Insel Verlag - bücher.de · 2017. 3. 1. · mile Durkheim (1858-1917) geht in seiner – lngst...

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Leseprobe Durkheim, Emile Die elementaren Formen des religiösen Lebens Aus dem Französischen übersetzt von Ludwig Schmidts. Mit einem Nachwort von Bryan S. Turner. © Insel Verlag Verlag der Weltreligionen 2 978-3-458-72002-7 Insel Verlag

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  • Leseprobe

    Durkheim, EmileDie elementaren Formen des religiösen Lebens

    Aus dem Französischen übersetzt von Ludwig Schmidts. Mit einem Nachwort von Bryan S.Turner.

    © Insel VerlagVerlag der Weltreligionen 2

    978-3-458-72002-7

    Insel Verlag

  • �mile Durkheim (1858-1917) geht in seiner – l�ngst klassisch gewor-denen, aber noch immer aktuellen – Studie Die elementaren Formendes religiçsen Lebens (Les formes �l�mentaires de la vie religieuse. Le syst�metot�mique en Australie, 1912) der Frage nach dem Wesen der Religionnach, und er entwirft die Grundlage f�r eine funktionalistische Be-trachtung der Religion, indem er als ihren sozialen Kern die Aufgabezur Stiftung gesellschaftlichen Zusammenhalts und gesellschaft-licher Identit�t ausmacht. Religiçse Zeremonien und Rituale habeneine wesentliche Funktion zu erf�llen: Sie bilden den »Kitt«, der dieMitglieder der Gruppe bzw. der Gesellschaft zusammenh�lt. Daherdurchziehen religiçse Rituale den Alltag und ermçglichen in verschie-denen Situationen – bei oft krisenhaften Ver�nderungen des indivi-duellen Lebens (wie Geburt, Heirat und Tod) oder in Zeiten rapidengesellschaftlichen Wandels – eine Neubesinnung und Neubestim-mung durch Integration in die Gemeinschaft. In kollektiven Zere-monien wird die Gruppensolidarit�t gerade durch und unter Bedin-gungen persçnlicher und gesellschaftlicher Sinnkrisen gest�rkt undverlebendigt. Zeremonien befreien die Menschen aus den Sorgendes profanen Lebens und çffnen sie f�r hçhere Erfahrungen undWerte der Transzendenz, die zugleich Gemeinschaft stiften. Mitbe-gr�nder der Soziologie als empirischer Wissenschaft, �bte Durkheimgroßen Einfluß auf die nachfolgenden Soziologengenerationen aus.

    Bryan S. Turner war von 1998 bis 2005 Professor f�r Soziologie ander Universit�t Cambridge, seit 2006 lehrt er an der Universit�t Sin-gapur.

  • V E R LAG DE RW E LT R E LIGI ON E N

    TASCH E N BUC H2

  • �MILE DURKHEIMDIE ELEMENTAREN

    FORMENDES RELIGI�SEN

    LEBENSAus dem Franzçsischenvon Ludwig Schmidts

    V E R LAG DE RW E LT R E LIGION E N

  • Gefçrdert durch dieUdo Keller Stiftung Forum Humanum

    Bibliographische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

    in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographischeDaten sind im Internet abrufbar.

    http://dnb.d-nb.de

    3. Auflage 2014

    Erste Auflage 2007Verlag der Weltreligionen

    im Insel Verlag BerlinTaschenbuch 2

    � Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1981Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

    des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

    Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

    ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systeme

    verarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.Umschlag: Hermann Michels und Regina Gçllner

    Satz: H�mmer GmbH, Waldb�ttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, Sinzheim

    Printed in GermanyISBN 978-3-458-72002-7

    Titel der Originalausgabe:»Les formes �l�mentaires de la vie religieuse:

    le syst�me tot�mique en Australie«. Paris: Alcan, 1912.� Presses Universitaires de France Paris 1968

  • DI E E L E M E N TA R E N FOR M E NDE S R E L I GI�SE N L E BE NS

  • I N HA LT

    Einleitung · Objekt der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . 11Erstes Buch · Einleitende Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41Zweites Buch · Die elementaren Glaubensvorstellungen 149Drittes Buch · Die wichtigsten Ritualhaltungen . . . . . . . 437Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 608

