Jesus von Nazaret - SCM Shop · 2017. 9. 19. · über Jesus nimmt deshalb eine Sonderstellung in...

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  • Jens SchröterJesus von Nazaret

  • Biblische GestaltenHerausgegeben von

    Christfried Böttrich und Rüdiger Lux

    Band 15

    EVANGELISCHE VERLAGSANSTALTLeipzig

  • Jens Schröter

    Jesus von NazaretJude aus Galiläa – Retter der Welt

    EVANGELISCHE VERLAGSANSTALTLeipzig

  • Jens Schröter, Dr. theol., Jahrgang 1961,ist Professor für Exegese und Theologiedes Neuen Testaments sowie die neu-testamentlichen Apokryphen an derHumboldt-Universität zu Berlin. SeineForschungsschwerpunkte sind die ka-nonische und außerkanonische Jesus -überlieferung, die Geschichte des frü-hen Christentums und die Entstehungdes Neuen Testaments.

    Bibliographische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation inder Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographischeDaten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    6., vollst. überarb. u. aktualis. Aufl. 2017

    © 2006 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · LeipzigPrinted in Germany

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Verviel fäl ti -gungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.

    Umschlaggestaltung: behnelux gestaltung, Halle/SaaleSatz: Steffi Glauche, LeipzigDruck und Binden: druckhaus köthen GmbH & Co. KG

    ISBN 978-3-374-05043-7www.eva-leipzig.de

  • INHALT

    Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

    Vorwort zur 2. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

    Vorwort zur 6. Auflage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14

    A. EINFÜHRUNG

    1. Der »historische« und der »erinnerte« Jesus oder: Wie es »wirklich« war . . . . . . . . . . . . 19

    2. Ein Blick in die Forschungsgeschichte . . . . . . . . 313. Das historische Material:

    Überreste und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453.1 Überreste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453.2 Christliche Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

    3.2.1 Die Schriften des Neuen Testaments . . 493.2.2 Christliche Schriften außerhalb

    des Neuen Testaments . . . . . . . . . . . . . . 613.3 Nichtchristliche Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

    4. Zu diesem Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

    B. DARSTELLUNG

    1. Ein Jude aus Galiläa – Der historische Kontext Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801.1 Der Nazarener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 801.2 Der Galiläer. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90Exkurs: Synagogen und Wohnhäuser inGaliläa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 931.3 Der Jude. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

    1.3.1 Jesus im »allgemeinen Judentum« seiner Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1211.3.2 Jesus und die jüdischen »Parteien« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125

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  • Exkurs: Essener in Qumran? . . . . . . . . . . . . . . . 1331.3.3 Johannes der Täufer . . . . . . . . . . . . . . . 142

    2. Die Herrschaft Gottes beginnt . . . . . . . . . . . . . . 1492.1 Jesu Begegnung mit Johannes . . . . . . . . . . . 1492.2 Anfänge in Galiläa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

    2.2.1 Jenseits der Wüste. . . . . . . . . . . . . . . . . 1562.2.2 Gott oder Satan? Die Exorzismen

    und Heilungen Jesu . . . . . . . . . . . . . . . 1632.2.3 Die Gemeinschaft der Kinder

    Gottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1772.2.3.1 Heimatlosigkeit, Jüngerschaft

    und Zwölferkreis. . . . . . . . . . . . . . . . 1772.2.3.2 Das neue Israel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1942.2.3.3 Reinheit für die Unreinen . . . . . . . . . 1962.2.3.4 Gegner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

    2.3 Die Gottesherrschaft in der Verkündigung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2072.3.1 Was meint der Begriff

    »Gottesherrschaft«?. . . . . . . . . . . . . . . . 2082.3.2 Jesu Rede von der

    Gottesherrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2152.3.2.1 Gottesherrschaft und Gericht. . . . . . 2152.3.2.2 Die Gottesherrschaft als Beginn

    der Heilszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2222.3.2.3 Die Gottesherrschaft in den

    Gleichnissen Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . 2312.4 Leben im Angesicht der Gottesherrschaft:

    Das Ethos Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2432.4.1 Vorgriff auf die Ordnung des

    Gottesreiches: Das Ethos der Nachfolger Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

    2.4.2 Das Ethos der »Familie Jesu« . . . . . . . 2542.4.3 Jesus und das jüdische Gesetz . . . . . . 2612.4.3.1 Die Autorität Jesu und das Gesetz . 2612.4.3.2 Jesus und der Sabbat . . . . . . . . . . . . . 265

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  • 2.4.3.3 Jesus und das Reinheitsgebot. . . . . . 2703. Repräsentant Gottes oder Retter Israels?

