Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim...

21
Leseprobe Blubacher, Thomas Wie es einst war Schönes und Wissenswertes aus Großmutters Zeiten © Insel Verlag insel taschenbuch 4272 978-3-458-35972-2 Insel Verlag

Transcript of Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim...

Page 1: Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dem bei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich

Leseprobe

Blubacher, Thomas

Wie es einst war

Schönes und Wissenswertes aus Großmutters Zeiten

© Insel Verlag

insel taschenbuch 4272

978-3-458-35972-2

Insel Verlag

Page 2: Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dem bei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich

insel taschenbuch 4272Thomas Blubacher

Wie es einst war

Page 3: Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dem bei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich
Page 4: Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dem bei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich

Thomas Blubacher

Wie eseinst war

SCHÖNES UND

WISSENSWERTES AUS

GROSSMUTTERS ZEITEN

Insel Verlag

Page 5: Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dem bei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich

Die Zitate von Thomas Mann auf S. 123 und Egon Erwin Kisch auf S. 155 f.

stammen aus:

Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie. S. Fischer Verlag GmbH,

Frankfurt am Main 1989. © S. Fischer Verlag, Berlin 1901Egon Erwin Kisch, Der rasende Reporter. In: Gesammelte Werke

in Einzelausgaben. Band 6 © Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 1972.

Umschlagabbildungen: shutterstock

Erste Auflage 2013insel taschenbuch 4272

Originalausgabe

© Insel Verlag Berlin 2013© Thomas Blubacher 2013

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,

des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk

und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie,

Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des

Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer

Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Vertrieb durch den Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Umschlag: glanegger.com

Satz: Hümmer GmbH, Waldbüttelbrunn

Druck: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm

Printed in Germany

ISBN 978-3-458-35972-2

Page 6: Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dem bei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich

Wie es einst war

Page 7: Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dem bei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich
Page 8: Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dem bei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich

VO R W O R T

Ein jedes Ding hat seine Zeit. Vieles, was vor hundert Jahrenden Alltag prägte, ist heute verschwunden und vergessen. Dar-unter findet sich manch Kurioses oder Entbehrliches: Ob einKorsett hilfreich und hübsch ist, darüber mögen die Ansich-ten der eingeschnürten Trägerin und ihres Betrachters aus-einandergehen, doch wohl keiner wird sich nach der Mühsaldes Waschtages oder nach Tatzen mit dem Rohrstock zurück-sehnen. Vor allem aber will dieses Buch Schönes und Wissens-wertes ins Gedächtnis rufen: Gerätschaften, Artefakte, Berufe,Kenntnisse, Wertvorstellungen, Gerichte und Bräuche, die inden 1910er und frühen 1920er Jahren zum Leben auf dem Bau-ernhof, der Arbeiterfamilien oder des wohlhabenden Groß-bürgertums in der Stadt gehörten – vom Handwerk des Be-senbinders und Punzers, von Brausepulver, Kaffeemühle undBlechspielzeug über Paternoster, Taschenuhr und Weißwä-sche hin zu Seelenwärmer und Sommerfrische sowie univer-sal einsetzbaren Heilmitteln wie Brennnessel und Holunder.Und ganz nebenbei erfährt man auch noch, was es mit demGuten Heinrich, der Storchentüte oder dem Zupfgeigenhan-sel im Affen des Wandervogels auf sich hat. Was für unsere Ur-großeltern selbstverständlich war, unsere Großeltern nochkannten, heute aber selten geworden oder sogar in Verges-senheit geraten ist – hier wird in über 350 Artikeln daran er-innert.

7

Page 9: Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dem bei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich
Page 10: Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dem bei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich

AA L S U PP E Wer glaubt, süßsaures Essen kenne man bei uns erstseit Verbreitung der China-Restaurants, hat wohl noch nie »Göös-küül söötsuur«, also süßsaure Gänsekeule, Holsteiner Sauer-fleisch oder eben eine echte Hamburger Aalsuppe gekostet, diespätestens seit dem 18. Jahrhundert bekannt und zumindest imNorden der Republik auch heute noch so beliebt ist wie zu Zei-ten unserer Großeltern. In der Hansestadt bekommt das oft mitMehl- oder Schwemmklößchen angereicherteGericht aus Fleisch-brühe, Aalfilet, Erbsen, Sellerie, »Aalkruut« (worunter man jenach Rezept ein Bündel aus Bohnenkraut, Dill, Estragon, Ker-bel, Majoran, Petersilie, Salbei, Thymian oder anderen Kräuternversteht) durch in Zucker und Weißwein gekochte frische Bir-nen, Backpflaumen oder anderes Backobst eine spezielle süß-saure Note. In anderen Gegenden schmeckt die Aalsuppe hinge-gen eher säuerlich und wird folglich auch »Sur Supp« genannt.Kurioserweise ist der namensgebende fettreiche Fisch, der 2009vom Verband Deutscher Sportfischer e. V. bereits zum zweitenMal zum »Fisch des Jahres« gekürt wurde, in manchen Rezep-ten gar kein zwingender Bestandteil, an seiner Stelle finden auchForellenfilets oder gar Speckstücke Verwendung. Und so hältsich sogar hartnäckig das Gerücht, Aalsuppe bestehe grundsätz-lich aus allem (plattdeutsch: aal), aber nie aus Aal, obschon be-reits Bartels 1831 in Hamburg erschienenes »auf vieljährige Er-fahrung begründetes Kochbuch für den bürgerlichen Haushalt«mit dem schönen Titel Die allezeit fertige Hamburger Köchinfür zwölf Portionen Aalsuppe mit drei Aalen rechnete.

9

Page 11: Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dem bei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich

AB A K U S War der Abakus in Deutschland zu Beginn des 20. Jahr-hunderts zumindest als Rechenhilfe für Kinder noch weit ver-breitet, weiß ihn heute kaum mehr jemand zu benutzen. Im asia-tischen Raum hingegen ist er noch immer gebräuchlich und derUmgang mit ihm fester Bestandteil des Schulunterrichts. Die Be-zeichnung dieses schon vor drei Jahrtausenden bekannten me-chanischen Rechenmittels stammt wohl aus dem Griechischen,wo ábax oder ábakos Tafel, Brett bedeutet, leitet sich vielleichtaber auch vom phönizischen Wort abak her, mit dem man zumSchreiben auf eine Fläche gestreuten Sand bezeichnete. Der rö-mische Handabakus bestand aus einer Bronzeplatte mit Schlit-zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dembei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich um einen Holzrah-men mit Stäben, auf denen durchbohrte Holzkugeln oder Glas-perlen hin- und hergeschoben werden können. Durch ihre jewei-lige Position stellen sie eine bestimmte Zahl dar. Möchte man nuneine weitere Zahl addieren oder subtrahieren, verschiebt man dieentsprechenden Kugeln und kann anhand der neuen Kugelposi-tion das Ergebnis schnell und einfach ablesen.

AD E L Nicht wenig Raum nahm bis zum Ende des Ersten Welt-kriegs in den Benimmbüchern die Frage nach der korrekten An-rede adeliger Personen ein. Angehörige königlicher Häuser wur-den mit »Königliche Hoheit«, souveräne Herzöge mit »Hoheit«angesprochen. Jene Mitglieder fürstlicher Familien, die nicht den� Titel »Durchlaucht« führen dürfen, seien als »Fürstliche Gna-den« anzusprechen, erklärt etwa Eustachius Graf Pilati in der1907 erschienenen dritten Auflage seiner Etikette-Plaudereien,rät aber, »da man besser thut, Jemandem lieber zu viel Ehre alszu wenig zu erweisen, und da sehr Wenige wissen, welchem Prin-

10

Page 12: Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dem bei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich

zen der Titel ›Durchlaucht‹ eigentlich zusteht«, dazu, alle Mitglie-der fürstlicher Häuser mit »Durchlaucht« zu titulieren. »Hoch-geboren« sei der korrekte Titel der Grafen von niederem Adel, dieOberhäupter einiger zum hohen Adel gehörender gräflicher Fa-milien nenne man hingegen »Erlaucht« …