    Nachwort von Bryan S. Turner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 654

    Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 675Ethnographische Karte Australiens . . . . . . . . . . . . . . . . . 680

    Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683

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  • E I N LE I TUNG

    OBJE KT DE R UNTERSUCHUNG

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  • R E LIG IO N S SOZ IOLOG I E U N DE RK E N N T N I ST H EOR I E

    I

    Der Zweck dieses Buches ist, die primitivste und einfachsteReligion zu studieren, die bis jetzt bekannt ist, sie zu analysie-ren und eine Erkl�rung zu versuchen. Wir behaupten voneinem Religionssystem, daß es das primitivste ist, das wir be-obachten kçnnen, wenn es die beiden folgenden Bedingun-gen erf�llt: erstens muß es in Gesellschaften zu finden sein,deren Organisation von keiner anderen an Einfachheit �ber-troffen wird.1 Es muß zweitens mçglich sein, es zu erkl�ren,ohne daß man ein Element einf�hren muß, das von einer vor-aufgegangenen Religion geborgt worden ist.

    Wir wollen die Struktur dieses Systems mit der Genauig-keit und der Treue beschreiben, wie es ein Ethnograph oderein Historiker tut. Aber damit ist unsere Aufgabe nicht be-endet. Die Soziologie stellt sich andere Probleme als die Ge-schichte oder die Ethnographie. Sie versucht nicht, erlosche-ne Formen der Zivilisation zu erschließen, nur um sie zukennen und zu rekonstruieren. Sondern sie hat, wie jede po-sitive Wissenschaft, vor allem das Ziel, eine aktuelle, uns naheWirklichkeit zu erkl�ren, die folglich imstande ist, unsereGedanken und unsere Handlungen zu beeinflussen. DieseWirklichkeit ist der Mensch und im besonderen der heutigeMensch, denn es gibt nichts, woran wir st�rker interessiert

    1 Im selben Sinn sagen wir von diesen Gesellschaften, daß sie primi-tiv sind, und nennen den Menschen dieser Gesellschaften den pri-mitiven Menschen. Zweifellos ist der Ausdruck nicht genau, aberer l�ßt sich nur schwer vermeiden; im �brigen bedeutet er keineGefahr, wenn man sich bem�ht hat, seine Bedeutung festzulegen.

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  • sind. Wir studieren also nicht die sehr archaische Religion,von der die Rede sein wird, nur um das Vergn�gen zu haben,ihre Wunderlichkeiten und ihre Seltsamkeiten zu berichten.Wenn wir sie als Objekt unserer Untersuchung gew�hlt ha-ben, so geschah das, weil sie uns geeigneter erschien als jedeandere, die religiçse Natur des Menschen verst�ndlich zu ma-chen, d. h. uns einen wesentlichen und dauernden Aspekt derMenschheit zu offenbaren.

    Aber diese Behauptung bleibt nicht ohne lebhaften Wider-spruch. Man findet es seltsam, daß man,um die heutige Mensch-heit kennenzulernen, damit beginnen m�sse, sich von ihrabzuwenden, um zu den Urspr�ngen der Geschichte hinauf-zusteigen. Dies Verhalten erscheint in der Frage, die uns be-sch�ftigt, besonders paradox. Religionen spricht man n�m-lich ungleichen Wert und ungleiche W�rde zu; man sagt imallgemeinen, daß sie nicht alle denselben Anteil an Wahrheitenthielten. Man kann also anscheinend nicht die hçchstenFormen der religiçsen �berzeugung mit den niedrigsten ver-gleichen, ohne die ersten auf das Niveau der zweiten herab-zudr�cken. Wenn man zugibt, daß uns die derben Kulte deraustralischen St�mme helfen kçnnen, zum Beispiel das Chri-stentum zu verstehen, heißt das nicht vorauszusetzen, daß dasChristentum aus derselben Mentalit�t kommt, d. h. daß es ausdenselben Elementen des Aberglaubens geformt ist und aufdenselben Irrt�mern beruht? So hat die theoretische Bedeu-tung, die man manchmal den primitiven Religionen beigemes-sen hat, als Kennzeichen einer systematischen Irreligiosit�tgelten kçnnen, was die Ergebnisse der Forschung pr�judiziereund somit von vornherein verf�lsche. Wir brauchen hier nichtzu untersuchen, ob es wirklich Wissenschaftler gegeben hat,die diesen Vorwurf verdient haben und die aus der Geschich-te und der religiçsen Ethnographie eine Kriegsmaschine ge-gen die Religion gemacht haben. Jedenfalls kann das nichtder Standpunkt der Soziologie sein. Ein wesentliches Postulatder Soziologie ist n�mlich, daß eine menschliche Einrichtungnicht auf Irrtum und auf L�ge beruhen kann: denn sonstkçnnte sie nicht dauern. Wenn sie nicht in der Natur der Din-