    Das Selbstverständnis Jesu und das Urteil seiner Zeitgenossen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2733.1 Jesus, der Menschensohn . . . . . . . . . . . . . . . 274

    3.1.1 Überblick über die Menschensohnworte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2743.1.2 Zur Bedeutung der Rede Jesu

    vom »Menschensohn« . . . . . . . . . . . . . 2803.2 Ist Jesus der Christus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2843.3 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294

    4. Die Jerusalemer Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . 2964.1 Das Auftreten in Jerusalem im Rahmen

    des Wirkens Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2984.2 Ursachen für Verhaftung und

    Hinrichtung Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3044.3 Das letzte Mahl. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3154.4 War der Tod Jesu ein Heilstod? . . . . . . . . . . 322

    5. Jesus und die Anfänge des christlichen Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3275.1 Auferweckung, leeres Grab,

    Erscheinungen: Tod und kein Ende . . . . . . 3305.1.1 Die Traditionen von der

    Auferweckung und vom leeren Grab. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330

    5.1.2 Die Erscheinungen des Auferstandenen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339

    5.2 Erhöhung zu Gott: Jesus als Herr . . . . . . . . 3425.3 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348

    C. WIRKUNG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

    1. Wahrer Mensch und wahrer Gott? Baudolino und die Kontroversen um das Wesen Jesu im frühen Christentum. . . . . . . . . . 352

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  • 2. Der apokryphe Jesus: An den Rändern des »offiziellen« Christentums . . . . . . . . . . . . . . . . . 359

    3. Advent und Weihnachten: Die Ankunft des Retters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364

    4. Karfreitag und Ostern: Leid und Trost auf dem Antlitz Gottes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372

    5. Die Bergpredigt: Wirkungen der Ethik Jesu . . 3766. Religion und Kultur: Jesus in Kunst und

    Literatur der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3817. Historischer Jesus – geglaubter Christus:

    Wer ist Jesus heute? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389

    D. ANHÄNGE

    1. Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3932. Karten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4043. Bildteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409

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  • VORWORT

    Jesus ist aktuell, auch und gerade in unserer Zeit. DieMedien interessieren sich für ihn, Seminare und Vor -lesungen über Jesus an Theologischen Fakultäten zie-hen nach wie vor viele Studierende an, die Frage nachder Bedeutung seines Lebens und Sterbens beschäftigtviele Menschen, innerhalb der christlichen Kirchen unddarüber hinaus. Was hat es auf sich mit dem Wander-prediger aus Galiläa, der als Unruhestifter von derrömi schen Administration hingerichtet wurde? DieSchriften des Neuen Testaments stimmen in all ihrerVielfalt darin überein, dass sein Wirken eine Offen -barung Gottes war, neben der es fortan keinen anderenWeg zum Heil mehr gibt. Bei Jesus geht es demnachums Ganze, um die Alternative: gelingendes Lebenoder Scheitern, Sinn oder Sinnlosigkeit – in der Spracheder Bibel: um Heil oder Gericht. Das bewegte die Men-schen zur Zeit Jesu, das fordert auch heute zur Ausein-andersetzung mit ihm heraus. Welchen Weg zu einemheilvollen, erfüllten Leben hat Jesus verkündet? Wiesähe ein solcher Weg heute, in der Vielfalt der Religio-nen, der christlichen Konfessionen und des Atheismus,aus? Woran halten wir uns, wenn wir uns an Jesus hal-ten?

    Die frühen Christen haben die Zeugnisse über Jesusgesammelt und Erzählungen über sein Wirken und Ge-schick verfasst. Auf diese Weise ist das »Neue Testa-ment« entstanden, das neben die maßgeblichen Schrif-ten Israels trat und diese in ein neues Licht rückte. DieGeschichte Israels, die Weissagungen seiner Propheten,die Rede von Gottes Gesalbtem, dem Christus, undvom Sohn Davids – all dies wurde nun im Licht desWirkens und Geschicks Jesu gelesen. Jesus wurde so

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  • zur zentralen Gestalt der christlichen Bibel. Der Bandüber Jesus nimmt deshalb eine Sonderstellung in derReihe »Biblische Gestalten« ein.

    Die Schriften des Neuen Testaments wollen in ersterLinie als Zeugnisse des Glaubens an Jesus Christus ge-lesen werden. Für die Frage nach dem historischen Jesusbedeutet das eine besondere Herausforderung. Es giltzu unterscheiden zwischen dem, was der historischenRückfrage standhält, und der Legende, die sich schonim Neuen Testament um die Person Jesu gebildet hat,ohne beides auseinanderzureißen. Für die frühenChristen gehörten das historische Geschehen und seineDeutung durch das Glaubenszeugnis untrennbar zu-sammen. Historischer Forschung geht deshalb es umein Jesusbild, das den Zusammenhang zwischen denhistorischen Ereignissen und ihren Deutungen nach-vollziehbar werden lässt. Dies ist auch das Anliegendes vorliegenden Buches.

