Jean-Paul Sartre: Der Blick - Philippe Wampfler · Jean-Paul Sartre: Der Blick Aus: Das Sein und...

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phwa.ch/anomalisa l Version 2.0 l Seite 1 / 8 Jean-Paul Sartre: Der Blick Aus: Das Sein und das Nichts (frz. L’être et le néant, 1943 – S. 338-348) Diese Frau, die ich auf mich zukommen sehe, dieser Mann, der auf der Straße vorübergeht, dieser Bettler, den ich vor meinem Fenster singen höre, sind für mich Objekte, daran besteht kein Zweifel. Also ist es richtig, daß wenigstens eine der Modalitäten der Anwesenheit Anderer die Objektheit ist. Aber wir haben gesehen, daß die Fremdexistenz eine reine Annahme bleibt, solange dieses Objektheitsverhältnis das Grundverhältnis Anderer zu mir ist. Es ist aber nicht nur eine Annahme, sondern wahrscheinlich, daß diese Stimme, die ich höre, die eines Menschen und nicht der Gesang aus einem Grammophon ist, es ist unendlich wahrscheinlich, daß der Vorübergehende, den ich wahrnehme, ein Mensch ist und nicht ein vollendeter Roboter. Das bedeutet, daß meine Auffassung des Anderen als Objekt, ohne dabei die Grenzen der Wahrscheinlichkeit zu überschreiten und gerade wegen dieser Wahrscheinlichkeit wesenhaft auf eine grundlegende Ergreifung des Anderen hinweist, bei der der Andere sich nicht mehr als Objekt, sondern als «Anwesenheit in Person» entdecken wird. Kurz, damit ein Anderer wahrscheinliches und nicht traumartiges Objekt sei, darf seine Objektheit nicht auf ein ursprüngliches, außerhalb meiner Reichweite liegendes Alleinsein hinweisen, sondern auf eine grundlegende Verbindung, in der sich der Andere in ganz anderer Weise offenbart als durch die Erkenntnis, die ich von ihm gewinne. Die klassischen Theorien haben recht mit ihrer Ansicht, daß jeder wahrgenommene menschliche Organismus auf etwas verweist und daß das, worauf er verweist, die Grundlage und Gewähr für seine Wahrscheinlichkeit ist. Aber ihr Irrtum besteht in dem Glauben, daß diese Verweisung auf eine abgesonderte Existenz hinweist, auf ein

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Jean-Paul Sartre: Der Blick Aus: Das Sein und das Nichts (frz. L’être et le néant, 1943 – S. 338-348)

Diese Frau, die ich auf mich zukommen sehe, dieser Mann, der auf der Straße vorübergeht,

dieser Bettler, den ich vor meinem Fenster singen höre, sind für mich Objekte, daran besteht

kein Zweifel. Also ist es richtig, daß wenigstens eine der Modalitäten der Anwesenheit Anderer

die Objektheit ist. Aber wir haben gesehen, daß die Fremdexistenz eine reine Annahme bleibt,

solange dieses Objektheitsverhältnis das Grundverhältnis Anderer zu mir ist. Es ist aber nicht

nur eine Annahme, sondern wahrscheinlich, daß diese Stimme, die ich höre, die eines

Menschen und nicht der Gesang aus einem Grammophon ist, es ist unendlich wahrscheinlich,

daß der Vorübergehende, den ich wahrnehme, ein Mensch ist und nicht ein vollendeter

Roboter. Das bedeutet, daß meine Auffassung des Anderen als Objekt, ohne dabei die Grenzen

der Wahrscheinlichkeit zu überschreiten und gerade wegen dieser Wahrscheinlichkeit

wesenhaft auf eine grundlegende Ergreifung des Anderen hinweist, bei der der Andere sich

nicht mehr als Objekt, sondern als «Anwesenheit in Person» entdecken wird. Kurz, damit ein

Anderer wahrscheinliches und nicht traumartiges Objekt sei, darf seine Objektheit nicht auf ein

ursprüngliches, außerhalb meiner Reichweite liegendes Alleinsein hinweisen, sondern auf eine

grundlegende Verbindung, in der sich der Andere in ganz anderer Weise offenbart als durch die

