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ISSN 1435-2206 Zeitschrift für öffentliches Recht in Norddeutschland Prof. Dr. Wilfried Erbguth Universität Rostock Hans-Jürgen Ermisch Rechtsanwalt, Hamburg Dr. Rolf Gestefeld Präsident des OVG Hamburg Prof. Dr. Hans-Joachim Koch Universität Hamburg Hannelore Kohl Präsidentin des OVG Greifswald Dr. Hubert Meyer Hauptgeschäftsführer des Landkreistags Mecklenburg-Vorpommern Dr. Herwig van Nieuwland Präsident des OVG Lüneburg Prof. Dr. Ulrich Ramsauer Universität Hamburg, VG Hamburg Prof. Dr. Alfred Rinken Präsident des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen, Universität Bremen Hans-Joachim Schmalz Präsident des OVG Schleswig Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig MdB, Bundesminister der Justiz a.D., Universität Kiel Dr. Wolfgang Schrödter Hauptgeschäftsführer des Niedersächsischen Städtetags Matthias Stauch Präsident des OVG Bremen Prof. Dr. Kay Waechter Universität Hannover Dr. Ekkehard Wienholtz Innenminister des Landes Schleswig-Holstein a.D. 9. Jahrgang, Heft 2/2006 Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte 9. Jahrgang, Heft 2/2006 Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte Martin Wickel und Karin Bieback Die Neuordnung der bauordnungsrechtlichen Zulas- sungsverfahren durch die HBauO-Novelle Caspar David Hermanns und Katrin Thomsen Abwehrrechte gegen Hochspannungsleitungen zur An- bindung von Offshore-Windparks an das Stromnetz Hans-Joachim Koch Die neue Hamburgische Bauordnung 2006 NordÖR NordÖR Durchsuchung nach Vereinsrecht, Wirkung des Suspensiveffekts OVG Bremen, Beschluss vom 6.12.2005 – 1 S 332/05 Örtliche Zuständigkeit in Asylstreitigkeiten OVG Greifswald, Beschluß vom 27.9.2005 – 3 L 410/04 Voraussetzungen für das Abschleppen eines Kraftfahrzeugs OVG Hamburg, Urteil vom 22. 2. 2005 – 3 Bf 25/02 Designer-Outlet-Center Soltau und Raumordnungsrecht OVG Lüneburg, Urteil vom 1.9.2005 – 1 LC 107/05 Beitragserhebung bei Ausbau einer Straßenteilstrecke; Abschnittsbildung OVG Schleswig, Urteil vom 17.8.2005 – 2 LB 38/04 Aus den Entscheidungen: Abhandlungen: Herausgeber: Nomos

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ISSN 1435-2206

Zeitschrift für öffentliches Recht in Norddeutschland

Prof. Dr. Wilfried Erbguth Universität Rostock

Hans-Jürgen Ermisch Rechtsanwalt, Hamburg

Dr. Rolf Gestefeld Präsident des OVG Hamburg

Prof. Dr. Hans-Joachim Koch Universität Hamburg

Hannelore Kohl Präsidentin des OVG GreifswaldDr. Hubert Meyer Hauptgeschäftsführer des Landkreistags Mecklenburg-Vorpommern

Dr. Herwig van Nieuwland Präsident des OVG Lüneburg

Prof. Dr. Ulrich Ramsauer Universität Hamburg, VG Hamburg

Prof. Dr. Alfred Rinken Präsident des Staatsgerichtshofs der Freien Hansestadt Bremen, Universität Bremen

Hans-Joachim Schmalz Präsident des OVG Schleswig

Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig MdB, Bundesminister der Justiz a.D., Universität Kiel

Dr. Wolfgang Schrödter Hauptgeschäftsführer des Niedersächsischen Städtetags

Matthias Stauch Präsident des OVG Bremen

Prof. Dr. Kay Waechter Universität Hannover

Dr. Ekkehard Wienholtz Innenminister des Landes Schleswig-Holstein a.D.

9. Jahrgang, Heft 2/2006 Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte

9. Jahrgang, Heft 2/2006 Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte

Martin Wickel und Karin BiebackDie Neuordnung der bauordnungsrechtlichen Zulas-sungsverfahren durch die HBauO-Novelle

Caspar David Hermanns und Katrin ThomsenAbwehrrechte gegen Hochspannungsleitungen zur An-bindung von Offshore-Windparks an das Stromnetz

Hans-Joachim KochDie neue Hamburgische Bauordnung 2006

NordÖRNordÖR

Durchsuchung nach Vereinsrecht, Wirkung des SuspensiveffektsOVG Bremen, Beschluss vom 6.12.2005 – 1 S 332/05

Örtliche Zuständigkeit in AsylstreitigkeitenOVG Greifswald, Beschluß vom 27.9.2005 – 3 L 410/04

Voraussetzungen für das Abschleppen eines KraftfahrzeugsOVG Hamburg, Urteil vom 22. 2. 2005 – 3 Bf 25/02

Designer-Outlet-Center Soltau und RaumordnungsrechtOVG Lüneburg, Urteil vom 1.9.2005 – 1 LC 107/05

Beitragserhebung bei Ausbau einer Straßenteilstrecke; AbschnittsbildungOVG Schleswig, Urteil vom 17.8.2005 – 2 LB 38/04

Aus den Entscheidungen:

Abhandlungen:Herausgeber:

Nomos

I

In diesem Heft . . .

I

Abhandlungen

Informationen aus Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung

Rechtsprechung

Rechtsprechung in Leitsätzen ................................................................................. 87

Allgemeines Verwaltungsrecht und VerwaltungsprozessrechtOVG Bremen ................................... 67Beschl. vom 20. Oktober 2005 – 2 S 296/05 – Beiordnung eines Rechtsanwalts bei Betreuung

OVG Hamburg ................................ 67Beschl. vom 17. Oktober 2005 – 1 Bs 210/05 – Kein Suspensiveffekt bei Widerspruch gegen Festsetzung von Säumniszinsen bzw. Säumniszuschlägen

OVG Greifswald .............................. 68Beschl. vom 27. September 2005 – 3 L 410/04 – Örtliche Zuständigkeit in Asylstreitig-keiten

BaurechtOVG Lüneburg ................................ 70Urteil vom 1. September 2005 – 1 LC 107/05 – Designer-Outlet-Center Soltau und Raumordnungsrecht

Polizei- und OrdnungsrechtOVG Bremen ................................... 77Beschl. vom 6. Dezember 2005 – 1 S 332/05 – Durchsuchung nach Vereinsrecht, Wir-kung des Suspensiveffekts

OVG Hamburg ................................. 79Urt. vom 22. Februar 2005 – 3 Bf 25/02 – Voraussetzungen für das Abschleppen eines Kraftfahrzeugs

Recht des Öffentlichen DienstesVG Schleswig ................................... 82Beschl. v. 28. Oktober 2005 – 11 B 20/05 – Auswahlkriterien bei Richterbeförde-rungen

Abgabenrecht

OVG Schleswig ................................ 84Urt. vom 17. August 2005 – 2 LB 38/04 – Beitragserhebung bei Ausbau einer Straßenteilstrecke; Abschnittsbildung

BundesverwaltungsgerichtNeue Entscheidungen zum großfl ächi-gen Einzel handel ........................... 64

Mindestgebühr für „Restmülltonne“ einer Verkaufsfi liale für Backwaren 64

Reiseausweis trotz bloß geduldeten Aufenthalts .................................... 64

Aufenthaltserlaubnis bei Abschie-bungsverbot ................................... 65

Hamburg

Erklärung zum Schutz vor Sciento-logen darf nicht an Unternehmen weitergegeben werden ................... 65

Personalia

BundesverwaltungsgerichtHorst Sendler gestorben ................ 66

OVG HamburgJan Albers verstorben ..................... 66

Martin Wickel und Karin BiebackDie Neuordnung der bauordnungsrechtlichen Zulassungsverfahren durch die HBauO-Novelle ................................................. 45

Caspar David Hermanns und Katrin ThomsenAbwehrrechte gegen Hochspannungsleitungen zur Anbindung von Offshore-Windparks an das Stromnetz ............................ 51

NordÖR 2/2006

Forum

Hans-Joachim Koch, HamburgDie neue Hamburgische Bauordnung 2006 .................................................................................................................................... 56

NordÖR 2/2006

Befreiung bedürfen und im Geltungsbereich eines qualifizier-ten Bebauungsplans liegen. Diese Vorhaben bedurften keiner Baugenehmigung, sondern zunächst nur einer Bauanzeige an die Behörde. Sofern die Behörde nicht innerhalb von zwei Wo-chen nach dem bestätigten Eingang der Anzeige den Baubeginn untersagte, durfte das Vorhaben umgesetzt werden. Schließlich waren bestimmte, untergeordnete Vorhaben nach der Baufrei-stellungsverordnung4 von jeglichem Genehmigungs- und Anzei-geverfahren freigestellt. Die Vorhaben konnten demgemäß ohne Information der Behörde realisiert werden. Für alle vorgenann-ten Verfahren und die Freistellung galt, dass andere erforderliche Genehmigungen durch sie nicht berührt wurden. Sie wurden von der Baugenehmigung oder der Freistellung nicht erfasst und waren gesondert einzuholen.

Die HBauO-Novelle fasst die auf vier Regelwerke verstreuten Vorschriften über die präventive Kontrolle baulicher Anlagen in der HBauO zusammen und sorgt auf diese Weise für mehr Über-sichtlichkeit. Aber auch inhaltlich wird das beschriebene vier-stufige System gravierenden Änderungen unterworfen. Statt der genannten vier gibt es nur noch drei Stufen. Zudem werden auch die Verfahren selbst, vor allem hinsichtlich des Umfangs der zu prüfenden Vorschriften modifiziert.

Im Mittelpunkt steht nunmehr das vereinfachte Genehmigungs-verfahren. Dessen Anwendungsbereich wird in zwei Richtungen ausgedehnt. Zum einen wird die Schwelle, ab der das aufwän-digere Verfahren mit Konzentrationswirkung erforderlich ist,

Die Neufassung der HBauO vom 14.12.20051 führt zu umfangrei-chen Änderungen gegenüber der bisherigen Rechtslage. Weil eine No-vellierung des Bauordnungsrechts auch in den übrigen norddeutschen Ländern vorgenommen worden oder zu erwarten ist, schenkt die Nord-ÖR der neuen HBauO mit zwei Beiträgen besondere Aufmerksamkeit. Der nachfolgende Beitrag stellt die Änderungen im Baugenehmigungs-verfahren dar und behandelt insbesondere die neu eingeführte Kon-zentrationswirkung der Baugenehmigung. Im Forum setzt sich Hans-Joachim Koch sodann kritisch mit der Konzentrationswirkung und darüber hinaus auch mit materiellen Änderungen auseinander.

I. Die verfahrensrechtlichen Änderungen im Überblick

Bislang sah das Bauordnungsrecht für die präventive Kontrolle der Errichtung, der Änderung, des Abbruchs und der Nutzungs-änderung baulicher Anlagen ein vierstufiges System vor, das al-lerdings nur zum Teil in der HBauO selbst geregelt war. Kern die-ses Systems war das Baugenehmigungsverfahren, das grundsätzlich alle baulichen Anlagen erfasste. Gem. § 69 Abs. 1 S. 1 HBauO a.F. wurde in diesem die Vereinbarkeit des Vorhabens mit allen öf-fentlich-rechtlichen Vorschriften geprüft. 1990 war das auf dem Wohnungsbauerleichterungsgesetz (HmbWoBauErlG)2 beru-hende vereinfachte Genehmigungsverfahren hinzugetreten, das im Wesentlichen alle Wohngebäude unterhalb der Hochhausgren-ze erfasste. Im Rahmen dieses Verfahrens prüfte die Genehmi-gungsbehörde nur die in § 2 Abs. 1 HmbWoBauErlG genannten öffentlich-rechtlichen Vorschriften; hinsichtlich des nicht zu prüfenden öffentlichen Rechts war eine Erklärung vorzulegen, dass das Vorhaben dessen Anforderungen einhält. Das seit 1993 bestehende Anzeigeverfahren nach der Bauanzeigeverordnung3 galt für Gebäude, die ausschließlich der Wohnnutzung dienen, höchstens zwei Wohnungen umfassen, keiner Ausnahme oder

Abhandlungen

Die Neuordnung der bauordnungsrechtlichen Zulassungsverfahren durch die HBauO-Novelle

von Prof. Dr. Martin Wickel, LL.M. und Ass. jur. Karin Bieback, LL.M., Hamburg

1 HmbGVBl. v. 27.12.2005, S. 525 ff. 2 In der Fassung vom 18.7.2001, HmbGVBl. v. 30.7.2001, S. 221, 223. 3 Vom 18.5.1993, HmbGVBl., S. 99. 4 In der Fassung vom 5.1.1988, HmbGVBl. v. 5.1.1988, S. 1.

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NordÖRZeitschrift für öffentliches Recht in NorddeutschlandHerausgegeben von

Prof. Dr. Wilfried Erbguth, Universität Rostock – Hans-Jürgen Ermisch, Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Hamburg – Dr. Rolf Gestefeld, Präsident des OVG Hamburg – Prof. Dr. Hans-Joachim Koch, Universität Hamburg – Hannelore Kohl, Präsidentin des OVG Greifswald – Dr. Hubert Meyer, Hauptgeschäftsführer des Landkreistages Mecklenburg-Vorpommern – Dr. Herwig von Nieuwland, Präsident des OVG Lüneburg – VRiVG Prof. Dr. Ulrich Ramsauer, Universität Hamburg – Prof. Dr. Alfred Rinken, Präsident des Staatsgerichtshofes der Freien Hansestadt Bremen, Universität Bremen – Hans-Joachim Schmalz, Präsident des OVG Schleswig – Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jortzig, MdB, Bundesminister der Justiz a.D., Universität Kiel – Dr. Wolfgang Schrödter, Hauptgeschäftsführer des Niedersächsischen Städtetages – Matthias Stauch, Präsident des OVG Bremen – Prof. Dr. Kay Waechter, Universität Hannover – Dr. Ekkehard Wienholtz, Innenminister des Landes Schleswig-Holstein a.D.

Zentrale Schriftleitung: VRiVG Prof. Dr. Ulrich Ramsauer, Hamburg

Landesschriftleitungen in Bremen, Greifswald, Hamburg, Lüneburg, Schleswig Heft 2/2006

NordÖR 2/200646

angehoben, zum anderen umfasst das vereinfachte Genehmi-gungsverfahren einen Teil der Vorhaben, die unter das Anzeige-verfahren fielen.5 Der Katalog der zu prüfenden Voraussetzungen wird auf die bauplanungsrechtliche Zulässigkeit des Vorhabens, die Einhaltung der Abstandsflächen, etwaige beantragte Abwei-chungen von der HBauO sowie die naturschutzrechtliche Ein-griffsregelung reduziert. Als neues Instrument führt die HBauO die Baugenehmigung mit Konzentrationswirkung ein. Von der her-kömmlichen Baugenehmigung unterscheidet sie sich dadurch, dass sie andere die Anlage betreffende öffentlich-rechtliche Entscheidungen mit einschließt, was eine Prüfung der entspre-chenden Voraussetzungen im Baugenehmigungsverfahren er-forderlich macht. Und schließlich kennt auch die neue HBauO verfahrensfreie Vorhaben, deren Katalog im Vergleich zur Bauf-reistellungsverordnung ausgedehnt wird. Die Novelle ändert das System der präventiven Kontrolle somit in zwei gegenläu-fige Richtungen: zum einen wird für die Baugenehmigung mit Konzentrationswirkung der Prüfungsumfang gegenüber dem bisherigen Baugenehmigungsverfahren erheblich ausgeweitet, zum anderen wird der Umfang der präventiven Kontrolle für die nicht diesem Verfahren unterfallenden Vorhaben stark einge-schränkt.

II. Die Baugenehmigung mit Konzentrationswirkung

Eine Baugenehmigung mit Konzentrationswirkung ist bis-lang weitgehend unbekannt. Lediglich Brandenburg kennt seit 2003 eine entsprechende Regelung in § 67 BbgBO. Vorbild für die Konzentrationswirkung der Baugenehmigung ist § 13 BIm-SchG.6 Geregelt ist die Konzentrationswirkung in § 72 Abs. 2 HBauO, der vorsieht, dass die Baugenehmigung andere die Anla-ge betreffende behördliche Entscheidungen einschließt, sofern solche nach den im Baugenehmigungsverfahren zu prüfenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften erforderlich sind. Die einge-schlossenen Genehmigungen sind zu benennen.

Die Konzentrationswirkung ist grundsätzlich umfassend.7 Sie bezieht sich jedoch nur auf „die Anlage betreffende“ Entschei-dungen, nicht erfasst werden Vorschriften, die nicht anlagen-, sondern personenbezogen sind, wie z.B. gaststättenrechtliche Genehmigungen. Sie führt dazu, dass die Bauaufsichtsbehörde neben dem Bauplanungs- und dem Bauordnungsrecht auch alle durch das Vorhaben betroffenen Bereiche des sonstigen öffentli-chen Rechts, etwa des Naturschutz- und Denkmalschutzrechts prüfen muss. Dies ist insofern nicht neu, als die Genehmigung auch bislang nur erteilt werden konnte, wenn öffentlich-recht-liche Vorschriften nicht entgegenstanden. Sofern das Vorhaben einer Genehmigung oder einer anderen behördlichen Entschei-dung nach Vorschriften dieser Rechtsbereiche bedarf,8 wird diese nunmehr von der Baugenehmigung abgedeckt. Die Bau-aufsichtsbehörde wird auch für diese Bereiche zur „entscheiden-den“ Behörde. Die ansonsten zuständigen Behörden werden im Baugenehmigungsverfahren zwar beteiligt (§ 70 Abs. 6 HBauO), an der Zuweisung der Entscheidung an die Bauaufsichtsbehörde ändert dies jedoch nichts.

1. Verfahrenskonzentration und Beteiligung der Natur-schutzverbände

Aus der Regelung in § 62 Abs. 1 HBauO ergibt sich eindeutig, dass es sich nur um eine formelle, nicht aber um eine materiel-le Konzentrationswirkung handelt. Die materiellen Vorgaben der „anderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften“ sind zu be-achten. Hinsichtlich des Verfahrensrechts sind hingegen allein die Vorschriften der HBauO über das Genehmigungsverfahren anzuwenden. Das gilt auch für speziellere Verfahrensvorschrif-

ten, die ansonsten bei einer von der Konzentrationswirkung erfassten Entscheidung zur Anwendung kämen. Hiervon be-troffen ist vor allem das Beteiligungsrecht der Naturschutzver-bände nach § 60 BNatSchG, §§ 40, 42 HmbNatSchG, wenn eine naturschutzrechtliche Entscheidung, insbesondere über die Er-teilung einer Ausnahme oder Befreiung von Ge- oder Verboten einer Schutzgebietssatzung, in der Konzentrationswirkung des Baugenehmigungsverfahrens aufgeht. Die Nichtanwendbarkeit „verdrängten“ Verfahrensrechts folgt aus einem Vergleich mit der immissionsschutzrechtlichen Genehmigung und der Plan-feststellung. Auch bei diesen geht die h.M. davon aus, dass die formellen Vorschriften der verdrängten Verfahren keine Anwen-dung finden.9 Dies nimmt das BVerwG selbst dann an, wenn das Verfahren mit Konzentrationswirkung dem verdrängten Verfah-ren funktionell nicht entspricht – also wenn etwa durch die An-wendung des immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsver-fahrens das Beteiligungsrecht eines Naturschutzvereins entfällt. Das angestrebte Ziel der Verfahrensvereinfachung lasse sich nur durch eine umfassende Vereinheitlichung erreichen, weshalb die Entscheidung über die Anwendung an sich verdrängter Ver-fahrensregelungen auch nicht der jeweiligen Genehmigungs-behörde überlassen werden dürfe.10 Legt man diese Rechtspre-chung zugrunde, verlieren die Naturschutzverbände in den oben genannten Fällen durch die Konzentrationswirkung der Bauge-nehmigung ihr Beteiligungsrecht. § 40 HmbNatSchG sieht eine Verbandsbeteiligung im Baugenehmigungsverfahren ebenso we-nig vor11 wie die HBauO selbst. Ein Beteiligungsrecht ergibt sich auch nicht aus § 70 Abs. 6 HBauO, wonach die Stellungnahmen der „Behörden und Stellen“ einzuholen sind, denn dieser Begriff umfasst die Naturschutzverbände nicht. Um das Beteiligungs-recht zu erhalten, hätte es einer entsprechenden Ergänzung des § 40 HmbNatSchG bedurft. Das Verbandsklagerecht nach § 61 BNatSchG, § 41 HmbNatSchG gegen Befreiungen von Verboten und Geboten zum Schutz von Naturschutzgebieten, National-parken und sonstigen Schutzgebieten bleibt hingegen bestehen. Da die Baugenehmigung die Befreiung mit „einschließt“, kann ein anerkannter Verein die Baugenehmigung anfechten.12

2. Kompetenz des Landesgesetzgebers

Die Konzentrationswirkung erfasst neben landesrechtlichen auch bundesrechtlich geregelte Zulassungsentscheidungen. Bezüglich letzterer stellt sich die Frage, inwieweit sich die lan-

5 Das gilt für Wohngebäude nach § 1 Abs. 1 BauanzeigeVO. Die Grund-stücksentwässerungsanlagen, die bislang von § 1 Abs. 2 BauanzeigeVO umfasst waren, werden nunmehr gem. Nr. 3.4 Anlage 2 (zu § 60) der HBauO vom Genehmigungsverfahren freigestellt.

6 Bürgerschafts-Drs. 18/2549, S. 37. 7 Zu Ausnahmen sogleich. 8 Bspw. Befreiungen von Verboten und Geboten zum Schutz von Natur-

schutzgebieten etc., Genehmigungen nach dem Hamburgischen Denk-malschutzgesetz.

9 Marzik/Wilrich, BNatschG 2004, § 6 Rn. 14; Kopp/Ramsauer, VwVfG, 9. Aufl. 2005, § 75 Rn. 7a; Bonk/Neumann, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl. 2001, § 75 Rn. 14, 24; Dürr, in: Knack, VwVfG, 8. Aufl. 2004, § 75 Rn. 11; Wasiliewski, in: Koch/Scheuing/Pache, GK-BImSchG, Stand Mai 2005, § 13 Rn. 52; Jarass, BImSchG, 5. Aufl. 2002, § 13 Rn. 18; Seibert, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Stand 1.9.2005, § 13 BIm-SchG Rn. 35, 41 (letztere auch explizit zum Mitwirkungsrecht der Ver-bände.

10 BVerwG, NVwZ 2003, 750, 751. Vgl. hierzu Knuth, LKV 2004, S. 193, 201. A.A. hingegen Jarass, BImSchG, 6. Aufl., § 13 Rn. 18, der für das Verfah-ren nach § 19 BImSchG eine analoge Anwendung der verdrängten Ver-fahrensregelungen fordert, wenn das Verfahren mit Konzentrationswir-kung diesen funktionell nicht entspricht.

11 Anders § 63 Abs. 3 Nr. 9 BbgNatSchG, der bestimmt, dass die Verbände zu beteiligen sind, wenn die Erteilung einer Zulassung aufgrund eines anderen Gesetzes eine naturschutzrechtliche Befreiung mit einschließt.

12 So für die Rechtslage in Brandenburg die Begründung zum BbgBauO-Entwurf, Landtagsdrucksache 3/5160, zu § 67.

Abhandlungen Martin Wickel und Karin Bieback

NordÖR 2/2006 47

desrechtlich angeordnete Zuständigkeits- und Verfahrenskon-zentration auf eine entsprechende Gesetzgebungskompetenz stützen kann. Ausgangspunkt sind die Art. 83, 84 GG, wonach Bundesrecht in der Regel durch die Länder ausgeführt wird. Dies umfasst die Ermächtigung der Länder, die Zuständigkeiten und das Verwaltungsverfahren näher zu regeln.13 Im Rahmen dieser Befugnis können sie daher anordnen, dass bestimmte landes-rechtliche Genehmigungen mit Konzentrationswirkung ausge-stattet sind und insoweit auch nach Bundesgesetz erforderliche Entscheidungen einschließen. Dies beinhaltet eine implizite Regelung von Zuständigkeiten und Verfahren für die bundes-rechtlichen Entscheidungen. Die Kompetenz der Länder zur Re-gelung von Zuständigkeit und Verfahren geht jedoch nur soweit, wie das Bundesrecht – auf der Grundlage von Art. 84 Abs. 1 GG – nicht bereits selbst diesbezügliche Vorschriften enthält. Beim Vorliegen einer bundesrechtlichen Zuständigkeitsanordnung oder Verfahrensregelung kann das Landesrecht keine hiervon abweichende Bestimmung treffen.14 Folglich kann auch die An-ordnung einer Konzentrationswirkung nicht zu einer dem Bun-desrecht zuwiderlaufenden Zuständigkeits- oder Verfahrenskon-zentration führen. Dementsprechend sind in der endgültigen Fassung15 des § 62 Abs. 1 HBauO jedenfalls die offensichtlichen Fälle der Kollision mit bundesrechtlichen Vorschriften von der Konzentrationswirkung ausgenommen worden. So schließt § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 3 HBauO zunächst die Genehmigungen nach §§ 6 und 7 AtG von der Konzentrationswirkung aus. Hintergrund dieser im Gesetzesentwurf noch nicht enthaltenen Ausnahme ist die besondere Zuständigkeitsanordnung des Bundesamtes für Strahlenschutz für die Genehmigung nach § 6 AtG gemäß § 23 Abs. 1 Nr. 4 AtomG16 sowie die speziellen Verfahrensvorschrif-ten, die die AtVfV für Genehmigungen nach § 7 Abs. 1 AtG vor-sieht17. Ferner erstreckt sich die Konzentrationswirkung gem. § 62 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 HBauO nicht auf Vorschriften, die eine Prüfung im förmlichen Verfahren (§ 63 ff. HmbVwVfG) vorse-hen. Davon werden insbesondere bestimmte wasserrechtliche Bewilligungen und UVP-pflichtige Erlaubnisse erfasst, §§ 18 Abs. 1, 92 Abs. 2, 93 Abs. 1 HWaG. Durch die Herausnahme der wasserrechtlichen Bewilligung aus der Konzentrationswirkung soll wohl der Regelung in § 9 WHG Rechnung getragen werden, nach der die Bewilligung nur in einem Verfahren erteilt werden darf, das gewährleistet, dass die Betroffenen und die beteiligten Behörden Einwendungen geltend machen können. Soweit der Kreis der Betroffenen nicht ohne weiteres überschaubar ist, er-fordert dies eine öffentliche Bekanntmachung und öffentliche Auslegung des Antrags.18 Bei UVP-pflichtigen Erlaubnissen ist eine Öffentlichkeitsbeteiligung erforderlich (§ 9 UVPG), die das Baugenehmigungsverfahren nicht vorsieht. Geht es darum, die Einhaltung spezieller bundesrechtlich angeordneter Verfahrens-regelungen sicherzustellen, erscheint es allerdings systematisch fragwürdig, die Ausnahme von der Konzentrationswirkung gerade an das landesrechtlich angeordnete Erfordernis eines förmlichen Verfahrens zu knüpfen. Bei einer Änderung des Lan-desrechts – etwa der Schaffung eigenständiger Verfahrensrege-lungen – wären Bewilligung und UVP-pflichtige Erlaubnis von der Konzentrationswirkung der Baugenehmigung erfasst, was zur Kollision mit den bundesrechtlichen Verfahrensvorschriften führen würde. Schließlich stellt § 59 Abs. 1 HBauO klar, dass eine Baugenehmigung entfällt, wenn ein sonstiges Verfahren mit Konzentrationswirkung vorgesehen ist. Dies erfasst insbesonde-re Vorhaben, die einer Planfeststellung, einer Plangenehmigung oder einer Genehmigung nach dem BImSchG bedürfen.

3. Reichweite der Konzentrationswirkung im Einzelfall

Gem. § 72 Abs. 2 S. 2 HBauO sind die behördlichen Entschei-dungen, die aufgrund der Konzentrationswirkung von der Bau-

genehmigung eingeschlossen sind, in der Genehmigung zu be-nennen. Die Benennung ist jedoch nicht Voraussetzung für den Eintritt der Konzentrationswirkung, denn die Pflicht, die einge-schlossenen Entscheidungen zu benennen, ist eine Folge dieser Wirkung, nicht hingegen eine Bedingung für ihren Eintritt.19 Die fehlende Erwähnung einer eingeschlossenen Entscheidung in der Baugenehmigung führt also nicht zu einer Einschrän-kung der Regelungswirkung der Baugenehmigung. Auswirkun-gen kann das Fehlen der Benennung hinsichtlich des von der Baugenehmigung ausgehenden Vertrauensschutzes haben. Der Bauherr kann nicht darauf vertrauen, dass nicht genannte Ent-scheidungen erteilt wurden. Andererseits genießt er in der Regel Vertrauensschutz dahingehend, dass nicht erwähnte Entschei-dungen nicht erforderlich sind. Insbesondere letzteres mag im Einzelfall haftungsrechtliche Folgen haben.

4. Behördenbeteiligung

Die Behörden, die aufgrund der Konzentrationswirkung nicht mehr zur Entscheidung befugt sind, sind am Baugenehmigungs-verfahren zu beteiligen. Gleiches gilt für Behörden und Stellen, die ihre Zustimmung oder ihr Einvernehmen zum Bauvorhaben erklären müssen oder deren Aufgabenbereich durch das Vor-haben berührt wird. Gem. § 70 Abs. 6 HBauO muss die Bauauf-sichtsbehörde entsprechende Stellungnahmen einholen. Die Bauaufsichtsbehörde ist an die Stellungnahmen nicht gebun-den. Aufgrund der Konzentrationswirkung liegt die Entschei-dung über alle von der Baugenehmigung erfassten öffentlich-rechtlichen Vorschriften bei der Bauaufsichtsbehörde, sie trägt insoweit jedenfalls nach außen die Verantwortung. Folglich ist die Bauaufsichtsbehörde gehalten, die Stellungnahmen nicht ohne weiteres zu übernehmen, sondern auf Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit zu überprüfen. Sie ist daher befugt und unter Umständen sogar verpflichtet, von Stellungnahmen abzuwei-chen, wenn diese fachlich oder rechtlich nicht vertretbar sind.20 Eine Bindung besteht hingegen, wenn eine erforderliche Zustim-mung oder ein Einvernehmen verweigert werden. In diesem Fall muss die Bauaufsichtsbehörde sich um eine Einigung bemühen. Kommt eine solche nicht zustande, darf die Baugenehmigung nicht erteilt werden.21

Für die Abgabe der Stellungnahmen sieht § 70 Abs. 7 HBauO grundsätzlich eine Frist von einem Monat vor. Geht innerhalb der Frist keine Stellungnahme ein, schreibt § 70 Abs. 7 S. 2 HBauO vor, dass die Bauaufsichtsbehörde davon ausgehen soll, „dass die von den Behörden und Stellen wahrzunehmenden öffentlichen Belange der Erteilung der Baugenehmigung nicht entgegenste-hen.“ Damit enthält § 70 Abs. 7 S. 2 HBauO für den Regelfall eine materielle Fiktion des Nichtentgegenstehens der öffentli-

13 Trute, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 4. Aufl. 2001, Art. 83 Rn. 74. Vgl. hierzu auch BVerwGE 99, 351, 354.

14 Vgl. hierzu Knuth, LKV 2004, S. 193, 200; BVerwGE 82, 61, 69. 15 Der Entwurf sah lediglich den auch in der endgültigen Fassung enthal-

tenen Vorrang anderer Verfahren mit Konzentrationswirkung vor (§ 59 Abs. 1 S. 2 HBauO-E).

16 Hierauf berufen sich CDU-Abgeordneten zur Begründung ihres Antrags zur Einfügung der Ausnahme, vgl. Bürgerschafts-Drs. 18/3230, S. 98.

17 Vgl. dazu auch BVerwGE 82, 61, 64. 18 Czychowski/Reinhardt: WHG, 8. Aufl. 2003, § 9 Rn. 5; Knopp, in: Sieder/

Zeitler/Dahme, WHG, §9 Rn. 4. 19 Dies entspricht im Übrigen auch der Rechtslage in Bezug auf den Plan-

feststellungsbeschluss und die Genehmigung nach BImSchG, wonach keine Pflicht zur Erwähnung in dem verfügenden Teil besteht. Vgl. § 21 der 9. BImSchV; Kügel, in: Obermayer, VwVfG, 3. Aufl. 1999, § 75 Rn. 16.

20 So die Begründung zum HBauO-E, Bürgerschafts-Drs. 18/2549, S. 69. 21 So auch die Begründung zum HBauO-E, Bürgerschafts-Drs. 18/2549,

S. 69.

Martin Wickel und Karin Bieback Abhandlungen

NordÖR 2/200648

chen Belange. Die Vorschrift entbindet die Bauaufsichtsbehörde nicht nur von der Pflicht, verspätet eingegangene Stellungnah-men dennoch zu berücksichtigen, sondern schließt eine solche Berücksichtigung für den Regelfall aus. Darüber hinaus schränkt sie die Befugnis der Bauaufsichtsbehörde zu eigener Ermittlungs-tätigkeit ein. Denn wenn die Behörde für den Regelfall davon ausgehen soll, dass öffentliche Belange nicht entgegenstehen, so liegt es nicht mehr bei der Bauaufsichtsbehörde, zu entscheiden, ob und inwieweit sie eigene Ermittlung bezüglich der von den fehlenden Stellungnahme abgedeckten Belange anstellt. Selbst eine Nachfrage bei der zu beteiligenden Behörde nach den Grün-den für die Nichtabgabe einer Stellungnahme scheint damit zu-nächst ausgeschlossen.

Diese Regelung mag zu einer Beschleunigung des Geneh-migungsverfahrens führen, sie begegnet jedoch erheblichen rechtsstaatlichen Bedenken und dürfte nur in einer einschrän-kenden Auslegung verfassungsgemäß sein. Zunächst ist festzu-stellen, dass die HBauO mit der weitgehenden Beschränkung des Amtsermittlungsgrundsatzes weit über vergleichbare Regelun-gen in anderen Sachbereichen hinausgeht. So kennt beispiels-weise auch das Planfeststellungsverfahren eine Präklusion ver-spätet eingehender behördlicher Stellungnahmen. § 73 Abs. 3a VwVfG schränkt diese Präklusion jedoch dahingehend ein, dass Belange, die der Planfeststellungsbehörde bekannt waren oder hätten bekannt sein müssen oder für die Rechtmäßigkeit der Entscheidung von Bedeutung sind, gleichwohl zu berücksichti-gen sind. § 17 Abs. 3b FStrG verzichtet auf die letzte der genann-ten Ausnahmen, stellt jedoch die Berücksichtigung verspäteter Belange generell in das Ermessen der Planfeststellungsbehörde. Die Amtsermittlung der Behörde wird durch diese Regelungen nicht berührt. Die Ausnahme für Belange, die der Behörde hät-ten bekannt sein müssen, zeigt im Gegenteil deutlich, dass die Behörde in gewissem Umfang zur Vornahme eigener Ermittlun-gen verpflichtet ist. Auch § 11 der 9. BImSchV unterscheidet sich in entscheidenden Punkten von der Regelung des § 70 Abs. 7 S. 2 HBauO. Dort heißt es, dass die Genehmigungsbehörde, wenn innerhalb der Frist keine Stellungnahme abgegeben wur-de, davon auszugehen hat, dass die beteiligte Behörde sich nicht äußern will. Anders als die HBauO bezieht sich diese Regelung also nur auf den Willen der beteiligten Behörde eine Stellung-nahme abzugeben. Der Genehmigungsbehörde steht es also frei, gleichwohl zu prüfen, ob Belange entgegenstehen. Dass sie hier-zu ebenso wie im Planfeststellungsverfahren sogar in gewissem Umfang verpflichtet ist, zeigt wiederum die Regelung des § 20 der 9. BImSchV. Hiernach sind ebenso wie gem. § 73 Abs. 3a VwVfG solche Belange noch zu berücksichtigen, die der Ge-nehmigungsbehörde bereits bekannt waren, ihr hätten bekannt sein müssen oder die für Beurteilung der Genehmigungsvoraus-setzungen von Bedeutung sind. In jedem Fall ist eine materielle Wirkung derart, dass die Behörde annehmen soll, bestimmte Be-lange stünden nicht entgegen – anders als in § 70 Abs. 7 HBauO – nicht vorgesehen.22

Insbesondere auch im Vergleich zu anderen Vorschriften stellt sich § 70 Abs. 7 HBauO somit als eine vor dem Hintergrund der Gesetzesbindung der Verwaltung bedenkliche Einschränkung des Rechts – und gegebenenfalls der Pflicht – der Bauaufsichts-behörde zur Amtsermittlung dar. Dementsprechend stellt sich die Frage, wann eine Ausnahme von der Soll-Regelung des § 70 Abs. 7 HBauO anzunehmen ist, die Behörde also nicht davon auszugehen hat, dass die öffentlichen Belange der Genehmi-gungserteilung nicht entgegenstehen. Auf keinen Fall darf die Bauaufsichtsbehörde dazu verpflichtet werden, sehenden Auges eine rechtswidrige Entscheidung zu treffen. Ein Ausnahmefall ist deshalb – entsprechend den oben zitierten Vorschriften – jeden-falls dann anzunehmen, wenn der Behörde die verspätet oder gar

nicht vorgebrachten Belange bereits bekannt sind. Ferner kann die Fiktionswirkung für solche Belange nicht eintreten, die für die Beurteilung der Genehmigungsvoraussetzungen von Bedeu-tung sind.23 Die Bauaufsichtsbehörde ist nicht nur verpflichtet, solche Belange auch dann zu berücksichtigen, wenn die entspre-chende Stellungnahme verspätet eingegangen ist, sondern muss bei Ausbleiben jeglicher Stellungnahme gegebenenfalls eigene Ermittlungen anstellen. Die Baugenehmigung mit Konzentrati-onswirkung soll eine „umfassende Unbedenklichkeitsbescheini-gung“24 sein. Dies macht eine umfassende Prüfung erforderlich. Eine Baugenehmigung darf ohne Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung nur erteilt werden, wenn zur Überzeugung der zuständigen und verantwortlichen Bauauf-sichtsbehörde feststeht, dass alle Genehmigungsvoraussetzun-gen vorliegen. Dem kann nur dann Genüge getan werden, wenn die Bauaufsichtsbehörde bei Zweifeln bezüglich des Entgegen-stehens der jeweiligen öffentlichen Belange zu eigenen Ermitt-lungen berechtigt ist. Hingegen geht es nicht weit genug, wenn die Begründung zur HBauO als Ausnahme die Fälle nennt, in de-nen sich der Bauaufsichtsbehörde die Erkenntnis aufdrängt, dass fachliche oder rechtliche Bedenken von Gewicht bestehen.25

Anders liegt die Problematik bei der in § 70 Abs. 7 S. 3 HBauO geregelten Fiktion der Zustimmung oder des Einvernehmens anderer Behörden, die eintritt, wenn diese nicht innerhalb der einmonatigen Frist verweigert werden. Auch diese Regelung verbindet den Ablauf der Frist mit einer materiellen Wirkung, nämlich der Fiktion der erforderlichen zustimmenden Ent-scheidung. Hier steht der Bauaufsichtsbehörde von vornherein keine Entscheidungsbefugnis zu. Insofern handelt es sich um eine Ausnahme von der Konzentrationswirkung. Unbedenklich erscheint deshalb, dass der Bauaufsichtsbehörde eigene Ermitt-lungen verschlossen sind. Problematisch ist hingegen die mate-riell-rechtliche Folge der Fristversäumung. Soweit es sich um ein bundesrechtlich angeordnetes Zustimmungserfordernis han-delt, fehlt dem hamburgischen Gesetzgeber jedenfalls die Kom-petenz, da die Vorschrift über die Regelung des Verwaltungsver-fahrens hinausgeht.

5. Einschätzung zu den praktischen Auswirkungen der Kon-zentrationswirkung

Die Baugenehmigung mit Konzentrationswirkung bietet den Bauherren eine umfassende Entscheidung über die Zulässigkeit ihres Vorhabens „aus einer Hand“. Das hat den Vorteil, dass nur noch ein Verfahren vor einer Behörde durchzuführen ist, was auch zur Verkürzung der Gesamtverfahrensdauer führen kann. Dies ist als „Serviceleistung“ der Verwaltung zu begrüßen, die – zumindest aus Sicht der Bauherren – zu einer wesentlichen Verfahrenserleichterung führt. An die Bauaufsichtsbehörden werden hingegen neue Anforderungen gestellt. Um über die „eingeschlossenen“ Entscheidungen mitentscheiden zu kön-nen, müssen die Bauaufsichtsbehörden auch über den entspre-chenden Sachverstand verfügen. Auch die Beteiligung der an sich zuständigen Fachbehörden ändert nichts daran, dass die Letztentscheidung bei der Bauaufsichtsbehörde liegt, was ent-

22 Vgl. Hansmann, Beschleunigung und Vereinfachung immissionsschutz-rechtlicher Genehmigungsverfahren?, NVwZ 1997, S. 105, 107; Roß-nagel, in: Koch/Scheuing/Pache, GK-BImSchG, Stand Mai 2005, § 10 Rn. 416; Czajka, in: Feldhaus: Bundesimmissionsschutzrecht, Stand Juni 2005, 9. BImSchV § 11 Rn. 46; Dietlein, in: Landmann/Rohmer, Umwelt-recht, Stand September 2005, § 10 BImSchG Rn. 108.

23 Vgl. zu der entsprechenden Ausnahme in § 73 Abs. 3a VwVfG Bonk/Neumann, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 6. Aufl. 2001, § 73 Rn. 101 ff.

24 So die Begründung zum HBauO-E, Bürgerschafts-Drs. 18/2549, S. 69. 25 Begründung zum HBauO-E, Bürgerschafts-Drs. 18/2549, S. 67.

Abhandlungen Martin Wickel und Karin Bieback

NordÖR 2/2006 49

sprechende Kenntnisse erforderlich macht. Dies stellt gesteigerte Anforderungen an die Qualifikation der Behördenmitarbeiter.

III. Rücknahme präventiver Kontrollen

Während das Baugenehmigungsverfahren mit Konzentrati-onswirkung zu einer Ausweitung der präventiven Kontrolle im Baugenehmigungsverfahren führt – was aber keine Intensivie-rung der präventiven Kontrolle insgesamt, sondern aufgrund des Wegfalls anderer Zulassungsverfahren nur eine Verlagerung bedeutet – folgt die HBauO ansonsten einem in den letzten Jah-ren in allen Bundesländern zu beobachtenden Trend zur Rück-nahme präventiver Kontrollen durch die Bauaufsicht.26 Dies zeigt sich insbesondere an folgenden Änderungen:

• Ausweitung des Katalogs verfahrensfreier Vorhaben in der An-lage zu § 60 HBauO;

• Abschaffung des Anzeigeverfahrens;

• reduzierter Prüfumfang im vereinfachten Genehmigungsver-fahren;

• Ausweitung des Anwendungsbereichs des vereinfachten Ge-nehmigungsverfahrens auf Gewerbebauten der Gebäudeklas-sen 1 und 227 sowie die Beseitigung baulicher Anlagen, § 61 Abs. 1 Nr. 2 und 3 HBauO;

• Wegfall der bauordnungsrechtlichen Teilungsgenehmigung;

• Rücknahme der Überprüfung der bautechnischen Nachweise, § 68 HBauO.

Ohne dass im Folgenden die Einzelheiten dieser Änderungen diskutiert werden sollen, lassen sich einige grundsätzliche Über-legungen zur Rücknahme der präventiven Kontrolle anstellen.

1. Gefahr vermehrter Rechtsverstöße und nachbarschaftli-cher Konflikte

Zunächst ist festzuhalten, dass eine Rücknahme der Präventiv-kontrolle das Risiko von Gesetzesverstößen erhöht; dies räumt der Senat an verschiedenen Stellen der Entwurfsbegründung auch selbst ein.28 Entsprechende Erfahrungen wurden auch in anderen Bundesländern gemacht.29 Gesetzesverstöße sind zu-nächst in Bezug auf die verfahrensfreien Vorhaben zu erwarten, in denen eine Präventivkontrolle gar nicht mehr stattfindet. Weiterhin ist aber auch bei den Vorhaben, die dem vereinfach-ten Genehmigungsverfahren unterliegen, mit Rechtsverstößen zu rechnen. Dies gilt vor allem in Bezug auf die Vorschriften, die von der Bauaufsichtsbehörde im vereinfachten Verfahren nicht überprüft werden, also mit Ausnahme der Abstandsflächenrege-lung alle Standardanforderungen der HBauO und das sonstige öffentliche Recht mit Ausnahme des Bauplanungsrechts und der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung. Nicht geprüft wer-den etwa die immissionsschutzrechtlichen Anforderungen an Vorhaben, die keiner Genehmigung nach dem BImSchG bedür-fen. Auch wenn man davon ausgeht, dass Bauherren und Archi-tekten – nicht zuletzt aufgrund ihrer erhöhten Verantwortung und des damit einhergehenden Haftungsrisikos – bemüht sind, die rechtlichen Anforderungen an bauliche Anlagen einzuhal-ten, stellt sich die Frage, ob sie hiermit nicht zumindest teilweise überfordert sind.

Bedenklich erscheint auch, dass die Kontrolle der Einhaltung materiell-rechtlicher Anforderungen zum Teil auf nachbarrecht-liche Streitigkeiten verlagert wird. Hier wirkt sich aus, dass aus dem Prüfprogramm des vereinfachten Genehmigungsverfah-

rens auch solche Vorschriften herausgenommen werden, die be-sonders konfliktträchtig oder besonders relevant für den Schutz fremder Rechte und Interessen sind. Als Beispiel sei hier § 22 BImSchG genannt, vor allem vor dem Hintergrund, dass nun-mehr auch gewerbliche und daher zum Teil immissionsträchtige Anlagen in den Anwendungsbereich des vereinfachten Verfah-rens einbezogen werden.