    Eine Jesusdarstellung kommt nicht ohne einen Über-blick über zentrale Fragestellungen und Positionen derForschung aus. Bei einem Buch von diesem Formatkann es sich dabei nur um eine Skizze handeln. Wer inneuere Werke der Jesusforschung schaut – etwa in dasmonumentale Opus von John P. Meier, das auch nachdrei Bänden und über 2000 Seiten noch nicht abge-schlossen ist, oder in das nicht minder eindrucksvolleWerk von James D.G. Dunn mit einem Umfang vonüber 1000 Seiten1 –, dem steht vor Augen, auf wie vie-les hier verzichtet werden musste. Auf diese und wei-tere Jesusbücher der zurückliegenden Jahre, die bei derAbfassung der vorliegenden Darstellung stetige Be-gleiter waren und mit denen die Diskussion aus Raum-

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    1 J. P. MEIER, A Marginal Jew; J. D. G. DUNN, Jesus Remembered.

  • gründen oft doch nur implizit geführt werden kann,sei darum nachdrücklich hingewiesen.2

    Ich widme das Buch dem Andenken meines Vaters.In philologischen Fragen sachkundig, in der Theologieein interessierter und engagierter Laie, hat er mich im-mer wieder in Diskussionen verstrickt, die über dieexegetische Fachwissenschaft hinausreichten. Dabeiwurde mir deutlich, dass eine Beschäftigung mit Jesuserst dann zu ihrem Ziel gelangt, wenn sie dazu bei-trägt, seine Bedeutung für die Gegenwart zu erhellen.Dass ich meinen Versuch, die Person Jesu nachzuzeich-nen, nicht mehr mit ihm diskutieren kann, schmerztmich. Die Widmung sei dafür ein kleiner, unzuläng -licher Ersatz.

    Marlies Schäfer, Sekretärin des Instituts für Neutes-tamentliche Wissenschaft an der Theologischen Fakul-tät der Universität Leipzig, und Friederike Gerlach,studentische Mitarbeiterin an meinem Lehrstuhl, ha-ben das Manuskript sorgfältig gelesen und Vorschlägezur Präzisierung etlicher Formulierungen unterbreitet.Friederike Gerlach hat zudem viel Material für die Er-arbeitung von Teil C beschafft, der sich mit der Wir-kung Jesu beschäftigt. Nur ein Bruchteil davon konntein die Darstellung eingehen. Beiden sei für ihr Engage-ment und Mitdenken herzlich gedankt.

    Ein Dank geht schließlich an Frau Dr. Annette Weid-has von der Evangelischen Verlagsanstalt für die freund -liche und sachkundige Betreuung des Manuskripts.

    Leipzig/Berlin, März 2005 Jens Schröter

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    2 Neben denjenigen von MEIER und DUNN seien die im Literatur-verzeichnis aufgeführten Jesusbücher der folgenden Autoren be-sonders genannt: S. FREYNE; E. P. SANDERS; M. EBNER; G. THEISSEN/A. MERZ; J. Becker; J. D. Crossan; G. VERMES; L. SCHENKE u. a.; B.CHILTON/C. A. EVANS (Hg.).

  • VORWORT ZUR 2. AUFLAGE

    Die erste Auflage dieses Buches ist auf viel Interesseund Wohlwollen gestoßen. Bei zahlreichen Vorträgenauf fachwissenschaftlichen Tagungen, Pastoralkollegsund in Kirchgemeinden ergaben sich zudem immerwieder Gelegenheiten, Ansatz und Thesen des Vorge-legten zu diskutieren. Dafür bin ich ebenso dankbarwie für die vielen schriftlichen Reaktionen, die ich aufdas Buch erhalten habe.

    Dass nunmehr eine zweite Auflage erforderlichwird, ist nicht zuletzt ein Zeichen für das wieder ver-stärkt wahrzunehmende Interesse an der Person Jesuund dem, was sich historisch und theologisch über seinWirken und Geschick aussagen lässt. Diese Diskussiongehört zu den faszinierendsten Gebieten theologischerForschung und reicht weit darüber hinaus in die Ge-biete der Archäologie, Philosophie, Kunst- und Fröm-migkeitsgeschichte. Dass sie zunehmend auch außer-halb der theologischen Fachwissenschaft auf Interessestößt, ist in besonderer Weise ermutigend und erfreu-lich. Es zeigt, dass die Geschichte Jesu auch in der Ge-genwart nichts von ihrer Faszination eingebüßt hat,sondern nach wie vor Fragen nach Sinn und Ziel, Hoff-nung und Trost menschlichen Lebens in sich aufzuneh-men vermag. Die Jesusforschung ist deshalb ein Gebiet,bei dem akademische Theologie und christliche Le-bensgestaltung in unmittelbaren Kontakt miteinandertreten und sich gegenseitig befruchten.

