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Leseprobe Gräfe, Ursula Man braucht ein ganzes Leben, um jung zu werden Herausgegeben von Ursula Gräfe © Insel Verlag insel taschenbuch 3648 978-3-458-35348-5 Insel Verlag

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Leseprobe

Gräfe, Ursula

Man braucht ein ganzes Leben, um jung zu werden

Herausgegeben von Ursula Gräfe

© Insel Verlag

insel taschenbuch 3648

978-3-458-35348-5

Insel Verlag

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Dieser Band pr�sentiert eine unterhaltsame Sammlung philosophischerund literarischer Betrachtungen �ber die Herausforderungen eineslangen Lebens, �ber die Vielfalt und den Reichtum der besten Jahre.Sie alle preisen G�te, Lebenserfahrung und schçpferisches Potentialdes Alters, erz�hlen von einem 87j�hrigen Holocaust-�berlebenden,der in New York ein Restaurant erçffnet, und einer Pariserin, die mit�ber siebzig Jahren die Liebe ihres Lebens entdeckt und damit beweist,daß wahre Schçnheit kein Alter kennt. Aber auch die �berlegungenCiceros zur geistigen Fruchtbarkeit des Alters, Jonathan Swifts �ber-aus kluge »Entschließungen f�r das Alter« oder Lin Yutangs Ausf�h-rungen �ber die chinesische Hochachtung vor den Betagten belegen,daß Alter nicht nur �lter werden, sondern immer und �berall auch Er-neuerung und Entwicklung bedeutet.

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insel taschenbuch 3648Man braucht ein ganzes Leben,

um jung zu werden

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Man braucht ein

ganzes Leben, um jung

zu werden

Ausgew�hlt von Ursula Gr�fe

Insel Verlag

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insel taschenbuch 3648Erste Auflage 2010

� Insel Verlag Berlin 2010Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der �bersetzung,

des çffentlichen Vortrags sowie der �bertragungdurch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziertoder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielf�ltigt oder verbreitet werden.

Quellenhinweise zu dieser Ausgabe am Schluß des Bandes.Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Satz: H�mmer GmbH,Waldb�ttelbrunnDruck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in GermanyISBN 978-3-458-35348-5

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Inhalt

Oscar Wilde, Kçrper und Seele . . . . . . . . . . . 11No�lle Ch�telet, Die Dame in Blau . . . . . . . . . 11Friedrich Nietzsche, Die drei Verwandlungen . . . 13Bertolt Brecht,Wechsel der Dinge . . . . . . . . . 17Silvia Bovenschen, Eleganz und Jugend . . . . . . 17Hiromi Kawakami, Batterien im Mondschein . . . 18Johann Wolfgang Goethe, Faust . . . . . . . . . . 29John Updike, Brief einer verwitweten Hexe . . . . 29Theodor Fontane,Von Dreißig bis Achtzig . . . . . 39Hermann Hesse, Das unendliche Netz . . . . . . . 41Thomas Bernhard, Mein Urgroßvater war

Schmalzh�ndler . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42Siegfried Unseld, Der Ginkgo . . . . . . . . . . . . 42Konstantinos Kavafis, Ithaka . . . . . . . . . . . . 52Jonathan Swift, Entschließungen f�r mein Alter . . 54Dieter Hildebrandt, Guten Morgen, Alter! . . . . . 55Wilhelm Busch,Wenn ich dereinst . . . . . . . . . 59Gudo und der Kaiser – eine Zengeschichte . . . . 60Hitonari Tsuji, Der weiße Buddha . . . . . . . . . 61Johann Wolfgang Goethe,Verm�chtnis . . . . . . . 65Hermann Hesse,Wert des Alters . . . . . . . . . . 66Kushwant Singh, Bildnis einer Dame . . . . . . . . 67Friedrich Schiller, Epigramm . . . . . . . . . . . . 72Keine Arbeit, kein Essen – eine Zengeschichte . . . 73Lin Yutang,Von der Kunst, auf anmutige Weise

alt zu werden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73Hermann Kesten, Ich bin der ich bin . . . . . . . . 87Johann Peter Hebel, Hohes Alter . . . . . . . . . . 88

