Jakob Wimpfeling liest Petrarcas De vita solitaria . Der ... · • Petrarca, Francesco, De vita...
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SFB 1015. Teilprojekt C1 Muße/muoze digital – mittelalterliche Varianten der Muße Copyright @ 2016 Universität Freiburg. SFB 1015 Muße. 1 Jakob Wimpfeling liest Petrarcas De vita solitaria . Der humanistische Wunsch nach solitudo Brief Jakob Wimpfelings, gedruckt in Straßburg : Johann Knobloch d.Ä. 1507, fol. A ii r (bearb.) ▶ Bezüge à solitudo ▶ Belegstelle Dum olim, carissime frater, Franciscum Petrarcam De vita solitaria iterum atque iterum relegissem, invasit me grande fastidium pristinae vitae ac popularis frequentiae cepitque me mirificus ardor solitu- dinis, qui in dies augebatur, ubi praestantes quosdam viros et mihi amicissimos ad idem vivendi genus aspirare cognovi. ▶ Übersetzung ›Als ich vor Zeiten, mein liebster Bruder, Francesco Petrarcas De vita solitaria wieder und wieder gele- sen hatte, drang in mich eine große Abneigung gegenüber meinem vorherigen Leben und den Men- schenmassen und mich ergriff eine wunderbare Begeisterung für die Einsamkeit, die von Tag zu Tag größer wurde, sobald ich erfahren hatte, dass einige vorzügliche und mir sehr eng befreundete Män- ner und meine liebsten Freunde nach der gleichen Lebensweise trachteten.‹ (Linus Möllenbrink) ▶ Kommentar Der Einfluss, den Francesco Petrarcas Traktat De vita solitaria (›Vom einsamen Leben‹) auf den früh- neuzeitlichen Humanismus ausübte, ist kaum zu überschätzen. Der Text, dessen erste Version 1346 entstand und der in den nächsten zwanzig Jahren laufend überarbeitet wurde, erlebte nach seiner Veröffentlichung eine enorm weite Verbreitung in ganz Europa. Über 120 erhaltene Handschriften und eine sehr breite Drucküberlieferung zeugen von seiner Popularität. Allein von der Gesamtausgabe der Werke Petrarcas, die 1496 von Sebastian Brant herausgegeben wurde, sind noch 323 Exemplare erhal- ten. Vor allem bei Humanisten, aber auch in monastischen Kreisen, stießen das Werk und die darin diskutierte Thematik offenbar auf großes Interesse.
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SFB1015.TeilprojektC1Muße/muozedigital–mittelalterlicheVariantenderMuße
Copyright@2016UniversitätFreiburg.SFB1015Muße. 1
JakobWimpfelingliestPetrarcasDevitasolitaria . DerhumanistischeWunschnachsolitudo
B r ie f J akob Wimpfe l ings , gedruck t in S t raßburg : Johann Knob loch d .Ä . 1507 , fo l . A i i r ( bearb . )
▶Bezügeàsolitudo
▶Belegstelle
Dum olim, carissime frater, Franciscum PetrarcamDe vita solitaria iterum atque iterum relegissem,invasitmegrandefastidiumpristinaevitaeacpopularisfrequentiaecepitquememirificusardorsolitu-dinis,quiindiesaugebatur,ubipraestantesquosdamvirosetmihiamicissimosadidemvivendigenusaspirarecognovi.
▶Übersetzung
›AlsichvorZeiten,meinliebsterBruder,FrancescoPetrarcasDevitasolitariawiederundwiedergele-senhatte,drang inmicheinegroßeAbneigunggegenübermeinemvorherigenLebenunddenMen-schenmassenundmichergriffeinewunderbareBegeisterung fürdieEinsamkeit,dievonTagzuTaggrößerwurde,sobaldicherfahrenhatte,dasseinigevorzüglicheundmirsehrengbefreundeteMän-nerundmeineliebstenFreundenachdergleichenLebensweisetrachteten.‹
(LinusMöllenbrink)
▶Kommentar
DerEinfluss,denFrancescoPetrarcasTraktatDevitasolitaria(›VomeinsamenLeben‹)aufdenfrüh-neuzeitlichenHumanismusausübte, ist kaumzuüberschätzen.Der Text, dessenersteVersion1346entstand und der in den nächsten zwanzig Jahren laufend überarbeitetwurde, erlebte nach seinerVeröffentlichungeineenormweiteVerbreitunginganzEuropa.Über120erhalteneHandschriftenundeinesehrbreiteDrucküberlieferungzeugenvonseinerPopularität.AlleinvonderGesamtausgabederWerkePetrarcas,die1496vonSebastianBrantherausgegebenwurde,sindnoch323Exemplareerhal-ten.VorallembeiHumanisten, aberauch inmonastischenKreisen, stießendasWerkunddiedarindiskutierteThematikoffenbaraufgroßesInteresse.
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InDevitasolitariawidmetsichPetrarcaderFragenachderrichtigenLebensweiseundpropagiertdenRückzug indaseinsameLebenaufdemLand.Diesesbiete, imGegensatzzurelendenGeschäftigkeitundUnruheinderStadtoderamHof,dieVoraussetzungfürintellektuelleBeschäftigungundreligiöseKontemplation.EsgehtalsoumdenOrtderMuße.DerTextbeziehtsichdabeiaufantikeTraditionen,besitztaberauchautobiographischeZüge:Petrarcabesaßnämlichseit1337einHausinderVaucluseinderNähevonAvignon,indasersichimmer wieder zurückzog, um sich un-gestört der Literatur und Philosophiewidmenzukönnen.