    Die Neuauflage des Buches erscheint im Wesent -lichen unverändert. Es wurden lediglich einige Tipp-versehen getilgt und wenige Titel aus der seither erschienen Literatur ergänzt. Eine grundsätzliche Aus-einandersetzung wäre mit dem im Jahr 2007 erschiene-

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  • nen Jesusbuch Joseph Ratzingers, des gegenwärtigenPapstes Benedikt XVI., erforderlich gewesen. Da dies je-doch die hier vorgelegte Darstellung sprengen und zueinem gesonderten Exkurs oder Anhang hätte führenmüssen, wurde darauf verzichtet. Verwiesen sei statt-dessen auf die Stellungnahmen katholischer und evan-gelischer Neutestamentler in dem von Thomas Södingherausgegebenen Band: Das Jesusbuch des Papstes. DieAntwort der Neutestamentler, Freiburg 2007.

    Berlin, Mai 2009 Jens Schröter

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  • VORWORT ZUR 6. AUFLAGE

    Das Erscheinen der ersten Auflage dieses Buches liegtinzwischen mehr als zehn Jahre zurück. Seither hat esfünf Auflagen und eine Übersetzung ins Englische er-lebt.1 Dabei wurden Fehler beseitigt und gelegentlichAktualisierungen vorgenommen. Nachdem auch die5. Auflage ausverkauft war, erschien eine grundlegen-dere Überarbeitung sinnvoll und notwendig.

    Die Jesusforschung hat sich seit dem ersten Erschei-nen dieses Buches in mehrfacher Hinsicht weiterentwi-ckelt. Neue Gesamtdarstellungen zur Person Jesu sinderschienen,2 Veröffentlichungen archäologischer Fundein Galiläa haben das Bild dieser Region des WirkensJesu weiter präzisiert,3 Handbücher geben weitge-spannte Überblicke über die verschiedenen Bereicheder Jesusforschung.4 Alle diese Publikationen habenauf ihre Weise die Diskussion über den historischen Je-sus und seine Bedeutung für den christlichen Glaubenbereichert. Die vorliegende, neu bearbeitete Auflagehat von diesen Arbeiten dankbar profitiert.

    Der Charakter des Buches ist der gleiche gebliebenwie in den früheren Auflagen. Das Format der Reihe

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    1 Jesus of Nazareth. Jew From Galilee – Savior of the World (trans-lated by Wayne Coppins), Waco, TX, 2014.

    2 Genannt seien die Monographien von D. C. ALLISON, W. STEGE-MANN und A. PUIG I TÀRRECH.

    3 Verwiesen sei auf die beiden Bände »Galilee in the Late SecondTemple and Mishnaic Periods«, hg. von D. A. FIENSY undJ. R. STRANGE.

    4 Das großangelegte vierbändige »Handbook for the Study of theHistorical Jesus« (hg. von T. HOLMÉN und S. E. PORTER) versam-melt eine große Anzahl unterschiedlicher Beiträge. Einen aktuel-len Überblick über die Jesusforschung vermittelt das Jesus Hand-buch, hg. von J. SCHRÖTER und C. JACOBI.

  • »Biblische Gestalten« ist darauf angelegt, die jeweiligebiblische Figur so zu präsentieren, dass die Darstellungauch für Nicht-Fachleute zugänglich ist. Bei einer Je-susdarstellung ist das besonders wichtig, weil sich his-torische Begründung und gegenwärtige Verantwor-tung des christlichen Glaubens in Diskursen über diePerson Jesu von Nazaret wie in einem Brennglas bün-deln. Nicht zufällig ist die Jesusforschung deshalb einFeld, das seit dem Entstehen von Aufklärung und his-torisch-kritischer Geschichtswissenschaft nicht nur diechristliche Theologie intensiv beschäftigt, sondern auchdarüber hinaus Interesse findet – in angrenzenden Dis-ziplinen wie Geschichtswissenschaft, Archäologie undPhilosophie, in den christlichen Kirchen und in der Öffentlichkeit. Die vorliegende Jesusdarstellung willdeshalb nicht nur zum exegetischen und historischenFachdiskurs beitragen, sondern auch zu einer metho -dischen und hermeneutischen Reflexion über die An-eignung von Wirken und Geschick Jesu in der Gegen-wart.

    Der Text des Buches wurde für die Neuauflage ins-gesamt durchgesehen. Dabei wurden an zahlreichenStellen sprachliche und inhaltliche Veränderungen vor-genommen. Des Weiteren wurde neuere Literatur ein-gearbeitet, wodurch das Literaturverzeichnis gegen -über den früheren Auflagen noch einmal angewachsenist. Dabei gilt nach wie vor, dass bei einem Thema wiedem hier behandelten nicht Vollständigkeit, sonderneine sinnvolle Auswahl von Sekundärliteratur das lei-tende Prinzip sein muss.