Obschon der Adel in Deutschland bis heute von vielen als eineexklusive Schicht mit distinguierenden Umgangsformen, oft garals eine Art Parallelgesellschaft wahrgenommen wird, existiert erals bevorrechtigter Stand seit fast einhundert Jahren nicht mehr.Im November 1918 endete mit dem Beginn der Weimarer Repu-blik und der Abdankung Kaiser � Wilhelms II. die � Monarchie,und der Adel verlor damit in Deutschland seinen Herrschaftsan-spruch. In der sogenannten Weimarer Verfassung, der Verfassungdes Deutschen Reiches vom 11. August 1919, wurden die »öffent-lich-rechtliche[n] Vorrechte oder Nachteile der Geburt oder desStandes« aufgehoben, die bisherigen Titel zum bloßen Bestand-teil des bürgerlichen Familiennamens degradiert. Nach einer Ent-scheidung des Reichsgerichts vom 10. März 1926 dürfen die ge-schlechtsspezifischen Varianten allerdings weiter verwendet wer-den. Heiratet eine Frau also einen Herrn mit dem NachnamenPrinz von Baden, steht in ihrem Reisepass der Nachname Prin-zessin von Baden. In Österreich wurde der Adel am 3. April 1919explizit aufgehoben und das Führen von Adelsbezeichnungengar unter Strafe gestellt. So ist selbst der Enkel des letzten Kai-sers heute schlicht ein »Herr Habsburg-Lothringen«. In beidenLändern werden die traditionellen Titel indes auch heute nochgelegentlich als höfliche Anrede benutzt, und in Deutschlandführen manche Angehörige ehemals adeliger Familien sogar na-mensrechtlich nicht mehr existente Adelstitel weiter. So berich-tet die Regenbogenpresse ebenso häufig wie falsch von »FürstinGloria«, wenn eigentlich Gloria Prinzessin von Thurn und Taxisgemeint ist.

11

Page 13: Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dem bei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich

In der Bundesrepublik haben sich zahlreiche »Adelige« in pri-vatrechtlich organisierten Adelsverbänden zusammengeschlos-sen. Wer Mitglied werden will, muss in einer rechtsgültigen Eheseines adeligen Vaters zur Welt gekommen sein. »Adelige« und»nichtadelige« Träger adeliger Nachnamen, wie zum BeispielAdoptierte oder Angeheiratete, werden penibel unterschieden,um die soziale Abgeschlossenheit des »historischen Adels« zuerhalten. »Adel verpflichtet«, lautet zwar noch immer die Devi-se, doch offenbar nicht zur Gleichbehandlung der Geschlechter:Das veraltete, öffentlich-rechtlich längst irrelevante »Adelsrecht«und spezielle »Hausgesetze« mit restriktiven Heiratsregeln dis-kriminieren vor allem weibliche Abkömmlinge.

AF F E So nannte man umgangssprachlich den Tornister der� Wandervögel: einen rechteckigen Holzrahmen, bespannt mitRinderfell und innen ausgeschlagen mit Stoff. Neben Wäscheund Verpflegung enthielt der Affe, auf den man einen Mantel odereine Decke sowie das Kochgeschirr schnallte, den unentbehr-lichen � Zupfgeigenhansel und nicht selten auch Gedichtbändevon Hölderlin oder Rilke – auch dann noch, als man nicht mehrdurch die Wälder streifte, sondern in die Schützengräben zog. ImErsten Weltkrieg wurde der Heerestornister aufgrund von Le-dermangel aus schilfgrünem oder grauem Baumwollstoff mitweißem Innenbezug aus Leinen hergestellt; die Schweizer Ar-mee kannte für ihre Offiziere eine mit Seide ausgeschlagene Va-riante. Heute nennt man den Tornister in der Bundeswehr »gro-ße Kampftasche«.

ALT-HE I D E L B E R G »Wir behalten uns, Käthie. Ich vergesse dichnicht und du mich nicht. Wir sehen uns nicht wieder, aber wirvergessen uns nicht. Meine Sehnsucht nach Heidelberg war die

12

Page 14: Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dem bei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich

Sehnsucht nach dir, – und dich hab’ ich wiedergefunden. (Küsstsie lange.) Leb wohl, Käthie. (Er geht.)« Alt-Heidelberg: Die Lie-besgeschichte zwischen dem Erbprinzen Karl-Heinrich, der sichzu Studentenzeiten in Heidelberg in die einfache Gastwirtstoch-ter Käthie verliebt, dann aber eine standesgemäße Ehe eingehenund den Thron besteigen muss, war in der Jugendzeit unsererGroßeltern eines der meistgespielten Theaterstücke. Erstmals auf-geführt wurde die von Wilhelm Meyer-Förster verfasste Schnulze1901 in Berlin. Sie machte die Neckarstadt in der ganzen west-lichen Hemisphäre bekannt, wurde mehrfach verfilmt (auch DerPrinz aus Zamunda mit Eddie Murphy, der 1988 in die Kinoskam, ist eine ins gegenwärtige New York verlagerte Adaption die-ser Geschichte) und diente als Vorbild für die 1924 am Broadwayuraufgeführte amerikanische � Operette The Student Prince vonSigmund Romberg, deren Duett »Deep in My Heart, Dear« un-zählige Male umgedichtet und neuvertont wurde. Bertolt Brechtfreilich nannte 1920 in einer Theaterkritik für die Zeitung DerVolkswille das Rührstück respektlos ein »Saustück« und kon-zedierte angesichts empörter Reaktionen: »Im Ausdruck könnenZugeständnisse gemacht werden. Statt Saustück kann Schweins-stückchen geschrieben werden.«

AM E I S L E R Ameisler sammelten in Mitteleuropa bis in die1920er Jahre, in Niederösterreich sogar bis in die 1970er Jahre,die Puppen der Wald- und Hügelameisen, trockneten sie in ei-nem Dörrhaus und verkauften sie als Futter für in Käfigen ge-haltene Singvögel. Zwar trugen sie zum Schutz hochgezogeneStrümpfe und rieben die Hände mit dem Saft des � Holundersein, doch blieben Ameisenbisse nie aus und machten die Arbeitäußerst unangenehm. Das Einsammeln der Puppen war zudemeine aufwendige Arbeit. Zuerst hob man die obere Schicht des

13

Page 15: Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dem bei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich

Ameisenhügels, in der die Eier wegen der Sonnenwärme gelegtwerden, ab und siebte sie durch. Größere Zweige und Blätter blie-ben hängen, in einem Tuch sammelte man den ganzen Rest, da-runter auch die Emsen – dieser poetische Name hat übrigens dengleichen etymologischen Ursprung wie das Adjektiv »emsig« –und ihre Puppen. Mit Hilfe von Reisig, den man in die Eckendes Tuches legte, trennte man die Puppen vom Rest: Nachdemdie Ameisen sie dorthin in Sicherheit gebracht hatten, konnteman die Ameisen selbst und sämtliche übrige Kleinteile ausder Mitte des Tuches entfernen, so dass nur noch die Puppenim Reisig übrig blieben. Eine andere Methode der Ameisler be-schreibt der auch »Waldschmidt« genannte bayerische Heimat-schriftsteller Maximilian Schmidt: »Dieselben suchen sich fürserste einen Ort mit fließendem Wasser aus. An dessen Rand wirdeine kleine Fläche mit einem seichten Graben umgeben und indiesen das Wasser ein- und herumgeleitet, so daß es beim Aus-gang wieder ins alte Bett fließen kann und gewissermaßen eineInsel gebildet ist. In der Mitte dieses so abgeschlossenen Platzeswerden eine oder mehrere Gruben von Handhöhe gegraben, diemit Taxen zugedeckt werden, damit es darunter kühl und schat-tig ist.« Nun entleerten die Ameisler die Säcke, in die sie ganzeAmeisenhaufen geschaufelt hatten. »Es ist wirklich rührend, mitwelcher Geschäftigkeit diese Tierchen die anvertraute Brut soschnell als möglich in Sicherheit zu bringen suchen. Aber diearmen Geschöpfe arbeiten ihren Räubern in die Hände. GegenAbend werden die gesammelten Eier in das mitgebrachte Behält-nis geschüttet, der Eingang des Wassergrabens wird verstopft,damit die betrogenen Tierchen nicht wieder abziehen können[…].« Wer es sich besonders bequem machen wollte, hatte einenmit Reisig gefüllten Hut in die Grube gelegt und konnte die Pup-pen so mit einem Griff entnehmen.

14

Page 16: Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dem bei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich

Neben Ameisenpuppen vertrieben die Ameisler auch »Amas-geist«, der aus in Spiritus angesetzten Waldameisen bestand, ge-gen Rheumatismus half und auch als Aphrodisiakum angewen-det wurde, sowie kleine Harzkörner, die sie bei der Sammelarbeitaufgelesen hatten und die als Weihrauchersatz Verwendung fan-den. Pro Tag sammelte ein Ameisler etwa fünf Kilo Ameisenpup-pen und verdiente damit in den 1920er Jahren besser als so man-cher Handwerker. Da die Tätigkeit der Ameisler für die Koloniender heute unter Naturschutz stehenden Waldameise zerstöre-risch ist, hat man in Deutschland das Sammeln von Ameisen-puppen wie überhaupt das »Beeinträchtigen des natürlichen Trei-bens der Waldameisen« schon vor Jahrzehnten untersagt, und soimportiert man »Ameiseneier«, wie die Puppen genannt werden,heute vorwiegend aus Skandinavien und Osteuropa.