Erkenntnis, die ich von ihm gewinne. Die klassischen Theorien haben recht mit ihrer Ansicht,

daß jeder wahrgenommene menschliche Organismus auf etwas verweist und daß das, worauf

er verweist, die Grundlage und Gewähr für seine Wahrscheinlichkeit ist. Aber ihr Irrtum besteht

in dem Glauben, daß diese Verweisung auf eine abgesonderte Existenz hinweist, auf ein

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Bewußtsein, das hinter seinen wahrnehmbaren Bekundungen steht, so wie bei Kant das

Noumenon hinter der Empfindung. Ob nun dieses Bewußtsein in abgesondertem Zustand

existiert oder nicht, jedenfalls verweist das Gesicht, das ich sehe, nicht auf dieses Bewußtsein,

und dieses ist auch nicht die Wahrheit des wahrscheinlichen Objektes, das ich wahrnehme. Die

faktische Verweisung auf ein zwillingsartiges Auftauchen, in dem der Andere für mich etwas

Anwesendes wird, ist außerhalb der eigentlichen Erkenntnis gegeben - werde sie auch nur in

einer dunklen und unaussagbaren Gestalt vom Typus der Intuition verstanden -, kurz, sie

verweist auf ein «Mit-dem-Anderen-verkoppelt-Sein». Mit anderen Worten: man hat für

gewöhnlich das Problem des Anderen so betrachtet, als wenn das Urverhältnis, in dem der

Andere entdeckt wird, die Objektheit wäre, das heißt, als wenn der Andere sich zunächst -

direkt oder indirekt - unserer Wahrnehmung enthüllte. Aber da diese Wahrnehmung sich auf

Grund ihrer Eigentümlichkeit auf etwas anderes als auf sich selbst bezieht, und da sie weder auf

eine unendliche Reihe von Erscheinungen des gleichen Typs verweisen kann - wie es der

Idealismus, die Wahrnehmung des Tisches oder des Stuhles tut – noch auf eine abgegrenzte,

grundsätzlich außerhalb meiner Reichweite liegende Entität, muß ihr Wesen darin bestehen,

sich auf ein Urverhältnis meines Bewusstseins zu dem Anderen zu beziehen, in welchem der

Andere mir direkt als Subjekt, wenn auch als ein mit mir verbundenes, gegeben sein muß, und

welches das Grundverhältnis, ja der Typus meines Für-Andere-Seins ist.

Indessen kann hier keine Rede davon sein, daß wir uns auf irgendeine mystische Erfahrung oder

auf etwas Unaussagbares berufen wollen. Der Andere erscheint uns in der alltäglichen

Wirklichkeit, und seine Wahrscheinlichkeit bezieht sich auf die alltägliche Wirklichkeit. Das

Problem präzisiert sich also: gibt es in der alltäglichen Wirklichkeit ein ursprüngliches Verhältnis

zum Anderen, das ständig beobachtet werden und das sich infolgedessen mir entdecken kann,

und zwar außerhalb jeder Beziehung auf etwas religiös oder mystisch Unerkennbares? Um das

zu wissen, muß man genauer jene banale Erscheinung des Anderen im Felde meiner

Wahrnehmung befragen: da sie es ist, die sich auf jenes Grundverhältnis bezieht, so muß sie

fähig sein, uns das Verhältnis, auf das sie sich bezieht - wenigstens als beobachtete Wirklichkeit

- aufzudecken.

Ich befinde mich in einem öffentlichen Park. Nicht weit von mir sehe ich einen Rasen und am

Rande des Rasens Stühle. Ein Mensch geht an den Stühlen vorbei. Ich sehe diesen Menschen,

ich erfasse ihn als Objekt, gleichzeitig auch als Menschen. Was bedeutet das? Was will ich

damit sagen, wenn ich von diesem Objekt behaupte, daß es ein Mensch ist?