In derDiskussion umdenVorrang vonaktivem oder beschaulichem Leben(vita activa/vita contemplativa), dieden Humanismus von Beginn an be-schäftigt, wurde De vita solitaria zueinem maßgeblichen Bezugspunkt.Dadurch erhalten das Konzept des zu-rückgezogenen Lebens auf dem LandundnichtzuletztderBegriffdersolitu-do einenzentralenPlatzim(humanis-tischen)DenkenundSprechenüberdieMuße.
Ein interessantes Rezeptionszeugnis fürDe vita solitaria, das den großen Einfluss von Petrarcas Le-bensmodell auchnördlichderAlpen veranschaulicht, bietet derHumanist JakobWimpfeling (1450–1528).IneinemBriefvom1.Juli1507berichteterseinemFreundJohannesvonHengweiler,wieihnnachderwiederholtenLektürevonDevita solitariaderWunschüberkommenhabe, seineÄmter inSpeyer hinzuwerfen, die Stadt zu verlassen und sich mit einigen Freunden in die Einsamkeit(solitudo ) zurückzuziehen. Dieses Vorhaben schildertWimpfeling auch rückblickend in seiner Le-bensbeschreibunginderExpurgatiovon1512.DerPlan,denihmderBaslerDomkustusChristophvonUtenheimvortrug,sahvor,gemeinsammitdemberühmtenPrediger JohannGeilervonKaysersbergunddemDominikanerThomasLampartereineabgelegeneEremitenklauseimWaldzubeziehen,wodie vier als humanistisch gesinnte Priestergemeinschaft ein kontemplatives Leben führen wollten.Solitudo meinthieroffenbarkeinetotaleVereinzelung.
Als ihn der Vorschlag Utenheims erreichte, warWimpfeling gerademit verschiedenen Aufgaben inSpeyerbetreut:ErwaralsDomprediger,AutorundPublizisttätigundbefasstesichaußerdemmitderReformdesUniversitäts-undSchulwesens inSpeyer.WieernstesWimpfelingmitdemVorsatzwar,diesesgeschäftigeLebeninderStadtzugunstendervitasolitariazurückzulassen,zeigtsichdaran,dasserdieseÄmter–unddiedamitverbundenewirtschaftlicheSicherheit–bereitsaufgegebenhatte,alsderPlanschließlichscheiterte,weilihrGönnerundInitiatorChristophvonUtenheim1502zumBischofvonBaselgewähltwurde.
DasScheiterndesUnternehmensmussfürWimpfelingeinentiefenbiographischenEinschnittbedeu-tethaben;nochJahrespätersprichtervonderdamitverbundenenFrustration.DasBeispielWimpfe-lingszeigt,welchekonkretebiographischeRelevanzderFragenachderrichtigenLebensformvondenIntellektuellenderZeitum1500zugeschriebenwurde.Diesolitudo imSinneeinesmußevollenLe-bensinderEinsamkeit,stelltedabeieinverheißungsvollesIdealdar,dasjedochmitunternurschwermit den (wirtschaftlichen, gesellschaftlichen...) Anforderungen der Lebenswirklichkeit in Einklang zubringenwar.
(LinusMöllenbrink)
Diese Ausgabe hat Wimpfeling möglicherweise gelesen: FrancescoPetrarca,Opera omnia, herausgegeben von Sebastian Brant (DruckBasel:JohannAmerbach,1496),hierderBeginnvonDevitasolitaria.
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▶Literatur
ZuJakobWimpfeling:
• Wimpfeling, Jakob,Briefwechsel, Opera Selecta, Bd. 3, eingel., komm. u. hg. v. Otte Herding u.DieterMertens,München1990,Teilbd.2,Nr.229,594.[Text]
• DieterMertens,»Wimpfeling,Jakob«,in:DeutscherHumanismus1480–1520.Verfasserlexikon,hg.v.FranzJosefWorstbrock,Bd.2,Berlin/Boston2013,1289–1375.
ZuPetrarcasDevitasolitaria:
• Petrarca,Francesco,Devitasolitaria,BuchI.KritischeTextausgabeundideengeschichtlicherKom-mentarvonKarlA.E.Enenkel(LeidseromanistischereeksvandeRijskuniversiteitteLeiden24),Lei-den1990.
• Enenkel,KarlA.E.,»Diehumanistischevitaactiva/vitacontemplativa-Diskussion:FrancescoPetrar-casDevitasolitaria«,in:RhodaSchnur/AnnMoss/PhilipDustu.a.(Hg.),ActaConventusNeo-LatiniHafniensis.Proceedingsof theEighth InternationalCongressofNeo-Latin Studies,Copenhagen12Augustto17August1991(MedievalandRenaissanceTextsandStudies120),Binghamton,NY1994,249–257.
• Conaway Bondanella, Julia, »Petrarch’s Rereading ofOtium inDe vita solitaria«, in:ComparativeLiterature60(2008),14–28.
▶Bildnachweise• München,BayerischeStaatsbibliothek,4P.lat.570,fol.Aiir(verändert)[Titelbild]
• Basel,Universitätsbibliothek,DHII6,fol.A1v/A2r(verändert)[Abbildung1]