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  • ge begr�ndet w�re, h�tte sie in den Dingen Widerst�nde ge-funden, die sie nicht h�tte besiegen kçnnen. Wenn wir alsodas Studium der primitiven Religionen angehen, dann mit der�berzeugung, daß sie von der Wirklichkeit abh�ngen und sieauch ausdr�cken. Wir werden sehen, daß dieses Prinzip im Lau-fe der Analysen und der folgenden Diskussionen st�ndig wie-derkehrt. Was wir den Lehrmeinungen, von denen wir unstrennen, vorwerfen, ist gerade, dies verkannt zu haben. Wennman nat�rlich nur den Buchstaben dieser Formeln betrachtet,dann erscheinen diese religiçsen �berzeugungen und Prakti-ken manchmal verwirrend, und man kçnnte versucht sein,sie einer Art von fundamentalen Verirrungen zuzuschreiben.Aber man muß unter dem Symbol die Wirklichkeit erreichen,die es darstellt, die ihm erst seine wahre Bedeutung gibt. Diebarbarischsten und seltsamsten Riten, die fremdesten Mythenbedeuten irgendein menschliches Bed�rfnis, irgendeine Seitedes individuellen oder sozialen Lebens. Die Gr�nde, die derGl�ubige sich selber gibt, um sie zu rechtfertigen, kçnnenfalsch sein, und sie sind es meistens; trotzdem gibt es wahreGr�nde. Es h�ngt von der Wissenschaft ab, sie zu entdecken.

    Im Grund gibt es also keine Religionen, die falsch w�ren.Alle sind auf ihre Art wahr: alle entsprechen, wenn auch aufverschiedene Weisen, bestimmten Bedingungen der mensch-lichen Existenz. Zweifellos ist es nicht unmçglich, sie hierar-chisch anzuordnen. Die einen kçnnen den anderen in demSinn �berlegen sein, als sie hçhere geistige Funktionen insSpiel bringen, daß sie reicher an Ideen und Gef�hlen sind,daß sie mehr Begriffe und weniger Gef�hle und Bilder verar-beiten, daß die Systematisierung ausgekl�gelter ist. Wie wirk-lich aber diese grçßere Kompliziertheit und diese hçhereIdealit�t auch sei, sie gen�gen nicht, um die entsprechendenReligionen in unterschiedliche Gattungen einzuordnen. Allesind gleichermaßen Religionen, wie alle Lebewesen lebendigsind, angefangen von den bescheidensten Plastiden bis zumMenschen. Wenn wir uns also an die primitiven Religionenwenden, dann nicht mit dem Hintergedanken, die Religio-nen auf eine allgemeine Art herabzuw�rdigen; denn diese

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  • Religionen sind nicht weniger ehrbar als die anderen. Sie ant-worten auf dieselben Bed�rfnisse, sie spielen die gleiche Rol-le, sie h�ngen von denselben Gr�nden ab; sie kçnnen also ge-nauso gut dazu dienen, die Natur des religiçsen Lebens zuoffenbaren, und folglich das Problem zu lçsen, das wir uns ge-stellt haben.

    Wozu soll man ihnen aber ein Vorrecht einr�umen? Warumsoll man eher sie als alle anderen zum Gegenstand unsererStudie w�hlen? – einzig und allein wegen der Methode.

