort sei, aberer, Vater, nehme lieber ein solches Risiko in den Kauf, alsdaß er Wucherpreise zahle.Wenn Vater so redete, schielte ich immer nach den Fält-

chenum seine Augen. Sie waren im allgemeinen sichereAn-zeiger für Ernst oder Scherz. Aber Vater wußte selbst sehrgut, daß solche Anzeiger in seinemGesicht saßen, beherrsch-te oder verbarg sie–kurz, er brachte uns alle inUnsicherheit.Wir suchten die ganzeWohnung ab, wir stiegen auf den Bo-den und in den Keller, wir fanden keine Tanne, wir verzwei-felten.(Einmal ist es mir bei einer solchen Nachsuche gesche-

hen, daß ich auf Mutters Versteck stieß, in dem sie alle un-sere Weihnachtsgeschenke verheimlichte. Ich konnte meinerNeugierde nicht widerstehen und sah sie alle an. Ich habenie ein kläglicheres, freudloseres Weihnachtsfest als dies er-lebt. Ich mußte noch Freude und Überraschung heucheln,und dabei warmir zumHeulen zumute! Von da an habe ichin der Weihnachtszeit meine Augen hartnäckig von jedemPaket, es mochte das harmloseste sein, fortgewendet.)

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Alsowar es ausgemachtundbeschlossen,Vater würdedenBaum erst wenige Stunden vor der Bescherung kaufen.Wirwaren vonAngst erfüllt.Mit Kummer sahenwir die Bestän-de anWeihnachtsbäumendahinschwinden,wirflehtenVateran, aber Vater schien unerbittlich.Dafür hatte er ein neues Spiel erfunden, er ließ uns unsere

Geschenke raten. JederbekameinRätsel auf,wie dieses: »Esist rund und ausHolz. Aber es ist auch eckig und ausMetall.Es ist neu und doch über tausend Jahre alt. Es ist leicht unddoch schwer. Das bekommst du zu Weihnachten, Hans!«Da konnte man lange raten! Mutter zwar schrie manch-

mal Weh und Ach. »Das ist zu leicht,Vater. Das muß er jaraten! Du nimmst ihm ja die Vorfreude!«AberVater war seiner Sache sicher, und ich erinneremich

wirklich nicht eines einzigen Males, daß ich ein Geschenkerraten hätte.Unter all diesenVorbereitungennahte das Fest. Am .De-

zember standVater ungewohnt früh aufund zog sichmitMut-ter insWeihnachtszimmer, wie nun sein Arbeitszimmer hieß,zurück.ÜberWeihnachten ruhte alleArbeit bei ihm.Dawoll-te er seine Familie ganz für sich haben. Für alle Fälle versuch-tenwir die Schlüssellöcher, trotzdemwirVatersVorsicht kann-ten: er verhängte sie immer zuerst.Geheimnisvoll verdeckteGegenstände wurden durch dieWohnung getragen. Alle lä-chelten, sogar die meist brummige Minna.DerVormittag ging für unsKindernoch so einigermaßen

hin.Meistwarenwirmit unsernGeschenken fürElternundGeschwister noch nicht fertig. Mit Eifer wurde laubgesägt,kerbgeschnitzt, spruchgebrannt, gehäkelt und gestickt, undwas es da alles sonst noch für Beschäftigungen gab, durch die

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man in damaligenZeiten dieWohnungen immermit Scheuelund Greuel anfüllte.ZumMittagessen gab es immer Rindfleisch mit Brühkar-

toffeln. Mutter vertrat den Standpunkt, daß wir uns nochfrüh genug denMagen verderben würden und vorher nichteinfach genug essen könnten. Nach demEssen aber stieg un-sere Spannung so sehr, daß wir eine Pest wurden, aus lauterKribbligkeit und Erwartung brachen ständig Streitigkeitenzwischen uns aus. Schließlich jagte uns Vater auf die Straßemit demMachtwort, nicht vor sechs Uhr nachHaus zu kom-men, eher fange die Bescherung doch nicht an.Meist trenntenwir vier Geschwister uns sofort, wennwir

auf die Straße kamen. Die Schwestern gingen für sich, undichmachtemichmit Ede auf, um die schon hundertmal be-sichtigten Schaufenster der Spielwarenläden noch einmal an-zusehen. Da stellten wir dann fest, was mittlerweile aus denSchaufenstern genommenwar, undmachten Pläne für das,was wir uns zum nächsten Weihnachtsfest wünschen woll-ten. Aber die Zeit wurde uns sehr lang, es schien überhauptnicht dunkel werden zu wollen, und sonst kam die Dämme-rung immer so schnell!Wir gingenundgingen, aber dieZeit vergingnicht.Dann

kamen wir auf das Spiel, auf den Granitplatten des Bürger-steigs so zu gehen, daß nie auf eine Ritze getreten wurde.Auch durfte man auf jeden Stein nur einmal treten. Gelanges, so bis zur nächsten Straßenecke zu kommen, so wurdeein Lieblingswunsch erfüllt. Dies war also unser Orakel, undes war gar nicht so leicht! Dennmanche Steine waren für un-sere Kinderbeine sehr breit, auch verlangten entgegenkom-mende Erwachsene, daß wir ihnen den Weg frei machten,