2. Nachteile der repressiven gegenüber der präventiven Kontrolle

Die Verringerung der Präventivkontrolle lässt die Pflicht zur Einhaltung des materiellen Rechts nicht entfallen. Soll die Ein-haltung rechtlicher Anforderungen jedoch kontrolliert und Rechtsverstöße vermieden werden, zieht die Reduzierung prä-ventiver Kontrollen zwangsläufig eine Notwendigkeit zur In-tensivierung der repressiven Kontrolle nach sich. Jedoch hat die repressive Kontrolle in Bezug auf die Effizienz der Vermei-dung rechtswidriger Zustände deutliche Nachteile gegenüber der präventiven Kontrolle, sodass sie deren Wegfall nicht voll-ständig auszugleichen vermag. Zunächst erscheint fraglich, ob die Bauaufsichtsbehörden über die erforderlichen personellen und finanziellen Ressourcen verfügen, die repressive Überwa-chung in einem Ausmaß auszuweiten, wie es zum Ausgleich des Rückgangs der präventiven Kontrolle erforderlich wäre.30 Der Rückgang der präventiven Prüfungen wird diesen Mehraufwand voraussichtlich nicht ausgleichen können. Bedeutsam ist in die-sem Zusammenhang, dass die Position der Bauaufsichtsbehör-de bei der repressiven Überwachung grundsätzlich schwächer ist als bei einer verpflichtenden Präventivkontrolle. Dies äußert sich bereits darin, dass bei der repressiven Kontrolle die Behörde von sich aus tätig werden muss. Dies erfordert jedoch, dass die Behörde von einem Rechtsverstoß Kenntnis erlangt, was ohne aufwändige Überwachungstätigkeit selten der Fall sein wird. Ne-ben der zufälligen Erlangung der Kenntnis von Rechtsverstößen werden diese regelmäßig nur bei Unfällen oder nachbarlichen Anzeigen bekannt werden. Dabei ist zu beachten, dass die Behör-de ohne ein Anzeigeverfahren in der Regel von der Bautätigkeit überhaupt keine Kenntnis erlangt. Im Rahmen der Präventiv-kontrolle ist die Position der Behörde schon insofern besser, als dass der Vorhabenträger die erforderlichen Unterlagen einreicht, die Behörde also gleichsam automatisch mit den erforderlichen Informationen versorgt wird. Hier hätte sich die Situation der Behörden schon dadurch verbessern lassen, dass zumindest eine Pflicht zur Mitteilung der Durchführung auch verfahrensfreier Vorhaben an die Bauaufsichtsbehörde vorgesehen worden wäre.

Weitere Schwierigkeiten, für die auch die beschriebene Mit-teilung keine Abhilfe schaffen würde, ergeben sich aus der Um-kehrung der Darlegungslast, die eine Verlagerung der Kontrolle nach sich zieht. Während im Baugenehmigungsverfahren der Antragssteller Unterlagen vorzulegen hat, die zeigen, dass sein Vorhaben rechtmäßig ist, muss bei nachträglichem Einschreiten die Bauaufsichtsbehörde darlegen, dass das Vorhaben rechtswid-rig ist. Weiterhin ist die Kooperationsbereitschaft der Antrags-

26 Dazu Jäde, Neuere Entwicklungen im Bauordnungsrecht, ZfBR 1996, S. 241, 243.

27 Das sind nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 und 2 HBauO-E Gebäude mit einer Höhe bis zu 7,0 m und nicht mehr als zwei Nutzungseinheiten von insgesamt nicht mehr als 400m2.

28 Bürgerschafts-Drs. 18/2549, S. 37, S. 62 (zu § 61) und S. 44 (zu § 8). 29 Für Bayern Simon, Die neue Bayerische Bauordnung aus der Sicht der

Praxis, BayVBl. 1994, S. 332, 333. 30 Vgl. Koch/Hendler, Baurecht, Raumordnungs- und Landesplanungs-

recht, 4. Aufl. 2004, § 24 Rn. 46. Skeptisch auch Koch, Die Entwicklung des öffentlichen Baurechts in den norddeutschen Küstenländern, Nord-ÖR 2000, S. 393, 395.

Martin Wickel und Karin Bieback Abhandlungen

NordÖR 2/200650

steller im präventiven Kontrollverfahren größer als bei nachträg-lichen Kontrollen. Im präventiven Kontrollverfahren müssen sie mitwirken, um bauen zu können. Im repressiven Verfahren haben sie hingegen kein eigenes Interesse an einer Mitwirkung. Solange die Behörde nicht zu einer Entscheidung kommt, kann der rechtswidrige Zustand aufrechterhalten werden. Weiter ist zu beachten, dass die Behörde bei repressivem Einschreiten (wie stets) an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden ist. Zwar kann die Genehmigung einen Vertrauensschutz nur be-gründen, soweit sie reicht. Aber jedenfalls dürfte bei einem re-pressiven Eingreifen der Umstand eine Rolle spielen, dass das Vorhaben, das eine Investition verkörpert, bereits verwirklicht ist. Daher wird nicht jede Rechtswidrigkeit eines Vorhabens z.B. ein Beseitigungsverlangen rechtfertigen.31 Insofern steht zu be-fürchten, dass Rechtsverstöße selbst bei gut funktionierender, umfassender repressiver Überwachung nicht vollständig besei-tigt werden können.

3. Weniger Rechtssicherheit für Bauherren und Architekten

Auch für die Bauherren und Architekten bringt eine Verringe-rung präventiver Kontrollen – neben dem eventuellen Vorteil ei-nes schnelleren Verfahrens – Nachteile und Risiken mit sich. Mit der Baugenehmigung wird festgestellt, dass das Vorhaben den im Baugenehmigungsverfahren geprüften öffentlich-rechtlichen Vorschriften entspricht. Wird der behördliche Prüfungsumfang begrenzt, so beschränkt sich damit zugleich die Bestätigung der materiellen Legalität des Vorhabens auf das tatsächlich Geprüf-te. Verstößt das Vorhaben gegen nicht geprüfte öffentlich-recht-liche Vorschriften, kann die Bauaufsichtsbehörde nachträglich dagegen einschreiten. Hier können nachträglich Kosten für den Bauherrn für die Herstellung rechtmäßiger Zustände – bis hin zum Rückbau oder Abriss von Gebäuden – entstehen.

Außerdem erhöht ein Rückgang der präventiven behördlichen Kontrolle das Haftungsrisiko der am Bau Beteiligten. § 53 HBauO stellt klar, dass der Bauherr und die anderen am Bau Beteiligten (Entwurfsverfasser, Unternehmer, Bauleiter) für die Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften verantwortlich sind. Für die Einhaltung der Vorschriften, die nicht in einem Baugeneh-migungsverfahren überprüft werden, haften allein die am Bau Beteiligten, nicht auch die Behörde. Besonders groß ist die Ver-antwortung von Bauherrn und Entwurfsverfasser bei den geneh-migungsfreien Vorhaben. Da die Genehmigungsfreiheit nicht von der Verpflichtung zur Einhaltung der öffentlich-rechtlichen Vorschriften entbindet (so auch explizit § 59 Abs. 2 HBauO), ha-ben Bauherr und Entwurfsverfasser selbst darauf zu achten, dass das Bauvorhaben dem geltenden Recht entspricht.32 Insofern ist mit einem Anstieg der Haftungsprozesse gegen Entwurfsverfas-ser und Bauleiter zu rechnen.33

4. Skepsis in Bezug auf die zu erwartenden Beschleuni-gungswirkungen

Darüber hinaus erscheint aber auch zweifelhaft, ob die mit dem Abbau der Präventivkontrolle erstrebte Beschleunigung der Verfahren und die Entlastung der Bauaufsichtsbehörden in der Praxis tatsächlich eintreten werden. In diesem Zusammenhang

ist zunächst darauf hinzuweisen, dass § 59 Abs. 3 HBauO den Bauherren ein „Wahlrecht nach oben“ einräumt. Auf Wunsch ist daher auch für an sich verfahrensfreie Vorhaben ein vereinfach-tes oder ein konzentriertes Genehmigungsverfahren bzw. für ver-einfacht zu genehmigende Vorhaben ein Genehmigungsverfah-ren mit Konzentrationswirkung durchzuführen. Angesichts der geringeren Rechtssicherheit, die mit einer Realisierung des Vorhabens nach einem vereinfachten Genehmigungsverfahren oder ohne jegliches Verfahren einhergeht, stellt sich für den Bau-herrn die Frage, ob die Beschleunigungswirkung diesen Nachteil aufwiegt. Vor allem bei Vorhaben, die mit großen Investitionen verbunden sind, dürfte die Entscheidung häufig zugunsten der Rechtssicherheit ausfallen. Dafür sprechen auch die Erfahrun-gen mit dem Anzeigeverfahren nach dem geltenden Recht, auf das der Bauherr zugunsten eines Genehmigungsverfahrens ver-zichten kann und das in der Praxis nicht angenommen wurde.34 Weiterhin ist zu beachten, dass keinesfalls alle Entwurfsverfasser bereit sein werden, das Risiko zu übernehmen, das aus einem ge-ringeren Prüfungsumfang im präventiven Zulassungsverfahren für sie folgt.35 Dementsprechend erscheint es fraglich, ob die Einschränkung der präventiven Kontrolle in der Praxis die Ak-zeptanz finden wird, die erforderlich ist, um den erhofften Be-schleunigungs- und Entlastungseffekt auszulösen.

IV. Fazit

Es hat sich gezeigt, dass die Novelle der HBauO eine umfas-sende Neuordnung des bauordnungsrechtlichen Zulassungsver-fahrens mit sich bringt. Dabei ist zunächst zu begrüßen, dass die Regelungen in der HBauO zusammengezogen werden, was allein für eine wesentlich bessere Übersichtlichkeit sorgt. Inhaltlich ist vor allem das Genehmigungsverfahren mit Konzentrations-wirkung als moderne Verwaltungsdienstleistung zu begrüßen, wenn auch die Beschleunigungsbemühungen, insbesondere im Bereich der Beteiligung anderer Behörden und der Berück-sichtigung öffentlicher Belange zu weit reichend sind und auf (verfassungs-) rechtliche Bedenken stoßen. Die Betonung der repressiven Kontrolle bei gleichzeitiger Rücknahme von Präven-tivkontrollen ist hingegen äußerst kritisch zu beurteilen. Hier werden Rechtsverstöße gleichsam durch „bewusstes Wegschau-en“ in Kauf genommen. Überdies erscheint es fraglich, ob die hier verfolgte Deregulierung in der Praxis angenommen wird.

31 Hierzu Kirstenpfad, Beschleunigtes Baurecht in der Praxis, LKV 1996, S. 93, 95.

32 Vgl. dazu (für den Fall des Anzeigeverfahrens) VG Münster, BRS 60 Nr 161 (1998).

33 Vgl. Grotefels, in: Hoppe/Bönker/Grotefels, Öffentliches Baurecht, 3. Auflage 2004, § 15 Rn. 31.

34 S. Begründung, Bürgerschafts-Drs. 18/2549, S. 35. 35 So empfiehlt die Architektenkammer ihren Mitgliedern, die Baugeneh-

migung mit Konzentrationswirkung zu wählen, um die ansonsten un-vermeidlichen Unsicherheiten zu umgehen. Vgl. Wortprotokoll der An-hörung vor dem Stadtentwicklungsausschuss und dem Rechtsausschuss am 20.10.2005, Bürgerschafts-Drs. 18/3230, S. 11.

Abhandlungen Martin Wickel und Karin Bieback

NordÖR 2/2006 51

Seit geraumer Zeit wird unter den verschiedensten Gesichtspunkten über die mit dem Bau von Offshore-Windparks verbundenen Rechts-fragen diskutiert. Dabei werden vor allem die Auswirkungen auf den Offshore-Bereich in den Blick genommen. Mit den meist noch in Pla-nung begriffenen und zum Teil auch schon genehmigten Offshore-Windparks1 wird man sich allerdings unter anderem die Frage nach der Anbindung an das Versorgungsnetz stellen müssen. Der folgende Beitrag befasst sich mit der Frage, inwieweit eine Pflicht zum Aus- be-ziehungsweise Neubau von Hochspannungsleitungen infolge des Baus von Offshore-Windparks besteht.

Einleitung

Hintergrund des erheblichen Interesses an der Erzeugung von Offshore-Windenergie sind die Energiepolitiken der Europäi-schen Union und der Bundesrepublik sowie das Kyoto-Protokoll mit dem Ziel einer CO² Reduzierung aus Gründen des Klima-schutzes. Dieses Ziel soll neben Energieeinsparung durch einen erheblichen Einsatz erneuerbarer Energien, insbesondere der Windenergie, erreicht werden2. So hat sich die Bundesregierung vorgenommen, den Anteil der erneuerbaren Energien an der En-ergieversorgung bis zum Jahr 2010 zu verdoppeln. Sie hält dabei eine Leistung von 20.000 – 25.000 MW bis zum Jahr 2025/2030 für realistisch. In diesem Fall könnten allein die Windräder auf See 15 % des heutigen deutschen Strombedarfs decken3.

Die Nennleistung der beantragten und geplanten Windparks reicht von 200 bis 17500 MW (Projekt „Forseti“ von Prokon Nord). Leistungen dieser Größenordnung entsprechen einem Vielfachen der Leistung von konventionellen Großkraftwerken und können nur in das Höchstspannungsnetz eingespeist wer-den. Die Netzanschlusspunkte in Niedersachsen befinden sich in Brunsbüttel, Bremerhaven, Leer (400 kV) und Wilhelmsha-ven (220 kV). Da die Verbraucherschwerpunkte bis zu einigen hundert Kilometern von der Küste entfernt liegen und das be-stehende Hochspannungsübertragungsnetz nicht für Transport-leistungen von einigen Gigawatt über einige hundert Kilometer ausgebaut ist, sind Netzverstärkungsmaßnahmen erforderlich. Schon heute wird in Niedersachsen in Zeiten geringen Strom-verbrauchs bei starkem Wind mehr Windstrom eingespeist, als dort verbraucht werden kann. So stehen zum Beispiel im Raum Cuxhaven einer Last von ca. 50 MW Windkraftanlagen mit einer installierten Leistung von etwa 480 MW gegenüber. Dieser überschüssige Strom muss weiträumig abtransportiert werden. Mit den soeben näher erläuterten „Offshore-Visionen“ wird noch mehr Strom transportiert werden müssen. So wäre das Ver-bundsnetz jedenfalls zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in der Lage, die im offshore-Bereich anvisierte Stromerzeugung auch nur teilweise aufzunehmen4. Ein Netzausbau ist daher unum-gänglich, um zu erwartende Kapazitätsengpässe zu beseitigen5.

Noch ist dabei allerdings im Wesentlichen unklar, wie der Netz-ausbau im Einzelnen vonstatten gehen soll. Dabei ist derzeit vor allem ungewiss, ob und ggfs. wie die Energie auf dem Festland gebündelt werden und der künftige Trassenverlauf der erfor-derlichen Energieleitungen zu den Verbraucherschwerpunkten sein soll6. Denn um diese Fragen beantworten zu können, sind noch umfangreiche Berechnungen unter Berücksichtigung der erforderlichen Netzstabilität vonnöten. Auf die sich in diesem

Zusammenhang ergebenden vielfältigen technischen Fragen, kann hier nicht detailliert eingegangen werden, vielmehr ist es erforderlich, sich auf die Aspekte zu beschränken, die für die Be-troffenen wesentlich sind. So ist im Rahmen der Entscheidung für eine Freileitung oder Erdkabel-Lösung zu berücksichtigen, dass unterirdische Kabel durch die aufwendigen Erdarbeiten grundsätzlich um ein vielfaches teurer sind als Freileitungen. Außerdem kann die bei Erdkabeln entstehende Wärme schlech-ter abgeführt werden, weshalb Erdkabel wesentlich geringer be-lastbar sind als Freileitungen. Des Weiteren hält eine Freileitung mehr als doppelt so lange wie ein Erdkabel. Aufgrund der sich aus § 1 EnWG ergebenden Verpflichtung der Netzbetreiber zu einer rationellen Betriebsführung ist davon auszugehen, dass in den meisten Fällen die Neigung zu einem Ausbau des Netzes mittels Freileitungen bestehen wird. Nur bei besonders gelagerten Fäl-len wird die Nutzung von Kabeln erforderlich sein7. Dies könnte beispielsweise die Durchquerung eines FFH-Gebietes sein.

Im Zuge der Durchleitung der elektrischen Energie von der Küste zu den Verbrauchsschwerpunkten werden somit neue En-ergieleitungen, vor allem Hochspannungsleitungen, zu errich-ten sein. In Zukunft sind daher gehäuft Planfeststellungsverfah-ren beziehungsweise Plangenehmigungen (§ 11a EnWG) für den dringend erforderlichen Ausbau des Netzes zu erwarten.

I. Ablauf des Verfahrens nach §§ 11a ff. EnWG

1. Planfeststellungs- und Plangenehmigungsverfahren

Aus § 11a EnWG folgt, dass die Errichtung und der Betrieb ei-ner Hochspannungsfreileitung mit einer Nennspannung von 110 kV oder mehr einer Planfeststellung bedarf, soweit dafür nach dem UVPG eine Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) durchzuführen ist. Andernfalls bedürfen sie der Plangenehmi-gung. Diese entfällt in Fällen von unwesentlicher Bedeutung.

Ein nicht unerheblicher Bereich von Leitungsanlagen kann somit ohne förmliche Planfeststellung und meist ohne jedes förmliche Genehmigungsverfahren errichtet werden8. Wegen der Beschränkung auf Leitungen mit einer Netzspannung von 110 kV erfasst § 11a Abs. 1 EnWG allein die Errichtung und den Betrieb der Anlagen des Höchstspannungsnetzes der großen Ver-bundunternehmen und des Hochspannungsnetzes der regiona-

Abwehrrechte gegen Hochspannungsleitungen zur Anbindung von Offshore-Windparks an das Stromnetz

von Rechtsanwalt Dr. Caspar David Hermanns und Katrin Thomsen, Osnabrück

1 So Wolf, ZUR 2004, 65, wobei es sich um den Offshore-Windpark „Bor-kum-West“ mit zunächst 12 Windkraftanlagen sowie um den Offshore-Windpark „Butendiek“ mit 80 Windkraftanlagen handeln soll und der auf die Genehmigungsbescheide des Bundeamts für Seeschifffahrt und Hydrographie, Genehmigungsbescheid für den Windpark „Borkum-West“ vom 9.11.2001, Az. 8086.01/Borkum-West/Z1; dass., Genehmi-gungsbescheid „Offshore-Bürger-Windpark Butendiek“ vom 18.12.2002 Az. 8086.01/Butendiek/Z1 verweist.

2 Maier, UPR 2004, 103. 3 www.bmu.de. 4 Büdenbender, RdE 2003, 193, 196. 5 Boxberger, Fachtagung – Windenergie – Strom von der Nordsee ins Ruhr-

gebiet, zitiert nach Spreen, NST-N 2004, 220 f. 6 Büdenbender, RdE 2003, 193, 196. 7 Boxberger, zitiert nach Spreen, NST-N 2004, 220 f. 8 Durner, in: Ziekow, Praxis des Fachplanungsrechts, Rn 2515.

David Hermanns und Katrin Thomsen Abhandlungen

NordÖR 2/200652

len Energieversorger. Dieses Höchst- und Hochspannungsnetz besteht zu 96 % aus Freileitungen9.

Die Verpflichtung zur Durchführung eines Planfeststellungs-verfahrens hängt somit von der Pflicht zur UVP ab10. Stets einer UVP bedarf die Errichtung und der Betrieb einer Hochspan-nungsfreileitung mit einer Länge von mehr als 15 km und einer Netzspannung von 220 kV oder mehr (Nr. 19.1.1 bis 19.1.4 der Anlage 1 zum UVPG)11. Bei Freileitungen nach Nr. 19.1.2 mit ei-ner Länge von mehr als 15 km und mit einer Netzspannung von 110 kV bis 220 kV kann eine UVP erforderlich sein. Dies ist in einer allgemeinen Vorprüfung des Einzelfalls gemäß § 3 c Abs. 1 S. 1 UVPG festzustellen. Nach Nr. 19.1.3. bedürfen Freileitungen mit einer Länge von 5 km bis 15 km und mit einer Netzspannung von 110 kV oder mehr ebenfalls einer allgemeinen Einzelfallprü-fung. Freileitungen von weniger als 5 km Länge und mit einer Netzspannung von 110 kV oder mehr sind einer standortbezo-genen Vorprüfung des Einzelfalls gemäß § 3 c Abs. 1 2 UVPG zu unterziehen12. Wie auch sonst üblich ist die UVP nach § 2 Abs. 1 S. 1 UVPG als unselbstständiger Bestandteil in das Verfahren zu integrieren13.

§ 11a EnWG trifft somit spezialgesetzliche, abweichende Rege-lungen. Im Übrigen gelten jedoch die allgemeinen Regelungen der §§ 72 ff VwVfG14.

Den materiellen Kern eines Planfeststellungsverfahrens bildet die abwägende und damit zugleich gestaltende Entscheidung der Planfeststellungsbehörde, in der diese einen Belang anderen vor-ziehen oder nachordnen darf15. Die Planfeststellung nach § 11a EnWG entfaltet dabei Konzentrationswirkung im Sinne von § 75 Abs. 1 S. 1 VwVfG, das heißt der Planfeststellungsbeschluss muss sämtliche von seinem Regelungsbereich berührten materiell-rechtlichen Rechtsvorschriften beachten. So besteht unter ande-rem auch eine strikte Bindung an die Ziele der Raumordnung (§ 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 ROG). Aus § 12 Abs. 1 EnWG folgt, dass Planfest-stellung und Plangenehmigung enteignungsrechtliche Vorwir-kung entfalten. Dies führt dazu, dass die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Zulässigkeitsentscheidung bereits auf der Ebene der Planrechtfertigung zu prüfen sind. Insofern muss die Prüfung strenger erfolgen, als der eigentliche Planungsgrund-satz es verlangt16, wobei Entschädigungsfragen in einem sich dem Planfeststellungsverfahren anschließenden, gesonderten Entschädigungsverfahren abschließend geklärt werden.

2. Betroffene

Betroffen sind diejenigen, deren Recht oder rechtlich ge-schützte Interessen auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts oder des Privatrechts durch das Vorhaben berührt werden können. Betroffen ist somit wer durch das Vorhaben in seinen Rechtspo-sitionen beeinträchtigt werden kann17.

Klagebefugnis gemäß § 42 Abs. 2 VwGO ist gegeben, wenn der Kläger die Möglichkeit darlegen kann, in einem subjektiven Recht verletzt worden zu sein18. Dieses subjektive Recht kann sich sowohl aus materiellen Rechtspositionen als auch aus Ver-fahrensrechten ergeben.

a) Gemeinden

Wenn die Möglichkeit besteht, dass die Gemeinde in einem subjektiven Recht verletzt worden ist, ist die Gemeinde klagebe-fugt. Dies ist dann der Fall, wenn das Gebiet der Gemeinde in An-spruch genommen wird, ihre schutzwürdigen Belange durch die fachplanerische Entscheidung nicht ausreichend berücksichtigt oder gemeindliche Mitwirkungsrechte vernachlässigt worden sein könnten19.

Das in Art. 28 Abs. 2 GG verankerte Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden beinhaltet auch die Planungshoheit20. Nach ständi-ger Rechtsprechung des BVerwG umfasst die Planungshoheit der Gemeinden das ihnen als Selbstverwaltungskörperschaft zuste-hende Recht auf Planung und Regelung der Bodennutzung in ih-rem Gebiet. Die Gemeinden können danach in ihrer Planungs-hoheit vor allem dann beeinträchtigt sein, wenn ein Vorhaben eine hinreichend bestimmte Planung nachhaltig stört. Dieses Recht wird jedoch durch eine überörtliche Fachplanung nicht schon deswegen beeinträchtigt, weil diese das Gemeindegebiet berührt und damit notwendigerweise die Ausgangslage für die künftige Planung der Gemeinde beeinflusst21.

Gemeinden können durch die Errichtung von Energieleitun-gen auf ihrem Eigentum in der Gemeindeentwicklung blockiert werden. Sie werden insbesondere daran gehindert, Flächen für Gewerbe oder Wohnen auszuweisen. Ihre Planungshoheit ist so-mit tangiert, sodass sie in jedem Fall zu dem Kreis der von der Planung Betroffenen zählen.

b) Landwirte

Die Betroffenheit von Landwirten ergibt sich aus der Eigen-tumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG. Ihr Grund und Boden stellt eine vermögenswerte Position dar und ist somit Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG. Zwar reicht die Inanspruchnahme von Eigentum für die Herleitung der Klagebefugnis allein noch nicht aus, vielmehr müssen die in einem Eigentumsrecht Betrof-fenen die Möglichkeit einer Rechtsverletzung darlegen können22. Wenn es sich um eine Beeinträchtigung einer Grundrechtspositi-on handelt, sind an die Möglichkeit der Rechtsverletzung jedoch keine zu hohen Anforderungen zu stellen. Da die Errichtung von Hochspannungsleitungen das Land zerschneiden und die Land-wirte dadurch in der Bewirtschaftung einschränken würde, wür-de sich hieraus ergeben, dass Landwirte klagebefugt sind.

Darüber hinaus sind sie nicht nur auf ihre unmittelbaren Ei-gentumsrechte beschränkt, vielmehr könnten sie sich auf jeden Rechtsfehler berufen, der für die Eigentumsinanspruchnahme ursächlich ist23. Würde eine Korrektur des formalen oder mate-riellen Mangels nichts an der Grundstücksbetroffenheit ändern, ist eine Berufung auf solche Fehler nicht möglich24.

Bei dem in Eigentumsrechten in Anspruch Genommenen sind dementsprechend auch Gesichtspunkte des Naturschutzes zu beachten. So stellt die von Hochspannungsleitungen ausgehen-de Gefährdung von Vögeln beim Leitungsanflug ein Problem dar. Diese Gefahr wächst mit der Höhe der Leitungen, sodass höhere Leitungen stärkere Eingriffe in Natur und Landschaft darstellen. Des Weiteren mindern Freileitungen grundsätzlich die Habitatsqualität zahlreicher Vogel- und weiterer Tierarten, deren Lebensräume zerschnitten werden. Sie beeinträchtigen

9 Durner, in: Ziekow, Praxis des Fachplanungsrechts, Rn 2518. 10 Peters, VR 2003, 28. 11 Durner in Ziekow, Rn 2519. 12 Krieglstein, UPR 2003, 17,19 f. 13 Durner in Ziekow, Rn 2522. 14 Krieglstein, UPR 2003, 17,18. 15 Wahl, DVBl. 1982, 51, 54. 16 Krieglstein, UPR 2003, 17, 18. 17 Porzner/Kollmer, DÖV 1995, 578, 581. 18 Johlen, DÖV 1989, 204 19 BVerwG, Urt. v. 21.03.1996 – 4 C 26.94 – DVBl. 1996, 914. 20 Porzner/Kollmer, DÖV 1995, 578, 582. 21 VGH Bad.-Württ., Urt. v. 19.06.1989 – 5 S 3056/87 – VBlBW 1990, 100,

101. 22 Stüer, Handbuch des Bau- und Fachplanungsrechts, Rn 2340. 23 BVerwG, Urt. v. 18.03.1983 – 4 C 80.79 – BVerwGE 67, 74; Diefenbach, NuR

1997, 573. 24 BVerwG, Urt. v. 21.02.1997 – 4 VR 13.96 – NVwZ-RR 1997, 344.

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zudem das Landschaftsbild, da sie als Einrichtungen der techni-schen Infrastruktur meist die ländliche Umgebung dominieren. Außerdem gehen von Hochspannungsleitungen elektromagne-tische Felder und Lärmbelästigung aus, die immissionsschutz-rechtliche Fragen aufwerfen.

Darüber hinaus können sich auch wasserrechtliche Probleme stellen, etwa im Vorfeld der Arbeiten (Schutz des Grundwassers beim Bau der Fundamente) oder beim Durchschneiden von Wasserschutzgebieten. Schließlich können bodenschutzrecht-liche Aspekte zu beachten sein, weil sich der Boden verdichten wird und Höchstspannungsleitungen zudem dazu führen, dass ein erheblicher Zinkeintrag in den Boden erfolgt, der zum Teil deutlich über dem Richtwert liegen kann25.

II. Materielle Problemstellungen

1. Planrechtfertigung

Zweifelhaft ist, ob die Planrechtfertigung überhaupt gegeben ist. Die Planrechtfertigung soll vor der Abwägung klären, ob sich das Vorhaben gegenüber öffentlichen Belangen und privaten Interessen durchsetzen kann26. Dabei betrifft die Planrechtfer-tigung das „Ob“ und unter welchen Umständen eine Raum-planung und ihre Auswirkungen generell gerechtfertigt sind27. Diese Rechtfertigung ist gegeben, wenn das Vorhaben vernünf-tigerweise geboten ist. Letzteres trifft für eine Planung nicht erst zu, wenn sie unausweichlich erscheint28. Überzogene Anforde-rungen sind dabei allerdings angesichts des Prognosecharakters der Bedarfsentscheidung nicht zu stellen29.

Die Planrechtfertigung ist daher durch die Planfeststellungs-behörde positiv festzustellen. Bei der vorliegenden Problemstel-lung ist dabei vor allem die konkrete Erforderlichkeit der geplan-ten Energieleitung zu prüfen. Gemäß § 11a Abs. 1 S. 6 EnWG muss das Vorhaben den Zielen des § 1 EnWG entsprechen, also einer möglichst sicheren, preisgünstigen und umweltverträgli-chen leitungsgebundenen Versorgung mit Elektrizität und Gas im Interesse der Allgemeinheit dienen.

Die Versorgung der Allgemeinheit mit Elektrizität ist derzeit und auch perspektivisch bereits ausreichend gesichert. Somit ist fraglich, ob der Ausbau des Energienetzes aufgrund der geplan-ten Errichtung von Offshore-Windparks tatsächlich geboten ist. Hier kommt der Aspekt der Gewährung einer möglichst umwelt-verträglichen Versorgung zum Tragen. Der Begriff der Umwelt-verträglichkeit des Vorhabens ist in § 2 Abs. 4 EnWG definiert. Hiernach muss die Energieversorgung den Erfordernissen eines rationellen und sparsamen Umgangs mit Energie genügen, eine schonende und dauerhafte Nutzung von Ressourcen gewährleis-ten und die Umwelt möglichst wenig belasten, wobei der Nut-zung von Kraft-Wärme-Kopplung und erneuerbaren Energien eine besondere Bedeutung zukommen soll30.

Die momentan in Deutschland verwandte Energie stammt vielfach aus fossilen Ressourcen. Die Nutzung regenerativer En-ergie hingegen würde einen Beitrag zur Umwelt- und Ressour-censchonung leisten. Dies ist gerade deshalb von Bedeutung, weil die fossilen Energievorräte nur noch kurze Zeit verfügbar sein werden und trotzdem die weltweite Nachfrage nach Energie aufgrund des Anstiegs der Weltbevölkerung und dem Nachhol-bedarf der Entwicklungsländer wächst. Außerdem weist regene-rative Energieerzeugung keine emittierende Belastung auf und ist daher weniger umweltbelastend.

Alternativen zur Windenergie sind nicht ersichtlich, da Was-serkraft nur sehr begrenzt verfügbar sowie weitgehend ausge-schöpft ist und die übrigen Energien, wie beispielsweise die

Sonnenenergie, trotz erheblicher Förderung nur einen sehr minimalen Beitrag bei der Energieerzeugung leisten31. Für eine Nutzung der Atomenergie als alternative Energiequelle fehlt es derzeit am notwendigen politischen Konsens. In der Bundesre-publik kommt daher vor allem ein Ausbau der Windenergienut-zung in Betracht. Auf dem Festland ist die Windenergie jedoch bereits umfangreich ausgenutzt worden, sodass nur noch be-grenzt Reserven bestehen. Aus diesem Grunde ist die Offshore-Energieerzeugung ins Blickfeld gerückt, zumal die Windsituati-on auf dem Meer wesentlich höhere Stromerzeugungspotentiale bietet und im Vergleich zum Festland eine längere Benutzungs-dauer der Kraftwerke ermöglicht32. Der Zweck des Leitungsbaus, die Schaffung von Kapazitäten für die Einspeisung regenerativer Energien aus Offshore-Windparks, entspricht somit dem Gebot der Umweltverträglichkeit33.

Andererseits ist jedoch zu bedenken, dass aus dem Umwelt-verträglichkeitsziel auch folgt, dass der Leitungsbau wegen eines damit verbundenen Eingriffes in Natur und Landschaft gerade zu unterbinden ist. Erschwerend kommt hinzu, dass der Bau von Hochspannungsleitungen für den Netzanschluss von Offshore-Windkraftanlagen, regelmäßig nicht zu unerheblichen Leis-tungsüberkapazitäten bei starkem Wind führt34.

Soweit jedoch hieraus unter Verweis von § 2 Abs. 5 EnWG auf § 3 Abs. 1 EEG, nach denen die Netzbetreiber verpflichtet sind, Anlagen zur Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien an ihr Netz anzuschließen und das Netz gegebenenfalls auch auszu-bauen, gefolgert wird, dass der Förderaspekt auch für die Ent-scheidungen im energierechtlichen Planfeststellungsverfahren verbindlich seien und andere, entgegenstehende, Belange daher erst in der weiteren Abwägung Gewicht erlangen würden35, ist dem nicht ohne weiteres zu folgen. Denn es ist fraglich, inwie-weit der Aspekt des mangelnden Versorgungsbedürfnisses hin-ter dem der Förderung von regenerativen Energien zurücktreten kann, insbesondere ist zweifelhaft, ob der Planungshorizont mit in die Planrechtfertigung hineingezogen werden kann.

So ist zwar dem § 3 EEG das Vorrangprinzip zu entnehmen, welches besagt, dass vorrangig Strom aus regenerativen Energien abzunehmen ist. Für die angesprochenen Offshore-Windparks bestehen jedoch vielfach – wie ausgeführt – keine Netze, sodass ein Netzausbau vonnöten wäre. Es stellt sich daher konkret die Frage, ob eine solche Planung möglich ist, die die aktuelle Ver-sorgungslage nicht berücksichtigt. Hierbei ist auf das Vorrang-prinzip abzustellen und zu klären, ob erneuerbare Energien in unbegrenzter Menge abgenommen werden müssen, denn das würde dafür sprechen, dass erneuerbare Energien Vorrang ge-genüber allen anderen Belangen genießen. Dabei geht aus dem Wortlaut des § 3 Abs. 1 EEG nicht ausdrücklich hervor, ob der Vorrang nur gegenüber gleichzeitig geäußerten Verkaufsinteres-sen konventioneller Kraftwerksbetreiber gilt oder ob das Vorrang-prinzip auch in Betracht kommt, wenn die Netzkapazität durch konventionelle Kraftwerke bereits zuvor ausgeschöpft ist36. Wäre letzteres möglich, so würde das bedeuten, dass erneuerba-

25 Kuxenko, NuR 2003, 332, 338. 26 BVerfG, Beschl. v. 09.06.1987 – 1 BvR 418/87 – DVBl. 1987, 895 ff.; Bell,

UPR 2002, 367. 27 Durner, in: Ziekow, Praxis des Fachplanungsrechts, Rn 2525. 28 BVerwG, Urt. v. 15.09.1995 – 11 VR 16.95 – NVwZ 1996, 396, 397 f. 29 Durner, in: Ziekow, Praxis des Fachplanungsrechts, Rn 2525. 30 Kuxenko, NuR 2003, 332, 334. 31 Büdenbender, RdE 2003, 193, 195 f. 32 Büdenbender, RdE 2003, 193, 195 f. 33 Krieglstein, UPR 2003, 17, 21. 34 Kuxenko, NuR 2003, 332, 337. 35 Kuxenko, NuR 2003, 332, 337. 36 Büdenbender, RdE 2003, 193, 199.

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re Energien in unbegrenzter Menge produziert werden könnten. Hierdurch würde unter anderem die Versorgungssicherheit ge-fährdet, denn irgendwann müssten womöglich Kraftwerke vom Netz genommen werden, die die Grundlast sicherstellen. Trotz des Vorrangprinzips erscheint die Herstellung von Versorgungs-sicherheit daher wichtiger als die Einspeisung von regenerativen Energien um jeden Preis37.

Des Weiteren würde das Stromnetz zusammenbrechen, wenn über den Versorgungsbedarf hinaus immer mehr regenerativer Strom produziert werden könnten. Hieraus ist zu schließen, dass aus § 3 EEG nicht folgen kann, dass der Förderaspekt von erneuerbaren Energien grundsätzlich alle anderen Belange, ins-besondere solche der Versorgung, zurückdrängen kann. Was den Planungshorizont betrifft, so werden ab dem Jahre 2010 in Folge des Alters der bestehenden Kraftwerke sowie des – soweit derzeit absehbar – sukzessiv erfolgenden Ausstiegs aus der Kerne-nergie neue Kraftwerke zur Verfügung stehen müssen. Da hierzu langfristige Planungs-, Genehmigungs- und Bauzeiten für neue Kraftwerke erforderlich sind38, spricht vieles dafür, zumindest diesen Planungshorizont in die entsprechenden Planungen ein-zubeziehen.

Es kommt somit darauf an, ob der Zieltrias aus § 1 EnWG (Sicherheit, Preisgünstigkeit, Umweltverträglichkeit) ein eigen-ständiges Gewicht zukommt, wenn das Vorhaben nicht, zu-mindest nicht vornehmlich, der Bedarfsdeckung dient. Für den Zweck der regionalen Strukturhilfe hat das BVerwG dies im Be-reich der Verkehrswege bejaht39. Zweifelhaft ist aber, ob diese Entscheidung auch auf den Bereich des Leitungsbaus bezogen werden kann, denn die Situation von Leitungsbau und Verkehrs-wegen ist nicht miteinander vergleichbar. So erlebt eine Region nicht plötzlich einen wirtschaftlichen Aufschwung, weil sie von neuen Hochspannungsleitungen durchschnitten wird, denn was die Stromversorgung angeht, ändert sich für sie hierdurch nichts. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall, inzwischen hat sich die Existenz von das Landschaftsbild verändernden Hochbauten von Infrastrukturvorhaben (Hochspannungs- und Sendemas-ten, Bahnstromleitungen, etc.) zu einem negativen Standortfak-tor entwickelt.

Zu beachten ist des Weiteren, dass der Förderaspekt als Teil der Umweltverträglichkeit nur ein Ziel ist und nicht nur den ande-ren Zielen, sondern auch anderen Umweltaspekten und damit mit sich selbst in Widerstreit steht. Da grundsätzlich jedoch alle Ziele gleichermaßen zu verfolgen sind, müssen sie dort, wo Zielkonflikte bestehen, im Einzelfall nach einer Abwägung aller relevanten Gesichtspunkte zum Ausgleich gebracht werden40. Damit handelt es sich aber um eine Frage der Gewichtung der Ziele, was einen Aspekt darstellt, der in diesem Prüfungsschritt der Planrechtfertigung außen vor zu lassen ist.

2. Abwägungsgebot

Nach § 11a Abs. 1 S. 5 EnWG sind bei der Planfeststellung und der Plangenehmigung die von dem Vorhaben berührten öffentli-chen und privaten Belange abzuwägen. Diese Regelung bestätigt die Geltung des planerischen Abwägungsgebotes für den Bereich der Energieanlagen. Besondere Anforderungen ergeben sich im Leitungsbereich vor allem im Hinblick auf die Trassenführung. Da neben energiewirtschaftlichen Gesichtspunkten insbeson-dere das durch Art. 14 GG geschützte Eigentum in die Abwägung einzustellen ist, muss geprüft werden, ob Alternativen vorliegen, durch die sich das Vorhaben in zumutbarer Weise ohne oder mit einem geringeren Eingriff in das Privateigentum verwirklichen lässt. Weitere abwägungsrelevante öffentliche Belange bei der Wahl der Trasse sind der Naturschutz und die Landschaftspflege.

Insofern drängt sich bei der Planung von Freileitungen eine Par-allelführung als diejenige Variante auf, welche Natur und Land-schaft regelmäßig am wenigsten belastet41.

Wie bereits aus den Erwägungen zur Planrechtfertigung fol-gend, harmonisieren die Gesetzeszwecke des EnWG ersichtlich nicht immer miteinander. Sie stehen vielmehr in einem Span-nungsverhältnis. Letztendlich wird man daher das Verhältnis der drei Ziele des § 1 EnWG in jeder einzelnen Abwägungsent-scheidung neu zu bestimmen haben, ein genereller Vorrang des einen oder anderen besteht dabei nicht42. Zu berücksichtigen ist dabei allerdings, dass § 1 EnWG ein Optimierungsgebot für die genannten Gesetzesziele darstellt. Das bedeutet, dass diese im Rahmen der planerischen Abwägung in § 11a EnWG in Aus-gleich miteinander und mit sonstigen betroffenen Belangen zu bringen und dabei soweit wie möglich zu verwirklichen sind43.

Es kann somit abwägungsfehlerfrei sein, wenn sich die Pla-nungsbehörde im Rahmen der Alternativenprüfung aus Kosten-gründen als „zentrales Argument“ für eine Planungsalternative entscheidet, obwohl diese im Hinblick auf Eingriffe in Natur und Landschaft und die Betroffenheit landwirtschaftlicher Betriebe erheblich nachteiliger ist als eine insoweit schonendere, aber erheblich teurere Variante44. Der Grund für diese Gewichtung ist in § 1 EnWG, der eine wirtschaftliche Lösung fordert. An-dererseits sind ebenfalls die anderen Aspekte in die Abwägung einzustellen, weshalb auch erhebliche Mehraufwendungen ein bestimmtes Schutzziel rechtfertigen können. Gleichwohl muss letztlich im Einzelfall entschieden werden, welchem Belang der Vorzug gegeben wird, eine grundsätzliche Wertentscheidung für den einen oder den anderen Belang lässt sich den gesetzlichen Bestimmungen jedenfalls nicht entnehmen.

3. Abwägungsmängel

Im Gegensatz zu § 6 Abs. 6 EnWG ReG 1997 enthält § 11a EnWG keine Regelung bezüglich Abwägungsmängel mehr. Es gilt daher § 75 Abs. 1a VwVfG, der eine Kausalität zwischen Ab-wägungsfehler und Abwägungsergebnis verlangt.

Ein Einfluss des Abwägungsmangels auf das Ergebnis dürfte bei der vorzunehmenden Prüfung zumindest immer dann anzu-nehmen sein, wenn nach der Intention des Gesetzgebers zwin-gend zu beachtende Abwägungsgesichtspunkte, vor allem die Zielvorgaben des EnWG, nicht berücksichtigt wurden. Erheb-lich sind daher jedenfalls Abwägungsfehler hinsichtlich der be-nötigten Leitungskapazität, der geringst möglichen umweltbe-lastenden Trassenführung oder der Beachtung fachgesetzlicher Vorgaben45. Meint die zuständige Behörde eine Energieleitungs-anlage planfeststellen zu müssen, wenn keine Versagungsgrün-de vorliegen, so hat sie ihr Planermessen nicht erkannt und ist demnach nicht in die Abwägung eingetreten. Es liegt dann ein Abwägungsausfall vor. Im Weiteren müssen alle Belange in die Abwägung eingebracht werden. Ist dies nicht geschehen, ist von einem Abwägungsdefizit auszugehen.

37 Salje, EEG, § 3 Rn 52; Schneider, in: Schneider/ Theobald, Handbuch zum Recht der Energiewirtschaft, § 18, Rn 87.

38 Büdenbender, RdE 2003, 193, 195. 39 BVerwG, Urt. v. 22.03.1985 – 4 C 15.83 – BVerwGE 71, 166, 169 = NuR

1986, 170. 40 Büdenbender RdE 2003, 193, 202. 41 Durner in Ziekow, Rn 2526. 42 Kuxenko, NuR 2003, 332, 335. 43 Kuxenko, NuR 2003, 332, 337. 44 VGH Bad.-Württ., Urt. v. 14.12.2000 – 5 S 2716/99 – VBlBW 2001, 362. 45 Krieglstein, UPR 2003, 17, 19.

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Für die rechtliche Gewichtung der Belange ist es von Bedeu-tung, ob ein Belang nur einfachgesetzlich oder ob er verfassungs-rechtlich verankert ist. Wird bei einer Natur und Landschaft beeinträchtigenden Leitung das zu ihren Gunsten sprechende Staatsziel Umweltschutz aus Art. 20 a GG nicht gesehen, so wer-den diese Belange falsch gewichtet. Es ist dann eine Abwägungs-fehleinschätzung gegeben. Schließlich ist es geboten zwischen den divergierenden Belangen einen Ausgleich herzustellen. Dieser Ausgleich darf nicht zum Gewicht des Belanges außer Verhältnis stehen. Andernfalls kommt es zur Abwägungsdispro-portionalität46.

Eine solche Abwägungsdisproportionalität wird immer dann anzunehmen sein, wenn für die weitere wirtschaftliche oder so-ziale Entwicklung einer Gemeinde benötigte Flächen nach den Vorstellungen der Planer von Freileitungen durchzogen werden, alternativ aber auch Erdkabel verlegt werden könnten, selbst wenn letztere mit höheren Aufwendungen verbunden wären. Denn eine vermeidbare Beeinträchtigung des Rechts auf kom-munale Selbstverwaltung steht dann in der konkreten Situation außer Verhältnis zum erstrebten Ziel, eine preiswerte Energiever-sorgung sicherzustellen.