Wenn ich denken müßte, daß es weiter nichts als eine Puppe ist, würde ich ihm jene Kategorien

beilegen, die mir gewöhnlich dazu dienen, die raum-zeitlichen «Dinge» zu gruppieren. Das

heißt, ich würde ihn als etwas auffassen, das «neben» den Stühlen ist, 2,20 m vom Rasen weg

einen gewissen Druck auf den Erdboden ausübt usw. Seine Beziehung zu den anderen Objekten

würde von einem rein additiven Typus sein; das bedeutet, daß ich ihn verschwinden lassen

könnte, ohne daß die gegenseitigen Beziehungen der anderen Objekte dadurch merklich

geändert würden. Kurz, es würde durch ihn kein neues Verhältnis zwischen den Gegenständen

meines Mikrokosmos in Erscheinung treten: von meiner Seite aus zu werkzeughaften

Komplexen gruppiert und synthetisiert, würden sie von seiner Seite aus zu einer Vielheit

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indifferenter Verhältnisse auseinanderfallen. Ihn dagegen als Menschen wahrnehmen, heißt ein

nicht additives Verhältnis des Stuhles zu ihm erfassen, heißt ein entfernungsloses Gebilde aus

den Dingen meines Mikrokosmos um dieses bevorrechtigte Objekt herum zur Kenntnis nehmen.

[…] Schließlich behält dieses Verhältnis den Charakter bloßer Wahrscheinlichkeit bei: zunächst

ist es wahrscheinlich; daß dieses Objekt ein Mensch ist; und dann, angenommen es sei einer, ist

es nur wahrscheinlich, daß er den Rasen in dem Augenblick, in dem ich ihn gewahre, sieht: er

kann über irgendein Vorhaben nachdenken, ohne daß ihm seine Umgebung deutlich bewußt

wird, er kann blind sein usw. Indessen hat dieses neue Verhältnis des Menschenobjektes zum

Rasenobjekt eine besondere Eigentümlichkeit: es ist mir als Ganzes gegeben, denn es ist da, in

der Welt, als ein Objekt, das ich erkennen kann (tatsächlich drücke ich ein objektives Verhältnis

aus, wenn ich sage: Peter hat einen Blick auf seine Uhr geworfen, Johanna hat zum Fenster

hinausgesehen usw.) und gleichzeitig entgeht es mir ganz und gar; in dem Maße, in dem das

Menschenobjekt zum grundlegenden Element in diesem Verhältnis wird, in dem Maße, in dem

dieses nach dem Menschenobjekt tendiert, entgeht es mir, ich kann mich nicht zu seinem

Mittelpunkt machen; die Entfernung, die sich zwischen dem Rasen und dem Menschen entfaltet,

und zwar durch das synthetische Auftauchen dieses Urverhältnisses hindurch, ist eine Negation

der Entfernung, die ich - als eine typisch äußerliche Negation - zwischen diesen beiden

Objekten herstelle. Sie erscheint als eine reine Auflösung der Verhältnisse, die ich zwischen den

Dingen meines Mikrokosmos auffasse.

[…]

Mit alledem haben wir keineswegs das Gebiet verlassen, in dem der Andere Objekt ist.

Höchstens haben wir es hier mit einem besonderen Typus von Gegenständlichkeit zu tun,

ziemlich eng demjenigen benachbart, den Husserl mit dem Wort Abwesendes bezeichnet, ohne

daß er jedoch darauf aufmerksam macht, daß der Andere nicht als die Abwesenheit eines

Bewußtseins in bezug auf den von mir gesehenen Leib definiert wird, sondern durch die

Abwesenheit der Welt, die ich gerade in der Tiefe meiner Wahrnehmung dieser Welt

wahrnehme. Auf dieser Ebene ist der Andere ein Objekt der Welt, das sich selbst durch die

Welt definieren läßt. Aber dieses Verhältnis von Ausrinnen und Abwesenheit der Welt in bezug

auf mich ist nur wahrscheinlich. Wenn es die Gegenständlichkeit des Anderen definiert, auf

welche ursprüngliche Anwesenheit des Anderen be­zieht es sich dann? Wir können nunmehr

antworten: wenn der Objekt-Andere in Verbindung mit der Welt als das Objekt definiert wird,

was das sieht, was ich sehe, muß meine Grundbeziehung zum Subjekt-Anderen zurückgeführt

werden können auf meine ständige Möglichkeit, vom Anderen gesehen zu werden.

