ist man vor Antisemitismus nur noch auf dem Monde sicher?

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… ist man vor Antisemitismus nur noch auf dem Monde sicher? ARBEITSHILFE

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… ist man vorAntisemitismus nur noch auf demMonde sicher?

A R B E I T S H I L F E

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

VorwortDer Titel dieser Arbeitshilfe lehnt sich an ein Zitat von Hannah Arendt an. Die jüdische Philo-sophin formulierte im Dezember 1941 im amerikanischen Exil den Satz, dass man vor demAntisemitismus wohl nur noch auf dem Mond sicher sei. Dieser Einwurf Hannah Arendts gibtnach wie vor zu denken, denn der Antisemitismus – die Feindschaft gegen Juden, weil sie Judensind – wächst wieder weltweit in bedrohlichem Ausmaß. Davon ist auch unsere Gesellschaftnicht ausgenommen. Dieses erschreckende Phänomen müssen wir nüchtern zur Kenntnisnehmen. Antisemitismus ist gewachsen, obwohl sich in unserem Land eine ebenfalls wach-sende Erinnerungskultur entwickelte, die sich mit den Verbrechen an Jüdinnen und Juden, mitden jahrhundertealten Wurzeln des Antisemitismus und der Schoa auseinandersetzt. Auch dasöffentliche Gedenken hat diese Entwicklung nicht verhindern können. Begegnungen mit undZeugnisse von Betroffenen und ‚Zeitzeugen’, historische und sozialpsychologische Analysen,pädagogische Anstrengungen in Schulen und in der Erwachsenenbildung haben es bishertrotz aller theoretischen und praktischen Erkenntnisse und trotz aller politischen Absichtser-klärungen und kirchlichen Bekenntnisse nicht vermocht, judenfeindliche Gedanken, Worteund Taten zu verhindern und ganz aus der Welt zu schaffen.Die Entscheidung der Evangelischen Kirche im Rheinland, sich in dieser Situation öffentlichzu äußern, ist nicht damit begründet, dass unsere Kirche über den Antisemitismus Erkennt-nisse hätte, die anderen engagierten Menschen aus unserer Gesellschaft nicht zur Verfü-gung stünden oder die in der wissenschaftlichen Arbeit bisher übersehen worden wären.Die Notwendigkeit einer kirchlichen Veröffentlichung entspringt der nach dem Zweiten Welt-krieg mühsam errungenen und bis heute nicht überall und umfassend akzeptierten theolo-gischen Einsicht einer immer wieder auftretenden schändlichen Verflechtung von aus derAntike überkommener, später auch christlich-theologisch, philosophisch, naturwissenschaft-lich und soziologisch begründeter Judenfeindschaft. Diese Verflechtung hat die mörderischeKraft der europäischen Judenfeindschaft massiv verstärkt, und sie hat damit zugleich diechristliche Theologie weithin korrumpiert.In diesem Sinne hat auch unsere Kirche 1980 im Rahmen des Synodalbeschlusses „Zur Erneue-rung des Verhältnisses von Christen und Juden“ bekannt, dass die Christenheit in Deutsch-land eine Mitverantwortung an der Schoa trägt und dass auch die christliche Lehre dazu bei-getragen hat.Die Kirche Jesu Christi kann ihre Identität nur aus und in der Verbindung mit dem Judentumgewinnen und erhalten. Der Gott Israels, wie er in den biblischen Schriften bezeugt ist, ließdurch den Juden Jesus von Nazareth, den Christus, auch die Völkerwelt – und so auch uns –an Gottes Segen, Bund und seinen Verheißungen gegenüber Abraham und dem Volk Israelteilhaben. Folgerichtig wurde die jüdische Bibel in die griechische Sprache übersetzt. Danach,im Laufe der ersten Jahrhunderte, bildete sich das Neue Testament heraus – gemeinsam mitder jüdischen Bibel unsere Heilige Schrift bis auf den heutigen Tag.Es geht uns als Kirche bei der Überwindung antisemitischer Äußerungen und Taten in gleich-er Weise um demokratische Rechtsstaatlichkeit, um das Grundrecht der Menschenwürde, umGehorsam gegenüber Gottes Wort und Willen und um das Bekenntnis zu unserem HerrnJesus Christus.Die Broschüre, die Sie in Händen halten, ist im Auftrag der Kirchenleitung der EvangelischenKirche im Rheinland vom Ausschuss „Christen und Juden“ unter Beteiligung des „Ausschussesfür Öffentliche Verantwortung“ unserer Kirche erarbeitet worden. Die Texte sind als Argu-mentations- und Arbeitshilfe für den Gemeinde- und den Schulalltag sowie für die kirchlicheErwachsenenarbeit bestimmt. Sie finden neben grundsätzlichen Bemerkungen auchAnregungen für die Praxis und weiterführende Literatur und Adressen.Ich danke Ihnen für Ihre Mitarbeit, wünsche Ihnen dazu Gottes Segenund grüße Sie herzlich!

Nikolaus SchneiderPräses der Evangelischen Kirche im RheinlandDüsseldorf, im Dezember 2006

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InhaltsverzeichnisVorwort 3

Zur Entstehung dieser Arbeitshilfe 6

Wie mit der Arbeitshilfe arbeiten 7

1. Bestandsaufnahme: Antisemitismus heute 9

1.1 Was ist Antisemitismus? 91.1.1 Antisemitismus und Antijudaismus 9

1.2 Antisemitismus als negatives Kulturerbe 101.2.1 Vorurteilsmuster im kirchlich-religiösen Bereich 101.2.2 Vorurteilsmuster im kulturellen Bereich 111.2.3 Wurzeln des Antisemitismus’ in der Mitte der Gesellschaft 12

1.2.3.1 Die Macht der Vorurteile 131.2.3.2 Die Debatte um eine „Nationale Identität“ 14

1.2.4 Vermengung antijüdischer Klischees mit der Kritik an der Politik des 15 Staates Israel und das Heranziehen von Geschichtsvergleichen

1.3 Ein „neuer“ Antisemitismus 17

2. Unsere christliche und staatsbürgerliche Verantwortung 19

3. Impulse für ein Denken, Reden und Handeln 21jenseits der Judenfeindschaft

3.1 Genau hinsehen – konkret benennen – unterscheiden lernen 21

3.2 Lernfelder 223.2.1 Theologische Lernfelder 223.2.1.1 Christliche Existenz ohne Antijudaismus 223.2.2 Gesellschaftspolitische Lernfelder 22

3.2.2.1 Jüdische Deutsche und Israelis 223.2.2.2 Jüdische Religion und israelische Politik 233.2.2.3 Israelische Politik und deutsche Geschichte 233.2.2.4 Wichtige Aspekte im israelisch-palästinensischen Konflikt 243.2.2.5 Der israelisch-palästinensische Konflikt und unsere Betroffenheit 25

3.3 Handlungsfelder: Impulse für ein Miteinander 263.3.1 Unser Zusammenleben mit jüdischen Menschen hierzulande 263.3.2 Einstellung zum Staat Israel 273.3.3 Einüben des Erinnerns vor Ort 27

4. Statt eines Schlusswortes ein Hinweis auf das Naheliegende: 29Das eigene Denken, Reden und Handeln kritisch prüfen

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

Anhänge 30

A. Glossar: 30Einige judenfeindliche Klischees näher erläutert1. „Die Juden“ und die Erwählung 30 2. „Die Juden“ und die Kreuzigung Jesu 303. Der Gott der Juden: Ein Gott der Rache? 314. „Auge um Auge – Zahn um Zahn“ als typisch jüdische Lebenseinstellung? 325. „Die Juden und das Geld“ 336. Israelische Politik und biblische Landverheißung 337. Israel – ein Apartheidstaat? 348. „Die Juden“ und die angebliche Weltverschwörung 349. „Die Juden müssen moralisch besser sein“ 35

B. „Vom Antijudaismus zum Antisemitismus". 36Ein knapper historischer Rückblick1. Vorrede 362. Von der Antike bis zum späten Mittelalter 363. Die Neuzeit 394. Die Zeit des Nationalsozialismus’ 425. Entwicklungen nach dem Zweiten Weltkrieg 44

C. Die Synodalerklärung der Evangelischen Kirche im Rheinland von 1980: 47Erklärung zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden

D. Eine Checkliste für Gemeinde und Schule 49

E. Literaturangaben und Internetadressen in Auswahl 50

F. Einige hilfreiche Adressen 52

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Zur Entstehung dieserArbeitshilfe

Die vorliegende Arbeitshilfe hat verschiede-ne Stadien durchlaufen. Die Texte wurden inverschiedenen Gremien vorgestellt und dis-kutiert. In der Entstehungszeit derArbeitshilfe wuchsen verschiedeneEinsichten, die es wert sind, an dieser Stellegenannt zu werden:

1. Wie kaum ein anderes Thema istAntisemitismus emotional besetzt. Einigeder Gründe dafür werden in den folgen-den Ausführungen genannt. Der wichtig-ste Grund liegt darin, dass wir inDeutschland geschichtlich wie auch kul-turell mit antisemitischen Denkmusternin Berührung stehen. Gleichzeitig werdenwir konfrontiert mit den Schattenseitenunserer christlichen Tradition, z.T. mitunserer eigenen Familiengeschichte undauch mit den eigenen Vorurteilen. Sooder so rückt uns dieses Thema "auf denLeib". Dieser Umstand löst unterschied-lichste Reaktionen von Scham bis hin zuWiderständen aus. Der Umgang miteinem emotional besetzten Thema bietetdaher Gefahren, um die man wissen soll-te. Eine ist die, dass es sehr schnell zuVermischungen kommen kann. EigeneBetroffenheiten bis hin zu eigenenWiderständen geraten mitEinzelaspekten des Themenkomplexes"Antisemitismus" durcheinander. Nichtselten kommt dabei am Ende ein "ver-heddertes Wollknäuel" heraus.

2. So emotional die Diskussion bei diesemThema ist, so schwer ist es manchmalauch, z.B. in Diskussionen einen Konsensin der Sache zu erlangen, da neben einereigenen emotionalen Beteiligung dieWahrnehmung und Beurteilung antise-mitischer Tendenzen schwankt, dieöffentliche Wahrnehmung von antisemi-tischen Vorfällen zum Teil sehr kurz istund es immer zu Überlagerungen in deröffentlichen Diskussion durch aktuelleEntwicklungen im Nahost-Konfliktkommt.

3. In der Einsicht, dass eine Schrift mit einerlängeren Entstehungsdauer immerEreignissen nachläuft, ist die Arbeitshilfeletztlich eine Momentaufnahme, dienicht den Anspruch in sich trägt, alleAspekte im umfassenden Sinne berük-ksichtigt zu haben.

4. Schließlich eine letzte Einsicht, die einenganz anderen Aspekt anspricht:Indem sich diese Arbeitshilfe auf dasThema der Judenfeindschaft konzentriert,kommen Juden und Jüdinnen ausschließ-lich als Opfer vor. Ist es auch der Sacheangemessen, im Hinblick auf denAntisemitismus jüdische Menschen alsOpfer und das heißt als Objekte desHandelns und Redens anderer zu sehen,so soll an dieser Stelle einem möglichenMissverständnis entgegengetreten wer-den: Bürger und Bürgerinnen jüdischenGlaubens hier in Deutschland oderanderswo sollen damit nicht auf eineOpferrolle festgelegt werden. Das wäreauch wieder ein Klischee, das – wie esKlischees an sich haben – der Wirklichkeitnicht gerecht werden würde. Es wider-spräche auch jüdischem Selbstverständnis,das neben der geschichtlichen Erfahrungdes Opferseins auch die andere Erfahrungkennt: selbstbewusst und gestaltend undd.h. als Subjekt das individuelle, gesell-schaftliche und staatliche Leben zu leben.

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

Wie mit der Arbeitshilfearbeiten?

Die vorliegende Arbeitshilfe versteht sich alsgrundlegende Informationshilfe für diejeni-gen, die sich in Gemeinde und Schule, aufTagungen und in der Erwachsenenbildungsowie im Kontext unterschiedlicher Medienherausgefordert sehen, über das ThemaAntisemitismus zu sprechen, zu arbeiten undaufzuklären.Die Arbeitshilfe ist unter didaktischenGesichtspunkten kein Arbeitsheft undersetzt keine Materialien (Text-, Bild- undFilmquellen, etc.). Gleichwohl kann sie alsGanzes oder in Auszügen als Arbeits- undDiskussionsgrundlage genutzt werden.

Als Beispiele sind zu nennen:• Arbeit mit einzelnen Zitaten, Bildern bzw.

Karikaturen• Arbeit mit einzelnen Teilen des Glossars• Arbeit an einzelnen Aspekten der ange-

führten Lern- und Handlungsfelder• Weiterarbeit durch Analyse von Zeitungs-

berichten, politischen Kommentaren aufdem Hintergrund der ausgeführten Im-pulse und Kriterien

• Aufgreifen einzelner Themen, die im Kon-text der Antisemitismusdebatte eineRolle spielen: z.B. Vorurteile, nationaleIdentität

Schließlich gibt es am Ende einiger Kapitelund Unterabschnitte Verweise auf andereTeile der Arbeitshilfe bzw. auf weiterführen-de Literatur.

Passende Quellen, oft schon didaktisch auf-bereitet, findet man leicht und preiswertzugänglich im Religions-, Geschichts- undPolitikprogramm der Schulbuchverlage.Einige Tipps unter vielen Angeboten:

• Unterrichtsmaterialien: Religion betrifftuns, Nr. 5, 2004‚ „Warum Anne Frank ster-ben musste“ – Entwicklung und Formenchristlicher Judenfeindschaft (VerlagBergmoser+Höller)

• Unterrichtsmaterialien: Geschichtebetrifft uns, Nr.6, 2000‚ „Geschichte desjüdischen Volkes“ (VerlagBergmoser+Höller)

• Materialien für Schulen aus demJüdischen Museum Berlin. Das JüdischeMuseum Berlin stellt sich mit dieserReihe als außerschulischer Lernort vor.Bestellungen und Info: Stiftung JüdischesMuseum Berlin, Frau Naujoks;Lindenstraße 9-14 10969 Berlin;E-Mail [email protected]

• Erinnern für Gegenwart und Zukunft.Überlebende des Holocaust berichten.Hg. Shoah-Foundation. Diese CD-ROMwurde im Auftrag der von Steven Spielberggegründeten Survivors of the Shoa VisualHistory, gemeinnützige GmbH, speziellfür den Unterricht an deutschen Schulenentwickelt. Die CD-ROM bietet eineninteraktiven, biographischen Zugang undist aufwändig gestaltet. (Cornelsen-Schulbuchverlag, 14328 Berlin)

• Geschichte der Juden in Deutschland.Eine Quellensammlung. Hg. M. Wolffs-sohn u. Uwe Puschner (Oldenbourg/bsv Verlag Rosenheimer Straße 145,81671 München)

Vergleiche zusätzlich das Literaturverzeichnisund die angeführten Internetadressen!

Zusätzlich sollen an dieser Stelle noch einigemögliche Zielsetzungen für die Beschäftigungmit dem Themenbereich benannt werden:

• Die Erkenntnis, dass Rassismus im Allge-meinen, Antisemitismus im Besondereneine prinzipielle, freiwillige Entscheidungvon Menschen ist, nicht „naturgegeben“und nicht auf historische „Unfälle“ zureduzieren und somit erkannt werdenkann und bekämpft werden muss.

• Die Erkenntnis, dass der Antisemitismushistorisch-politische, kultur- bzw. sozial-geschichtliche und theologische Ursachenhat und diese benannt werden können.

• Das Wissen, dass außerhalb Israels Bürgerund Bürgerinnen jüdischer HerkunftStaatsangehörige ihrer jeweiligenHeimatländer sind und sie im politischenGespräch nicht als Israelis angesprochenwerden sollten.

• Die Erkenntnis, dass es einen offenen wieverdeckten Antisemitismus gibt.

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• Die Bereitschaft, mittels einer differen-zierten Auseinandersetzung eine kritischeEinstellung gegenüber Vorurteilen aufzu-bauen und zwischen Mythen bzw. Kli-schees und Wirklichkeit zu unterscheiden.

Im Anhang befindet sich dazu eine„Checkliste“ für Gemeinde und Schule, diewichtige Aspekte bündelt.

Die Kirchenleitung freut sich, wenn Sie IhreErfahrungen mit dem Gebrauch dieserArbeitshilfe mit ihr teilen.Zuschriften richten Sie bitte an:Oberkirchenrat Wilfried Neusel,Leiter der Abteilung III (Ökumene, Mission,Religionen) im Landeskirchenamt derEvangelischen Kirche im Rheinland,Hans-Böckler-Straße 7, 40476 Düsseldorf,E-Mail [email protected]

Peter AndersenAusschuss Christen und Juden

Wilfried NeuselOberkirchenrat

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

1.1 Was istAntisemitismus?

„Der Antisemitismus ist das Gerücht über dieJuden.“ Theodor W. Adorno, Minima Moralia,Frankfurt a.M. 1984 S. 141

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Antisemi-tismus zu umschreiben, da er in unterschied-lichen Facetten in Erscheinung tritt: z.B. inöffentlichen Äußerungen von Politikern, inbeiläufigen Bemerkungen und angesichtsvon geschändeten Grabsteinen. Er nährt sichaus unterschiedlichen Vorurteilen, kombiniertsie in verschiedenen Variationen, kommt malpolternd daher und dann wieder nur in sub-tilen Anspielungen. Aber wie er auch erscheint:Der Antisemitismus ist nichts anderes alseine Feindschaft gegen jüdische Menschen,weil sie Jüdinnen und Juden sind.

Während des Sechs-Tage-Krieges im Juni 1967treffen sich zwei Männer auf der Straße. Dereine sagt auf die Frage, warum er so glücklichdreinschaue, er habe gerade vernommen, dassdie israelische Luftwaffe sechs Flugzeugesowjetischer Bauart abgeschossen habe. Amnächsten Tag ist er noch vergnügter, weil dieIsraelis acht MIG-Jäger ausgeschaltet haben.Am dritten Tag ist er unglücklich. Sein Freundfragt teilnahmsvoll, ob die Israelis heute kei-nen militärischen Erfolg gehabt hätten. Doch,antwortet der, aber jemand hat mir mitge-teilt, dass die Israelis Juden sind.

Ein Witz erzählt von Uri Avnery, Vertreter derisraelischen Friedensbewegung Gush Shalom,zitiert nach Wolfgang Benz, Was istAntisemitismus? München 2004, S. 234

1.1.1 Antisemitismus und Antijudaismus

In der wissenschaftlichen Diskussion wird oftzwischen Antisemitismus und Antijudaismusunterschieden. Antijudaismus ist die christli-che Form der Judenfeindschaft, die z.T. auseinzelnen Abschnitten des Neuen Testamenteshergeleitet und dann besonders in der christ-lichen Theologie vorzufinden ist. Sinnvoll isteine solche Differenzierung der Begriffesicherlich insofern, als dadurch die besonde-ren Konturen einer christlich begründetenJudenfeindschaft zum Ausdruck kommen.Anderseits hat eine Differenzierung der Be-griffe letztlich auch etwas Künstliches, da eseinen Zusammenhang gibt: Die „religiöseDiffamierung, die gesellschaftliche Ächtungund schließlich die physische Vernichtungder Juden“ liegen auf einer Linie (Hans-Joachim-Iwand, Umkehr und Wiedergeburt.In: H.Gollwitzer u.a. (Hg.) NachgelasseneWerke Band 2, München 1966, S.362).Judenfeindschaft bleibt Judenfeindschaft –ganz gleich in welcher Gestalt und mit wel-cher Begründung sie sich äußert.

1. Bestandsaufnahme:Antisemitismus heute

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1.2 Antisemitismus alsnegatives Kulturerbe

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegeswurde der organisierte Antisemitismus inder Bundesrepublik Deutschland grundsätz-lich geächtet und verboten (vgl. die Entwick-lung in der Rechtsprechung). Trotz vielerwichtiger Lernprozesse tauchen aber immerwieder antisemitische Klischees und Denk-strukturen auf. Dies geschieht in der Regelauf beiläufige Weise in Gesprächen, Redenund Kommentaren in den Medien.Im Alltag genügen z. B. nur Anspielungen aufantisemitische Klischees und „man“ weißsofort, was gemeint ist. Dieser beiläufigeAntisemitismus ist manchmal offensichtlich,manchmal auch subtil oder versteckt.

Diese Erfahrung macht deutlich, wie sehr wirals Deutsche und eben auch als Christinnenund Christen durch unsere kulturellen Wur-zeln nach wie vor mit judenfeindlichen Denk-strukturen und Klischees in Berührung sind.

Das „Erbe“ wiegt in Deutschland schwer.Auch wenn die nachgeborenen Generationenkeine Schuld für die Verbrechen während desNationalsozialismus trifft, befinden wir unsdoch in einem geschichtlichen Kontext, ausdem wir uns nicht herauslösen können undfür den wir Verantwortung tragen. Der Anti-semitismus gehört immer noch zu unsererAlltagswelt.

So stellt sich die Frage, wie wir damit umge-hen.

In vier wichtigen Zusammenhängen sinddiese antisemitischen Spuren zu beobachten:

• im kirchlich-religiösen Bereich imFortleben alter Vorurteilsmuster (1.2.1.)

• im kulturellen Bereich in der unbewusstenoder unkritischen Überlieferung und Über-nahme judenfeindlicher Klischees (1.2.2.)

• im gesellschaftlichen Bereich in derDebatte um eine nationale Identität undin dem Streben nach „Normalisierung“,um die Verantwortung für die Folgen derJudenvernichtung abzuwehren (1.2.3.)

• im politischen Bereich in der Vermengungjudenfeindlicher Klischees mit einer Kritikder Politik der Regierungen des StaatesIsrael (1.2.4.).

1.2.1 Vorurteilsmuster im kirchlich-religiösen Bereich

Viele antijüdische Mythen wie der Ritual-mordvorwurf, der Vorwurf der Hostienschän-dung oder der Vorwurf der Brunnenvergiftungwerden heutzutage zwar kaum noch geglaubt.Aber religiöse Vorurteile über Juden undJüdinnen sowie über das Judentum habensich trotz aller Aufklärung hartnäckig gehal-ten und tauchen immer wieder auf.