AM M E »Ihre Brüste müssen die Eigenschaften haben, die siezum Säugungsgeschäft fähig machen; sie müssen also gut ge-baut, nicht zu fett und strotzend, nicht hart und knotig, nichtzu schlaff und flach seyn; die Warzen müssen rein und gehöriggebildet, weder zu klein noch zu groß seyn, und die Milch sichleicht aus denselben bei dem Saugen ergießen, ohne auszuflie-ßen. Beide Brüste müssen gleichmäßig gebildet seyn, damit siean beiden stillen kann«, hieß es 1828 im Encyclopädischen Wör-terbuch der medicinischen Wissenschaften, das auch davon ab-riet, rothaarige Ammen einzustellen, denn diese »empfehlen sichaus dem Grunde nicht, weil sie meistens einen falschen Charak-ter und nebenbei übelriechenden Schweiß haben«. Es war alsoschon im 19. Jahrhundert für wohlhabende Eltern nicht ganzeinfach, die ideale Amme zu finden. Nicht nur verheiratete Frau-en arbeiteten als Lohnammen, sondern oftmals auch ledige Müt-ter, die dadurch eine Chance hatten, gesellschaftlich aufzustei-

15

Page 17: Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dem bei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich

gen. Mitunter wurde das Kind zu ihnen in Pflege gegeben, inder Oberschicht wurden sie in der Regel fester Bestandteil desHausgesindes, innerhalb dessen sie freilich eine besondere Stel-lung einnahmen. Das oft herzliche Verhältnis zwischen Kindund Stillmutter dauerte oft ein Leben lang an. Erst im Laufeder 1920er Jahre ging das Stillen der Säuglinge durch Lohn-ammen in Deutschland zurück, als � Frauenmilchsammelstel-len und Verbesserungen in der Herstellung künstlicher Baby-nahrung – bereits 1865 hatte Justus von Liebig eine »Suppe fürSäuglinge« entwickelt – das Ammenwesen ablösten.

AN TA R K T I S Als »Goldenes Zeitalter« der Antarktisforschungbezeichnet man die Zeit zwischen dem Ende des 19. Jahrhun-derts und den frühen 1920er Jahren, als Höhepunkt gilt das Jahr1911: Im Wettlauf, wer als Erster den geografischen Südpol errei-che, setzte sich am 14. Dezember die fünfköpfige Gruppe um denNorweger Roald Amundsen durch. Der Brite Robert Falcon Scotterreichte den Südpol mit seinen vier Begleitern 34 Tage später;alle fünf starben auf dem Rückweg an Hunger und Kälte.

AN T H R O P O S O P H I E Der Begriff, wörtlich übersetzt die »Weis-heit vom Menschen«, war schon im 16. Jahrhundert bekannt,doch erst 1909 verwendete ihn Rudolf Steiner (1861-1925) für sei-ne spirituelle Erkenntnislehre. Seitdem hat sich Steiners »kos-mologische« Anschauung vom Menschen, die zugleich Methodezur Erforschung des Übersinnlichen sein sollte und neben fern-östlichen Lehren, christlicher Mystik und idealistischer Philoso-phie auch die Weltanschauung Goethes und naturwissenschaft-liche Erkenntnisse ihrer Zeit verband, weltweit verbreitet. Dabeisollte sie nicht nur dem einzelnen Menschen Orientierung bie-ten, sondern Impulse für alle Gebiete der Kultur geben. 1912 wur-

16

Page 18: Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dem bei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich

de in Köln die Anthroposophische Gesellschaft gegründet, 1913begann man im schweizerischen Dornach mit dem Bau des soge-nannten Goetheanums, das als Zentrum dieser neuen Gesellschaftdienen sollte und wo man bis heute ab und an – weltweit ein-malig – den ungekürzten Faust sehen kann. Emil Moll, Gene-raldirektor der Zigarettenfabrik »Waldorf-Astoria«, rief 1919 inStuttgart für die Kinder seiner Arbeiter die erste Waldorfschuleins Leben. Und die 1921 gegründete Pharmafirma Weleda AG stelltbis heute anthroposophische und homöopathische Arzneimit-tel her.