Dies gilt insbesondere dann, wenn mit der Errichtung einer Hochspannungsleitung als Freileitung eine Beeinträchtigung des Landschaftsbildes einhergeht. Zwar verlangt das Naturschutz-recht nicht, dass bei einer Fachplanung diejenige Trasse gewählt wird, die mit den geringsten Eingriffen in Natur und Landschaft verbunden ist. Die naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung der §§ 18 ff. BNatSchG bezieht sich vielmehr auf die gewählte Trasse, die so festzustellen ist, dass keine Eingriffe entstehen, die durch eine Verschiebung des Verkehrswegs innerhalb der gewählten Trasse vermeidbar sind. Die Wahl der Trasse selbst unterliegt der Abwägung, in welcher die durch das Vorhaben verursachten Eingriffe in Natur- und Landschaft zwar einen wichtigen Belang darstellen, anderen Belangen aber untergeordnet werden, soweit diese überwiegen47. Dies steht aber der Verpflichtung, gegebe-nenfalls Erdkabel zu verlegen, nicht entgegen. Denn ist die Ent-scheidung für eine Trasse im Wege der Abwägung getroffen wor-den, muss danach über die mit möglichst geringen Eingriffen in Natur- und Landschaft verbundene Projektverwirklichung entschieden werden, was dann die Verpflichtung zur Verlegung eines Erdkabels zur Konsequenz hat.

4. Enteignung

Dem Planfeststellungsverfahren schließt sich gegebenenfalls ein Enteignungsverfahren an. So ist § 12 EnWG zu entnehmen, dass die Entziehung oder die Beschränkung von Grundeigentum oder von Rechten am Grundeigentum im Wege der Enteignung zulässig sind. Dieses jedoch nur unter der Voraussetzung, dass die Enteignung zur Durchführung eines Vorhabens, für das nach § 11a der Plan festgestellt oder genehmigt ist (Nr. 1), oder eines sonstigen Vorhabens zum Zwecke der Energieversorgung (Nr.2) erforderlich ist. Entsprechend des Abs. II wird über die Zulässig-keit der Enteignung in den Fällen der Nr. 1 im Planfeststellungs-beschluss oder in der Plangenehmigung entschieden. Der fest-gestellte oder genehmigte Plan ist dem Enteignungsverfahren zugrunde zu legen. Er ist für die Enteignungsbehörde bindend.

Eine Enteignung ist nach Art. 14 Abs. 3 S. 1 GG zum Wohle der Allgemeinheit zulässig und bedarf gemäß Art. 14 Abs. 3 S. 2 einer gesetzlichen Grundlage. Das Wohl der Allgemeinheit ist durch eine Abwägung nach Verhältnismäßigkeitskriterien zwi-schen dem öffentlichen Interesse an der Enteignung und dem Interesse des Eigentümers an der Erhaltung seiner Eigentums-substanz zu bestimmen. Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG verpflichtet den

Gesetzgeber, die eine Enteignung legitimierenden Gemeinwohl-aufgaben selbst festzulegen. Seine Wertungen und Erwägungen hat das Gericht zu respektieren, es sei denn, sie sind eindeutig widerlegbar oder offensichtlich fehlsam oder widersprechen der Wertordnung des Grundgesetzes48.

Aufgrund der Liberalisierung des Strommarktes stellt sich ferner das weitere Problem, ob die Enteignung für Zwecke der öffentlichen Energieversorgung zu Gunsten privatrechtlich or-ganisierter Energieversorgungsunternehmen nach § 12 EnWG mit Art. 14 GG vereinbar ist. § 12 EnWG ist die gesetzgeberische Grundentscheidung für Zwecke der öffentlichen Energieversor-gung Enteignungen zuzulassen. Dies ist eine gesetzliche Konkre-tisierung des Enteignungszwecks (Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG). Nach diesen Vorschriften ist die Enteignung für Zwecke der öffentli-chen Energieversorgung auch zugunsten solcher Energiever-sorgungsunternehmen zulässig, die privatrechtlich organisiert sind, zumindest dann, wenn sichergestellt ist, dass die Erfüllung der dem Gemeinwohl dienenden Aufgabe auch zum Nutzen der Allgemeinheit geführt wird49. Das Betreiben eines privatrecht-lich organisierten Energieversorgungsunternehmens, was der öffentlichen Energieversorgung dient, ist ein „auch-gemeinnüt-ziges“ Vorhaben. Der Betreiber verfolgt zum einen seine eigenen wirtschaftlichen Interessen, zum anderen handelt er aber auch zum Wohle der Allgemeinheit. Die Sicherstellung der Energie-versorgung ist eine öffentliche Aufgabe von größter Bedeutung. Sie gehört zum Bereich der Daseinsvorsorge und ist daher eine Leistung, deren der Bürger zur Sicherung einer menschenwürdi-gen Existenz unumgänglich bedarf. Die besondere Zielrichtung des Unternehmens überlagert dessen privatrechtliche Struktur sowie den auf die Erzielung von Gewinn gerichteten Zweck und lässt diese unter dem Blickwinkel des Enteignungsrechts in den Hintergrund treten, was das Opfer, das der Enteignete erbringe, rechtfertige. Ein solches Vorhaben steht daher der Allgemein-heit zur Verfügung und es ist gewährleistet, dass dieser Vorteil der Allgemeinheit dauerhaft erhalten bleibt50. Hieraus folgt, dass die Enteignung gemäß § 12 EnWG mit Art. 14 GG vereinbar und daher zulässig ist und die Liberalisierung des Strommarktes und die Abschaffung der Versorgungsmonopole bei der Elektrizitäts-versorgung an der grundsätzlichen Enteignungsmöglichkeit für Energieleitungen nichts geändert hat51.

Ausblick

Wie dargestellt, wird zur Anbindung der Offshore-Windparks die Errichtung von Hochspannungsleitungen erforderlich sein. Wenn erst einmal eine solche Planung ins Auge gefasst und von „der Politik“ abgesegnet worden ist, gibt es allerdings beschränk-te Möglichkeiten, die einmal getroffene Entscheidung abzu-wenden. Ob eine Chance für die von der Planung Betroffenen besteht, lässt sich daher letztlich nur im Einzelfall entscheiden. Klar ist dabei aber, dass weder die Belange der betroffenen Ge-meinden, noch des Naturschutzes im Sinne der Beeinträch-tigung des Landschaftsbildes nicht zu kurz kommen dürfen, insbesondere wenn alternative Planungsmöglichkeiten, insbe-sondere durch Verlegung von Erdkabeln, zur Verfügung stehen. Aber unabhängig davon, welches Abwägungsergebnis letztlich zum tragen kommt, wichtig ist für alle Betroffenen zunächst, der Gesamtproblematik frühzeitig die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken.

46 Peters, VR 2003, 73, 77. 47 OVG Schleswig, Beschl. v. 28.07.2003 – 4 MR 18/03 – NordÖR 2004, 75 f. 48 BVerwG, Urt. v. 24.10.2002 – 4 C 7.01 – BVerwGE 117, 138. 49 BVerwG, Urt. v. 11.07.2002 – 4 C 9.00 – BVerwGE 116, 365. 50 BVerfG, Beschl. v. 20.03.1984 – 1 BvL 28/82 – BVerfGE 66, 248, 258. 51 Hermann, NuR 2001, 551, 557.

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Der nachfolgende Beitrag bewertet im Anschluss an den Überblick von Martin Wickel und Karin Bieback die wichtigsten Neuregelungen der am 14. Dezember 2005 beschlossenen neuen HBauO und geht da-bei insbesondere auf die Figur der Baugenehmigung mit Konzentrati-onswirkung ein. In diesem Zusammenhang setzt er sich kritisch mit der vom Gesetzgeber verfolgten Zielsetzung einer Deregulierung des Bauordnungsrechts auseinander.

A. Vorbemerkung: Der Abbau präventiver Kontrollen

Die Errichtung baulicher Anlagen unterliegt traditionell ei-nem in den Landesbauordnungen der Bundesländer normier-ten Genehmigungsvorbehalt. Diese präventiven Kontrollen der Risiken des Baugeschehens und der Gefährdungen, die mit baulichen Anlagen verbunden sein können, dienen auch der Erfüllung der grundrechtlich fundierten staatlichen Schutz-pflicht für Leben und Gesundheit der Bürger. Anfang der 90er Jahre gerieten angesichts eines durch Zuwanderung bedingten Wohnraummangels und im Dienste einer Beschleunigung von Investitionen zur Stärkung des Standorts Deutschlands nicht nur die Dauer von Genehmigungsverfahren, sondern sogar das Instrument der präventiven Kontrolle selbst in die Kritik.1 Als Alternativen zur Baugenehmigung wurden die private Verant-wortung der Bauherren und die mögliche repressive Kontrolle durch staatliche Überwachung gepriesen, obwohl die – struktu-rellen – Defizite staatlicher Überwachung aus dem Bau- und An-lagenrecht sowie aus dem ganzen Wirtschaftsverwaltungsrecht bestens bekannt waren und sind.

Unter dem (Ein-)Druck der Standort-Debatte nahm die De-regulierung ihren Lauf2 und es entstand eine unübersichtliche Vielfalt an Modellen des Abbaus präventiver Kontrollen im öf-fentlichen Baurecht.3 Dabei ist Hamburg einen umsichtigen und kreativen Weg gegangen und hat zunächst (1990) ein Woh-nungsbauerleichterungsgesetz4 geschaffen, das keine Genehmi-gungsfreistellung, sondern ein vereinfachtes Genehmigungs-verfahren verbunden mit einer Genehmigungsfrist und einer Genehmigungsfiktion bei Fristablauf vorgesehen hat. Ferner hat Hamburg 1993 eine Bauanzeigeverordnung erlassen5, derzufol-ge Wohnbauvorhaben geringer Höhe mit höchstens zwei Woh-nungen in bestimmten Fällen nur anzuzeigen sind. Schließlich hat Hamburg seine Baufreistellungsverordnung6; die früher nur ausgesprochen unbedeutende Vorhaben betroffen hat, inzwi-schen vorsichtig ausgedehnt. Insgesamt ergab sich für Hamburg ein vierstufiges Kontrollsystem mit

– einem „Standard“-Genehmigungsverfahren,

– einem vereinfachten Genehmigungsverfahren,

– einem Anzeigeverfahren sowie

– freigestellten Vorhaben.

Mit der neuen Hamburgischen Bauordnung vom 14.12.2005 (in Kraft zum 1.4.2006) ist dieses Modell teils korrigiert, teils

fortentwickelt worden. Mit dem Verzicht auf das Instrument der Bauanzeige und mit der Integration des Wohnungsbauer-leichterungsgesetzes mit seinem vereinfachten Genehmigungs-verfahren in die HBauO enthält diese nun ein dreistufiges Kon-trollsystem, wobei der Anwendungsbereich des vereinfachten Genehmigungsverfahrens auf weitere Vorhaben ausgedehnt und der Kreis der von einem präventiven Kontrollverfahren gänzlich freigestellten Vorhaben ebenfalls deutlich weiter gezogen wor-den ist (s. insgesamt §§ 60-62 HBauO 2006).

B. Die Verfahren der Vorhabenzulassung nach der HBauO 2006

I. Überblick

§ 59 Abs. 1 HBauO bestimmt die Genehmigungsbedürftigkeit der Errichtung, Änderung oder Nutzungsänderung von Anla-gen, sofern diese nicht

– gemäß § 60 in Verbindung mit der Anlage 2 zur HBauO verfah-rensfrei gestellt sind oder

– gemäß § 64 dem bloßen Zustimmungsverfahren unterliegen oder

– gemäß § 66 als fliegende Bauten lediglich einer Ausführungs-genehmigung bedürfen.

§ 61 HBauO normiert für eine Fülle genehmigungsbedürftiger Vorhaben ein vereinfachtes Genehmigungsverfahren, in dem ausschließlich

– bauplanungsrechtliche Anforderungen,

– die Einhaltung der Abstandsflächen nach § 6,

Forum

Die neue Hamburgische Bauordnung 2006

von Prof. Dr. Hans-Joachim Koch, Hamburg*

* Der Autor ist Vorsitzender des Sachverständigenrats der Bundesregierung für Umweltfragen und Geschäftsführender Direktor der Forschungsstel-le Umweltrecht an der Universität Hamburg. Er ist Mitherausgeber der NordÖR.

1 Allgemein zu dieser teilweise sehr problematischen Debatte H.-J. Koch, Beschleunigung, Deregulierung, Privatisierung, ZAU 1997, 45-57 und 210-221.

2 Einen Überblick über die im Jahre 1994 beginnenden Novellierungen im Bauordnungsrecht der Länder, die in unterschiedlichem Maße zur Ein-führung neuer Genehmigungstypen, -verfahren und -freistellungsmög-lichkeiten geführt haben, vermittelt K.-M. Ortloff, Abschied von der Bau-genehmigung – Beginn beschleunigten Bauens, NVwZ 1995, 112 (113 ff.) sowie ders., Die Entwicklung des Bauordnungsrechts, NVwZ 1995, 436 ff.; 1996, 647 ff.; 1997, 333 ff.; zu den Privatisierungstendenzen im Bau-recht: H.-J. Koch, (Verfahrens-) Privatisierung im öffentlichen Baurecht, in: W. Hoffmann-Riem/J.-P. Schneider (Hrsg.), Verfahrensprivatisierung im Umweltrecht, 1996, 170 ff.

3 S. den Überblick über alle Bundesländer bei Koch/Hendler, Baurecht, Raumordnungs- und Landesplanungsrecht, 4. Aufl. 2004, § 24 Rn. 46 ff.

4 GVBl. 1990, 233, neu gefasst durch Gesetz vom 18.7.2001, GVBl., 221, außer Kraft zum 1.4.2006, GVBl. 2005, 525 (552).

5 GVBl. 1993, 99, zuletzt geändert durch Verordnung vom 21.1.1997, GVBl., 10, außer Kraft z. 1.4.2006 (Fn. 4).

6 GVBl. 1988, 1, zuletzt geändert durch Gesetz vom 1.9.2005, GVBl., 377, außer Kraft z. 1.4.2006 (Fn. 4).

Forum Hans-Joachim Koch

NordÖR 2/2006 57

– Abweichungen von den übrigen bauordnungsrechtlichen An-forderungen sowie

– die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung

von staatlichen Behörden geprüft werden. Nach Ablauf einer kurzen Genehmigungsfrist gilt die Genehmigung als erteilt. Zu diesen „privilegierten“ Vorhaben gehören alle Wohngebäude außer Hochhäusern sowie eine näher bestimmte Vielfalt gewerb-licher Nutzungen.

Die übrigen Vorhaben unterliegen gemäß § 62 HBauO einem Baugenehmigungsverfahren mit Konzentrationswirkung, in dem die Bauaufsichtsbehörde im Sinne des Drei-Säulen-Mo-dells7 die Einhaltung

– der bauplanungsrechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen,

– der bauordnungsrechtlichen Anforderungen sowie

– andere öffentlich-rechtliche Vorschriften prüft, soweit diese für das Vorhaben beachtlich sind.

Mit dieser – noch näher auszulotenden – Konzentrationswir-kung geht Hamburg einen fast singulären und durchaus frag-würdigen Weg. Die von den sechzehn Bundesländern im Inter-esse einer Rechtsvereinheitlichung entwickelte MBO 2002 sieht den Typus einer Baugenehmigung mit Konzentrationswirkung nicht vor. Aus dem Kreis der Bundesländer hat bislang ledig-lich Brandenburg eine vergleichbare Regelung geschaffen.8 Der Grund für die Zurückhaltung liegt in den hohen sachlichen An-forderungen, die an die Bauaufsichtsbehörden zu stellen sind, wenn diese die Letztentscheidungsverantwortung u.a. auch im Konfliktfall für „baurechtsfremde“ Entscheidungen zu tragen haben. Um dieses Modell zum Erfolg führen zu können, werden ein erheblicher Einsatz an Personal und Sachmitteln und deut-liche Umstrukturierungen der betreffenden Verwaltungsstellen erforderlich sein. Das erscheint gerade in Hamburg deshalb ein zweifelhafter Einsatz knapper Ressourcen, weil hier angesichts der räumlichen Nähe die erwünschte „Baugenehmigung aus einer Hand“ auch durch eine reine Koordinationsaufgabe der Bauaufsichtsbehörden ohne eigene Letztentscheidungsrechte gewährleistet werden könnte – nämlich in Form eines von der Bauaufsichtsbehörde einzusammelnden Genehmigungsbün-dels.

Im Übrigen wird dem Bauwilligen ein so genanntes „Wahl-recht nach oben“ eingeräumt. Nach § 59 Abs. 3 HBauO kann für genehmigungsfreie Vorhaben sowohl ein vereinfachtes wie auch ein Genehmigungsverfahren mit Konzentrationswirkung und für Vorhaben im Sinne von § 61 HBauO ein Verfahren gemäß § 62 HBauO verlangt werden. Diese Regelung ermöglicht dem Bauwilligen das erstrebte Maß an Sicherheit, auch an Bestandssi-cherheit durch eine Baugenehmigung zu erlangen. Gleichwohl begegnet diese „Flexibilisierung“, dieses Angebot staatlicher Leistungen aus dem „Menükatalog“, deutlichen Zweifeln: Wo-durch soll es gerechtfertigt sein, bei einem nahezu risikolosen und gerade deshalb gänzlich verfahrensfreigestellten Vorhaben den staatlichen Aufwand einer Genehmigung mit Konzentrati-onswirkung zu treiben?

Schließlich ist im neu gestalteten System präventiver Kon-trolle baulicher Vorhaben in Hamburg auf das mit Verordnung von 1993 eingeführte Bauanzeigeverfahren verzichtet worden. Stattdessen sind weitere Vorhaben ganz verfahrensfrei gestellt worden. Dies erscheint wenig zweckmäßig, da erweiterte Frei-stellungen auch mit einer gewissen Zunahme von Rechtsverstö-ßen verbunden sein werden. Dies sieht auch der hamburgische Gesetzgeber und verweist auf einen erheblichen Bedarf repres-siver Kontrollen, für die aber ohne Bauanzeigen eine zentrale

Informationsgrundlage verloren gehen wird. Wohl aus diesen Gründen ist im parlamentarischen Verfahren noch eine Pflicht des Senates eingefügt worden, bis zum 31.12.2008 über die Er-fahrungen bei der Durchführung des Gesetzes zu berichten.9

II. Das Baugenehmigungsverfahren mit Konzentrationswir-kung (§§ 62, 72 HBauO)

1. Der Prüfungsumfang

Der Prüfumfang im Baugenehmigungsverfahren mit Kon-zentrationswirkung ist – wie erwähnt – in § 62 HBauO näher beschrieben. In einer systematisch nicht ganz überzeugenden Redundanz wiederholt und variiert § 72 nun das Prüfprogramm als Genehmigungsvoraussetzungen einer Baugenehmigung. Es heißt in Abs. 1 „Die Baugenehmigung ist zu erteilen, wenn dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegen-stehen, die im bauaufsichtlichen Verfahren zu prüfen sind“. Da-mit verweist § 72 Abs. 1 auf § 62 Abs. 1 und das dort verankerte Drei-Säulen-Modell, dessen dritte Säule allerdings einige Inter-pretationsprobleme aufweist. In § 62 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 werden zwar die Vorschriften zur Genehmigung nach den §§ 6 und 7 Atomgesetz, sowie Vorschriften, die eine Prüfung im förmlichen Verfahren vorsehen (vgl. §§ 63 ff. HmbVwVfG), ausdrücklich ausgenommen. Es wird aber in der hamburgischen Bauordnung nirgends präzisiert, welche sonstigen öffentlichen Vorschriften als „für das Vorhaben beachtlich“ zu prüfen und damit Geneh-migungsvoraussetzungen der Baugenehmigung sind. Immerhin gibt die Gesetzesbegründung hierzu einige hilfreiche Hinweise:

Mit der Nummer 3 werde das gesamte „Baunebenrecht“ ein-bezogen, und zwar sowohl Vorschriften, für die ein eigenstän-diges Gestattungsverfahren normiert ist, wie auch solche, für die dies nicht gilt.10 Gemeint sind damit anscheinend u.a. die wegerechtliche Erlaubnis für eine Gehwegüberfahrt (§ 18 HWG), die Ausnahmegenehmigung gemäß § 4 der Baumschutzverord-nung, aber auch die immissionsschutzrechtlichen Anforderun-gen an nicht genehmigungsbedürftige Anlagen gemäß §§ 22 ff. BImSchG in Verbindung mit u.a. der Sportanlagenlärmschutz-verordnung (18. BImSchV), der TA Lärm und der TA Luft.11

Genehmigungsbedürftige bauliche Vorhaben stehen nicht selten im Zusammenhang mit dem beabsichtigten Betrieb einer Gaststätte oder einer Spielhalle. Beide Nutzungen sind genehmi-gungsbedürftig. Sie setzen eine Gaststättenerlaubnis bzw. eine Spielhallenerlaubnis (gemäß § 33i GewO) voraus. Nach dem Wortsinn des § 62 Abs. 1 Nr. 2 HBauO („öffentlich-rechtliche Vorschriften, soweit diese für das Vorhaben beachtlich sind“) liegt die Annahme nahe, alle für das Vorhaben „Errichtung und Betrieb der Gaststätte“ relevanten Vorschriften sollen im Bauge-nehmigungsverfahren geprüft werden, also auch die gaststätten-rechtliche Zuverlässigkeit des Antragstellers (im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 1 GastG). Das ist aber nicht gewollt. Vielmehr heißt

7 Koch/Hendler (Fn. 3), § 24 Rn. 18. 8 S. die Übersicht über die präventiven Kontrollen der sechzehn Bundes-

länder bei Koch/Hendler (Fn. 3), § 24 Rn. 47. 9 S. Bü-Drs. 18/3230, 94 und 99. 10 Die Verwendung des Ausdrucks „Baunebenrecht“ ist wenig hilfreich. Sie

suggeriert, dass es sich dabei um eine spezifische, abgegrenzte Teilklasse von Normen handelt, was jedoch nicht der Fall ist. Nach der gängigen Definition sind vielmehr alle Normen angesprochen, die „auf baurecht-liche Tatbestände einwirken können“ (s. nur Brohm, Öffentliches Bau-recht, 4. Aufl. 2005, § 3 Rn. 5; Stollmann, Öffentliches Baurecht, 3. Aufl. 2005, § 3 Rn. 9).

11 S. Bü-Drs. 18/2549, 63. Vgl. hierzu und zum Folgenden auch die infor-mativere Begründung zur brandenburgischen Regelung der Konzent-rationswirkung, Landtags-Drs. 3/5160, 138 ff. mit einem katalogartigen Überblick über die zu prüfenden Vorschriften sowie einbezogene/nicht einbezogene andere Behördenentscheidungen.

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es insofern in der Gesetzesbegründung: „Personenbezogene An-forderungen sind nicht Gegenstand des bauaufsichtlichen Ver-fahrens“, ausschließlich anlagenbezogene Anforderungen seien zu prüfen.12

Abgesehen davon sind noch weitere Abgrenzungsprobleme zu lösen, insbesondere hinsichtlich der anlagenbezogenen Anfor-derungen des GastG sowie auch der GewO (§ 33i GewO). Solche Anforderungen betreffen u.a. den Schutz des Personals, der Gäs-te, aber auch der Wohnbevölkerung in der Umgebung. Sind die-se Vorschriften nun solche „sonstigen öffentlich-rechtlichen“, die im Baugenehmigungsverfahren mit Konzentrationswirkung geprüft werden müssen? Eine solche Differenzierung innerhalb der gaststättenrechtlichen und gewerberechtlichen Erlaubnis-voraussetzungen empfiehlt sich nicht. Weder Gaststätten- noch Spielhallenerlaubnis werden von der Konzentrationswirkung erfasst.13

2. Die Konzentrationswirkung

§ 72 Abs. 2 HBauO regelt nun im Anschluss an die umfas-sende Prüfvorschrift des § 62 Abs. 1 HBauO die Konzentra-tionswirkung der Baugenehmigung dahingehend, dass die Baugenehmigung andere die Anlage betreffende behördliche Entscheidungen einschließt, „sofern solche nach den im Bau-genehmigungsverfahren zu prüfenden öffentlich-rechtlichen Vorschriften erforderlich sind“. In der damit angeordneten Letztentscheidungskompetenz der Bauaufsichtsbehörde liegt die beabsichtigte Konzentrationswirkung, während § 62 Abs. 1 – entgegen seiner Überschrift – nicht die Konzentrationswir-kung normiert, sondern eine umfängliche Prüfungspflicht der Bauaufsichtsbehörde als Grundlage der in § 72 Abs. 2 normier-ten Konzentrationswirkung. Der Umfang der Konzentrations-wirkung bleibt unklar, weil die HBauO in § 72 im Gegensatz zu dem erklärten Vorbild des § 13 BImSchG14 die eingeschlossenen Genehmigungen nicht enumerativ aufzählt.

3. Die Fristenregelungen

Mit Blick auf die gesetzgeberische Zielsetzung einer weiteren Beschleunigung bei der Realisierung von Bauvorhaben15 enthält das Baugenehmigungsverfahren mit Konzentrationswirkung einige wichtige Fristenregelungen mit allerdings fragwürdigen Rechtsfolgen:

Nach § 62 Abs. 1 Satz 2 HBauO hat die Bauaufsicht über den Antrag innerhalb von drei Monaten nach Eingang der vollstän-digen Unterlagen zu entscheiden. Eine Rechtsfolge ist daran nicht explizit geknüpft. Es steht zu befürchten, dass die zustän-digen Behörden aus Sorge, es könnten bei Fristüberschreitungen Amtshaftungsansprüche geltend gemacht werden, die Sachver-haltsaufklärung nicht immer in der erforderlichen Konsequenz bewältigen werden.

§ 70 Abs. 7 HBauO setzt für die Stellungnahmen der beteilig-ten Behörden und sonstigen Stellen eine Frist von einem Monat. Geht eine Stellungnahme nicht innerhalb dieser Frist ein, „soll“ die Bauaufsichtsbehörde davon ausgehen, dass die entsprechen-den öffentlichen Belange dem Vorhaben nicht entgegenstehen. Diese Fiktion – die übrigens das Vorbild im BImSchG nicht kennt – ist sachlich untragbar. Die Bauaufsichtsbehörde muss vielmehr von der ihr zugewiesenen Letztentscheidungskompetenz Ge-brauch machen und die offenen Fragen aus eigener Befähigung sachlich entscheiden. Das gilt auch für die Fälle, in denen die Zu-stimmung oder das Einvernehmen einer anderen Behörde vor-gesehen sind und diese Behörden sich nicht fristgemäß äußern (s. § 70 Abs. 7 Satz 3 HBauO). Es wäre zumindest ein Verstoß ge-gen das Rechtsstaatsprinzip, wenn die Bauaufsichtsbehörden in

einer solchen geradezu willkürlichen Weise auf die Prüfung von rechtlich normierten Voraussetzungen einer Baugenehmigung verzichten würden.

4. Privater Sachverstand im Baugenehmigungsverfahren

Zu den maßgeblichen Zielen der HBauO 2006 gehören er-klärtermaßen der weitere Rückzug des Staates aus der präven-tiven Kontrolle und die Ausweitung der Privatisierung solcher Überwachungsaufgaben durch privat beauftragte Prüfsachver-ständige.16 Diese Zielsetzung erfasst auch die bautechnischen Nachweise im Genehmigungsverfahren mit Konzentrationswir-kung. Grundsätzlich ist die Einhaltung der Anforderungen an die Standsicherheit, den Brandschutz, an Schallschutz, Wärme-schutz und Erschütterungsschutz durch die Bauvorlageberech-tigten (s. § 67 HBauO) nachzuweisen (§ 68 Abs. 1 HBauO). Diese Nachweise werden im konzentrierten Genehmigungsverfahren nicht vollen Umfanges von der Bauaufsichtsbehörde geprüft. Gemäß § 68 Abs. 4 HBauO werden nur die die Standsicherheit und den Brandschutz sowie die Rettungswege betreffenden Anforderungen bauaufsichtlich – und zwar in der Regel durch beliehene Prüfingenieure (s. § 81 Abs. 9 Nr. 1 HBauO) – geprüft, während die Anforderungen an Schallschutz, Wärmeschutz und Erschütterungsschutz keiner staatlichen Kontrolle unterliegen. Insofern sind vom Bauvorlageberechtigten Nachweise durch Prüfsachverständige für Bautechnik (s. § 81 Abs. 9 Nr. 2 HBauO) zu erbringen (Argument aus § 68 Abs. 2 HBauO).

III. Das vereinfachte Genehmigungsverfahren (§ 61 HBauO)

Das in § 61 HBauO normierte „vereinfachte Genehmigungs-verfahren“ geht zurück auf das Hamburgische Gesetz zur Erleich-terung des Wohnungsbaus vom 4.12.1990, mit dem Engpässen auf dem Wohnungsmarkt durch Beschleunigung entsprechen-der Genehmigungsverfahren begegnet werden sollte.17 Das Ge-setz war von zwei Leitideen geprägt: (1) Zum einen sollten der staatliche Prüfumfang auf das Wesentliche reduziert werden und im Übrigen die Verantwortung dem Bauwilligen auferlegt werden. (2) Außerdem sollte eine in der Regel 3-monatige Be-arbeitungsfrist mit der Genehmigungsfiktion bei Fristablauf gewährleisten, dass der reduzierte Arbeitsaufwand auch defi-nitiv zu einer Verkürzung der Genehmigungsverfahren führt. Um die Risiken durch den Rückzug des Staates und durch den fiktionsbedingten Zeitdruck überschaubar zu halten, war der Anwendungsbereich im Wesentlichen auf Wohngebäude ge-ringer Höhe18 begrenzt. Nach Anlaufschwierigkeiten hat sich das Regelungsmodell bewährt und wurde daher 2001 auf alle im Wesentlichen Wohnzwecken dienenden Gebäude bis zur Hoch-hausgrenze erstreckt. Angesichts der mit dem ausgeweiteten Anwendungsbereich verbundenen Risiken wurde zum einen das bauaufsichtliche Prüfprogramm hinsichtlich des Brandschutzes

12 Bü-Drs. 18/2549, 63. 13 Vgl. Begründung zur Brandenburgischen Bauordnung (Fn. 11), 140. 14 S. den Hinweis in Bü-Drs. 18/2549, 37. 15 S. Bü-Drs. 18/2549, 33. Bedenkt man, dass – wie an gleicher Stelle ausge-

führt – 86% aller Baugenehmigungsverfahren in dreizehn Wochen ab-geschlossen werden und die Arbeit der hamburgischen Bauaufsicht von der Bevölkerung die Note „gut“ (1,8) erhalten hat, so bedarf das Ziel ei-ner weiteren Beschleunigung einer wirklich handfesten Rechtfertigung. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die gegenläufige Qualitätssicherung aus Gründen auch des Schutzes von Leben und Gesundheit der Bevölke-rung staatlich zu gewährleisten ist. Die Bürgerschaft rechnet selbst – wie mehrfach in der Begründung explizit hervorgehoben – mit der Zunah-me rechtswidrigen Verhaltens im Baugeschehen.

16 S. Bü-Drs. 18/2549, 33. 17 S.o. Fn. 4. 18 Gemäß § 2 Abs. 3 Nr. 1 HBauO a.F. waren das Gebäude, „bei denen der

Fußboden des obersten Geschosses nicht höher als 7 m liegt“.

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(zweiter Rettungsweg) erweitert und zum anderen der staatli-che Prüfverzicht hinsichtlich der bautechnischen Nachweise dadurch kompensiert, dass der Bauwillige vor Baubeginn eine entsprechende Bescheinigung einer staatlich anerkannten sach-verständigen Person vorlegen musste.19

Nunmehr ist das vereinfachte Genehmigungsverfahren in die HBauO 2006 integriert worden, was unter den Gesichtspunkten der Rechtsklarheit und der rechtlichen Systematik sehr zu begrü-ßen ist. Allerdings ist diese Integration in die HBauO mit einem geradezu radikalen Rückzug der staatlichen Überwachung ver-bunden, der erhebliche Zweifel daran aufkommen lässt, ob auf diese Weise noch hinreichend sicher ordnungsgemäße Zustände gewährleistet werden können. Der radikale Rückzug des Staates besteht darin, dass nahezu gänzlich auf eine Prüfung der bauauf-sichtlichen Anforderungen durch die staatliche Bauaufsicht ver-zichtet wird. Immerhin ist aufgrund der Anhörungen im parla-mentarischen Verfahren noch die Kontrolle der Einhaltung der Abstandsflächen in das Prüfprogramm aufgenommen worden. Geprüft werden somit gemäß § 61 Abs. 2 HBauO lediglich

– die bauplanungsrechtlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen des Vorhabens (Nr. 1),

– die Einhaltung der Abstandsflächen nach § 6 (Nr. 2),

– beantragte Abweichungen von den bauordnungsrechtlichen Anforderungen (Nr. 3) sowie

– die Anforderungen der naturschutzrechtlichen Eingriffsrege-lung (Nr. 4).

Im Vergleich mit dem bisherigen Prüfprogramm entfallen da-mit Prüfungen hinsichtlich

– der Rettungswege,

– der Stellplätze,

– der Herrichtung unbebauter Flächen,

– der Kinder- und Freizeitflächen,

– der Gestaltungsanforderungen sowie

– der immissionsschutzrechtlichen Erfordernisse (§§ 22 ff BIm-SchG).

Diese Rücknahme präventiver staatlicher Kontrollen ist umso fragwürdiger, als der Kreis der erfassten Vorhaben erneut erwei-tert worden ist. Gemäß § 61 Abs. 1 gilt das vereinfachte Geneh-migungsverfahren nun auch

– für gewerbliche Nutzungen in allen erfassten Wohngebäuden, nicht nur in solchen geringer Höhe,

– für ausschließlich gewerblich genutzte Gebäude bis zu solchen mittlerer Höhe sowie

– für die Beseitigung baulicher Anlagen (zum Vergleich s. § 1 Abs. 1 Hmb. WoBauErlG a.F.).

Immerhin ist festzuhalten, dass – risikomindernd – Sonder-bauten (s. § 2 Abs. 4 HBauO) definitiv ausgeschlossen sind.

Der weitgehende Rückzug des Staates aus der präventiven Kontrolle soll partiell dadurch kompensiert werden, dass

– gemäß § 68 Abs. 1 HBauO die Einhaltung der Anforderungen an die Standsicherheit, den Brandschutz, Schallschutz, Wär-meschutz und Erschütterungsschutz durch bautechnische Nachweise zu belegen ist und

– gemäß § 68 Abs. 2 HBauO für einen Teil der erfassten Bauvor-haben die bautechnischen Nachweise zur Standsicherheit,

zum Brandschutz und zu den Rettungswegen durch Prüfsach-verständige für Bautechnik zu prüfen und zu bestätigen sind.

Unverändert ist im vereinfachten Genehmigungsverfahren eine Bearbeitungsfrist gesetzt, nach deren Ablauf die Genehmi-gung als erteilt gilt, was dem Bauwilligen auf Antrag zu bestä-tigen ist. Allerdings ist die Frist verkürzt worden. Betrug nach dem Wohnungsbauerleichterungsgesetz die Bescheidungsfrist für „normale“ Fälle zwei Monate, für schwierigere drei Monate (vgl. § 5 Hmb WoBauErlG a.F.), so betragen die Fristen nunmehr einen bzw. zwei Monate (§ 61 Abs. 3 HBauO). Die Verschärfung dürfte der Qualitätssicherung wenig förderlich sein. Zwar hat die Bauaufsicht nun noch weniger zu prüfen, jedoch ist angesichts des erweiterten Anwendungsbereichs des vereinfachten Verfah-rens mit einer Zunahme von Anträgen zu rechnen. Die Beschleu-nigungsrhetorik wird hier offensichtlich zum Selbstzweck.

Alles in allem bleiben erhebliche Zweifel daran, ob in einem derart „abgespeckten“ und unter verschärften Zeitdruck ge-setzten Verfahren eine hinreichende präventive Kontrolle noch möglich sein wird. Mit Blick auf die „Wahlfreiheit nach oben“, die es nach altem Recht nicht gab, erscheint auch fraglich, ob die Bauwilligen dieses wenig Bestandsschutz und wenig Sicherheit vermittelnde Verfahren trotz erweiterten Anwendungsbereichs dementsprechend wählen werden. Im vereinfachten Verfahren nach altem Recht wurden rund 35% aller Bauanträge bearbeitet. Es wird zu prüfen sein, ob das vereinfachte Verfahren nach neu-em Recht diese Relevanz behalten wird.20

IV. Verfahrensfreie Vorhaben (§ 60 HBauO)

Verfahrensfreie Vorhaben sind gemäß § 60 Abs. 1 HBauO sol-che, die weder einer Genehmigung noch einer Zustimmung nach der HBauO bedürfen. Diese Vorhaben sind abschließend in Anhang 2 zur HBauO aufgelistet. Mit diesem Anhang wird die bisherige Baufreistellungsverordnung in die HBauO inte-griert, wobei der Katalog der freigestellten Vorhaben auch unter Berücksichtigung des Katalogs in § 61 MBO deutlich erweitert worden ist. Die Freistellung entbindet – wie § 59 Abs. 2 HBauO klarstellt – selbstverständlich nicht von der Verpflichtung zur Einhaltung der Anforderungen, die in öffentlich-rechtlichen Vorschriften an diese Anlagen gestellt werden und entzieht diese Anlagen auch nicht dem staatlichen Zugriff nach Maßgabe der bauaufsichtlichen Eingriffsbefugnisse.21

V. Baugenehmigung, Teilgenehmigung, Vorbescheid

1. Die Baugenehmigung

Auf die Baugenehmigung besteht ein Anspruch, wenn dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegen-stehen, die im bauaufsichtlichen Verfahren zu prüfen sind (§ 72 Abs. 1 HBauO). Die Baugenehmigung darf mit Nebenbestim-mungen versehen werden und unter dem Vorbehalt der nach-träglichen Aufnahme, Änderung oder Ergänzung einer Auflage

19 S. zu Einzelheiten auch die Risikokalkulation Bü-Drs. 16/5826, 7 ff. 20 Vgl. §83 Abs. 7, der eine Berichtspflicht des Senates über die Erfahrungen

bei der Durchführung des Gesetzes vorsieht. 21 Die Gesetzesbegründung enthält keine Darlegung zu den bisherigen

Erfahrungen mit der Freistellungsverordnung. Deshalb lassen sich auch die städtebaulichen Risiken des deutlich erweiterten Katalogs verfah-rensfreier Vorheben nicht realistisch abschätzen. Grundsätzlich ist aber gesicherte Einsicht empirischer Verwaltungsforschung, dass fehlende präventive Kontrollen kaum durch repressive Überwachung kompen-siert werden können, und zwar erst recht dann nicht, wenn in Ermange-lung wenigstens einer Bauanzeige keinerlei Kenntnisse bei der zuständi-gen Behörde vorliegen. Eine Anlassüberwachung auf Beschwerde Dritter hin ist unzulänglich, aber auch sonst fragwürdig.

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NordÖR 2/200660

erteilt werden (§ 72 Abs. 3 HBauO). Gemäß § 36 Abs. 1 HmbV-wVfG sind bei Verwaltungsakten, auf die ein Anspruch besteht, nur solche Nebenbestimmungen zulässig, die durch Rechtsvor-schrift zugelassen sind oder die sicherstellen sollen, dass die ge-setzlichen Voraussetzungen der Genehmigung erfüllt werden. Letzteres ist für die Genehmigung nach der HBauO praktisch entscheidend. Es geht nahezu regelmäßig darum, ein bauliches Vorhaben durch Bedingungen und Auflagen erst genehmigungs-fähig zu machen.

Die erste Alternative von § 36 Abs. 1 HmbVwVfG („durch Rechtsvorschrift zugelassen“) wird nunmehr durch den neu nor-mierten Auflagenvorbehalt in § 72 Abs. 3 HBauO in Anspruch genommen. Allerdings ist der Sinn dieser Neuregelung auch unter Berücksichtigung der Gesetzesbegründung nicht klar. In der Begründung heißt es: „Dadurch wird insbesondere der weite und missverständliche Wortlaut des Absatz 3 a.F. dahingehend klargestellt, dass außerhalb eines Widerrufs oder einer Rück-nahme nach dem Hamburgischen Verwaltungsverfahrensgesetz eine spätere Änderung nur möglich ist, wenn sie zu einem kon-kreten Tatbestand bereits in der Baugenehmigung vorbehalten wurde“.22 Diese Ausführungen sind unklar (1), in wichtiger Hin-sicht unzutreffend (2) und sie vermögen die missglückte restrik-tive Neuregelung nicht zu rechtfertigen (3):

(1) Was bedeutet es, dass eine spätere Auflage bereits bei Erlass der Genehmigung „zu einem konkreten Tatbestand … vorbehal-ten wurde“? Wenn zum Zeitpunkt der Genehmigungserteilung z.B. bekannt ist, dass ein für das Baugrundstück im B-Plan festge-setzter immissionswirksamer Schallleistungspegel dann zusätz-liche Schallmaßnahmen zum Schutz benachbarter Wohnbebau-ung erfordert, wenn ein gegenwärtig vorhandenes, den Schall dämmendes Gebäude abgerissen werden sollte, dann lässt sich dieses Problem schon zum Zeitpunkt der Erteilung der Bauge-nehmigung durch eine dem Immissionsschutz rechtliche Anfor-derung genügende, verbindliche Auflage regeln.23 Dafür bedarf es gar keines Auflagenvorbehaltes im Sinne der Neuregelung. Wo liegt also der Anwendungsbereich dieser Neuregelung?

(2) Die Rechtsbehauptung, dass der Inhalt einer Baugeneh-migung nach der Neuregelung nur noch im Wege der Rücknah-me, des Widerrufs oder eines konkreten Auflagenvorbehalts, korrigiert werden könne, trifft nicht zu. Vielmehr können ins-besondere nachträglich auftretende Konflikte um Lärm und Luftverunreinigungen, die aus der Nutzung einer baurechtlich genehmigten Anlage resultieren, jederzeit durch Anordnungen gemäß §§ 24, 25 BImSchG bewältigt werden. Einem Einschrei-ten auf immissionsschutzrechtlicher Grundlage steht – wie das Bundesverwaltungsgericht mehrfach zutreffend entschieden hat – nicht etwa ein baurechtlicher Bestandsschutz entgegen.24

(3) Schließlich ist die Verdrängung des alten Abs. 3 durch die (unklare) Ermächtigung zu einem konkreten Auflagenvorbehalt auch nicht sachgerecht und führt zu erheblichen rechtlichen Un-sicherheiten. § 69 Abs 3 HBauO a.F. war explizit auf die Bekämp-fung „nicht vorausgesehene(r) Gefahren und unzumutbare(r) Belästigungen“ gerichtet. Dieses Ziel ist zweifellos sachgerecht und lässt sich mit dem neuen Auflagenvorbehalt nicht errei-chen. Eine Reihe von Bundesländern hat deshalb Regelungen wie § 69 Abs. 3 HBauO a.F., für die anderen Bundesländer wird in der Literatur der vertretbare Weg eines Einschreitens auf Grund-lage der polizeilichen Generalklausel vorgeschlagen.25 Auch in Hamburg wird zukünftig der zuletzt genannte Weg beschritten werden müssen. Darauf wird bei Erörterung der bauaufsichtli-chen Eingriffsbefugnisse zurückzukommen sein.

2. Teilbaugenehmigung

Bereits vor Erteilung der Baugenehmigung kann eine Ge-stattung für die Ausführung einzelner Bauabschnitte, also eine Teilbaugenehmigung gemäß § 72 Abs. 5 Satz 1 erlangt werden, „wenn eine vorläufige Beurteilung ergibt, dass der Errichtung der gesamten Anlage keine von vornherein unüberwindlichen Hindernisse im Hinblick auf die Genehmigungsvoraussetzungen entgegenstehen“. Mit dieser Voraussetzung eines so genannten vorläufigen positiven Gesamturteils folgt die HBauO nun auch nahezu wortgleich dem entsprechenden § 8 Satz 1 Nr. 3 BIm-SchG. Das gilt auch für die Relativierung der Bindungswirkung des vorläufigen positiven Gesamturteils, die gemäß § 72 Abs. 5 Satz 2 HBauO dann entfällt, „wenn eine Änderung der Sach- oder Rechtslage oder Einzelprüfungen im Rahmen späterer Teilgeneh-migungen zu einer abweichenden Beurteilung führen“ (vgl. § 8 Satz 2 BImSchG).26 Eine Teilgenehmigung setzt allerdings not-wendig auch voraus, dass die Genehmigungsvoraussetzungen für den beantragten Teil der Anlage definitiv vorliegen. Das mag sich von selbst verstehen, weshalb wohl auch der hamburgische Gesetzgeber auf eine explizite Normierung dieser Voraussetzung verzichtet hat.

Bedenkt man den Sinn einer Verfahrensstufung, nämlich die Verzögerung des Vorhabens durch ein längeres Verwaltungsver-fahren mit zwischenzeitlichen partiellen Gestattungen abzumil-dern, so kommt die Teilbaugenehmigung nur im Verfahren mit Konzentrationswirkung, jedoch nicht im vereinfachten Geneh-migungsverfahren in Betracht. Etwas anderes wäre auch mit den engen Fristen im vereinfachten Verfahren nicht vereinbar.27

3. Vorbescheid

Bislang kam dem Vorbescheid eine deutlich eingeschränkte Bindungswirkung zu, aber immerhin auf drei Jahre. Die Bindung fand ihre Grenzen an einer möglichen Veränderungssperre und an planerischen Festsetzungen in einem öffentlich ausgelegten Bebauungsplan, sofern der Vorbescheid den planerischen Aus-weisungen widersprach. Nun wird der Vorbescheid gemäß § 73 Abs. 2 HBauO in seiner Geltungskraft auf ein Jahr begrenzt, aber in diesem Zeitraum nicht mehr durch nachfolgendes Bebau-ungsrecht im o.g. Sinne relativiert.

Fraglich erscheint, in welchen der drei Verfahrensarten ein Vorbescheid verlangt werden kann. Kein Zweifel besteht daran, dass ein Vorbescheid sowohl unnötig erheblichen Aufwand im vereinfachten wie im konzentrierten Verfahren vermeiden hel-fen kann. Hier ist er also sachgerecht. Bei verfahrensfreien Vor-haben, die gerade wegen ihrer geringen Risiken und geringen

22 Bü-Drs. 18/2549, 69. Die Formulierung des Abs. 3 a.F., die der Gesetzge-ber als zu weit bezeichnet, lautete: „Auch nach Erteilung der Genehmi-gung können Anforderungen gestellt werden, um nicht vorausgesehene Verfahren oder unzumutbare Belästigungen von der Allgemeinheit oder den Benutzern der baulichen Anlage abzuwenden“.

