Ist die einheitskasse das richtige rezept
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26 Wirtschaft
Stephan Wirz (32) ist Mit-glied der Geschäftsleitung des Maklerzentrums, einer
Beratungsfirma in Basel. Er weiss aus seinem Alltag, wie
Krankenkassen versuchen, ihre Risiken möglichst klein zu halten. Zunächst überprüfen sie heute die Rechnungen sehr genau.
Doch sie gehen noch einen Schritt weiter. «Bei günstigen Kassen ist es oftmals so, dass es keine Ansprechpartner gibt, keine Beratung oder telefoni-sche Hotline.»
Wenn eine Krankenkasse aber nur online erreich-bar ist, dann ist diese für die älteren, oft-mals teure-ren, Kunden weniger at-traktiv. Das
Gleiche passiert, wenn Kassen von ihren Kunden verlangen, dass sie die Arztrechnungen zu-erst selber bezahlen – auch das schreckt teure Patienten ab.
Genau dieses System wird derzeit stark kritisiert. Die Initi-anten einer Einheitskasse stören sich daran, dass sich die Kassen mit teuren Werbekampagnen die «guten» Risiken abwerben.
Für Wirz aber ist der Schluss, dass es des-halb eine Einheitskas-se brauche, falsch. Das System, dass jeder seine Kasse selber wäh-
len könne, findet er grundsätzlich richtig.
Doch auch er gibt zu: «Es braucht ei-nen stärkeren Risi-koausgleich zwi-schen Kassen mit
teuren
und älteren Kunden und Kassen mit günstigen und jungen.»
Mit der angekündigten Reform aus dem Departe-ment Berset sieht er seine Forderungen erfüllt. Der neue Ansatz mit einem stärkeren Ausgleich führe automatisch zu einer An-gleichung der Prämien.
Wirz erwartet auch eine Bereinigung im Markt. Eini-ge der heute 61 Anbieter der Grundversicherung würden verschwinden. «Auch ohne die Einheitskasse sinkt in den nächsten Jahren die Zahl der Krankenkassen.»
«Umbau des Systems wäre teuer» Einen weiteren Punkt, den die Einheitskassen-Befürworter an-führen, stellt Stephan Wirz in Ab-rede: «Die Monopolisierung der
Krankenkasse führt nicht zu tieferen Kos-
ten, davon bin ich überzeugt.» Im
Gegenteil: Der Umbau des gan-zen Krankenkassen-Systems sei teuer und aufwendig.
Es bräuchte in so einem Fall mindestens zwei separate Poli-cen: Eine für die staatliche Grund-versicherung und eine für die Zu-satzversicherung. Auch die Frage nach dem Datenaustausch zwi-schen der künftigen Grundversi-cherung und einer Zusatzversi-cherung sei noch völlig unge-löst. l ANDREAS SCHAFFNER
«Pseudo-Wettbewerb» bei den Krankenkassen
«Auch ohne die Einheitskasse sinkt in den nächsten Jahren die Zahl der Krankenkassen»
In der kommenden Abstimmung geht es um eine Grundsatzfrage: Soll das heutige System mit privaten Krankenkassen abgeschafft werden – zugunsten einer staatlichen Kasse? Der Hintergrund der
Diskussion sind stetig steigende Kosten. Und das heutige System leidet darunter, dass sich Kassen die «guten Risiken» abjagen. SonntagsBlick hat einen Gegner und einen Befürwor-ter der Einheitskasse besucht.
Ist die Einheit skasse das richtige R ezept?
Krankenkas-sen-Spezialist Stephan Wirz (32): Er sieht die Defizite im System.
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Die Intiative «Für eine öffentliche
Krankenkasse» verlangt, dass eine
nationale und öffentlich-rechtlich
organisierte Krankenkasse die
soziale Krankenversicherung für
alle durchführt.
Im heutigen System sind die
61 Krankenkassen privatrechtlich
organisiert. Sie sind gesetzlich
verpflichtet, jede Person in die
Grundversicherung aufzunehmen.
Die Initianten aus links-grüner Ecke
versprechen sich von ihrem Vor-
schlag weniger «Pseudo-Wettbe-
werb» und tiefere Kosten. Der Bun-
desrat will das System beibehalten.
Der Umbau sei mit zu grossen
Unsicherheiten verbunden. l
AKTUELL7. September 2014 27
Thomas Schumacher (41) ist Kinderphysiotherapeut. Immer
wieder kämpft er gegen den bürokratischen Apparat der Krankenkassen. «Fast bei jedem Kind fängt es wieder ganz von vorne an», sagt er. Seine Praxis ist in einer früheren Chäserei in Schenkon LU am Sempachersee untergebracht.
In seinem Kapuzenpullover wirkt Schumacher nicht wie eine Kämpfernatur. Aber er muss offenbar einiges wegste
cken. «Vier Berichte für ein einziges Kind muss ich
häufig verfassen», erzählt er mit einem ironischen Lä-
cheln. Auch dann würden die Kassen oft nicht einlenken. Die Eltern seien meist so verunsichert, dass er sie beraten müsse. «Statt über das Kind reden wir über die Kasse.»