[…]

Nehmen wir an, ich sei aus Eifersucht, aus Neugier oder lasterhafterweise so weit gekommen,

mein Ohr an eine Tür zu legen oder durch ein Schlüssselloch zu spähen. Ich bin allen und

befinde mich auf der Eben des nichtsetzenden Bewusstseins (von) mir. Das bedeutet zunächst,

daß es kein Ich gibt, das mein Bewußtsein bewohnen könnte. Es gibt also nichts, zu was ich

meine Akte in Beziehung setzen könnte, um sie näher zu bestimmen. Sie werden in keiner

Weise erkannt, aber ich bin sie, und auf Grund dieser Tatsache tragen sie ihre vollkommene

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Rechtfertigung in sich. Ich bin reines Bewusstsein der Dinge und die in den Umkreis meiner

Selbstheit hineingenommen Dinge bieten mir ihre Wirkfähigkeiten dar als Antwort meines

nichtsetzenden Bewußtseins (von) meinen eigenen Möglichkeiten. Das bedeutet, daß hinter

dieser Tür ein Schauspiel als «zu sehen» geboten wird, eine Unterhaltung als «zu hören». Die

Tür und das Schloß sind Hilfsmittel und Hindernisse zugleich: sie stellen sich dar als «mit

Vorsicht zu handhaben»; das Schloß bietet sich als etwas an, «was man von der Nähe und

etwas von der Seite zu betrachten hat» usw. Nunmehr «tue ich, was ich tun muß»; keine

transzendente Schau verleiht meinen Akten den Charakter des Gegebenen, über das ich ein

Urteil fällen köhnte: mein Bewußtsein haftet an meinen Akten, es ist meine Akte, sie werden

nur von dem zu erreichenden Ziel und von den anzuwendenden Hilfsmitteln geleitet. Meine

Haltung zum Beispiel hat keine «Außenseite», sie ist reine Inbezugsetzung des Hilfsmittels

(Schlüsselloch) zu dem zu erreichenden Ziel (Schauspiel, das zu sehen ist), eine reine Art und

Weise, mich in der Welt zu verlieren, mich von den Dingen aufsaugen zu lassen wie die Tinte

von einem Löschblatt, damit sich ein auf ein Ziel hingeordneter Zeugkomplex synthetisch vor

dem Grunde der Welt abheben kann. Die Reihenfolge ist umgekehrt wie bei der Kausalreihe:

das zu erreichende Ziel ordnet die Momente zusammen, die ihm vorhergehen; das Ziel

rechtfertigt die Mittel; die Mittel bestehen nicht für sich selbst und nicht außerhalb des Zieles.

Das Ganze existiert übrigens nur in bezug auf einen freien Entwurf meiner Möglichkeiten:

gerade die Eifersucht als eine Möglichkeit, die ich bin, gestaltet jenen Zeugkomplex, indem sie

ihn auf sjch selbst hin transzendiert. Aber diese Eifersucht bin ich nur, ich erkenne sie nicht. Nur

der weltliche Zeugkomplex könnte mich über sie belehren, wenn ich ihn betrachtete, anstatt ihn

zu gestalten. Dieses Ganze in der Welt mit seiner zweifachen und umgekehrten Bestimmtheit -

es gibt nur deshalb ein Schauspiel hinter der Tür zu sehen, weil ich eifersüchtig bin, aber meine

Eifersucht ist nichts, sie sei denn der einfache objektive Tatbestand, daß es hinter der Tür ein

Schauspiel zu sehen gibt - nennen wir Situation. Diese Situation spiegelt mir meine Faktizität

und zugleich meine Freiheit wider; bei Gelegenheit einer bestimmten objektiven Struktur der

mich umgebenden Welt wirft sie meine Freiheit auf mich zurück, und zwar in Gestalt freiwillig

durchzuführender Aufgaben; es gibt da keinen Zwang, denn meine Freiheit frißt an meinen