23 S. zum Problemfeld BVerwG DVBl. 1998, 598; für Einzelheiten Koch/Hendler (Fn. 3), § 14 Rn. 32 f..

24 BVerwG NJW 1988, 2552; BVerwG DVBl. 1993, 159 (161); s. auch Koch/Hendler (Fn. 3), § 27 Rn. 20 f..

25 S. für Einzelheiten m.w.N. Koch/Hendler (Fn. 3), § 27 Rn. 17 ff. 26 Vgl. die Kommentierungen bei Jarass, BImSchG, 6. Aufl. 2005, § 8 Rn. 8

ff.; Wasielewski, in: Koch/Scheuing/Pache (Hrsg.), GK-BImSchG, Stand: Mai 2005, § 8 Rn. 24 ff.

27 Die Gesetzesbegründung ist insofern allerdings widersprüchlich. Einer-seits heißt es, die Absätze 2 und 5 des § 72 seien „bedeutsame Teilrege-lungen der neuen Konzeption zum Baugenehmigungsverfahren mit Konzentrationswirkung“, andererseits soll aber § 72 „sowohl für Bauge-nehmigungen im vereinfachten Verfahren – ausgenommen Abs. 2 – wie auch für die Baugenehmigung im Verfahren mit Konzentrationswirkun-gen nach § 62“ gelten (Bü-Drs. 18/2549 S. 68). Der Widerspruch ist aus Gründen der Sachgerechtigkeit im o.g. Sinne aufzulösen.

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Schwierigkeiten von jeglicher präventiver Kontrolle freigestellt sind, kommt folgerichtig der bürokratische Aufwand eines Vor-bescheidsverfahrens nicht in Betracht. Ausweislich der Geset-zesbegründung sieht der Gesetzgeber dies anders. Generell heißt es, ein Vorbescheid könne immer dann erteilt werden, „wenn zu einzelnen Fragen eines Bauvorhabens eine amtliche Entschei-dung mit Bindungswirkung verlangt wird“. Dabei sei auch „die missverständliche Formulierung der MBO (‚vor Einreichung des Bauantrags’) nicht übernommen“ worden. Ausdrücklich heißt es dann, dass Veranlassung für einen Vorbescheid auch bestehe, wenn „Grundsatzfragen zur Zulässigkeit eines Vorhabens geklärt werden sollen, ehe man mit der Ausführung des Vorhabens (bei verfahrensfreien Vorhaben)“ beginnt.28

C. Bauordnungsrechtliche Anforderungen

I. Die bauordnungsrechtliche Generalklausel des § 3 HBauO

Die baupolizeiliche Herkunft des Bauordnungsrechts29 kommt deutlich in der bauordnungsrechtlichen Generalklausel zum Ausdruck, die – in Nuancen verschieden – allen Bauordnungen der Bundesländer gemeinsam ist. Anders als das Allgemeine Poli-zeirecht enthält aber das Bauordnungsrecht eine Spezifizierung der Pflichtenlage in Form von zahlreichen Anforderungen an die Bauausführung, die Baustoffe, den Brandschutz, haustechnische Anlagen usw. Daneben spielen technische Regelwerke, insbeson-dere die Normen des deutschen Instituts für Normung (DIN), bei der Bestimmung der Sicherheitsanforderung eine praktisch bedeutsame Rolle30. Bauordnungsrechtliche Grundlage für die „Rezeption“ solcher technischer Regelwerke in das maßgebli-che Recht ist traditionell eine Generalklausel, wie sie sich auch bislang im hamburgischen Recht, nämlich in § 3 Abs. 3 Satz 1 HBauO a.F. gefunden hat: „Die allgemein anerkannten Regeln der Technik sind zu beachten“. Diese Vorschrift ist nunmehr mit ausführlicher und einleuchtender Begründung31 aufgegeben worden und stattdessen durch den neuen § 3 Abs. 1 Satz 1 wie folgt ersetzt worden: „Die von der Bauaufsichtsbehörde durch öffentliche Bekanntmachung als Technische Baubestimmungen eingeführten technischen Regeln sind zu beachten.“32

II. Die bauliche Ausnutzung des Grundstücks

Die bauliche Ausnutzung des Grundstücks wird hinsichtlich der zulässigen Art und des zulässigen Maßes entscheidend vom Bauplanungsrecht (§§ 30 ff.) geprägt. Gleichwohl haben die Bauordnungen traditionell ganz wesentliche Ergänzungsfunk-tionen: Sie haben das Erschließungserfordernis ergänzend zu konkretisieren (§ 4 HBauO), die Frage der Zugänge und Zufahr-ten auf den Grundstücken zu regeln (§ 5 HBauO), aus Gründen des vorsorgenden Brandschutzes, der hinreichenden Belich-tung und Belüftung Abstandsflächen zwischen den Gebäuden vorzusehen (§ 6 HBauO), die Herrichtung nicht überbaubarer Flächen zu regeln und manches andere. Nachfolgend können nur zwei Schwerpunkte gesetzt werden: Zunächst geht es um die Abstandsflächen (a) und sodann um die Herrichtung nicht über-bauter Flächen (b).

1. Abstandsflächen

Die erforderliche Tiefe der Abstandsflächen wird mit der neu-en HBauO deutlich abgesenkt. Für die Bemessung der Tiefe einer Abstandsfläche ist nach wie vor die Höhe der jeweiligen Außen-wand zuzüglich eines sich aus der Dachneigung ergebenden Zu-schlags für die Dachhöhe maßgeblich. Die Höhe von Dächern mit einer Neigung von weniger als 70 Grad wird zu einem Drittel der Wandhöhe hinzugerechnet; bei noch steilerer Neigung des

Daches wird die Höhe voll hinzugerechnet (§ 6 Abs. 4 HBauO). Nach der Regelung in § 6 Abs. 6 HBauO a.F. war bei einer Dach-neigung von 45 Grad bis 60 Grad die halbe Dachhöhe, bei einer Neigung über 60 Grad die ganze Dachhöhe in Ansatz zu bringen. Die neue Bestimmung der Maßeinheit H aus Wandhöhe und An-rechnung der Dachhöhe bringt deshalb bereits eine Reduktion der Abstandsflächen mit sich, weil die relevante Höhe H eines Hauses niedriger bemessen wird als nach bisherigem Recht.

Die Regelung über die gebotene Tiefe der Abstandsflächen ist in der neuen HBauO gegenüber der alten Fassung wesentlich vereinfacht worden. Allerdings sind auch die gebotenen Ab-standsflächen deutlich reduziert worden. Nach § 6 Abs. 5 muss die Tiefe der Abstandsflächen 0,4 H, mindestens jedoch 2,5 m betragen; in Gewerbe- und Industriegebieten genügt eine Tiefe von 0,2 H, mindestens jedoch 2,5 m. Nach § 6 Abs. 9 HBauO a.F. mussten die Abstandsflächen grundsätzlich 1 H, jedoch mindes-tens 6 m betragen. Das galt u.a. für den Geschosswohnungsbau und insofern ist nunmehr mit einer deutlichen Reduktion der auch für Belichtung und Belüftung erforderlichen Abstandsflä-chen zu rechnen. Auf einen detaillierteren Vergleich muss hier verzichtet werden. Insgesamt ist zweifelsfrei eine klare Redukti-on der Abstandsflächen erklärtes Ziel der Neuregelung, um „zu-sätzliche Bebauungsmöglichkeiten zu schaffen“.33

Bei Divergenzen zwischen Planungs- und Ordnungsrecht hinsichtlich der Abstandsflächen haben nach § 6 Abs. 8 HBauO zwingende Festsetzungen eines Bebauungsplans in Form von Baulinien und Baugrenzen im Sinne von § 23 BauNVO Vorrang. Dem entspricht auch der bereits zitierte § 6 Abs. 1 Satz 2 HBauO, demzufolge Abstandsflächen nicht erforderlich sind vor Außen-wänden, die an Grundstücksgrenzen errichtet werden, wenn nach planungsrechtlichen oder bauordnungsrechtlichen Vor-schriften an die Grenze gebaut werden muss oder gebaut werden darf. Eine scheinbare Relativierung des Vorranges des Planungs-rechts enthält § 7 Abs. 2 HBauO mit Rücksicht auf die jeweilige reale bauliche Situation: Eine vorhandene Grenzbebauung auf dem Nachbargrundstück bzw. ein dort gewahrter Grenzabstand haben zur Folge, dass eine vom Plan abweichende Bebauung auf der Grenze bzw. mit Grenzabstand auf dem Baugrundstück zu-gelassen oder verlangt werden kann. Allerdings setzt dies stets voraus, dass eine bebauungsrechtliche Befreiung gemäß § 31 Abs. 2 BauGB erteilt werden kann.34

2. Die Herrichtung nicht überbauter Flächen

Unter stadtökologischen Gesichtspunkten kommt der Her-richtung der nicht überbauten Grundstücksflächen eine erheb-liche Bedeutung zu. Im Zuge der vorsichtigen Ökologisierung auch des Bauordnungsrechts hatte § 9 HBauO a.F. insofern eine recht detaillierte Regelung erhalten. Zur Erinnerung kurz der Text: „Die nicht überbauten Flächen bebauter Grundstücke sowie unbebaute Grundstücke in Baugebieten sind nach den Grundsätzen des Naturschutzes und der Landschaftspflege zu

28 Bü-Drs. 18/2549, 64. 29 Vgl. das Rechtsgutachten BVerfGE 3, 407 (430 ff.). 30 S. dazu etwa Rath/Brenndle, Die Zukunft der Normung im Bauwesen

– Analyse und Reformvorschläge, BauR 1997, 575, sowie Püge/Tünnesen-Harms, Braucht die Baustoffindustrie (zertifizierte) Qualitätssicherungs-systeme?, BauR 1997, 250.

31 S. Bü-Drs. 18/2549, 41.32 Zur seit langem an der alten Regelung geübten Kritik s. Koch/Hendler

(Fn. 3), § 25 Rn. 10 ff.33 S. näher Bü-Drs. 18/2549, 34 und 42.34 Insofern liegt keine wirkliche Derogation des Planungsrechts vor. Im

Übrigen sind mehrere der in den Normen angesprochenen Varianten überflüssig. Zum Verhältnis von bauordnungs- und bauplanungsrecht-lichen Abstandsregelungen s. auch BVerwG NVwZ 1994, 1008.

Hans-Joachim Koch Forum

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bepflanzen und zu unterhalten; hierbei kann verlangt werden, dass auf diesen Flächen auch Bäume und Sträucher angepflanzt werden.“ Demgegenüber heißt es nunmehr in der HBauO 2006 sehr lapidar: „Die nicht mit Gebäuden oder vergleichbaren bau-lichen Anlagen überbauten Flächen der bebauten Grundstücke sind

1. wasserdurchlässig zu belassen oder herzustellen und

2. durch Begrünung und Bepflanzung gärtnerisch zu gestalten, soweit dem nicht die Erfordernisse einer anderen zulässigen Verwendung der Fläche entgegenstehen.“

Auf dieser Grundlage dürfte es den zuständigen Behörden schwer fallen, angemessene Bepflanzungen durchzusetzen, z.B. die Anpflanzung eher kostspieliger Bäume zu gebieten. Die frü-here Regelung war durch die Aufzählung möglicher Rechtsfol-gen deutlich vollzugsfreundlicher.

§ 9 Abs. 2 des Entwurfs zur HBauO 2006 sah vor, dass Garagen in bestimmten Gebieten nicht in Vorgärten errichtet werden dürfen. Von dieser Regelung wurde aber im parlamentarischen Verfahren aus kompetenzrechtlichen Gründen Abstand genom-men: Der Landesgesetzgeber darf – auch wenn primär gestalte-rische Zwecke verfolgt werden – nicht die Grundstücksnutzung regeln, soweit § 9 Abs. 1 BauGB i.V.m. der BauNVO entsprechen-de Festsetzungen ermöglichen.35

III. Bauliche Gestaltung

Nach § 12 Abs. 1 S. 1 HBauO müssen bauliche Anlagen „nach Form, Maßstab, Verhältnis der Baumassen und Bauteile zuein-ander, Werkstoff und Farbe so gestaltet sein, daß sie nicht ver-unstaltend wirken“. Abs. 1 S. 2 verlangt, dass Straßen-, Orts- und Landschaftsbild nicht verunstaltet werden. Abs. 2 eröffnet die Möglichkeit, an umgebungsprägende Bauten besondere Anfor-derungen zu stellen. Spezifische Anforderungen an Dachein-schnitte und Dachaufbauten (§ 12 Abs. 4 HBauO a.F.) sowie an die Art und Weise des Anbaus an vorhandene Gebäude (§ 12 Abs. 5 HBauO a.F.) sind entfallen. Gestrichen ist auch die Rege-lung des § 12 Abs. 2 Satz 2 HBauO a.F., derzufolge auf Kultur- und Naturdenkmale und auf andere erhaltenswerte Eigenarten der Umgebung Rücksicht zu nehmen war. Die Gesetzesbegründung weist insoweit auf das Denkmalschutz- und das Naturschutz-recht hin. In der Tat sehen § 9 HDenkSchG sowie § 19 Abs. 3 HNatSchG vor, dass die für das Denkmal maßgebliche Umge-bung in das Schutzregime einbezogen werden kann. Gleichwohl hätte eine in die gleiche Richtung zielende bauordnungsrechtli-che Verpflichtung ihre eigene (Auffang-) Funktion.

IV. Bauprodukte und Bauarten

Durch das Gesetz zur Änderung der Hamburgischen Bauord-nung und anderer Gesetze vom 20.7.199436 wurden die §§ 20-23 HBauO 1986 über neue Baustoffe, Bauteile und Bauarten durch den neuen Teil 5 über „Bauprodukte und Bauarten“, ersetzt. Mit dieser Gesetzesänderung sollte den supranationalen Anforde-rungen des freien Warenverkehrs genügt werden und gleichzei-tig die Sicherheit im Bauwesen bei der Verwendung und Einfüh-rung von Bauprodukten und Bauarten gewahrt bleiben.37 Diese Vorschriften sind unverändert in die neue HBauO 2006 über-nommen worden.

V. Notwendige Ausstattung baulicher Anlagen

Zahlreiche Normen der HBauO sollen eine funktionsgerechte Nutzung der baulichen Anlagen gewährleisten. Sie normieren deshalb – abhängig von der Art der Nutzung – Anforderungen

an die Ausstattung der Gebäude und Grundstücke. Dazu kann hier nur ein knapper Überblick gegeben werden:

• Nach § 45 Abs. 4 HBauO sind Einrichtungen zur Messung des Wasserverbrauchs vorgeschrieben, und zwar auch für Alt-bauten. Letzteres ergibt sich daraus, dass gemäß § 83 Abs. 3 HBauO die Vorschriften des § 39 Abs. 3 Sätze 2 und 3 HBauO a.F. fortgelten. Danach sind die Eigentümer bestehender Ge-bäude grundsätzlich verpflichtet, bis zum 1.9.2004 (!) jede Wohnung mit Wasserzählern auszurüsten.

• Durch § 44 Abs. 1 HBauO wird für Aufenthaltsräume grund-sätzlich eine lichte Höhe von nur noch mindestens 2,4 m vor-gegeben, die in Wohngebäuden der Gebäudeklassen 2 und 3 bis auf 2,3 m abgesenkt werden darf.

• In § 52 HBauO sind nunmehr die Anforderungen an barrie-refreies Bauen gebündelt und fortentwickelt worden: Abs. 1 verpflichtet beim Wohnungsbau zu einer Mindestzahl an Wohnungen, die für Rollstuhlfahrer geeignet sind. Abs. 2 ver-pflichtet dazu, öffentlich zugängliche bauliche Anlagen wie Einrichtungen des Bildungs- und Gesundheitswesens, Sport-anlagen, Verwaltungsgebäude, Beherbergungsbetriebe u.ä. so zu gestalten, dass sie von Menschen mit Behinderungen, von alten Menschen und von Personen mit Kleinkindern barriere-frei erreicht werden können.

VI. Abweichungen

Von dem Grundsatz, dass ein Vorhaben nur genehmigungsfä-hig ist, wenn es nicht in Widerspruch zu öffentlich-rechtlichen Normen steht, gewährten bislang – in langer Tradition des Bau-ordnungsrechts – die §§ 66, 67 HBauO die Möglichkeiten von Ausnahmen und Befreiungen. Diese unterschieden sich – wie dies unverändert im geltenden Bauplanungsrecht (§ 31 BauGB) der Fall ist – voneinander darin, dass die Ausnahme solche Ab-weichungen von Regelanforderungen gestattet, die ausdrücklich und ihrem Inhalt nach in der jeweiligen Rechtsnorm genannt sind, während die Befreiung eine Abweichung von Normen ge-währt, die unter keinem Ausnahmevorbehalt stehen. Insofern ist die Befreiung für nicht vorhersehbare Abweichungen zu re-servieren und steht traditionell unter strengen Anforderungen (zwingende Gründe des Allgemeinwohls, unzumutbare Härte im Einzelfall, Sicherstellung der Gesetzeskonformität ohne Be-einträchtigung des Allgemeinwohls).

Mit dieser baurechtlichen Tradition bricht die HBauO 2006 radikal, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen gibt es nur noch ein Instrument der Abweichung von bauordnungsrechtli-chen Anforderungen der HBauO, nämlich die „Abweichungen“ gemäß § 69. Zum zweiten handelt es sich bei einer „Abweichung“ im neuen Verständnis um eine Befreiung unter deutlich erleich-terten Voraussetzungen.38 Ausnahmevorschriften, die in der Re-gel eine bestimmte Rechtsfolge in das Ermessen der Behörde stel-len – wie dies etwa in den Baugebietsvorschriften der BauNVO zahlreich geschieht – kennt die neue HBauO (anscheinend) nicht mehr. Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 HBauO kann von

35 Vgl. BVerwG v. 31.5.2005, BBauBl. 2005, 49 bzgl. einer Gestaltungssat-zung, die Garagen in Vorgärten verbieten sollte.

36 GVBl., 221.37 I. Alexejew/E. Haase/P. Großmann/E. Möhl, Hamburgisches Bauordnungs-

recht, Bd. I, Einf. v. §§ 20 – 23 HBauO, Rn. 2. Auf S. 4 der Einführung findet sich eine zeichnerische Übersicht über die Anforderungen der Bauprodukterichtlinie und die Verwendbarkeit von Bauprodukten nach §§ 20 – 23 HBauO.

38 S. auch die Erläuterungen in Bü-Drs. 18/2549, 66.

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den strikten Anforderungen der HBauO dann abgewichen wer-den, wenn der Zweck der jeweiligen Vorschrift auch auf andere Weise erreicht werden kann und dies mit sonstigen öffentlichen und mit nachbarlichen Belangen vereinbar ist. Das entspricht im Wesentlichen dem bisherigen Befreiungstatbestand des § 67 Nr. 3 HBauO a.F. Außerdem kann gemäß § 69 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 eine Abweichung zugelassen werden, wenn Gründe des Wohls der Allgemeinheit dies erfordern. Dies entspricht dem bisheri-gen § 67 Nr. 1 HBauO a.F.. Den bisherigen Befreiungstatbestand der besonderen Härte im Einzelfall gibt es nicht mehr. Dies ist angesichts der Generalisierung der Idee des „Ersatzmittels“ auch nicht mehr erforderlich.

D. Änderungen bei den Bauaufsichtlichen Maßnahmen

I. Der (passive) Bestandsschutz für rechtmäßige bauliche Anlagen

Genehmigte bauliche Anlagen bleiben vom Zeitpunkt der Wirksamkeit der Genehmigung (§ 43 HmbVwVfG) an auch dann rechtmäßig, wenn das maßgebliche Recht geändert wird und die Anlage gegen dieses Recht verstößt. Diese Legalisie-rungswirkung der Genehmigung kann nur auf Grund ausdrück-licher Ermächtigung beseitigt werden. Dafür enthält die HBauO Anpassungsvorschriften (1.). Auch bei unveränderter Rechtslage kann eine effektive Gefahrenabwehr erfordern, gegen eine ge-nehmigte bauliche Anlage vorzugehen. Dies ist neuerdings nicht mehr in der HBauO geregelt, aber auf anderen Rechtsgrundlagen möglich. (2.).

1. Die Anpassung bestehender Anlagen an neues Recht

Die Anpassung baulicher Anlagen an neues Recht wird nun-mehr – systematisch konsequent – in § 76 Abs. 3 normiert. Nach § 76 Abs. 3 Satz 1 HBauO kann die Bauaufsichtsbehörde verlan-gen, „dass bestehende bauliche Anlagen den Anforderungen dieses Gesetzes oder den auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Vorschriften angepasst werden, soweit dies wegen einer Ge-fährdung der Sicherheit oder Gesundheit notwendig ist“. Zu-lässig ist die Anpassungsanforderung nur, wenn Sicherheit oder Gesundheit konkret gefährdet sind.39 Nimmt man hinzu, dass besonderen Sachgestaltungen durch die Ermessensgewährung Rechnung getragen werden kann, so stellt die Norm gewiss eine verfassungsmäßige Eigentumsinhaltsbestimmung dar (Art. 14 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 GG).

Nach § 76 Abs. 3 Satz 2 kann auch die Herstellung von wich-tigen Ausstattungselementen der Wohngebäude gefordert wer-den; dazu gehören Kinderspielplätze, Standplätze für Abfall- und Wertstoffbehälter sowie Stellplätze für Kraftfahrzeuge und Fahrräder. Diese Forderung kann natürlich nur gestellt werden, wenn geeignete Flächen verfügbar sind.

Gemäß § 76 Abs. 3 Satz 3 kann bei wesentlichen Änderungen baulicher Anlagen gefordert werden, „dass auch die von der Än-derung nicht berührten Teile der baulichen Anlage an die An-forderungen dieses Gesetzes oder der aufgrund dieses Gesetzes erlassenen Vorschriften angepasst werden, wenn dies keine un-zumutbaren Kosten verursacht“.

2. Anpassung baulicher Anlagen an neue Erkenntnisse und neue Entwicklungen

Aus neuen Entwicklungen und neuen Erkenntnissen kann sich ergeben, dass von einer durchaus rechtmäßig errichteten baulichen Anlage Gefahren ausgehen. So ist es etwa geschehen, als man einerseits die krebserregende Wirkung von Asbeststaub

erkannte und andererseits feststellen musste, dass sich in einem erheblichen Teil von Nachtspeicherheizungen Asbeststäube im Luftstrom befanden. Für solche Situationen enthielt § 69 Abs. 3 HBauO a.F. eine eigenständige Relativierung der Bestandskraft der Baugenehmigung. Danach konnten nämlich auch nach Er-teilung der Genehmigung „Anforderungen gestellt werden, um nicht vorausgesehene Gefahren oder unzumutbare Belästigun-gen von der Allgemeinheit oder den Benutzern der baulichen Anlage abzuwenden“. Damit konnte die Verwaltung neuen Er-kenntnissen und Entwicklungen Rechnung tragen, ohne auf den mit einer Entschädigung verbundenen Weg des Widerrufs gemäß § 49 Abs. 2 Nr. 3 HmbVwVfG rekurrieren zu müssen. Auch ein Rückgriff auf die polizeiliche Generalklausel von § 3 Abs. 1 HSOG war nicht notwendig40. Nachdem nunmehr der hamburgische Gesetzgeber § 69 Abs. 3 HBauO a.F. ohne nähere Begründung als zu weitgehende Einschränkung der Bestands-kraft der Baugenehmigung gestrichen hat, wird wiederum auf die polizeiliche Generalklausel zuzugreifen sein. Im Übrigen ist dabei allerdings zu bedenken, dass im Falle von neu aufgetrete-nen Immissionskonflikten das Bundesimmissionsschutzrecht ohnehin jederzeit Ermächtigungsgrundlagen bietet – um auch genehmigte und damit legalisierte bauliche Anlagen verträg-lich in die Umgebung einzupassen. Insoweit bieten nämlich die §§ 24, 25 BImSchG ein jederzeitiges Recht nachträgliche Anord-nungen zu erlassen41.

E. Drittschützende Normen der HBauO

§ 71 HBauO enthält eine ausdrückliche Regelung der nachbar-lichen Belange. Allerdings beschränkt sich der Kreis der nach-barschützenden Vorschriften – entsprechend der hamburgi-schen Tradition – nur auf wenige Belange. Zum einen normiert § 71 Abs. 2 HBauO ein Zustimmungserfordernis zugunsten der Eigentümer und Erbbauberechtigten angrenzender oder be-troffener Grundstücke (= Nachbarn) in den Fällen, in denen die Mindesttiefe der Abstandsflächen (2,50 m) oder der Mindestab-stand für Standplätze von Abfallbehältern zu Öffnungen von Aufenthaltsräumen (5 m) unterschritten werden sollen. Zum anderen sind die Nachbarn im Baugenehmigungsverfahren zu beteiligen, wenn von den Festsetzungen eines B-Plans Befreiung erteilt oder von Anforderungen der HBauO eine Abweichung ge-währt werden sollen.

39 OVG Bs II 61/95, Beschl. v. 4.1.1996, HJVBl. 1996, 51. Zur Voraussetzung der konkreten Gefahr vgl. V. Manow, Bestandsschutz im Baurecht, 1993, 111 ff.

40 S. zur Rechtslage vor Einführung des § 69 Abs. 3 HBauO a.F. den Rekurs auf die polizeiliche Generalklausel in OVG Hamburg Bf II 1/80, Urt. V. 23.2.1984, UA 10 f.; s. dazu auch oben B.V.1bei Fn. 24.

41 S. H.-J. Koch, in: GK-BImSchG (Fn. 26), § 24, Rn. 12, 28 f., § 25 Rn. 41; BVerwGE 98, 235 (247); BVerwG DVBl. 1988, 541; s. für weitere Hinweise Koch/Hendler (Fn. 3), § 27 Rn. 17 ff.

Hans-Joachim Koch Forum

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Bundesverwaltungsgericht

Neue Entscheidungen zum großflächigen Einzel-handel

Das BVerwG war in mehreren Verfahren mit der Frage befasst, unter welchen Voraussetzungen die Merkmale eines großflächi-gen Einzelhandelsbetriebes zu bejahen sind. Im ersten Verfahren war insbesondere zu klären, ab welcher Größenordnung ein Ein-zelhandelsbetrieb als großflächig anzusehen ist. In Fortführung der bisherigen Rechtsprechung ist das Gericht zu dem Ergebnis gelangt, dass ein Einzelhandelsbetrieb als großflächig einzuord-nen ist, wenn er eine Verkaufsfläche von 800 m² überschreitet. Ist dies der Fall, ist das Vorhaben grundsätzlich nur in Kern- und Sondergebieten zulässig.

In die Verkaufsfläche einzubeziehen sind alle Flächen, die vom Kunden betreten werden können oder die er – wie bei einer Fleischtheke mit Bedienung durch Geschäftspersonal – einse-hen, aber aus hygienischen und anderen Gründen nicht betre-ten darf. Dabei kommt es nicht auf den Standort der Kassen an, so dass auch der Bereich, in den die Kunden nach der Bezahlung der Waren gelangen, einzubeziehen ist. Nicht zur Verkaufsfläche gehören dagegen die reinen Lagerflächen und abgetrennte Be-reiche, in denen beispielsweise die Waren zubereitet und porti-oniert werden.

In mehreren weiteren Verfahren war zu klären, unter welchen Voraussetzungen Flächen im selben Gebäude, auf denen unter-schiedliche Waren verkauft werden, als Teile eines einheitlichen Einzelhandelsbetriebs anzusehen und damit bei der Berechnung der „Großflächigkeit“ zu berücksichtigen sind. Dabei ging es in zwei Verfahren um die Einbeziehung eines – bautechnisch und in den Betriebsabläufen jeweils eigenständigen – Backshops und eines Zeitschriftengeschäfts in ein Lebensmittelgeschäft. Das Oberverwaltungsgericht Brandenburg hat beide Ladengeschäfte bei der Ermittlung der Verkaufsfläche einbezogen und auf die-se Weise eine maßgebende Fläche von mehr als 800 qm errech-net. Dem ist das BVerwG gefolgt. In einem weiteren Verfahren wurde um die Zusammenrechnung eines Getränkefachhandels mit einem Lebensmitteldiscounter gestritten. In diesem Fall hat die Vorinstanz (Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen) eine Addition der Flächen als unzulässig angesehen. Das hat das BVerwG bestätigt.

BVerwG, Urteile vom 24. November 2005 – 4 C 10.04, 4 C 14.04, 4 C 3.05 und 4 C 8.05

Mindestgebühr für „Restmülltonne“ einer Verkaufs-filiale für Backwaren

Die Klägerin betreibt in Schifferstadt eine Verkaufsfiliale für Backwaren, die sie in Ludwigshafen produziert. In der Filiale an-fallende Abfälle werden dort vorsortiert, wobei ein so genannter Restabfallsack mit Kehricht, Putzutensilien, Pausenresten der Verkäuferinnen, fettbeschmutztem Backpapier sowie von Kun-den zurückgelassenen Abfällen befüllt wird. Sämtliche Abfälle werden täglich zur Produktionsstelle in Ludwigshafen verbracht und dort von einer Entsorgungsfirma mit Sitz in Mannheim

übernommen. Die seitens des beklagten Landkreises seit 1998 der Filiale in Schifferstadt zur Verfügung gestellte Restmülltonne wird von der Klägerin nicht genutzt. Eine Klage gegen die für die Restmülltonne erhobene Abfallbeseitigungsgebühr blieb in zwei Instanzen erfolglos. Mit ihrer Revision macht die Klägerin gel-tend, ohne eine tatsächliche Inanspruchnahme der Restmüll-tonne könne sie nicht zu einer Abfallbeseitigungsgebühr heran-gezogen werden, die außerdem den im Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz sowie im Gemeinschaftsrecht vorgesehenen Vor-rang der Abfallverwertung vor der Abfallbeseitigung missachte.

Das BVerwG ist dieser Auffassung nicht gefolgt und hat die Revision der Klägerin zurückgewiesen. Die Vorinstanzen seien zutreffend davon ausgegangen, dass mit dem Restabfallsack Ab-fall zur Beseitigung anfalle, den die Klägerin dem kommunalen Entsorgungsträger zu überlassen habe. Wenn die Klägerin diesen Abfall unter Verstoß gegen ihre Überlassungspflicht einem pri-vaten Entsorgungsunternehmen übergebe, hindere dies nicht die Erhebung einer Mindestgebühr, deren Höhe sich am durch-schnittlichen Abfallvolumen eines Kleinsthaushalts und an den anteiligen Kosten für die Bereitstellung der Restmülltonne, das regelmäßige Anfahren des Grundstücks durch ein Fahrzeug der Müllabfuhr und das Vorhalten der übrigen Abfallentsorgungs-einrichtung orientiere. Weder das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz noch das Gemeinschaftsrecht sähen vor, dass im Bereich der hausmüllähnlichen Gewerbeabfälle eine vollstän-dige Privatisierung der Abfallwirtschaft zu erfolgen habe. Der mit dem Vorrang der Abfallverwertung angestrebte Wirtschafts-kreislauf schließe eine verursachernahe Entsorgungszuständig-keit öffentlich-rechtlicher Entsorgungsträger nicht aus, wenn anderenfalls Abfall aus dem Gewerbebetrieb verbracht werde, ohne dass der Weg zu seiner Verwertung sichergestellt sei. Für die Überlassungspflicht handele es sich dann um Abfall zur Be-seitigung.

BVerwG, Urteil vom 1. Dezember 2005 – 10 C 4.04

Reiseausweis trotz bloß geduldeten Aufenthalts

Das BVerwG hat entschieden, dass die Ausländerbehörde einem anerkannten Flüchtling einen Reiseausweis nach der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) auch ausstellen kann, wenn sein Aufenthalt in Deutschland nach bestandskräftiger Ausweisung nur geduldet wird.

Der Kläger, ein türkischer Staatsangehöriger, hält sich seit sei-ner Einreise im Jahre 1996 in Deutschland auf. 1997 wurde er als Flüchtling im Sinne der GFK anerkannt. 1999 wurde er ausge-wiesen, weil er als “Spendeneintreiber“ für die PKK u.a. wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt worden war. Die Klage gegen die Ausweisung nahm der Kläger im Jahr 2000 nach Abschluss eines Vergleichs zurück. Seitdem wird der Aufenthalt des Klägers geduldet. Der Vergleich sieht vor, dass dem Kläger bei straffreier Führung ab Juli 2007 eine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird.

Im Jahr 2001 beantragte der Kläger die Erteilung eines Reise-ausweises nach der GFK. Die beklagte Stadt lehnte den Antrag ab. Das vom Kläger angerufene Verwaltungsgericht verpflichtete die Beklagte zur erneuten Ermessensentscheidung über den An-trag (nach Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK). Der Verwaltungsgerichts-hof Mannheim hat die Klage dagegen abgewiesen. Nach seiner Auffassung darf ein Reiseausweis an ausgewiesene Ausländer nicht erteilt werden. Dem stehe die gesetzlich vorgesehene sog. „Sperrwirkung“ der Ausweisung (§ 11 Abs. 1 Aufenthaltsgesetz)

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entgegen, d.h. das Verbot für ausgewiesene Ausländer, nach der Ausreise oder Abschiebung wieder nach Deutschland einzurei-sen.

Das BVerwG hat die Sache an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen. Das allgemeine Verbot der Wiedereinreise für ausgewiesene Ausländer schließe die Ausstellung eines Reiseaus-weises an einen ausgewiesenen und in Deutschland nur noch geduldeten Konventionsflüchtling nicht aus. Das ergebe sich aus der Sonderregelung in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GFK, die auch gedul-deten Flüchtlingen Reisen außerhalb des Aufenthaltsstaats nach dem Ermessen der Ausländerbehörde ermöglichen will. Ein Rei-seausweis darf allerdings nicht erteilt werden, wenn zwingende Gründe der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung entgegenste-hen. Das hat der Verwaltungsgerichtshof bisher nicht geprüft. Deshalb muss das Verfahren zurückverwiesen werden. Der Ver-waltungsgerichtshof wird nunmehr zunächst prüfen müssen, ob dem Kläger auch unter Berücksichtigung der von ihm began-genen Straftat und seiner früheren Einbindung in die PKK ohne Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung Reisen ins Ausland gestattet werden können. Erst dann wird die Beklag-te ihr Ermessen unter Abwägung der öffentlichen und privaten Belange neu auszuüben haben. Dabei kann sie auch den inzwi-schen ausgesprochenen, aber vom Kläger angefochtenen Wider-ruf der Flüchtlingsanerkennung berücksichtigen.

BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2005 – 1 C 36.04

Aufenthaltserlaubnis bei Abschiebungsverbot

Das BVerwG hat erstmals darüber entschieden, unter welchen Voraussetzungen eine Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach dem neuen Aufenthaltsgesetz (§ 25 AufenthG) für einen abgelehnten Asylbewerber in Betracht kommt, der sich auf ein Abschiebungsverbot wegen Krankheit beruft.

Der Kläger, ein 1992 aus dem Kosovo nach Deutschland ein-gereister und später abgelehnter Asylbewerber, beantragte An-fang 2002 eine Aufenthaltsbefugnis nach dem inzwischen außer Kraft getretenen Ausländergesetz (§ 30 Abs. 3 und 4 AuslG). Zur Begründung berief er sich auf eine Erkrankung, die im Kosovo nicht wie erforderlich durch einen Facharzt für Neurologie be-handelt werden könne. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (jetzt Bundesamt für Migration und Flüchtlinge) hatte deswegen im Jahr 2001 ein Abschiebungshin-dernis (nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG, jetzt Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) festgestellt. Der Kläger erhielt daraufhin fortlaufend Duldungen. Im April 2002 lehnte die Aus-länderbehörde den Antrag ab, weil die Krankheit inzwischen im Kosovo behandelt werden könne und auch die benötigten Medikamente dort erhältlich seien. Außerdem unterrichtete sie das Bundesamt, das Mitte 2003 ein Verfahren zum Widerruf der Feststellung des Abschiebungshindernisses einleitete. Die Klage hatte vor dem Verwaltungsgerichtshof Mannheim Erfolg. Das Gericht verpflichtete die Ausländerbehörde, den Antrag des Klä-gers neu zu bescheiden.

Auf die Revision der beklagten Stadt hat das BVerwG das Beru-fungsurteil aufgehoben und die Sache zur weiteren Tatsachen-feststellung an den Verwaltungsgerichtshof zurückverwiesen. Es hat zunächst klargestellt, dass nach neuem Recht unter erleich-terten Voraussetzungen die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (hier: aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 3 AufenthG) in Betracht kommt. Eine Aufenthaltsbefugnis sieht das neue Auf-enthaltsgesetz nicht mehr vor. Eine solche Aufenthaltserlaubnis soll nunmehr zur Vermeidung von sog. Ketten-Duldungen regel-

mäßig erteilt werden, wenn und solange – wie hier im Falle des Klägers – ein vom Bundesamt förmlich festgestelltes Abschie-bungsverbot fortbesteht und kein gesetzlicher Ausschlussgrund vorliegt. Dabei sind die Ausländerbehörden grundsätzlich an die Gewährung von Abschiebungsschutz (nach § 60 Abs. 2 bis 7 Auf-enthG) und an die Beurteilung des Bundesamts gebunden. Die betroffenen Ausländer, deren Abschiebung danach auf absehba-re Zeit nicht möglich ist, sollen einen legalen Aufenthaltsstatus und damit zugleich die Chance eines Hineinwachsens in eine dauerhafte Aufenthaltsposition erhalten. Nur wenn ein atypi-scher Fall vorliegt, steht die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis im Ermessen der Ausländerbehörde. Ein derartiger Ausnahme-fall ist anzunehmen, wenn das Bundesamt – wie bei dem Kläger – wegen einer Änderung der Verhältnisse im Abschiebezielstaat ein Widerrufsverfahren eingeleitet hat. Dann hat die Auslän-derbehörde über eine Verfestigung des Aufenthalts aus huma-nitären Gründen unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und namentlich der Prognose, ob ein Widerruf des Abschiebungsverbots zu erwarten ist, zu entscheiden.

Ob danach alle Voraussetzungen für die Erteilung einer Auf-enthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG vorliegen, ist zu-nächst vom Verwaltungsgerichtshof Mannheim zu prüfen.

BVerwG, Urteil vom 22. November 2005 – 1 C 18.04

Hamburg

Erklärung zum Schutz vor Scientologen darf nicht an Unternehmen weitergegeben werden

Das BVerwG hat entschieden, dass die Freie und Hansestadt Hamburg nicht befugt ist, Dritten zur Verwendung im Ge-schäftsverkehr vorformulierte Erklärungen zu überlassen, die den Geschäftspartner des Dritten zur Auskunft über seine Bezie-hungen zur Scientology veranlassen sollen.

Die Klägerin ist Mitglied der Scientology-Kirche Deutschland. Sie betreibt ein Wickelstudio, in dem sie unter anderem Vita-minpräparate anbot, die sie von einem Unternehmen in Schles-wig-Holstein bezog. Dieses Unternehmen forderte die Klägerin auf, eine vorformulierte Erklärung des Inhalts zu unterzeichnen, dass sie – die Klägerin – nicht nach der Technologie von L. Ron Hubbard (dem Begründer der Scientology) arbeite, in dieser Technologie nicht geschult werde, keine Kurse und/oder Semi-nare nach dieser Technologie besuche und die Technologie von L. Ron Hubbard zur Führung ihres Unternehmens ablehne. Die Beklagte, die Freie und Hansestadt Hamburg, stellt diese vorfor-mulierte Erklärung im Rahmen ihrer Beratung über angenom-mene Gefahren der Scientology-Bewegung allen Interessierten namentlich für eine Verwendung als Schutzerklärung gegenüber Geschäftspartnern zur Verfügung. Die Klägerin unterzeichnete die Erklärung nicht; das Unternehmen brach darauf hin seine Geschäftsbeziehungen zu ihr ab. Auf ihre Klage hat das Ober-verwaltungsgericht die Beklagte verurteilt, es zu unterlassen, diese Erklärung Firmen oder Personen zur Verfügung zu stellen, die eine geschäftsschädigende Beeinträchtigung ihres Rufes be-fürchten, wenn ihre Waren von Scientologen vertrieben werden; es sah hierin einem Eingriff in die Glaubens- und Weltanschau-ungsfreiheit der Klägerin.

Das BVerwG hat die Revision der Beklagten zurückgewiesen: Die Herausgabe der „Schutzerklärung“ an einzelne Interessen-ten könne nicht auf die Aufgabe der Staatsleitung und die aus ihr abgeleitete Ermächtigung zur Information und Warnung der Öffentlichkeit gestützt werden. Die Beklagte begnüge sich

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nicht damit, die Öffentlichkeit allgemein vor Gefahren zu war-nen, die von einer Betätigung der Scientology-Bewegung im wirtschaftlichen Bereich drohen sollen. Sie sei vielmehr dazu übergegangen, die von ihr allgemein angenommenen Gefahren im konkreten Einzelfall zu bekämpfen, indem mit ihrer Hilfe die Geschäftsbeziehungen eines einzelnen Wirtschaftsunterneh-mens durch Verwendung der Schutzerklärung von Kontakten mit Scientologen freigehalten werden. Für einen solchen, der Be-hörde zuzurechnenden Eingriff in die Freiheit des Glaubens oder weltanschaulichen Bekenntnisses fehle es an der erforderlichen gesetzlichen Grundlage.

BVerwG, Urteil vom 15. Dezember 2005 – 7 C 20.04

PersonaliaBundesverwaltungsgerichtHorst Sendler gestorben

Am 13. Januar 2006 ist der langjährige Präsident des Bundesver-waltungsgerichts, Prof. Dr. Horst Sendler, im Alter von 80 Jahren in Berlin gestorben. Insgesamt elf Jahre stand er an der Spitze des Bundesverwaltungsgerichts, das er in dieser Zeit maßgeblich prägte.

Horst Sendler wurde am 17.6.1925 in Kamenz in der Lausitz ge-boren. Nach seinem Abitur im Jahre 1943 wurde er Soldat, ge-riet in amerikanische Kriegsgefangenschaft und begann nach seiner Entlassung zunächst das Studium der Geschichte und Germanistik an der Humbold-Universität in Berlin. Nach drei Semestern wechselte er zur Rechtswissenschaft; 1951 legte er die erste juristische Staatsprüfung in Berlin ab. Nach der zwei-ten Staatsprüfung kam er 1955 erstmals als Mitarbeiter für ein Jahr zum Bundesverwaltungsgericht. Von dort wechselte er in die Senatsverwaltung von Berlin. Dort machte er rasch Karrie-re; bereits 1965 wurde er Senatsrat. Ein Jahr später wechselte er als Richter zum Bundesverwaltungsgericht. Zunächst kam er zu dem für Bausachen zuständigen 4. Senat. 1971 übernahm er als Vorsitzender den für Umweltsachen zuständigen 7. Senat, den er auch behielt, als er 1980 Präsident des Gerichts wurde.

Trotz der für einen Richter ungewöhnlich großen Zahl von wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die er zumeist ganz ak-tuellen Problemen widmete, ist Sendler stets Praktiker mit einem guten Blick für die Probleme der Zeit geblieben. An der ihm im Jahre ** gewidmeten Festschrift haben sich Wissenschaftler und Praktiker gleichermaßen beteiligt. Mit seiner zupackenden Art, seiner rhetorischen Brillanz, seinem berliner Witz, seinem Blick für das richtige Maß und seiner Souveränität ist er für Generatio-nen von Juristen, Wissenschaftler wie Praktiker, über viele Jahre

und lange über seine Dienstzeit hinaus ein leuchtendes Vorbild gewesen.

OVG HamburgJan Albers gestorben

Am 22. Januar 2006 verstarb im 84. Lebensjahr der frühere Prä-sident des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts Dr. Jan Al-bers. Der Verstorbene war Zeit seines Lebens vielseitig engagiert und über die Grenzen Hamburgs hinaus bekannt und geschätzt. Im Jahre 1922 als Sohn eines Hamburger Exportkaufmanns in Wladiwostok geboren, leistete er in der unmittelbaren Nach-kriegszeit seinen Referendardienst in Hamburg, promovierte im Handelsrecht und begann seine richterliche Tätigkeit am 1. Juli 1949 beim Landgericht Hamburg. Bereits kurz darauf wurde er bis 1955 in die Verwaltung des Hanseatischen Ober-landesgerichts abgeordnet. Nach einer anschließenden kurzen Tätigkeit am Verwaltungsgericht Hamburg kehrte Dr. Albers im Jahre 1957 zunächst als Hilfsrichter, ab 1959 als Oberlandesge-richtsrat an das Hanseatische Oberlandesgericht zurück und wurde zugleich zum Mitglied eines der beiden damals bestehen-den Senate des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts be-stimmt; eine Hamburgensie, wie jene der gesetzlichen Personal-union, die den damaligen Präsidenten und Vizepräsidenten des Hanseatischen Oberlandesgerichts diese Ämter jeweils zugleich am Oberwaltungsgericht übertrug. Im Jahre 1970 erfolgten sei-ne Ernennungen zum Senatspräsidenten am Hamburgischen Oberverwaltungsgericht und zum Mitglied des Hamburgischen Verfassungsgerichts. Als im Jahre 1985 die personelle und orga-nisatorische Verknüpfung der beiden Obergerichte endete, wur-de Dr. Albers erster Präsident des eigenständigen Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts. Mit dem Erreichen der Altersgrenze trat er im November 1987 in den Ruhestand.