Auch heute noch sind folgende kirchlich-reli-giöse Klischees anzutreffen (vgl. dazu auchAnhang A.):

• Die Behauptung, der „Gott der Juden“ seiein rachsüchtiger Gott, das Judentum über-haupt eine Religion der Vergeltung unddem gegenüber das Christentum die Reli-gion der Vergebung und der Gott JesuChristi ein Gott der Liebe.

• Im Zusammenhang damit das Vorurteil,das Judentum sei eine „Gesetzesreligion“,demnach also moralistisch, einengend,unfrei. „Gnade“ und „Evangelium“ geltenhäufig immer noch als Gegenbegriffe zum„Gesetz“.

• Daraus folgt die Vorstellung, das Juden-tum sei durch das Christentum überholtbzw. ersetzt bzw. Gottes Bund mit Israelsei aufgekündigt (vgl. dazu die Verwen-dung der Gegensatzpaare „Alter Bund –Neuer Bund“, „Altes Testament – NeuesTestament“, die einem solchenVerständnis Vorschub leisten).

• Auch wenn es nicht mehr so verbreitet istwie früher, gelten „die Juden“ für manchenach wie vor als diejenigen, die Jesus er-mordet haben: „die Juden“ als „die Gottes-mörder“.

• Die biblisch-theologische Rede von der Er-wählung Israels wird immer noch als Aus-druck eines elitären Selbstverständnissesvon Arroganz und Überheblichkeit miss-verstanden. Sie gilt dann als Mittel derSelbstabgrenzung und -erhöhung.

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

• Das Judentum wird nicht in seiner Vielfaltgesehen, sondern vorwiegend als ortho-doxes Judentum wahrgenommen und diefremdartige äußere Erscheinung ultraor-thodoxer Juden als Typus des Judenschlechthin angesehen.

• Neue Klischees sind im Anfangsstadiumder feministischen Theologie (z.B. die Redevon Jesus als dem „neuen Mann“ im Ge-gensatz zum „patriarchalischen“ Juden-tum) und in der Befreiungstheologie (z.B. durch die Vereinnahmung des Volk-Gottes-Begriffs oder der Exodus-Traditionfür die Armen) zu finden.

Das alles hat letztlich zur Folge, dass Judenund Jüdinnen bzw. das Judentum als nichtzugehörig zum christlich-abendländischenbzw. europäischen politisch-kulturell-religiö-sen Kontext gelten.

Û Vgl. dazu das Glossar A:Einige judenfeindliche Klischees nähererläutert

1.2.2 Vorurteilsmuster im kulturellen Bereich

Jenseits der christlichen Tradition ist derAntisemitismus Teil unserer Kultur.

Der Antisemitismus „ist, wie gesagt, Bestandteildieser Kultur. Antisemitische Bilder werden ver-erbt – nicht genetisch, aber über die Kultur,über die Familie, über die Sprache. Etwa beiWilhelm Busch: ‚Kurz die Hose, lang der Rock, /krumm die Nase und der Stock, / Augenschwarz und Seele grau, / Hut nach hinten,Miene schlau – / So ist SchmulchenSchievelbeiner. / (Schöner ist doch unsereiner).’Das ist klassischer Antisemitismus. So was kannman in Fibeln lesen. Das prägt Bewusstsein,und vielleicht sogar das Handeln derMenschen. Das soll man nicht unterschätzen.“

Interview mit Julius Schoeps, Leiter des MosesMendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdischeStudien in Potsdam,Die Tageszeitung 25.10.2002

Am einfachsten lässt sich das anhand unsererSprache festmachen. Wer kennt sie nicht –diese Redewendungen:„Jüdische Hast“,„han-deln wie ein Jud“, „…es geht zu wie in einerJudenschule“, „falscher Jakob“ oder „bis zurVergasung“, um nur einige zu nennen. DieseRedewendungen gehören nach wie vor zumallgemeinen, zumindest passiven deutschenWortschatz.

Wird bei dieser Sprache offensichtlich, wie tiefdie Judenfeindschaft in unserer Kultur ver-wurzelt ist, so ist antisemitisches Denkenmanchmal auch verdeckter.Dies zeigt sich speziell in Musik, Literaturund Bildender Kunst. Passionsdarstellungenwie z.B. die Passionen von Johann SebastianBach sind geeignet, bei unkritischem Hörenund Sehen die traditionelle Vorstellung, „die“Juden hätten Jesus umgebracht, am Leben zuhalten oder gar neu zu wecken.

Ein prominentes – und aufgrund einer welt-weiten Anhängerschaft – immer noch gefähr-liches Beispiel stellt Richard Wagner dar. Ineiner Studie zu Richard Wagner hat der briti-sche Historiker Paul Lawrence Rose festge-stellt, dass sich Judenfeindschaft wie ein roterFaden durch praktisch alle Opern Wagnerszieht. Das geschieht auf sehr subtile Art undWeise. So lässt Wagner in seinen Opern ganz

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bewusst nicht direkt erkennbare jüdische Cha-raktere auftreten. Denn – so Rose – Wagnerwollte „mit seiner Kunst vor allem auf das Un-terbewusstsein des Publikums einwirken. Fi-guren mit jüdischen Namen in die Opern ein-zuführen, hätte diese nach seiner Auffassungzu sehr in die Nähe gesellschaftskritischerSchriften gerückt und so ihrem Kunstwerk-charakter geschadet. Nicht der Verstand sollteangesprochen werden, sondern die Emotion-en, die Phantasie und, nicht zuletzt, die reli-giösen Bedürfnisse. Rational fassbar und klarzu sein, galt als undeutsch: Der echte deutscheZuschauer würde intuitiv erfassen, was Wag-ner ihm in der Oper mitteilen wollte und nachder Vorstellung innerlich verwandelt und ge-reinigt nach Hause gehen, vielleicht sogar,ohne sich dessen bewusst zu sein.“ (Paul Law-rence Rose, Richard Wagner und der Antisemi-tismus, Zürich 1999, S. 261). Entsprechend lässtWagner Figuren auf der Bühne erscheinen,„dieman als jüdische Karikaturen bezeichnenkönnte“ (ebd. S. 263): z.B. Beckmesser (Meister-singer), Alberich (Ring), Klingsor (Parcifal), Kun-dry (Parcifal) oder „Der fliegende Holländer“.

1.2.3 Wurzeln des Antisemitismus’ in derMitte der Gesellschaft

Für uns ist wichtig festzuhalten, dass Antise-mitismus auch heute in der Mitte der Gesell-schaft – im bürgerlichen Milieu – und nichtnur an ihren Rändern entsteht.

Ergebnisse der GMF-UmfrageGruppenbezogene Menschenfeindlichkeitin Deutschland von 2004

Zustimmungen („stimme eher zu“ und„stimme voll und ganz zu“) bei folgendenAussagen:• „Die Juden“ haben in Deutschland zuviel

Einfluss: 21,5 Prozent• „Die Juden“ sind durch ihr Verhalten an

ihren Verfolgungen mitschuldig: 17,4 Prozent• Ich bin es leid, immer wieder von den deut-

schen Verbrechen an den Juden zu hören:62,2 Prozent

• Durch die israelische Politik werden mir„die Juden“ immer unsympathischer: 31,7Prozent

• Bei der Politik, die Israel macht, kann ichgut verstehen, dass man etwas gegen „die Juden“ hat: 44,4 Prozent

• Deutsche Staatsangehörige jüdischer

Herkunft hierzulande interessieren sichmehr für israelische als für deutscheAngelegenheiten: 47,8 Prozent

Heyder, A. u.a., Israelkritik oder Antisemitis-mus, In: Deutsche Zustände Folge 3,Frankfurt a.M. 2005, S. 151

Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismusgehen dabei zumeist Hand in Hand. Ein ge-sellschaftliches Klima, das fremdenfeindlicheoder antisemitische Vorurteile duldet odergar unterstützt, ermöglicht vielfach erst anti-semitische Äußerungen an den Rändern derGesellschaft. Zumindest aber bestärkt es anti-semitisches Denken und Verhalten, indem esdas Bewusstsein verschafft, im Auftrag derwahren Interessen der Bevölkerung zu han-deln. Dies ist das Ergebnis neuerer empirischerUntersuchungen (siehe Kasten). Sie nötigenuns dazu, darüber nachzudenken, was in derMitte der Gesellschaft geschieht und nichtnur an ihrem rechten Rand. Rechtes Gedanken-gut und Fremdenfeindlichkeit ist auch inbürgerlichen Kreisen anzutreffen.Das unterschwellige antisemitische Vorurteil,das gutbürgerlich – sozusagen „in Anzug undSchlips“ – auftritt, ist ebenso wenig harmloswie die offene antisemitische Parole rechts-radikaler Träger von Springerstiefeln.

Zwei Beispiele aus dem Alltag von Pfarrernder rheinischen Kirche:

Auf die Frage, wie es seinem Sohn auf derSuche nach einer Promotionsstelle ergehe,berichtet der Nachbar, dass sein Sohn einezunächst in Aussicht gestellte Stelle nichtbekommen habe. In dem Auswahlverfahren fürdie raren Stellen sei ein ausländischer Studentvorgezogen worden. Der wahre Grund derBevorzugung sei aber nicht die Tatsache, dassdieser Student Ausländer sei. Er sei Jude...

Auf die kritische Frage, wie man bei leerenKassen die Restaurierung des unter Denkmalstehenden Synagogengebäudes am Ort seitensder Kommune zu finanzieren gedenkt, antwor-tete der das Projekt durchaus vorantreibendeBürgermeister mit dem Hinweis auf Zuschüsse,denen sich auch kommunale Gremien nichtversagen werden:„Das muss noch durch dieGremien, aber das geht schon. Gegen Judenwird man schon nichts sagen!“

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1.2.3.1 Die Macht der Vorurteile

Verdeckter Antisemitismus in der Mitte derGesellschaft trägt dazu bei, ein Klima gesell-schaftlicher Akzeptanz zu schaffen, das offe-nen Antisemitismus erst ermöglicht.Die Untersuchungen zu Fremdenfeindlichkeitund Antisemitismus zeigen, dass die Entrüs-tung in der Gesellschaft gegenüber rechtsex-tremistischen Gewalttaten sich primär auf dieGewalttätigkeit der Tätergruppe bezieht. BreiteEmpörung der Öffentlichkeit über Diskriminie-rungen von Bevölkerungsgruppen entstehtoffenbar erst dort, wo diese öffentlich mit phy-sischer Gewalt einhergehen. Nicht gegen dieDiskriminierung an sich richtet sich also derUnmut der Öffentlichkeit, sondern gegen diegewalttätige Form, in der sie sich ausdrückt.Ein wesentlicher gesellschaftlicher Auftrag ist,sich mit solchen Formen von Unterstützungs-systemen auseinanderzusetzen, die Diskrimi-nierung dulden oder durch Vorurteile fördern.Das gilt überall dort, wo Vorurteile offen ge-nährt werden. Es gilt aber auch dort, wo siesich, den Sprechenden oft selbst nicht be-wusst, nur in der Sprache verraten, selbst beijenen, die den Vorwurf des Antisemitismusweit von sich weisen würden.

Welche Funktion erfüllen Vorurteile für die-jenigen, die sie prägen, übernehmen und ver-breiten?Vorurteile sind zäh. Sie nähren sich von derVerallgemeinerung nicht verallgemeinerba-rer Einzelerfahrungen, von Zuschreibungenund Projektionen, von unüberprüften „ondit´s“ (Gerüchten), von hartnäckig auch nachihrer Widerlegung noch weitergetragenenFalschmeldungen, von unzulässigen Vermi-schungen, von argumentativen Verschie-bungen usw. Die Vielfalt ihrer scheinargumen-tativen Strategien könnte denjenigen mutloswerden lassen, der sie bekämpfen will.

Das Vorurteil meidet die Differenzierung.Es lebt davon, dass es die Welt einteilen kannin Gut und Böse,in Schwarz und Weiß.Es lebt davon, dass, wer sich dem Vorurteilanschließt,sich auf der Seite des Guten befindet.Das Vorurteil verlangt nach Bestätigung.Es lehnt die Überprüfung ab.

Das Vorurteil dient dem, der es pflegt, oftmalszur Verarbeitung eigener Schwächen. Vielebenötigen es zur Selbstdefinition und für daseigene Selbstwertgefühl, weil sie diese ausder eigenen Identität nicht herzustellen ver-mögen. So wird das Vorurteil vielfach grund-legend für das eigene Selbstbild, und dasmacht es besonders widerstandsfähig. DasVorurteil entsteht nicht durch Argumente,sondern es sucht sich die Argumente, die eszur eigenen Bestätigung braucht. Das machtes ausgesprochen schwer, ihm argumentativzu begegnen.

Quelle: How was it humanily possible, YadVaschem

Noch viel aussichtsloser scheint das Bemühen,kollektive Vorurteile von Gruppierungen auf-brechen zu wollen:

„Mr. X:Das Ärgerliche an den Juden ist, dass sie sichnur um ihre eigenen Leute kümmern.

Mr. Y:Aber die Spendenlisten der letzten Wohltätig-keitsveranstaltungen zeigen, dass sie im Ver-hältnis zu ihrer Anzahl sehr viel großzügiger fürdie Stadt gespendet haben als die Nichtjuden.

Mr. X:Das zeigt aber nur, dass sie immer wieder ver-suchen, sich in christliche Angelegenheiten ein-zuschmeicheln. Sie denken immer nur an Geld,deshalb sind auch so viele Juden Bankleute.

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Mr. Y:Aber eine neuere Untersuchung hat ergeben,dass der Prozentsatz der Juden am Bankgeschäftzu vernachlässigen ist, auf jeden Fall viel kleinerist als der Prozentsatz der Nichtjuden.

Mr. X:Da haben Sie es; sie vermeiden das solideGeschäft, sie bevorzugen das Filmgeschäft undunterhalten die Nachtclubs.“

Gordon W. Allport: Die Natur des Vorurteils,Köln 1971, S. 27/28

Der „common sense“ der Vorurteile gewähr-leistet in vielen Gruppierungen den Gruppen-zusammenhalt. Die Korrektur von Vorurteilenbei Einzelnen beendet zugleich deren Grup-penzugehörigkeit.

Gehen Vorurteile mit sich wiederholenden ab-wertenden Bemerkungen gegenüber be-stimmten Bevölkerungsgruppen einher, sokönnen solche Abwertungen die Gewalt-schwelle von ohnedies schon zur Gewalt be-reiten Menschen senken, da diese sich nun alsVollstreckende einer eingebildeten schweigen-den Mehrheit fühlen können, in deren Auf-trag zu handeln sie sich berufen fühlen.

„Die Technik des antisemitischen Diskurses liegtin der Instrumentalisierung des Vorurteils, inder Beschwörung des Ressentiments, in der raf-finierten Erzeugung von Assoziationen undKonnotationen.“(Wolfgang Benz, ebd. Seite 167)

1.2.3.2 Die Debatte um eine „NationaleIdentität“

Eine Untersuchung unter mehr als 2000Studierenden aller Fachrichtungen der Uni-versität-Gesamthochschule Essen wurde 2002veröffentlicht unter dem Titel „Die unbequemeVergangenheit. NS-Vergangenheit, Holocaustund die Schwierigkeiten des Erinnerns“ (Hg.K. Alheim und B. Heger, Schwalbach/Ts. 2002).Unter anderem kommt sie zu dem Ergebnis:„Der Wunsch endlich wieder ein ‚normales’Volk zu sein, das sich auch politisch-militärischwie andere (Groß-) Mächte ‚engagieren’ sollund darf, beherrscht, wie wir zeigen können,auch die Köpfe vieler Studierender.“ (ebd. S. 5)Und nicht nur diese: Fünfzig Jahre nach demEnde des Zweiten Weltkriegs trauen sichMeinungs- und Entscheidungstragende inunserer Gesellschaft, zu denen auch manchekirchenleitende Personen zählen, wiederüber Nationalismus nachzudenken. Das Wortselbst vermeiden sie dabei jedoch, ausgutem Grund.Wer die Frage nach unterschwelligen antise-mitischen Tendenzen in unserer Gesellschaftstellt, wird auch hierauf antworten müssen.Viele der Essener Studierenden fordern densattsam bekannten „Schlussstrich“, der unterdie Vergangenheit zu ziehen sei.Gerade unsere jüngere Vergangenheit imNationalsozialismus ist Bestandteil unserernationalen Identität, den man nicht abspaltenkann, ohne schizophrene Gesinnungen hervor-zurufen und den man nicht verdrängen kann,ohne neurotische Gesellschaftsstrukturen zuproduzieren.

Die Hartnäckigkeit des unterschwelligen Anti-semitismus in Deutschland findet teilweiseErklärungen in der Geschichte der christlichenKirchen, sie findet aber auch Erklärungen inder Art des Umgangs politischer und gesell-schaftlicher Leitfiguren mit unserer jüngerenGeschichte:

„Wir sind eine normale, tüchtige, leistungsfähi-ge Nation, die das Unglück hatte, zweimalschlechte Politiker an der Spitze ihres Landes zuhaben.“(Franz Josef Strauß)

In: K. Ahlheim/B. Heger: Die unbequeme Ver-gangenheit. NS-Vergangenheit, Holocaust unddie Schwierigkeiten des Erinnerns,Schwalbach/Ts. 2002, S. 8Quelle: Felix Mussil (Frankfurter Rundschau 1979)

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

„Pech gehabt?“ Wer die Schoa unter dieserKategorie zu verbuchen vermag, der darf sichüber latenten Antisemitismus nicht wundern.Wer die Naziherrschaft als abstraktes Phäno-men behandelt, schafft einen Raum, in demalte Vorurteile sich neu entfalten können.

Als „antisemitische Abwehraggressionengegenüber der Erinnerung an die NS-Verbrech-en“ bezeichnet der Politologe Lars Rensmanndie Walserrede von 1998 in der Paulskirche undderen Wirkungsgeschichte, die das Schluss-strichdenken intellektuell endgültig hoffähiggemacht haben (Enthauptung der Medusa -In: M. Brumlik / H. Funke / L.Rensmann, Um-kämpftes Vergessen, Berlin 2000).

Rudolf Augstein über das Mahnmalprojekt inBerlin im Spiegel:

„Man ahnt, dass dieses Schandmahl gegen dieHauptstadt und das in Berlin sich neu formie-rende Deutschland gerichtet ist. Man wird abernicht wagen, so sehr die Muskeln auch schwel-len, mit Rücksicht auf die New Yorker Presseund die Haifische im Anwaltsgewand, die MitteBerlins freizuhalten von einer solchenMonströsität.“ Spiegel Nr.49/98, S.32

Das ist nicht weit entfernt von der antisemi-tischen Propaganda des Nationalsozialismuszur „jüdischen Weltpresse“.

Es ist zu vermuten, dass die Motive für einneues nationales Bewusstsein und eine neuenationale Identität auch wieder ein antisemi-tisches Feindbild in sich bergen. WolfgangBenz, Historiker und Leiter des Zentrums fürAntisemitismusforschung, stellt jedenfalls inseinem Buch „Was ist Antisemitismus?“ fest,„dass Ressentiments gegen Juden einenhohen Gebrauchswert haben, wenn Diskurseüber nationale Identität und Selbstwertge-fühle in Gang gesetzt werden“ (WolfgangBenz, ebd. S.170).

1.2.4 Die Vermengung antijüdischerKlischees mit Kritik an der Politik des Staates Israel und das Heranziehenvon Geschichtsvergleichen

Schließlich fällt auf, dass angesichts des Nah-ostkonfliktes Kritik an der Politik des StaatesIsrael mit antijüdischen Klischees vermengtwird und unzulässige Geschichtsvergleicheherangezogen werden.

Bei den antijüdischen Klischees werden ver-meintliche jüdische Wesenszüge behauptet,die in den Konflikt zwischen Israel und Pa-lästina hineinprojiziert werden. Folgende„Wesenszüge“ sind zu nennen:

• Der am häufigsten unterstellte jüdischeWesenszug, der für die israelische Politikverantwortlich gemacht wird, ist sein an-geblicher Vergeltungscharakter. Bis in dieKommentare seriöser Presseorgane findetsich die Einschätzung, die zudem noch grobfalsch verstandene biblische Rechtsformel„Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (vgl. Glos-sar Punkt 4) sei der vermeintlich zentrale undleitende Beweggrund israelischer Politik.

• Ähnlich verhält es sich mit der Behauptung,die biblische Rede von der Erwählung undinsbesondere die damit zusammenhängen-de Landverheißung sei richtungsweisendfür die israelische Politik der Besatzung inder Westbank und im Gazastreifen (vgl.Glossar Punkt 6).

• Ebenfalls aus der biblischen Rede von derErwählung abgeleitet wird eine Kritik, diedie Diskriminierung von palästinensischenStaatsbürgern Israels und Israels Politik inden besetzten Gebieten als rassistisch mo-tiviert brandmarkt und die den Zionismusinsgesamt als rassistische Ideologie verur-teilt (vgl. Glossar Punkt 7).

Was Vorurteile unterstellen:

Auge um Auge, Zahn um Zahn:VergeltungspolitikLandverheißung: BesatzungspolitikErwählung: Rassistische Politik

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Eine andere Form der Vermengung stellt dasHeranziehen von Geschichtsvergleichen dar.Folgende Geschichtsvergleiche lassen sichbeobachten:

• Oft wird der Vorwurf erhoben, Israel handle„wie die Nazis“ oder verwende „Nazime-thoden“.

• Spezieller wird Israel „Völkermord“ oder„Genozid“ vorgeworfen.

• Die Diskriminierung von Arabern und Ara-berinnen wird mit der Judenpolitik derNazis verglichen.

• Nahe bei solchen geschichtslosen Ver-gleichen steht der häufig erhobene Vorwurf,Israels Politik sei vergleichbar mit der Apart-heidpolitik Südafrikas.

• Pauschal wird die israelische Politik als „ras-sistisch“,„faschistisch“ oder „imperialistisch“verurteilt.