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Josef Freiherr von Eichendorff, Das Alter . . . . . 89Lily Brett, Chuzpe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89Heinrich Heine, R�ckschau . . . . . . . . . . . . . 99Yoshida Kenko, Betrachtungen aus der Stille . . . . 100Robert Gernhardt, Ein Malerm�rchen . . . . . . . 101Johann Wolfgang Goethe, Der Teufel . . . . . . . 105Marcus Tullius Cicero, �ber das Alter . . . . . . . 105Erich K�stner, Die Existenz im

Wiederholungsfalle . . . . . . . . . . . . . . . . 115Friedrich Nietzsche, Die Lebensalter . . . . . . . . 116Wilhelm Lehmann, Auf den Tod von

Sir Albert Morton’s Frau . . . . . . . . . . . . . 118No�lle Ch�telet, Die Klatschmohnfrau . . . . . . . 118Silvia Bovenschen, Dicke Pferde . . . . . . . . . . 122Hermann Hesse, Brief . . . . . . . . . . . . . . . . 125Bertolt Brecht, Die unw�rdige Greisin . . . . . . . 126Jun’ichiro Tanizaki, Tagebuch eines alten Narren 133Adolph Freiherr von Knigge,Von dem Umgange

unter Menschen von verschiedenem Alter . . . . 135Hermann Hesse, Die Reife . . . . . . . . . . . . . 136Platon, Der Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137Arthur Schopenhauer, Text und Kommentar . . . . 138Erich K�stner, Der Dezember . . . . . . . . . . . . 139O.V. Vijayan, Der Flugplatz . . . . . . . . . . . . 140Nan-quan – eine Zengeschichte . . . . . . . . . . 147Lin Yutang, Leben und Tod . . . . . . . . . . . . . 147Der alte Zhao-zhou – eine Zengeschichte . . . . . 149Stendhal, R�ckblick des F�nfzigj�hrigen . . . . . . 150Hanns Dieter H�sch, Augenblicke . . . . . . . . . 160Marie Luise Kaschnitz, Abschied vom Lebenden . 163Erich K�stner, Die Großeltern haben Besuch . . . 166

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Simone de Beauvoir, Der Lauf der Dinge . . . . . . 167Theodor Fontane, Summa Summarum! . . . . . . 173

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oscar wilde

Kçrper und Seele

Die Seele ist alt geboren und wird jung. Das ist die Komç-die des Lebens. Der Kçrper wird jung geboren und wirdalt. Das ist die Tragçdie des Lebens.

no�lle ch�telet

Die Dame in Blau

Mireille geht durch die Stadt. Sie l�ßt sich von der Strç-mung tragen,vomunaufhçrlichenMenschenstrom.Nichtstreibt sie zur Eile an, nichts zwingt sie, den Rhythmus ein-zuhalten, doch sie tut es. Das ist so. Das war schon immerso.

Weiter vorn auf dem breiten Boulevard ger�t der Stromins Stocken. Irgend etwas behindert seinen Fluß. Mankommt nicht mehr von der Stelle. Die naturgegebene Ord-nung, der Rhythmus sind in Gefahr. Einen Umweg oderein anderes Tempo, weil irgend etwas den Weg versperrt,den Strom behindert, niemand hat das um diese Zeit gern.

Jetzt erreicht auch Mireille dieses Irgendetwas. �ber-raschung: eine alte Dame.

Ist etwa dieses winzige Wesen an der Verzçgerungschuld?

Mireille l�ßt sich �berholen. Die Leute gehen an ihr vor-bei, werfen einen w�tenden Blick auf die Schrittverderbe-rin, dann gehen sie schneller, fest entschlossen, sich dem

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Strom wieder anzuschließen, aufzuholen, das Tempo, denallgemeinen Schwung wiederzufinden, als h�tten sie sichabgesprochen, als verfolgten sie dasselbe Ziel.

Mireille zçgert.Verlangsamt den Schritt. Zu behaupten,der Gedanke sei ihr gekommen, w�re �bertrieben. Eherein Impuls. Ein Impuls dr�ngt sie plçtzlich, sich dem Gangder unersch�tterlichen alten Dame anzupassen, die ne-ben ihr geht und bed�chtig ein Bein vor das andere setzt,sehr gewissenhaft, schçn im Takt, mit wohlbemessenemDruck des Fußes auf den Gehweg und sanftem Wiegendes Kçrpers, den Kopf ein wenig geneigt, als lausche siedem gleichm�ßigen Rascheln ihres dunkelblauen Kleidsaus Seidenkrepp, wenn es die hellen Baumwollstr�mpfestreift. Das weiße Haar, das im Nacken unter dem eben-falls blauen Hut zu einem Knoten geflochten ist, die zuder kleinen Handtasche aus geflochtenem Leder passen-den Netzhandschuhe, alles ist sorgsam bedacht, damit esein eleganter Spaziergang wird.