    Grundlegender überarbeitet wurden die Teile A. 2(»Ein Blick in die Forschungsgeschichte«) und A. 3(»Das historische Material«). In der Darstellung der For-schungsgeschichte wurde der mit dem Begriff »Erinne-rung« verbundene geschichtshermeneutische Zugang

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  • etwas eingehender erläutert. Dieser hat das Konzeptdes hier vorgelegten Jesusbuches von Beginn an ge-prägt. Angesichts der Diskussion über diesen Begriff inden zurückliegenden Jahren erschien es jedoch sinnvoll,einige grundlegende Bemerkungen zu dem damit ver-bundenen Konzept anzubringen. Auch der Abschnittzum historischen Material wurde aktualisiert. Bei den»Überresten« wurden Ergänzungen angebracht, zudemwurden aktuelle Publikationen zu den apokryphen Tex-ten eingearbeitet.

    Eine gründlichere Revision hat auch der Exkurs zuSynagogen und Wohnhäusern in Galiläa (B. 1.2) er -fahren. Dies wurde notwendig, weil sich die For-schungslage gegenüber der ersten Auflage dieses Bu-ches maßgeblich verändert hat. Im Jahr 2009 wurde dieSynagoge in Magdala entdeckt, wodurch erstmals eineSynagoge aus dem 1. Jahrhundert in Galiläa archäolo-gisch bezeugt ist. Die Bedeutung Magdalas für das Galiläa der Zeit Jesu ist insgesamt deutlicher ans Lichtgetreten, was das Bild vom Profil dieser Region we-sentlich bereichert und modifiziert. Kürzlich wurde zu-dem eine weitere, bislang noch nicht öffentlich zu-gängliche Synagoge in Tel Rekhesh (ca. 30 km östlichvon Nazaret) entdeckt, die sich vermutlich ebenfalls ins1. Jahrhundert datieren lässt. Damit wäre eine weitereSynagoge für das Galiläa der Zeit Jesu und des Antipasbezeugt. Für die Möglichkeit, die betreffende Ausgra-bungsstätte zu besuchen, danke ich herzlich meinemKollegen und Freund Mordechai Aviam vom KinneretCollege on the Sea of Galilee, Israel.

    Gründlich überarbeitet wurde auch der Abschnitt zu den Exorzismen und Heilungen Jesu (B. 2.2.2). Erhat von einer nun schon mehrere Jahre währenden,sehr fruchtbaren Kooperation mit Philip van der Eijk,Alexander von Humboldt Professor of Classics and

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  • History of Science an der Humboldt-Universität, einemherausragenden Spezialisten für die antike Medizin -geschichte, profitiert. Mit Philip van der Eijk habe ich inden zurückliegenden Jahren mehrfach Seminare durch-geführt und auch in anderer Weise zusammengearbei-tet. Dabei stand immer wieder das Verhältnis von reli-giöser und medizinisch-wissenschaftlicher Perspektiveauf Heil und Heilung im Mittelpunkt. Von diesen Un-ternehmungen habe ich viel mehr profitiert, als es imRahmen der knappen Darstellung des genannten Ab-schnitts zur Geltung kommen kann.

    Neu hinzugekommen ist der Abschnitt über dieGleichnisse (B. 2.3.2.3). In den vorangegangenen Auf -lagen waren die Gleichnisse bereits innerhalb der ver-schiedenen thematischen Teile über das Wirken Jesubehandelt worden. Das ist auch so geblieben. Es er-schien jedoch sinnvoll, auf diesen Bereich der Wirk-samkeit Jesu in einem eigenen Abschnitt einzugehen.

    Während der verschiedenen Auflagen, die das Buchseit seinem ersten Erscheinen im Jahr 2006 erlebt hat,hatte ich vielfach Gelegenheit, die hier entwickelteSicht mit Kolleginnen und Kollegen zu diskutieren unddas hermeneutische Vorgehen sowie Ergebnisse derEinzelanalysen auf Pastoralkollegs, in Pfarrkonventen,Akademien und Gemeinden vorzustellen. Dabei habensich oft spannende Diskussionen ergeben, von denenich stets profitiert habe. Es war und ist eine sehr er-freuliche Erfahrung, dass sich Menschen aus dem aka-demischen und kirchlichen Bereich, auch solche, diekeine nähere Beziehung zum christlichen Glauben ha-ben, mit ernsthaftem Interesse auf Fragen nach den his-torischen Anfängen und inhaltlichen Grundlagen deschristlichen Glaubens im Wirken und Geschick Jesu so-wie nach der Bedeutung seiner Person für unsere Ge-genwart einlassen.

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  • Nicht zuletzt habe ich seit dem ersten Erscheinendieses Buches – und bereits davor – in Lehrveranstal-tungen und Vorträgen, zunächst in Leipzig, seit 2009dann in Berlin, aber auch in Rom und Jerusalem sowiean anderen Orten, immer wieder über den historischenKontext Jesu, Konturen seines Wirkens und Inhalte sei-ner Lehre sowie über den Zusammenhang von histo -rischem Jesus und christlichem Glauben referieren unddiskutieren können. Den vielen Studierenden, die anLehrveranstaltungen und Vorträgen zu diesem Themateilgenommen haben, bin ich dankbar für engagierteDiskussionen und kritische Rückfragen.