1. April 2002, Berlin-AlexanderplatzQuelle: Ralf Fischer – Agentur Ahron, Berlin

In dieser Hinsicht kann auch von einem „ver-steckten“ Antisemitismus gesprochen wer-den, der sich in folgenden Variationen wider-spiegelt:

1. Die Aberkennung des Existenzrechts Israelsund des Rechts auf Selbstverteidigung.

2. Historische Vergleiche der israelischenPalästinenserpolitik mit der Judenverfol-gung im Nationalsozialismus.

3. Die Beurteilung der israelischen Politik miteinem doppelten Standard: Man verurteiltbestimmte politische Maßnahmen in Israel,jedoch in anderen Ländern nicht.

4. Die Übertragung antisemitischer Stereo-type auf den israelischen Staat. Israel wirdzum „kollektiven Juden“ gemacht.

Heyder, A. u.a., Israelkritik oderAntisemitismus, In: Deutsche Zustände Folge 3, Frankfurt a.M. 2005, S. 146f

Charakteristisch für diese unsachgemäßeKritik ist, dass die emotional hoch besetztenBezeichnungen „Rassismus“, „Faschismus“,„Imperialismus“, „Apartheid“, „nationalsozia-listisch“ usw. aufgrund einzelner Vergleichs-punkte übertragen werden (Israelische Sol-daten malen Nummern auf die Arme palästi-nensischer Gefangener; arabische Staatsbürgerund –bürgerinnen Israels sind zu bestimmtenBerufen nicht zugelassen o.ä.). Sie werden imGewand soziologischer Kategorisierungen ge-braucht, dienen aber lediglich als Kraftaus-drücke zur Ächtung und Verunglimpfung is-raelischer Politik. Der Analyse der besonderengesellschaftlichen Verhältnisse in Israel oder inden besetzten Gebieten stehen sie eher imWeg, weil sie zum Schüren von Emotioneneingesetzt werden.

Die eigentliche Funktion solcher unsachge-mäßen Vergleiche ist vielfach der Versucheiner Entlastung der deutschen Geschichte,nach dem Motto: „Die Juden' sind ja auchnicht besser ...“

Die Verwendung solcher Vergleiche wird nichterträglicher durch den Hinweis darauf, dassja auch in Israel selbst solche Vergleiche ge-zogen werden (vgl. den Vorwurf von Gegnerndes israelischen Abzugs aus dem Gazastreifen,die Evakuierung der Siedler sei vergleichbarmit der Deportation der Juden durch dieNazis in Europa).Ein Fehlverhalten wird nicht dadurch gerecht-fertigt, dass andere – und seien sie jüdischeMenschen – dasselbe Fehlverhalten an denTag legen.

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

1.3 Ein „neuer“Antisemitismus

In der Diskussion ist in den letzten Jahrenvom so genannten „neuen“ Antisemitismusdie Rede. Die bisherigen Ausführungen habendeutlich gemacht, dass die Judenfeindschaftein altes Phänomen darstellt. Was ist alsoneu?Neu sind weniger die Inhalte. Neu sind vorallem die Erscheinungsformen, Konstella-tionen und Intensitäten sowie allein die Tat-sache, dass es nach Auschwitz hier in Deutsch-land einen vermehrt öffentlich auftretendenAntisemitismus gibt.

Folgende Aspekte sollen an dieser Stellegenannt werden:

• Neu im Sinne einer Veränderung ist, dass„man“ sich wieder mehr traut. Waren vorJahren antisemitische Briefe z. B. an denVorsitzenden des Zentralrats der Judenanonym, so werden die Zuschriften heutemit Absender zugestellt. Was vorher schonda war, kommt jetzt offener ans Tageslicht.

• Der Journalist Philipp Gessler spricht in sei-nem Buch „Der neue Antisemitismus“ vonder „Befürchtung einer neuen antisemiti-schen Welle aus den Beitrittsländern derEuropäischen Union“ (ebd. S. 125ff). Speziellin Osteuropa sind in den letzten Jahrenvermehrt antisemitische Ressentimentswahrzunehmen. Zugewanderte ausOsteuropa bringen diese Ressentiments oftungebrochen mit in die Bundesrepublik.

• Der so genannte muslimische Antisemitis-mus kommt hinzu. Von muslimischer Seitewerden die umfangreichen antisemitischen„Traditionen“ entdeckt und für das politischeTagesgeschäft instrumentalisiert, wie es sichz.B. in den Äußerungen des iranischenStaatspräsidenten MahmudAhmadinedschad oder in vielfältigenKarikaturen der arabischen Presse wider-spiegelt. Besonders schwer wiegt dieseForm von Judenfeindschaft, weil sie dieGefährdung des Staates Israel verstärktund den israelisch-palästinensischenKonflikt zusätzlich belastet.

• Qualitativ neu ist zudem die Tatsache, dasssich auch „der“ Antisemitismus globalisiertund vernetzt hat und antisemitische Äuße-rungen durch das Medium Internet frei zu-gänglich geworden sind bzw. verbreitetwerden können.

Û Vgl. dazu den historischen Überblick[Kapitel 5: Entwicklungen nach dem 2.Weltkrieg] und den Sammelband „Neuer Antisemitismus?“ Hg. DoronRabinovici u.a. (siehe Literaturangaben).

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

Das Phänomen der Judenfeindschaft gehörtnach wie vor zu unserer alltäglichen Realität.Als Bürger und Bürgerinnen und als Christenund Christinnen sind wir herausgefordert,Stellung zu beziehen und Vorurteile abzu-bauen.

„Im Übrigen ist der hartnäckige Kampf gegenden Antisemitismus Eure Angelegenheit. Dennwenn dieser Hass auch manchmal eine tödli-che Gefahr für uns darstellt, so ist er dochEure Krankheit, er ist das Übel, das Euch ver-folgt.“

Manes Sperber, in: Freiburger Rundbrief Nr.57/60, Januar 1964, S. 76

• Wir sind gefordert, weil Feindschaft gegen-über einer bestimmten Gruppe gegen dieMenschenrechte verstößt.

• Wir sind gefordert, weil wir durch JesusChristus, den Juden, mit dem jüdischen Volkuntrennbar verbunden sind. Mit der Ände-rung des Grundartikels unserer Kirchenord-nung wurde zum Ausdruck gebracht: Unserchristliches Selbstverständnis ist nicht ohnedas jüdische Volk denkbar. Hieraus ergibtsich die geschwisterliche Aufgabe, gegenjede Form von Judenfeindschaft einzutreten.

Die Einfügung in den Grundartikel derKirchenordnung der Evangelischen Kirche imRheinland (EKiR) von 1996 lautet:„Sie (die Kirche) bezeugt die Treue Gottes,der an der Erwählung seines Volkes Israelfesthält. Mit Israel hofft sie auf einen neuenHimmel und eine neue Erde.“

• Als Christen und Christinnen sind wir da-rüber hinaus gefordert, weil christliches Re-den und Handeln wesentlich zum Antise-mitismus beigetragen haben. Nachhaltigist unsere Tradition von judenfeindlichenVorurteilen durchzogen. Hieraus erwächsteine Verantwortung, im biblischen Sinneumzukehren und zu lernen, die jüdischeTradition jenseits von Klischees undVerzerrungen zu sehen.

In dem Synodalbeschluss „Zur Erneuerungdes Verhältnisses von Christen und Juden“der Synode der EKiR von 1980 heißt es:„Wir bekennen betroffen die Mitverant-wortung und Schuld der Christenheit inDeutschland am Holocaust.“

Wenn wir als Kirche an dieser Stelle Verant-wortung übernehmen, dann vor allem in dreiBereichen:

• Wir haben die Umkehr und Erneuerung inder Theologie fortzusetzen. Der mit demBeschluss der rheinischen Synode 1980begonnene Prozess, in dem die evangelischeKirche sich von den judenfeindlichen Ele-menten ihrer Tradition trennte und die Ent-wicklung einer nicht judenfeindlichen Theo-logie vorantrieb, ist noch nicht abgeschlossenund braucht weitere Schritte der praktischenUmsetzung für Gottesdienst, Kirchenmusik,Unterricht und die theologische Aus- undFortbildung. Nur wenn wir nicht nachlassen,die eigene historische Verantwortung fürden Antisemitismus aufzuarbeiten, könnenwir von anderen einfordern, sich ihrerseitsantisemitischen Vorurteilen zu stellen undsich an deren Überwindung zu beteiligen.Der Beschluss von 1980 „ist aber ein ent-scheidend wichtiger erster Schritt in einemuns allen aufgetragenen Lernprozess, durchden wir auf theologische Fragen hingewie-sen werden, denen wir nicht ausweichendürfen. Ich bitte die Gemeinden, sich andieser Aufgabe zu beteiligen.“ (Präses KarlImmer im Vorwort der Handreichung „ZurErneuerung des Verhältnisses von Christenund Juden“ 1980, ebd. S. 8f)

• Wir beteiligen uns daher auch an gesell-schaftlicher Bewusstseins- und Bildungs-arbeit in Schule und Erwachsenenbildung.

2. Unsere christliche und staatsbürgerliche Verantwortung

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• Schließlich beteiligen wir uns an der Aufgabedes „Erinnerns“. Dieses Erinnern bezieht sichzum einem auf zentrale oder lokale Gedenk-veranstaltungen, z. B. zur Pogromnacht 9. No-vember 1938. Zum anderen umfasst das Er-innern auch die Rekonstruktion jüdischenLebens hier in Deutschland vor 1945. Hierbeisind wir als Kirche nicht nur angesichtsunserer Mitverantwortung, sondern auchvon unserem eigenen Selbstverständnis hergefordert. Das „Sich-Erinnern“ gehört zuden Wesenszügen christlichen Glaubens.Wir sind beim Kampf gegen jede Form von

Antisemitismus von der Einsicht geleitet,dass das Erinnern gegen das Vergessenschützt und davor bewahrt, das Vergangeneals abstraktes Phänomen zu behandeln.Erinnern bedeutet, das Gedächtnis der Op-fer und damit ihre Würde zu bewahrensowie Verantwortung für die Folgen derVergangenheit in der Gegenwart zu über-nehmen.

Nur so kann das Urteil an die Stelle desVorurteils treten.

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

Wie können wir unserer Verantwortung imKampf gegen den Antisemitismus nachkom-men?Ein erster Schritt ist Lernen:

3.1 Genau hinsehen – konkret benennen – sorgfältig unterscheiden

Es ist einfach, etwas oberflächlich zu be-trachten. Und einfach ist es auch, etwas zuverallgemeinern oder mit etwas anderem zuvermischen. Das führt jeweils dazu, ein schnel-les Urteil ohne viel Aufhebens zu fällen. Dasbedeutet, einem Gegenüber oder einer An-gelegenheit nicht gerecht werden zu können.Daher sind für jedes menschliche Miteinan-der – und das heißt auch für das Miteinan-der mit jüdischen Menschen – drei Aspektenotwendig:• das genaue Hinsehen• das konkrete Benennen• die Unterscheidung von Ebenen

Das genaue Hinsehen bedeutet, Dinge nichtoberflächlich zu betrachten. Genaues Hin-sehen verlangt, sich nicht mit Teilinforma-tionen, Gerüchten, Vermutungen o.ä. zufriedenzu geben. Anzustreben ist, einer Sache mög-lichst auf den Grund zu gehen. Manchmalwerden Dinge dadurch komplexer und auchkomplizierter wie z.B. der israelisch-palästi-nensische Konflikt. Aber das genaue Hinsehenist eine Voraussetzung, sich ein Urteil bildenzu können.

Das konkrete Benennen zielt darauf ab, pau-schale Urteile zu vermeiden. Wird unkonkre-tes Reden oft von Emotionen genährt, liegtdie Chance im Konkreten, wirklich über dieSache reden zu können. Zudem ist eine Er-fahrung im menschlichen Miteinander, dassim Hinblick auf Kritik ein konkretes Reden dasOhr des Gegenübers eher erreicht als ein all-gemeines. Besonders wichtig ist dieser Aspekt,wenn es um die so genannten „berechtigteKritik an Israel“ geht.

Schließlich ist das sorgfältige UnterscheidenKriterium für ein sachgerechtes Reden. Un-kritisches Vermengen z.B. beim Reden überJuden und Jüdinnen, Judentum oder den StaatIsrael ist demgegenüber ein Indiz für vorur-teilsgelenktes Reden. Es gibt vielfältige Ver-mischungen, die immer wieder auf eine ne-gative Bewertung von Juden und Jüdinnenim Allgemeinen, des Judentums oder desStaates Israel im Besonderen hinauslaufen.

„Kritik“ ist von der Wortbedeutung des zu-grunde liegenden griechischen Begriffs her„Unterscheidung“. Kritisches Denken und Re-den ist also ein Denken und Reden, das zuunterscheiden weiß. Unkritisches Gerede da-gegen bringt Dinge durcheinander, weil essich nicht die Mühe macht, zu unterscheiden.

Diese drei Aspekte sollen in den folgendenLernfeldern beachtet werden.

3. Impulse für ein Denken, Reden undHandeln jenseits der Judenfeindschaft

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3.2 Lernfelder

3.2.1 Theologische Lernfelder

3.2.1.1 Christliche Existenz ohneAntijudaismus

Grundsätzlich gehören zu den theologischenLernfeldern alle Themen, die unsere religiöseTradition betreffen. Das Lernen hat bei unsselbst anzufangen, da die lange Tradition derJudenfeindschaft unsere Existenz als Christen-heit berührt. An dieser Stelle sei auf das Glos-sar im Anhang verwiesen, in dem auch einigetheologische Themen angeführt sind, die vonantijüdischen Klischees geprägt sind.

Das theologische Lernfeld kann aber grund-sätzlich umschrieben werden als die Suchenach einem Glauben, der ohne „Feindbilder“und insbesondere ohne die religiöse Varianteder Judenfeindschaft auskommt.Was ist damit gemeint?Die unterschiedlichen judenfeindlichenKlischees sind in das christliche Glaubensver-ständnis als eine Art Negativfolie integriertworden: z.B. der liebende Gott des NeuenTestaments in Abgrenzung zum vermeintlichstrafenden Gott im Alten Testament – die Bot-schaft von der Rechtfertigung aus Gnade alleingegen die vermeintliche Werkgerechtigkeit imAlten Testament – die Christenheit als dasneue auserwählte Volk im Gegenüber zumvermeintlich verworfenen Volk Israel.In unserer christlichen Tradition wurden solcheVerzeichnungen des Alten Testaments unddes Judentums nicht nur in Kauf genommen,um den eigenen Glauben zu stärken:So strahlt die Botschaft von der Rechtfertigungumso mehr, wenn man sie farbenfroh auf demHintergrund einer vermeintlichen „jüdischenWerkgerechtigkeit“ predigt.Dieses Festlegen Israels auf eine solche Ne-gativfolie hat uns als Christen und Christinnendarüber hinaus auch brisante Fragen vom Lei-be gehalten. Ist Israel als Gegenüber „theolo-gisch erledigt“, braucht man sich nicht mehrmit Fragen auseinanderzusetzen, die unser ei-genes christliches Selbstverständnis betreffen:

• Was bedeutet es für uns, wenn Israel ebennicht verworfen ist und nach wie vor einepositive Rolle in Gottes Heilsplan spielt?

• Was bedeutet es für uns, dass Israel in die-ser positiven Rolle Jesus mehrheitlich nichtals Messias anerkennt und so dieMessiasfrage offen hält?

• Was bedeutet es, dass wir mit Israel aufeinen neuen Himmel und eine neue Erdehoffen?

Es ist vollkommen klar, dass das Christentumund das Judentum in zentralen Punkten wiez.B. in der Frage nach dem Messias voneinan-der unterschieden sind. Diese Unterschiedesollen und können auch nicht eingeebnetwerden.Aber christlicher Glaube bedarf keiner Ver-zeichnungen des jüdischen Glaubens unddes Alten Testaments. Christliche Identitätkann im Angesicht Israels formuliert werden,ohne das Judentum als Negativfolie zubenutzen.Der erste Schritt heißt, sich von Klischees zuverabschieden.

3.2.2 Gesellschaftspolitische Lernfelder

Neben den theologischen Aspekten gibt eseine ganze Reihe gesellschaftspolitischer Ge-sichtspunkte, die in vielen Diskussionen im-mer wieder auftauchen. So hat das Institutfür interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltfor-schung (Universität Bielefeld) in einer Unter-suchung mit ca. 3000 Befragten im Jahr 2004– dem sog. GMF-Survey (GruppenbezogeneMenschenfeindlichkeit in Deutschland) –herausgefunden, dass zwischen 31,7 Prozentund 44,4 Prozent ihre Antipathie gegenüber„Juden“ auf die Politik Israels zurückführen(Heyder, A. u.a., Israelkritik oderAntisemitismus,In: Deutsche Zustände Folge 3, Frankfurt a. M.2005, S. 144f).

3.2.2.1 Jüdische Deutsche und Israelis

Juden und Jüdinnen, die hier leben, werdenimmer wieder auf die Politik Israels ange-sprochen oder sogar zu Israelis gemacht.

Dem verstorbenen ehemaligen Vorsitzendendes Zentralrats der Juden in Deutschland,Ignatz Bubis, gratulierte vor Jahren beimStaatsbesuch des israelischen Präsidenten Ezer

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

Weizmann nach dessen Rede vor demBundestag ein Politiker mit den Worten: „IhrPräsident hat heute eine wunderbare Rede vordem Bundestag gehalten!“ Worauf Bubis ant-wortete: „Ist das so? Ich wusste gar nicht, dassRoman Herzog heute vor dem Bundestag eineRede gehalten hat.“

vgl. Salomon Korn, Zwischen allen Stühlen,FAZ 30.3.2005

Jüdische Deutsche wirkten und wirken imöffentlichen Leben Deutschlands und nichtIsraels mit. Auch wenn bei den meisten einegroße Verbundenheit zum Staat Israel zu er-kennen ist, sind sie keine Staatsbürger und -bürgerinnen Israels.Sie haben, wie alle deutschen Staatsangehöri-gen, das Recht auf ihre je eigene Haltung zumStaat Israel, die sie in einer großen Bandbreitevon Solidarität und Kritik einnehmen.

3.2.2.2 Jüdische Religion und israelischePolitik

Unzutreffende oder oberflächliche Vorstel-lungen, die wir uns von der jüdischen Religionmachen, werden immer wieder mit israeli-scher Politik vermengt.Entscheidungen und Handlungen israelischerRegierungen werden auf angeblich zugrundeliegende religiöse Momente zurückgeführt:das „Vergeltungsdenken des Judentums“, dieLandverheißung oder die Erwählung.

Die auch politische Relevanz jüdischer Tradi-tionen kann aber nicht automatisch mit denMotiven der politischen Akteure heute gleich-gesetzt werden.

Ein Beispiel: Eine zentrale jüdische Glaubens-aussage ist die Rede von der Landverheißung.In einer kurzschlüssigen Wahrnehmung wirdsie für die Siedlungspolitik israelischer Regie-rungen verantwortlich gemacht.

Unser Bild, das wir uns vom Judentummachen, ist daher kritisch zu hinterfragen.Hierbei werden wir auf den Umstand ge-stoßen, dass das „Judentum“ nicht als eineeinheitliche Größe zu verstehen ist.

Eine Aufgabe, die sich daraus ergibt, istunterscheiden zu lernen zwischen

• den religiösen Traditionen • den religiös-politischen Gruppen im Juden-

tum, die lange Zeit und zu einem nicht un-erheblichen Teil bis heute dem zionistischenProjekt und dem Staat Israel ablehnendgegenüberstehen

• den vielfältigen, differenzierten Bemühung-en religiöser wie nichtreligiöser Juden, diereligiöse Tradition zur heutigen Situation inBeziehung zu setzen

• den politisch sehr unterschiedlich motivier-ten Auseinandersetzungen religiöser wienichtreligiöser Gruppierungen über Rechtoder Unrecht der israelischen Siedlungs-politik

Û Vgl. Glossar Punkt 6, S. 33

3.2.2.3 Israelische Politik und deutscheGeschichte

So fragwürdig und kritikwürdig für uns poli-tische Entscheidungen in der israelischen Po-litik im Einzelnen sind: Vergleiche mit der Po-litik der Nationalsozialisten sind unzulässig.Sie tragen zum Verstehen israelischer Politiknichts bei.

Andererseits kann auch nicht der Verweis aufden Nationalsozialismus herangezogen wer-den, um politische Entscheidungen Israelsheute zu entschuldigen. Sicherlich hat diePolitik des Massenmordes an Juden und Jü-dinnen zwischen 1933 und 1945 Auswirkungenauf die Geschichte des Nahen Ostens und denKonflikt zwischen der zionistischen Bewegungund der palästinensischen Bevölkerung.Diese Rückwirkungen sind jedoch nicht einli-nig, und sie sind vor allem nicht der einzigeFaktor, der die Geschichte des Nahen Ostensgeprägt hat. Die Motive, Ziele und Beschrän-kungen der jüdischen, arabischen, britischenund anderer Beteiligten vor, während undnach der Nazizeit sind ebenso zu berücksich-tigen.

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3.2.2.4 Wichtige Aspekte im israelisch-palästinensischen Konflikt

Die Gründe dafür, dass der Staat Israel sich ineinem blutigen Konflikt mit dem palästinen-sischen Volk befindet, sind außerordentlichvielschichtig. Schuldzuweisungen helfen nichtweiter bei der Suche nach einer friedlichenLösung dieses Konflikts. Ebenso wenig hilftes weiter, sich in diesem Konflikt auf eine derbeiden Seiten zu schlagen, weil sie angeblichallein oder vorwiegend Opfer der Feindschaftund Gewalt der anderen Seite sei.Es geht aber auch nicht um irgendeine Aus-gewogenheit. Vielmehr gehört es zu unseremBemühen, dass wir problematische Denkvor-aussetzungen und Entwicklungen beider Kon-fliktbeteiligten wahrnehmen und benennen.