Die richterliche Tätigkeit war nur ein Teil seines vielfältigen Engagements. Juristisch war Dr. Albers viele Jahre in der Ständi-gen Deputation des Deutschen Juristentages tätig, Mitglied des Koordinierungsausschusses zur Vereinheitlichung der Prozess-ordnungen der Fachgerichtsbarkeiten, Vorstandsmitglied in der Gesellschaft Hamburger Juristen und, vor allem, seit Jahrzehn-ten Mitverfasser bekannter und geschätzter Kommentare zur Zi-vilprozessordnung und den Kostengesetzen sowie Initiator des zweibändigen Werkes „Recht und Juristen Hamburg“. 1992 wur-de Dr. Albers mit dem Emil-von-Sauer-Preis des Hamburgischen Anwaltsvereins ausgezeichnet. Daneben engagierte er sich unter anderem als Vorsitzender des Kuratoriums der Hamburgischen Wissenschaftlichen Stiftung sowie in mehreren Vereinigungen zur Geschichte Hamburgs und Lübecks.

NordÖR 2/2006 67

Rechtsprechung

Rechtsprechung

Hinweis: Die im Rechtsprechungsteil abgedruckten Entscheidungen werden redaktionell bearbeitet, indem ggfs. Kürzungen vorgenom-men sowie einzelne Passagen durch Fettdrucke hervorgehoben und in geeigneten Fällen auch Zwischenüberschriften angebracht werden. Leitsätze der Redaktion sind kursiv gesetzt.

Allgemeines Verwaltungsrecht und Verwaltungsprozessrecht

vermag sich der Senat nicht anzuschließen. Es kann nicht an-genommen werden, dass eine Betreuerin, die Volljuristin ist, für alle (möglichen) gerichtlichen Verfahren, die zu ihrem Wir-kungskreis gehören, die für eine ordnungsgemäße Vertretung des Betreuten erforderlichen juristischen Kenntnisse besitzt oder sich ohne weiteres leicht aneignen kann. Hier ist ausdrücklich vorgetragen, dass die Betreuerin mangels eigener Kenntnisse im verwaltungsgerichtlichen Verfahren die Beauftragung eines An-walts für geboten hielt.

Der Senat hat im Urteil vom 24.01.1996 (Az. 2 BA 65/94) bei vergleichbarer Konstellation zur Frage der Notwendigkeit der Zu-ziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren (vgl. § 63 Abs. 2 SGB-X, § 80 Abs. 2 VwVfG und § 162 Abs. 2 S. 2 VwGO) entschieden, dass diese Frage danach zu beurteilen sei, „ob sich ein vernünftiger Vormund, der nicht Rechtsanwalt ist, bei der gegebenen Sach- und Rechtslage im allgemeinen eines Rechtsan-walts oder eines sonstigen Bevollmächtigten bedient haben wür-de“. Dieser Maßstab läßt sich auch anwenden, wenn es um die Beantwortung der Frage geht, ob trotz Vorliegens einer Betreu-ung durch eine Volljuristin die Vertretung durch einen Rechts-anwalt erforderlich i.S.v. § 121 Abs. 2 ZPO erscheint. Für den vorliegenden Fall folgt daraus, dass ein Rechtsanwalt dem Kläger beizuordnen ist. Mit der Klage macht der Kläger einen Anspruch nach dem Grundsicherungsgesetz (jetzt §§ 41 – 46 SGB XII) gel-tend. Die Antragsgegnerin hat sich für ihre ablehnende Haltung im Widerspruchsbescheid auf eine Stellungnahme des Sozialme-dizinischen Dienstes der LVA vom 06.02.2004 bezogen, aus der sich anhand einer vorgenommenen ärztlichen Untersuchung ergebe, dass eine Besserung des gesundheitlichen Zustandes des Klägers nicht unwahrscheinlich sei. Um die ablehnende Haltung der Antragsgegnerin ernstlich zu erschüttern, bedarf es näherer Kenntnisse des Sozial- und Verwaltungsrechts sowie des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, zumal die Beklagte in der Klageerwiderung ausdrücklich betont hat, sie sehe keine Veranlassung zur Änderung ihrer Rechtsauffassung, solange der Einschätzung der LVA von der Klägerseite lediglich pauschal und in keiner Weise substantiiert widersprochen werde. Bei dieser Sach- und Rechtslage hätte sich auch ein vernünftiger Betreuer, der nicht Rechtsanwalt ist, eines Rechtsanwalts bedient.

Kein Suspensiveffekt bei Widerspruch gegen Festsetzung von Säumniszinsen bzw. Säumniszuschlägen

VwGO § 80 Abs. 2 Nr. 1

Der Widerspruch gegen Säumniszinsen bzw. Säumniszuschlä-ge hat keine aufschiebende Wirkung, weil sie zu den öffentli-chen Kosten und Abgaben zählen.

OVG Hamburg, Beschluss vom 17. Oktober 2005 – 1 Bs 210/05

Aus den Gründen:

1. Der Widerspruch des Antragstellers gegen den Bescheid der Antragsgegnerin hat nicht nach § 80 Abs. 1 VwGO aufschieben-de Wirkung, weil die Säumniszuschläge zu den „öffentlichen Ab-gaben und Kosten“ im Sinne des § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zählen.

a) Die Frage, ob Säumniszinsen oder Säumniszuschläge zu den „öffentlichen Abgaben und Kosten“ im Sinne des § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu rechnen sind, ist in der Rechtsprechung und Lite-ratur umstritten (vgl. bejahend: OVG Bremen, Beschl. v. 6.4.1993 - 1 B 6/93 in juris; VGH Kassel, Beschl. v. 27.9.1994, KStZ 1995 S. 237 unter Aufgabe der früheren gegenteiligen Rechtsprechung; OVG Münster, Beschl. v. 31.8.1983, KStZ 1984 S. 17; VG Weimar, Beschl. v. 5.2.1999 - 6 E 2522/98.We in juris; Driehaus, Erschlie-ßungs- und Ausbaubeiträge, 7. Aufl. 2004, § 24 Rdnr. 58; Lauen-

Beiordnung eines Rechtsanwalts bei Betreuung

BGB § 1896 Abs. 1; VwGO § 166; ZPO § 121 Abs. 2

Der Umstand, dass die zum Betreuer bestellte Person Volljurist ist, schließt für das verwaltungsgerichtliche Verfahren nicht die Beiordnung eines Rechtsanwalts aus.

OVG Bremen, Beschluss vom 20. Oktober 2005 – 2 S 296/05

Sachverhalt:

Der Kläger steht unter Betreuung. Das Amtsgericht Bremen hat eine Mitarbeiterin des Deutschen Roten Kreuzes Bremen e. V., die Vollju-ristin ist, zur Betreuerin bestellt.

Den Antrag des Klägers auf Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Grundsicherungsgesetz (jetzt §§ 41 – 46 SGB XII) lehnte das Amt für Soziale Dienste mit Bescheid ab. Den Widerspruch wies der Sena-tor für Arbeit, Frauen, Gesundheit, Jugend und Soziales mit Wider-spruchsbescheid vom 04.05.2004 als unbegründet zurück. Daraufhin hat der Kläger durch einen Rechtsanwalt Klage beim Verwaltungsge-richt Bremen erhoben.

Das Verwaltungsgericht bewilligte dem Kläger Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren, lehnte seinen Antrag auf Beiordnung eines Rechtsanwalts jedoch ab. Das Verwaltungsgericht hielt die Beiord-nung für nicht erforderlich, weil der Kläger unter Betreuung stehe, die Betreuerin Volljuristin sei und die Klage zu ihrem Wirkungskreis gehöre.

Die dagegen gerichtete Beschwerde des Klägers war erfolgreich.

Aus den Gründen:

§ 121 Abs. 2 ZPO, der im Verwaltungsgerichtsverfahren nach § 166 VwGO entsprechend gilt, bestimmt, dass dann, wenn – wie hier – eine Vertretung durch Anwälte nicht vorgeschrieben ist, der Partei auf ihren Antrag ein zur Vertretung bereiter Rechtsan-walt ihrer Wahl beigeordnet wird, wenn die Vertretung durch ei-nen Rechtsanwalt erforderlich erscheint oder der Gegner durch einen Rechtsanwalt vertreten ist.

Ob eine anwaltliche Vertretung erforderlich ist, ist grundsätz-lich nach Umfang, Schwierigkeit und Bedeutung der Sache sowie nach den persönlichen Verhältnissen der Partei zu bestimmen (vgl. Thomas/Putzo, ZPO, 25. Auflage, § 121 Rdnr. 5 m.w.N.; Zöl-ler, ZPO, 25. Auflage, § 121 Rdnr. 4 m.w.N.).

Im vorliegenden Fall besteht die Besonderheit, dass für den Kläger bereits eine Betreuerin bestellt worden ist.

Der Auffassung des Verwaltungsgerichts, die Beiordnung ei-nes Rechtsanwalts sei deshalb abzulehnen, weil die Betreuerin Volljuristin sei und die Klage zu ihrem Wirkungskreis gehöre,

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Rechtsprechung

roth/ Sauthoff in Driehaus, Kommunalabgabenrecht, Stand: Sep-tember 2003, § 12 Rdnr. 113 ff.; Puttler in Sodan/Ziekow, VwGO, Stand: Januar 2003, § 80 Rdnr. 62; Heuermann in Hübsch-mann/Hepp/Spitaler, AO, Stand: August 2004, § 240 Rdnr. 86; Rüsken in Klein, AO, 8. Aufl. 2003, § 240 Rdnr. 3; anderer Auffassung: OVG Lüneburg, Beschl. v. 27.1.1988 - 9 B 104/87, NVwZ-RR 1989 S. 325; OVG Koblenz, Beschl. v. 29.9.1998, KStZ 2000 S. 77; VGH München, Beschl. v. 25.11.1998 – 4 ZS 98.2660 in juris; OVG Bautzen, Beschl. v. 22.2.1996 - 2 S 242/95 in juris; Funke-Kaiser in Bader, VwGO, 3. Aufl. 2005, § 80 Rdnr. 27; Kopp/Schen-ke, VwGO, 14. Aufl. 2005, § 80 Rdnr. 63; Schoch in Schoch/ Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 80 Rdnr. 116).

b) Der Senat folgt in diesem Streit nicht dem Verwaltungsge-richt, sondern der - auch von der Antragsgegnerin vertretenen - erstgenannten Auffassung.

aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO entspricht es dem Sinn der mit dieser Vorschrift bezweckten Angleichung an das Steuerrecht, in die Sofortvollzugsregelung alle Abgaben einzubeziehen, durch die, Steuern vergleichbar, die Befriedigung des öffentlichen Finanzbedarfs sichergestellt wird. Von diesem Ansatz her ver-bietet es sich, den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung auf Gebühren und Beiträge zu beschränken. Muss ein Hoheitsträger in Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben finanzielle Mittel auf-wenden, so kann er in gleicher Weise wie auf Steuern nicht nur auf Gebühren und Beiträge, sondern auch auf sonstige Abgaben angewiesen sein. Dabei ist es unerheblich, wie die Abgabe ihrem materiellen Gehalt nach zu qualifizieren ist. Entscheidend ist vielmehr, ob sie ebenso wie die Steuer, die Gebühr oder Beitrag eine Finanzierungsfunktion erfüllt. Das ist der Fall, wenn der Ho-heitsträger sich mit ihrer Hilfe eine Einnahmequelle erschließt, die es ihm ermöglicht, seine eigenen Ausgaben voll oder jeden-falls teilweise zu decken (BVerwG, Urt. v. 17.12.1992 – 4 C 30.90, NVwZ 1993 S. 1112).

bb) Die von der Antragsgegnerin festgesetzten Säumniszu-schläge erfüllen (nicht nur, aber) auch eine solche Finanzie-rungsfunktion.

(1) Rechtsgrundlage für die Erhebung der Säumniszuschläge ist § 4 Abs. 1 Nr. 3 b des Hamburgischen Abgabengesetzes (Hm-bAbg) i.V.m. § 240 AO: Nach § 4 Abs. 1 HmbAbg sind u.a. auf Erschließungsbeiträge die sodann im Einzelnen aufgeführten Bestimmungen der Abgabenordnung in der jeweils geltenden Fassung entsprechend anzuwenden, soweit nicht Bundesgeset-ze oder ein anderes Gesetz der Freien und Hansestadt Hamburg besondere oder inhaltsgleiche Vorschriften enthalten. Zu diesen Bestimmungen gehört nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 b HmbAbg auch die Vorschrift des § 240 AO über die Säumniszuschläge.

(2) Säumniszuschlägen nach § 240 AO kommt nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs eine Dop-pelfunktion zu: Einerseits stellen sie ein Druckmittel eigener Art dar, das den Steuerschuldner zur rechtzeitigen Zahlung anhalten soll, andererseits verfolgt § 240 AO den Zweck, vom Steuerschuldner eine Gegenleistung für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern zu erhalten und die Verwaltungs-aufwendungen abzugelten, die infolge der unterbliebenen oder nicht fristgerechten Zahlung entstehen (vgl. zuletzt BFH, Beschl. v. 19.1.2005 – VII B 286/04 in juris unter Hinweis auf die Urteile vom 16.11.2004 - VII R 8/04 in juris und vom 9.7.2003 – V R 57/02, BFHE 203 S. 8). ...

(3) Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung liegt es nahe, dass Säumniszuschläge nach § 240 AO auch eine Finanzie-rungsfunktion im Sinne der Rechtsprechung des Bundes-verwaltungsgericht erfüllen und deshalb auch die im vorliegen-

den Verfahren umstrittenen Säumniszuschläge nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 b HmbAbg i.V. mit § 240 AO zu den öffentlichen Abgaben im Sinne des § 80 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu rechnen sind. Eine an-dere Auffassung erschiene dem Senat nur dann gerechtfertigt, wenn es so wäre, dass - wie das Verwaltungsgericht angenom-men hat - bei den Säumniszuschlägen die Druckmittelfunktion eindeutig im Vordergrund stünde, mit anderen Worten, wenn der Zweck, vom Steuerschuldner eine Gegenleistung für das Hi-nausschieben der Zahlung fälliger Steuern zu erhalten und die Verwaltungsaufwendungen abzugelten, die infolge der unter-bliebenen oder nicht fristgerechten Zahlung entstehen, deutlich hinter der Druckmittelfunktion zurückträte. Diese Feststellung lässt sich jedoch schon nach der oben dargestellten Rechtspre-chung des Bundesfinanzhofs nicht treffen. Sie ist darüber hinaus auch mit der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zum Billig-keitserlass von Säumniszuschlägen schwerlich zu vereinbaren:

Nach der ständen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs ist die Erhebung von Säumniszuschlägen insoweit sachlich unbil-lig, als dem Steuerpflichtigen die rechtzeitige Zahlung der Steuer wegen Überschuldung und Zahlungsfähigkeit unmöglich ist und deshalb die Ausübung von Druck zur Zahlung ihren Sinn verliert (vgl. etwa BFH, Urt. v. 9.7.2003, BFHE 203 S. 8; Urt. v. 7.7.1999 – X R 87/96, in juris m.w.N.). Wäre es so, dass die Druckmittel-funktion eindeutig im Vordergrund stünde, müsste dies zur Folge haben, dass das Finanzamt verpflichtet wäre, die Säumnis-zuschläge bei Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung des Steu-erpflichtigen ganz oder doch jedenfalls zum überwiegenden Teil zu erlassen. Das ist jedoch nach der gefestigten Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs nicht der Fall: War dem Steuerpflichtigen die rechtzeitige Zahlung der Steuer wegen Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung nicht möglich, sind die Säumniszuschlä-ge wegen sachlicher Unbilligkeit nicht ganz oder überwiegend, sondern gerade wegen der mit den Säumniszuschlägen verfolg-ten weiteren, über die Druckmittelfunktion hinausgehenden Zwecke nur zur Hälfte zu erlassen (vgl. z.B. die bereits erwähnten Urteile des BFH v. 9.7.2003 und 7.7.1999, a.a.O.).

(Mitgeteilt von der Veröffentlichungskommission des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts)

Örtliche Zuständigkeit in Asylstreitigkeiten

AsylVfG§ 78 Abs 3 Nr. 3; GG Art 101 Abs 1 S 2 GG; GVG § 17a; VwGO § 138 Nr. 1

1. Eine mögliche unrichtige Auslegung der Bestimmungen über die örtliche Zuständigkeit rechtfertigt nicht die Annah-me eines Verfahrensfehlers im Sinne von § 138 Nr. 1 VwGO.

2. Zur Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses.

OVG Greifswald, Beschluß vom 27. September 2005 – 3 L 410/04

Aus den Gründen:

Die Rüge des Klägers, der gesetzliche Richter habe nicht entschie-den und deshalb liege der Zulassungsgrund des § 78 Abs. 3 Nr. 3 AsylVfG i.V.m. § 138 Nr. 1 VwGO vor, führt nicht zur Zulassung der Berufung.

Der Kläger macht insoweit maßgeblich geltend, die im Hin-blick auf seine vom 08.04.1999 datierende Zuweisung an den Landkreis U. erfolgte Verweisung des Rechtsstreits wegen ört-licher Unzuständigkeit durch das VG Schwerin sei willkürlich gewesen, sodass das VG Greifswald nicht gesetzlicher Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG gewesen sei. Unter Wie-derholung bzw. Ergänzung seiner diesbezüglichen Darlegungen

NordÖR 2/2006 69

Rechtsprechung

im Schriftsatz vom 20.07.2004 trägt er vor, der angefochtene Bescheid des Beklagten datiere vom 01.04.1999, die Zuweisungs-entscheidung des zuständigen Landesamtes vom 08.04.1999. Beide Bescheide seien der Aufnahmeeinrichtung am 08.04.1999 übergeben worden, ... Aus denselben Fundstellen ergebe sich, dass der Ablehnungsbescheid dem Kläger am 09.04.1999 ausge-händigt worden sei. Demgegenüber habe ihm die Zuweisungs-entscheidung angeblich nicht ausgehändigt werden können. Deshalb sei in der Zeit vom 12.04. bis zum 15.04.1999 öffentlich bekannt gemacht worden, dass die Zuweisungsentscheidung in der Poststelle bereit gelegen habe, womit gemäß § 10 Abs. 4 Satz 4 2. Halbsatz AsylVfG die Zuweisungsentscheidung als zu-gestellt habe gelten sollen.

Dass dies im Hinblick auf die gleichzeitige Übergabe von Bun-desamtsbescheid und Zuweisungsentscheidung schlichtweg nicht angehen könne, liege auf der Hand. Folglich sei die öffent-liche Bekanntmachung unzulässig gewesen und die Fiktionswir-kung des § 10 Abs. 4 Satz 4 2. Halbsatz AsylVfG nicht eingetre-ten, da sie denknotwendig das dem Kläger vorwerfbare Scheitern der persönlichen Aushändigung voraussetze. Es fehle an einem ordnungsgemäßen Zustellungsversuch. Für das VG Schwerin hätten diese Umstände auf der Hand gelegen, weshalb sich die Verweisung an das VG Greifswald als willkürlich erweise.

Unabhängig davon, ob die Verweisung des Rechtsstreit durch das VG Schwerin wie geltend gemacht rechtsfehlerhaft gewesen ist, begründet die geltend gemachte Verletzung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter ( Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG ) wegen der behaupteten örtlichen Unzuständigkeit des VG Greifswald zunächst keinen Zulassungsgrund im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 bis 3 AsylVfG ; insbesondere wird damit kein Verfahrensverstoß gemäß § 138 Nr. 1 VwGO dargelegt. Denn auf Bedenken gegen die örtliche oder sachliche Zuständigkeit eines Gerichts kann weder die Besetzungsrüge nach §138 Nr. 1 VwGO noch die Rüge von Ausschließungsgründen nach § 138 Nr. 2 VwGO gestützt werden (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, B. v. 17.09.1993 – 3 L 34/93 –, juris; BVerwG, B. v. 18.11.1983 – 9 CB 252.81 –, Buchholz 310 § 43 VwGO Nr. 80 – zitiert nach juris).

Im Übrigen bestimmt § 83 Satz 1 VwGO, dass für die sachliche und örtliche Zuständigkeit die §§ 17 bis 17b GVG entsprechend gelten. Nach § 17a Abs. 5 GVG prüft das Gericht, das über ein Rechtsmittel gegen eine Entscheidung in der Hauptsache ent-scheidet, nicht, ob der beschrittene Rechtsweg zulässig ist. Im Rahmen des § 83 Satz 1 VwGO bedeutet dies, dass ein Berufungs-gericht bei der Überprüfung eines erstinstanzlichen Urteils von einer in dem Urteil ausdrücklich oder stillschweigend bejahten örtlichen Zuständigkeit des betreffenden VG ohne Weiteres aus-zugehen hat (vgl. BVerwG, B. v. 31.10.1994 – 11 AV 1/94 –, NVwZ-RR 1995, 300 – zitiert nach juris). Ein solcher Fall liegt hier vor, da das VG Greifswald in den Entscheidungsgründen ausdrück-lich seine örtliche Zuständigkeit unter dem Gesichtspunkt der Bindung an den Verweisungsbeschluss des VG Schwerin vom 29.09.2003 bejaht hat.

Unabhängig von den vorstehenden Erwägungen liegt entge-gen dem Vorbringen des Klägers auch kein Fall vor, in dem eine Bindung des VG Greifswald an den Verweisungsbeschluss des VG Schwerin vom 29.09.2003 zu verneinen wäre.

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Bindungswir-kung eines Verweisungsbeschlusses nach Maßgabe von § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG auch dann eintritt, wenn eine Verweisung zu Unrecht erfolgt ist. Allerdings ist es allgemein anerkannt, dass die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses wegen be-sonders schwerer Verstöße gegen die Zuständigkeitsbestimmun-gen entfallen kann. Eine solche Ausnahme von der Bindungs-

wirkung einer Verweisung kann jedoch nur in extrem gelagerten Fällen angenommen werden, etwa dann, wenn für den Verwei-sungsbeschluss jede gesetzliche Grundlage fehlt, er also auf Will-kür beruht, oder wenn die unter Verstoß gegen die Zuständig-keitsbestimmungen erfolgte Verweisung zu funktionswidrigen Folgen führen würde. Willkür läge nur dann vor, wenn die rich-terliche Verweisungsentscheidung nach objektiver Betrachtung unter keinem denkbaren Aspekt rechtlich vertretbar wäre und sich daher der Schluss aufdrängte, sie beruhe auf sachfremden Erwägungen. Die fehlerhafte Auslegung eines Gesetzes allein bewirkt hingegen die Willkürlichkeit einer Gerichtsentschei-dung nicht. Vielmehr muss hinzukommen, dass der Inhalt einer Norm in krasser Weise missachtet wird. Somit ist auch eine sach-lich unrichtige Verweisung für sich allein nicht geeignet, ihr die Bindungswirkung zu nehmen (vgl. zum Ganzen VGH Kassel, B. v. 17.08.1995 – 13 Z 1548/95 –, NVwZ-RR 1996, 611 m.w.N.; vgl. auch BVerwG, B. v. 01.07.2004 – 7 VR 1/04 –, NVwZ 2004, 1124 ; B. v. 01.12.1992 – 7 A 4/92 –, NVwZ 1993, 770 ; OVG Hamburg, B. v. 21.09.2000 – 5 E 24/00 P –; OLG Brandenburg, B. v. 10.12.2003 – 1 AR 84/03 –, NJW 2004, 780 – jeweils zitiert nach juris).

Dass die nach diesem Maßstab erforderlichen Voraussetzun-gen für den Wegfall der Bindungswirkung des Verweisungsbe-schlusses im vorliegenden Fall gegeben sein könnten, ist nicht dargelegt und auch sonst nicht ersichtlich.

Das VG Schwerin ist in dem Verweisungsbeschluss vom 29.09.2003 davon ausgegangen, dass sich seine Unzuständigkeit und die Zuständigkeit des VG Greifswald aus § 52 Nr. 2 Satz 3 VwGO ergebe. Nach dieser Vorschrift sei in Streitigkeiten nach dem Asylverfahrensgesetz das VG örtlich zuständig, in dessen Bezirk der Ausländer nach dem Asylverfahrensgesetz seinen Aufenthalt zu nehmen habe. Der Kläger sei mit Bescheid vom 08.04.1999 mit Wirkung vom 14.04.1999 dem Landrat des Land-kreises U. zugewiesen; dessen Gebiet liege im Zuständigkeitsbe-reich des VG Greifswald.

Das Vorbringen der Zulassungsbegründung soll bei verständi-ger Würdigung wohl dahingehend zu verstehen sein, dass man-gels ordnungsgemäßer Zustellung bzw. Bekanntmachung der Zuweisungsentscheidung vom 08.04.1999 ein Aufenthaltsbezirk abweichend von der Aufnahmeeinrichtung N. im Zuständig-keitsbereich des VG Schwerin nicht wirksam begründet worden sei und folglich die örtliche Zuständigkeit des VG Schwerin fort-bestand.

Der Ansatzpunkt des Klägers für seine These ist jedoch keines-falls zwingend. (...) Vergleicht man dieses Empfangsbekenntnis mit Bl. 47 und 48 der Bundesamtsakte (Übersendungsschreiben für Anhörungsprotokoll und Bescheid vom 08.04.1999 sowie diesbezügliche Empfangsbestätigung), auf denen jeweils ein Eingangsdatum der Aufnahmeeinrichtung mit Unterschrift vermerkt bzw. quittiert ist, so stellt sich die Frage, ob die Zuwei-sungsentscheidung tatsächlich bereits am 08.04.1999 bei der Aufnahmeeinrichtung eingegangen ist (wird ausgeführt). Hier-von ausgehend wäre der Verweisungsbeschluss des VG Schwerin rechtmäßig und in jedem Falle bindend. Selbst wenn man hier aber Zweifel für begründet erachten wollte, liefen diese darauf hinaus, dass allenfalls ein einfacher Rechtsfehler vorläge. Ein Fall von Willkür im vorstehend umrissenen Sinn liegt jedenfalls in keinem Falle vor; ein unterstellter Verstoß gegen Zuständig-keitsbestimmungen hätte auch nicht zu funktionswidrigen Fol-gen – etwa dem Wegfall einer Instanz für den Kläger – geführt.

NordÖR 2/200670

Rechtsprechung

Baurecht

Designer-Outlet-Center Soltau und Raumordnungsrecht

BauGB 1998 §§ 1 Abs. 4 und 6, 2 Abs. 2, 6 Abs. 4 Satz 1 und Satz 4, 214 Abs. 3 Satz 1; C 1.6 03 LROP II 2002; C 1.6 04 LROP II 1994; GG Art. 28 Abs. 2; NROG § 6 Abs. 4 Satz 1

1. Die Drei-Monatsfrist des § 6 Abs. 4 Satz 1 BauGB für die Genehmigung eines Flächennutzungsplan-Änderungsver-fahrens kann „aus wichtigen Gründen“ verlängert werden, wenn sich die mit dem Änderungsverfahren verbundenen Fragen durch Komplexität und ihren Umfang auszeichnen.

2. Ob es sich bei dem in Ziff. C 1.6 04 Satz 1 LROP II 1994 auf-genommenen Plansatz um ein Ziel der Raumordnung han-delt, bleibt offen (verneinend Urt. des Senats v. 30.3.2000 – 1 K 2491/98; offen gelassen Beschl. v. 7.3.2002 – 1 MN 3976/01).

3. Bei dem in C 1.6 03 Satz 11 LROP II 2002 für Hersteller-Di-rektverkaufszentren aufgenommenen Plansatz handelt es sich um eine weder in verfahrensrechtlicher noch in materi-ell-rechtlicher Hinsicht zu beanstandende Entscheidung des Verordnungsgebers. Danach sind Hersteller-Direktverkaufs-zentren in Niedersachsen nur in Oberzentren an städtebau-lich integrierten Standorten zulässig.

4. Bauleitpläne müssen nicht nur im Zeitpunkt der Beschluss-fassung durch die Gemeinde, sondern auch noch später an die Ziele der Raumordnung angepasst sein.

OVG Lüneburg, Urteil vom 1. September 2005 – 1 LC 107/05

Sachverhalt:

Streitgegenstand des Verfahrens ist das sog. Designer-Outlet-Center in Soltau. Die Klägerin, die Stadt Soltau, begehrt die Genehmigung der 26. Änderung ihres Flächennutzungsplanes. Die Stadt Soltau will mit der 26. Änderung ihres Flächennutzungsplanes und der gleichzeitig im sog. Parallelverfahren betriebenen Aufstellung des vorhabenbezogenen Bebauungsplanes Nr. 2 „Designer-Outlet-Cen-ter Soltau“ die planungsrechtlichen Grundlagen für die Ansiedlung eines großflächigen Einzelhandelsbetriebes in der besonderen Form eines Designer-Outlet-Centers im Ortsteil Harber auf einem etwa 120.000 m² großen Areal westlich der Autobahn Hamburg/Hanno-ver unweit der Autobahnauf- bzw. -abfahrt Soltau-Ost schaffen. Die beiden Bauleitpläne lassen die Errichtung eines Hersteller-Direktver-kaufszentrums mit einer Verkaufsfläche von zunächst 10.000 m² in einer ersten Ausbaustufe, sodann in einer zweiten Ausbaustufe auf insgesamt 20.000 m² zu. Der Investor rechnet mit einem Jahresum-satz von rund 100 Mio. EUR und ca. 3,1 Mio. Besucher p.a.

Die 26. Änderung stellt ausschließlich eine Sonderbaufläche (S) dar, und zwar für eine bauliche Nutzung als großflächiger Einzelhandel in der besonderen Form des Designer-Outlet-Centers. Die Sonderbau-fläche wird durch textliche Darstellungen wie folgt näher umschrie-ben:

„1. in der besonderen Form einer planmäßigen baulichen Zusam-menfassung von Verkaufsstätten, in denen Hersteller/Markeninha-ber losgelöst vom Ort der Herstellung zumindest 90 % Markenartikel veräußern (Designer-Outlet-Center);

2. mit einer maximal zulässigen Verkaufsfläche von 20.000 m²;

3. mit folgenden Sortimenten: Textilien, Schuhe, Accessoires, Glas/Porzellan/Keramik und Heimtextilien und, auf höchstens 10 % der Verkaufsfläche, sonstige Waren mit Ausnahme von Nahrungs- und Genussmitteln, Drogeriewaren, Apotheker- und Sanitätswaren, Blu-men, Pflanzen und zoologischem Bedarf;

4. die Waren müssten zumindest 85 % wenigstens eines der folgenden Merkmale aufweisen: Waren zweiter Wahl, Auslaufmodelle, Modelle vorangegangener Saisons, Restposten, Waren für Markttestzwecke oder Überhangproduktionen.“

Am 12. Juli 2000 beschloss der Rat der Stadt Soltau den vorhabenbe-zogenen Bebauungsplan Nr. 2 als Satzung und die 26. Änderung des Flächennutzungsplans einschließlich des Erläuterungsberichtes.

Den Genehmigungsantrag für die 26. Änderung des Flächennut-zungsplanes lehnte die Bezirksregierung L. mit Bescheid vom 23. Ja-nuar 2001 ab. Der dagegen gerichteten Klage hat das Verwaltungs-gericht mit Urteil vom 22. Mai 2003 stattgegeben. Es hat festgestellt, dass die Genehmigung der Bezirksregierung Lüneburg für die 26. Än-derung des Flächennutzungsplanes gemäß § 6 Abs. 4 BauGB als er-teilt gilt.

Das Oberverwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen.

Aus den Gründen:

Zu Unrecht hat das Verwaltungsgericht den Bescheid der Bezirks-regierung Lüneburg vom 23. Januar 2001 aufgehoben und festge-stellt, dass die Genehmigung der Bezirksregierung Lüneburg für die 26. Änderung des Flächennutzungsplanes der Stadt Soltau gemäß § 6 Abs. 4 BauGB als erteilt gilt. Die Klage ist sowohl mit dem gestellten Haupt- als auch mit dem Hilfsantrag unbegrün-det. Die Voraussetzungen für eine als erteilt geltende Genehmi-gung der 26. Änderung des Flächennutzungsplanes liegen nicht vor. Der Stadt Soltau steht auch nicht ein Anspruch auf Geneh-migung der 26. Änderung ihres Flächennutzungsplanes zu. Die im Streit stehende Änderung des Flächennutzungsplanes ist nicht genehmigungsfähig, weil die von der Stadt Soltau mit der 26. Änderung angestrebte Schaffung der planungsrechtlichen Voraussetzungen für die Ansiedlung des Designer-Outlet-Cen-ters Soltau mit Satz 11 der unter Ziff. C 1.6 03 des Landesraum-ordnungsprogrammes Niedersachsen – Teil II vom 28. Novem-ber 2002 angeführten Ziele der Raumordnung nicht vereinbar ist. Die 26. Flächennutzungsplanänderung widerspricht dem Anpassungsgebot des § 1 Abs. 4 BauGB.

1. Die 26. Änderung des Flächennutzungsplanes gilt ent-gegen der vom Verwaltungsgericht in dem angegriffenen Ur-teil vertretenen Auffassung nicht als erteilt.

Nach § 6 Abs. 1 und Abs. 2 BauGB bedarf die Änderung ei-nes Flächennutzungsplanes der Genehmigung der höheren Verwaltungsbehörde, hier also bis zum 31. Dezember 2004 der Genehmigung der Bezirksregierung Lüneburg. Die Genehmi-gungsbehörde darf die Genehmigung nur dann versagen, wenn der Flächennutzungsplan nicht ordnungsgemäß zustande gekommen ist oder Rechtsvorschriften des Baugesetzbuches, den aufgrund des Baugesetzbuches erlassenen oder sonstigen Rechtsvorschriften widerspricht. § 6 Abs. 4 BauGB regelt weitere Einzelheiten des Genehmigungsverfahrens. Über die Genehmi-gung ist binnen drei Monaten zu entscheiden (Satz 1, 1. Halbs.). Aus wichtigem Grund kann die Frist auf Antrag der Genehmi-gungsbehörde von der übergeordneten Behörde verlängert wer-den, in der Regel jedoch nur bis zu drei Monaten (Satz 2). Die Gemeinde ist von der Fristverlängerung in Kenntnis zu setzen (Satz 3). Die Genehmigung gilt als erteilt, wenn sie nicht in-nerhalb der Frist unter Angaben von Gründen abgelehnt wird (Satz 4).

Das Verwaltungsgericht hat sich der in der Literatur vertrete-nen Auffassung angeschlossen, dass die Genehmigungsfiktion nach § 6 Abs. 4 Satz 4 BauGB eintritt, wenn sich die Verlänge-rung der Prüfungsfrist als rechtsfehlerhaft und unwirksam er-weist. Werde eine Fristverlängerung gewissermaßen „grund-los“ ausgesprochen, trete die Genehmigungsfiktion ein. Der Gesetzgeber habe die Möglichkeit der Verlängerung der Frist als Höchstfrist ausgestaltet, die auch nur bei außergewöhnlichen Si-tuationen überschritten werden dürfe. Auch die Annahme eines „außergewöhnlichen Grundes“ rechtfertige nicht ohne weiteres die pauschale Verlängerung der Frist stets um drei Monate. Bei

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dieser Ausgestaltung des Fristverlängerungsverfahrens könne das Vorliegen wichtiger Gründe nicht bejaht werden. Das Nie-dersächsische Innenministerium habe bereits in seinem Erlass vom 3. März 1999 festgestellt, dass dem geplanten Designer-Out-let-Center an dem vorgesehenen Standort und in der geplanten Größe Ziele des LROP 1994 entgegenständen und deshalb das vom Vorhabenträger angeregte Raumordnungsverfahren nicht vertretbar sei. Entsprechend habe das Niedersächsische Innen-ministerium auch den Landkreis Soltau-Fallingbostel über die inzwischen aufgelöste Bezirksregierung Lüneburg angewiesen, die von ihm im Rahmen der Beteiligung der Träger öffentlicher Belange abgegebene befürwortende Stellungnahme zurückzu-nehmen und nunmehr eine gegenteilige Äußerung abzugeben. An dieser ablehnenden Haltung habe sich während des weiteren Planungsverfahrens und des Genehmigungsverfahren nichts ge-ändert. Bei dieser Sachlage wäre Ende Oktober 2000, also zum Ablauf der Prüfungsfrist, von den zuständigen Landesstellen nicht ein Ausweichen in eine Fristverlängerung, sondern eine sachliche Entscheidung auf der Grundlage auch der raumord-nerischen Vereinbarkeit der Planung der Stadt Soltau mit dem Landesraumordnungsrecht gefordert gewesen. Der ablehnende Bescheid vom 23. Januar 2001 sei u.a. maßgeblich damit begrün-det worden, dass das Vorhaben gegen den in C 1.6 04 LROP II 1994 niedergelegten Plansatz verstoße. An dieser Auffassung habe sich nie etwas geändert. Eine andere Beurteilung folge auch nicht daraus, dass erst im Genehmigungsverfahren das CIMA-Gutachten bzw. noch weitere Unterlagen nachgereicht worden seien. Das CIMA-Gutachten habe der Bezirksregierung seit dem 23. August 2000 vorgelegen. Es habe damit bis zum Fristablauf am 27. Oktober 2000 ein ausreichender Zeitraum für die Prüfung dieses Gutachtens zur Verfügung gestanden.

Der erkennende Senat folgt dieser Auffassung des Verwal-tungsgerichts nicht. Der vom Verwaltungsgericht vertretene „enge“ Prüfungsmaßstab schränkt den der Genehmigungsbe-hörde eingeräumten Prüfungsrahmen in einem übermäßigen Umfang ein und trägt zusätzlich den mit der 26. Änderung des Flächennutzungsplanes der Stadt Soltau verbundenen tatsäch-lichen und rechtlichen Problemen, insbesondere in raumord-nungsrechtlicher und marktwirtschaftlicher Hinsicht, nicht hinreichend Rechnung. Den Gesetzesmaterialien zu § 6 BauGB (BT-Drs. 7/4793, S. 27) ist allerdings zunächst zu entnehmen, dass die auf Vorschlag der kommunalen Spitzenverbände ange-regte Einführung der Genehmigungsfiktion durch die Novelle des Baugesetzbuches 1976 zu einer Beschleunigung des Plan-genehmigungsverfahrens beitragen sollte, welches nach Ein-schätzung des Gesetzgebers bisher oft unverhältnismäßig lange andauerte. In den Materialien ist weiter nachzulesen, dass der Ausschuss es im Interesse der Gemeinden und der betroffenen Bürger, innerhalb absehbarer Zeiträume Rechtsklarheit und Rechtssicherheit über die bauplanungsrechtlichen Verhältnis-se in einem Bebauungsplangebiet zu erhalten, für hinnehmbar hielt, dass durch die Einführung der Genehmigungsfiktion nicht ausgeschlossen werden könne, dass auch einmal ausnahmsweise ein rechtswidriger Bebauungsplan als genehmigt gelte (BT-Drs. a.a.O.). Das vom Gesetzgeber beabsichtigte Beschleunigungsziel der Novelle ist demnach eindeutig zu bejahen. Die Kommen-tarliteratur zieht aus diesen Vorgaben aber keineswegs einheit-liche Schlüsse. Während die eine Auffassung an das Vorliegen „wichtiger Gründe“ einen „strengen Maßstab“ anlegt, eine Frist-verlängerung „nur in eng begrenzten Ausnahmefällen“ zulässt (so Schrödter, BauGB, Kommentar, 6. Aufl. 1998, § 6 Rdn. 10; Gierke in: Brügelmann, Loseblatt-Kommentar (Stand: Dezember 2004), § 6 Rdn. 59) bzw. „die Fristverlängerung in der Regel auf verhältnismäßig wenige, an einen strengen Maßstab gebunde-ne Ausnahmefälle“ beschränkt (Bielenberg in: Ernst/Zinkahn/

Bielenberg, BauGB, Loseblatt-Kommentar (Stand: September 2004), § 6 Rdn. 18), knüpft die weitergehende Auffassung daran gerade „keine hohen Anforderungen“ (so Löhr in: Battis/Krautz-berger/Löhr, BauGB, Kommentar, 9. Aufl. 2005, § 6 Rdn. 8). Die Genehmigungsfiktion trete vielmehr (schon dann) nicht ein, wenn die übergeordnete Behörde (nur) rechtzeitig die Fristver-längerung eingeräumt habe. Der letztgenannten Auffassung hat sich in der Rechtsprechung das Verwaltungsgericht Dessau (Urt. v. 31.5.2000 – 1 A 464/99 DE -, LKV 2001, 321) angeschlossen. Den angeführten Kommentarstellen ist gemeinsam, dass die je-weils vertretene Ansicht mehr oder weniger nur als Ergebnis mit-geteilt, aber nicht näher begründet wird. Nähere Ausführungen finden sich lediglich im obigen Urteil des Verwaltungsgerichts Dessau: ...

Unabhängig davon folgt der Senat auch nicht der Einschät-zung des Verwaltungsgerichts, dass für die Fristverlängerung keine „wichtigen Gründe“ im Sinne des § 6 Abs. 4 Satz 2 BauGB streiten. ...

2. Der Stadt Soltau steht auch ein Anspruch auf Genehmi-gung der 26. Änderung ihres Flächennutzungsplanes nicht zu. Die Flächennutzungsplanänderung widerspricht jeden-falls dem in Satz 11 des Plansatzes C 1.6 03 niedergelegten Ziel des Landesraumordnungsprogrammes II 2002. Das LROP 2002 findet auch trotz seines Inkrafttretens erst zum 10. Dezem-ber 2002 Anwendung, obwohl die 26. Änderung des Flächennut-zungsplanes vom Rat der Stadt Soltau bereits in seiner Sitzung vom 12. Juli 2000 beschlossen worden ist und der die Ablehnung der Genehmigung aussprechende Bescheid der Bezirksregierung Lüneburg vom 23. Januar 2001 datiert.

a) Kommen die im LROP 2002 festgesetzten Ziele der Raum-ordnung auch im vorliegenden Verfahren zur Geltung, bedarf es keiner abschließenden Entscheidung, ob der streitigen Geneh-migung der 26. Änderung auch bereits die im LROP 1994 fest-gesetzten Plansätze als Ziele der Raumordnung entgegenstehen (wird ausgeführt).

Die vom Senat insoweit lediglich angesprochene, dagegen keineswegs abschließend entschiedene Streitfrage kann offen bleiben, da der Genehmigung der 26. Änderung des Flächennut-zungsplanes der Stadt Soltau – wie bereits oben aufgezeigt – der Plansatz C 1.6 03 Satz 11 LROP II 2002 entgegensteht.

b) Die bisherige Ziff. C 1.6 04 LROP II 1994 hat durch das LROP 2002 nunmehr unter C 1.6 03 die folgende Fassung erhal-ten: ...

(11) Hersteller-Direktverkaufszentren sind Einzelhandels-großprojekte und aufgrund ihrer besonderen Ausprägung und Funktion nur in Oberzentren an städtebaulich inte-grierten Standorten zulässig.

(12) Dies gilt auch für Erscheinungsformen des Handels in Verbindung mit Freizeit-, Kultur- und sonstigen Dienstleistun-gen, die in ihren Auswirkungen Hersteller-Direktverkaufszent-ren vergleichbar sind. ...

Durch eine diesen Plansätzen beigefügte Fußnote ist ange-merkt, dass es sich – bis auf den Plansatz 13 – um – durch Fett-druck näher gekennzeichnete – Ziele der Raumordnung im Sinne von § 3 Nr. 2 des Raumordnungsgesetzes des Bundes handelt.

Dabei bedarf es keiner Entscheidung, welche der unter Ziff. 03 insgesamt aufgenommenen einzelnen Regelungen dem geplan-ten Vorhaben entgegenstehen. Es stellt sich z.B. die Frage, ob ein 20.000 m² großes Designer-Outlet-Center einem Mittelzentrum wie Soltau entsprechend seiner Bedeutung als Zentralem Ort zu-geordnet werden kann (Plansatz 1). Problematisch erscheint wei-

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ter, ob sich ein Projekt mit einer Verkaufsfläche von 20.000 m² aus dem zentralörtlichen Versorgungspotenzial, den vorhande-nen Versorgungseinrichtungen und der gemeindlichen Zentren-struktur von Soltau bestimmen lässt (Plansatz 2). Plansatz 4 stellt die Forderung der Ausweisung neuer Flächen für den großflächi-gen Einzelhandel nur an städtebaulich integrierten Standorten auf. Nach Plansatz 5 sind diese in das ÖPNV-Netz einzubinden. Offen kann auch bleiben, ob das geplante Vorhaben der zen-tralörtlichen Versorgungsfunktion und dem Verflechtungsbe-reich des jeweiligen Zentralen Ortes entspricht (Plansatz 6) und ob durch das Vorhaben nicht ausgeglichene Versorgungsstruktu-ren und deren Verwirklichung, die Funktionsfähigkeit von Zen-tralen Orten und von integrierten Versorgungsstandorten sowie die verbrauchernahe Versorgung der Bevölkerung wesentlich beeinträchtigt werden (Plansatz 7). Diese raumordnungsrecht-lichen Fragen bedürfen keiner weiteren Klärung angesichts der für Hersteller-Direktverkaufszentren in Satz 11 getroffenen Son-derregelung. Danach ist die raumordnungsrechtliche Zulässig-keit derartiger Einzelhandelsgroßprojekte von ihrer besonderen Ausprägung und Funktion an zwei Voraussetzungen gebunden: Sie sind – erstens – nur in Oberzentren und – zweitens – nur an städtebaulich integrierten Standorten zulässig. Dass das geplan-te Designer-Outlet-Center Soltau mit einer Verkaufsfläche von 20.000 m² danach raumordnungsrechtlich unzulässig ist, bedarf keiner weiteren Begründung. Die Unvereinbarkeit des Vorha-bens mit diesem Plansatz wird – soweit ersichtlich - auch weder von der Stadt Soltau noch vom Vorhabenträger konkret in Zwei-fel gezogen. Bei Soltau handelt es sich nach den entsprechenden Vorgaben unter C 1.6 01 LROP II 1994 um ein Mittelzentrum und nicht um ein Oberzentrum. Mit der Ansiedlung im Ortsteil Harber von Soltau in unmittelbarer Nähe zur Autobahnauffahrt Soltau-Ost kann auch nicht von einem integrierten Standort ausgegangen werden. Bei städtebaulich integrierten Standorten handelt es sich nur um solche, die in einem engen, jedenfalls in einem näheren räumlichen und funktionalen Zusammenhang mit den zentralen Einkaufs- und Dienstleistungsbereichen der Standortgemeinde stehen. Darüber hinaus sind diese Standorte in das ÖPNV-Netz einzubinden.