    Das Buch ist seit seiner ersten Auflage dem Anden-ken meines Vaters gewidmet. Er war für mich immerein wichtiger Gesprächspartner: akademisch gebildet,theologisch interessiert, kirchlich engagiert. Seiner seiauch im Vorwort dieser Neubearbeitung gedacht.

    Ich danke der Evangelischen Verlagsanstalt: FrauDr. Annette Weidhas, Frau Christina Wollesky undFrau Mandy Bänder für freundliche Begleitung undsachkundige Betreuung des Manuskripts. Ich dankemeinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Berlin fürstets interessante und inspirierende Gespräche in guterAtmosphäre. Ich danke Katharina Simunovic und Flo-rian Lengle für die Korrekturen des Manuskripts.

    Berlin, im März 2017 Jens Schröter

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  • A. EINFÜHRUNG

    1. Der »historische« und der »erinnerte«Jesus oder: Wie es »wirklich« war

    Jesus von Nazaret hat für unseren Kulturkreis eine einzigartige Bedeutung. Keine andere Person hat eineähnliche Wirkung hervorgerufen und die europäischeGeschichte in einer vergleichbaren Weise geprägt. Diechristliche Prägung der griechisch-römischen Spät -antike, das Gegenüber von Papst und Kaiser im Mit -telalter, die Kreuzzüge, die reformatorischen Aufbrü-che im Spätmittelalter und der frühen Neuzeit, dieDeklaration der Menschenrechte sowie die Verfassun-gen zahlreicher Staaten des europäischen und nord -amerikanischen Kulturraums – um nur einiges zu nennen – sind geschichtliche Wirkungen derjenigenReligion, in deren Zentrum das Bekenntnis zu JesusChristus steht. Die Spuren der Beschäftigung mit Je-sus in Musik und Dichtung, Film und Malerei, Philoso-phie und Geschichtsschreibung – bis hin zur Zeitrech-nung post Christum natum1 – zeugen von der einzigarti-gen Faszination, die von ihm seit etwa zweitausendJahren ausgeht. Viele Menschen haben sich in ihren Le-bensentwürfen an seiner Lehre ausgerichtet. Die Berg-

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    1 Diese Berechnung wurde von dem Mönch Dionysius Exiguusim 6. Jahrhundert entwickelt. Er nahm als erster die GeburtChristi zum Ausgangspunkt und zählte anni ab incarnatione domini (»Jahre seit der Fleischwerdung des Herrn«), wobei ersich allerdings um einige Jahre verrechnete. Die endgültigeDurchsetzung der christlichen Zeitrechnung erfolgte erst einigeJahrhunderte später. In nichtchristlichen Ländern – z. B. in Israel oder in den arabischen Staaten – gelten andere Zeitrech-nungen.

  • predigt diente zu allen Zeiten, bis in die jüngste Ver-gangenheit, immer wieder als kritischer Maßstab –nicht nur innerhalb der christlichen Kirchen.2 Die Se-ligpreisungen, das Gebot der Feindesliebe und das Va-terunser sind auch dem Christentum fernstehendenMenschen als zentrale Inhalte der Verkündigung Jesubekannt.

    Auch der Leidensweg Jesu hat zu allen Zeiten ein-drucksvolle Darstellungen gefunden – man denke nuran die Passionsmusiken Johann Sebastian Bachs oderden Isenheimer Altar von Mathias Grünewald (vgl.dazu Teil C. 4) – und sogar zur imitatio seiner Schmer-zen inspiriert. Bis in die Gegenwart und die Alltags-kultur hinein finden sich von der LeidensgeschichteJesu angeregte Motive – wie z. B. auf dem Plakat, mitdem das Deutsche Rote Kreuz vor einigen Jahren fürBlutspenden warb und das auf die neutestamentlichenAbendmahlsworte anspielt (Anhang, Abbildung 1). Wirkommen auf die Wirkungen Jesu im dritten Teil diesesBuches zurück. Zuvor ist aber ein Weg zurückzulegen,der uns in die Zeit führen wird, in der der Wanderpre-diger Jesus von Nazaret in Galiläa und Jerusalem auf-trat. Die Wirkungen, die von ihm ausgegangen sind,können ohne eine Beschäftigung mit diesen Ursprün-gen nicht verstanden werden – auch wenn sie darinnicht aufgehen, sondern oftmals kreative Weiterent-wicklungen darstellen, die von der prägenden Kraftder Gestalt Jesu zeugen.

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    2 In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts gab es in der Bun-desrepublik Deutschland, ausgelöst durch die Denkschrift derEKD »Frieden wahren, fördern und erneuern«, eine intensiveDiskussion über die Politikfähigkeit der Bergpredigt, insbeson-dere das Feindesliebegebot. Vgl. etwa M. Hengel, Das Ende al-ler Politik; W. Huber, Feindschaft und Feindesliebe.