Die weiteren Ausführungen sind ein Versuch,grundlegende Aspekte dieses Konfliktes zubenennen:

Aspekte auf der arabisch-palästinensischenSeite

• Auf der arabisch-palästinensischen Seitesehen wir das historische Problem, dass dieDynamik der zionistischen Bewegung unddie tiefe Verbundenheit des Judentums mitdem Land Israel bis heute aufgrund ideolo-gischer und religiöser Einstellungen verkanntwird. Aus dieser Haltung heraus meinte eineMehrheit der arabisch-palästinensischenSeite immer wieder, die durch den Staat Is-rael geschaffene politische Realität mit Ge-walt beseitigen zu können. Damit wird vorallem den Palästinensern und Palästinense-rinnen bis heute die Perspektive auf einmenschenwürdiges Leben genommen. Diepalästinensische Bevölkerung ist, auch wennsie die schwächere Seite in diesem Konfliktist, keineswegs nur Opfer, sondern aufgrundder politischen Fehlentscheidungen ihrerFührungen und der Regierungen der arabi-schen Staaten mitverantwortlich für ihreimmer noch beklagenswerte Situation.Speziell der Terror durch Selbstmordattentateist der destruktivste Ausdruck dieser falsch-en Politik.

• Im Gefolge des bis heute anhaltenden Kon-flikts haben in der arabischen Welt immermehr antisemitische Klischees Verbreitunggefunden. Weit über die traditionell ambi-valente Haltung der islamischen Welt dem

Judentum gegenüber und weit über nach-vollziehbare Frustration und Wut überisraelische Gewaltmaßnahmen gegen daspalästinensische Volk hinaus vergiftet dieungehemmte Verbreitung antisemitischerLügengeschichten (Verschwörungstheorien)das jüdisch-arabische Verhältnis und fördertungezügelten Hass und Mordtaten.

Wenn wir diese Aspekte ansprechen und vonder arabischen Seite ein Gewaltverzicht ge-genüber jüdischen Menschen proklamiertwird, können wir das berechtigte Anliegendes palästinensischen Volkes auf Freiheit undSelbstbestimmung wirksam unterstützen.

Aspekte auf der israelischen Seite

• Auf der israelischen Seite sehen wir das his-torische Problem, dass die Verbundenheit derPalästinenser und Palästinenserinnen mitdemselben Land und ihre Standhaftigkeitgegenüber der Übermacht Israels bis heutevon der Mehrheit in Israel unterschätztwerden. Dass nach dem Ende des Krieges1948/49 die Situation der palästinensischenFlüchtlinge nicht durch Israel selbst und dieinternationale Gemeinschaft entschlossengebessert wurde, erweist sich bis heute alsschwerste Hypothek im Verhältnis zwischenIsrael und der arabischen Welt.

• Die völkerrechtliche Grundlage der ExistenzIsraels ist der Beschluss der UNO zur Teilungdes britischen Mandatsgebiets Palästinazwischen den beiden Bevölkerungsgruppen,die Anspruch auf dieses Land als ihre Heimaterhoben. Die Politik der Besiedlung der 1967eroberten Gebiete ist vor allem deshalb un-rechtmäßig, weil sie diesem historischenKompromiss der UNO, der internationalesRecht gesetzt hat, widerspricht. Die mit derSiedlungspolitik einhergehenden Menschen-rechtsverletzungen erschweren darüberhinaus das Leben der palästinensischen Be-völkerung, zerstören Existenzgrundlagenund geben so dem Konflikt immer wiederNahrung.

Auch diese Aspekte müssen im Bemühen umeinen völkerrechtlich verantworteten Interes-senausgleich zwischen Israel und dem paläs-tinensischen Volk öffentlich geltend ge-macht werden.

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

Û Vgl. Jörn Böhme, Tobias Kriener, ChristianSterzing, Kleine Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts,Schwalbach/Ts., 2005

3.2.2.5 Der israelisch-palästinensischeKonflikt und unsere Betroffenheit

Betroffenheit angesichts von Unrechtssitua-tionen oder Gewalt ist Ausdruck von Mit-menschlichkeit. Betroffenheit ist als solcheauch nicht das Problem.Wenn es um die Bewertung von Unrecht oderGewalt gehen soll, darf es aber nicht alleinbei der Betroffenheit bleiben. Dies gilt umsomehr, wenn wir als Deutsche mit dem israe-lisch-palästinensischen Konflikt konfrontiertsind. Aus dem Unbehagen über die eigenedeutsche Geschichte und die Schuldzusam-menhänge angesichts der Schoa entspringtnicht selten der Wunsch nach Entlastung: Jemehr Unbehagen über die eigene Geschichte,desto größer die Empörung über Unrechtoder Gewalt, welche von israelischer Seiteverursacht worden ist.

Die Erfahrung zeigt, dass Deutsche auf Un-rechtssituationen oder Gewalt im Nahost-konflikt betroffener reagieren als auf ver-gleichbare Situationen in anderen Ländern.In der Berichterstattung der Medien kommtdies dadurch zum Ausdruck, dass aus Israelvergleichsweise intensiver berichtet wird alsaus anderen Krisenregionen. Es ist dabeigrundsätzlich zu bedenken, dass wir – wieimmer und überall – von den Medien abhän-gig sind, die uns Informationen über denKonflikt liefern. Intensität und Art und Weiseder Berichterstattung sind nicht wertfrei,sondern kritisch zu hinterfragen.

Ein kritischer Blick kann vor einseitigen, hochemotionalen Solidarisierungen bewahrenund zugleich die Proportionen des Konfliktszurechtrücken. Einseitige Wahrnehmungenund Wertungen können so verhindert werden.

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3.3. Handlungsfelder:Impulse für ein Miteinander

Was bedeutet das für den Alltag des Mit-einanders? Welche praktischen Konsequen-zen können für unser kirchliches und gesell-schaftliches Leben gezogen werden?

3.3.1 Unser Zusammenleben mit jüdischenMenschen hierzulande

Für dieses Zusammenleben gibt es unter-schiedliche Aspekte:

Einladungen aussprechen Wo jüdische Gemeinden existieren, bestehtdie Möglichkeit, Einladungen auszusprechen.Einladungen zu Festen, Veranstaltungen oderanderen Anlässen sind Ausdruck für ein In-teresse am Anderen. Zudem fördern Einla-dungen die Kultur einer guten Nachbarschaft.

Begegnungen organisierenDie Begegnung ist der erste Schritt, Vorur-teile oder Berührungsängste abzubauen. Eslohnt sich, für einzelne Gruppen (Gruppenunterschiedlichen Alters aus den Gemeinden,Schulklassen usw.) Begegnungen zu organi-sieren. Lernen beginnt, wo sich Menschenbegegnen.

Engagement für das Recht von Juden undJüdinnen auf Pflege ihres Glaubens und ihrerTraditionenWir begrüßen es, dass unser Staat mit demAbschluss eines Staatsvertrages (2003) dierechtlichen und materiellen Voraussetzungendafür geschaffen hat. Ziel muss sein, jüdischenMenschen zu ermöglichen, sich ohne Scheuauch nach außen hin zu ihrem Glauben zubekennen, ohne tätliche Angriffe befürchtenzu müssen.

Bildungsangebote zum Thema JudentumDas Judentum hat unterschiedliche Ausdrucks-formen. Um das Judentum in seiner Vielfalthier wie auch in Israel wahrnehmen und näherkennen lernen zu können, sind Bildungsan-gebote notwendig.

Einsatz für den Schutz der Juden undJüdinnen vor Anfeindungen aller ArtSolange jüdische Einrichtungen (Synagogen,

Schulen) unter Polizeischutz gestellt werdenmüssen, weil jüdische Bürger und Bürgerin-nen Anfeindungen ausgesetzt sind, habenwir einen Zustand, der nicht zu tolerieren ist.

Wachsamkeit angesichts der antisemiti-schen Strömungen in unserem LandIn den letzten Jahren ist zu beobachten, dassunter denen, die aus der ehemaligen Sowjet-union ausgewandert sind und unter Muslimenvermehrt antisemitische Klischees anzutref-fen sind. Es gilt also nicht nur, die eigene„Tradition“ im Blick zu haben, sondern auchandere Strömungen in einem Migrations-land wie Deutschland zu bedenken.

Couragiertes Eintreten gegen Vorurteilegegenüber Juden und Jüdinnen Antisemitische Andeutungen oder Klischeesbegegnen uns in unterschiedlicher Mixturund Intensität. Antisemitisches Reden dürfenwir nicht wachsen lassen. Dies bedeutet auch,den rechtlichen Rahmen unserer Gesellschaft –z.B. durch das Aufgeben einer Strafanzeige –auszunutzen.Fehlverhalten einzelner jüdischer Menschenkann nicht als „typisch jüdisch“ bezeichnetwerden.

Öffentliche Äußerungen bei antisemitischen VorfällenAntisemitische Vorfälle, wie sie in der jünge-ren Vergangenheit immer wieder stattgefun-den haben (z.B. Brandanschlag auf dieDüsseldorfer Synagoge, antisemitischeÄußerungen von Bundespolitikern), müssenöffentlich geächtet werden.

Dokumentation antisemitischer VorfälleWichtig ist auch die Dokumentation antise-mitischer Vorfälle vor Ort, um zu verhindern,dass Geschehenes nicht wahrgenommenwird oder sofort wieder in Vergessenheitgerät. Eine solche Dokumentation kannweitergeleitet werden z.B. an die Betreiberder Homepage „www.antisemitismus.net“.

Verdacht oder Vorwurf des AntisemitismusWenn in Auseinandersetzungen der Verdachtoder der Vorwurf antisemitischer Äußerungenauftauchen, hilft es weiter, sich über den Be-griff „Antisemitismus“ zu verständigen. Sokann die Kluft zwischen subjektiv Gemeintemund objektiv Wahrgenommenem überbrücktoder geschlossen werden.

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

3.3.2 Einstellung zum Staat Israel

Für die Einstellung zum Staat Israel gibt esunterschiedliche Optionen:

Vor allem ist die Ebene zu nennen, wo wiruns als Einzelne, Gemeinden und Kircheauch unmittelbar beteiligen können:

• Engagement für eine friedliche, gewaltfreieRegelung des Konflikts im Nahen Osten

• durch Unterstützung von Friedensinitiativenin Israel und Palästina

• durch Organisation von Informationsveran-staltungen zu Friedensinitiativen in Israelund Palästina

• durch Einladung von Mitgliedern der Frie-densbewegung in Israel und Palästina

• durch Förderung von Begegnungsprogram-men in Israel (z.B. Talitha Kumi, Nes Ammin,Neve Shalom/Wahat al-Salam [vgl. Internet-Adressen]).

Außerdem ist zu nennen, was von jedem vonuns im Alltag in Diskussionen und Gesprächeeingebracht werden kann:

• Die Erinnerung von Selbstverständlichkeiten,die immer wieder in Vergessenheit geraten:

• Israel ist durch Beschluss der Staatenge-meinschaft (UNO) gegründet worden.

• Israel ist Mitglied der internationalenStaatengemeinschaft.

• Das Existenzrecht des Staates Israel stehtaußer Frage.

• Der Staat Israel ist nach seiner Verfassungein demokratischer Staat mit allen dazuge-hörenden Merkmalen: freie Meinungs-äußerung, Gewaltenteilung und Rechts-staatlichkeit.

• Wie jeder Staat der internationalen Staaten-gemeinschaft ist Israel auf die UN-Chartaverpflichtet und bei Verletzungen der Chartarechenschaftspflichtig.

• Deutschland hat diplomatische Beziehungenzum Staat Israel. Darüber hinaus hat dieBundesrepublik Deutschland enge wirt-schaftliche, kulturelle und militärische Be-ziehungen zu Israel.

3.3.3 Einüben des Erinnerns vor Ort

Ein wichtiges Element hinsichtlich des Anti-semitismus ist das Sich-Erinnern. Erinnerungist ein elementarer Baustein im Kampf gegenden Antisemitismus. Nur wer sich erinnert,entrinnt der Gefahr, die Taten seiner Vorfahrenzu wiederholen.

Besuch von Stätten des Gedenkens

Es bietet sich an, am jeweiligen Ort Stättendes Gedenkens im direkten Bereich oder inder Umgebung einer Gemeinde bzw. Schulebesuchen.

Hier gibt es eine Vielzahl von Möglichkeiten,durch das Aufsuchen konkreter historischerErinnerungspunkte, mit Gruppen zu arbeiten.

Einige solcher möglichen Erinnerungspunktesollen genannt werden:

• Gedenksteine für ehemalige Synagogen• Gedenksteine bzw. Hinweise auf Gebäude,

die während des Nationalsozialismus bei derDiskriminierung bzw. der Deportation vonMenschen jüdischer Herkunft eine Rolle ge-spielt haben (Bahnhöfe, ehemalige Gebäudeder Gestapo)

• die so genannten „Stolpersteine“, die z. B.in Städten wie Köln, Düsseldorf oder Hildenvor Häusern eingelassen worden sind, umdarauf aufmerksam zu machen, dass dortjüdische Menschen gelebt haben, die vonNationalsozialisten deportiert worden sind

• alte jüdische Friedhöfe

Bei der Durchführung von Gedenkveranstal-tungen bzw. Initiativen ist darauf zu achten,dass dies möglichst in Abstimmung mit denjeweiligen jüdischen Gemeinden geschieht,weil bestimmte Formen des Gedenkens (wiez.B. durch die so genannten „Stolpersteine“)innerhalb der jüdischen Gemeinden sehr un-terschiedlich diskutiert werden.

Jüdischer Geschichte im Stadtteil bzw. in derStadt oder Region nachgehen

Mit Hilfe von Stadtarchiven (z. T. Schularchi-ven) oder Mahn- und Gedenkstätten ist esmöglich, jüdischer Geschichte vor Ort nach-zugehen. Dies ist eine Möglichkeit, einen Bei-trag gegen das Vergessen zu leisten

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Wer hat wo gewohnt …?Wer wurde wann deportiert oder konnte dasLand rechtzeitig verlassen …?Welche alteingesessenen Geschäfte gehör-ten früher jüdischen Familien …?

Es ist derzeit immer noch möglich, Zeitzeugenausfindig zu machen, die bereit sind, überdie damalige Zeit zu berichten.

Beteiligung an Gedenkveranstaltungen

Die Beteiligung an Gedenkveranstaltungenist ein Ausdruck von Solidarität mit jüdischenBürgern und Bürgerinnen. In einigen Städtenbieten diese Gedenkveranstaltungen zudemdie Möglichkeit der Begegnung mit jüdischenGemeinden oder jüdischen Autoritäten.

Wichtigste Daten im Jahreskalender sind diefolgenden Gedenktage:• 9. November

als Gedenktag der Pogromnacht 1938• 27. Januar

als Gedenktag der Befreiung aus demKonzentrationslager Auschwitz

In vielen Städten werden gute Erfahrungendamit gemacht, anlässlich der Gedenkveran-staltungen in Zusammenarbeit mit Schul-klassen und Gemeindegruppen wichtige As-pekte damaliger Ereignisse zu rekonstruieren.Schließlich sind Gedenktage immer auchAnlass, Zeitzeugen und Zeitzeuginnen einzu-laden.

Gegen Vergessen

Ich will mich erinnerndass ich nicht vergessen willdenn ich will ich seinIch will mich erinnerndass ich vergessen willenn ich will nicht zuviel leiden Ich will mich erinnerndass ich nicht vergessen willdass ich vergessen willdenn ich will mich kennen Denn ich kann nicht denkenohne mich zu erinnerndenn ich kann nicht wollenohne mich zu erinnerndenn ich kann nicht liebendenn ich kann nicht hoffendenn ich kann nicht vergessenohne mich zu erinnern Ich will mich erinnernan alles was man vergisstdenn ich kann nicht rettenohne mich zu erinnernauch mich nicht und nicht meine Kinder Ich will mich erinnernan die Vergangenheit und an die Zukunftund ich will mich erinnernwie bald ich vergessen mussund ich will mich erinnernwie bald ich vergessen sein werde

(Erich Fried)

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

An sich gibt es nichts Leichteres für uns, alseinen Beitrag gegen Judenfeindschaft zuleisten. Alle können da etwas tun.Ein erster Beitrag ist das Naheliegende:Das eigene Denken, Reden und Handeln kritisch zu prüfen.Das ist auch der entscheidende Schritt.Ein solcher Schritt ist ein Gewinn nicht nurfür das Miteinander mit jüdischen Menschenin unserem Land. Es ist auch ein Gewinn vonmehr Menschlichkeit: für uns selbst und dasmenschliche Miteinander ganz allgemein.Denn die Beschäftigung mit Klischees, Ressen-timents und all dem, woraus sich Antisemi-tismus nährt, macht sensibel für andere Vor-urteilsstrukturen, die es in unserer Gesellschaftja auch noch reichlich gibt. In diesem Sinneist ein Engagement gegen Antisemitismusauch ein Engagement für ein gutes Mitein-ander aller Menschen.

4. Statt eines Schlusswortes einHinweis auf das Naheliegende:Das eigene Denken, Reden undHandeln kritisch prüfen

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AnhängeA. Glossar:

Einige judenfeindlicheKlischees näher erläutert

1. „Die Juden“ und die ErwählungErwählung kann im Sinne von „Berufung“auch positiv besetzt sein. Im allgemeinenSprachgebrauch hat der Begriff oft einen ne-gativen Beigeschmack in dem Sinne, dassJuden und Jüdinnen sich als etwas Besonderesund Besseres gegenüber anderen fühlen.Ihnen wird vorgeworfen, sich abzusondernund sich nur um sich selbst und ihren Vorteilzu kümmern.

Nach biblischem Verständnis ist Israel das vonGott erwählte Volk. Indem der Gott Israelsmit ihm einen Bund schließt, geht er ein be-sonderes Verhältnis mit ihm ein. „Bund“ und„Erwählung“ stehen in einem engen Zusam-menhang. Das Bundeszeichen ist die Beschnei-dung der männlichen Mitglieder des Volkes.Mit der Erwählung sind Aufgaben und einebesondere Verantwortung verbunden. „Nureuch habe ich erkannt aus allen Geschlechternder Erde, darum suche ich an euch heim alleeure Sünden.“ (Amos 3,2). Israel soll zu demü-tigem Gehorsam gegen Gott geführt werden(5. Mose 7,6-11). Die Last der Erwählung istschwer, so wird Israel auch „Knecht Gottes“genannt. Gott handelt an Israel exemplarisch.An Israel sollen die Völker Gott erkennen unddurch das gelebte Beispiel seine Lehre an-nehmen. „Israel hat – das ist der tiefste Sinnseiner Begnadung durch Gott – die Aufgabe,beispielgebend auf die übrige Menschheit ein-zuwirken; es soll sein ethisches Gut nicht fürsich behalten, sondern allen Völkern mitteilen,auf dass sie aufsteigen zu immer höhererGesinnung.“ (Samson Hochfeld für den 21. Mai,in: Die Weisheit des Judentums, Gedanken fürjeden Tag des Jahres, hg. Von Walter Homolkaund Annette Böckler, Gütersloh 1999). Und inder jüdischen Liturgie heißt es: „Uns hast duerwählt ... um dich zu loben, deine Einzigartig-keit zu bezeugen und dich zu lieben“. VomVolk Israel wird die Befolgung einer Vielzahlvon Geboten erwartet, den anderen Völkernsind nur die so genannten „noachidischenGebote“ aufgetragen (vgl. Klaus Müller, Torafür die Völker, Berlin 1994).

Im Talmud wird die Frage, warum Gott aus-gerechnet Israel erwählt habe, so gedeutet:Gott habe allen Völkern seine Thora angebo-ten. Weil aber darin so schwere Forderungenenthalten waren, hätten sie diese zurückge-wiesen. Nur Israel habe die Thora angenom-men, ohne vorher nach den Forderungen zufragen. Somit bedeutet die Erwählung undihre Annahme keine Bevorzugung Israels undumgekehrt auch keine Zurücksetzung deranderen Völker:„Ein Heide, der sein Leben demStudium weiht, steht höher als selbst derHohepriester, der in Unkenntnis der Thoralebt.“ (Sifra zu Achare Mot). So versteht esauch Simon Bernfeld: „Die Erwählung hatdem jüdischen Volk nur Pflichten auferlegt,aber ihm keine bevorzugte Stellung gewährt.“(Die Weisheit des Judentums, a.a.O., für den19. Dezember).

2. „Die Juden“ und die Kreuzigung Jesu

Bis heute hält sich das Vorurteil: „Die Judensind schuld an der Kreuzigung Jesu“. DerSchuldvorwurf wird noch dadurch verstärkt,dass er als „Gottesmord“ verstanden wird.Man beruft sich dafür fälschlicherweise aufAussagen des Neuen Testaments, verallgem-einert diese und beachtet nicht den histori-schen Zusammenhang.Was besonders schwer wiegt: Der Vorwurf, dieJuden hätten Schuld am Tode Jesu, beziehtsich nicht – wie z.B. in jeder Rechtsprechungüblich – auf die damalige sadduzäischeHierarchie, der eine konkrete Beteiligungund/oder Schuld historisch nachgewiesenwerden könnte, er wird auf „die“ Juden inaller Welt und zu allen Zeiten übertragen, eineArt überzeitliche, immer gültige Kollektivhaf-tung. Damit waren und sind „die Juden undJüdinnen“ nicht nur generell belastet undangreifbar, sie müssen auch prinzipiell alle„bestraft“ werden. Haben sie dies nicht sogarselbst verschuldet und geschrieen „Sein Blutkomme über uns und unsere Kinder.“(Matthäus 27,25)? Haben sie sich damit nichtselbst verflucht?Was ist damals passiert?Die Kreuzigung stammt aus dem Orient undgilt als die grausamste Todesstrafe im Alter-tum. Der Todeskampf konnte mehrere Stun-den, sogar Tage dauern. Zur Abschreckungblieb der Leichnam am Kreuz hängen. DieKreuzigung als Todesstrafe wurde überSchwerverbrecher, Tempelräuber, Fahnen-

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

flüchtige, Hochverräter und Aufrührer sowieüber Sklaven verhängt. Seit der Zeit Herodesd. Gr. (37-4 v. Chr.) wurde sie nicht mehr prak-tiziert und galt seitdem in Judäa als ausge-sprochen römische Hinrichtungsart. Zwarfindet sich im 5. Buch Mose 21,22 ein Hinweis,wonach der Verbrecher an ein Holz gehängtwerden soll, aber es wird in der jüdischenTradition ausdrücklich festgestellt, dass diesnur nach vorheriger Tötung des Schuldigenerfolgen durfte. Außerdem musste der Leich-nam noch am gleichen Tag abgenommen undbegraben werden.