Der Senat bewertet Satz 11 auch als ein der planerischen Abwä-gung nicht zugängliches Ziel der Raumordnung entsprechend den Vorgaben der Rechtsprechung des Bundesverwaltungs-gerichts (dazu in letzter Zeit nur BVerwG, Urt. v. 15.5.2003 – 4 CN 9.01 -, DVBl. 2003, 1456 = NVwZ 2003, 1263 = ZfBR 2003, 776 = BauR 2003, 1679 = BVerwGE 118, 181 = BRS 66 Nr. 4; Urt. v. 17.9.2003 – 4 C 14.01 -, DVBl. 2004, 239 = ZfBR 2004, 171 = NVwZ 2004, 220 = BauR 2004, 443 = BVerwGE 119, 25 = BRS 66 Nr. 1). Ein erklärtes Ziel der Änderung des Landesraumordnungs-programmes Niedersachsen 1994 durch die Änderungsverord-nung vom 28. November 2002 ist – neben den Regelungen zur Steuerung von Tierhaltungsanlagen und zur Sicherung von Roh-stoffgewinnungsflächen – die raumordnungsrechtliche Steu-erung von Einzelhandelsgroßprojekten. Den LT-Drs. 14/3380, Seite 17 ff. sind u.a. die folgenden Erwägungen des Gesetz- bzw. Verordnungsgebers zu entnehmen:

„Der klein- und mittelständische Einzelhandel in Deutsch-land ist vielfachen Änderungen und Trends unterworfen. Neben der zunehmenden Filialisierung und der Tendenz zu immer grö-ßerflächigen Einzelhandelsformen hat der Drang zu Standorten auf der sog. „Grünen Wiese“ die Versorgungsstrukturen und Wettbewerbsbedingungen in den Zentren negativ beeinflusst. Diese anhaltenden Entwicklungen sowie das Auftreten neuer Vertriebsformen (Factory-Outlet-Center, Urban-Entertainment-Center, E-commerce) erhöhen den Druck auf die traditionellen Handelsstrukturen und lassen dabei den Handelsstandort „In-nenstadt“ zunehmend in Bedrängnis geraten.

Leitvorstellung der Raumordnung ist ein attraktiver und funk-tionsfähiger Handelsplatz „Innenstadt“. Planungen im großflä-chigen Einzelhandel sind daran zu messen, inwieweit sie sich auf die Funktionsfähigkeit von Innenstädten, Stadtteilzentren und Ortskernen auswirken. Zwei wesentliche Beurteilungskriterien sind dabei

– die Lage in oder die räumliche Zuordnung zur Innenstadt, zu Stadtteilzentren oder Ortskernen sowie

– das Verkaufs- oder Angebotssortiment.

Einzelhandelsgroßprojekte mit innenstadtrelevanten Kern-sortimenten sind grundsätzlich nur an städtebaulich integrier-ten Standorten zentrenverträglich zu gestalten. ...

Die Raumordnung unterstützt städtebauliche Programme und Aktivitäten zur Vitalisierung der Innenstädte und fordert die Be-reitschaft der Kommunen ein, die Innenstädte in ihrer Vielfalt, Lebendigkeit und Attraktivität – insbesondere auch für den Ein-zelhandel – zu erhalten und weiterzuentwickeln. Dazu gehören neben der Bereitstellung von Ansiedlungsflächen für den Einzel-handel in zentralen Lagen eine gute Erreichbarkeit mit einem leistungsfähigen ÖPNV sowie ein attraktives Parkmanagement für den individuellen Verkehr. Zu mehr Chancengleichheit zwi-schen innerstädtischen Zentren und der „Grünen Wiese“ kön-nen auch kundenfreundlichere Ladenöffnungszeiten zuguns-ten der City-Lagen beitragen. Für die notwendige Bündelung der verschiedenen Strategien und Maßnahmen zur Stärkung der Innenstädte und ihrer Einzelhandelsfunktionen bieten sich als kooperative Ansätze Einzelhandelskonzepte sowie das City- und Stadtmarketing an. ...

Hersteller-Direktverkaufszentren sind die aktuellste Form einer umfassenden Entwicklung im Handel und Freizeitsektor zu im-mer größeren Einkaufs- und Erlebniszentren. Die Ansiedlungs-ersuche richten sich vorrangig auf Standorte auf der „Grünen Wiese“ in der Nähe von Autobahnanschlüssen oder –raststätten, in der Nähe touristischer Zentren sowie in Zwischenlagen von großen Verdichtungsräumen. Dorthin sollen Käuferschichten aus einem Einzugsbereich von bis zu 200 km oder bis zu zwei Au-tostunden angezogen werden. Zur Attraktivitätssteigerung wer-den die Zentren durch Gastgewerbe, Freizeiteinrichtungen und traditionellen Einzelhandel abgerundet.

Durch eine solche Entwicklung von Hersteller-Direktverkaufs-zentren zwischen den Oberzentren auf der „Grünen Wiese“ fän-de eine räumliche Umlenkung des Handels in isolierte künstli-che Zentren statt, die zu Lasten

– des innerstädtischen, noch überwiegend mittelständisch strukturierten Einzelhandels, insbesondere des Fachhandels, in den Mittel- und Oberzentren und

– der Innenstädte als Einkaufs-, Kultur- und Erlebnismittel-punkt der städtischen und ländlichen Bevölkerung gehen wür-den. Darüber hinaus bestehen gegen solche Standorte erhebliche Bedenken wegen des hohen zusätzlichen Pkw-Verkehrsaufkom-mens und der Zersiedelung der Landschaft.

Angesichts der besonderen Ausprägung von Hersteller-Direkt-verkaufszentren, ihren zentrenrelevanten Sortimentsstruktur und der Reichweite ihres Einzugsbereichs kommen für solche Vorhaben nur Standorte in Oberzentren in Betracht. Die Vorha-ben dürfen eine städteverträgliche Größe nicht überschreiten und sind an städtebaulich integrierten Standorten anzusiedeln. Soweit künftig Hersteller-Direktverkaufszentren auch in geringe-rer Größe und Sortimentsbreite betrieben werden sollten, käme als Standort auch ein Mittelzentrum mit oberzentralen Teilfunk-tionen in Frage.“

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Diese Erwägungen tragen die raumordnerische Entscheidung des Verordnungsgebers für die Zulässigkeit der Ansiedlung von Hersteller-Direktverkaufszentren nur in Oberzentren an städte-baulich integrierten Standorten.

Der Senat geht entgegen den von der Stadt Soltau vorgetrage-nen Gesichtspunkten von einer verfahrensrechtlich und ma-teriell-rechtlich nicht zu beanstandenden Abwägungsent-scheidung des Verordnungsgebers aus.

Dies gilt zunächst insoweit, als die Stadt Soltau in § 6 Abs. 4 Satz 1 des Niedersächsischen Gesetzes über Raumordnung und Landesplanung (NROG) vom 18. Mai 2001 (GVBl. S. 301) eine unzureichende Ermächtigungsgrundlage rügt. Diese Auffassung teilt der Senat nicht. Zwar ist zutreffend, dass diese Vorschrift zunächst nur regelt, dass die Landesregierung Teil II des Lan-des-Raumordnungsprogramms als Verordnung beschließt und gerade in dieser im LROP II 2002 als Ermächtigungsgrundlage angeführten Bestimmung weitere Einzelheiten bzw. Konkre-tisierungen von möglichen raumordnungsrechtlichen Rege-lungsinhalten nicht erwähnt bzw. umschrieben sind. Es ist aber verfehlt, § 6 Abs. 4 Satz 1 NROG nur isoliert für sich zu betrach-ten. Seine Anführung als Ermächtigungsgrundlage ist vielmehr im Zusammenhang mit weiteren Vorschriften des NROG bzw. des Raumordnungsgesetzes des Bundes (ROG) zu sehen. Nach § 1 Abs. 1 NROG soll die Raumordnung die nachhaltige Ent-wicklung des Landes und seiner Teile unter Beachtung der na-turräumlichen und sonstigen Gegebenheiten und unter Berück-sichtigung der Anforderungen zur Sicherung des Schutzes, der Pflege und der Entwicklung der natürlichen Lebensgrundlagen sowie der sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Erfordernis-se in einer Weise fördern, die der Gesamtheit und dem Einzel-nen am besten dient. Nach Abs. 2 dieser Bestimmung ist Aufgabe der Landesplanung die Aufstellung von Raumordnungsplänen sowie die Abstimmung raumbedeutsamer Planungen und Maß-nahmen. Dabei sind die Entwicklungsmöglichkeiten des Landes und seiner Teilräume sowie die unterschiedlichen fachlichen Belange unter Beachtung der dauerhaften Sicherung der natür-lichen Lebensgrundlagen gegeneinander abzuwägen und mit-einander in Einklang zu bringen. Gemäß § 3 Abs. 1 Satz 1 sind die Grundsätze gemäß § 2 Abs. 3 des Raumordnungsgesetzes (ROG) und die Ziele der Raumordnung in Raumordnungsplänen (Landes-Raumordnungsprogramm/Regionale Raumordnungs-programme) in beschreibender und zeichnerischer Darstellung festzulegen. In Raumordnungsplänen sind Ziele als solche zu kennzeichnen. Ziele der Raumordnung werden auch in § 5 Abs. 2 und Abs. 3 NROG angesprochen. Für die Landesplanung maßgebliche Grundsätze der Raumordnung werden sodann um-fänglich in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 15 ROG aufgelistet. Darunter zählt namentlich das System leistungsfähiger Zentraler Orte als Träger teilräumlicher Entwicklung (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 und Nr. 6 ROG). Die Gesamtsicht der angeführten Bestimmungen lässt Zweifel an ei-ner hinreichenden Ermächtigungsgrundlage nicht zu.

Der Senat teilt auch nicht die vorgetragenen Bedenken an einer vermeintlich räumlich und sachlich nicht hinreichend bestimmten Festlegung. Das NROG spricht von „raumbedeutsa-men“ Planungen (§§ 1 Abs. 2 Satz 1, 2 Abs. 2 NROG). Der Senat hat keine Zweifel daran, dass Hersteller-Direktverkaufszentren jedenfalls ab einer bestimmten Größenordnung eine derartige Raumbedeutsamkeit zukommt. Weist ein Hersteller-Direktver-kaufszentrum – wie hier – eine Verkaufsfläche von 20.000 m² auf, ist die Schwelle der Raumbedeutsamkeit eindeutig über-schritten. Dies vermitteln auch die im Erläuterungsbericht zum Flächennutzungsplan angeführten Einzugsbereiche. Soweit die Auffassung vertreten wird, dass aus dem Wort „räumlich“ zugleich folge, dass ein LROP auch nur bestimmte Flächenteile

eines Landes erfassen dürfe, gibt dies schon der im NROG ver-wendete Begriff der Raumbedeutsamkeit nicht her. Es mag sein, dass sich bestimmte raumbedeutsame Planungen häufig, mögli-cherweise sogar in der Vielzahl der Fälle, auf bestimmte örtliche Gegebenheiten stützen wie etwa die mit dem LROP 2002 auch gesicherten Rohstoffvorkommen. Es gibt aber auch raumord-nungsrechtliche Erscheinungsformen, die abstrakt gewisserma-ßen flächendeckend auftreten können und deswegen auch einer abstrakten landesweiten Regelung zugänglich sind bzw. sein müssen. Dazu zählt auch die Steuerung von großflächigen Her-steller-Direktverkaufszentren.

Der Senat erkennt auch keinen unvereinbaren Widerspruch zu der in Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG gewährleisteten Planungsho-heit der Gemeinden. Die rechtlichen Vorgaben, insbesonde-re die von den Beteiligten mit unterschiedlicher Gewichtung angeführte sog. Stufenfolge bzw. Planungshierarchie, ist vom Bundesverwaltungsgericht in seinem Grundsatzbeschluss vom 20. August 1992 (4 NB 20.91 - DVBl. 1992, 1438 = NVwZ 1993, 167 = ZfBR 1992, 280 = BVerwGE 90, 329 = BRS 54 Nr. 12) wie folgt umschrieben worden: ...

Der Senat sieht diese Vorgaben bei der angegriffenen Ziff. C 1.6 03 Satz 11 des LROP II 2002 als gewahrt. So ist zu-nächst das in den §§ 6 Abs. 2, 9 NROG umschriebene Beteili-gungsverfahren ordnungsgemäß durchgeführt worden. Den LT-Drs. 14/3380, Seite 4 und den vom Senat beigezogenen um-fassenden Vorgängen (28 Aktenordner) ist zu entnehmen, dass der Entwurf des Landes-Raumordnungsprogrammes den Trä-gern der Regionalplanung, den kommunalen Spitzenverbänden sowie den kommunalen Gebietskörperschaften einschließlich den einzelnen Gemeinden bzw. Samtgemeinden, den Umwelt-verbänden, den Kammern und Vereinigungen der Industrie und des Handels, den obersten und den nachgeordneten Bundesbe-hörden, den Nachbarländern und den übrigen öffentlichen Pla-nungsträgern, deren Aufgabenbereich für die Landesentwick-lung von Bedeutung ist, zur Stellungnahme vorgelegen hat. Die in das Beteiligungsverfahren eingebrachten Anregungen und Bedenken haben zur Entscheidung der Landesregierung geführt, das Beteiligungsverfahren für die Teile auszusetzen, die sich mit der räumlichen Struktur, insbesondere mit den Regelungen zu den Zentralen Orten, zentralörtlichen Funktionen und zur raumstrukturellen Entwicklung befassen. Insoweit wurde noch grundsätzlicher Diskussionsbedarf festgestellt. Gerade die Stadt Soltau hat auch unter dem 18. Juni 2001 ihre Stellungnahme ein-gebracht. Darin hat sie sich u.a. gegen den in Satz 11 vorgesehe-nen Plansatz gewendet. In integrierter Lage seien in Soltau keine ausreichend großen, ausreichend erschlossenen und ausrei-chend günstigen Flächen verfügbar. Die Beschränkung von Neu-ansiedlungen auf integrierte Lagen diene ausschließlich dazu, Neuansiedlungen in Mittelzentren unmöglich zu machen. Es sei ein Trugschluss, dass mit einem derartigen Ziel der Einzelhan-del der Innenstädte nachhaltig gesichert und entwickelt werden könne. Es müsse dabei bleiben, dass im Wege der Einzelfallprü-fung durch raumordnerische Beurteilung und kommunale Bau-leitplanung Standortfragen für derart elementare Ausstattungen Zentraler Orte geklärt würden. Die Landesordnung müsse sich in dieser Frage mangels Ortskenntnis zurückhalten. Die im Beteili-gungsverfahren eingegangenen Anregungen und Bedenken sind mit den Beteiligten in insgesamt fünf Erörterungsterminen im Oktober/November 2001 gemäß § 6 Abs. 2 Satz 4 NROG erörtert worden. Darunter fand am 25. Oktober 2001 ein Erörterungster-min in Walsrode statt, an dem auch ausweislich der Ergebnis-niederschrift über den Erörterungstermin sowohl Vertreter der Stadt Soltau als auch des Landkreises Soltau-Fallingbostel teil-genommen haben. Durch diese Vorgehensweise hat der Verord-nungsgeber auch der Stadt Soltau die Möglichkeit eröffnet, auf

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die Ausgestaltung der Landesplanung Einfluss zu nehmen und ihre eigenen Vorstellungen zur Geltung zu bringen. Ein Mehr an „Beteiligung“ kann die Stadt Soltau nicht erwarten bzw. recht-lich mit Erfolg geltend machen. Dass die Einwendungen der Stadt Soltau nicht zu dem von ihr gewünschten Ergebnis geführt haben, ändert nichts an der Feststellung, dass von einem ord-nungsgemäßen Beteiligungsverfahren auszugehen ist.

Der Auffassung der Stadt Soltau, dass die dem Verordnungs-geber bekannte besondere planungsrechtliche Situation hin-sichtlich des Designer-Outlet-Centers einen ausdrücklichen Abwägungsvorgang gerade im Hinblick auf ihre Belange und das von ihr geplante Projekt nicht nur hätten erwarten lassen, sondern dies sogar gefordert hätten, ist nicht zu folgen. Zwar hätte es dem Verordnungsgeber möglicherweise freigestanden, bei der „Zusammenstellung der im Beteiligungsverfahren vorge-brachten wesentlichen Anregungen, Hinweise und Bedenken“ (LT-Drs. 14/3380, S. 31 ff.) auch und gerade die Interessen der Stadt Soltau gesondert zu erwähnen bzw. zu würdigen. Dass der Verordnungsgeber dies nicht getan hat, macht seine Vorgehens-weise aber keineswegs angreifbar bzw. fehlerhaft. Gegenteilig hätte dann der Vorwurf eines „lex Soltau“ eher erhoben werden können. Die Forderung nach einer detaillierten Wiedergabe von einzeln vorgebrachten Anregungen und Bedenken unter Erwähnung auch des jeweiligen Bedenkenträgers würde auch den Begründungsaufwand für die niedersachsenweit geltende Verordnung ins Uferlose treiben. Es ist ausreichend und durch-aus sachangemessen, dass der Verordnungsgeber die vorgetra-genen Bedenken in (eher) abstrakter bzw. gebündelter Art und Weise bewertet und abgewogen hat. Ausweislich der in den LT-Drs. 14/3380, S. 31 ff. niedergelegten Erwägungen hat dies der Verordnungsgeber in nicht zu beanstandender Weise getan. Dies gilt auch und gerade für die von der Stadt Soltau vorgetragenen Bedenken, die sehr wohl inhaltlich angesprochen werden.

Nach der Bewertung des Senats überschreitet der Verord-nungsgeber mit Plansatz 11 nicht die ihm durch die kommunale Planungshoheit gesetzten Grenzen. Der Senat stützt sich dabei – zum einen – auf die oben niedergelegten Erläuterungen in den LT-Drs. 14/3380, Seite 17 ff. Diese Erwägungen sind aus rechtli-cher bzw. verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden: Sie sind das Ergebnis einer umfangreichen, auch auf politischen, kommunalpolitischen und wirtschaftlichen Erwägungen be-ruhenden Entscheidung des Gesetz- bzw. Verordnungsgebers. Der Senat sieht sich in seiner Bewertung durch eine jüngere Ent-scheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. September 2003 – 4 C 14.01 – a.a.O. gestützt. ...

Das Bundesverwaltungsgericht hat mit seinen Ausführungen damit jedenfalls das Konzentrationsgebot, das Integrationsge-bot und vom Grundsatz her die Anknüpfung der Zulässigkeit von großflächigen Einzelhandelsbetrieben an Zentrale Orte und damit das Zentrale-Orte-System anerkannt, und dies sogar unter Zugrundelegung der insbesondere von Hoppe angegriffe-nen „Regel-Ausnahme-Struktur“. Dass auch landesplanerische Aussagen, die eine Regel-Ausnahme-Struktur aufweisen, die Merkmale von „Zielen“ der Raumordnung erfüllen können, hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 18. Sep-tember 2003 (4 CN 20.02 – DVBl. 2004, 251 = ZfBR 2004, 177 = NVwZ 2004, 226 = BVerwGE 119, 54) grundsätzlich anerkannt. Zwar lag der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 17. September 2003 – 4 C 14.01 – a.a.O. die oben angeführte lan-desrechtliche Bestimmung für Rheinland-Pfalz mit dem gerade spezifischen Regelungsinhalt der Ziff. 3.4.1.3 vor. Der erken-nende Senat stellt jedoch von dessen Grundstrukturen eine so weitgehende inhaltliche Übereinstimmung mit dem für Nie-dersachsen geltenden Plansatz 11 des LROP II 2002 fest, dass die

Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts auch auf den hier streitigen Plansatz Anwendung finden.

Die Aufnahme eines Plansatzes über die Steuerung von Her-steller-Direktverkaufszentren in das Landesraumordnungs-programm ist auch der Sache nach gerechtfertigt. Dabei geht es letztlich nicht um die marktwirtschaftliche oder politische „Richtigkeit“ dieser Entscheidung, sondern um die u.a. auch im politischen Bereich abwägend zu treffende Entscheidung, wie mit diesem baurechtlichen Phänomen umzugehen ist bzw. aus rechtlicher Sicht umgegangen werden kann. Dass die Beurtei-lung von Einzelhandelsgroßprojekten in Niedersachsen schon seit Jahrzehnten eine besondere Behandlung erfahren hat, ist bereits dem Gemeinsamen RdErl. vom 17. Mai 1977 (NdsMBl. S. 570) zu entnehmen. Darin findet sich die Regelung, dass Ein-zelhandelsgroßprojekte zentrale Einrichtungen im Sinne des Landesraumordnungsprogrammes sind, die grundsätzlich nur in den im Raumordnungsprogramm ausgewiesenen Zentralen Orten nach Vorlage einer gutachterlichen Stellungnahme in Betracht kommen. Bereits der RdErl. vom 21. März 1986 (NdsM-Bl. S. 291) führt sodann die in dem Landesraumordnungspro-gramm 1994 vorausgegangene einschlägige Regelung für Einzel-handelsgroßprojekte als „Ziel der Raumordnung“ wie folgt an:

„Neben den Zielen zur Entwicklung der Gemeinden und zur zentralörtlichen Gliederung legt das Landes-Raumordnungs-programm in Teil II Ziff. C 1.3.03 insbesondere fest:

„Umfang und Zweckbestimmung von Einzelhandelsgroßpro-jekten haben der jeweiligen Stufe der Gemeinden mit zentralört-licher Bedeutung zu entsprechen; durch solche Projekte dürfen ausgeglichene Versorgungsstrukturen nicht wesentlich beein-trächtigt werden“. ...

Der Beschluss der MKRO vom 14. Juni 2000 über „Factory-Outlet-Center (FOC) – Hersteller-Direktverkaufszentren: Infor-mationsaustausch und Abstimmungsnotwendigkeiten“ bekräf-tigt, dass bei der Beurteilung von FOC überwiegend die Kriterien Zentralität, Zentrenverträglichkeit, Beeinträchtigungsverbot und städtebauliche Integration einschließlich ÖPNV-Anbin-dung zugrunde gelegt werden sollten. Es wird angeregt, beste-hende Pläne bei anstehenden Fortschreibungen um konkrete Aussagen zur FOC-Problematik zu ergänzen. Ähnlich empfiehlt der Beschluss vom 3. Dezember 2001 „Factory-Outlet-Center: Gemeinsame Beurteilungskriterien zur Harmonisierung des Verwaltungshandelns“ (abgedruckt B 320 Nr. 38) erneut, bei der Fortschreibung von Raumordnungsplänen und bei der Aktuali-sierung entsprechender Vorschriften, die Beurteilungskriterien für großflächige Einzelhandelseinrichtungen möglichst konkret zu fassen und grenzüberschreitend abzustimmen. Der folgende „Bericht“ führt die Erwartung an, dass die Betreiber von verblei-benden Vorhaben (also außer Wustermark und Zweibrücken) nach Lücken, Nischen oder politischen Druckmitteln suchen würden, die es erlaubten, die landesplanerischen Vorgaben zu umgehen. Um dies zu verhindern, müssten die bisherigen stren-gen Maßstäbe beibehalten werden. Im „Bericht“ (B 320, S. 123) werden sodann die Forderungen aufgestellt, dass

– großflächige Einzelhandelsbetriebe grundsätzlich nur in Zentralen Orten anzusiedeln sind (Zentralität),

– der Einzugsbereich des Vorhabens den Verflechtungsbereich des Zentralen Ortes nicht wesentlich überschreiten darf (Zen-trenverträglichkeit),

– die verbrauchernahe Versorgung der Bevölkerung im Ein-zugsgebiet nicht wesentlich beeinträchtigt werden darf (Beein-trächtigungsverbot, Abschöpfungsquote),

NordÖR 2/2006 75

Rechtsprechung

– eine räumliche Zuordnung zu den vorhandenen Siedlungs-bereichen erfolgen muss (städtebauliche Integration) und

–- eine qualifizierte Anbindung an den ÖPNV vorliegen muss.

Das Niedersächsische LROP 2002 hat diese im politischen Raum aufgestellten Forderungen in seinen neu gefassten Plan-zielen Ziff. 1.6 03 umgesetzt. Der Senat hat im Gegensatz ins-besondere zu der von Hoppe vertretenen Auffassung (vgl. dazu vorrangig das zum Designer-Outlet-Center Soltau erstellte Gut-achten aus dem Jahre 1998; ferner derselbe in: DVBl. 2000, 293, DVBl. 2001, 81 und NVwZ 2004, 282) keine Zweifel, dass der Verordnungsgeber angesichts der im Raum stehenden kommu-nalpolitischen und wirtschaftlichen Forderungen auch sachlich legitimiert ist, mit Satz 11 die hier streitige Sonderregelung für Hersteller-Direktverkaufszentren zu treffen. Nach der Einschät-zung des Senats ist der Verordnungsgeber bei der Formulierung des Plansatzes 11 auch nicht „über das Ziel hinausgeschossen“. Plansatz 11 trägt dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Ver-hältnismäßigkeit – noch – hinreichend Rechnung, soweit die raumordnungsrechtliche Zulässigkeit von Hersteller-Direktver-kaufszentren – erstens – nur in Oberzentren und – zweitens – an städtebaulich integrierten Standorten vorgesehen wird, und zwar als striktes Recht und ohne Anbindung an eine die strikte Bindung einschränkende „Soll-Vorschrift“ oder an denkbare an-dere „aufweichende“ Ausgestaltungen der strikten Zulässigkeits-regelung durch Zusätze wie „grundsätzlich“, „in der Regel“ oder durch die Zulassungsentscheidung ergänzende, mehr oder we-niger bestimmte Ausnahmeregelungen. Dem Verordnungsgeber steht ein breiter Einschätzungs- bzw. Bewertungsspielraum zu, in welcher Form und mit welchem Ergebnis er sich dem baurecht-lichen Phänomen großflächiger Einzelhandelsprojekte bzw. Hersteller-Direktverkaufszentren nähern will. Einen aktuellen Überblick möglicher Entscheidungsansätze vermittelt die Auf-listung der derzeit in der Bundesrepublik Deutschland gelten-den Landesraumordnungsprogramme in Schmitz/Federwisch, Einzelhandel und Planungsrecht, 2005, S. 41 bis 53. Die Band-breite raumordnungsrechtlicher Lösungen reicht von eher kurz gefassten Plansätzen wie in Berlin-Brandenburg oder Nordrhein-Westfalen zu insbesondere den in jüngeren Raumordnungspro-grammen eingeschlagenen Weg der raumordnungsrechtlichen Steuerung von Einzelhandelsprojekten durch detailliertere und umfangreiche Einzelregelungen. Dem niedersächsischen Ver-ordnungsgeber ist es nicht verwehrt, Hersteller-Direktverkaufs-zentren nur in Oberzentren und an städtebaulich integrierten Standorten zuzulassen. Die Entscheidung, die raumordnungs-rechtliche Zulässigkeit nicht etwa auf Mittelzentren zu erweitern oder die Zulässigkeitsvorgabe „nur in Oberzentren“ durch Aus-nahmeregelungen abzuschwächen, ist nicht zu beanstanden. Diese Regelung führt im Ergebnis auch nicht dazu, dass derar-tige Projekte in Niedersachsen praktisch nicht mehr realisiert werden können. Hersteller-Direktverkaufszentren können wei-terhin in Oberzentren errichtet werden, wenn sie die zusätzliche Forderung einer integrierten Lage erfüllen. Das Beispiel der Stadt Wolfsburg, seit 2002 ein Oberzentrum, zeigt auf, dass in Nieders-achsen offensichtlich auch weiterhin Einzelhandelsgroßprojek-te verwirklicht werden können. Der im Verfahren 1 KN 108/05 übersandten Aufstellung der GMA – Gesellschaft für Markt- und Absatzforschung - über Factory-Outlet-Center in Europa, Stand: Juni 2005 (abrufbar auf der GMA-Homepage http://www.gma.biz) ist zu entnehmen, dass die Stadt Wolfsburg am sog. Nord-kopf ein Factory-Outlet-Center mit 17.000 m² Verkaufsfläche an-siedeln will. Der Baubeginn soll im Sommer 2006 erfolgen. Die Eröffnung ist für das Frühjahr 2007 geplant. Angeführt werden weiter die Standorte Isernhagen und Helmstedt, wobei deren Re-alisierbarkeit allerdings nicht näher aufgezeigt wird.

Die vom Verordnungsgeber für Hersteller-Direktverkaufszent-ren getroffene Sonderregelung ist auch deswegen nicht zu bean-standen, weil der Plansatz 11 in ein umfassendes Programm für Vorhaben des großflächigen Einzelhandels eingebettet ist. Unter den in Ziff. C 1.6 03 Satz 1 bis 10 aufgelisteten Zielen der Raum-ordnung werden zunächst - teilweise allgemeinere – Zulässig-keitskriterien für großflächige Einzelhandelsbetriebe angeführt, um dann für Hersteller-Direktverkaufszentren die strikte Forde-rung aufzustellen, dass diese Vorhaben nur in Oberzentren und an städtebaulich integrierten Standorten zulässig sind. Darin spiegelt sich eine vom Verordnungsgeber getroffene gestufte Re-gelung bzw. Abwägung wider. Hinzuweisen ist in diesem Zusam-menhang auch auf den Umstand, dass Plansatz 11 als eine Re-aktion des Landesraumordnungsgebers auf die Diskussion über die Bestimmtheit bzw. Bestimmbarkeit des vorangegangenen Plansatzes C 1.6 04 des Landesraumordnungsprogrammes 1994 zu verstehen ist. Der Verordnungsgeber wollte erklärterweise einer weiteren Diskussion mit einer strikten und eindeutigen Regelung für Hersteller-Direktverkaufszentren begegnen. Der Senat sieht keinen Raum dafür, die Vorgehensweise des Verord-nungsgebers und das gefundene Abwägungsergebnis zu bean-standen. Ergänzend weist der Senat in diesem Zusammenhang auf das in § 11 NROG geregelte Zielabweichungsverfahren hin. Nach Abs. 1 dieser Vorschrift kann im Einvernehmen mit den fachlich berührten Stellen sowie im Benehmen mit den betroffe-nen Gemeinden die Abweichung von einem Ziel der Raumord-nung zugelassen werden, wenn die Abweichung unter raumord-nerischen Gesichtspunkten vertretbar ist und die Grundzüge der Planung nicht berührt werden. Ein derartiges Zielabweichungs-verfahren ist – wie von den Vertretern der Landesplanungsbe-hörde in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat angespro-chen – grundsätzlich auch für Hersteller-Direktverkaufszentren eröffnet. Damit sieht zwar Plansatz C 1.6 03 Satz 11 LROP 2002 eine strikte Bindung für Hersteller-Direktverkaufszentren vor, § 11 Abs. 1 NROG eröffnet aber davon abweichende Lösungs-möglichkeiten.

Die obige Wiedergabe der gefassten Beschlüsse und Ent-schließungen haben sich im öffentlichen Raum abgespielt. Die Kenntnis derartiger Geschehensabläufe muss sich daher die planende Stadt Soltau unschwer zurechnen lassen, weil der in-sofern anzulegende gesteigerte Anforderungsmaßstab nicht in der Laiensphäre des normalen Bürgers angesiedelt ist, sondern in der von vornherein zu unterstellenden Fachkunde einer leis-tungsfähigen, mit den Funktionen eines Mittelzentrums ver-sehenen, zumal fach- und spezialanwaltlich beratenen Stadt (so ähnlich Erbguth, NVwZ 2000, 969 (974)). Der Senat spricht diesen Hintergrund ausdrücklich an, um die jedenfalls unter-schwellig angesprochene, gewisse Schutzlosigkeit der Stadt Sol-tau auszuräumen. Die Stadt Soltau ist von den Änderungen des LROP 2002 nämlich keineswegs etwa unvorbereitet getroffen worden. Die Fortschreibung und Präzisierung der entsprechen-den Planaussage des LROP 1994 durch Satz 11 des LROP 2002 ist vielmehr das Ergebnis einer langjährigen und durch politische Beschlüsse umfänglich sich ankündigenden bzw. vorbereiteten verordnungsrechtlichen Entscheidung. Die Stadt Soltau hat ihre Planungen nicht nur in Kenntnis möglicher Risiken der raum-ordnungsrechtlichen Beurteilung unter dem Blickwinkel von C 1.6 04 LROP II 1994 fortgeführt, sondern diese auch unter der Regie des LROP II 2002 weder aufgegeben noch angepasst. Für Erwägungen des Vertrauensschutzes ist daher kein Raum.

c) Das LROP II 2002 und nicht das vorausgegangene LROP II 1994 kommt auch im Genehmigungsverfahren für die 26. Änderung des Flächennutzungsplanes der Stadt Sol-tau zur Anwendung. Zwar ist das LROP II 2002 erst am Tage nach der Verkündung im Niedersächsischen Gesetz- und Ver-

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Rechtsprechung

ordnungsblatt am 10. Dezember 2002 in Kraft getreten, also zu einem Zeitpunkt weit nach dem vom Rat der Stadt Soltau getrof-fenen Beschluss über die 26. Änderung des Flächennutzungs-planes bzw. den Satzungsbeschluss für den vorhabenbezogenen Bebauungsplan Nr. 2 am 12. Juli 2000 und auch noch weit nach dem angegriffenen Bescheid vom 23. Januar 2001. Abzustellen für die rechtliche Beurteilung ist aber auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung, hier also dem 1. September 2005.

Seit Jahren wird in Rechtsprechung und Literatur kaum eine Frage kontroverser diskutiert als diejenige, welcher Zeitpunkt für die Beurteilung des Klageantrages der Entscheidung eines Ge-richts zugrunde zu legen ist. Die früher überwiegend vertretene Auffassung, bei der Anfechtungsklage sei von dem Zeitpunkt des Erlasses der letzten Verwaltungsentscheidung (Widerspruchsbe-scheid), bei der Verpflichtungsklage dagegen von dem Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung bei Gericht auszugehen, ist inzwischen stark differenzierenden Meinungen gewichen. In-zwischen ist mehr oder weniger allgemein anerkannt, dass es vor-rangig auf die jeweilige materiell-rechtliche Regelung ankommt als auch auf die prozessuale Frage, auf was das eigentliche Kla-gebegehren eines Klägers gerichtet ist (zum Streitstand vgl. nur Redeker/von Oertzen, VwGO, Kommentar, 14. Aufl. 2004, § 108 Rdn. 16 ff. m.z.N.). Die vielfältigen Bemühungen in der Litera-tur um eine Systematik bzw. um die Herausarbeitung allgemein gültiger Kriterien führen deshalb allenfalls auch nur begrenzt weiter. Im Flächennutzungsplan-Änderungsverfahren begehrt die Stadt Soltau zwar zunächst auch die Aufhebung des Ableh-nungsbescheides der Bezirksregierung Lüneburg vom 23. Januar 2001; sie macht insoweit also ein Anfechtungsbegehren geltend. Ihr eigentliches Klageziel ist aber – von der Besonderheit der Feststellung der hier nicht zuzusprechenden Fiktivgenehmi-gung abgesehen - die Erteilung der Genehmigung für die 26. Än-derung des Flächennutzungsplanes. Diese Klageziel ist nur mit der Verpflichtungsklage durchzusetzen. Die Erteilung der Ge-nehmigung beruht auf § 6 Abs. 1 BauGB. Es liegt insoweit nahe, nach Lösungen für den maßgeblichen Zeitpunkt zunächst im BauGB oder in verwandten Gesetzen, also dem NROG oder dem ROG, zu suchen. Im BauGB bieten sich Lösungsansätze zunächst in § 214 Abs. 3 Satz 1 BauGB an. Danach ist für die Abwägung die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der Beschlussfassung über den Flächennutzungsplan oder über die Satzung maßgeblich. Weiter regelt die allgemeine Überleitungsvorschrift des § 233 Abs. 1 BauGB, dass Verfahren nach dem BauGB, die vor dem Inkrafttreten einer Gesetzesänderung förmlich eingeleitet wor-den sind, auch nach den bisher geltenden Rechtsbestimmungen abgeschlossen werden sollen. Schließlich sieht die Überleitungs-vorschrift des § 23 Abs. 1 ROG vor, dass in den Fällen, in denen mit der Einleitung, Aufstellung, Änderung, Ergänzung oder Aufhebung einer raumbedeutsamen Planung oder Maßnahme vor dem 1. Januar 1998 begonnen worden ist, die Vorschriften des Raumordnungsgesetzes in der vor dem 18. August 1997 gel-tenden Fassung weiter anzuwenden sind. Die Beteiligten haben sich – jeweils von ihrer Interessenlage ausgehend – einerseits dafür ausgesprochen, dass auf den Zeitpunkt der Beschlussfas-sung abzustellen sei (so die Stadt Soltau und der Vorhabenträ-ger), andererseits der Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung maßgeblich sei (so die beteiligten Ministerien und die Städte Lüneburg, Rotenburg und Verden). Der Senat sieht keine der an-geführten Erwägungen als überzeugend an. Gegen die Anwen-dung des § 214 Abs. 3 Satz 1 BauGB spricht die Beschränkung seines Anwendungsbereiches auf Fragen der Abwägung, gegen die Anwendung des § 233 Abs. 1 BauGB seine Beschränkung auf Änderungen des Baugesetzbuches. Auch Rückschlüsse aus § 23

Abs. 1 ROG sind nicht zwingend, da sich hier Fragen des BauGB und des ROG überschneiden.

Einen – ersten – Ansatz zur Lösung der aufgeworfenen Frage bietet das Urteil des Senats vom 9. Juni 1976 (I A 10/76 – BRS 30 Nr. 10). Dem Leitsatz dieser Entscheidung ist zu entnehmen, dass Bauleitpläne nicht nur im Zeitpunkt der Beschlussfassung durch die Gemeinde, sondern auch noch später an die Ziele der Raumordnung und Landesplanung angepasst sein müssen. Der Senat hat dies wie folgt begründet: ...

Einen – zweiten – Ansatz eröffnet der Beschluss des Senats vom 7. März 2002 (1 MN 3976/01 – a.a.O.), in dem auch der Zeitpunkt des Wirksamwerdens des Bebauungsplanes mit der folgenden Begründung als maßgeblich zugrunde gelegt worden ist:

„Jedenfalls in der Gestalt des Regionalen Raumordnungspro-gramms des Großraums H. von 1996 stehen der 1. Planänderung aller Voraussicht nach Ziele i.S. des § 1 Abs. 4 BauGB entgegen, und zwar unabhängig davon, ob man dieses Regionale Raum-ordnungsprogramm in der Fassung seiner 3. Änderung oder in der Fassung zugrunde legt, welche es im Rahmen der 4. Ände-rung im Jahre 2001 erhalten hat. Richtiger wird es aller Voraus-sicht nach sein, die letzte Fassung zugrunde zu legen, welche die Verbandsversammlung des Kommunalverbandes Großraum H. am 27. Juni 2001 als Satzung beschlossen und im Amtsblatt des Regierungsbezirks H. Nr. 22 am 24. Oktober 2001 ortsüblich bekannt gemacht hat. Die Rechtsauffassung der Antragsgegne-rin und der Beigeladenen, dies könne der angegriffenen 1. Än-derung des Bebauungsplanes nicht entgegengehalten werden, weil dieser schon am 18. Oktober 2001 als Satzung beschlossen worden sei, wird aller Voraussicht nach nicht durchdringen können. Denn bei der Prüfung, ob ein Bauleitplan den Zielen der Raumordnung angepasst ist, ist auf den Zeitpunkt des Wirk-samwerdens (§ 10 Abs. 3 BauGB) und nicht auf den Zeitpunkt der Beschlussfassung abzustellen, da die Anpassungspflicht kein Element der Abwägung ist (so zutreffend Brügelmann-Gierke, § 1 Rdn. 444).“

Beide genannten Entscheidungen des Senats erschöpfen aber nicht den eröffneten Problemkreis. Der Senat hat sich nach weiteren Argumentationshilfen umgesehen und diese im Rah-men des § 214 Abs. 3 Satz 1 BauGB in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum rückwirkenden Inkrafttreten von ursprünglich fehlerhaften Bebauungsplänen gefunden. Die Besonderheit des Genehmigungsverfahrens der 26. Änderung des Flächennutzungsplanes der Stadt Soltau liegt darin, dass zwischen dem Ratsbeschluss am 12. Juli 2000 einerseits und der Entscheidung des Senats über die Genehmigungsfähigkeit die-ser Änderung am 1. September 2005 andererseits ein Zeitraum von über fünf Jahren liegt. Allein der Ablauf dieser Zeitspanne ist für sich grundsätzlich unbedenklich. Rechtliche Proble-me ergeben sich erst dann, wenn innerhalb dieser Zeitspanne – wie hier – eine Änderung der maßgeblichen Rechtslage ein-tritt. Zum Zeitpunkt des Ratsbeschlusses war hinsichtlich der raumordnungsrechtlichen Beurteilung von großflächigen Ein-zelhandelsprojekten noch auf die Plansätze C 1.6 04 LROP II 1994 abzustellen. Zum 1. September 2005 sind die neu gefassten Plansätze C 1.6 03 LROP II 2002 maßgeblich. Zum Zeitpunkt des Ratsbeschlusses vom 12. Juli 2000 konnte die Stadt Soltau die Vorgaben des Plansatzes 11 LROP II 2002 noch gar nicht berück-sichtigen, sie konnte ihre Bauleitplanungen an diesen Plansatz damit auch nicht „anpassen“. Ab dem Zeitpunkt des Inkrafttre-tens des LROP II 2002, also dem 10. Dezember 2002 gilt dagegen – grundsätzlich – das Anpassungsgebot.

Den Spagatschritt zwischen einerseits Vertrauens- und gewis-sermaßen Bestandsschutz für „nun einmal beschlossene“ Bau-

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Rechtsprechung

leitpläne und andererseits dem bei bestimmten Gegebenheiten bestehenden Erfordernis einer nachträglichen Berücksichtigung einer veränderten Sach- und Rechtslage hat das Bundesverwal-tungsgericht in seinem Beschluss vom 3. Juli 1995 (4 NB 11.95 – ZfBR 1995, 319 = NVwZ 1996, 374 = BRS 57 Nr. 29 = UPR 1995, 441) mit dem folgenden Leitsatz aufgelöst:

„Soll ein wegen eines Verfahrensfehlers nach dem Satzungs-beschluss (hier: wegen fehlerhafter Ausfertigung) nicht wirk-sam zustande gekommener Bebauungsplan gemäß § 215 Abs. 3 durch Wiederholung des nachfolgenden Verfahrens in Kraft ge-setzt werden, so besteht für die Gemeinde, je mehr Zeit seit der ursprünglichen Beschlussfassung inzwischen vergangen ist, um so eher Anlass zu prüfen und zu entscheiden, ob Änderungen der Sach- und Rechtslage die ursprüngliche Abwägung so grundle-gend berühren können, dass eine neue Sachentscheidung durch eine aufgrund der jetzigen Sach- und Rechtslage zu treffenden Abwägung geboten ist. Eine neue Sachentscheidung in diesem Sinne ist nicht bei jeglicher Veränderung abwägungserheblicher Belange erforderlich. Das Vertrauen in die Wirksamkeit der Bau-leitplanung kann es rechtfertigen, von einer erneuten Sachent-scheidung abzusehen.“

Wann eine Gemeinde einen Bebauungsplan „nicht sehenden Auges” in Kraft setzen darf, hat das Bundesverwaltungsgericht in späteren Entscheidungen präzisiert. Nach seinem Beschluss vom 18. Dezember 1995 (4 NB 30.95 – DÖV 1996, 380 = UPR 1996, 151) ist die rückwirkende Inkraftsetzung eines Bebauungsplanes ausgeschlossen, wenn das Abwägungsergebnis wegen nachträg-licher Ereignisse „nicht mehr haltbar“ ist, und zwar auch unter Einbeziehung des Gesichtspunktes, dass möglicherweise im Vertrauen auf den Bestand des Bebauungsplanes Dispositionen getroffen und Investitionen getätigt worden sind. Ein Bebau-ungsplan, dessen Inhalt gemessen an § 1 Abs. 3 BauGB und den Anforderungen des Abwägungsgebotes „unvertretbar“ ist, erfül-le, auch wenn dieser Zustand erst nach dem in § 214 Abs. 3 Satz 1 BauGB genannten Zeitpunkt eingetreten sei, nicht die materi-ellen Voraussetzungen, deren es zu seiner Wirksamkeit bedürfe (vgl. zu diesem Beschl. auch Anm. v. Lemmel in: Die Bauver-waltung 1996, 406). In seinem weiterführenden Beschluss vom 25. Februar 1997 (4 NB 40.96 – ZfBR 1997, 206 m. Anm. Lemmel, Die Bauverwaltung 1997, 435) hat das Bundesverwaltungsge-richt sodann klargestellt, dass ein Bebauungsplan nicht allein deshalb nichtig sei, weil eine Gemeinde trotz nachträglicher Änderung der Sach- und Rechtslage keine erneute Abwägungs-entscheidung getroffen habe. Neben der Fallgruppe der „nicht haltbaren“ Bebauungspläne seien auch funktionslos gewordene Bebauungspläne an einer später sich verändert darstellenden Sach- und Rechtslage zu messen. Insoweit schlügen Mängel im Abwägungsergebnis unmittelbar durch. Bebauungspläne, de-ren Festsetzungen unter den veränderten Umständen „einfach nicht mehr brauchbar“ seien, als Folge einer im Ergebnis nun-mehr schlechterdings nicht mehr vertretbaren Abwägung der betroffenen Belange „nicht mehr vertretbar“ seien, könnten auch keine Wirksamkeit erlangen.

Die Maßgeblichkeit des neuen Rechts wird so auch ausdrück-lich von Erbguth, NVwZ 2000, 969 (970 f.) gesehen. Zur Begrün-dung führt er an, dass es unsinnig bzw. widersprüchlich sei, einen Bebauungsplan gleichsam sehenden Auges trotz nach Be-schlussfassung eingetretener Unvereinbarkeit mit zwischenzeit-lich wirksam gewordenen landesplanerischen Auswirkungen zu genehmigen, um ihn sodann im Wege eines nachträglichen Anpassungsverlangen wieder raumordnungszielkonform zu re-vidieren. Diese Begründung ist überzeugend.