    Erstens kçnnen wir die neuesten Religionen nur verstehen,wenn wir in der Geschichte die Art und Weise verfolgen, wiesie sich allm�hlich zusammengesetzt haben. Die Geschichteist in der Tat die einzige Methode einer erkl�renden Analyse,die man auf sie anwenden kann. Nur sie erlaubt uns, eine In-stitution in ihre Bauelemente zu zerlegen, weil sie uns diesehintereinander bei ihrer Entstehung in der Zeit zeigt. Wennman andererseits jedes Einzelelement in die Gesamtheit derUmst�nde stellt, aus denen es entstanden ist, reicht sie unsdas einzige Mittel, das wir haben, um die Gr�nde aufzuzei-gen, die sie hervorgerufen haben. Jedes Mal, wenn man esunternimmt, ein menschliches Anliegen an einem bestimm-ten Zeitpunkt zu erkl�ren – ganz gleich, ob es sich um einenreligiçsen Glauben, um eine Moralregel, um einen Rechtsbe-griff, um eine �sthetische Technik, um eine Wirtschaftsverfas-sung handelt –, muß man damit beginnen, bis zur primitiv-sten und einfachsten Form hinabzusteigen und zu versuchen,die Charakterz�ge zu ermitteln, durch die sie zu jenem Zeit-punkt definiert werden kann, schließlich darstellen, wie siesich nach und nach entwickelt hat und komplexer wurde,wie sie das geworden ist, was sie in dem betreffenden Zeit-punkt ist. So kann man m�helos begreifen, von welcher Be-deutung f�r diese Serie fortschreitender Erkl�rungen die Be-stimmung des Ausgangspunktes ist, von dem diese ausgehen.Es war ein cartesianisches Prinzip, daß das erste Glied in derKette der wissenschaftlichen Wahrheiten die Hauptrolle spielt.Es kann nat�rlich nicht in Frage kommen, die Wissenschaft

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  • der Religionen auf cartesianische Art und Weise mit einemausgearbeiteten Begriff zu beginnen, d. h. ein logisches Kon-zept, eine pure Mçglichkeit, die rein geistig konstruiert wur-de. Wir m�ssen im Gegenteil eine konkrete Realit�t finden,die uns einzig und allein die historische und ethnographischeBeobachtung liefern kann. Aber wenn dieser Grundbegriffdurch verschiedene Verfahren erreicht werden kann, so bleibtdennoch wahr, daß er dazu berufen ist, auf die ganze nachfol-gende Gedankenkette, die die Wissenschaft aufstellt, einenbedeutenden Einfluß zu haben. Die biologische Entwicklungwurde von dem Augenblick an anders aufgefaßt, als man er-kannt hatte, daß es einzellige Lebewesen gibt. Genauso kannman die religiçsen Fakten anders erkl�ren, je nachdem manan den Anfang der Entwicklung den Naturismus, den Ani-mismus oder irgendeine andere religiçse Form stellt. Selbstdie grçßten Spezialisten m�ssen, wenn sie sich nicht in reineGelehrsamkeit einengen, wenn sie versuchen wollen, sich derTatsache, die sie analysieren, bewußt werden, diese oder jeneHypothese w�hlen und sich von ihr leiten lassen. Ob sie wol-len oder nicht, die Fragen, die sie sich stellen, nehmen not-wendigerweise die folgende Form an: Wie ist es gekommen,daß der Naturismus oder der Animismus hier oder dort diesebestimmte Gestalt angenommen und sich auf diese oder jeneWeise bereichert oder verarmt hat? Da es also unvermeid-lich ist, in der Frage dieses Grundproblems Partei zu ergrei-fen, und da die Lçsung, die man ihm gibt, dazu bestimmtist, die Gesamtheit der Wissenschaft zu beeinflussen, m�ssenwir es direkt angehen; das wollen wir tun.

    Außer diesen indirekten R�ckwirkungen hat das Studiumder primitiven Religionen im �brigen an sich ein unmittel-bares Interesse, das von hçchster Bedeutung ist.