Die alte Dame in Blau geht gemessenen Schritts, voneiner gewissen W�rde erf�llt, ohne die Hektik rings umsie her zu beachten. Sie schlendert betont,wenn auch ohneAggressivit�t, w�hrend die anderen rennen.

Mireille hat sich nach und nach dem Gang der altenDame angepaßt. Sie hat den Schritt gewechselt, ihr eige-nes Wiegen gesucht. Jeder ihrer Schritte wird zu einemneuen Genuß. Die Langsamkeit verleiht ihnen einen un-gewohnten Reiz.

Lange geht Mireille so in den Fußstapfen der ungewçhn-lichen Spazierg�ngerin. Sie genießt diese Verlangsamung,macht sie sich zu eigen.

Doch dann kommt Mireille an die Ecke ihrer Straße. Sie

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muß sich von der alten Dame trennen. Sie h�lt inne, zç-gert noch einmal. Hat ihre heimliche Weggef�hrtin die-ses Zçgern bemerkt? Auf jeden Fall wendet sie jetzt denKopf.

Der kurze, kaum wahrnehmbare Blick, den sie Mireillezuwirft, gleicht einem L�cheln und das L�cheln einer Zu-stimmung. Zustimmung wozu?

Mireille erwidert spontan das L�cheln. Auch sie stimmtzu. Doch wozu?

Dann holt sie tief Luft und biegt um die Ecke.Das war es.Mireille geht bed�chtig, schçn im Takt, mit wohlbemes-

senem Druck des Fußes auf den Gehweg und sanftem Wie-gen des Kçrpers, den Kopf ein wenig geneigt, als lauschesie.

friedrich nietzsche

Die drei Verwandlungen

Drei Verwandlungen nenne ich euch des Geistes: wie derGeist zum Kamele wird, und zum Lçwen das Kamel, undzum Kinde zuletzt der Lçwe.

Vieles Schwere gibt es dem Geiste, dem starken, tragsa-men Geiste, dem Ehrfurcht innewohnt: nach dem Schwe-ren und Schwersten verlangt seine St�rke.

Was ist schwer? so fragt der tragsame Geist, so kniet ernieder, dem Kamele gleich, und will gut beladen sein.

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Was ist das Schwerste, ihr Helden? so fragt der tragsameGeist, daß ich es auf mich nehme und meiner St�rke frohwerde.

Ist es nicht das: sich erniedrigen, um seinem Hochmutwehe zu tun? Seine Torheit leuchten lassen, um seinerWeisheit zu spotten?

Oder ist es das: von unserer Sache scheiden, wenn sie ih-ren Sieg feiert? Auf hohe Berge steigen, um den Versucherzu versuchen?

Oder ist es das: sich von Eicheln und Gras der Erkenntnisn�hren und um der Wahrheit willen an der Seele Hungerleiden?

Oder ist es das: krank sein und die Trçster heimschickenund mit Tauben Freundschaft schließen, die niemals hç-ren, was du willst?

Oder ist es das: in schmutziges Wasser steigen, wenn esdas Wasser der Wahrheit ist, und kalte Frçsche und heißeKrçten nicht von sich weisen?

Oder ist es das: die lieben, die uns verachten, und dem Ge-spenste die Hand reichen, wenn es uns f�rchten machenwill?

Alles diess Schwerste nimmt der tragsame Geist auf sich:dem Kamele gleich, das beladen in die W�ste eilt, also eilter in seine W�ste.

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Aber in der einsamsten W�ste geschieht die zweite Ver-wandlung: zum Lçwen wird hier der Geist, Freiheit willer sich erbeuten und Herr sein in seiner eignen W�ste.

Seinen letzten Herrn sucht er sich hier: feind will er ihmwerden und seinem letzten Gotte, um Sieg will er mitdem großen Drachen ringen.

Welches ist der große Drache, den der Geist nicht mehrHerr und Gott heißen mag? »Du-sollst« heißt der großeDrache. Aber der Geist des Lçwen sagt »Ich will«.