Die Kreuzigung Jesu fand um das Jahr 30 n.Chr. statt, in unmittelbarer zeitlicher Nähe zumPassahfest. Aus Anlass dieses alten Wallfahrts-festes kamen viele Juden nach Jerusalem zumTempel: Die Stadt war überfüllt. An einemPassahfest wird nach jüdischer Glaubensvor-stellung der Messias kommen. Insbesondereangesichts der politischen Situation, der Be-satzung durch die heidnischen Römer, war dieHoffnung auf das Kommen des Messias, daszugleich den Beginn der messianischen Frei-heit (Wiederaufrichtung des davidischenKönigreichs und politische Autonomie) brin-gen sollte, besonders hoch. Das Aufkommenvon Unruhen wurde seitens der Besatzungs-macht deshalb aufmerksam verfolgt. Als sichsolche Unruhen im Zusammenhang mit Jesuöffentlichem Auftreten andeuteten, sahensich die Römer zum Eingreifen veranlasst. Sokam es unter Beteiligung der sadduzäischenHierarchie zu einer Voruntersuchung, zur Aus-lieferung an die Römer, sodann zu Prozess,Verurteilung und Kreuzigung, die nach herr-schendem Recht nur auf Anordnung des rö-mischen Statthalters, Pontius Pilatus (im apos-tolischen Glaubensbekenntnis wird er – undnicht „die Juden“ – ausdrücklich genannt),ausgeführt und von römischen Soldaten voll-zogen werden durfte. Was die Evangelien be-richten, steht in Einklang mit dem, was wirüber die römische Praxis von Kreuzigungenwissen. „Die Juden“ sind also zunächst pau-schal von Schuld freizusprechen. Eine Mitbe-teiligung einiger Autoritäten der damaligenZeit, Hohepriester, Älteste und Schriftgelehrte,kann dabei eine Rolle gespielt haben. Inte-resse an der Aufrechterhaltung von „Ruheund Ordnung“ hatten insbesondere dieSadduzäer, die damalige Tempelaristokratie.Sie sympathisierten mit der römischenObrigkeit und versprachen sich davon denErhalt des Status quo und ihrer Privilegien.

Durch Jesu Säuberung des Tempels (die sogenannte „Tempelreinigung“) und seinendarin zum Ausdruck kommenden prophetisch-messianischen Anspruch sahen sie Ruhe undOrdnung und damit ihre Interessen gefährdet.Möglicherweise lieferten sie deshalb denRömern die Anklagepunkte. Dagegen kommtdie Gruppe der Pharisäer in der Kreuzigungs-geschichte nicht vor.

3. Der Gott der Juden: Ein Gott der Rache?

Vielfach hat sich das Christentum dadurchseiner Identität versichert, dass es das Juden-tum als „Negativfolie“ benutzt hat, um sichvor diesem dunklen Hintergrund umso hellerhervorheben zu können. Dazu gehört auchbis heute die Behauptung, der Gott Israelssei ein Rachegott, der der Christenheit hinge-gen der Gott der Liebe.Was hat es mit dem „Gott der Rache“ auf sich?Zunächst muss festgestellt werden, dass derGott des Juden Jesus von Nazareth der GottAbrahams, Isaaks und Jakobs, also der Gott derJuden und Jüdinnen ist. Das Alte Testamentkennt Gott insofern als Gott der „Ahndung“,als er selbst sich zum Richter des seinem VolkIsrael von den Feinden angetanen Unrechtsmacht. Er ahndet aber ebenso die Sündendes eigenen Volkes.

Das fälschlicherweise mit „Rache“ übersetztehebräische Äquivalent meint im biblischenSprachgebrauch vor allem die Wiederherstel-lung von Recht und ausgleichender Gerechtig-keit. So erscheint als das zentrale Attributdes Gottes Israels schon im Alten Testamentneben der Gerechtigkeit die Liebe. Dies istdurch zahlreiche Bibelstellen belegbar. JedemMenschen wird nach seinem Verdienst ver-golten, so fordert es die Gerechtigkeit Gottes:Er belohnt die Guten und bestraft die Bösen.Dies wird aber relativiert, denn die richtendeGerechtigkeit Gottes ist mit Milde gepaart.Gottes Liebe ist letztlich größer als seinerichtende und strafende Gerechtigkeit. Gottkann also auf den Rechtsvollzug verzichtenund die Strafe mildern: Er übt Gnade undBarmherzigkeit und nimmt reuige Sünderoder Sünderinnen wieder auf. Er ist der Gottder Liebe auch im Alten Testament. DerMensch ist nicht der Willkür einer rächendenGottheit ausgeliefert. Er wird an seinen Tatengemessen, er ist verantwortlich für sein Han-deln, er hat die freie Entscheidung.Wenn es nur einen einzigen Gott gibt, an den

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jüdische wie christliche Menschen glauben,dann gilt:„Ich bin der Ewige und keiner sonst,der das Licht bildet und die Finsternis schafft,Friede stiftet und Unheil schafft, ich, der Ewige,tue dies alles.“ (Jesaja 45,6-7) Gott lässt sichnicht aufteilen in einen alttestamentlichen„Gott der Rache“ für jüdisch und einen „Gottder Liebe“ für christlich Glaubende.Eine christliche Theologie, die die Liebe undGnade Gottes überbetont und an der Ge-rechtigkeit durchsetzenden und Ungerechtig-keit ahndenden Eigenschaft Gottes nur Anstoßnimmt, vergisst den letzten Teil des 2. Artikelsdes Apostolischen Glaubensbekenntnisses:„ …von dort wird er kommen zu richten dieLebenden und die Toten“.

4. „Auge um Auge – Zahn um Zahn“ alstypisch jüdische Lebenseinstellung?

Speziell diese Rechtsformel aus dem AltenTestament (2. Mose 21,24) wird immer wiederherangezogen, um z. B. Aktionen des israeli-schen Militärs als „typisch jüdisch“ abzuqua-lifizieren. Indem diese Formel angeführt wird,wird implizit oder explizit auf das unterstellteRache- und Vergeltungsdenken innerhalb desjüdischen Glaubens verwiesen. Innerhalb un-serer christlichen Tradition gehört dies zu denverhängnisvollsten Vorurteilen gegenüberdem Judentum.Die Formel „Auge um Auge – Zahn um Zahn“geht auf die älteste Gesetzgebung in Israelzurück und kennt für Totschlag und Körper-verletzung das „Jus talionis“. Darunter verstehtman das Recht der gleichartigen Vergeltung(auch im Sinne einer Verstümmelung desTäters). Ob dies tatsächlich in der Frühzeit sopraktiziert wurde, ist nicht mehr nachweisbar.Hingegen sind schon im deuteronomischenReformgesetz und im Priesterkodex (5. – 7. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung)andere Auslegungen (und Praktiken) erkenn-bar. Wahrscheinlich ist die auf einer altenTradition beruhende rabbinische (pharisäi-sche) Ansicht, nach der an die Stelle der talioin der Regel ein Vergleich oder ein (gericht-lich festgesetztes) entsprechendes„Sühnegeld“ tritt.

„Auge um Auge ...“ ist demnach positiv zuverstehen. Letztlich fußt unsere Sozialgesetz-gebung in einigen elementaren Teilen aufdiesem Grundsatz. Der jüdische TheologeMartin Buber hat diese Gesetzesvorschriftfolgendermaßen ins Deutsche übertragen:

„Aug-Ersatz für Auge – Zahn-Ersatz für Zahn“und hat so den Sinn schon sprachlich sehrgreifbar gemacht. Konkret geht es darum,dass jemand, der geschädigt worden ist, voreiner richterlichen Instanz einen Schadens-ersatz erhalten kann. Wurde jemandem z.B.ein Auge ausgeschlagen, so wurde von einemRichter der Schadensersatz bestimmt. DerAkzent liegt hierbei auf „Ersatz“ und bedeutetzugleich eine Eingrenzung im Sinne von „nichtmehr als ein Auge“. Ein solcher, uns heutehumanistisch erscheinender Charakter derStrafe verbietet also eine überproportionaleStrafhöhe. Ziel ist auch nicht, dass dem Täteroder der Täterin ebenfalls ein Auge ausge-schlagen wird, sondern dass er oder sie in diePflicht genommen wird, für das Opfer aufzu-kommen. War z. B. das Opfer nun erwerbsun-fähig, wurde Täter oder Täterin dazu verpflich-tet, für das Opfer zu sorgen. Das alles wurdenicht direkt zwischen beiden, sondern übereine richterliche Instanz geregelt. Heute wirdnach dem gleichen Prinzip gehandelt. So hatdas „Auge um Auge ...“ etwas vorweggenom-men, was in unserer Gesellschaft als Errungen-schaft des Rechts- und Sozialstaates angese-hen wird.

Die Rolle der richterlichen Instanz ist auchder Schlüssel zum Verständnis dessen, wasJesus zu diesem Rechtsgrundsatz gesagt hat.In der Bergpredigt sagt Jesus: „Ihr habt ge-hört, dass gesagt ist ‚Auge um Auge, Zahnum Zahn’. Ich sage Euch, dass ihr nicht wider-streben sollt dem Übel, sondern: Wenn dichjemand auf die rechte Backe schlägt, dannbiete die andere auch dar ...“ (Matthäus 5,38ff).Auf den ersten Blick mag Jesu Rede den ne-gativen Eindruck bestätigen, den das „Augeum Auge ...“ in unserer Tradition genießt.Aber in seiner Auslegung redet Jesus nichtgegen den zitierten Rechtsgrundsatz. Er sagtvielmehr, dass dieser Rechtsgrundsatz ange-sichts der damaligen römischen Besatzungnicht durchsetzungsfähig ist. Wurde z. B. einJude oder eine Jüdin von einem römischenSoldaten verletzt – ein Auge wurde ausge-schlagen – hatten sie keine Möglichkeit, voreinem Gericht für einen Aug-Ersatz zu strei-ten. In der Situation der Gesetzlosigkeit gibtJesus den sehr pragmatischen Rat des aktivengerichtslosen Widerstandes: „Pocht nicht aufEuer gutes Recht, da Ihr es ja doch nicht durch-setzen könnt. Erleidet lieber das Unrecht undverhaltet Euch so, dass Ihr die Gewalt nichtnoch mehrt, sondern mindert!“.

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

Entsprechend wirkt die Aufforderung, auchnoch die andere Backe hinzuhalten, als sogenannte paradoxe Intervention entschär-fend (deeskalierend). Wo das Recht von denRömern gebeugt wurde, gibt Jesus eine kon-krete Lebenshilfe zum Überleben im Sinneeiner alten biblischen Tradition, wehrlos andas Recht Gottes zu appellieren (Jesaja50,6.8).

5. „Die Juden und das Geld“

Spätestens seit dem Mittelalter werden „dieJuden“ und „das Geld“ auf negative Weisemiteinander in Verbindung gebracht. KamenJuden in früheren Zeiten als Wucherer in Ver-ruf, entwickelte sich später der Vorwurf, dasssie durch das von ihnen angehäufte GeldHerrschaft ausüben und so insgeheim „alleFäden in ihren Händen halten“ würden (vgl.den Vorwurf der Weltverschwörung).Es gibt historische Gründe dafür, dass sieschon sehr früh mit dem Geld bzw. der Geld-wirtschaft in Verbindung gebracht werden.Denn im Wirtschaftsleben des Mittelaltersdurften sich Juden in diesem Bereich betäti-gen. Zu den meisten anderen Berufen warihnen der Zugang verwehrt. Darüber hinauswar ihnen der Besitz von Land verboten. DerHandel mit Geld war somit für viele die einzi-ge Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt zu ver-dienen. Dieser Umstand wurde schließlichvon den Fürsten insofern ausgenutzt, als siejüdische Landsleute mit besonderen Steuernbelegten und auf diese Weise den Geldhandelverschärften. Insgesamt war und ist aber derjüdische Anteil am Gesamtwirtschaftslebennie besonders groß gewesen. Die Geldwirt-schaft wurde schon im Mittelalter maßgeb-lich von anderen – nämlich von Christen –beherrscht.Dass sich das Bild des „jüdischen Wucherers“im geschichtlichen Gedächtnis so verhäng-nisvoll verankert hat, hängt auch damit zu-sammen, dass Judas Ischariot mit seinen „drei-ßig Silberlingen“ als Urbild für den „jüdischenUmgang mit Geld“ herangezogen wurde.

6. Israelische Politik und biblischeLandverheißung

Die biblische Landverheißung stellt in jüdi-schem Selbstverständnis einen unlösbarenZusammenhang zwischen dem „Land Israel“und dem „Volk Israel“ her. Juden haben dem-gemäß ihr Leben außerhalb des „Landes

Israel“ als Exil begriffen und die „Rückkehr“ins „Land Israel“ erhofft. Diese Hoffnung stehtim Hintergrund der politischen Bestrebungender zionistischen Bewegung um die Wendevom 19. zum 20. Jh. Deshalb hat die zionisti-sche Bewegung – obwohl sie in den Anfangs-jahren eine durch und durch säkulare Organi-sation war, die von den meisten religiösenStrömungen des Judentums vehement abge-lehnt wurde – sich schon früh allen Überlegun-gen entgegengestellt, außerhalb des „LandesIsrael“ die Errichtung einer so genannten„Heimstätte“ für das jüdische Volk anzustre-ben.So sehr das jüdische religiöse Erbe in der sä-kularen politischen Bewegung des Zionismuswirksam blieb und gewahrt wurde, so flexibelzeigte sich die zionistische Bewegung bei derUmsetzung ihrer Ziele. Daher akzeptierte siesowohl 1922 die Abtrennung des britischenMandatsgebietes Palästina, durch die Teiledes biblischen „Landes Israel“ außerhalb derReichweite der zionistischen Bestrebungenblieben (Ostjordanland; südlicher Libanon), alsauch den Teilungsplan der UN von 1947, durchden dieses Territorium nochmals fast halbiertwurde und die biblischen „Kerngebiete“ derAnsiedlung des Volkes Israel mit Jerusalem,Bethlehem, Hebron, Sichem usw. nicht zumTerritorium des Staates Israel gehörten.

Erst mit der Eroberung Ostjerusalems unddes Westjordanlandes 1967 gewannen mes-sianisch-religiöse Strömungen im Judentumund in Israel an Boden, die die geographischenUmrisse biblischer Landverheißungen zumpolitischen Programm erhoben und damitihre Siedlungstätigkeit in den besetzten Ge-bieten und ihre Kampagnen gegen jede Rück-gabe von besetzten Gebieten begründeten.Vor allem in Zeiten, in denen die israelischeRegierung von dem nationalkonservativenLikud als stärkster Partei geführt wurde,übten diese religiösen Strömungen erheb-lichen Einfluss auf die israelische Politik inden besetzten Gebieten aus.Nichtsdestoweniger lässt sich israelische Po-litik in letzter Konsequenz nicht von den Pro-grammen messianisch-religiöser Strömungenleiten. Beispielsweise erkannte der israelischeVerteidigungsminister im Jahr 1967, MoscheDajan, den religiösen Sprengstoff, der mit derEroberung Ostjerusalems und der Westbankverbunden war. Deshalb begab er sich sofortzum Waqf, der muslimischen Behörde, die fürdie Verwaltung der muslimischen Heiligen

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Stätten in Palästina zuständig ist, und sicherteden Erhalt des „Status quo“ zu. Damit wurdeallen jüdischen Phantasien von einer Zerstö-rung der Moscheen auf dem Areal des antikenTempelberges, um Platz für den Bau des drittenTempels zu schaffen, die Grundlage entzogen.Diese realpolitische Grundausrichtung israe-lischer Politik ist bis heute auch unter natio-nalkonservativ ausgerichteten Regierungenerkennbar. Der Rückzugsplan der RegierungScharon aus dem Gazastreifen und Teilen derWestbank wurde gegen die Stimmen der na-tional-religiösen Partei vom Parlament ange-nommen. Sie verließ daraufhin das Parlament.

7. Israel – ein Apartheidstaat?

Nahe bei den geschichtslosen Vergleichenisraelischer Politik mit der Naziherrschaftsteht der häufig erhobene Vorwurf, IsraelsPolitik sei vergleichbar mit der Apartheid-politik Südafrikas.Richtig ist, dass die Zersplitterung des paläs-tinensischen Gebiets und der Bau der Sperr-anlage als „sicherheitspolitische Maßnahme“der israelischen Regierung an die „Homeland-Politik“ des Apartheidregimes in Südafrikaerinnern kann.Richtig ist auch, dass es bei einer Minderheitjüdischer Israelis Überlegenheitsgefühle ge-genüber Palästinensern gibt, die auch rassis-tische Formen annehmen können.Darin, dass sich Israel als „jüdischer Staat“versteht und als solcher 1948 ausgerufenwurde (vgl. die Formulierung der Unabhängig-keitserklärung: „Errichtung eines jüdischenStaates im Lande Israel“), liegt auch eine la-tente Gefahr der Diskriminierung der nicht-jüdischen Bevölkerung.Der grundlegende Unterschied zwischen derVerfassung und Politik Israels und des früherenApartheidregimes in Südafrika und Namibiaist aber, dass Israel eine demokratische Struk-tur hat, nach der alle Bürgerinnen und Bürgerungeachtet ihrer Herkunft, ihres Glaubensund ihrer politischen Überzeugung nach demGesetz gleich behandelt werden, währenddas Apartheidregime aus ideologischer Über-zeugung eine rassistische Verfassung undPolitik mit eingeschränkten politischen, öko-nomischen und kulturellen Rechten der Mehr-heitsbevölkerung zugunsten einer Minder-heitenelite vertrat. Zu behaupten, Israel speiseseine politischen Motive aus derselben Quellewie die burische Elite Südafrikas, ist deshalbnicht zutreffend.

8. „Die Juden“ und die Weltverschwörung

Im 19. und 20. Jahrhundert herrschte in vielenKreisen das Vorurteil, der jüdische Einflussauf das Leben in Wirtschaft (vgl. A.5 „Die Judenund das Geld“), Kultur und Politik habe sichverstärkt. Dieser Einfluss – so die Meinung –geschehe zum Teil verdeckt und sei auf eineinternationale jüdische Verschwörung zurück-zuführen.In einer immer komplizierter werdenden Weltstoßen bis auf den heutigen Tag Verschwö-rungstheorien auf viele offene Ohren. Theo-rien, die das Judentum betreffen, fallen schondeshalb auf fruchtbaren Boden, weil die christ-lich geprägten Gesellschaften in Europa schonimmer in „den Juden“ ein ihnen fremdes unddamit feindliches Gegenüber gesehen haben.Bestärkt wurden diese Verschwörungsphan-tasien durch die Assimilation vieler Juden undJüdinnen in Westeuropa, die dieses ausgren-zende Gegenüber mehr und mehr aufweichte.Mit Assimilation ist ein Prozess gemeint, indem sich Deutsche jüdischen Glaubens ent-weder durch Anpassung oder durch Konver-sion zum Christentum in die Gesellschafteinfügten, um so auch zu all den BereichenZugang zu finden, die ihnen bis dahin ver-wehrt waren.

Das bekannteste und bis heute wirkmächtigeBeispiel für eine solche Verschwörungstheoriesind die so genannten „Protokolle der Weisenvon Zion“, nachgewiesenermaßen die Fäl-schung einer Schrift, die sich ursprünglichgar nicht auf jüdische Menschen bezog.Zuerst wurde sie in Russland im ausgehenden19. Jahrhundert verbreitet und fand dann inganz Europa ein großes Echo. Noch heutzu-tage wird diese Schrift wider besseren Wissennachgedruckt und in letzter Zeit besondersin islamischen Ländern vertrieben (vgl. diePräsentationen der „Protokolle der Weisenvon Zion“ an Ständen arabischer Staaten aufder Frankfurter Buchmesse 2005).Auf dem Hintergrund solcher und ähnlicherVerschwörungstheorien ist die heute nichtnur in antisemitischen Kreisen weit verbrei-tete Rede von der "großen Macht der jüdi-schen Lobby" in Amerika kritisch zu beurtei-len. Ähnlich wie bei der Frage des Geldeswerden die Fakten verzerrt. Um beimBeispiel der Vereinigten Staaten von Amerikazu bleiben, bilden dort alle gesellschaftlichenGruppen und wirtschaftlichen Interessenver-treter ihre Lobby. Im politischen System

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

Amerikas hat das etwas Selbstverständlichesund gehört zum politischen Tagesgeschäft.Die jüdische Lobby ist nur eine unter vielen.Aber nur von ihr wird gesprochen, währenddie anderen kaum wahrgenommen werden.

9. „Die Juden müssen moralisch besser sein“

Meist werden in der öffentlichen Diskussionandere Maßstäbe an das jüdische Volk als anandere Völker gelegt: Juden und Jüdinnenmüssen, weil sie die Perspektive der Opfer überJahrhunderte kennen gelernt haben, besserals alle anderen sein. Der jüdische HistorikerDan Diner nennt das die von außen auf dasJudentum projizierte Erwartung der „Inkar-nation der Menschlichkeit“.Aber Juden und Jüdinnen sind Menschen wiealle anderen: Menschen mit allen Stärken undSchwächen. Menschen, die sich auch irrenund wie andere auch ignorant und feindseligsein können. Reden oder handeln sie so, wiegtdas von der Erwartung abweichende Verhaltenumso schwerer. Ein Effekt ist, dass sie, gemes-sen an dem an sie herangetragenen Ideal,nur scheitern können. Letztlich ist das einesubtile Art, sich alte Vorurteile bestätigtenzu lassen.

Besonders schwer wiegt diese Sichtweise,wenn sie aus „ihrer Opferrolle“ heraustreten,selbst zu Handelnden werden und Gewaltanwenden. So handelte sich die israelischeRegierung infolge der gewalttätigen Aus-einandersetzungen, in die der Staat Israelverwickelt ist, und speziell angesichts desUmgangs mit der palästinensischen Bevölke-rung den Vorwurf ein, als „Opfer des National-sozialismus“ genauso schlimm wie die da-maligen Täter, d. h. „die Nazis“, zu sein.Solche Vergleiche mit dem Nationalsozialis-mus und seinen gesetzlich verankerten sys-tematischen Menschenrechtsverletzungensind unhaltbar. Werden solche Vergleicheaber angewendet, dienen sie meist der eige-nen Entlastung oder haben einen ideologi-schen Hintergrund. Gebärden sich die Opfervon einst – so die dahinterstehende Logik –vermeintlich wie die damaligen Täter, wiegtdie Bürde der eigenen Geschichte, insbeson-dere des nationalsozialistischen Regimes,nicht mehr so schwer.