    Wenn es n�mlich in der Tat n�tzlich ist zu wissen, wor-aus diese oder jene Religion besteht, so ist die Untersuchungnoch wichtiger, was die Religion im allgemeinen ist. DiesesProblem hat schon immer die Philosophen gereizt, und zwarnicht ohne Grund, denn es interessiert die ganze Menschheit.Ungl�cklicherweise ist die Methode, die sie im allgemeinen

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  • zu seiner Lçsung anwendeten, rein dialektisch: Sie begn�gtensich mit der Analyse der Idee, die sie sich von der Religionmachen, und beschieden sich damit, diese geistige Analysemit Beispielen zu illustrieren, die sie von Religionen genom-men h�tten, die am meisten ihr Ideal verkçrpern. Wenn manauch diese Methode aufgeben muß, so bleibt das Problemdennoch bestehen, und der große Dienst, den die Philosophiegeleistet hat, ist, daß es nicht von der Verachtung der Gelehr-ten getroffen worden ist. Man kann es n�mlich auch auf ande-ren Wegen wieder aufgreifen. Da alle Religionen vergleichbarsind, da sie alle Abarten einer und derselben Gattung sind,gibt es notwendigerweise wesentliche Elemente, die ihnenallen gemeinsam sind. Darunter verstehen wir nicht einfach�ußere und sichtbare Charakterz�ge, die alle gemeinsam auf-weisen und die es erlauben, ihnen von Anfang an eine vorl�u-fige Definition zu geben. Die Entdeckung dieser sichtbarenZeichen ist relativ einfach, denn die Beobachtung, die sieverlangt, braucht nicht �ber die Oberfl�che der Dinge hinaus-zugehen. Aber diese �ußeren �hnlichkeiten setzen anderevoraus, die tiefer liegen. An der Basis aller Glaubenssystemeund aller Kulte muß es notwendigerweise eine bestimmte An-zahl von Grundvorstellungen und rituellen Haltungen geben,die trotz der Vielfalt der Formen, die die einen und die an-deren haben annehmen kçnnen, �berall die gleiche objektiveBedeutung haben und �berall die gleiche Funktion erf�llen.Diese best�ndigen Elemente bilden das, was in der Religionewig und menschlich ist. Sie bilden den objektiven Inhalt derIdee, die man meint, wenn man von der Religion im allgemei-nen spricht. Wie kann man an sie gelangen?

    Bestimmt nicht durch die Beobachtung komplexer Reli-gionen, die sp�ter in der Geschichte aufgetaucht sind. Jedebesteht aus einer solchen Vielfalt von Elementen, daß es sehrschwer wird, das Zweitrangige vom Erstrangigen zu unter-scheiden und das Haupts�chliche vom Nebens�chlichen. Mansehe nur einmal die Religionen �gyptens, Indiens oder desklassischen Altertums an! Nichts als ein Dickicht von viel-f�ltigen Kulten, die nach den Orten, den Tempeln, den Ge-

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  • nerationen, den Dynastien, den Invasionen usw. verschie-den sind. Volksglauben gemischt mit den ausgekl�geltestenDogmen! Außerdem ist weder die Religiosit�t noch die reli-giçse T�tigkeit in der Masse der Gl�ubigen gleichm�ßig ver-teilt. Nach den Menschen, den Orten, den Umst�nden wirdder Glaube wie die Riten auf verschiedene Weise gef�hlt. Hiergibt es Priester, dort Mçnche und noch anderswo nur Laien.Es gibt Mystiker und Rationalisten, Theologen und Prophe-ten usw. Unter diesen Bedingungen ist schwer zu erkennen,was allen gemeinsam ist. Man kann wohl das Mittel finden,um durch das eine oder das andere System dieses oder jenesbesondere Faktum auf n�tzliche Weise zu studieren, das be-sonders entwickelt ist, wie das Opfer oder den Prophetismus,das Mçnchstum oder die Mysterien. Wie aber soll man dengemeinsamen Grund des religiçsen Lebens unter der ver-schwenderischen Vegetation erkennen, die es bedeckt? Wiesoll man unter der Ersch�tterung der Theologien, der Vielfaltder Riten, der Menge der Gruppierungen, der Unterschied-lichkeit der Individuen die Grundzust�nde finden, die f�rdie religiçse Mentalit�t im allgemeinen charakteristisch sind?