Möglichkeiten, und die Wirkfähigkeiten der Welt zeigen sich an und bieten sich dar nur in

Wechselwirkung zu ihr. Deshalb kann ich mich in Wirklichkeit nicht definieren als in Situation

seiend: erstens weil ich kein setzendes Bewußtsein meiner selbst bin, zweitens weil ich mein

eigenes Nichts bin. In diesem Sinne - und weil ich ja bin, was ich nicht bin, und nicht bin, was

ich bin - kann ich mich nicht einmal definieren als einer, der wirklich auf dem Wege ist, an

Türen zu lauschen, ich entziehe mich einer solchen vorläufigen Definition meiner selbst mittels

meiner ganzen Transzendenz; hier liegt, wie wir gesehen haben, der Ursprung der

Unwahrhaftigkeit; so kann ich mich also nicht nur nicht erkennen, sondern mein Sein selbst

entgeht mir - obwohl ich ja diss meinem Sein Entgehen bin -, und ich bin nichts ganz; es gibt

da weiter nichts als ein reines Nichts, das ein bestimmtes objektives, sich in der Welt

abzeichnendes Ganzes ganz; ich es ja gibt dieses meinem weiter Sein nichts als Entgehen ein

bin reines des Ganzes, ein reales System, eine Anordnung von Mitteln in Hinblick auf ein Ziel

umgibt und entstehen läßt.

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Jetzt habe ich Schritte im Vorsaal gehört: man sieht mich. Was soll das heißen? Das soll heißen,

daß ich in meinem Sein plötzlich von etwas betroffen werde und daß in meinen Strukturen

wesentliche Veränderungen auftreten - Veränderungen, die ich erfassen und durch das

reflexive cogito begrifflich festlegen kann.

Zunächst bin ich hier und existiere als Ich für mein unreflektiertes Bewußtsein. Gerade diesen

Einbruch des Ich hat man sehr häufig beschrieben: ich sehe mich, weil man mich sieht, so sagte

man. Das ist in dieser Form nicht ganz richtig. Aber wir wollen genauer prüfen: solange wir das

Für-sich in seinem Alleinsein betrachteten, haben wir die These stützen können, daß das

unreflektierte Bewußtsein nicht von einem Ich bewohnt sein könnte: das Ich war, als Objekt, nur

dem reflexiven Bewußtsein gegeben. Aber jetzt sehen wir, daß das Ich das unreflektierte

Bewußtsein heimsucht. Das unreflektierte Bewußtsein ist aber Bewußtsein der Welt. Das Ich

existiert für dieses also auf der Ebene der Objekte der Welt; jene Rolle, die nur dem reflexiven

Bewußtsein zufiel, nämlich die Vergegenwärtigung des Ich, gehört jetzt dem unreflektierten

Bewußtsein. Allerdings hat das reflexive Bewußtsein das Ich direkt zum Objekt. Das

unreflektierte Bewußtsein ergreift die Person nicht direkt und nicht als sein Objekt: die Person

ist dem Bewußtsein gegenwärtig, insofern sie Objekt für Andere ist. Das bedeutet, daß ich mit

einem Male Bewußtsein meiner selbst habe, soweit ich mir entgehe, und zwar nicht, insoweit

ich die Grundlage meines eigenen Nichts bin, sondern insoweit ich meine Grundlage außerhalb

meiner selbst habe. Für mich bin ich nur als reine Verweisung auf Andere. Indessen darf man

das hier nicht so verstehen, als ob der Andere das Objekt sei und als ob das meinem

Bewußtsein gegenwärtige ego eine nebensächliche Struktur oder eine Bedeutung des Anderer-

Objektes sei; der Andere ist hier nicht Objekt und kann auch, wie wir gezeigt haben, nicht