Dass die Genehmigung der 26. Änderung des Flächennut-zungsplanes des Stadt Soltau nicht erteilt werden kann, weil das

zum Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses gefundene Abwägungs-ergebnis nicht mehr mit der Planaussage 11 LROP II 2002 verein-bar ist und deswegen auch die Bauleitplanungen der Stadt Soltau „nicht mehr haltbar“ sind, bejaht der Senat. Die Planaussage 11 ist eindeutig. Ein Designer-Outlet-Center mit einer Verkaufsflä-che von 20.000 m² ist in dem Ortsteil Harber des Mittelzentrums Soltau raumordnungsrechtlich unzulässig.

(Mitgeteilt vom Veröffentlichungsverein des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts)

Polizei- und Ordnungsrecht

Durchsuchung nach Vereinsrecht, Wirkung des Suspensiv-effekts

VereinsG § 10 Abs. 2; VwGO §§ 80 Abs. 5, 113 Abs. 1 Satz 4

Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung in einem vereinsrechtlichen Verbotsverfahren wirkt ex tunc. Das hat zur Folge, dass zwischenzeitlich vollzogene Maßnahmen zur Durchsetzung des Vereinsverbots (hier: Durchsuchung einer Wohnung) rechtswidrig waren.

OVG Bremen, Beschluss vom 6. Dezember 2005 – 1 S 332/05

Sachverhalt:

Mit Verfügung vom 30.08.2005 verbot das Bundesministerium des Innern die A-Presse und Verlags-GmbH gemäß § 3 Abs. 1 i. V. m. §§ 17 Nr. 1, 20 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 VereinsG; zugleich wurde das Vermögen der GmbH beschlagnahmt und eingezogen. Für das Verbot und die Be-schlagnahme wurde die sofortige Vollziehung angeordnet.

Auf Antrag des Stadtamts Bremen, dem seinerseits ein Ersuchen des Bundesministeriums des Innern zugrunde lag, ordnete das Verwal-tungsgericht mit Beschluss vom 02.09.2005 die Durchsuchung der Wohnung einschließlich der zur Wohnung gehörenden Nebenge-lasse, des Postfachs und des Kraftfahrzeugs des Antragsgegners zum Zwecke der Sicherstellung des Vereinsvermögens der „A-Presse- und Verlags-GmbH“ und die Sicherstellung des aufgefundenen Ver-einsvermögens an. Die Anordnung wurde auf § 10 Abs. 2 VereinsG gestützt. Die angeordneten Maßnahmen wurden am 05.09.2005 durchgeführt.

Gegen die Durchsuchungs- und Sicherstellungsanordnung hat der Antragsgegner am 12.09.2005 Beschwerde eingelegt. Er macht gel-tend, es hätten keine Anhaltspunkte dafür vorgelegen, dass er im Besitz von zu beschlagnahmendem Vereinsvermögen gewesen sei. Die von der Antragstellerin aufgestellten Behauptungen über seine Person seien falsch. Er sei lediglich als freier Korrespondent für die von der A-Presse- und Verlags-GmbH herausgegebene Zeitung „Öz-gür Politika“ tätig gewesen.

Mit Beschluss vom 18.10.2005 (6 VR 5.05) hat das Bundesverwal-tungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage (6 A 4.05) wieder-hergestellt, die die A-Presse- und Verlags-GmbH am 22.09.2005 gegen die Verfügung des Bundesministeriums des Innern erhoben hatte. In der Begründung des Beschlusses wird ausgeführt, die Verfügung er-weise sich bei summarischer Prüfung als rechtswidrig.

Das Oberverwaltungsgericht hat der Beschwerde des Antragsgeg-ners stattgegeben und festgestellt, dass die Durchsuchungs- und Sicherstellungsanordnung des Verwaltungsgerichts vom 02.09.2005 rechtswidrig war.

NordÖR 2/200678

Rechtsprechung

Aus den Gründen:

Die Beschwerde ist nach § 146 Abs. 1 VwGO statthaft. Der An-tragsgegner hat zwar keinen förmlichen Antrag gestellt, seinen Schriftsätzen ist aber hinreichend deutlich zu entnehmen, dass sich sein Begehren auf die Feststellung richtet, dass die Anord-nung des Verwaltungsgerichts rechtswidrig gewesen ist. Ein solcher Fortsetzungsfeststellungsantrag ist in entsprechender Anwendung von § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO zulässig. Das Rechts-schutzinteresse des Antragsgegners an der Feststellung der Rechtswidrigkeit des verwaltungsgerichtlichen Beschlusses ist nicht dadurch entfallen, dass sich der Beschluss mit der Durch-führung der angeordneten Maßnahmen erledigt hat. Das Erfor-dernis eines effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) gibt dem Betroffenen das Recht, in Fällen tiefgreifender, tatsächlich jedoch nicht mehr fortwirkender Grundrechtseingriffe die Be-rechtigung des Eingriffs auch noch im Nachhinein gerichtlich klären zu lassen, wenn eine solche Klärung vor dem Eingriff nicht möglich war. Die Beschwerde gegen eine richterliche Durch-suchungsanordnung darf somit nicht allein deswegen, weil sie vollzogen ist und sich die Maßnahme deshalb erledigt hat, un-ter dem Gesichtspunkt prozessualer Überholung als unzulässig verworfen werden (ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 96,27 <41>; speziell für Durchsuchungen nach dem Vereinsgesetz z. B. OVG NW NVwZ 2003,113; VGH BW NVwZ 2003,368f.; BayVGH NVwZ-RR 2003,847 m.w.Nwn.).

Die Beschwerde ist auch begründet. Die Durchsuchungs- und Sicherstellungsanordnung des Verwaltungsgerichts war rechts-widrig.

a) Nach § 10 Abs. 2 VereinsG können aufgrund der nach § 3 Abs. 1 Satz 2 VereinsG verfügten Beschlagnahme Sachen im Gewahrsam des Vereins und aufgrund besonderer Anordnung Sachen des Vereinsvermögens im Gewahrsam Dritter sicherge-stellt werden (Satz 1). Soweit es der Zweck der Sicherstellung er-fordert, dürfen auch Räume betreten sowie verschlossene Türen und Behältnisse geöffnet werden (Satz 2). Die Durchsuchung von Wohnungen und die Sicherstellung von Postsendungen und Telegrammen im Sinne von § 99 StPO bedürfen der Anord-nung durch das örtlich zuständige Verwaltungsgericht (Satz 5). Im übrigen – d. h. hinsichtlich von Gegenständen, die nicht unter § 99 StPO fallen – ist die Sicherstellung nicht durch das Verwaltungsgericht anzuordnen; sie erfolgt, soweit sich die Ge-genstände im Gewahrsam Dritter befinden, vielmehr aufgrund eines Sicherstellungsbescheids, der von der Vollzugsbehörde – hier also des Stadtamtes der Antragstellerin – zu erlassen und dem Gewahrsamsinhaber zuzustellen ist (§ 4 VereinsG-DVO). Für ein Tätigwerden des Verwaltungsgerichts anstelle der Voll-zugsbehörde fehlt es insoweit an einer Rechtsgrundlage. Schon aus diesem Grund war die Anordnung des Verwaltungsgerichts daher rechtswidrig, soweit sie die Sicherstellung von Gegenstän-den betraf, die nicht Postsendungen und Telegramme im Sinne des § 99 StPO waren.

b) Für die Anordnung der Durchsuchung und der Sicherstel-lung von Postsendungen und Telegrammen war das Verwal-tungsgericht zwar zuständig. Die sachlichen Voraussetzungen für die Anordnung sind aber durch den Beschluss des Bundes-verwaltungsgerichts vom 18.10.2005 entfallen. Das ergibt sich aus Folgendem:

Maßnahmen nach § 10 Abs. 2 VereinsG dienen der Vollstre-ckung der Beschlagnahmeanordnung. Sie setzen daher vor-aus, dass im maßgeblichen Zeitpunkt ihrer Anordnung ein vollstreckbarer Verwaltungsakt vorliegt (VGH BW, Beschl. v. 20.10.1997 – 2 S 1583/97 – <juris> – ; Leitsatz auch in ESVGH 48,159f.). Ein solcher vollstreckbarer Verwaltungsakt fehlt hier.

Zwar hat das Bundesministerium des Innern in seiner Verfügung vom 30.08.2005 die sofortige Vollziehung der Beschlagnahme des Vereinsvermögen nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO angeordnet. Mit der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Kla-ge der A-Presse- und Verlags- GmbH ist die sofortige Vollziehung jedoch rückwirkend wieder entfallen.

Beschlüssen der Verwaltungsgerichte über die Wiederher-stellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO kommt grundsätzlich Rückwirkung in der Weise zu, dass die aufschiebende Wirkung ex tunc, d.h. bezogen auf den Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes, eintritt. Etwas anderes gilt nur dann, wenn das Gericht eine entsprechende ausdrückliche Regelung trifft und dem Antrag auf Wiederherstellung der auf-schiebenden Wirkung damit nur zum Teil stattgibt (vgl. Eyer-mann-J.Schmidt, VwGO, 11. Aufl. 2000, Rn 86 zu § 80; Kopp/Schenke, VwGO, 14. Aufl. 2005, Rn 171 zu § 80; Puttler, in: So-dan/Ziekow, Nomos-Kommentar zur VwGO, Rn 171 zu § 80; Re-deker/v.Oertzen, VwGO, 14. Aufl. 2004, Rn 59 zu § 80; Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Rn 362 zu § 80.; jeweils m. Nwn. der Rspr; zuletzt SächsOVG, Urt. v. 12.10.2005 – 5 B 471/04 – <juris>). Der rückwirkende Eintritt der aufschie-benden Wirkung entzieht bereits getroffenen Vollzugsmaßnah-men nachträglich die Rechtsgrundlage; sie werden rechtswidrig (Finkelnburg/Jank, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungs-streitverfahren, 4. Aufl. 1998, Rn 670).

Für die ex-tunc-Wirkung der Wiederherstellung der aufschie-benden Wirkung spricht insbesondere die Regelung des § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO. Danach kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen, wenn der Verwaltungsakt im Zeit-punkt der gerichtlichen Entscheidung schon vollzogen ist. Das Gericht verwirklicht mit einer Anordnung nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO einen Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch des Antragstellers, der ihm deshalb zusteht, weil er kraft der Wieder-herstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs nicht zur Duldung der aus dem Vollzug folgenden Beeinträch-tigung seiner Rechte verpflichtet ist. Ohne eine Rückwirkung der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO wäre aber eine Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 3 VwGO, mit der die Aufhe-bung der bereits erfolgten Vollziehung angeordnet wird, ausge-schlossen (SächsOVG, Urt. v. 12.10.2005 – 5 B 471/04 -<juris> m.w.Nwn.). Da diese Bestimmung keine Differenzierung nach dem Zeitpunkt der Vollziehung trifft, muss die aufschiebende Wirkung grundsätzlich auf den frühest denkbaren Zeitpunkt, also auf denjenigen des Erlasses des Verwaltungsakts, zurück-bezogen werden. Auch Vollziehungsmaßnahmen, die bereits vor der Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Rechtsmittels getroffen worden sind, werden daher nachträglich rechtswidrig (vgl. für einen Fall der Ersatzvornahme: OVG NW, Urt. v. 22.08.1977 – XV A 1180/76 – <juris> – ; Leitsatz auch in DÖV 1978, 417).

Diese Erwägung gilt auch für den Fall, dass eine schwerwie-gende Beeinträchtigung von Grundrechten nicht mehr direkt fortwirkt, weil die Vollzugsmaßnahmen regelmäßig abgeschlos-sen sind, bevor Rechtsschutz gegen die ihnen zugrunde liegende Verfügung begehrt werden kann. An die Stelle der Aufhebung der Vollziehung tritt in diesen Fällen die Feststellung ihrer Rechts-widrigkeit. Effektiver Grundrechtsschutz gebietet es nämlich, dass der Betroffene die Berechtigung auch eines tatsächlich nicht mehr fortwirkenden Grundrechtseingriffs durch die angeordne-ten Maßnahmen gerichtlich klären lassen kann (vgl. BVerfGE 96,27 <40>). Eine Grundrechtsbeeinträchtigung liegt auch dann vor, wenn die Wohnung des Betroffenen durchsucht und Post-sendungen oder Telegramme bei ihm sichergestellt werden, um die Beschlagnahme von Vermögen eines verbotenen Vereins zu

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Rechtsprechung

vollziehen, das Verbot des Vereins und die Beschlagnahme sei-nes Vermögens aber auf Grund einer richterlichen Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO nicht vollziehbar sind, weil sie sich bei summarischer Überprüfung als rechtswidrig erwiesen haben. Eingriffe in seine Grundrechte zum Vollzug rechtswidriger staat-licher Maßnahmen braucht der Betroffene nämlich nicht zu dulden. Diese Grundrechtsbeeinträchtigung lässt sich, weil ein anderes Verfahren nicht zur Verfügung steht, nur aufgrund einer Beschwerde gegen die richterliche Anordnung nach § 10 Abs. 2 VereinsG feststellen, wenn bei der Überprüfung der richterlichen Anordnung über die Vollzugsmaßnahmen auch die zwischen-zeitlich erfolgte Entscheidung des zuständigen Gerichts über die Vollziehbarkeit von Verbots- und Beschlagnahmeverfügung mit Wirkung ex tunc berücksichtigt wird.

Voraussetzungen für das Abschleppen eines Kraftfahrzeugs

HmbVwVG § 27; HmbSOG § 7 Abs. 1

1. Eine Störung der öffentlichen Sicherheit durch verbotswid-riges Parken eines Kraftfahrzeugs kann nicht schon deshalb auf andere Weise als durch das Abschleppen des Fahrzeugs beseitigt werden (vgl. § 27 HmbVwVG bzw. § 7 Abs. 1 SOG), weil in dem Fahrzeug ein Hinweiszettel mit einer Telefon-nummer und/oder einer Anschrift des Fahrers ausliegt, der den einschreitenden Polizeibediensteten veranlassen soll, vor der Anordnung des Abschleppens mit dem Fahrer Kon-takt aufzunehmen und ihm Gelegenheit zum eigenhändi-gen Wegfahren des Fahrzeugs zu geben. Der Verpflichtung des Polizeibediensteten zu einem Nachforschungsversuch stehen auch dann im Regelfall die ungewissen Erfolgsaus-sichten und nicht absehbare weitere Verzögerungen entge-gen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 18.2.2002, NJW 2002 S. 2122).

2. Der Polizeibedienstete kann nach den Umständen des Ein-zelfalls zu einem Nachforschungsversuch verpflichtet sein. Der Hinweis auf den Aufenthalt des Fahrers unter einer bestimmten Anschrift im unmittelbaren Nahbereich des Abstellorts des Fahrzeugs genügt dazu nur, wenn zugleich erkennbar gemacht ist, dass der Fahrer aktuell an dem an-gegebenen Ort erreichbar ist. Einen solchen aktuellen zeitli-chen Situationsbezug liefert ein Hinweiszettel nicht, der für eine Vielzahl von Situationen verbotswidrigen Parkens passt (Fortführung der bisherigen Senatsrechtsprechung, vgl. Ur-teil vom 14. August 2001, NordÖR 2001, S. 495).

3. Für die Beantwortung der Frage, ob die Beseitigung der Störung der öffentlichen Sicherheit durch verbotswidriges Parken auf andere Weise als durch ein Abschleppen des Fahrzeugs im Wege der Ersatzvornahme oder der unmit-telbaren Ausführung möglich ist (vgl. § 27 HmbVwVG bzw. § 7 Abs. 1 SOG), darf nicht auf generalpräventive Gesichts-punkte abgestellt werden (Abgrenzung zu BVerwG, Beschl. v. 18.2.2002, NJW 2002 S. 2122).

OVG Hamburg, Urteil vom 22. Februar 2005 – 3 Bf 25/02

Sachverhalt:

Die Beklagte ordnete durch den Beamten S. an, den PKW der Klägerin abzuschleppen, der in Hamburg im Bereich einer Sackgasse geparkt war. Der PKW stand halb auf einem Gehweg, der nicht zum Parken freigegeben war, und halb im absoluten Haltverbot. Nach Einschät-zung des S. wurde der Gehweg erheblich eingeengt, so dass Fußgänger behindert wurden, Schwerbehinderte mit Rollstuhl oder Fußgänger mit Kinderwagen auf die Fahrbahn ausweichen mussten; außerdem hätte im Notfall den Einsatzfahrzeugen der Feuerwehr der nötige Platz zum Rangieren gefehlt. Der Parkverstoß dauerte jedenfalls ca. eine Stunde. Zu einem Abschleppen des Fahrzeugs kam es nicht mehr, weil die Klägerin während der Vorbereitung des Abschleppens vor Ort erschien und es selbst entfernte. Die mit dem Abschleppen

beauftragte Firma stellte der Beklagten die Kosten eines abgebroche-nen Abschleppvorgangs in Rechnung.

Die Beklagte setzte für den Vorgang Kosten in Höhe von 152,10 DM fest. Nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhob die Klägerin Anfechtungsklage und machte geltend, es sei unverhältnismäßig ge-wesen, das Abschleppen ihres Fahrzeugs anzuordnen. In dem PKW habe sich unter der Windschutzscheibe ein deutlich sichtbarer Hin-weiszettel befunden, aus dem hervorgegangen sei, dass sie in etwa 30 Metern Entfernung in dem Gebäude G. anzutreffen gewesen sei und den PKW sofort hätte entfernen können. Sie habe sich die ganze Zeit dort befunden, davon auch eine längere Zeit im Hauseingang. Der Hinweiszettel hinter der Windschutzscheibe habe den Text gehabt: „Achtung diesen PKW bitte nicht abschleppen! Vor der Ersatzvor-nahme bitte die Fahrerin E.S. Tel. .. benachrichtigen, die den PKW sofort wegfahren wird und jetzt zu erreichen ist bei: Frau E.S., G. 92 a, Hamburg“.

Das Verwaltungsgericht hat der Klage stattgegeben und die angefoch-tenen Bescheide aufgehoben. Das Oberverwaltungsgericht hat das Urteil geändert und die Klage abgewiesen.

Aus den Gründen:

1. ... Nach § 19 Abs. 1 Satz 1 HmbVwVG sind die Kosten der Ersatzvornahme vom Pflichtigen zu erstatten. Die Vorausset-zungen dieser Norm sind erfüllt. Die Beklagte ist gegenüber der Klägerin als Pflichtiger im Wege einer (rechtmäßigen) Ersatzvor-nahme vorgegangen. Die Anordnung, das Fahrzeug der Klägerin abzuschleppen, war nach §§ 14 lit. a, 18 Abs. 1 lit. c, 27 und 15 Abs. 1 HmbVwVG als Anordnung einer Ersatzvornahme recht-mäßig.

a) Bei der Anordnung der Abschleppmaßnahme ist die Be-klagte verwaltungsvollstreckungsrechtlich im Wege der Ersatz-vornahme (und nicht polizeirechtlich im Wege der unmittelba-ren Ausführung) vorgegangen. Denn die Beklagte wollte damit das der Klägerin gegenüber durch Verwaltungsakt angeordnete Gebot, ihr (zum Teil) im Bereich einer absoluten Halteverbots-zone abgestelltes Fahrzeug von dort sofort zu entfernen, voll-strecken. Das dort aufgestellte Verkehrszeichen 283 begründete nämlich nicht allein das Verbot, an der dadurch ausgewiesenen Stelle zu halten und zu parken (§§ 12 Abs. 1 Nr. 6 lit. a, Abs. 2, 41 Abs. 2 Nr. 8 StVO), sondern enthielt zugleich das Handlungs-gebot an die Klägerin, ihr verbotswidrig abgestelltes Fahrzeug sofort wieder aus dem Halteverbot zu entfernen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 7.11.1977, NJW 1978 S. 656; Beschl. v. 26.1.1988, NVwZ 1988 S. 623).

Dem steht nicht entgegen, dass ihr Fahrzeug laut den Feststel-lungen des Zeugen S. in der Annahmeanordnung „halb im Halt-verbot und halb auf dem Gehweg“ abgestellt war. Dabei kann da-hinstehen, ob auch das „halbe“ Abstellen des Fahrzeugs auf dem nicht durch ein Verkehrszeichen 315 zum Parken freigegebenen Gehweg für sich genommen gleichfalls – nach den Grundsätzen der unmittelbaren Ausführung, vgl. § 7 Abs. 1 HmbSOG i.V.m. §§ 12 Abs. 4 Satz 1, Abs. 2 Nr. 8 lit. c, 42 Abs. 4 StVO – die Ein-leitung der Abschleppmaßnahme gerechtfertigt hätte. Denn die Beklagte hat bei der Anordnung der Abschleppmaßnahme ausweislich ihrer Ausführungen in dem Widerspruchsbescheid in erster Linie an den Verstoß gegen das Halteverbot angeknüpft und den weiteren (gleichsam „hälftigen“) Verstoß gegen das unmittelbar auf den o.g. Normen der StVO beruhende Gehweg-parkverbot lediglich als Zusatzargument ... für die Verhältnismä-ßigkeit der Maßnahme herangezogen. ...

b) bb) ... Eine Möglichkeit im Sinne des § 27, 1. Alt. HmbV-wVG, diese Störung auf andere Weise als durch die Anwen-dung von Zwangsmitteln zu beseitigen, bestand nicht. Ins-besondere brauchte die Beklagte hier nicht – wie dies nach der Ansicht der Klägerin geboten gewesen wäre – zu versuchen,

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Rechtsprechung

über die auf dem ... Hinweiszettel enthaltenen Angaben von An-schrift und Festnetztelefonnummer mit der Klägerin in Kontakt zu treten, um ihr unter Hinweis auf eine sonst einzuleitende Ab-schleppmaßnahme (verbunden mit dem Setzen einer Frist von wenigen Minuten) Gelegenheit zu geben, das Fahrzeug selbst wegzufahren. ... Rechtlich ergab sich daraus für den Zeugen S. ... in der betreffenden Situation keine Pflicht, vor der Erteilung der Abschleppanordnung zunächst über die auf dem Hinweiszettel enthaltenen Angaben von Anschrift und Festnetztelefonnum-mer mit der Klägerin in Kontakt zu treten, um sie zur eigen-händigen Umsetzung des Fahrzeugs zu veranlassen. Denn diese Angaben waren nicht geeignet, den Zeugen S. zu der Annahme zu veranlassen, dass ein solcher Kontaktversuch eine (genügend aussichtsreiche) „andere Weise“ (vgl. § 27 HmbVwVG) der Stö-rungsbeseitigung darstellte.

aaa) Das Berufungsgericht lässt sich bei dieser Bewertung von den folgenden, im wesentlichen bereits in seiner bisherigen Rechtsprechung (vgl. OVG Hamburg, Urt. v. 14.8.2001, NordÖR 2001, S. 495) entwickelten Grundsätzen leiten:

Hat sich der Fahrer von dem verbotswidrig geparkten Fahr-zeug entfernt und steht er deshalb nicht unmittelbar wie je-mand, der sich in Ruf- oder Sichtweite seines Fahrzeugs aufhält, zur Störungsbeseitigung zur Verfügung, sind grundsätzlich keine Ermittlungen nach dem Verbleib des polizeirecht-lich Verantwortlichen veranlasst, weil deren Erfolg zweifel-haft ist und zu nicht abzusehenden weiteren Verzögerungen führt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 18.2.2002, NJW 2002 S. 2122 f.; Beschl. v. 6.7.1983, Buchholz 442.151 § 13 StVO Nr. 3; VGH Kas-sel, Urt. v. 11.11.1997, NVwZ-RR 1999 S. 23, 25; VGH München, Urt. v. 16.1.2001, NJW 2001 S. 1960, 1961). Kann allerdings der Fahrer (nach den in der jeweiligen Situation für den einschrei-tenden Polizeibediensteten erkennbaren Umständen) mit ho-her Wahrscheinlichkeit ohne Schwierigkeiten und ohne Verzögerung festgestellt und zur Beseitigung des verbotswid-rigen Parkens veranlasst werden, so ist eine Rechtswidrigkeit einer gleichwohl angeordneten Abschleppmaßnahme in Be-tracht zu ziehen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 27.5.2002, VRS Bd. 103 (2002) S. 309, 310; Beschl. v. 20.12.1989, NJW 1990 S. 931). Dies wird z. B. in Frage kommen, wenn die erkennbaren Umstände der betreffenden Situation schon aus sich heraus darauf hindeu-ten, dass der Fahrer sich – aktuell – in unmittelbarer Nähe des Fahrzeugs befindet und dort sofort erreichbar ist. Daran zu den-ken ist – ohne, dass das Berufungsgericht insoweit in jeder Hin-sicht generalisierbare Regeln aufstellen könnte – etwa bei einem offensichtlichen Entladungsvorgang eines Lieferwagens direkt vor einem (geöffneten) Geschäft oder Restaurant, oder bei ein-deutigen Hinweisen von Passanten, der Fahrer habe soeben das Fahrzeug abgestellt und sich in ein benachbartes Gebäude bege-ben, in dem er auf eine (von dem Passanten genannte) bestimm-te Art und Weise sofort erreichbar sei. Eine solche Situation kann auch bestehen, wenn etwa ein als solcher erkennbarer Firmen-wagen direkt vor dem Gebäude der betreffenden (in ihrer Größe überschaubaren) Firma abgestellt ist und der Polizeibedienstete zu einem Zeitpunkt einschreitet, der – offensichtlich oder, nach lebensnaher Betrachtung, jedenfalls mit hoher Wahrscheinlich-keit – in die Geschäftszeiten dieser Firma fällt (vgl. OVG Ham-burg, Beschl. v. 27.4.2004 – 3 Bf 416/02).

Sprechen die äußerlich erkennbaren Umstände in der betref-fenden Situation dagegen nicht in der zuletzt genannten Weise aus sich heraus für die sofortige Erreichbarkeit des Fahrers in unmittelbarer Nähe des Fahrzeugs, sondern soll erst durch die Angabe einer Telefonnummer und/oder einer Adresse auf einem in dem Fahrzeug hinterlassenen Hinweiszettel die Möglichkeit einer Kontaktaufnahme mit dem Fahrer nahe-

gelegt werden, so ist nicht ohne weiteres anzunehmen, dass dieser mit hoher Wahrscheinlichkeit ohne Schwierigkeiten und ohne Verzögerung festgestellt und zur eigenhändigen Umsetzung des Fahrzeugs veranlasst werden kann. Einer Ver-pflichtung des Polizeibediensteten zu einem solchermaßen ver-anlassten Nachforschungsversuch stehen vielmehr im Regelfall die ungewissen Erfolgsaussichten und nicht absehbare weitere Verzögerungen entgegen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 27.5.2002, a.a.O.; Beschl. v. 18.2.2002, a.a.O.; Beschl. v. 6.7.1983, a.a.O.).

Jedoch können im Einzelfall auch derartige Angaben auf einem in dem Fahrzeug hinterlassenen Hinweiszettel eine Verpflichtung des Polizeibediensteten begründen, vor der Abschleppanordnung einen Versuch zu unternehmen, den Fahrer zu erreichen, um ihn (ggf. unter Setzung einer sehr knappen Frist) zunächst zur eigenhändigen Umsetzung des Fahrzeugs aufzufordern. Dies setzt nach der Auffassung des Be-rufungsgerichts (vgl. bereits OVG Hamburg, Urt. v. 14.8.2001, NordÖR 2001, S. 495, 496) allerdings voraus, dass sich aus dem je-weiligen Hinweis ergibt, dass der Fahrer sich nach dem Abstellen des Fahrzeugs an einen im unmittelbaren Nahbereich belegenen Ort begeben hat (1), und dass dieser Hinweis mit einem erkenn-baren Bezug zu der von dem Polizeibediensteten vorgefundenen Situation eingesetzt worden ist (2).

(1) Damit ein Versuch, den Fahrer zur eigenhändigen Besei-tigung der Störung zu veranlassen, hinreichend hohe Aussicht auf Erfolg verspricht, um als (gegenüber der Ersatzvornahme) „andere“ Weise der Störungsbeseitigung im Sinne von § 27 Hmb-VwVG angesehen werden zu können, muss sich aus der jeweili-gen Nachricht ergeben, dass der Fahrer sich nach dem Abstellen des Fahrzeugs an einen im unmittelbaren Nahbereich belegenen Ort begeben hat. Der vor Ort handelnde Polizeibedienstete muss daher bereits aus der jeweiligen Nachricht an sich schließen können, wann der Betreffende voraussichtlich am Abstellort eintreffen würde. Fehlt es insoweit an nachvollziehbaren An-gaben, sondern wird z. B. nur eine Mobilfunknummer angege-ben mit dem Zusatz, man komme erforderlichenfalls „sofort“, bleibt der Polizeibedienstete hinsichtlich des Zeitpunkts der ei-genhändigen Störungsbeseitigung durch den Verantwortlichen auf dessen nicht nachvollziehbare Einschätzung verwiesen. Auch eine bloße Zeitangabe auf dem ausgelegten Zettel würde dem Beamten insoweit keine hinlänglich bestimmte Prognose erlauben. Denn etwa die Erklärung „komme in 1 Minute“ wür-de nichts daran ändern, dass sie auf einer dem Empfänger der Information nicht einsichtigen Fremdeinschätzung beruht. Ein in diesem Sinne für den Adressaten der Nachricht überprüfbares und damit hinlänglich bestimmtes Kriterium dafür, wann der Fahrer auf Anruf bei dem Fahrzeug eintreffen wird, besteht hin-gegen in der Angabe des jeweiligen Aufenthaltsortes. Denn aus einer derartigen Ortsangabe kann der Polizeibedienstete darauf rückschließen, wann der Betreffende (bestenfalls) im Stande sein würde, das Fahrzeug eigenhändig zu entfernen. Nur auf Grund einer solchen eigenen Einschätzung kann der Polizeibedienste-te sachgerecht entscheiden, ob und welche Verzögerungen im Hinblick auf das Ausmaß der Störung im Einzelfall noch hin-nehmbar sind.

(2) Die Aussagefähigkeit einer solchen Nachricht ist allerdings dann entscheidend beeinträchtigt, wenn ihr kein Bezug zu der konkreten Situation zu entnehmen ist (vgl. auch VGH Mann-heim, Urt. v. 7.2.2003, NVwZ-RR 2003 S. 558). Passt der ausge-legte Zettel von seinem Inhalt her für eine Vielzahl von Fällen verbotswidrigen und störenden Parkens, und wird eine solche Nachricht – etwa vorgefertigt in Form eines Aufklebers oder eines Vordrucks – ohne weitere individualisierende Angaben benutzt, fehlt es für den Polizeibediensteten an hinreichend tragfähigen

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Rechtsprechung

Anhaltspunkten dafür, dass die mit dem Zettel – zu dem Zeit-punkt, in dem der Fahrer das Fahrzeug zurückgelassen hat – be-hauptete kurzfristige Erreichbarkeit des Fahrers in unmittelbarer Nähe weiterhin aktuell ist. Ein solcher Umstand steht einer hin-reichend hohen Wahrscheinlichkeit, den Fahrer (weiterhin) an dem auf der Nachricht angegebenen Ort anzutreffen, entgegen. Findet der Polizeibedienstete in dem betreffenden Fahrzeug eine solchermaßen universell einsetzbare Nachricht vor, so bedarf es daher zusätzlicher konkretisierender Angaben, um einen Bezug zu der jeweiligen Situation herzustellen, der den Schluss nahe legt, dass der Fahrer sich aktuell an dem angegebenen Ort befin-det. Eine solche zusätzliche Angabe kann etwa die Nennung von Datum und Uhrzeit sein.

(3) Kommt nach den dargestellten Umständen eine Pflicht des Polizeibediensteten in Betracht, einem derartigen Hinweis nachzugehen, so setzt dies außerdem voraus, dass damit ein un-zumutbarer Aufwand nicht verbunden ist. So wird ihm dabei im Hinblick auf einen in Betracht kommenden Versuch, den Fahrer an dem angegebenen Ort aufzusuchen, kein übermäßiger Ein-satz - etwa der Versuch, den Verantwortlichen in größerer Ent-fernung oder im oberen Stockwerk eines mehrgeschossigen Hau-ses aufzusuchen - abzuverlangen sein. Die insoweit erforderliche Wertung ist aus der Sicht des eingesetzten Polizeibediensteten zu treffen und unterliegt in vollem Umfang der verwaltungsgericht-lichen Kontrolle. Eine solche Unzumutbarkeit ergibt sich nach der Auffassung des Berufungsgerichts allerdings nicht schon dann, wenn ein Versuch in Betracht kommt, den Fahrer über eine auf der Nachricht angegebene Telefonnummer zu erreichen, der Polizeibedienstete einen Telefonanruf aber nicht selbst über ein tragbares Telefon vornehmen, sondern einen telefonischen Kon-takt nur über seine Wache, zu der er Verbindung per Funk hält, herstellen kann. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass eine solche Vorgehensweise im Wesentlichen dem Ablauf bei der Anforde-rung eines Abschleppfahrzeugs entspricht. Anders wird es aber etwa zu beurteilen sein, wenn in einer Vielzahl von verbotswid-rig geparkten und gleichermaßen störenden Fahrzeugen jeweils Zettel mit den Telefonnummern der Fahrer ausgelegt sind und der Versuch, sämtliche Fahrer anzurufen, einen unzumutbaren Gesamtaufwand darstellen würde oder wenn Gefahr im Verzuge im Einzelfall ein unverzügliches Einschreiten erfordert.

(4) Ist nach diesen Grundsätzen im Einzelfall ein Versuch ver-anlasst, den Fahrer zu erreichen, so ist der damit für die Beklagte verbundene Aufwand nach der Auffassung des Berufungsgerichts hinzunehmen. Dabei verkennt das Berufungsgericht nicht, dass ein solcher Ablauf mit einigem Aufwand für die Beklagte verbun-den sein kann. Doch ist nicht ersichtlich, dass dies die Beklagte unter Kosten- oder Zeitgesichtspunkten überfordern oder bei der Erfüllung ihrer Aufgaben nachhaltig beeinträchtigen würde. In-soweit ist auch zu berücksichtigen, dass es keinesfalls geboten er-scheint, mehr als einen Anruf- oder Klingelversuch zur Benach-richtigung des Verantwortlichen zu unternehmen; das Risiko der Nichterreichbarkeit hat generell der Störer zu tragen.

Auch dürfte sich der für die „Erfolgskontrolle“ am Abschlep-port anfallende zusätzliche Zeitaufwand bei einer Gesamtbe-trachtung der in Frage kommenden Einzelfälle in Grenzen hal-ten: In der Regel wird dem Verantwortlichen zur Einlösung seiner Zusage, das Fahrzeug zu entfernen, ein Zeitraum von 5 Minuten zuzubilligen sein. Dieser zusätzliche Aufwand wird – im Erfolgs-fall – dadurch aufgewogen, dass die Belastung des Polizeipflich-tigen mit den Kosten der unmittelbaren Ausführung sowie der damit verbundene Verwaltungsaufwand entfallen, und dass die Störung im Idealfall nicht nur schneller als im Wege der Ersatz-vornahme (oder ggf. der unmittelbaren Ausführung) beseitigt wird, sondern auch mit deutlich geringeren Beeinträchtigungen

für Anwohner und andere Verkehrsteilnehmer, wie sie mit einen Abschleppeinsatz häufig verbunden sind.

(5) Soweit die Beklagte (unter Bezugnahme auf den o. g. Be-schluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 18.2.2002) vor-trägt, eine rechtmäßige Abschlepppraxis dürfe auch spezial- und generalpräventive Zwecke verfolgen, ohne damit gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu verstoßen, soweit die Behörden die Erfahrung machten, dass Verkehrsteilnehmer zu-nehmend dazu übergingen, mit Hilfe von Hinweiszetteln unter Inkaufnahme von Bußgeldern, aber in Erwartung eines hieraus folgenden Abschleppschutzes Verkehrsverstöße zu begehen, die andere Verkehrsteilnehmer behinderten, steht dies den vorge-nannten, für das Berufungsgericht maßgeblichen Grundsätzen nicht entgegen. Diese Grundsätze beziehen sich nicht auf den bei belastenden Maßnahmen generell zu beachtenden (bundes-verfassungsrechtlichen) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (vgl. dazu die nachfolgenden Ausführungen unter „d“), sondern auf allgemeine Vollstreckungsvoraussetzungen, nämlich auf die in § 27 HmbVwVG geregelte Ersatzvornahme ohne vorherigen diesbezüglichen Hinweis mit Fristsetzung (§ 18 Abs. 2 HmbV-wVG) für die eigenhändige Befolgung des Wegfahrgebots (für die polizeirechtliche Anwendung von Zwangsmitteln im Wege der unmittelbaren Ausführung nach § 7 Abs. 1 HmbSOG dürf-te nichts anderes gelten). In diesem Zusammenhang bleibt für die Verfolgung spezial- und generalpräventiver Zwecke kein Raum. Die aus § 27 HmbVwVG folgende Möglichkeit, von dem an sich nach § 18 Abs. 2 HmbVwVG gebotenen Hinweis auf die Möglichkeit der Ersatzvornahme mit Fristsetzung abzusehen, setzt (in der hier interessierenden Tatbestandsalternative) voraus, dass „eine Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung auf andere Weise nicht beseitigt werden kann“. § 27 HmbVwVG er-laubt dagegen (bei einer bestehenden Möglichkeit, die Störung auf andere Weise zu beseitigen) nicht den Verzicht auf die Ein-haltung dieser allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen, wenn dies „abschreckend wirkt“.

bbb) Die Anwendung der vorgenannten Grundsätze auf den hier vorliegenden Sachverhalt führt zu dem Ergebnis, dass der Zeuge S. gemäß § 27 HmbVwVG nicht dazu verpflichtet war, vor der Anordnung des Abschleppens zu versuchen, die Klägerin über die auf dem Hinweiszettel angegebene Adresse oder über die dort genannte Telefonnummer zu erreichen, um sie dann (im Falle ihrer Erreichbarkeit) nach § 18 Abs. 2 HmbVwVG un-ter Hinweis auf die Möglichkeit des Abschleppens und unter Setzung einer kurzen Frist aufzufordern, ihr Fahrzeug selbst zu entfernen.

Zum einen war die von dem Zeugen S. vorgefundene Situati-on aus sich heraus – also zunächst ohne Berücksichtigung des Hinweiszettels betrachtet – nicht in dem oben beschriebenen Sinne eindeutig, dass der Zeuge S. von einer mit hoher Wahr-scheinlichkeit bestehenden aktuellen Erreichbarkeit der Kläge-rin in unmittelbarer Nähe hätte ausgehen müssen. Ob die Klä-gerin sich zu jenem Zeitpunkt tatsächlich in ihrer Wohnung der mehrstöckigen Häuserzeile G. 92 a – c aufhielt, war für den Zeugen S. von der Sackgasse aus nicht erkennbar; in dem betref-fenden Zeitraum fand auch nicht nach außen ersichtlich gerade ein Entladen des Fahrzeugs statt.

Zum anderen war auf dem Hinweiszettel, den die Klägerin in ihrem Fahrzeug hinterlassen hatte, zwar mit der „G. 92 a“ ein von dem Fahrzeug aus gesehen in unmittelbarer Nähe belege-ner Aufenthaltsort des Fahrers angegeben; jedoch war dieser Hinweiszettel nicht schon deshalb geeignet, den erforderlichen Situationsbezug herzustellen. Er enthielt nicht die notwendigen Angaben, um dem Zeugen S. den Eindruck vermitteln zu kön-nen, dass dieser Hinweis konkret für die seinerzeit vorliegende

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Rechtsprechung

Situation gegeben worden wäre. Vielmehr handelte es sich, wie auch das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat, um ei-nen – in der näheren Umgebung des Wohnhauses der Klägerin – universell einsetzbaren Vordruck, dessen Verwendung in die-ser Form auf einen routinemäßigen Gebrauch schließen ließ. ...

d) Die Anordnung der Abschleppmaßnahme verstieß auch nicht gegen den (bundesverfassungsrechtlichen) Grundsatz der Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns.

aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der das Berufungsgericht folgt, ist über die vollstreckungsrechtli-chen Voraussetzungen hinaus zu prüfen, ob die Abschleppmaß-nahme nach den Umständen des Einzelfalls verhältnismäßig ist (BVerwG, Beschl. v. 27.5.2002, ZfSch 2003 S. 98; Beschl. v. 18.2.2002, Buchholz 442.151 § 12 StVO Nr. 10 m.w.N.). Auch ein verbotswidrig parkendes Fahrzeug darf danach nur abgeschleppt werden, wenn diese Maßnahme zur Gefahrenbeseitigung geeig-net und erforderlich ist, sie der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne entspricht und (also) dem betroffenen Fahrzeugführer zu-mutbar ist (BVerwG, Urt. v. 23.6.1993, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 255 S. 85, 88). ...

bb) Nach diesen Maßstäben war die Anordnung der Beklag-ten, das Fahrzeug der Klägerin abschleppen zu lassen, unter Würdigung der Umstände des vorliegenden Falls verhältnismä-ßig. Laut den (seitens der Klägerin nicht bestrittenen) Feststel-lungen der Beklagten stand ihr Fahrzeug am 24. Februar 2000 in der Zeit zwischen 19.00 und 19.55 Uhr zur einen Hälfte auf der Fahrbahn im absoluten Halteverbot (VZ 283) und zur anderen Hälfte auf dem – nicht durch Verkehrszeichen 315 zum Parken freigegebenen – Gehweg; dabei behinderte es den Fußgängerver-kehr (Rollstuhlfahrer und Personen mit Kinderwagen hätten auf die Fahrbahn ausweichen müssen) und sperrte, wie der Zeuge S. in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht bestätigt hat, eine Fahrbahnfläche, die bei einem Einsatz von Feuerwehrfahrzeugen zum Rangieren benötigt worden wäre. Bei einer derartigen Kumulation von Verkehrsverstößen mit behin-dernder Auswirkung und einer nicht bloß kurzen Dauer des Ver-kehrsverstoßes steht es für das Berufungsgericht außer Zweifel, dass die Abschleppanordnung mit dem Verhältnismäßigkeits-grundsatz vereinbar war.

(Mitgeteilt von der Veröffentlichungskommission des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts)

Hinweis der Schriftleitung: Die Entscheidung stellt eine modifi-zierte Fortschreibung der bisherigen Rechtsprechung des Senats unter Berücksichtigung der darauf ergangenen Entscheidung des BVerwG dar. Zwischenzeitlich können aufgrund der Gesetzesän-derung vom September 2003 (GVBl. S. 467) Abschleppkosten als Gebühr nach dem Gebührengesetz erhoben werden.

Recht des öffentlichen Dienstes

Auswahlkriterien bei Richterbeförderungen

GG Art. 33 Abs. 2; LVerf SH Art. 43 Abs. 2; VwGO § 123 Abs. 1; LRiG SH § 10, § 20, § 21 Abs. 2, § 22, § 25; Beurteilungsrichtlinien SH Nr. 4.2, 4.3, 4.4

1. Eine Richterin oder ein Richter hat einen Anspruch darauf, dass der Richterwahlausschuss und der Justizminister über eine Beförderungsbewerbung ohne Rechtsfehler entschei-den.

2. Bei der Auswahlentscheidung hat die letzte dienstlichen Beurteilung und das darin enthaltene Gesamturteil regel-mäßig entscheidende Bedeutung. Ergibt sich danach eine (i. w.) gleiche Beurteilung der Bewerber, sind weitere leis-tungsbezogene Kriterien – wie frühere Beurteilungen und die Erfüllung eines Anforderungsprofils – zu berücksich-tigen. Danach kommt als weiteres (Hilfs-) Kriterium die Durchführung eines Auswahlgesprächs in Betracht; als sol-ches ist auch die Anhörung mehrerer Bewerber im Richter-wahlausschuss anzusehen.

3. Die nach den Beurteilungsrichtlinien 2003 – nicht zwingend vorgesehene – Eignungsprognose hat eine andere Zielrich-tung als das – zwingend vorgesehene – Gesamturteil und kann dieses nicht ersetzen. Das Fehlen des abschließenden Gesamturteils stellt deshalb einen besonders gravierenden Fehler der Beurteilung und auch der Auswahl dar, da das Gesamturteil als wesentliches Kriterium der Bestenauswahl unverzichtbar ist.

4. Der Leistungs- und Befähigungsvorsprung eines Bewerbers ist nicht ohne Weiteres mit einem (entsprechenden) Eig-nungsvorsprung eines anderen Bewerbers auszugleichen oder zu übertreffen.

5. Ob es mit der Bestenauswahl vereinbar ist, dass (nach den Beurteilungsrichtlinien 2003) weder der Richterwahlaus-schuss noch der Minister an eine Eignungsprognose in der Beurteilung gebunden sind, erscheint zweifelhaft.

6. Nehmen an einem Auswahlgespräch Bewerber teil, die das Anforderungsprofil nicht erfüllen und damit für die ausge-schriebene Stelle von vornherein nicht in Betracht kommen, liegt darin ein beachtlicher (Verfahrens-) Fehler des Richter-wahlausschusses.

7. Ein Auswahlgespräch muss allen (zulässigen) Bewerbern die gleiche Chance vermitteln, ihre fachliche und persönliche Eignung unter Beweis zu stellen. Dafür muss allen ein glei-cher und ausreichend großer Zeitraum eingeräumt werden, ferner müssen die gleichen oder jedenfalls vergleichbare Fachthemen zur Beantwortung oder Diskussion gestellt werden. Die gestellten Themen sowie die Antworten müs-sen in Grundzügen protokolliert werden.