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B. „Vom Antijudaismus zum Antisemitismus“.Ein knapper historischerÜberblick

1. Vorrede

In seinem Buch „Mein Weg als Deutscher undJude“ formulierte der Schriftsteller Jakob Was-sermann 1921 (Berlin 1921) mit bestürzenderDeutlichkeit die Vergeblichkeit jüdischen Inte-grationswillens angesichts einer Gesellschaft,die trotz aller politischen Emanzipation nichtvom Antisemitismus lassen wollte. „Bei der Er-kenntnis der Aussichtslosigkeit der Bemühungwird die Bitterkeit in der Brust zum tödlichenKrampf. Es ist vergeblich, das Volk der Dichterund Denker im Namen seiner Dichter undDenker zu beschwören. Jedes Vorurteil, dasman abgetan glaubt, bringt, wie Aas dieWürmer, tausend neue zutage. Es ist verge-blich, das Gift zu entgiften. Sie brauen fri-sches. Es ist vergeblich, für sie zu leben undfür sie zu sterben. Sie sagen: Er ist ein Jude.“ Wassermann stand mit seiner skeptischenEinschätzung keinesfalls allein, ebenso wenigwie diejenigen jüdischen Bürgerinnen undBürger, die weiterhin von einem Assimilations-optimismus geprägt waren, wusste man dochaus der Geschichte der Vorfahren und Ge-meinden von weitaus rechtloseren Zeiten.

Von Beginn der Diaspora an waren die Lebens-umstände der europäischen Juden und Jü-dinnen von sozialer Ausgrenzung und wellen-artig wiederkehrenden Verfolgungen geprägtund hatten sich erst langsam im Zuge derAufklärung und Modernisierung der Gesell-schaften im 18./19. Jahrhundert deutlich ver-bessert. In bestimmten Gebieten Russlandskam es noch bis Anfang des 20. Jahrhundertszu Pogromen. Gleichzeitig hatte sich der neueBegriff „Antisemitismus“, der wohl um 1880von dem Journalisten Wilhelm Marr geprägtwurde, als Sammelbezeichnung für dieunterschiedlichsten Formen der Judenfeind-schaft in der Öffentlichkeit schnell festgesetzt.Undenkbar aber war, trotz aller menschen-verachtenden Rhetorik der Antisemiten, dassdas größte Verbrechen an den jüdischenNachbarn und der tiefste Einschnitt in dieeuropäische Zivilisationsgeschichte mit derSchoa erst noch folgen sollte. Dabei bleibt zubedenken, dass die Entwicklung des Antise-

mitismus keineswegs mit naturgesetzlicherGewalt, an dessen Ende zwangsläufig dieSchoa stehen musste, vonstatten ging. Stetswar die Ausgrenzung von Juden und Jüdinnenbis hin zum Völkermord durch den National-sozialismus gebunden an bestimmte politi-sche, soziale und religiös-kulturelle Bedin-gungen und Verantwortlichkeiten. Eine kriti-sche Auseinandersetzung mit dem histori-schen Antisemitismus sowie mit entspre-chenden Tendenzen in der Gegenwart sollteden Blick „für die verhängnisvolle Macht vonVorurteilen“ schärfen und zugleich Perspek-tiven „für die Möglichkeit ihrer Überwindung“andeuten.„Vorurteile entstehen aus der Erfahrung na-tionaler, sozialer, kultureller oder religiöserAndersartigkeit, die ohne das Bemühen umVerständnis und Einfühlung zur gesellschaft-lichen Abwehrreaktion führt: Eine solcheGhettoisierung des Denkens kann – wie dieGeschichte erweist – zur Vorstufe für einereale Ausgrenzung im sozialen und politi-schen Ghetto werden.“ (Herbert A. Strauss/Norbert Kampe (Hrsg.), Antisemitismus –Von der Judenfeindschaft zum Holocaust.Bonn 1985, Schriftenreihe der Bundes-zentrale für politische Bildung, Bd. 213, S. 7)

2. Von der Antike bis zum späten Mittelalter

Nach dem Tode König Salomos um 926 v.Chr. hatten sich die zehn nördlichen Stämmevom Zentralstaat losgesagt und dasKönigreich Israel gebildet, der südliche Teilverblieb als Königreich Juda. Die GeschichteIsraels zeigt - seit der Eroberung desNordreichs durch Assyrien um 722/1 v. Chr.,der Zeit des Babylonischen Exils zwischen586-536 und schließlich nach den erfolglo-sen Aufständen gegen die römischeVorherrschaft in den Jahren 66-73 und 132-135n. Chr. und der in diesem Zusammenhangerfolgten symbolträchtigen Zerstörung desZweiten Tempels in Jerusalem - das Schicksaleines zerstreuten Volkes, das mit großerBeharrungskraft seiner Erwählung undBerufung und seinen Weisungen treu blieb.Ihr Monotheismus und die daran gebunde-nen Gebote (vor allem das Einhalten desRuhetaggebots, die Ablehnung andererGötter, was auch den gottähnlichen Rangder Kaiser einschloss, eine Abgrenzunggegenüber anderen sozialen Gruppen, diePraxis der Beschneidung, ...) sorgten schon inder antiken, heidnischen Mittelmeerwelt

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

gelegentlich für Verwirrungen, die vor allemin entsprechenden vorurteilsgeladenenÄußerungen und Beschuldigungen griechi-scher und römischer Autoren überliefert sind(z. B. bei Seneca, Tacitus, Pompeius).Von einer verhängnisvollen Langzeitwirkungsollte allerdings der innerhalb des Frühchris-tentums z.B. von Melito von Sardes im 2. Jahr-hundert geäußerte „Gottesmord-Vorwurf“sein. Schon er hatte „die Juden“ für den TodChristi verantwortlich gemacht und die Zer-störung des Zweiten Tempels als entsprechen-de Strafe Gottes gedeutet. Es entwickeltensich aber zur damaligen Zeit kaum kollektivwirksame Vorurteilsstrukturen oder Ausbrüchevon Volkszorn (ein Sonderfall war vielleichtnur Alexandrien, wo es zu scharfen Ausein-andersetzungen zwischen einer großen jüdi-schen Kolonie und der griechischen Bevölke-rung kam), und das Römische Reich kanntemit Ausnahme der Zeit des Bar-Kochba Auf-standes keine längerfristig bewusst angelegteoder zentral gesteuerte Judenfeindschaft(vgl. zur vorchristlichen JudenfeindschaftLéon Poliakov, Geschichte des AntisemitismusBd.I Von der Antike bis zu den Kreuzzügen.Worms 1979 S.1-12.).

Trotz einiger rechtlicher Probleme, die aus denangedeuteten religiösen Pflichten erwuchsen,unterschied sich die gesellschaftliche Stellungder Juden nicht grundsätzlich von der andererVölkergruppen im Imperium Romanum. Diesänderte sich erst im Verlauf des 4. Jahrhun-derts n. Chr., als das Christentum zur Staats-religion wurde. Einige rechtliche Ausnahme-regelungen sowie das Misstrauen vonBischöfen gegenüber der Anziehungskraft desJudentums für die christliche Bevölkerung si-gnalisierten eine zunehmende Distanz. Den-noch vermittelt das gesamte Frühmittelalterden vorherrschenden Eindruck eines fried-lichen Miteinanders von Christen und Juden.Eine judenfeindliche Grundstimmung ist nochnicht auszumachen, und vor allem bei denweltlichen Herrschern erfreuten sich Juden ofthoher Wertschätzung aufgrund ihrer wirt-schaftlichen und kaufmännischen Kompetenzund ihrer Kontakte, die bis weit in den by-zantinischen und islamischen Raum reichten.

Dies änderte sich grundlegend um 1100, alses im Zusammenhang mit dem Aufruf zumersten Kreuzzug (1096) zu den ersten großenPogromen gegen die jüdischen GemeindenNordfrankreichs und des Rheinlandes kam.

Das Feindbild vom konkreten militärisch-politischen Konkurrenten in den islamischenMachtzentren wurde durch das vom „theolo-gischen Gegner“ ergänzt und schloss dannalle „Ungläubigen“ und „Christusleugner“schon in der Heimat mit ein. Hierdurch kames zu einer für die Juden und Jüdinnen ver-heerenden Verschiebung der Kreuzzugspro-paganda. Mit der heilsgeschichtlichenWendung der Judenfeindschaft, die Sünden-vergebung und Belohnung im Jenseits fürbegangene Gewalttaten gegen „Ungläubige“bereithielt, war zudem die Preisgabe derchristlichen Sinngebung der jüdischen Dias-pora verbunden, die Juden und Jüdinnen alsTräger „der alten Bücher“ und lebendige, nureben noch nicht zur Einsicht gekommeneZeugen und Zeuginnen für Gottes Wirkensah, was ihnen in der Zeit vor 1096 wenig-stens das Existenzrecht und die religiöseAutonomie erlaubt hatte.

Die Folgen dieses Paradigmenwechsels wur-den nach dem Abklingen der ersten Pogrom-welle sichtbar: Nichts wurde wieder wie vor-her. Nun begann die fatale Entwicklung vonVorurteilsmustern und antijüdischen Legen-denbildungen, die die Mentalität der christ-lichen Mehrheitsbevölkerung in den folgen-den Jahrhunderten bis in das 20. Jahrhun-dert hinein nachhaltig bestimmen sollte.Vom Tode Christi, der ihnen zur Last gelegtwurde, über die Vorwürfe der Hostienschän-dung, der Brunnenvergiftung (vor allemwährend der Zeit der großen Pest) und desRitualmordes (um mit dem gewonnenenBlut das Passah-Mahl zu feiern) reichte diePalette irrationaler Verdächtigungen, die

Christliche Vorstellung voneinem jüdischenRitualmord (1493)Quelle:StaatsbibliothekBerlin

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zusammen mit den bekannten religiös-wirt-schaftlichen Vorurteilen (der Jude als arbeits-scheuer Wucherer, der das kanonische Zinsver-bot für Christen zu seinen Gunsten ausnutze)der Gesellschaft immer wieder dazu dienten,den Sündenbockmechanismus in Gang zusetzen und die jüdische Minderheit für alleerdenklichen Probleme verantwortlich zumachen. Dabei muss diese Form der Ausgren-zung von der ‚normalen’ Abgrenzung im All-tagsleben, die von den religiösen Instanzenbeider Gruppen zur Wahrung der sozialen undreligiösen Identität gefordert und praktiziertwurde, abgehoben werden. Selbst das späterso einschränkende Leben im Ghetto wurdezunächst nicht als die entscheidende Benach-teiligung gesehen, war es doch für den mittel-alterlichen Menschen an der Tagesordnung,dass z. B. bestimmte Berufsgruppen in eigenenVierteln zusammen wohnten und eine eigeneKleiderordnung besaßen. Zudem erlaubte dasZusammenleben in abgeschlossenen Stadt-vierteln den jüdischen Gemeinden, je nachRegion und Wohlwollen des Herrschers bzw.Magistrats, eine partiell wirkungsvolleSelbstverwaltung, was in Zeiten ständischerHerrschaftsstrukturen und angesichts des

Ausschlusses von Grundbesitz und „christ-lichen“ Handwerksberufen bzw. Gilden/Zünf-ten eine nicht zu unterschätzende Vorausset-zung für das, wenn auch meist karge, Überle-ben bot. Dass sich der Antijudaismus infolgeder Kreuzzüge verschärfte, hing schließlichwesentlich mit der Machtverschiebungzugunsten des römischen Papsttums zusam-men, wodurch das kirchliche Judenrecht häu-fig das weltliche überlagerte und stärkereEinschränkungen im Alltagsleben fest-schrieb, bis hin zum Ämterverbot und einerKleiderverordnung (Judenhut/Judenfleck),die nach dem 4. Laterankonzil 1215 wirksamwurden. Als Reaktion auf diese Erfahrungenkam es in den jüdischen Gemeinden zu einerreligiösen Selbstabschottung undVerinnerlichung, die besonders für das deut-sche Judentum bis ins 18. Jahrhundert cha-rakteristisch war.

Ohne Zweifel gab es auch weltliche wiegeistliche Herrscher, die sich schützend vor ihrejüdischen Untertanen stellten, wie KaiserFriedrich II., Papst Innozenz IV. oder ClemensVI.. Häufig spielte aber auch bei den Kaisernund Königen das Nützlichkeitsdenken eineentscheidende Rolle, wie etwa bei der so ge-nannten „Kammerknechtschaft“, bei der dieJuden und Jüdinnen als „Gegenleistung“ ent-weder kaufmännische Leistungen zu erbrin-gen hatten oder einfach als Steuerobjektedienten. Nicht selten geriet ihnen der kaiser-liche Schutz in den auf Eigenständigkeit be-dachten Städten zum Nachteil, waren sie dochdem direkten städtischen Macht- und Steuer-anspruch entzogen, was die christlichen Be-wohner wiederum als ungerechtfertigte Be-vorzugung ansahen und ihre Abneigung ge-gen „die Juden“ noch stärker werden ließ.Kamen wirtschaftliche und soziale Krisen,Naturkatastrophen oder Epidemien hinzu,folgten fast unweigerlich Verfolgungen, wieim Zusammenhang mit der Pest im 14. Jahr-hundert, die mit einer großen Fluchtwellejüdischer Menschen nach Mittel-Osteuropaverbunden war.

Jüdischer Geldverleiher,Holzschnitt 1531Quelle:StaatsbibliothekBerlin

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

3. Die Neuzeit

Das europäische Judentum verbrachte dielange Wegstrecke des Mittelalters und derfrühen Neuzeit in sozialer und religiöser Ab-sonderung von der sie umgebenden christ-lichen Bevölkerung, was es selbst als vonGott zur Prüfung auferlegtes Schicksal ertrugund mit der Hoffnung auf Erlösung und Rück-kehr nach Zion verband. An diesen Lebens-umständen änderten auch die Renaissanceund die Reformation nichts. Auf letztere hat-ten viele Juden und Jüdinnen zunächstgroße Hoffnungen gesetzt und z. B. früheÄußerungen Luthers („Dass Jesus Christusein geborener Jude sei“, 1523) als Anzeicheneines möglichen Neubeginns gedeutet, bissie auch diesbezüglich bitter enttäuscht wur-den und in den protestantischen Ländernebenfalls als „heillose Leute“ (Luther) ausge-grenzt blieben. Von Luther selbst war wiedereinmal die Bekehrungsunfähigkeit der „ver-stockten Juden“ hervorgehoben worden.Daraus leitete er seine fatale Aufforderungan die Obrigkeit zu einer ganzen Reihe vonMaßnahmen gegen die Juden ab, die bis aufdie systematische Ermordung nahezu alleMaßnahmen der NS-Herrschaft vorwegnahm.

Nur durch die Lossagung vom Judentum wares in der Regel möglich, die eng gesetztenGrenzen jüdischen Lebens zu überschreiten.Erst im Absolutismus (17./18. Jahrhundert)gelang einigen wenigen Juden und Jüdinnender gesellschaftliche Aufstieg auch ohneKonversion, weil eine Reihe von Fürstenangesichts ihrer aufwändigen Hofhaltungund Machtpolitik auf fähige Finanzbeamteangewiesen waren. Allerdings war die so ge-wonnene gesellschaftliche Stellung der „Hoff-aktoren“ oder „Hofjuden“ genannten Person-en äußerst gefährdet, wie der berühmte Fallvon „Jud Süß“ Oppenheimer zeigt, gegendessen Einfluss am Württembergischen Hofedie Stände aufbegehrten, so dass Oppenhei-mer schließlich hingerichtet wurde.Langfristig spielte die europäische Aufklärungmit ihrem optimistischen Bildungs- und Hu-manitätsideal (die Freundschaft zwischenLessing und Mendelssohn sei hier stellvertre-tend genannt) für die Forderung nach einerEmanzipation des Judentums eine entschei-dende Rolle. Diese selbst ging jedoch zunächstim Schneckentempo voran, so dass noch Hein-rich Heine sich taufen ließ, um „das Entree-billet zur europäischen Kultur“ zu erhalten.

Aber selbst als in der zweiten Hälfte des19. Jahrhunderts der Großteil des europäischenJudentums schließlich die volle bürgerlicheGleichstellung erlangte (in Deutschland mitder Reichsverfassung von 1871), bedeutetedies keine volle Integration. Staatliche Füh-rungspositionen, Beamtenschaft, Universi-tätslehrstühle und Militärlaufbahnen warennoch lange Zeit Bereiche, zu denen jüdischeBürger und Bürgerinnen, vor allem inDeutschland und Österreich, nur in Ausnah-mefällen Zugang erhielten. Und selbst im bür-gerlich-parlamentarischen Frankreich bliebder Antisemitismus offenkundig, wie Endedes 19. Jahrhunderts die Dreyfuß-Affäre dereuropäischen Öffentlichkeit schlagartigbewusst machte.

Zu einer der großen Enttäuschungen desassimilierten deutschen Judentums sollteschließlich die so genannten „Judenzählung“im Ersten Weltkrieg werden. Obwohl mansich wie alle anderen Deutschen „pflichtbe-wusst“ zum Kriegsdienst gemeldet hatte(insgesamt dienten 100.000 Juden im deut-schen Heer, 12.000 fielen, 1500 erhielten dasEiserne Kreuz 1.Klasse), veranlasste 1916 dasdeutsche Kriegsministerium aufgrund derEingabe eines antisemitischen Reichstagsab-geordneten die diskriminierende Zählung,die statistisch zeigen sollte, dass relativweniger Juden als Nichtjuden an der Frontdienen würden und mehr Reklamierte (imVolksmund ‚Drückeberger’) als Dienendegemeldet seien. Als die Zählung dieses ju-

Postkarte um 1900Quelle: Eduard Fuchs,Die Juden in derKarikatur. Ein Beitragzur Kulturgeschichte,München 1921

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denfeindliche Wunschziel nicht bestätigte,wurde das Ergebnis nicht veröffentlicht.Es gehört zu den schuldbelasteten Zusammen-hängen, dass just im Jahrhundert der bürger-lichen Emanzipation, als den Juden undJüdinnen unter dem Einfluss des Toleranzge-dankens der Aufklärung, der Verfassungender USA (1787) und der Französischen Revo-lution (1791) sowie der preußischen Reform-gesetze von 1812 die Gleichberechtigung nachund nach zumindest formell zugestandenwurde, sich in Gestalt eines rassisch begrün-deten Antisemitismus eine neue Form derJudenfeindschaft entwickelte. Nun mussteder in Teilen des jüdischen Bürgertums durchBildungshunger, Flexibilität und Fleiß mög-lich gewordene schnelle soziale Aufstieg dafürherhalten, alten Vorurteilen frische Nahrungzu geben. In Teilen des neuen national-kon-servativen Bürgertums und der durch dengesellschaftlichen Wandel und die industrielleRevolution verunsicherten kleinbürgerlichenVolksschichten stieß der Rassenantisemitis-mus auf fruchtbaren Boden. Wirksam wurdedie Behauptung, dass „der Jude“ einen biolo-gisch minderwertigen Fremdkörper, einen„Parasiten“ innerhalb der europäischenVölker darstelle, der das nationale Kulturlebenzu zersetzen drohe, in unlauterer Weise seineneue Freiheit ausnutze, indem er sich im Wirt-schaftsleben breit mache und das ehrlichedeutsche Handwerk zerstöre und darüberhinaus durch seine internationale Umtriebig-keit und das Finanzjudentum nach der Welt-herrschaft strebe.