  • In den zurückliegenden Jahrzehnten ist die Diskus-sion darüber, wer Jesus »wirklich« war, neu entbrannt.Zahlreiche seither erschienene Jesusbücher haben un-terschiedliche Bilder seiner Person gezeichnet. Jesus er-scheint als Sozialrevolutionär, der sich für die Armenund Unterdrückten einsetzt, als Prophet, der das bal-dige Hereinbrechen des Gottesreiches ankündigt, alsWeisheitslehrer, der eine radikale Ethik verkündet oderals Charismatiker, der eine neue Gemeinschaft grün-det, die sich von den überkommenen gesellschaftlichenNormen kritisch absetzt. In der folgenden Darstellungwird deutlich werden, wie diese Entwürfe nach derhier vorgelegten Sicht zu beurteilen sind. An dieserStelle ist dagegen zunächst festzuhalten, dass die neueinternationale und konfessionsübergreifende Jesusfor-schung auf eindrückliche Weise die Bedeutung derFrage nach Jesus für die christliche Theologie und dar-über hinaus ins Bewusstsein gerufen hat.

    Wie konnte Jesus eine derartige Bedeutung erlangenund zum Zentrum einer eigenen Religion werden? DieZeugnisse der frühen Christenheit geben hierauf eineeindeutige Antwort. Die Einzigartigkeit Jesu bestehtdarin, dass in seiner Person Gott und Mensch unmit-telbar miteinander in Verbindung treten. Durch dasWirken Jesu wird die Herrschaft Gottes auf der Erdeaufgerichtet, Jesus ist »Bild«, »Abdruck« oder »Wort«Gottes. Er gehört auf die Seite Gottes, ist derjenige,durch den Gott in der Welt erschienen ist und an demer in einzigartiger Weise gehandelt hat, indem er ihnvon den Toten auferweckt hat. Der Glaube an JesusChristus ist deshalb nach christlicher Überzeugung dereinzige Weg zum Heil Gottes, der Mitvollzug seinesWeges von Tod und Auferweckung vermittelt neuesLeben. Das bedeutet zugleich, dass das Bekenntnis zuJesus Christus dasjenige zum Gott Israels voraussetzt

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  • und umfasst. Drei Texte des Neuen Testaments, diediese Überzeugung auf je eigene Weise zum Ausdruckbringen, seien genannt.

    1) Das Johannesevangelium spricht in besonders in-tensiver Weise von der engen Beziehung zwischen Je-sus und Gott. Der eigentlich unsichtbare Gott wirddurch Jesus bekannt gemacht (Joh 1,18); Jesus und derVater sind eins (Joh 10,30); wer Jesus, den Sohn, sieht,der sieht zugleich Gott, den Vater (Joh 14,9). Jesus wirddeshalb als das »Wort« bezeichnet, das schon vor derErschaffung der Welt bei Gott war. Andere Schriftendes Neuen Testaments nennen Jesus in ähnlicher Weise»Bild«, »Erstgeborener« oder »Abglanz« Gottes undbringen damit seine enge Verbindung mit Gott zumAusdruck.3 Jesus ist demnach von allen anderen Men-schen unterschieden. Er gehört auf die Seite Gottes undist zugleich derjenige, der ihn unter den Menschen re-präsentiert. Diese einzigartige Verbindung von Gottund Mensch in Jesus Christus ist das Zentrum deschristlichen Glaubens.

    2) In Lk 12,8f. (par. Mt 10,32f.) heißt es: »Jeder dersich zu mir bekennt vor den Menschen, zu dem wirdsich auch der Menschensohn bekennen vor den EngelnGottes. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen,der wird verleugnet werden vor den Engeln Gottes.«

    Hier wird eine Gerichtsszenerie entworfen: AmEnde der Zeit steht man vor Gott und seinen Engeln,Jesus, der Menschensohn, kann für einen eintreten oderauch nicht. Es hängt vom eigenen Bekenntnis zu Jesusvor den Menschen ab, ob er dies tut und man gerettetwird, oder ob man zu den Verurteilten gehört, weilman Jesus im irdischen Leben verleugnet hat. Der Text

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    3 Röm 8,29; 2Kor 4,4; Kol 1,15 (Bild); Röm 8,29; Kol 1,15.18; Offb1,5 (Erstgeborener); Hebr 1,3 (Abglanz, Abdruck).

  • bringt demnach zum Ausdruck, dass mit der Stellungzu Jesus zugleich diejenige zu Gott auf dem Spiel stehtund damit die Entscheidung über Leben und Tod, Heilund Unheil fällt.