AR B E I T E R W O H L FA H R T Als Reaktion auf � Hunger, Mangel-ernährung und Wohnungsnot gründete die SPD, damals diestärkste Fraktion in der Nationalversammlung, 1919 einen eige-nen Wohlfahrtsverband, die Arbeiterwohlfahrt. Sie organisierteFerienverschickungen für unterernährte Kinder, eröffnete Bera-tungsstellen und Einrichtungen wie Volksküchen zur Massen-speisung oder Näh- und Flickstuben zur Abhilfe des Bekleidungs-mangels. Finanziert wurden diese vielfältigen sozialen Dienstezunächst durch Spenden- und Sammelveranstaltungen; ab 1925veranstaltete die AWO auch eine eigene Lotterie und verkaufteArbeiter-Wohlfahrtsmarken. Heute gehört die 1933 aufgelösteund 1946 als parteipolitisch und konfessionell unabhängige Or-ganisation neugegründete Arbeiterwohlfahrt zu den sechs Spit-zenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege in Deutschland.

AT L A N T I K F L U G Am 14. Juni 1919 starteten John Alcock undArthur Witten Brown um 13:45 Uhr Ortszeit in St. John’s im ka-nadischen Neufundland. Obschon sie sich ohne Radar oder GPS

allein am Stand von Sonne und Sternen zu orientieren hattenund Brown während des Fluges mehrere Male aus dem Cockpit

17

Page 19: Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dem bei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich

auf die Tragfläche der zweimotorigen Vickers Vimy, eines eigensfür die spektakuläre Ozeanüberquerung umgebauten Bomber-Flugzeugs, klettern musste, um Eisklumpen von den Vergaser-motoren abzuschlagen, erreichten die zwei Engländer nach mehrals 16 schlaf- und toilettenlosen Stunden glücklich die andereSeite des Atlantiks. In der Nähe des irischen Clifden in Conne-mara gruben sich die Räder ihres Flugzeugs in den Sumpf desDerrygimlagh-Moores und es kam mit der Nase im Dreck zumStillstand, doch die beiden Helden überstanden diese Bruchlan-dung unverletzt und wurden am folgenden Tag von George V.zum Ritter geschlagen.

AU F G E B O T Mit dem im Jahr 1215 durch das vierte Laterankon-zil eingeführten Aufgebot wurde die Öffentlichkeit über eine be-vorstehende Hochzeit informiert, damit jeder, der von möglichenEhehindernissen, wie etwa einer bereits existierenden � Ehe,wusste, diese rechtzeitig melden konnte. An drei aufeinanderfol-genden Sonntagen musste der Priester die drei vorgeschriebenenAufrufe zur Eheverkündigung im Hochamt von der Kanzel ver-lesen. Im Anschluss an den ersten Aufruf kamen Freunde undBekannte der Brautleute im Haus der Brauteltern zur sogenann-ten Letsch zusammen, einem Umtrunk, der gewöhnlich von mit-tags bis nachts dauerte. Später genügte die einfache Verkündi-gung in der Kirche, schließlich auch ein öffentlicher Anschlag.Doch nicht nur die Kirche, auch der Staat forderte seit Einfüh-rung der Zivilehe ein Aufgebot – die ersten zivilrechtlichen Trau-ungen wurden in den 1850er Jahren durchgeführt, 1876 in ganzDeutschland staatliche Standesämter eingerichtet. Heute erlau-ben digitale Melderegister eine einfache und schnelle bundesweiteÜberprüfung eventueller Ehehindernisse per Mausklick, so dassdas Aufgebot seinen Sinn verloren hat und es in Deutschland

18

Page 20: Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dem bei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich

1998 durch die sogenannte Anmeldung zur Eheschließung er-setzt wurde.