Objekt sein, ohne daß im selben Augenblick das Ich aufhört, Objekt-für-Andere zu sein, und

sich auflöst. So beobachte ich nicht den Anderen als Objekt, auch nicht mein ego als Objekt für

mich selbst, ich kann nicht einmal eine leere Intention auf dieses ego als auf ein gegenwärtig

außerhalb meiner Reichweite befindliches Objekt richten; denn es ist von mir durch ein Nichts

geschieden, das ich nicht ausfüllen kann, weil ich das ego ja ergreife, insofern es nicht für mich

ist und grundsätzlich für den Anderen existiert; ich ziele also nicht darauf hin, insofern es mir

eines Tages gegeben sein könnte, sondern, im Gegenteil, insofern es grundsätzlich vor mir

flieht und mir niemals erscheinen wird. Und dennoch bin ich es, ich weise es nicht zurück wie

ein befremdendes Bild, sondern es ist mir gegenwärtig wie ein Ich, das ich bin, ohne es zu

erkennen, denn nur in der Scham (in anderen Fällen im Hochmut) entdecke ich es; die Scham

oder der Stolz enthüllen mir den Blick des Anderen und mich selbst am Ziele dieses Blickes, sie

bewirken, daß ich die Situation eines Erblickten erlebe, nicht erkenne. Die Scham aber ist, wie

wir zu Beginn dieses Kapitels anmerkten, Scham über sich selbst sie ist Anerkennung des

Tatbestandes, daß ich wirklich jenes Objekt bin, das der Andere ansieht und aburteilt. Ich kann

mich nur über meine Freiheit schämen, insofern sie mir entgeht und ein gegebenes Objekt wird.

So ist ursprünglich das Band zwischen meinem unreflektierten Bewußtsein und meinem

erblickten ego ein Band; nicht des Erkennens, sondern des Seins. Ich bin, jenseits aller

Erkenntnis, die ich haben kann, jenes Ich, das ein Anderer erkennt. Und dieses Ich, das ich bin,

bin ich in einer Welt, die der Andere mir entfremdet hat; denn der Blick des Anderen umfaßt

mein Sein und, in Wechselwirkung dazu, die Wände, die Tür, das Schloß; alle diese Zeug-

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Dinge, in deren Mitte ich bin, wenden dem Anderen eine Seite zu, die mir grundsätzlich

entgeht. So bin ich mein ego für den Anderen inmitten einer Welt, die in Richtung auf den

Anderen abfließt. Aber vorhin haben wir das Abfließen meiner Welt in Richtung auf den Objekt-

Anderen eine innere Blutung nennen können: die Blutung wurde nämlich durch den Umstand

aufgehalten und lokalisiert, daß ich diesen Anderen, auf den hin meine Welt blutete, zu einem

Gegenstand meiner Welt erstarren ließ; so war nicht ein Tropfen Blut verlorengegangen, alles

war zurückgewonnen, eingekreist, lokalisiert, wenn daraus auch ein Sein wurde, in das ich nicht

eindringen konnte. Jetzt aber hat im Gegenteil das Ausrinnen kein Ende, es verliert sich in die

Außenwelt, die Welt fließt aus der Welt fort, und ich fließe aus mir fort; der Blick des Anderen

bewirkt, daß ich jenseits meines In-dieser-Welt-Seins bin, inmitten einer Welt, die diese hier

und zugleich über diese Welt hier hinaus ist. Was für Beziehungen kann ich zu diesem Sein, das

ich bin und das die Scham mir entdeckt, unterhalten?

Erstens eine Seinsbeziehung. Ich bin dieses Sein. Keinen Augenblick. denke ich daran, es zu

leugnen; meine Scham ist ein Geständnis. Später könnte ich die Unwahrhaftigkeit dazu

benutzen, mich zu verkleiden, aber auch die Unwahrhaftigkeit ist ein Geständnis, denn sie ist ein

Bemühen, dem Sein zu entfliehen, das ich bin. […]

Dieses Sein, das ich bin, bewahrt eine gewisse Unbestimmtheit, eine gewisse

Unberechenbarkeit. Und diese neuen Eigentümlichkeiten kommen nicht nur daher, daß ich den