»Du-sollst« liegt ihm am Wege, goldfunkelnd, ein Schup-penthier,und auf jeder Schuppe gl�nzt golden »Du-sollst!«

Tausendj�hrige Werte gl�nzen an diesen Schuppen, undalso spricht der m�chtigste aller Drachen »aller Wertder Dinge – der gl�nzt an mir.«

Aller Wert ward schon geschaffen, und aller geschaffeneWert – das bin ich.Wahrlich, es soll kein »Ich will mehr ge-ben!« Also spricht der Drache.

Meine Br�der, wozu bedarf es des Lçwen im Geiste? Wasgen�gt nicht das lastbare Tier, das entsagt und ehrf�rch-tig ist?

Neue Werte schaffen – das vermag auch der Lçwe nochnicht: aber Freiheit sich schaffen zu neuem Schaffen – dasvermag die Macht des Lçwen.

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Freiheit sich schaffen und ein heiliges Nein auch vor derPflicht: dazu, meine Br�der bedarf es des Lçwen.

Recht sich nehmen zu neuen Werten – das ist das furcht-barste Nehmen f�r einen tragsamen und ehrf�rchtigenGeist. Wahrlich, ein Rauben ist es ihm und eines rauben-den Tieres Sache.

Als sein Heiligstes liebte er einst das »Du-sollst«: nunmuß er Wahn und Willk�r auch noch im Heiligsten fin-den, daß er sich Freiheit raube von seiner Liebe: des Lç-wen bedarf es zu diesem Raube.

Aber sagt, meine Br�der, was vermag noch das Kind, dasauch der Lçwe nicht vermochte? Was muß der raubendeLçwe auch noch zum Kinde werden?

Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen,ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung,ein heiliges Ja-sagen.

Ja, zum Spiele des Schaffens, meine Br�der, bedarf es ei-nes heiligen Ja-sagens: seinen Willen will nun der Geist,seine Welt gewinnt sich der Weltverlorene.

Drei Verwandlungen nannte ich euch des Geistes: wie derGeist zum Kamele ward, und zum Lçwen das Kamel, undder Lçwe zuletzt zum Kinde.

Also sprach Zarathustra. Und damals weilte er in derStadt, welche genannt wird: die bunte Kuh.

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bertolt brecht

Wechsel der Dinge

I

Und ich war alt, und ich war jung zu ZeitenWar alt am Morgen und am Abend jungUnd war ein Kind, erinnernd TraurigkeitenUnd war ein Greis ohne Erinnerung.

II

War traurig, wann ich jung warBin traurig, nun ich altSo, wann kann ich mal lustig sein?Es w�re besser bald.

silvia bovenschen

Eleganz und Jugend

Ganz junge Leute sind nie wirklich elegant. Zur Eleganzgehçrt nach meinem Daf�rhalten eine gewisse (Nach-)L�s-sigkeit, die zur M�digkeit tendiert. Sie ist den ganz Jun-gen nicht angemessen. �ltere Leute dagegen m�ssen sichM�he geben, eine »nat�rlich« wirkende Eleganz (nichtsist unnat�rlicher als Eleganz – außer bei Raubkatzen undPferden), die den Anzeichen des Verfalls entgegenwirkt,herzustellen. Eleganz ist eine Balancefrage. Eleganz arbei-tet (in bewußter Vergeblichkeit) gegen den Tod, ohne sichauf Jugend zu abonnieren.

(Ist das eine dieser Alterssentenzen, mit denen man J�n-geren auf die Nerven geht?)

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hiromi kawakami

Batterien im Mondschein

Offiziell m�sste ich meinen alten Lehrer bei seinem vol-len Namen nennen: Harutsuna Matsumoto-Sensei – HerrLehrer Harutsuna Matsumoto –, aber f�r mich bleibt ereinfach der »Sensei«. Statt einer Berufsbezeichnung oderAnrede ist dieses Wort f�r mich zu einer Art Eigennamengeworden.

Ich hatte an der Oberschule Japanisch bei ihm, aber daer nicht mein Klassenlehrer war und ich mich nicht ge-rade �berragend f�r sein Fach interessierte, hatte er kei-nen bleibenden Eindruck bei mir hinterlassen. Nachdemich mit der Schule fertig war, sah ich ihn lange �berhauptnicht mehr.

Vor ein paar Jahren bin ich ihm dann zuf�llig in einerKneipe am Bahnhof begegnet; seither trafen wir uns hinund wieder.