Dabei scheint doch im Gesetz alles geregelt: Der Kinderarzt verordnet eine Therapie. Ist diese im Leistungkatalog aufgeführt, muss im Normalfall die Krankenkasse zahlen. Die Realität sieht anders aus. Zeit und Energie gehen bei Schumacher verloren im Hin und Her zwischen ihm, dem Kinderarzt, den Eltern und der Kasse.
Auch eine junge Mutter, die mit ihrem Kind bei Schumacher in Behandlung ist, empfindet diesen Kampf mit der Kasse als «äus
serst mühsam»: «Ich telefoniere mir die Finger wund: Kasse, Arzt, Therapeut.» Am Ende wisse sie doch nicht, ob die Kasse nun alles bezahle.
Viele Familien würden da kapitulieren, weiss die Mutter. «Den Ärger wollen sie sich nicht antun.»
Die Physiothe-rapie alleine sei schon eine gros-se Belastung: Bis zu zwei Stun-den täglich ar-beite sie mit dem Baby zu Hause. Aufgeben wolle sie aber nicht. «Es kann doch nicht sein, dass ich zahlen muss, bloss weil ich bei der falschen Kasse bin.»
Vor ein paar Wochen riss Tho-mas Schumacher der Geduldsfa-den. An einem Anlass sprach er die Präsidentin des Dachverbandes der Patientenstellen an, Erika Ziltener (59). Daraufhin untersuchte diese gemeinsam mit dem Verband der Kinderphysiotherapeuten 20 ähnlich gelagerte Fälle.
«Es war rasch klar, dass die Kassen sich nicht an das Gesetz halten», so Ziltener. Nächste Woche wird sie daher beim Bundes
amt für Gesundheit Beschwerde einreichen.
Patientenvertreter kritisieren ConcordiaZiltener zielt in erster Linie auf die Luzerner Krankenkasse Concordia. «Es ist mehrheitlich die-se Kasse, die bei dieser Leistung willkürlich entscheidet und das über den Kopf des Arztes hin-weg.» In der Beschwerde geht es um ein Elternpaar, das von der Concordia die Kosten einer Physiotherapie bezahlt haben wollte. Der Arzt hatte die Therapie verordnet. Die Kasse lehnte eine Be
Kommentar
Andreas Schaffner Stv. Wirtschaftschef
Ein Mail an meine Krankenkasse
K ürzlich wechselte ich zu einer günstigeren Krankenkasse und
Hausarztversicherung – damit ich mir nicht den Vorwurf gefallen lassen muss, das System noch mehr zu verteuern. Aber schon diese Woche musste ich meiner neuen Krankenkasse ein Mail schreiben. Es ärgerte mich massiv, dass ich zwei Rechnungen vom gleichen Spezialisten erhalten hatte, aber nur eine beglichen worden war. Dabei lag für die ganze Behandlung eine Überweisung des Hausarztes vor. Noch mehr nervte mich, dass die neue Krankenkasse ausgerechnet die teurere Rechnung nicht begleichen wollte. Der Verdacht lag auf der Hand, dass
ich gepiesackt werden sollte. So etwas war mir bei meiner wesentlich teureren alten Kranken
kasse nie passiert. Für die hatte ich auch nie Vorauskasse leisten und dann Rückforderungen stellen müssen. Ich setzte also das Mail auf. Mein Aufwand für den Papierkram inklusive Rückfragen beim Arzt: mehr als eine Stunde. Meine Rache als Konsument: dass ich wohl diesen Herbst wieder wechseln und dabei gleich die Franchise optimieren werde. Ob ich dadurch zum Anhänger der Einheitskasse geworden bin? Im Gegenteil: Nie fühlte ich meine Konsumentenrechte stärker als in dem Moment, als ich die Kündigung schrieb.
«Nie fühlte
ich meine Konsu-menten-rechte stärker»
«Pseudo-Wettbewerb» bei den Krankenkassen
«Statt über die Probleme des Kindes rede ich mit den Eltern mehr über die Krankenkasse»
Ist die Einheit skasse das richtige R ezept?
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Physiothe-rapeut Thomas Schuma-cher bei der Arbeit mit einem Kind.
28 Wirtschaft
Der Bedarf an Informatikspezialisten ist riesig. Kann die Schweiz die Lücke nicht füllen, stehen unzählige Branchen vor grossen Problemen. VON CLAUDIA STAHEL
Schweizer Firmen suchen händeringend nach Com-puterspezialisten. Nun
warnt der Branchenverband: Werden keine Massnahmen er-griffen, haben sie in Zukunft noch mehr Mühe, solche Stellen
zu besetzen – und zwar nicht nur Unternehmen der Informations- und Kommunikationstechnolo-gie (ICT), sondern die gesamte Wirtschaft. Die Diskussion ist politisch brisant: Es geht auch darum, wie die vom Volk ange-nommene SVP-Einwanderungs-initiative umgesetzt werden soll.