VG Schleswig, Beschluss vom 28. Oktober 2005 – 11 B 20/05 (rechts-kräftig)

Sachverhalt:

Der Antragsgegner (Agg.) schrieb die Stelle einer Direktorin oder ei-nes Direktor des Sozialgerichts bei dem Sozialgericht X. (BesGr. R 2 mit einer Amtszulage nach Anlage IX BBesO) aus. Nach Behandlung der eingegangenen Bewerbungen im Richterwahlausschuss kündigte er an, die Stelle mit dem Beigeladenen zu besetzen. Der Antragstel-ler (ASt.) erstrebt eine einstweilige Anordnung, mit der es dem Agg. vorläufig untersagt wird, die ausgeschriebene Stelle – wie beabsichtigt – zu besetzen, solange nicht über die Bewerbung des Ast. bestands-kräftig entschieden ist. Der Antrag hatte Erfolg.

Aus den Gründen:

Der Antrag ... ist zulässig und auch begründet. ... . Der Antrag-steller hat ... einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Eine Richterin oder ein Richter hat einen Anspruch darauf, dass bei der Bewerbung um ein richterliches Beförderungsamt in Schleswig-Holstein sowohl der Richterwahlausschuss, dessen Entscheidung dem Antragsgegner im Rechtsschutzverfahren als “Verwaltungsinternum” zuzurechnen ist, als auch der An-tragsgegner ohne Rechtsfehler über die Bewerbung entscheiden. Hierzu gehört, dass sowohl der Richterwahlausschuss als auch der Antragsgegner nicht zum Nachteil des Richters von dem Grundsatz der Auswahl nach Eignung, Befähigung und fachli-

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Rechtsprechung

cher Leistung abweicht und die zur Sicherung dieses Grundsat-zes dienenden Verfahrensvorschriften einhält (std. Rspr., vgl. OVG Schleswig, Beschl. v. 01.02.1996, 3 M 89/95, NVwZ 1996, 806 ff.; vom 17.08.2001, 3 M 22/01, SchlHA 2001, 263 ff.; vom 25.11.2002, 3 M 44/02, SchlHA 2002, 289 ff.; im Übrigen auch B. v. 28.10.1996, 3 M 89/96 , IÖD 1997, 138 ff.; BVerwG U. v. 27.02.2003, 2 C 16.02, DÖD 2003, 202 ff., m.w.N.).

Bei der Auswahl von zu befördernden Bewerbern ist in erster Linie auf deren dienstliche Beurteilungen zurückzugreifen. In-soweit kommt der letzten dienstlichen Beurteilung regelmäßig besondere Bedeutung zu, weil für die zu treffende Entscheidung hinsichtlich der Leistung, Befähigung und Eignung auf den ak-tuellen Stand abzustellen ist (std. Rspr., vgl. nur OVG Schleswig B. v. 01.02.1996, aaO; vgl. std. Rspr. des BVerwG, U. v. 19.12.2002, 2 C 31.01, DÖD 2003, 200 ff; B. v. 27.02.2003, aaO). Für die Per-sonalentscheidung hat das die Beurteilung abschließende Ge-samturteil entscheidende Bedeutung. Dies stellt eine Zusam-menfassung der Bewertung der Einzelmerkmale dar und lässt im Auswahlverfahren einen Vergleich der Bewerberinnen und Bewerber zu. Ergibt sich hiernach eine (im Wesentlichen) glei-che Beurteilung der Bewerberinnen und Bewerber, sind weitere leistungsbezogene Kriterien zu berücksichtigen. Als solche kom-men bspw. frühere Beurteilungen oder – soweit in der aktuellen Beurteilung noch nicht berücksichtigt – die Erfüllung eines be-stimmten Anforderungsprofils in Betracht (vgl. OVG Schleswig, B. v. 17.08.2001, aaO). Besteht danach eine gleiche Beurteilungs-lage, so kann als weiteres (Hilfs-)Kriterium die Durchführung eines Auswahlgesprächs in Betracht gezogen werden. Allerdings kann nach § 21 Abs. 2 LRiG der Richterwahlausschuss in seinen Sitzungen Bewerberinnen und Bewerber sowie andere Personen anhören. Da weitere tatbestandliche Voraussetzungen für eine Anhörung im Landesrichtergesetz nicht vorgesehen sind, ist der Richterwahlausschuss hinsichtlich der Entscheidung, ob er Be-werberinnen und Bewerber anhört, frei. Hieraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass die oben dargestellten Grund-sätze für eine Bestenauswahl eingeschränkt werden.

Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze erweist sich die Entscheidung des Richterwahlausschusses vom 10.06.2005 und die Auswahlentscheidung des Agg. vom 16.06.2005, dem Beige-ladenen die Stelle des Direktors des Sozialgerichts bei dem So-zialgericht X. zu übertragen, bei der gebotenen, aber auch aus-reichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage als fehlerhaft.

Ausgangspunkt der Prüfung sind die letzten, anlässlich ihrer Bewerbung um die ausgeschriebene Stelle eines Direktors am Sozialgericht erstellten Beurteilungen des ASt. und des Beigela-denen durch den Präsidenten des LSG.

Der .... ASt. ... wurde ....2005 ... in acht von zehn der einzel-nen Beurteilungsmerkmale ... mit der höchsten nach den neuen Richtlinien für die Beurteilung der Richterinnen und Richter des Landes Schleswig-Holstein (BURL-Ri- vom 27.02.2003, SchlHA 2003, 62 ff.) möglichen Bewertungsstufe “die Anforderungen werden hervorragend übertroffen” bewertet und in den übrigen zwei Beurteilungsmerkmalen (...) mit der zweithöchsten Bewer-tungsstufe “... werden deutlich übertroffen” beurteilt. Demge-genüber wurde der ... Beigeladene ... hinsichtlich drei von zehn Beurteilungsmerkmalen (...) mit der höchsten Bewertungsstufe “... werden hervorragend übertroffen” bewertet und in den üb-rigen sieben Bewertungsmerkmalen mit der zweithöchsten Be-wertungsstufe “... werden deutlich übertroffen” beurteilt.

Während damit die dem ASt. und dem Beigeladenen erteilten Beurteilungen bei der Bewertung der einzelnen Beurteilungs-merkmale eine Bewertung gemäß Nr. 4.2 Satz 2 BURL-Ri- ent-

halten, stehen sie aber mit diesen verbindlich eingeführten neuen Beurteilungsrichtlinien nicht in Einklang und sind des-halb fehlerhaft, denn beide Beurteilungen enthalten entgegen Nr. 4.3. BURL-Ri- kein Gesamturteil, sondern lediglich eine Eignungsprognose für die angestrebte Stelle eines Direktors des Sozialgerichts X.. Nach Nr. 4.3 BURL-Ri- ist die dienstliche Beur-teilung mit einem Gesamturteil abzuschließen, das eine zusam-menfassende Bewertung der Eignung für die im Beurteilungs-zeitraum wahrgenommenen Aufgaben enthält, wobei auch die Gewichtung der nach Nr. 4.2 bewerteten Beurteilungsmerkmale deutlich zu machen ist. Die Bewertung hat mit einem der folgen-den Urteile abzuschließen: “hervorragend geeignet”, “sehr gut geeignet”, “gut geeignet”, “geeignet” oder “(noch) nicht geeig-net”.

Dieses zwingend vorgesehene Gesamturteil enthalten die Be-urteilungen nicht, sondern unter Ziff. “2.2 Gesamturteil” des Beurteilungsvordrucks sind die Beurteilungen der beiden Be-werber ... mit der Bewertung “insgesamt ist er ... für die Aufga-be eines Direktors des Sozialgerichts X. persönlich und fachlich hervorragend geeignet” und im Fall des Beigeladenen mit der Bewertung “... gut geeignet” abgeschlossen. Damit hat der Prä-sident des LSG aber lediglich eine Eignungsprognose iSd Nr. 4.4 der BURL-Ri- abgegeben.

Nr. 4.4 BURL-Ri- sieht vor, dass die Beurteilungen aus Anlass der Bewerbung um eine (andere) Planstelle zusätzlich mit einer vorausschauenden Bewertung der Eignung für das angestrebte Amt (Eignungsprognose) versehen werden können, ohne dass diese die an der Auswahlentscheidung Beteiligten binde. Die damit nicht zwingend vorgesehene vorausschauende Eignungs-bewertung hat einen anderen Inhalt und eine andere Zielrich-tung als das nach Nr. 4.3 der BURL-Ri- zwingend vorgesehene Gesamturteil und vermag dieses deshalb auch nicht zu ersetzen.

Das Gesamturteil ist nicht nur nach den BURL-Ri- unver-zichtbar, sondern auch nach den oben dargestellten Grundsät-zen, denn dieses hat für die Personalentscheidung entscheiden-de Bedeutung, da es im Auswahlverfahren erst den Vergleich der Bewerberinnen und Bewerber zulässt. Das Fehlen des ab-schließenden Gesamturteils stellt deshalb einen besonders gra-vierenden Fehler der Beurteilung und auch der Auswahl dar, da dass Gesamturteil als wesentliches Kriterium der Bestenauswahl unverzichtbar ist. Es spricht ... deshalb einiges dafür, das Stellen-besetzungs- bzw. Auswahlverfahren bereits deshalb als fehlerhaft anzusehen. Im Übrigen wäre es für den Agg. ein leichtes gewe-sen, die Beurteilungen ... an den Beurteiler zurückzureichen und ... zur Nachbesserung aufzufordern.

Auch wenn man mit dem Agg. aus den jeweiligen Bewertun-gen der einzelnen Beurteilungsmerkmale ein Gesamturteil “ent-wickelt” und mit diesem Gesamturteil die jeweilige Beurteilung des ASt. und des Beigeladenen unterlegt, führt dies nicht zur Rechtmäßigkeit des Auswahlvorgangs.

Angesichts der Bewertung der einzelnen Beurteilungsmerk-male ... der beiden Konkurrenten und des Grundsatzes, dass sich das Gesamturteil einer Beurteilung aus der Beurteilung der ein-zelnen Beurteilungsmerkmale entwickeln muss, erscheint die vom Agg. vorgenommene Bewertung der Beurteilung des ASt. ... mit der höchsten Bewertungsstufe “hervorragend geeignet” und der Beurteilung des Beigeladenen ... mit der zweithöchsten Be-wertungsstufe “sehr gut geeignet” als plausibel. Hiervon ausge-hend hat der ASt. in seiner Leistungsbeurteilung und seiner Be-fähigungsbeurteilung einen deutlichen Beurteilungsvorsprung vor dem Beigeladenen.

Dieser für den ASt. zu Grunde gelegte Leistungs- und Befä-higungsvorsprung lässt sich ausgehend von den vorliegenden

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Rechtsprechung

Anlassbeurteilungen ... nicht mit einem (entsprechenden) Eig-nungsvorsprung des Beigeladenen ausgleichen oder übertref-fen.

Während die Beurteilung der fachlichen Leistung auf eine qualitative und quantitative Bewertung der dem Beurteilten zurechenbaren Arbeitsergebnisse unter Berücksichtigung der Anforderungen des ausgeübten Amtes abzielt, erstreckt sich die Beurteilung der Befähigung auf die Eigenschaften des Beamten, die für seine dienstliche Verwendung bedeutsam sind. Die Ein-schätzung der Eignung ist eine im Wesentlichen prognostische Feststellung (vgl. Schnellenbach, Beamtenrecht in der Praxis, 5. Aufl., Rn. 436). Nach der Begriffsdefinition in Nr. 2.2 der BURL-Ri- ist Eignung die aus Befähigung und Leistung abzuleitende Qualifikation für ein ausgeübtes oder angestrebtes Amt.

Die Anlassbeurteilungen anlässlich der ausgeschriebenen Stelle enthalten bzgl. des ASt. und auch des Beigeladenen eine derartige Eignungsbeurteilung für das angestrebte Amt. Danach ist der ASt. für das angestrebte Amt vom Präsidenten des LSG mit “hervorragend geeignet” bewertet worden, während der Beigela-dene (lediglich) für “gut geeignet” erachtet worden ist.

Zwar ist nach dem Wortlaut der BURL-Ri- (Nr. 4.4) weder der Richterwahlausschuss noch der Agg. an eine vom Beurteiler ab-gegebene vorausschauende Bewertung der Eignung für das an-gestrebte Amt (Eignungsprognose) gebunden. (Auch) Insoweit weichen die neuen Beurteilungsrichtlinien von den alten Be-urteilungsrichtlinien (dienstliche Beurteilung der Richter und Staatsanwälte vom 02.09.1976, SchlHA 1976, 153 ff.) ab. Nach den alten Beurteilungsrichtlinien (V. Abs. 2) war zwar auch zur Eignung für das angestrebte Amt (nur) Stellung zu nehmen. Eine derartige Stellungnahme war dem Beurteiler aber nicht freige-stellt, sondern hatte zwingend zu erfolgen. .... Nach der Rspr. des Schl.-Holst. OVG (u. a. B. v. 17.08.2001, 3 M 22/01, SchlHA 2001, 263 ff.) waren diese Eignungsprognosen, es sei denn sie wären “evident” rechtswidrig, für die an der Auswahlentscheidung Be-teiligten verbindlich. ... .

Ob die in Nr. 4.4 BURL-Ri- beschriebene Nichtbindung des Richterwahlausschusses und des Antragsgegners an die Eig-nungsprognose des Erst- und/oder Zweitbeurteilers mit den Grundsätzen der Bestenauswahl vereinbar ist, erscheint zwei-felhaft, denn Erst- und Zweitbeurteiler haben aufgrund ihrer Tätigkeit und größeren Nähe eigene Kenntnisse über den Leis-tungsstand und die Eignung der Bewerber, während dies –grund-sätzlich keine Handhabe, eine Kausalität im genannten Sinne auszuschließen, da derartige Auswirkungen nicht von vornher-ein undenkbar und tatsächlich auch nicht unmöglich sind (vgl. zum Ganzen OVG Schleswig, B. v. 13.09.2000 – 3 M 17/00 –, Schl-HA 2000, 259 ff., m.w.N.).

Schließlich begegnet die Auswahlentscheidung aufgrund der Art und Weise der Durchführung der Anhörung der Bewerber vor dem Richterwahlausschuss am 10.06.2005, die sich nach ih-rem Sinn und Zweck als Auswahlgespräch darstellt, durchgrei-fenden rechtlichen Bedenken.

Auswahlgespräche müssen, um den Anforderungen des Art. 33 Abs. 2 GG zu genügen, gewährleisten, dass alle (zulässigen) Be-werber die gleiche Chance haben, ihre fachliche und persönli-che Eignung unter Beweis zu stellen. Hierzu ist erforderlich, dass allen Bewerbern ein gleicher und ausreichend großer Zeitraum eingeräumt wird, in dem sie ihre Vorstellungen darlegen können. Des weiteren müssen die gleichen oder jedenfalls vergleichbare Fachthemen zur Beantwortung oder Diskussion gestellt werden. Nur dies ermöglicht einen Vergleich zwischen den Bewerbern. Schließlich müssen die gestellten Themen sowie die Antworten in Grundzügen protokolliert werden, um eine Nachprüfbarkeit und eine evtl. gerichtliche Überprüfung zu ermöglichen.

Ausgehend von den derzeitigen Erkenntnissen hat der Rich-terwahlausschuss ein “freies” Auswahlgespräch durchgeführt, um den Bewerbern die Möglichkeit zur Selbstdarstellung zu eröffnen, um einen Eindruck ihrer Persönlichkeit zu erlangen, aber auch Vorstellungen sowie Beweggründe für die Bewerbung auf das angestrebte Amt zu erfahren (...). Ob ein derartiges “frei-es” Auswahlgespräch überhaupt geeignete Erkenntnisquelle zur Eignungsbewertung sein kann und nicht zumindest ein struktu-riertes, nach festgelegten Kriterien bewertetes Auswahlgespräch zu fordern ist, kann dahingestellt bleiben. Denn den dargelegten Anforderungen genügt die Anhörung durch den Richterwahl-ausschuss nicht, denn der Zeitraum der Anhörung des ASt. ei-nerseits und des Beigeladenen andererseits ist nicht gleichgroß, sondern die Anhörung des Antragstellers dauerte ... mehr als doppelt so lange wie die des Beigeladenen, ... .

Abgabenrecht

Beitragserhebung bei Ausbau einer Straßenteilstrecke; Ab-schnittsbildung

KAG SH § 8 Abs. 1 u. 4

1. Der infolge des Ausbaus einer Straße entstehende beitrags-fähige Aufwand ist auf alle Grundstücke umzulegen, denen durch die Maßnahme besondere Vorteile erwachsen.

2. Erfasst der Ausbau nur eine Teilstrecke der Straße, ist der Aufwand regelmäßig auf alle angrenzenden Grundstücke und Hinterliegergrundstücke umzulegen. Eine Ausnahme kommt nur in Betracht, wenn ein Straßenzug von außerge-wöhnlicher Länge nur auf einer unbedeutenden Teilstrecke ausgebaut wird und sich die Vorteilswirkung dieser Maß-nahme ersichtlich nur auf einen durch äußere Merkmale gekennzeichneten Abschnitt beschränkt.

3. Ein Bauprogramm bedarf keiner förmlichen Festlegung durch Satzung oder Beschluss. Unklarheiten gehen insoweit zu Lasten der Gemeinde. Erst wenn das Bauprogramm der Gemeinde für die Straße verwirklicht, d.h. die Gesamtmaß-nahme abgeschlossen ist, entsteht für den Regelfall die Bei-tragspflicht.

4. Bei Maßnahmen, die sich über mehrere Straßenabschnitte und einen längeren Zeitraum erstrecken, kann die Gemein-de einen Ausbauabschnitt gesondert endgültig abrechnen. Eine Abschnittsbildung setzt voraus, dass das Bauprogramm der Gemeinde einen Ausbau über den Abschnitt hinaus vor-sieht.

5. Im Falle einer wirksamen Abschnittsbildung entstehen sach-liche Beitragspflichten für die an diesen Abschnitt gelegenen Grundstücke mit der Verwirklichung des Bauprogramms in diesem Abschnitt vor Abschluss der Gesamtmaßnahme.

6. Soll von vornherein nur eine Teilstrecke der Straße ausge-baut werden, ist der Ausbauaufwand auf sämtliche Grund-stücke umzulegen, die an der Einrichtung gelegen und be-vorteilt (Ziff. 1) sind.

7. Die Festlegung eines Abrechnungsgebietes liegt nicht im Ermessen der Gemeinde. Welche Grundstücke das Abrech-nungsgebiet bilden, richtet sich allein nach der Vorteilslage und ist der Entscheidung durch die Gemeinde entzogen.

8. Nach der Neuregelung des § 8 Abs. 4 Satz 1 KAG SH kann eine Abschnittsbildung auch bei einem Teilstreckenausbau

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Rechtsprechung

grundsätzlich zulässig sein. Der Abschnittsbildungsbe-schluss muss aber vor Entstehung sachlicher Beitragspflich-ten gefasst werden, weiter muss der Ausbau der übrigen Abschnitte in vergleichbarer Weise zu erwarten sein.

OVG Schleswig, Urteil vom 17. August 2005 – 2 LB 38/04

Sachverhalt:

Der Kläger wendet sich gegen die Heranziehung zu einem Straßen-ausbaubeitrag. Die beklagte Stadt führte in der X-Straße im Bereich A bis B im Jahre 1996/97 Straßenbaumaßnahmen durch. Die Schluss-rechnungen der beauftragten Firmen gingen Ende 1997/Anfang 1998 bei der Beklagten ein.

Mit Bescheid vom ... 2001 zog die Beklagte den Kläger zu einem Stra-ßenausbaubeitrag in Höhe von 31.000,-- DM heran. Nach erfolglosem Widerspruch hat der Kläger Klage erhoben, mit der er im Wesentli-chen beanstandete, dass die Beklagte den Aufwand lediglich auf die Grundstücke verteilt habe, die entlang der ausgebauten Teilstrecke belegen seien. Der Beitragspflicht unterlägen alle Grundstücke im Wirkungsbereich der Maßnahme. Des weiteren habe die Beklagte die Arbeiten an der Beleuchtungseinrichtung nicht ausgeschrieben. habe..

Das Verwaltungsgericht hat der Klage durch Urteil vom 28. April 2003 teilweise stattgegeben. Auf Antrag der Beklagten hat das OVG die Berufung zugelassen. Die Berufung wurde zurückgewiesen.

Aus den Gründen:

... Das Verwaltungsgericht hat zutreffend entschieden, dass die streitgegenständlichen Bescheide teilweise rechtswidrig und da-her aufzuheben sind, weil nur die im Straßenabschnitt X-Straße zwischen A und B gelegenen Grundstücke in die Aufwandsver-teilung einbezogen wurden.

Rechtsgrundlage der Heranziehung des Klägers zu einem Stra-ßenausbaubeitrag ist § 8 KAG ... i. V. m. der Straßenausbaubei-tragssatzung (ABS) der Bekl. ... i. d. F. der rückwirkend in Kraft getretenen 2. Nachtragssatzung vom 09.12.1999. ... . Nach § 8 Abs. 1 KAG können u. a. für den Aus- und Umbau von öffentli-chen Einrichtungen Beiträge erhoben werden. Der ... Senat ist ... der Auffassung, dass Einrichtung im Sinne des § 8 Abs. 1 KAG die X-Straße in ihrem gesamten Verlauf zwischen ... Weg und ... ist.

...... Die X-Straße knickt im Kreuzungsbereich mit der Y-Stra-ße lediglich leicht ab. Dem Verkehrsteilnehmer drängt sich bei Überqueren des Kreuzungsbereichs nicht der Eindruck auf, sich in einer anderen Straße zu befinden. Die angrenzende Bebauung der Straßenabschnitte weist keine derartigen Unterschiede auf, die diesen Eindruck in Verbindung mit dem bogenförmigen Ver-lauf der Straße vermitteln könnte.

Wird eine Straße ausgebaut, ist der Ausbauaufwand gemäß § 8 Abs. 1 KAG auf alle Grundstücke umzulegen, deren Eigentümer oder dinglich Berechtigten durch die Maßnahme besondere Vor-teile erwachsen. Auch bei einem Teilstreckenausbau sind dies regelmäßig – von Ausnahmefällen abgesehen – alle Grundstü-cke, die zu der Einrichtung in einer räumlich engen Beziehung stehen, d.h. die an die Einrichtung angrenzenden Grundstücke und Hinterliegergrundstücke (std. Rspr. des Senats, vgl. nur Urt. v. 13.05.2004, 2 LB 78/03), es sei denn, die Gemeinde hat einen wirksamen Abschnittsbildungsbeschluss gefasst.

Eine Abweichung von dem Grundsatz der Verteilung des Ge-samtaufwandes einer Maßnahme auf sämtliche an die Einrich-tung angrenzenden Grundstücke könnte ausnahmsweise in Be-tracht kommen, wenn ein Straßenzug von außergewöhnlicher Länge, der zwar noch als einheitliche Einrichtung anzusehen ist, aber durch Kreuzungsbereiche und einmündende Straßen in

mehrere Abschnitte mit einer gewissen selbständigen Verkehrs-funktion deutlich unterteilt ist, nur auf einer unbedeutenden Teilstrecke ausgebaut wird und sich die Vorteilswirkung dieser Maßnahme ersichtlich nur auf einen durch äußere Merkmale gekennzeichneten Abschnitt beschränkt (vgl. Urt. des Senats v. 25.06.2003, 2 LB 55/02, SchlHA 2003, 306).

Die Einrichtung X-Straße hat nur eine Länge von wenigen hundert Metern. Der 1996/97 durchgeführte Ausbau erfasst ca. ein Drittel der Einrichtung. Es handelt sich mithin nicht um ei-nen unbedeutenden Teilstreckenausbau, dessen Vorteilswirkung ersichtlich auf die ausgebaute Teilstrecke begrenzt ist.

Die Beklagte hat auch keinen wirksamen Abschnittsbildungs-beschluss gefasst.

Eine Abschnittsbildung kommt jedenfalls nach der hier maßgeblichen Rechtslage (vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des KAG vom 30.11.2003) nur in Betracht, wenn das Bauprogramm der Gemeinde einen Ausbau über den Abschnitt hinaus vorsieht (Urt. des Senats v. 18.01.1995, 2 L 113/94, Die Gemeinde 1995, 94). Die Abschnittsbildung ist ein Sondertatbe-stand. Gemäß § 8 Abs. 4 Satz 2 KAG a.F. (entspricht Satz 3 n.F.) entsteht die sachliche Beitragspflicht mit dem Abschluss der Maßnahme, die für die Herstellung, den Ausbau oder Umbau der öffentlichen Einrichtung oder von selbständig nutzbaren Teilen erforderlich sind. Selbständig nutzbare Teile der Einrichtung sind Teileinrichtungen wie Fahrbahn und Gehweg, die nach Kosten-spaltung (§ 8 Abs. 4 S. 1 KAG a.F. entspricht Satz 2 n.F.) getrennt abgerechnet werden können, nicht aber Abschnitte der Einrich-tung. Die räumliche Ausdehnung und den Umfang der Maßnah-me, d.h. was im vorliegenden Fall für den Ausbau der X-Straße erforderlich ist, bestimmt die Gemeinde nach ihrem Ermessen (Bauprogramm). Erst wenn das Bauprogramm verwirklicht, d.h. die Gesamtmaßnahme abgeschlossen ist, entsteht für den Regel-fall die Beitragspflicht. Die Möglichkeit der Abschnittsbildung soll die Gemeinde in die Lage versetzen bei Maßnahmen, die sich über mehrere Straßenabschnitte erstrecken und insbesondere ei-nen längeren Zeitraum in Anspruch nehmen, Ausbauabschnitte gesondert endgültig abrechnen zu können (Urt. des Senats v. 18.01.1995, a.a.O.). Im Falle einer wirksamen Abschnittsbildung entstehen sachliche Beitragspflichten für die an diesen Abschnitt gelegenen Grundstücke mit der Verwirklichung des Baupro-gramms in diesem Abschnitt vor Abschluss der Gesamtmaßnah-me. ... . Ist von vornherein nur ein Teilstreckenausbau geplant, ist der Ausbauaufwand ... auf sämtliche Grundstücke umzule-gen, die an der Einrichtung gelegen sind und von denen aus eine Zugangsmöglichkeit zur Einrichtung besteht. Die Bildung eines Abschnitts, der allein die auszubauende Teilstrecke erfasst, mit der Absicht, nur die an diesem Abschnitt gelegenen Grundstü-cke zu belasten und die weiteren ebenfalls an der Einrichtung gelegenen Grundstücke von der Beitragspflicht freizustellen, stellt sich als eine extreme Veränderung der Beitragslasten dar. Inhaltlich handelt es sich nicht um eine Abschnittsbildung im vorgenannten Sinne, sondern allein um eine Veränderung des Abrechnungsgebietes durch Entscheidung der Gemeinde. So hat die Beklagte den Beschluss ... vom ... auch verstanden. Schon nach seinem Wortlaut ist nicht von einer Abschnittsbildung, sondern allein von der Festlegung eines Abrechnungsgebietes die Rede. ... Die Bildung des Abrechnungsgebietes liegt jedoch nicht im Ermessen der Gemeinde. Welche Grundstücke in die Aufwandsverteilung einzustellen sind, d.h. das Abrechnungsge-biet bilden, richtet sich allein nach der Vorteilslage und ist der Entscheidung durch die Gemeinde entzogen. Eine solche Ent-scheidung findet im Gesetz auch keine Grundlage. Zulässig ist danach lediglich die Kostenspaltung gemäß § 8 Abs. 4 S. 1 KAG a.F. (nunmehr § 8 Abs. 4 S. 2 KAG n.F.) und nach std. Rspr. die

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Rechtsprechung

Abschnittsbildung sowie die Zusammenfassung mehrerer aus-zubauender Einrichtungen zu einer Abrechnungseinheit, auch wenn Abschnittsbildung und Einheitsbildung im Gesetzes a.F. nicht erwähnt sind (die Abschnittsbildung ist nunmehr in § 8 Abs. 4 S. 1 KAG n.F. geregelt).

Ob nach der Neuregelung des § 8 Abs. 4 S. 1 KAG und der nun-mehr ausdrücklichen Regelung der Abschnittsbildung durch Ge-setz Abweichendes gilt, bedarf keiner abschließenden Entschei-dung. Dem Wortlaut lässt sich dies nicht entnehmen. Nach § 8 Abs. 4 Satz 1 1. HS KAG n.F. kann für bestimmte Abschnitte einer Einrichtung der Aufwand ermittelt und abgerechnet werden. ... Soweit nach § 8 Abs. 4 S. 1 2. HS KAG n.F. Entsprechendes auch für den Ausbau, Umbau und die Erneuerung von Teilstrecken gilt, kann dem nur entnommen werden, dass eine Abschnittsbil-dung auch bei einem Teilstreckenausbau grundsätzlich zulässig ist. Die Gesetzesänderung ist auf Initiative des Städteverbandes zurückzuführen (LT-Drs. 15/3027); dem lag (wohl) ein anderes Verständnis der Abschnittsbildung zugrunde. Stellt man hierauf ab und hält man nach neuer Rechtslage eine Abschnittsbildung auch dann für zulässig, wenn das konkrete Bauprogramm auf den Abschnitt beschränkt ist, wird zumindest zu fordern sein, dass der Abschnittsbildungsbeschluss vor Entstehung sachli-cher Beitragspflichten gefasst wird und dass der Ausbau der üb-rigen Abschnitte in vergleichbarer Weise zu erwarten ist. Nur in diesen Fällen haben die übrigen Anlieger eine Heranziehung zu Beiträgen in Zukunft ebenfalls zu gewärtigen. Damit wären der Willkürlichkeit der Verschiebung von Beitragslasten durch die Abschnittsbildung Grenzen gesetzt.

Nach der im vorliegenden Fall geltenden alten Rechtslage kommt – wie ausgeführt – eine Abschnittsbildung nur in Be-tracht, wenn das Bauprogramm weitere Abschnitte erfasst. Dies ist hier nicht der Fall.

Ein Bauprogramm bedarf keiner förmlichen Festlegung durch Satzung oder Beschluss. Der Umfang des Bauprogramms kann sich auch aus Vergabebeschlüssen auf der Grundlage von Aus-bauplänen ergeben. Unklarheiten gehen insoweit zu Lasten der Gemeinde (Urt. des Senats v. 18.01.1995, a.a.O.). Dies bedeu-tet, dass mit dem Abschluss der vergebenen und durchgeführ-ten Straßenbauarbeiten die sachliche Beitragspflicht entsteht, wenn nicht eindeutig festgestellt werden kann, dass es sich nur um eine Teilmaßnahme handelt. Dies rechtfertigt sich vor dem Hintergrund der Bedeutung der Entstehung sachlicher Beitrags-pflichten. Mit der Entstehung sachlicher Beitragspflichten ste-hen auch die auf die vorteilhabenden Grundstücke entfallenden Beiträge fest. Nachträgliche Veränderungen der Grundstücks-verhältnisse und der Ausbauplanung sowie nachträgliche Ab-schnittsbildungsbeschlüsse haben hierauf keinen Einfluss. Der

Zeitpunkt der Entstehung sachlicher Beitragspflichten muss da-her aus Gründen der Rechtssicherheit objektiv feststellbar sein. Die Gemeinde hat es in der Hand, die räumliche Ausdehnung und den Umfang der Maßnahme zu bestimmen. Maßgeblich ist die Ausbauplanung, soweit sie von dem dazu berufenen Gremi-um der Gemeinde – hier der Bauausschuss der Beklagten – be-schlossen oder jedenfalls gebilligt wurde. Auf die Willensbildung innerhalb des maßgeblichen Selbstverwaltungsgremiums ist abzustellen, weil für das Bauprogramm insoweit nichts anderes gelten kann als für Abschnittsbildungs- und Kostenspaltungsbe-schlüsse (vgl. hierzu OVG Schleswig, Beschl. v. 03.09.1991, 2 M 8/91). Dem Bauprogramm kommt vergleichbare Bedeutung zu.

Der Gemeinde obliegt auch die Entscheidung, ob eine Maß-nahme im Sinne des § 8 Abs. 4 S. 2 KAG a.F. in mehreren Bauab-schnitten ausgeführt wird mit der Folge, dass die Beitragspflicht für den Regelfall erst nach Abschluss der Gesamtmaßnahme ent-steht, oder ob der Ausbau in mehreren rechtlich zu trennenden Einzelmaßnahmen – aus welchen Gründen auch immer – er-folgt. Versäumt es die Gemeinde ihr Bauprogramm abweichend eindeutig festzulegen, können nur der Umfang der konkret in Auftrag gegebenen und durchgeführten Arbeiten als dem Bau-programm zugehörig angesehen werden.

Die von der Beklagten vorgelegten Unterlagen reichen zur An-nahme eines von den konkret vergebenen und 1996/97 durch-geführten Straßenbauarbeiten abweichenden Bauprogramms nicht aus. Eine Grundsatzentscheidung, die X-Straße auf voller Länge auszubauen, kann danach bis zum Zeitpunkt des Ab-schlusses der im Jahre 1996/97 durchgeführten Straßenbaumaß-nahmen nicht festgestellt werden. ... (wird ausgeführt).

... Nach alledem kann jedenfalls nicht mit der erforderlich Ein-deutigkeit festgestellt werden, dass nach dem Bauprogramm der Beklagten der Ausbau der X-Straße auf ganzer Länge im Rahmen einer Maßnahme im Sinne des § 8 Abs. 4 S. 2 KAG a.F. bis zum Abschluss der Baumaßnahme im Bereich ... bis ... vom maßgeb-lichen Gremium der Beklagten, dem Bauausschuss, beabsichtigt war. Die sachliche Beitragspflicht ist deshalb mit Abschluss des Ausbaus im Bereich A bis B entstanden. Der nachfolgende Be-schluss des Bauausschusses vom 07.12.2000 über die Festlegung des Abrechnungsgebietes ist damit irrelevant. Damit erübrigt sich auf die Erörterung, ob in diesem Beschluss überhaupt eine Abschnittsbildung zu sehen ist. ...

Hinweis der Schriftleitung: Vgl. zum sog. „Einrichtungsbe-griff“ im Straßenbaubeitragsrecht grundlegend OVG Schleswig, Urt. v. 28.10.1997, NordÖR 1998, 88; zur Relevanz von Vergabe-verstößen bei Straßenausbaubeiträgen vgl. OVG Schleswig, Urt. v. 30.04.2003, NordÖR 2003, 422.

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In dieser Rubrik werden die Leitsätze aktueller Entscheidungen der norddeutschen Verwaltungsgerichte abgedruckt, die aus Platzgründen nicht mit vollem Text veröffentlicht werden kön-nen. Eine spätere Wiedergabe auch der Gründe bleibt vorbehal-ten.

Rechtsprechung in Leitsätzen

2. Die nach § 4 Abs. 2 und 3 AufenthG bestehende Abhängig-keit der Berechtigung, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder auszuüben, von einem entsprechenden Aufenthalts-titel setzt auch für die Fortgeltung einer Arbeitsgenehmi-gung nach der Übergangsvorschrift des § 105 Abs. 1 S. 1 AufenthG voraus, dass der Ausländer über einen entspre-chenden Aufenthaltstitel verfügt.

3. In den Fällen des § 84 Abs. 2 S. 2 AufenthG wird das Fehlen eines Aufenthaltstitels als grundsätzlich notwendige Vor-aussetzung einer Erwerbsberechtigung für einen in dieser Vorschrift bestimmten Zeitraum durch eine – eingeschränk-te – Fortgeltungsfiktion ersetzt. Insoweit – und solange – ist der Ausländer nicht auf das Erlaubnisverfahren für gedulde-te Ausländer nach § 10 BeschVerfV zu verweisen.

4. Die – auf Zwecke der Erwerbsberechtigung eingeschränk-te – Regelung über die Fortbestehensfiktion in § 84 Abs. 2 S. 2 AufenthG kommt nach ihrem systematischen Zusam-menhang sowie ihrem Sinn und Zweck auch in Ausweisungs-fällen in Betracht, in denen die aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs durch eine gerichtliche Entscheidung wiederhergestellt worden ist.

OVG Hamburg, Beschluss vom 21. Oktober 2005 – 4 Bs 222/05

(Mitgeteilt von der Veröffentlichungskommission des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts)

Baurecht

Interkommunales Abstimmungsgebot bei benachbarten Windparks von zwei Gemeinden

BauGB § 2 Abs. 2; VwGO § 47 Abs. 2 Satz 1 und 2

Plant eine Gemeinde im Anschluss an einen bereits vorhan-denen Windpark einer Nachbargemeinde einen Windpark mit neun Windkraftanlagen auf ihrem eigenen Gemeindegebiet, kann der Nachbargemeinde die Antragsbefugnis für einen da-gegen gerichteten Normenkontrollantrag fehlen.

OVG Lüneburg, Beschluss vom 26. September 2005 - 1 MN 113/05

(Mitgeteilt vom Veröffentlichungsverein des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts)

Konzentrationsplanung für Windenergieanlagen

BauGB § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 und Satz 3

1. Es stellt nicht (zwingend) einen Hinweis auf „weiße Flecken“ (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.3.2003 - 4 C 4.02 -, BauR 2003, 1165) dar, wenn die Gemeinde nur anderthalb Jahre, nachdem sie eine Konzentrationsplanung für Windenergieanlagen hat wirksam werden lassen, daran geht, weitere Vorranggebiete auszuweisen.

2. Die Gemeinde darf sich zur Vorbereitung ihrer Konzentra-tionsplanung von Drittseite erstellter Gutachten bedienen, in denen eine gewisse Vor-Sichtung des Gemeindegebietes auf Flächen vorgenommen wurde, die für die Nutzung von Windenergie in Betracht kommen.

3. Die Gemeinde ist nicht verpflichtet, eine einzige zusam-menhängende Konzentrationszone zu schaffen; sie darf der Windenergie vielmehr auch an verstreuten Standorten Vor-ranggebiete zuweisen.

4. Zur Frage, wann die Gesamtheit der Vorranggebiete eine „substantielle Windenergienutzung“ zulässt.

Asylrecht

Räumliche Beschränkung des Aufenthalts von Asylbewerbern; unterschiedliche Aufenthaltsorte von Familienmitgliedern

AsylVfG §§ 14 Abs. 1 und Abs. 2, 14 a Abs. 1, 19 Abs. 1, 20 Abs. 1, 56 Abs. 3 S. 1

1. Sofern ein Ausländer bei einer Ausländerbehörde oder bei der Polizei ein Asylgesuch angebracht hat, aber einer Wei-terleitungsanordnung einer dieser Stellen nach § 19 Abs. 1 AsylVfG nicht Folge leistet und bei der Außenstelle des Bun-desamtes keinen Asylantrag stellt, bleibt – wie auch sonst bei einem abgelehnten Asylbewerber - eine räumliche Be-schränkung des Aufenthalts des Ausländers auf den Bezirk der Ausländerbehörde, in dem die für die Aufnahme zuge-wiesene Aufnahmeeinrichtung liegt, auch nach Erlöschen der Aufenthaltsgestattung bestehen.

2. Die sich aus § 56 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 14 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 AsylVfG ergebende räumliche Beschränkung des Aufenthalts eines Kindes auf den Bezirk der Ausländerbehörde, in dem es sich aufhält, wird nicht schon allein dadurch hinfällig, dass seine Eltern bzw. ein Elternteil später ein Asylgesuch anbringt oder einen Asylantrag stellt. Das gilt auch, sofern der Antrag nach § 14 a Abs. 1 AsylVfG für weitere Kinder des Ausländers als gestellt gilt.

3. Soweit durch ein Asylgesuch nach § 19 Abs. 1 AsylVfG und eine bereits davor erfolgte Asylantragstellung nach § 14 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 AsylVfG unterschiedliche räumliche Be-schränkungen für den Ausländer und ein lediges Kind be-gründet werden, ist im Fall der Führung einer familiären Lebensgemeinschaft die Familieneinheit ggf. durch eine länderübergreifende Verteilungsentscheidung nach § 51 Abs. 1 AsylVfG zu gewährleisten.

OVG Hamburg, Beschluss vom 19. Oktober 2005 – 4 Bs 215/05

(Mitgeteilt von der Veröffentlichungskommission des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts)

Ausländerrecht

Berechtigung eines Ausländers zur Erwerbstätigkeit während einer aufenthaltsrechtlichen Fiktionswirkung; Anspruch auf Bescheinigung der Erwerbsberechtigung

AufenthG §§ 4 Abs. 2 und 3, 84 Abs. 2 S. 2, 105 Abs. 1 S. 1; Besch-VerfV § 10

1. Nach der Neuregelung des Zugangs von Ausländern zum Ar-beitsmarkt durch das Zuwanderungsgesetz besteht in den Fällen des § 84 Abs. 2 S. 2 AufenthG ein anzuerkennendes Bedürfnis des Ausländers dafür, dass ihm die Ausländerbe-hörde die Berechtigung zur Ausübung einer Erwerbstätig-keit in geeigneter Form bescheinigt.

Rechtsprechung in Leitsätzen

NordÖR 2/200688

Rechtsprechung

5. Die Gemeinde ist im Rahmen einer auf § 35 Abs. 3 Satz 3 BauGB gestützten Konzentrationsplanung für Windenergie nicht verpflichtet, die Eingriffsproblematik zu bewältigen.

6. Zur Frage, wann eine Windenergieanlage das Landschafts-bild verunstaltet.

OVG Lüneburg, Urteil vom 8. November 2005 - 1 LB 133/04

(Mitgeteilt vom Veröffentlichungsverein des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts)

Wohnen neben Festplatz

BauGB § 1 Abs. 3 und Abs. 7; 18. BImSchV

1. Die Gemeinde darf ein Grundstück bei entsprechend star-kem städtebaulichen Interesse auch dann in die Planungen für die Erschließung neuer Bauflächen einbeziehen, wenn dessen Eigentümer seine Bebauung jedenfalls derzeit nicht wünschen.

2. Zur Frage, unter welchen Voraussetzungen gemeindeeige-ne Flächen zu einer bestimmten Trassierung von Erschlie-ßungsanlagen führen.

3. Die Pflicht, für die neuen Bauflächen Erschließungsbeiträ-ge zahlen zu müssen, begründet i. d. R. auch dann keinen Abwägungsmangel, wenn der Eigentümer eine Bebauung seines Grundstücks nicht wünscht.

4. Eine Gemeinde darf ein Mischgebiet nicht mit der Begrün-dung neben einem Festplatz planen, die von seiner Nut-zung, namentlich dem dreitägigen Schützenfest ausgehen-den Lärmbeeinträchtigungen riefen noch keine ernsthaften Gesundheitsschäden hervor.

5. Zum Nebeneinander von Wohn- und Festplatznutzung.

OVG Lüneburg, Urteil vom 17. November 2005 - 1 KN 127/04

(Mitgeteilt vom Veröffentlichungsverein des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts)

Beamtenrecht

Antiallergene Bettzwischenbezüge

BhV § 6 Abs. 1 Satz 1 Nr 2 und Nr 4; NBG §§ 87 Abs. 1 Satz 1; 87c Abs. 1

Aufwendungen für die Anschaffung antiallergener Bettzwi-schenbezüge sind nicht beihilfefähig.

OVG Lüneburg, Urteil vom 21. September2005 - 2 LB 118/03

(Mitgeteilt vom Veröffentlichungsverein des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts)

Disziplinarrecht

Entbindung eines Beamtenbeisitzers nach dem Bundesdiszi-plinargesetz von seinem Amt

BDG §§ 3, 47 Abs. 2, 50; VwGO § 24 Abs. 3

Zur Entbindung vom Amt des Beamtenbeisitzers nach § 50 BDG ist gemäß § 3 BDG in entsprechender Anwendung des

§ 24 Abs. 3 VwGO ein Senat des Oberverwaltungsgerichts be-rufen. § 47 Abs. 2 BDG bestimmt entgegen seinem Wortlaut bei der gebotenen einschränkenden Auslegung nicht etwas anderes.

OVG Hamburg, Beschluss vom 14. September 2005 – 3 So 117/05

(Mitgeteilt von der Veröffentlichungskommission des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts)

Flurbereinigungsrecht

Flurbereinigungsverfahren

FlurbG § 13, § 138 Abs. 1 Satz 2, § 134 Abs. 2 und 3; VwGO § 79 Abs. 2

1. Der Widerspruchsbescheid kann im flurbereinigungsrechtli-chen Verfahren nicht nach § 79 Abs. 2 VwGO alleiniger Ge-genstand der Anfechtungsklage sein.

2. Die Frage, wo die Flurstücksgrenzen liegen, ist im Boden-ordnungsverfahren nicht zu klären.

OVG Greifswald, Urteil vom 30. August 2005 - 9 K 28/02

Hochschulrecht

Formerfordernis beim außerkapazitären Zulassungsantrag

Hochschul-VergabeVO §§ 2, 3; ZVS-VergabeVO § 4

1. Der Antrag auf Zulassung eines Ausbildungsplatzes außer-halb der Kapazität richtet sich nicht nach der ZVS-Vergabe-ordnung, sondern nach der Hochschul-Vergabeordnung.

2. Bei einem außerkapazitären Zulassungsantrag, der von einem Studienanfänger gestellt wird, der weder über an-rechenbare Studienzeiten noch einen Studienabschluss verfügt, ist es nicht erforderlich, eine eidesstattliche Versi-cherung nach § 3 Hochschul-VergabeVO abzugeben.

OVG Lüneburg, Beschluss vom 25. November 2005 - 2 NB 1308/04

(Mitgeteilt vom Veröffentlichungsverein des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts)

Anwendung des Stellenprinzips auch bei Stiftungsuniversitä-ten

GG Art. 12 Abs. 1, 5 Abs. 3; HumanmedGöVO § 14; KapVO §§ 5, 8; NHG § 57

Auch Hochschulen in der Trägerschaft einer Stiftung des öf-fentlichen Rechts sind an das bundeseinheitlich geltende Ka-pazitätsrecht gebunden. Die somit u.a. gem. § 8 KapVO er-forderliche Ermittlung des Lehrangebots setzt auch für diese Hochschulen - weiterhin - eine normative Festlegung der ver-fügbaren Stellen voraus.

OVG Lüneburg, Beschluss vom 14. November 2005 - 2 NB 1304/04

(Mitgeteilt vom Veröffentlichungsverein des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts)

Rechtsprechung in Leitsätzen