Angefangen hatte es so: Er saß kerzengerade an derTheke, ich setzte mich neben ihn. »Eine Portion Thun-fisch mit fermentierten Sojabohnen, einmal gebrateneLotuswurzel in s�ßer Sojasoße und eingelegte Perlzwie-beln dazu, bitte!«, rief ich dem Wirt zu. Der �ltere Mannneben mir bestellte nahezu gleichzeitig eben diese Ge-richte.

Erstaunt �ber die �bereinstimmung zwischen mir unddiesem Opa sah ich ihn mir genauer an. Auch er mustertemich. Sein Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor.

»Sie sind doch Tsukiko Omachi?« sprach er mich an.Als ich etwas verdutzt nickte, f�gte er hinzu:»Ich habe Sie schon çfter hier gesehen.«

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»Aha«, antwortete ich unverbindlich und starrte ihnweiter an.

Er trug ein geb�geltes Oberhemd und eine graue Weste.Das weiße Haar hatte er ordentlich zur�ckgek�mmt. Vorihm auf der Theke standen ein Fl�schchen Sake, ein klei-ner Teller mit einer Scheibe Walfischspeck und ein Sch�l-chen mit einem Rest Seetang in Vinaigrette. W�hrend ichmich noch wunderte, dass der alte Mann einen so �hn-lichen Geschmack f�r H�ppchen hatte wie ich, d�mmertees mir: Der Mann hatte einst vor meiner Klasse in derOberschule gestanden. Er war mein alter Sensei. Jetzt sahich ihn genau vor mir, wie er, in der einen Hand denSchwamm und in der anderen die Kreide, klassische Zi-tate wie Im Fr�hling ist mir die Morgend�mmerung dasliebste . . ., an die Tafel schrieb, um die Zeile f�nf Minu-ten sp�ter wieder auszuwischen. Den Schwamm legte ernie aus der Hand, nicht einmal, wenn er mit dem R�ckenzur Tafel stand und den Sch�lern etwas erkl�rte. Manhatte fast den Eindruck, der Halteriemen des Schwammssei mit seinem Handr�cken verwachsen.

»Also, dass Sie als Frau ohne Begleitung in eine solcheKneipe gehen.« Er nahm mit seinen St�bchen das letzteScheibchen Walfischspeck auf, tunkte es in die Essig-Mi-so-Soße und f�hrte es anschließend elegant zum Mund.

»Na ja«, antwortete ich und goss mir mein Bier ein. Im-merhin wusste ich jetzt, dass er ein Lehrer von mir gewe-sen war, selbst wenn mir sein Name partout nicht einfal-len wollte. Daher rief es Verlegenheit, fast Bewunderungin mir hervor, dass er sich so m�helos an den Namen ei-ner ehemaligen Sch�lerin erinnerte. Ich trank mein Bieraus.

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»Sie trugen fr�her Zçpfe, nicht wahr?«»Ja.«»Ich habe Sie gleich erkannt.«»Aha.«»Sie sind dieses Jahr achtunddreißig geworden,

stimmt’s?«»Nein, erst siebenunddreißig.«»Oh, entschuldigen Sie.«»Macht nichts.«»Ich habe im Namensregister und im Jahrgangsalbum

nachgeschaut. Sie haben sich gar nicht ver�ndert.«»Sie auch nicht, Sensei.«»Sensei« sagte ich nat�rlich, weil mir sein Name nicht

einfiel, aber seitdem ist es dabei geblieben.An diesem Abend tranken wir zusammen ungef�hr an-

derthalb Liter Sake, und er �bernahm die Rechnung. Alswir uns das n�chste Mal in derselben Kneipe trafen, be-zahlte ich. Seit unserer dritten Begegnung beglich jederseine Rechnung selbst. Wahrscheinlich erwies sich unsereFreundschaft als so dauerhaft, weil der Sensei und ich unsin vieler Hinsicht �hnlich waren. Nicht nur bevorzugtenwir zum Sake die gleichen H�ppchen, auch unsere Vor-stellung von der Distanz,die ein Mensch zum anderen hal-ten sollte, stimmte �berein. Obwohl er dreißig Jahre �lterwar als ich, f�hlte ich mich ihm n�her als manch gleich-altrigem Freund.

Ein paarmal war ich auch bei ihm zu Hause. Mitunterverabschiedeten wir uns gleich nach der ersten Kneipe,und jeder ging seiner Wege. Ab und zu zogen wir auch wei-ter ins n�chste Lokal, manchmal sogar in ein drittes undviertes. Bei solchen Gelegenheiten gingen wir meist noch

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