Die neuste Prognose des Be-rufsverbands ICT-Berufsbildung Schweiz liegt SonntagsBlick ex-klusiv vor. Demnach fehlen in der Schweiz bis zum Jahr 2022 rund 30 000 Fachkräfte in der Zukunftsbranche ICT.
Bei der letzten Prognose ging man bis 2020 noch von einem Bedarf von 25 000 Fachleuten aus.
Dabei wird schon heute viel unternommen: Seit 1999 hat die Wirtschaft über 1600 neue Lehr-stellen im ICT-Bereich geschaf-fen. Auch Universitäten und Fachhochschulen bilden heute mehr solches Fachpersonal aus.
Doch das reicht bei weitem nicht. Andreas Kaelin (52), Prä-sident der ICT-Berufsbildung Schweiz: «Zwar ergreifen heu-te viel mehr Junge einen Infor-matikerberuf. Gleichzeitig hat aber der Bedarf nach Fachkräf-ten stark zugenommen.»
Die Zahlen des Bundesamts für Statistik belegen dies: Insge-samt zählt die Schweiz heute fast 200 000 Beschäftigte im Bereich ICT – das sind über 40 Prozent mehr als noch 2001.
Alle betroffenLängst nicht alle sind Program-mierer bei einer Informatik- Firma. Zwei Drittel arbeiten in ganz anderen Branchen: In der öffentlichen Verwaltung, bei Banken oder im Detailhandel. So beschäftigt die Migros etwa 400 Informatiker in der Schweiz, beim Pharmamulti Novartis sind es 800, bei der Grossbank UBS sogar 3000.
Die neue «Coopzeitung» – bald wieder mit Preis vergleich
Die «Coop- zeitung» im neuen Look. Einstweilen
aber ohne die beliebte Seite «Einkaufen & Profitieren».
«Uns fehle n 30 000 Informatik er»
Branchenverband warnt Bis 2022
Am Dienstag zeigte sich die «Coopzeitung» erstmals im neuen Kleid. Mit dem überar-
beiteten Magazin will der Detail-händler vermehrt junge Familien ansprechen.
Die Frischekur hat dem Haus-blatt sichtlich gut getan. «Ein Kernanliegen ist die Nähe zu unse-ren Kundinnen und Kunden», schreibt Coop-Chef Joos Sutter
(50) im Editorial. Doch gerade bei seiner preissensiblen Kund-schaft droht diese Nähe verloren zu gehen: Die Seite «Einkaufen & Profitieren» für Kunden, die auf den Preis schauen, fehlt ganz. Hier informierte Coop bisher regel mässig über Preisentwicklun-gen. Auch der Preismonitor, der Vergleich eines Coop-Warenkorbs mit dem der Migros, ist entfallen.
teiligung ab. Das Kind wurde nicht behandelt, obschon der Arzt dies für nötig hielt – mit un-gewissen Folgen.
Die Concordia weist die Vor-würfe zurück. «Zu konkreten Fällen können wir nicht Stellung nehmen», sagt Jürg Vontobel (50), der als Arzt für die Concor-dia die Rechnungsprüfung lei-tet. «Aber wir verarbeiten jedes Jahr fünf Millionen Rechnun-gen. 99 Prozent davon können wir ohne weitere Abklärungen bezahlen, weil sie tarifkonform sind.» Sei man sich in einzelnen Fällen mit einem Physiothera-peuten uneinig, finde sich meist im Gespräch ein Kompromiss. Nur mit ganz wenigen Physio-therapeuten könne man sich in der Tariffrage nicht einigen.
«Kassen drangsalieren die Kunden»Für Patientenvertreterin Zilte-ner legt der Fall Kinderphysio-therapie die perversen Mecha-nismen des heutigen Gesund-heitssystems offen. «Die Kassen picken willkürlich Leistungen heraus. Dann drangsalieren sie ihre Kunden, um Kosten zu sparen. Am Schluss versuchen sie, mit tieferen Prämien neue Kunden anzuwerben.» Da wür-de die Einheitskasse Abhilfe schaffen. Gesundheitsökonom Heinz Locher (71) ist anderer Meinung. «Solche Fälle kämen leider auch mit einer Einheits-kasse vor», sagt er. Die müsse schliesslich auch auf die Kosten schauen. «Nur kann dort der Kunde nicht weg, wenn er unzu-frieden ist.»
Die Vor- und Nachteile einer Einheitskasse ist auch ein The-ma in der Praxis von Thomas Schumacher. Die junge Mutter ist skeptisch: «Was eine solche gigantische Umstellung bringen würde, weiss keiner mit Be-stimmtheit.» Thomas Schuma-cher dagegen ist sich sicher, dass es unbedingt neue Ideen braucht – die Einheitskasse ist so eine Idee. «Sonst können wir unsere heutige Qualität nicht mehr lan-ge halten.» l
NIKLAUS VONTOBEL
Fortsetzung von Seite 27
Kämpft gegen den bürokratischen Leerlauf an: Thomas Schumacher.