Gleichzeitig machte man nun auch der jüdi-schen Gemeinschaft zum Vorwurf, dass ein-zelne Vertreter, meist Journalisten undSchriftsteller, sich innerhalb der sozialisti-schen Bewegung engagierten und die beste-hende Ordnung revolutionär umstürzenwollten. Namen wie Arthur Graf Gobineau,Houston Stewart Chamberlain, der Hofpre-diger Adolf Stoecker, Eugen Dühring oderRichard Wagner sowie eine Reihe von offenantisemitischen Parteien und nationalisti-schen Organisationen stehen für diese Artvon aus heutiger Sicht absurd erscheinender,in sich widersprüchlicher Propaganda. ImDeutschen Kaiserreich fand der Antisemi-tismus um 1880 einen erneuten Aufschwung,als der Siegestaumel von 1870/71 verflogenwar und durch den Kulturkampf und einelängere Wirtschaftskrise nach dem Boom derGründerjahre Enttäuschung und Unsicher-

heit Teile der Bevölkerung erfasste. Eine breiteöffentliche Auseinandersetzung zog dabeieine Schrift des renommierten Historikersund Publizisten Heinrich von Treitschke nachsich, der vor der Gefahr eines „Zeitaltersdeutsch-jüdischer Mischkultur“ warnte undtrotz der durchaus von ihm wahrgenomme-nen nationalen Verdienste zahlreicher deut-scher Juden dennoch den verhängnisvollenSchlusssatz „Die Juden sind unser Unglück“niederschrieb und damit eines der Schlag-wörter des späteren Nationalsozialismusschuf. Immerhin war es zu dieser Zeit möglich,dass entschiedener Widerspruch geäußertwurde. Am wirkungsvollsten war die Antwortdes großen liberalen Historikers TheodorMommsen, der seinem Kollegen antwortete:„Das ist der eigentliche Sitz des Wahnes, derjetzt die Massen erfasst hat und sein rechterProphet ist Herr von Treitschke. Was heißt das,wenn er von unseren israelitischen Mitbürgernfordert, sie sollen Deutsche werden? Sie sindes ja, so gut wie er und ich.“

Fast das ganze Repertoire des späteren na-tionalsozialistischen Antisemitismus ist inder zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts imKern schon entwickelt:• die pseudowissenschaftliche Begründung

der Rassentheorie• der Gedanke, durch Rücknahme der Emanzi-

pation die jüdische Gemeinschaft wiederde jure auszugrenzen (vgl. die NürnbergerGesetze von 1933)

• ihr die Betätigung in bestimmten Wirt-schaftsbereichen zu untersagen

• Ausbildungsmöglichkeiten zu beschneiden• bis hin zu dem auf bunten Karikatur-Post-

karten verbreiteten Vorschlag, alle Judenund Jüdinnen nach Palästina auszusiedeln

• ohne behördliche Maßnahmen befürchtenzu müssen, konnten Hotels, Restaurants undselbst Seebäder schon im Kaiserreich Schilderaushängen, die den Zutritt für Juden undJüdinnen untersagten (vgl. dazu das infor-mative Buch von Frank Bajohr ‚Unser Hotelist judenfrei’ – Bäder-Antisemitismus im 19.und 20. Jahrhundert. Frankfurt a.M. 2003)

Das besonders Perfide des modernen Antise-mitismus, wie er sich im 19. Jahrhundert ent-wickelte, war dessen rassentheoretisch-bio-logistische Begründung und seine Nähe zumSozialdarwinismus.Schwankte die christliche Judenfeindschaftin Mittelalter und in der frühen Neuzeit zwi-

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

schen Phasen der Duldung und Verfolgung,so hielt sie mit der Taufe zumindest einenpotenziellen, wenn auch für die jüdischen Ge-meinden inakzeptablen Ausweg aus lebensbe-drohlichen Situationen bereit. Eine frühe Aus-nahme war nur die spanische Inquisition, hiersollte schon im 16. Jahrhundert „die Reinheitdes Blutes“ nachgewiesen werden. Die letzteKonsequenz des modernen Rassenantisemi-tismus aber war die geplante Vernichtung,da nach seiner Überzeugung weder Assimi-lation noch Taufe die rassische Prägung be-seitigen konnten. Dass dieses Gedanken-konstrukt im Zeitalter des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und einer rasantengesellschaftlichen Modernisierung entstandund dort seine zerstörerische Wirksamkeitentfaltete, gehört zu den großen Ungeheuer-lichkeiten der modernen Kulturgeschichte underinnert daran, wie dünn das Eis der uns heuteso selbstverständlichen Zivilisation letztlichist. Eine Zivilisation, um die ein großer deut-scher Jude, Walter Rathenau, stellvertretendfür viele andere kämpfte.1

1. Eindrucksvoll lässt sich das in einem Brief an Wilhelm Schwaner, einen seiner wenigen Duzfreunde,lesen. Dabei gehört es zur Tragik Rathenaus, dass Schwaner, ein unverhohlener Rassentheoretiker,mit seinen Schriften einen großen Einfluss auf die völkisch-frühnationalistische Bewegung unddamit jene Kreise ausübte, aus denen die Mörder Rathenaus kamen: "Berlin, den 23.1.1916.Lieber Wilm! Den Schmerz, den Dein erster Brief mir gab, hat der zweite gemildert. Von Bitterkeitwar und bleibt kein Hauch; doch muss ich, der Wahrheit und meinem innersten Empfinden zu lieb,versuchen, in herzlicher Freundschaft und menschlicher Freiheit auszusprechen, was zwischen unsgeklärt werden muss (...) Kein Wort darf und soll Dich verletzen, jedes Wort bleibt von Freundschaftgetragen. Lieber, unser Werk ist und bleibt das einzige und gleiche, soweit wir unserm Lande undunserem Volke dienen, (...) Hierin ist mein Werk beschlossen; Deines geht weiter. Du dienst einerAufgabe, die schon deshalb mir würdig und achtungswert ist, weil Du ihr dienst, und von der ich niegefragt habe, ob sie mein Dasein fördern oder vernichten will, denn auf mein Dasein kommt eswenig an. Diese Auffassung scheint mir auf folgenden Voraussetzungen zu beruhen – wenn ich irre,so weise mich zurecht; aber ich glaube, in Deinen Blättern und Schriften die Bestätigung zu finden:1. Stamm und Blut trennen2. Es gibt edleren und unedleren Stamm, edleres und unedleres Blut3. Das unedlere Blut hat auf deutschem Boden kein unbedingtes, unerschütterliches Heimatrecht.

Ich nehme zu diesen Sätzen keine Stellung. Ich achte sie als ehrliche Meinung ehrlicher und guterMenschen, die überdies Deine Freunde sind (...) Aber ich erkenne diese Meinung nicht als diemeine an. Nicht, weil sie mein Dasein aufhebt – das ist kein Grund –, sondern weil mein Fühlenund Denken ihr widerspricht. Ich habe und kenne kein anderes Blut als deutsches, keinen anderenStamm, kein anderes Volk als deutsches. Vertreibt man mich von meinem deutschen Boden, sobleibe ich deutsch, und es ändert sich nichts. Du sprichst von meinem Blut und Stamm, selbsteinmal von meinem Volk, und meinst die Juden. Mit ihnen verbindet mich das, was jedenDeutschen mit ihnen verbindet, die Bibel, die Erinnerung und die Gestalten des Alten und NeuenTestaments. Meine Vorfahren und ich selbst haben sich von deutschem Boden und deutschemGeist genährt und unserem, dem deutschen Volk erstattet, was in unseren Kräften stand. (...) Ichbin der Überzeugung, dass Glaube, Sprache, Geschichte und Kultur hoch über den physiologischenDingen der Blutmischung schwebt und sie ausgleicht. Ich glaube, dass die göttliche Seele injedem menschlichen Geiste schwebt und ihn empor trägt zu einer Schicht, in der das Materiellezum Staube wird. Ich glaube an eine Gottheit, der wir alle mit gleichen Kräften zustreben...“(Walter Rathenau, Ein preußischer Europäer. Hrsg. v. M. v. Eynern. Berlin 1955, S. 145ff).

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4. Die Zeit des Nationalsozialismus’

Für den 10. März 1933 findet sich im TagebuchVictor Klemperers, der zu diesem ZeitpunktProfessor für Romanistik an der TechnischenHochschule Dresden war, folgender Eintrag.Er bezieht sich auf die letzte ReichstagswahlAnfang März 1933, die, gut einen Monat nachHitlers Machtantritt, schon in einer Atmos-phäre der Einschüchterung stattfand.

„30. Januar: Hitler Kanzler. Was ich bis zumWahlsonntag, 5.3., Terror nannte, war mildesPrélude (Vorspiel) ... Acht Tage vor der Wahldie plumpe Sache des Reichstagsbrandes ...Dann die wilden Verbote und Gewaltsam-keiten. Und dazu durch Straße, Radio, etc. diegrenzenlose Propaganda. Am Sonnabend,den 4., hörte ich ein Stück der Hitlerrede ausKönigsberg. Eine Hotelfront am Bahnhof, er-leuchtet, Fackelzug davor, Fackelträger auf denBalkons und Lautsprecher. Ich verstand nureinzelne Worte. Aber der Ton! Das salbungs-volle Gebrüll ... Am Sonntag wählte ich denDemokraten ... Dann der ungeheure Wahlsiegder Nationalsozialisten ... Und alle Gegen-kräfte wie vom Erdboden verschwunden ...Wie lange werde ich noch im Amt sein?“Zu Recht sollte sich Klemperer die bange Fragestellen. Er selbst wurde zwei Jahre später we-gen seiner jüdischen Herkunft aus seinem Amtentlassen. Viele andere hatten schon infolgedes „Gesetzes zur Wiederherstellung desBerufsbeamtentums“ vom April 1933 ihrenBeruf verloren.

Bis 1933 war das europäische Judentum im-mer wieder der antisemitischen Propagandaund den gewalttätigen Aktionen extremnationalistischer Gruppen ausgesetzt, aberdadurch konnten ihre Grundrechte und ge-sellschaftlichen Entfaltungsmöglichkeitennicht entscheidend eingeschränkt werden.Angesichts der „modernen Zeiten“ sah mansich sogar eher verstärkt auf dem Wege derGleichberechtigung. Nun aber wurde der Anti-semitismus, bislang in Westeuropa meist nurPropaganda, in Deutschland zur staatlichenPolitik erhoben. Dies markiert den grundle-genden Einschnitt. Es folgte eine zunehmen-de gesellschaftliche Ausgrenzung der knapp500000 deutschen Bürgerinnen und Bürgerjüdischen Glaubens, die weniger als ein Pro-zent der Gesamtbevölkerung ausmachten:

Propaganda-Plakat 1937Quelle: Süddeutscher Verlag

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

• April 1933: Aufruf zum Boykott jüdischerGeschäfte

• 7. April 1933: Wiederherstellung desBerufsbeamtentums

• 22. September 1933: Reichskulturkammer-gesetz mit Berufsverbot für jüdischeSchriftsteller und Künstler – es folgt imOktober ein Arbeitsverbot für Redakteureund Schriftleiter

• 15. September 1935: „Nürnberger Gesetze“ –Verlust des Staatsbürgerrechts und Verbotvon Ehen zwischen Nichtjuden und Juden

• Seit Sommer 1935 finden sich regional unter-schiedlich an Ortseingängen, Restaurants,öffentlichen Einrichtungen (Schwimmbäderz. B.) vermehrt Schilder mit der Aufschrift„Juden unerwünscht“ – kurzfristig wirddiese Form der Diskriminierung währendder Olympiade 1936 aus Angst vor interna-tionalen Protesten zurückgenommen

• 14. November 1935: Verordnung zum „Reichs-bürgergesetz“ mit Aberkennung des Wahl-rechts und der öffentlichen Ämter - Entlas-sung aller im Amt verbliebenen Beamten,auch der ehemaligen Teilnehmer des ErstenWeltkriegs, der so genannten „Frontkämpfer“

• 17. August 1938: Einführung derZwangsvornamen „Israel“ und „Sara“

• 9./10. November 1938: der Novemberpogrom– Zerstörung von Synagogen, Geschäfts-häusern, Privatwohnungen. Fast 100 ermor-dete jüdische Bürger und ca. 25.000 inLager eingewiesene männliche Juden

• In der Folge weitere Erlasse: Verbot allerkulturellen Veranstaltungen - Einschränkungder Wohnfreiheit – „Arisierung“ jüdischerGeschäfte: d. h. Zwangsenteignung bzw.Verkaufsgebot unter Wert - Entzug desFührerscheins - jüdische Schüler und Schüle-rinnen müssen öffentliche Schulen verlassen

• September 1939: Ausgangssperre für Judenund Jüdinnen – im Sommer ab 21.00 Uhr,im Winter ab 20.00 Uhr

• 23. September 1939: Beschlagnahme vonRundfunkgeräten

• September 1941: Jüdische Bürgerinnen undBürger, einschließlich der Kinder, müsseneinen gelben Stern sichtbar auf der Kleidungtragen

• 17. Oktober 1941: Beginn der Deportationenaus dem Reichsgebiet nach Osten

• 22 Oktober 1941: Auswanderungsverbot fürJuden und Jüdinnen

• 20. Januar 1942: Wannsee-Konferenz – Ent-scheidung über die planmäßige Vernich-tung des europäischen Judentums

• Ab Juni 1942: Beginn der Massenvernichtungin Auschwitz und anderen Lagern (vgl. dazuChristopher R. Browning, Die Entfesselungder „Endlösung“. NationalsozialistischeJudenpolitik 1939 – 1942. Berlin 2003). Siewurde als Kriegsziel mit großem Aufwandbis kurz vor Kriegsende durchgeführt.

Der nationalsozialistische Antisemitismusnutzte die gängigen Vorurteile und instru-mentalisierte sie zunächst für die Innen- undAußenpolitik des Deutschen Reiches, dannfür die Kriegspolitik und Kriegsorganisation.An den entsprechenden Äußerungen derFührungsclique (Hitler, Goebbels, Himmler ...)wird besonders deutlich, wie stark der NS-Anti-semitismus von der fanatischen und irratio-nalen Zwangsvorstellung geprägt war, dassder Jude der Erbfeind der arischen Rasse sei.Die Deutschen stünden in einem Abwehr-kampf, der sich gleichzeitig gegen die deka-dente, jüdisch geprägte, westlich-kapitalisti-sche Zivilisation zu wenden habe wie gegendas noch bedrohlichere „Barbarentum“ desjüdischen Bolschewismus und Kommunismus.Dass dieser NS-Antisemitismus seine totaleGewalt entfalten konnte, lag wiederum daran,dass er bedenkenlos die Möglichkeiten mo-derner technokratischer Rationalität einsetzteund bis zum Ende auf eine willfährige odereingeschüchterte Bevölkerungsmehrheitzählen konnte. Hier liegt auch die große Mit-verantwortung der Kirchen, die mit ihrer anti-judaistischen und antisemitischen Tradition,die selbst in der Bekennenden Kirche seit Be-ginn der NS-Herrschaft dem wachsenden Un-heil keinen wirkungsvollen Widerstand ent-gegengesetzt hat und bei den jedermannsichtbaren Verbrechen wie z. B. der Reichs-pogromnacht als Institution keine deutlicheStimme des Protestes erhob. Nur Einzelneinnerhalb der Bekennenden Kirche bildetenhier eine Ausnahme: u.a. Karl Barth, DietrichBonhoeffer, Helmut Hesse, der Prediger inBuchenwald, Paul Schneider.

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5. Entwicklungen nach dem ZweitenWeltkrieg

Als mit der Befreiung der Konzentrations-und Vernichtungslager und dem Ende derNaziherrschaft das ganze Ausmaß der Schoabekannt wurde, wurde der programmatischeAntisemitismus als ideologische Konzeptionwie als politisches Programm vollkommengeächtet. Es gehörte zum politischen Selbst-verständnis der Nachkriegsstaaten Bundes-republik Deutschland, DDR und Österreich,dass man sich offiziell vehement vom Anti-semitismus distanzierte. Das „Wiedergut-machungsabkommen“ zwischen der Bundes-republik Deutschland und dem Staat Israel1952 und das damit verbundene offizielleSchuldbekenntnis wurden sowohl für das Ver-hältnis der beiden Staaten zueinander als auchfür die Zukunft der jüdischen Gemeinden inDeutschland als Grundlage eines Neuanfangsgesehen. Gleichwohl diente das Abkommenvielen Deutschen als "“Beruhigung des Ge-wissens“ in der Ära des Vergessens in den 50erund frühen 60er Jahren. Öffentliche antise-mitische Äußerungen sowie die Darstellungoder das Tragen von NS-Symbolen stehen seit-dem unter Strafe. Wer mit antisemitischenKlischees spielt, muss sich öffentlich dafür ver-antworten. In Bildung und Schule werden seitden 70er Jahren große Anstrengungen unter-nommen, über die verbrecherische Wirkungs-geschichte des Antisemitismus aufzuklären.

Innerhalb der Evangelischen Kirche in Deutsch-land steht das ‚Stuttgarter Schuldbekenntnisvom Oktober 1945 am Anfang einer noch zag-haften kritischen Aufarbeitung der Vergangen-heit. Allerdings blieb dieses frühe Schuldbe-kenntnis sehr allgemein auf das generelle Leidbezogen, was die Deutschen anderen Völkernzugefügt hatten. Die Verfolgung und Ermor-dung der Juden geschweige denn eine Mitver-antwortung und Schuld der Christen wurdennicht konkret angesprochen oder bekannt.Dies änderte sich erst mit der EKD-Synode inBerlin-Weißensee 1950, wo es heißt: „Wirsprechen es aus, dass wir durch Unterlassenund Schweigen vor dem Gott der Barmherzig-keit mitschuldig geworden sind an dem Frevel,der durch Menschen unseres Volkes an denJuden begangen worden ist. (...) Wir glauben,dass Gottes Verheißung über dem von ihmerwählten Volk Israel auch nach der Kreuzi-gung Jesu Christi in Kraft geblieben ist.“

(EKD-Studie "Christen und Juden II",1984 S.9)Die Aussage von der bleibenden Erwählungdes Volkes Israel setzte einen Prozess derNeubesinnung bezüglich des Verhältnissesvon Kirche und Judentum in Gang, der aller-dings in Bezug auf die theologischen Konse-quenzen (Judenmission, Substitutionslehre,Messiasbekenntnis, Kirchenverständnis undVerständnis vom Bund) äußerst langsam undkontrovers verlief. Es dauerte 25 Jahre, bis mitder EKD-Studie „Christen und Juden“ von 1975die Arbeit an einer Neubestimmung des Ver-hältnisses auch öffentlich auf eine neueGrundlage gestellt wurde, bei der das Gemein-same erstmals stärker betont wurde als diesbislang der Fall war. Schließlich wurde mitder bahnbrechenden Erklärung „Zur Erneue-rung des Verhältnisses von Christen undJuden“ der Landessynode der EvangelischenKirche im Rheinland im Jahr 1980 eine pro-duktive Arbeit angestoßen, in deren Verlaufnicht nur die gesellschaftspolitische Über-nahme einer besonderen Verantwortung ge-genüber dem jüdischen Volk betont, sondernzugleich auch zu einer grundlegenden theo-logischen Umkehr und Erneuerung aufgerufenwurde. Damit war die eindeutige Zielvorstel-lung verbunden, dass sich die Kirche von allenantijudaistischen Spuren in ihrem Grundver-ständnis, in Gottesdienst und Lehre trennenund entsprechend ihre Kirchenverfassungenändern sollte. Deutlicher als zuvor wurde auchdas Bekenntnis christlicher Mitverantwortungund Schuld an der Schoa ausgesprochen.Dies schloss sowohl das Versagen angesichtsder Judenverfolgung während des National-sozialismus als auch das Bewusstsein, dassTheologie und Kirche an der langen Geschich-te der Entfremdung und Feindschaft gegen-über den Juden aktiv beteiligt waren, ein(EKD-Studie „Christen und Juden II“,1984 S. 17).

Heute ist die deutsche Öffentlichkeit sensib-ler, antisemitische und neonazistische Tra-ditions- und Tatbestände aufzuspüren. Nochverstärkt hat sich der öffentlich verantwor-tungsvolle Umgang mit der deutschen Ge-schichte nach der Wiedervereinigung mit demZiel, den international für kurze Zeit spürbarenÄngsten in Israel und bei den ehemaligenKriegsgegnern vor einem wiedervereintenDeutschland erfolgreich ein neues Deutsch-landbild entgegenzusetzen. Heute signalisierteine ausgeprägte Gedenkkultur, für die der27. Januar und das Holocaustmahnmal in

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

Berlin stellvertretend stehen mögen, die be-wusste Übernahme der Verantwortung fürdie Verbrechens- und Schuldgeschichte wäh-rend des Nationalsozialismus in die neuenationale Identität. Dieses Selbstverständnisprägte auch die zahlreichen Veranstaltungenanläßlich des 40. Jahrestages der Aufnahmediplomatischer Beziehungen zwischen derBundesrepublik Deutschland und Israel 2005(Vgl. dazu u.a. Sonderheft „Aus Politik undZeitgeschichte“, 15/2005 - 11.04.2005 „Deutsch-land und Israel“ – Beilage zur Wochenzeitung„Das Parlament“).

Gleichwohl ist der Antisemitismus als vorur-teilsbeladene Einstellung mit dem Ende derNaziherrschaft nicht verschwunden. Einzel-vorgänge, wie die unter Verweis auf ihre anti-semitische Tendenz verfügte Auflösung der„Sozialistischen Reichspartei“ (SRP) durch dasBundesverfassungsgericht 1952, machten diesschon früh deutlich (vgl. dazu Klaus-HenningRosen, Vorurteile im Verborgenen. Zum Anti-semitismus in der Bundesrepublik Deutsch-land. In: Herbert A. Strauss/Norbert Kampe,Antisemitismus. Von der Judenfeindschaft zumHolocaust. Bonn 1985, S. 256 – 279, Schriften-reihe der Bundeszentrale für politische Bil-dung, Bd. 213). Unter dem Deckmantel desVerstummens und der Verdrängung blieb derAntisemitismus als ideologische und menta-le Strömung zunächst meist ‚zugedeckt’, biser durch Schändungen jüdischer Friedhöfeund Synagogenschmierereien auch öffent-lich wieder in Erscheinung trat.

Aufgeschreckt wurde die bundesrepublikani-sche Gesellschaft erstmals in größerem Um-fang durch entsprechende Vorgänge in KölnWeihnachten 1959.Antisemitische Äußerungen und Schriftenrechtsradikaler Parteien und Organisationen,inklusive der publizistisch stets wirksamenVerbreitung von Varianten der Auschwitz-lüge, gehören seitdem wieder zum Alltag derBundesrepublik und beschäftigen wellenartigÖffentlichkeit und Verfassungsschutz. Intrauriger Regelmäßigkeit belegen Umfragendes SPIEGEL oder des Allensbach-Institutsein deutliches Potenzial antisemitischer Ein-stellungen innerhalb der Bevölkerung (vgl.die umfangreiche Untersuchung in „SpiegelSpezial“ „Juden und Deutsche“, Nr. 2/1992,S.61 – 73).Hinzu traten bis in die jüngste Zeit Äuße-rungen von Politikern demokratischer Parteienund anderer Personen des öffentlichen Lebens,die sich bewusst oder unbewusst antisemiti-scher Denkmuster bedienten oder sich alsVertreter einer Schlussstrich-Mentalität zuerkennen gaben.