Anderen nicht erkennen kann, sie kommen genauer auch zu und sein vor und allem dabei

daher, dass der andere frei ist; oder um genauer zu sein und die Glieder dabei zu vertauschen,

die Freiheit des Anderen enthüllt sich mir durch die beunruhigende Bestimmtheit des Seins

hindurch, das ich für ihn bin. So ist dieses Sein nicht mein Mögliches, es steht im Innern meiner

Freiheit nicht immer in Frage: es ist im Gegenteil die Grenze meiner Freiheit, ihre «Bildseite» in

dem Sinne, in dem man von den «Bildseiten der Spielkarten» spricht, die die Mitspielenden

nicht sehen können, es ist mir als eine Last aufgebürdet, die ich trage, ohne mich jemals, um

sie kennenzulernen, nach ihr umwenden zu können, ohne auch nur ihr Gewicht fühlen zu

können; wenn es mit meinem Schatten vergleichbar ist, dann mit einem Schatten, der auf eine

bewegliche und unberechenbare Substanz fällt, die so beschaffen ist, daß keine

Formelsammlung es ermöglichen würde, diese Verzerrungen zu berechnen, die sich aus jenen

Bewegungen ergeben. Und dennoch handelt es sich um mein Sein und nicht um ein Abbild

meines Seins. Es handelt sich um mein Sein, so wie es in der und durch die Freiheit des

Anderen geschrieben steht. Alles geht so vor sich, als ob ich eine Seinsdimension hätte, von

der ich durch ein tiefgreifendes Nichts getrennt bin: und dieses Nichts ist eben die Freiheit des

An­deren; der Andere hat mein Für-ihn-Sein insoweit sein zu lassen, als er sein Sein zu sein

hat, und so spannt mich jede meiner freien Verhaltensweisen in eine Umgebung ein, in der die

Substanz meines eigenen S ins die unberechenbare Freiheit eines Anderen ist. Und dennoch

erhebe ich gerade durch meine Scham Anspruch auf diese Freiheit eines Anderen als auf die

meine, ich behaupte eine tiefe Ge­meinsamkeit der Bewußtseinsindividuen, nicht jene

Harmonie der Monaden, die man bisweilen als Gewahr für Objektivität angesehen hat, sondern

eine Gemeinsamkeit des Seins, denn ich bin damit einverstanden und ich wünsche, daß die

Anderen mir ein Sein zuteilen, das ich anerkenne.

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Die Scham enthüllt mir aber, daß ich dieses Sein bin. Nicht in der Weise des «ich war» oder des

«zu sein Habens», sondern an­sich. Allein kann ich mein «Sitzend-sein» nicht realisieren;

höch­stens kann man sagen, daß ich es bin und gleichzeitig nicht bin. Es genügt, daß der

Andere mich ansieht, damit ich das bin, was ich bin. Gewiß nicht für mich selbst: ich werde

niemals dahin gelangen, jenes Sitzend-sein zu realisieren, was ich im Blick des Anderen erfasse

ich werde immer Bewußtsein bleiben; wohl aber für den Anderen: Wieder einmal erstarrt das

nichtende Entweichen des Für-sich, wie­der einmal bildet sich das An-sich neu auf dem Für-

sich. Aber wieder einmal geht diese Umwandlung in Entfernung vor sich: für den Anderen sitze

ich, wie dieses Tintenfaß auf dem Tische steht· für den Anderen beuge ich mich über das

Schlüsselloch, so wie jener Baum vom Winde gebeugt ist. So habe ich für den Anderen meine

Transzendenz abgeworfen. Denn für jeden, der Zeuge wird, das heißt für jeden, der als diese

Transzendenz nicht seiend determi­niert ist, wird sie tatsächlich zu einer rein festgestellten,

rein gegebenen Transzendenz, das heißt, sie wird ein Stück Natur schon auf Grund der

Tatsache, daß der Andere ihr eine Außenseite verleiht und zwar nicht mittels irgendeiner

Verunstaltung oder einer durch seine Kategorien hindurch bewirkten Verzerrung, sondern durch

sein Sein selbst. Wenn es einen Anderen gibt, wer er auch sei, wo er auch sei, auch wenn er

auf mich nicht anders als durch das bloße Auftauchen seines Seins einwirkt - so habe ich eine