AU S D R U C K S TA N Z Als Gegenbewegung zu den erstarrten For-men des klassischen Balletts und aus der Sehnsucht nach ganz-heitlichem Erleben und nach Selbstentfaltung durch Tanz ent-stand um 1910 der moderne Ausdruckstanz, in dem Körper, Seeleund Geist in Einklang gebracht werden sollten. Wichtige Vertre-ter dieser international auch unter dem Namen »German Dance«bekannt gewordenen Tanzkunst waren � Isadora Duncan undEmil Jaques-Dalcroze. Die Verbreitung dieser neuen Bewegungs-form fand dabei nicht nur auf Bühnen statt, sondern auch ineiner Vielzahl neu gegründeter Tanzschulen, wie in Jaques-Dal-crozes Schule für Rhythmische Gymnastik in Hellerau bei Dres-den. Zu einem Zentrum des Ausdruckstanzes wurde auch der� Monte Verità, auf dem Rudolf von Laban lehrte und arbeitete.Man trat im schlichten Tanzkleid auf oder in stilisierten Kostü-men und archaisch anmutenden Masken, manchmal aber auchnackt, tanzte zu Trommelschlägen oder sogar ohne Musik. Aufder Suche nach Authentizität und dem »echten« und »reinen«Ausdruck rückten individuelle Bewegung, Improvisation undEinzeltanz in den Vordergrund, geprägt durch starke Persön-lichkeiten wie Mary Wigman und ihren zum »absoluten Tanz«gesteigerten Solotanz oder Harald Kreutzberg. Das tänzerischeBühnengeschehen war in jenen Jahren in Deutschland nochweitgehend von Frauen geprägt, der Tänzer – trotz internationalumjubelter Stars wie � Vaslav Nijinsky – die oftmals a priori ne-gativ bewertete Abweichung. So veranlassten die Auftritte Kreutz-bergs einen Berliner Kritiker noch Mitte der 1920er Jahre zuder Frage, ob ein tanzender Mann nicht »widernatürlich« sei,da man »unwillkürlich das Gefühl von Degeneration und Ver-weiblichung« habe.

19

Page 21: Insel Verlag...zen, in denen kleine Nägel, claviculi, verschoben werden konn-ten. Wie schon beim russischen Stschoty handelt es sich bei dem bei uns gebräuchlichen Abakus gewöhnlich

AU S S T E U E R Sie war der Schatz jeder Hausfrau. Bis Mitte des20. Jahrhunderts war es üblich, dass junge Frauen bis zur � Ehedie Ausstattung für ihren künftigen Haushalt zusammenhabenmussten, groß genug, um für die Eheleute und ihre hoffentlichbald wachsende Familie ein Leben lang auszureichen. Sie bestandaus der Weißwäsche, also Betttüchern und -bezügen, Tischde-cken, Servietten, Küchentüchern, Schürzen, Nachthemden undLeibwäsche, die die Mädchen in der Regel selbst gefertigt undmit gestickten Ornamenten und Monogrammen aus den Anfangs-buchstaben ihres Mädchennamens versehen hatten. In wohlha-benden Familien holte man dafür eine � Weißnäherin, dennschon die Aussteuer eines guten, aber einfachen Haushalts ent-hielt unter anderem zwei Dutzend Leintücher und fast ebensoviele Oberleintücher, vier Dutzend Kopfkissenbezüge, zwei Dut-zend Bettbezüge, 18 Tischtücher und 36 Handtücher, die einesvornehmen Haushaltes entsprechend mehr. Zudem gehörten zurAussteuer zumeist Ballen handgewebten Leinens in unterschied-licher Qualität, die später für Windeln oder Kinderkleidung Ver-wendung finden sollten, sowie Federbetten, Porzellan, Gläser, Be-steck, diverse Hausgerätschaften und Möbelstücke wie insbeson-dere der Brautschrank, das Ehebett und gewöhnlich auch schoneine Kinderwiege.

Spätestens ab der Konfirmation erhielten Mädchen entspre-chende Geschenke, von ihren Paten sogar oftmals von Geburt anjährlich Stücke eines silbernen Essbestecks, das dann beim Er-reichen der Volljährigkeit komplett war. Als immer mehr Fraueneinen Beruf erlernten und vor der Ehe einer Arbeit nachgingen,wurde es üblich, dass sie einen Teil ihres Verdienstes für die An-schaffung der Aussteuer verwendeten. Wer es sich leisten konn-te, musste dafür freilich nicht über Jahre hinweg sparen, sondernerwarb den »Trousseau«, wie man die Aussteuer in besseren Krei-

20