Deshalb behält die Deutung des Antisemitis-mus nach der Schoa durchaus ihre Aktuali-tät, die der Publizist Henryk M. Broder 1986in der Süddeutschen Zeitung veröffentlichte:„Die Juden glauben, nach Auschwitz kann unddarf es keinen Antisemitismus mehr geben,die Antisemiten müssten dermaßen erschöpftsein oder wenigstens beschämt sein, dass sieweder die Kraft noch Mut zu neuen Aktionenhaben sollten; und die Antisemiten, die keinesein wollen, denken, es genüge, sich vonAuschwitz zu distanzieren, die Massenver-nichtung von Juden zu verurteilen, um überjeden Verdacht erhaben zu sein. Die Judenübersehen dabei, dass es Antisemitismusnicht trotz, sondern wegen Auschwitz gibt,weil die Täter permanent an ihre Untatenund zugleich an ihr Versagen erinnert wer-den; die Antisemiten wiederum vergessen,dass Auschwitz in der Geschichte des Antise-mitismus ein atypischer Exzess war, der nichtals Maßstab genommen werden kann, mehrnoch, dass die Verurteilung des NS-Antisemi-tismus notwendige Voraussetzung für dieEntfaltung eines Neo-Antisemitismus ist, dersich von Auschwitz nicht von vornherein dis-kreditieren lassen möchte.“ (H.M. Broder,„Antisemitismus – ja bitte!“ In: SüddeutscheZeitung vom 18./19.1.1986 Beilage)

Friedhof in Babenhausen-Sickenhofen beiDarmstadt (1990), Quelle: EPG

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Eine für viele überraschende judenfeindlicheTendenz entwickelte sich in einigen Gruppie-rungen und Organisationen, die aus der„Studentenrevolte“ Ende der 60er Jahre her-vorgingen. Ihrem marxistischen Selbstver-ständnis nach ‚links’ und ‚antifaschistisch’,hielten sie sich aufgrund ihres kritischen Blicksauf die Vätergeneration und die Zeit des Na-tionalsozialismus für immun gegen Antise-mitismus und Judenfeindschaft. Ursprünglichisraelfreundlich eingestellt, entdeckte dieradikale Linke nach dem „Sechs-Tage-Krieg“von 1967 und der Besetzung der Westbankund des Gazastreifens durch Israel das paläs-tinensische Volk als Identifikationsobjekt imvermeintlichen antiimperialistischen Kampfgegen Israel. Bald schon stellte sich heraus,dass politische Israelgegnerschaft unter demBegriff des „Antizionismus“ und Strukturentraditioneller Judenfeindschaft vielfach nichtgetrennt werden konnten.

Inzwischen wird international zwischen einemalten und einem neuen Antisemitismus un-terschieden. Die Antisemitismus-Skandale derletzten Jahre, die der ehemalige Grünen-Po-litiker Karsli, der FDP-Politiker Möllemann undder CDU-Politiker Hohmann ausgelöst haben,wurden in Deutschland vor dem Hintergrundder Verbrechen des Nationalsozialismus undder Gefahr einer Relativierung der Schoa ge-sehen. Aber diese jüngsten Beispiele markie-ren einen Antisemitismus „neuen Typs“, dernur noch bedingt mit dem eingeübten Mus-ter der so genannten „Vergangenheitsbewäl-tigung“ zu fassen ist und dessen entscheiden-der Bezugspunkt der Nahostkonflikt gewor-den ist. Neben dem weiterhin vor allem in derrechten Szene beheimateten „alten Antise-mitismus“, wie er sich im Januar 2005 indem skandalösen Verhalten der NPD Land-tagsfraktion im sächsischen Landtag zu er-kennen gab, gilt es hinsichtlich des „neuenAntisemitismus’“ drei Felder zu unterscheiden:

„1. Die Auseinandersetzung darüber, wo legi-time Kritik an israelischer Politik aufhört undeine antisemitisch motivierte Ablehnung derExistenz Israels beginnt. (...) Für die einen zei-gen sich hier manifeste Formen eines anti-zionistisch maskierten Antisemitismus, wäh-rend die anderen fürchten, dass der Antise-mitismusvorwurf zu einer Einschränkung (...)von politischer Meinungsfreiheit führt.

2. Die Frage nach dem Antisemitismus derLinken (...) Welche Rolle spielt der kommunis-tische Antizionismus, der ja von Moskauüber Jahrzehnte weltweit propagiert wurde?Inwieweit sind bestimmte Formen von linkerKritik an Kapitalismus und Globalisierung, anImperialismus und amerikanischer Vorherr-schaft zumindest kompatibel mit antisemiti-schen Grundeinstellungen und Weltbildern?Gibt es da Affinitäten, ja, vielleicht sogarGemeinsamkeiten?

3. Die Frage nach der Verbreitung des Antise-mitismus in der islamischen Welt. Dass derklassische Antisemitismus mit seinen Topoivom jüdischen Ritualmord und dem jüdischenStreben nach Weltherrschaft in arabischenLändern weit verbreitet ist (und auch durchstaatliche Medien verbreitet wird), dafür gibtes eine Vielzahl von Belegen. Diese ursprüng-lich aus Europa importierten Vorstellungenfließen durch Immigration offenkundig wie-der nach Europa zurück. Das Ausmaß diesesAntisemitismus und seine Bewertung sindjedoch umstritten. Während die einen dieSchärfe des Nahostkonflikts auch dadurcherklären, dass die arabische Seite den Konfliktmit antisemitischen Bildern aufgeladen hat,sehen die anderen diesen Antisemitismus imwesentlichen als temporäres Nebenproduktdes realen Konflikts zwischen Israelis und Pa-lästinensern, und, in Bezug auf Westeuropa,als Ergebnis sozialer und ethnischer Span-nungen in Ländern, die von Judenhass undIslamophobie nicht frei sind.“ (Neuer Antise-mitismus ? Eine globale Debatte. Hg. DoronRabinovici, Ulrich Speck und Nathan Sznaider.Frankfurt a.M. 2004 (edition suhrkamp 2386),hier S. 9f)

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

C. Die Synodalerklärungvom 11. Januar 1980:Erklärung zur Erneuerungdes Verhältnisses vonChristen und Juden

Nicht du trägst die Wurzel, sondern dieWurzel trägt dich. (Römer 11, 18 b)

1. In Übereinstimmung mit dem „Wort an dieGemeinden zum Gespräch zwischen Chris-ten und Juden” der Landessynode der Evan-gelischen Kirche im Rheinland vom 12. Januar1978 stellt sich die Landessynode der ge-schichtlichen Notwendigkeit, ein neuesVerhältnis der Kirche zum jüdischen Volkzu gewinnen.

2. Vier Gründe veranlassen die Kirche dazu:(1) Die Erkenntnis christlicher Mitverant-wortung und Schuld an dem Holocaust,der Verfemung, Verfolgung und Ermor-dung der Juden im Dritten Reich.(2) Neue biblische Einsichten über die blei-bende heilsgeschichtliche BedeutungIsraels (z. B. Röm. 9-11), die im Zusammen-hang mit dem Kirchenkampf gewonnenworden sind.(3) Die Einsicht, dass die fortdauerndeExistenz des jüdischen Volkes, seine Heim-kehr in das Land der Verheißung und auchdie Errichtung des Staates Israel Zeichen derTreue Gottes gegenüber seinem Volk sind.(4) Die Bereitschaft von Juden zu Begeg-nung, gemeinsamem Lernen und Zusam-menarbeit trotz des Holocaust.

3. Die Landessynode begrüßt die Studie„Christen und Juden“ des Rates der Evan-gelischen Kirche in Deutschland und dieergänzenden und präzisierenden „Thesenzur Erneuerung des Verhältnisses von Chris-ten und Juden“ des Ausschusses „Christenund Juden“ der Evangelischen Kirche imRheinland.

Die Landessynode nimmt beide dankbarentgegen und empfiehlt allen Gemeinden,die Studie und die Thesen zum Ausgangs-punkt einer intensiven Beschäftigung mitdem Judentum und zur Grundlage einerNeubesinnung über das Verhältnis derKirche zu Israel zu machen.

4. Deshalb erklärt die Landessynode:(1) Wir bekennen betroffen die Mitverant-wortung und Schuld der Christenheit inDeutschland am Holocaust.

(2) Wir bekennen uns dankbar zu den „Schrif-ten“ (Lk. 24, 32 und 45; 1. Kor. 15, 3 f.), unseremAlten Testament, als einer gemeinsamenGrundlage für Glauben und Handeln vonJuden und Christen.

(3) Wir bekennen uns zu Jesus Christus, demJuden, der als Messias Israels der Retter derWelt ist und die Völker der Welt mit demVolk Gottes verbindet.

(4) Wir glauben die bleibende Erwählung desjüdischen Volkes als Gottes Volk und er-kennen, dass die Kirche durch Jesus Christusin den Bund Gottes mit seinem Volk hinein-genommen ist.

(5) Wir glauben mit den Juden, dass die Ein-heit von Gerechtigkeit und Liebe das ge-schichtliche Heilshandeln Gottes kennzeich-net. Wir glauben mit den Juden Gerechtig-keit und Liebe als Weisungen Gottes für unserganzes Leben. Wir sehen als Christen beidesim Handeln Gottes in Israel und im HandelnGottes in Jesus Christus begründet.

(6) Wir glauben, dass Juden und Christen jein ihrer Berufung Zeugen Gottes vor der Weltund voreinander sind; darum sind wir über-zeugt, dass die Kirche ihr Zeugnis dem jüdi-schen Volk gegenüber nicht wie ihre Missionan die Völkerwelt wahrnehmen kann.

(7) Wir stellen darum fest:Durch Jahrhunderte wurde das Wort „neu“in der Bibelauslegung gegen das jüdischeVolk gerichtet: Der neue Bund wurde alsGegensatz zum alten Bund, das neue Gottes-volk als Ersetzung des alten Gottesvolkes ver-standen. Diese Nichtachtung der bleibendenErwählung Israels und seine Verurteilung zurNichtexistenz haben immer wieder christlicheTheologie, kirchliche Predigt und kirchlichesHandeln bis heute gekennzeichnet. Dadurchhaben wir uns auch an der physischenAuslöschung des jüdischen Volkes schuldiggemacht.

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Wir wollen deshalb den unlösbaren Zusam-menhang des Neuen Testaments mit demAlten Testament neu sehen und das Ver-hältnis von "alt” und "neu” von der Verhei-ßung her verstehen lernen: als Ergehen derVerheißung, Erfüllen der Verheißung undBekräftigung der Verheißung; „Neu“ be-deutet darum nicht die Ersetzung des„Alten“. Darum verneinen wir, dass das VolkIsrael von Gott verworfen oder von derKirche überholt sei.

(8) Indem wir umkehren, beginnen wir zuentdecken, was Christen und Juden gemein-sam bekennen:

Wir bekennen beide Gott als den Schöpferdes Himmels und der Erde und wissen, dasswir als von demselben Gott durch den aaro-nitischen Segen Ausgezeichnete im Alltagder Welt leben.

Wir bekennen die gemeinsame Hoffnungeines neuen Himmels und einer neuen Erdeund die Kraft dieser messianischen Hoffnungfür das Zeugnis und das Handeln von Christenund Juden für Gerechtigkeit und Frieden inder Welt.

5. Die Landessynode empfiehlt den Kreis-synoden die Berufung eines Synodalbeauf-tragten für das christlich-jüdische Gespräch.

Die Landessynode beauftragt die Kirchenlei-tung, erneut einen Ausschuss „Christen undJuden“ einzurichten und Juden um ihre Mit-arbeit in diesem Ausschuss zu bitten. Er solldie Kirchenleitung in allen das Verhältnis vonKirche und Judentum betreffenden Fragenberaten und Gemeinden und Kirchenkreisezu einem vertieften Verständnis des Neuan-satzes im Verhältnis von Juden und Christenverhelfen.

Die Landessynode beauftragt die Kirchenlei-tung, zu prüfen, in welcher Form die Evange-lische Kirche im Rheinland eine besondereMitverantwortung für die christliche Siedl-ung Nes Ammim in Israel so übernehmenkann, wie dies andere Kirchen (z. B. in denNiederlanden und in der BundesrepublikDeutschland) bereits tun.

Die Landessynode beauftragt die Kirchenlei-tung, dafür zu sorgen, dass das Thema Chris-ten und Juden in der kirchlichen Aus-, Fort-,und Weiterbildung angemessen berücksich-tigt wird.

Die Landessynode hält es für wünschenswert,dass an der Kirchlichen Hochschule Wupper-tal und an der Gesamthochschule Wuppertalein regelmäßiger Lehrauftrag mit der The-matik „Theologie, Philosophie undGeschichte des Judentums“ wahrgenommenwird, und bittet die Kirchenleitung, in diesemSinne mit der Kirchlichen Hochschule Wupper-tal und mit der Gesamthochschule Wupper-tal zu verhandeln.

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

D. Eine Checkliste fürGemeinde und Schule

Im Kontext der Antisemitismusdebatte ist esfür Gemeinden und Schulen hilfreich zuüberprüfen, inwieweit das Thema Judentumim Allgemeinen und der Antisemitismus alsThema im Besonderen in der eigenen Arbeitvorkommen:• In der Gemeinde

• Ist die Synodalerklärung von 1980 unddie Erweiterung des Grundartikels von1996 in der Gemeinde bekannt?

• Pflegt die Gemeinde Kontakte zur jüdi-schen Gemeinde vor Ort?

• Beteiligen sich Mitglieder der Gemeindean Gedenkfeiern zur Pogromnacht 1938und wird angemessen darauf aufmerk-sam gemacht?

• Gibt es in der Nähe wichtige Erinnerungs-orte, an deren Pflege die Gemeinde teil-nehmen kann?

• Reagiert die Gemeinde auf antisemiti-sche Vorfälle in der eigenen Region?

• Welcher/Was von den genannten Punk-ten spiegelt sich in den Veröffentlichung-en der Gemeinde?

• In der Gottesdienstarbeit• Wird in der Gemeinde reflektiert, was

verantwortliches Reden und Handeln imAngesicht Israels bedeutet?

• Fließen Erkenntnisse des christlich-jüdi-schen Gesprächs in Predigt und Liturgieein?

• Wird der 10. Sonntag nach Trinitatisbewusst als Israelsonntag gefeiert?

• In Gesprächskreisen/in der Erwachsenenbildung

• Wird in den Gruppen und Kreisen derGemeinde das Judentum thematisiert?

• Wird in den Gruppen und Kreisen derGemeinde solides Grundwissen überJudentum vermittelt?

• In der Konfirmandenarbeit• Kommt im KU eine Einheit zum Thema

Judentum vor?• Wird das Judesein Jesu im KU the-

matisiert?• Wird eine Synagoge besichtigt?

• Im Religionsunterricht• Wird im Curriculum des RU das

Judentum thematisiert?• Wird im Curriculum des RU solides

Grundwissen über Judentum vermittelt?• Fließen Erkenntnisse des christlich-jüdi-

schen Gesprächs in die Vermittlung zen-traler Themen des RU?

• Pflegt die Schule Kontakte zur jüdischenGemeinde vor Ort oder in der Region?

• Gibt es eine (Schul)Partnerschaft miteiner Einrichtung in Israel?

• Gibt es in der Nähe wichtigeErinnerungsorte, an deren Pflege dieSchule teilnehmen kann?

• Beteiligt sich die Schule an historischen„Spurensuche-Projekten“ oder "Gedenk-büchern"?

• Werden Gedenktage wie der 27. Januar(Erinnerungstag an die Opfer der Schoa)oder der 9. November (Pogromnacht1938) im Schulleben berücksichtigt?

• Gibt es fächerübergreifende Unter-richtseinheiten/ Projektunterricht/Projektwochen zum Thema?

• Was tut die Schule gegen Rassismusund Fremdenfeindlichkeit – ist dies Teil des Schulprogramms?

• Trägt die Schule einen Namen, an denman anknüpfen kann (Anne Frank,Dietrich Bonhoeffer u.a.)

• Gibt es Kontakte zum Projekt „Schuleohne Rassismus“ (siehe Internet-Adres-sen) und/oder evtl. zu ausländischenSchulen (Nachbarschaft zu den Nieder-landen, Belgien, Frankreich)?

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E. Literaturangaben undInternetadressen

Literatur in Auswahl

Wolfang Benz, Was ist Antisemitismus?,München 2004

Jörn Böhme, Tobias Kriener, Christian Sterzing,Kleine Geschichte des israelisch-palästinen-sischen Konflikts, Schwalbach/Ts., 2005

Wolfgang Borchardt/Reinhardt Möldner (Hg.),Jüdisches Leben in christlicher Umwelt,Cornelsen-Verlag 1997

Günther B. Ginzel, Antisemitismus.Erscheinungsformen der Judenfeindschaftgestern und heute, Bielefeld 1991

Hans Hermann Henrix und Wolfgang Kraus(Hg.), Die Kirchen und das Judentum, Bd. II,Paderborn und Gütersloh 2001

Jüdisches Museum Wien (Hg.), Die Machtder Bilder. Antisemitische Vorurteile undMythen, Picus Verlag, 1995

Michael Kiefer, Antisemitismus in den isla-mischen Gesellschaften. Der Palästina-Konflikt und der Transfer eines Feindbildes,Verein zu Förderung gleichberechtigterKommunikation, Düsseldorf 2002

Stephan Lehr, Antisemitismus – religiöse Mo-tive im sozialen Vorurteil, Abhandlungenzum jüdisch-christlichen, Dialog, (Hg.)Helmut Gollwitzer, Bd. 5, München 1974

Bernhard Lewis, „Treibt sie ins Meer“.Die Geschichte des Antisemitismus,Frankfurt a.M./Berlin 1987

Léon Poliakow, Geschichte des Antisemitismus,8 Bände, Worms 1977

Doron Rabinovici, Ulrich Speck, Natan Sznaider(Hg.), Neuer Antisemitismus, Frankfurt a. M.2004

Rolf Rendtorff und Hans Hermann Henrix(Hg.), Die Kirchen und das Judentum, Bd. I,Paderborn und München 1988

Lars Rensmann, Demokratie und Judenbild.Antisemitismus in der politischen Kultur derBundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2004

Stefan Rohrbacher und Michael Schmidt,Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischerMythen und antisemtischer Vorurteile,Hamburg 1991 (rowohlts enzyklopädie: re k+i 498)

Rosemary Radford-Ruether, Nächstenliebeund Brudermord. Die theologischen Wurzelndes Antisemitismus, Abhandlungen ..., Bd. 7,München 1978

Rosemarie Schuder, Rudolf Hirsch (Hg.), Dergelbe Fleck. Wurzeln und Wirkungen desJudenhasses in der deutschen Geschichte,Köln 1988

Monika Möller, Gerda E.H. Koch, WarumAnne Frank sterben musste. Entwicklungund Formen christlicher Judenfeindschaft,Unterrichtsmaterialien „Religion betrifftuns“, Heft 5/2004, Aachen

Henryk M. Broder, Der Ewige Antisemit.Über Sinn und Funktion eines beständigenGefühls, Frankfurt a.M. 1986

Hürtgen G., Mick, E., Juden in Köln,Arbeitshefte 1-3, Museumsdienst Köln 2003

Gedenkstättenfahrten. Handreichung fürSchule, Jugend- und Erwachsenenbildung inNordrhein-Westfalen, Schwalbach/Ts. 2004

Klaus Ahlheim, Bardo Heger, Die unbequemeVergangenheit. NS-Vergangenheit,Holocaust und die Schwierigkeiten desErinnerns, Schwalbach/Ts. 2003

Rechtes Netz. Rechtsextremismus im Internet.Projekt Rechtsextremismus der KölnischenGesellschaft für Christlich-Jüdische Zusam-menarbeit (Hg.), Köln 2005

Monika Grübel, Georg Möllich (Hrsg.),Jüdisches Leben im Rheinland, Köln 2005

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Internetadressen in Auswahl

Unter den Internetadressen finden sich vieleAnregungen sowei hilfreiche Verweise fürdie Weiterarbeit in Schulen, Gemeinde-gruppen und in der Erwachsenenbildung:

www.hagalil.com

www.antisemitismus.net

www.tu-berlin.de/zfa/ (Zentrum für Antisemitismus-Forschung)

www.juden.de

www.talmud.de

www.doronia.de/juedische_gemeinden_in_deutschland.htm(Jüdische Gemeinden in Deutschland)

www.phil-fak.uni-duesseldorf.de/ijs/(Institut für jüdische Studien an derHeinrich-Heine-Universität Düsseldorf)

www.zentralratdjuden.de/de/topic/1.html(Zentralrat der Juden in Deutschland)

www.nesammim.de/(Nes Ammin Deutschland)

www.nswas.org/rubrique41.html(Neve Shalom/Wahat al-Salam)

www.projekte-gegen-antisemitismus.de/(Eine Initiative der Amadeu Antonio Stiftung)

http://www.schule-ohne-rassismus.org/(Schule ohne Rassismus)

www.krasse-zeiten.org/ (Dokumentation von antisemitischen undrechtsextremen Vorfällen in Deutschland)

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F. Einige hilfreicheAdressen

Studienstelle Christen und JudenGraf-Recke-Straße 209a40237 DüsseldorfTelefon 02 11 36 10 - 310

Arbeitsbereich Christen und Juden in derKirchlichen LehrerfortbildungPädagogische Akademie der Gemeinschaftevangelischer Erzieher e.V. und Nes Ammim e.V. im Auftrag derEvangelischen Kirche im Rheinland:Bergesweg 1640489 DüsseldorfTelefon 02 11 40 59 750

Bundeszentrale für politische BildungAdenauerallee 8653113 BonnTelefon 018 88 51 50 E-Mail [email protected]/

Landeszentralen für politische BildungNordrhein-WestfalenHorionplatz 140213 DüsseldorfTelefon 02 11 86 18 - 46 11E-Mail [email protected] Bildung.nrw.de

Rheinland-PfalzAm Kronberger Hof 655116 MainzTelefon 061 31 16 29 70Fax 061 31 16 29 80 E-Mail [email protected]

Saarland (LPM)Beethovenstraße 2666125 SaarbrückenTelefon 068 97 79 08 104Fax 068 97 79 08 177E-Mail [email protected]

Mahn- und Gedenkstätten

www.ns-gedenkstaetten.de/nrw/index_startseite_de.html

Mahn- und Gedenkstätte DüsseldorfMühlenstraße 2940213 DüsseldorfTelefon 02 11 89 96 - 205www.ns-gedenkstaetten.de/nrw/duesseldorf/index_2.php3

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ARBEITSHILFE – ANTISEMITISMUS

Autorinnen und Autoren

Peter Andersen, DüsseldorfDr. Rolf Kauffeldt, DüsseldorfM.A. Gerda E.H. Koch, DüsseldorfDr. Tobias Kriener, DüsseldorfKlaus Rudolph, Düsseldorf

IMPRESSUMEvangelische Kirche im RheinlandLandeskirchenamt/Abtlg. IIIHans-Böckler-Straße 740476 DüsseldorfFon (02 11) 45 62 – 404Fax (02 11) 45 62 – 561E-Mail [email protected]

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Redaktionelle BearbeitungPeter Andersen, Eva Schüler

Gestaltung/Produktionart work shop, Düsseldorf

© Evangelische Kirche im Rheinland, Dezember 2006