    Das ist bei den niedrigen Gesellschaften ganz anders. Diegeringere Entwicklung der Individualit�ten, die kleinereGruppe, die Gleichfçrmigkeit der �ußeren Umst�nde, allestr�gt dazu bei, die Unterschiede und die Variationen auf einMinimum zu verringern. Die Gruppe stellt auf regelm�ßigeWeise eine intellektuelle und moralische Gleichfçrmigkeitdar, von der wir nur selten Beispiele in den weiter fortge-schrittenen Gesellschaften finden. Alles ist allen gemeinsam.Die Bewegungen sind stereotypisiert; alle f�hren die gleichenBewegungen unter den gleichen Umst�nden aus, und dieseGleichfçrmigkeit des Verhaltens enth�llt nur die Gleichfçr-migkeit des Denkens. Da das Bewußtsein aller in die gleichenWirbel gezogen wird, geht der individuelle Typus fast ganz indem Gattungstypus auf. Nichts ist so unentwickelt wie dieseMythen, die aus einem einzigen Thema bestehen, das endloswiederholt wird, wie diese Riten, die aus einer kleinen Anzahlst�ndig wiederholter Gesten bestehen. Die Vorstellung des

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  • Stammes oder der Priester hat weder Zeit noch die Mittel ge-habt, den Grundstock der religiçsen Ideen und Praktiken zuentwickeln und zu ver�ndern; er steht nackt da und bietet sichder Beobachtung an, die sie ohne die geringste Anstrengungaufdeckt. Das Zus�tzliche, das Zweitrangige, die Luxusent-wicklungen haben noch nicht die Hauptsache verdeckt.2 Allesist auf das Unumg�ngliche beschr�nkt, auf das, ohne das eskeine Religion g�be. Aber das Unumg�ngliche ist auch dasWesentliche, d. h. was wir vor allem wissen wollen.

    Die primitiven Zivilisationen sind also Ausnahmsf�lle, weilsie einfache F�lle sind. Auf allen Gebieten waren die Beob-achtungen der Ethnographen deshalb oft wahre Offenbarun-gen, die das Studium der menschlichen Einrichtungen vçlligerneuert haben. So war man im 19. Jahrhundert �berzeugt,daß der Vater das Hauptelement der Familie ist; man konntesich gar nicht vorstellen, daß es eine Familienorganisation ge-ben kçnne, in der die v�terliche Macht nicht die Schl�ssel-stellung innehatte. Die Entdeckung von Bachofen hat diesealte Vorstellung umgestoßen. Noch bis vor kurzem wurde alsselbstverst�ndlich angesehen, daß die moralischen und recht-lichen Beziehungen, die die Verwandtschaft ausmachen, nureine andere Seite der physiologischen Beziehungen w�ren,die das Ergebnis der Abstammungsgemeinschaft sind. Bacho-fen und seine Nachfolger: Mac Lennan, Morgan und noch an-dere standen noch unter dem Einfluß dieses Vorurteils. Seit-dem wir aber die Natur des primitiven Clans kennen, wissenwir im Gegenteil, daß die Verwandtschaft nicht aus der Bluts-gemeinschaft erkl�rt werden kann. Zur�ck zu den Religionen:Die einseitige Betrachtung der religiçsen Formen, die uns be-

    2 Das heißt zweifellos nicht, daß es keinen Luxus in primitiven Kul-ten g�be. Wir werden im Gegenteil sehen, daß man in jeder Reli-gion �berzeugungen und Praktiken findet, die nicht rein auf Nut-zen ausgerichtet sind (Buch 3, Kap. 4, 2). Dieser Luxus ist f�r dasreligiçse Leben sogar unentbehrlich; das liegt in seinem Wesenselbst. Im �brigen ist er in den niedrigen Religionen viel unentwik-kelter als in den anderen, und das erlaubt, den Seinsgrund um sobesser zu bestimmen.

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