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und neben den Granitplatten lag Kleinpflaster – dann adeLieblingswunsch!Schließlich war es doch dämmrig geworden.Wir warteten

so lange, bis in irgendeinemFenster der erste Baumbrannte,dann stürzten wir nach Haus mit dem Geschrei: »Die Weih-nachtsbäume brennen schon überall! Warum geht’s denn beiuns noch nicht los?!«Meist waren die Schwestern kurz vor uns eingetroffen

oder kamen gleich hinterher, und meist waren die Elterndann auch soweit, und wir brauchten nicht länger am Spie-ße zu zappeln, wie Vater das nannte. (…)Für die letzte Viertelstunde scheuchte Vater auch noch

Mutter aus demWeihnachtszimmer. Er baute ihr noch raschseineGeschenke auf, auchwar es sein eifersüchtig verteidig-tes Vorrecht, die Lichter amBaum zu entzünden. In fliegen-der Hast warf Mutter sich in Gala, wobei sie noch uns aufSauberkeit und Ordnung prüfte.Nun versammeltenwir uns schon alle erwartungsvoll auf

demFlur,dieHerzen schlugen schneller,dieHoffnungenwur-den immer ausschweifender. Ich ertappemich dabei, daß ichvor lauter Aufregung die Fäuste fest geballt habe und immer-zu vor mich hinflüstere: »Au Backe! Au Backe! Au Backe!«AuchEdes Lippenbewegten sich stumm, ichweiß schon, ersagt sichnocheinmaldasWeihnachtsgedicht auf, das er gleichwird deklamierenmüssen…Nun, in diesem spannendstenMoment, werde ich von derMutter in die Küche geschickt,um die alte Minna zur Eile anzutreiben. Christa ist längsthier…Minna ist noch beimHaarmachen. Ihr dunkles spärliches

Haar steht in lauter kurzen Mäuseschwänzchen steil vom

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Kopfe ab. Jedes Schwänzchen wird sorgfältig mit Ochsen-pfotenfett, einer Stangenpomade, eingerieben. IchfleheMin-na an, sich zu beeilen, obwohl ich aus Erfahrung weiß, daßjedes Hetzen bei Minna nur die Wirkung hat, sie noch zuverlangsamen, und kehre zuMutter zurück, um ihr Berichtzu erstatten.Mutter entscheidet, daß wir aufMinna wartenmüssen.AusdemBescherungszimmerklingt eine rauheStim-me:»Seid ihr auch alle artig?«Wir brüllen begeistert: »Ja!«Die Stimme fragt weiter: »Habt ihr euch auch alle die

Zähne geputzt?«Wir brüllen ebenso begeistert: »Nein!«Und die Stimme fragt zum dritten Male: »Seid ihr denn

auch alle fertig?«Wir brüllen eiligst wieder ein »Ja!«, aber Mutter fügt ha-

stig hinzu: »Wir müssen noch auf Minna warten!«»Na, denn wartet man!« ruft die Stimme, und hinter der

Tür wird es wieder still.Aber derGeruch vonbrennendenKerzenundTannenna-

deln hat sich doch auf demFlur verbreitet.UnsereAufregungkann nun nicht mehr höher steigen. Ich tanze auf einemBein wie ein Irrwisch umher, Ede sieht bleich vor Aufregungaus. Plötzlich geht er, fast finster vor Entschlossenheit, aufChrista zu, nimmt ihre Hand und küßt sie!Christa wird puterrot und reißt ihm ihre Hand fort.Wir

andern brechen in ein verblüfftes Lachen aus.»Warum hast du das dennbloß gemacht, Ede?« ruftMut-

ter verwundert.»Nur so!« antwortet er ohne alle Verlegenheit. »Irgend et-

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wasmußman doch tun, undmir war grade so!Manwird javerrückt vor lauter Warten!«Nach diesen abgerissen hervorgestoßenen Sätzchen stellt

er sich neben mich und haut mich mit der geballten Faustauf den Bizeps. Alle Vorbedingungen für die schönste Kei-lerei sind gegeben, aber …Aber da erscheint endlich Minna! Ich finde, ihr glatt an

den Schädel geschmiertesHaar sieht nicht anders aus als sonst,darumhätte sie unswirklichnicht so lange warten lassenmüs-sen!Mutter ruft: »Vater, wir sind soweit!« und fast augenblick-

lich ertönt das silberne Bimmeln eines kleinen Glöckchens.Sofort nehmen wir Aufstellung, und zwar ist nach dem Al-ter anzutreten, was auch genau der Größe entspricht.Wirstehen hintereinander wie dieOrgelpfeifen, nur die zu kurzgeratene Minna zwischen Christa und der Mutter stört…Die Tür zum Bescherungszimmer fliegt auf, eine strahlen-