Außenseite bin ich ein Stück Natur; mein eigentlicher Sündenfall ist die Existenz des Anderen;

die Scham ist - wie der Stolz - die Erfassung meiner selbst als Natur, wenn auch diese Natur

mir entgeht und als solche unerkennbar ist. Es ist genaugenommen nicht so, als ob ich das

Gefühl hätte, meine Freiheit einzubüßen und eine Sache zu werden, sondern meine Freiheit ist

dort, außerhalb meiner erlebten Freiheit, sie ist wie ein von jenem Sein, das ich für den

Anderen bin, verliehenes Attribut. Ich ergreife den Blick des Anderen im Innern meines Aktes

als eine Verhärtung und Entfremdung meiner eigenen Möglichkeiten.

[…] Auf diese Weise stellen sich meine Möglichkeiten für mein unreflektiertes Bewußtsein

insoweit dar, als der Andere mich belauert. Wenn ich seine zu allem bereite Haltung sehe, seine

Hand in der Tasche, wo er eine Waffe hat, seinen Finger auf dem Klingelknopf, um «bei der

geringsten Bewegung meinerseits» die Wache zu alarmieren, dann lerne ich meine

Möglichkeiten, zur selben Zeit, wo ich sie bin, von außen her durch ihn kennen, beinahe so, wie

man seinen Gedanken objektiv durch die Sprache kennenlernt, und zwar in dem Augenblicke, in

dem man ihn denkt, um ihn in Worte zu fassen.

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Alexander Honneth: Zu Sartres Theorie der Intersubjektivität (2014)

Wenn wir uns die Sphäre des „Für-sich-seins“ als einen sozial ausgedehnten Bereich vorstellen,

innerhalb dessen eine Vielzahl von Subjekten untereinander ständig die Verlusterfahrung des

„Erblicktwerdens“ durch die Objektivierung eines konkreten Anderen zu bewältigen versuchen,

dann haben wir jenes Bild eines immerwährenden Konfliktes vor Augen, in dem Sartre die

Vollzugsform des intersubjektiven Lebens in der Gesellschaft einfängt. An dieser resümeehaften

Vorstellung ändern auch jene Formen der Gruppenbildung nichts mehr, die Sartre

einhundertzwanzig Seiten nach seinem Kapitel über den „Blick“ unter dem

Begriff der „Wir“-Erfahrung abhandelt. Denn solche Formen des konkreten

„Mitseins“, für die das „Arbeitskollektiv“ ebenso ein Beispiel bietet wie der anonyme

„Menschenstrom“ in den Gängen einer U-Bahn-Station, zerfallen wieder in die zwei Typen des

„Objekt-Wir“ und des „Subjekt-Wir“, die beide nicht die Aufhebung der existentiellen

Konflikterfahrung des Individuums zu leisten vermögen: Im ersten Fall, dem des „Objekt-Wir“,

haben wir es insofern nur mit „einer blossen Bereicherung des ursprünglichen Erfahrens des

Für-Andere“ zu tun, weil jeder der beteiligten Subjekte sich nur aus der Perspektive eines

neutralen Dritten als Mitglied einer Gruppe weiss; und beim zweiten Fall, dem des „Subjekt-

Wir“, handelt es sich nach Sartre allein um eine „psychologische“, nicht ontologische Erfahrung,

die bei tatsächlicher Herausbildung einer gemeinsamen Perspektive stets voraussetzt, dass der

Andere bereits konflikthaft als freiheitsbedrohende Subjektivität erfahren worden ist. So stark

die Tendenz des Einzelnen daher auch sein mag, sich in den solidaritätsstiftenden Kreis einer

Gruppe zu flüchten, er wird der existentiellen Herausforderung nicht entkommen können, sich

entweder durch die Objektivierung des Anderen als „Für-sich-sein“, als freie Subjektivität,

behaupten oder in der Objektivierung durch den Anderen als „An-sich-sein“, als verdinglichtes

Objekt, erfahren zu müssen.