de Helligkeit begrüßt uns. Geführt von Ede rücken wir imGänsemarsch ein.Vater, am Flügel sitzend, sieht uns mit ei-nem glücklichen Lächeln entgegen.Nach geheiligtem Gesetz dürfen wir weder rechts noch

links schauen, wir haben schnurstracks auf denBaum loszu-marschieren und vor ihm Aufstellung zu nehmen, nach demSatz: erst kommt die Pflicht, danndasVergnügen.Die Pflicht-erfüllung aber besteht darin, daß Vater nach einem kurzenVorspiel das Lied »Stille Nacht, heilige Nacht« spielt, nunsetzen wir ein, und es wird gesungen. Das heißt, wir sind na-türlich nichtwir, ichbrummenur somit, und auch das gebeich gleich wieder auf: die klettern ja auf alle Gipfel!Unterdes mustere ich den Baum. Jawohl, es ist doch wie-

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der einWeihnachtsbaumgeworden,wie er sein soll, vomFuß-boden bis zur Decke.Vater hat uns also doch wieder reinge-legt, denn diesen Baum hat er bestimmt nicht erst in derletzten Stunde gekauft!Wo er ihn nur so lange versteckt ha-ben mag?! Im nächsten Jahre falle ich aber bestimmt nichtwieder darauf rein!

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JOACHIM RINGELNATZWeihnachtserinnerungen

KINDHEITSERINNERUNGEN

DerWeihnachtsbescherung gingenbesondere intime, über-lieferte oder eingeführte Gebräuche, Scherzchen und Senti-mentalitäten voraus, und ebensolche familiär geheiligte Bräu-che folgten. Es liegt mir fern, mich darüber lustig zumachen.Ich will nur hier auf das in allen Variationen so oft geschil-derte Thema nicht weiter eingehen.Weihnachten war auchuns Kindern in jedem Jahr das Fest der Seligkeit, der Herz-lichkeit, der Anhänglichkeit, des Reichtums, des Glücks.UndzuSilvesterkriegtenwirPfannkuchen,durftenPunsch

trinken und umMitternacht leicht angeheitert am offenenFenster lauschen.Draußen,druntenläutetendieGlocken,riefman »Prost Neujahr«, knallte Feuerwerk. Auch wir durfteneinmalmutig, als wär’s was, aus demFenster brüllen: »ProstNeujahr!«

Zu Weihnachten erhielt Ottilie von Onkel Martin entzük-kende, weiße, prachtvoll bestickte Seide für ein Kleid. Ichwarf ein glühendes Streichholz auf den Stoff und hindertemeine Schwester gewaltsam, das zu entfernen. Auf ihr Ge-zeter sprangenMutter undBruder hinzu. Sie entdeckten, dassmein Streichholz ein angekohltes, aber längst ausgekohltesZündholzwar.Ander Stelle,woVerkohlt undUnverbranntsich trafen, hatte ich einen schmalen roten Stanniolstreifenum das Hölzchen gewunden. Der wirkte in der Kerzenbe-

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leuchtung wie Glut. Ich freute mich meiner kleinen Erfin-dung.

»Streichholz groß, Streichholz klein,Armes Streichholz, ganz allein.«

(Alter Spielreim)

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DYLAN THOMASGespräch über Weihnachten

Kleiner Junge.Vor vielen, vielen Jahren, als du ein Junge warst–Selbst. Als es inWales Wölfe gab und Vögel rot wie Flanell-unterröcke an den harfenförmigenHügeln vorbeischossen,als wir Tag undNacht inHöhlen sangenund schwelgten,die wie Sonntagnachmittage in feuchtenVorderzimmernvon Bauernhäusern rochen, und als wir lauthals über Eng-länder und Bären herzogen –

Kleiner Junge.Du bist nicht so alt wieMr. Benyon aus Num-mer zweiundzwanzig, der sich an die Zeit erinnern kann,als es noch keine Autos gab.Vor vielen, vielen Jahren, alsdu noch ein Junge warst –

Selbst.Oh, noch vor demAuto, vor demRad, vor demPferdmit seinem Herzoginnengesicht, als wir ohne Sattel aufden verrückten und glücklichen Hügeln ritten –

Kleiner Junge. Ihr wart nicht so verrückt wie Mrs. Griffithsoben in der Straße, die sagt, sie stecke ihren Kopf in denWasserbottichund höre zu, wenn die Fische walisisch spre-chen. Als du ein Junge warst, wie war da Weihnachten?

Selbst. Es schneite.Kleiner Junge. Letztes Jahr schneite es auch. Ich habe einenSchneemanngemacht, undmeinBruder stieß ihnum,undich stieß meinen Bruder um, und dann gingen wir zumTee.

Selbst. Aber es war nicht der gleiche Schnee. Unser Schneewurde nicht nur aus Malereimern vomHimmel herunter-geschüttet, ich glaube, er kam wie ein Umhang aus dem

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