    3) In 2Kor 5,14f. schreibt Paulus: »Einer ist für allegestorben, also sind alle gestorben. Und er ist für allegestorben, damit die Lebenden nicht mehr sich selbstleben, sondern dem, der für sie gestorben ist und auf-erweckt wurde.«

    Paulus überträgt hier das Geschick Jesu Christi aufdie Glaubenden: Sie sind ihrem alten Leben »gestor-ben« und haben jetzt Anteil am neuen Leben des auf -erweckten Jesus und sind durch die Zugehörigkeit zuihm zu einer »neuen Schöpfung« geworden (V. 17). Todund Auferweckung Jesu Christi werden also als ein Er-eignis verstanden, an dem die Menschen teilhabenkönnen und das ihnen die Möglichkeit eines neuen Le-bens eröffnet. Der Text macht somit deutlich, dass dieZugehörigkeit zu Jesus Christus konkrete Folgen fürdas eigene Leben hat. Nach der Auffassung des Pauluswie auch aller anderen Autoren des Neuen Testamentsmuss der Glaube im Leben Gestalt gewinnen und zurAnschauung gebracht werden. Deshalb findet sich imNeuen Testament immer wieder die Aufforderung zueinem Leben, das dem Glauben an Jesus Christus ent-spricht. Die Evangelien beziehen sich dazu unmittel-bar auf die Lehre Jesu selbst, etwa auf seine Auslegungder Tora.

    Die enge Verbindung von Gott und Mensch in JesusChristus, die in den genannten Texten zum Ausdruckkommt – er ist »Wort Gottes«, himmlischer Fürsprecherim letzten Gericht, Vermittler neuen Lebens –, wurde inden frühen Bekenntnissen des Christentums – demApostolikum, dem Bekenntnis von Nicäa und Kon-stantinopel, dem Chalcedonense – in je eigener Weise

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  • festgehalten. Sie war für das Christentum, ungeachtetkonfessioneller Unterschiede, lange Zeit die unhinter-fragte Glaubensgrundlage. Erst dem neuzeitlichen Be-wusstsein wurde die Vorstellung, Jesus sei in gleicherWeise Gott und Mensch gewesen, zum Problem. DieAufklärung bestimmte die menschliche Vernunft zumkritischen Maßstab, der auch an die biblischen Schrif-ten anzulegen sei. Das führte zur Unterscheidung vonrational nachprüfbaren Berichten und »Mythen«, dievergangene Ereignisse deuten, von diesen selbst aberzu unterscheiden sind. Das im 19. Jahrhundert entste-hende historische Bewusstsein machte zusätzlich denAbstand deutlich, der zwischen der Welt des NeuenTestaments und der eigenen Zeit liegt. Der Zugang zurVergangenheit wurde in der Konsequenz an metho-disch kontrollierte Quellenforschung gebunden, die zueinem möglichst vorurteilsfreien Geschichtsbild führensollte.

    Aufklärung und historisch-kritische Geschichtswis-senschaft nötigten demnach zu neuem Nachdenkenüber das Verhältnis von göttlicher und menschlicherNatur in Jesus Christus. Sicher erschien nunmehr nur,dass Jesus Mensch war, die Einheit von Gott und Menschin seiner Person konnte dagegen nicht länger als un-problematisch vorausgesetzt werden. Das Interessekonzentrierte sich in der Folge darauf, was mit denMitteln historischer Forschung über sein Wirken undGeschick herauszufinden ist. Damit war die Frage nachdem »historischen Jesus« geboren. Sie fragt nach Jesus,ohne dabei das Bekenntnis zu seiner Göttlichkeit vor-auszusetzen. Die oben genannte, in seiner göttlichenNatur begründete Einzigartigkeit war damit in Fragegestellt. Lassen sich, so wurde nunmehr gefragt, die Er-kenntnisse über den Menschen Jesus mit dem Bekennt-nis seiner Göttlichkeit, lässt sich der »historische Jesus«

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  • mit dem »geglaubten Christus« vereinbaren? Die histo-rische Jesusforschung gibt auf diese Frage zwei Ant-worten.

    Die erste Antwort besagt: Zwischen den Resultatenhistorischer Forschung und Glaubensüberzeugungenist zu unterscheiden. Historische Forschung kann an-hand der überlieferten Zeugnisse ein Bild von derWirksamkeit Jesu entwerfen und nach den Ursachenfür seine Hinrichtung fragen. Ob er in göttlicher Auto-rität wirkte, ob Gott ihn vom Tod auferweckte und ober zum endzeitlichen Gericht wiederkehren wird, kanndagegen nicht mit den Mitteln historischer Kritik ent-schieden werden. Historische Jesusforschung urteiltdeshalb auch nicht über die Wahrheit des christlichenGlaubens. Sie stellt vielmehr die Grundlage dafür be-reit, seine Entstehung nachzuvollziehen. Sie machtdeutlich, dass das christliche Bekenntnis eine Reaktionauf den Anspruch Jesu darstellt, die das Neue Testa-ment als »Nachfolge« oder als »Glaube« bezeichnet, ne-ben der es aber auch andere Möglichkeiten gibt, sich zuJesus zu verhalten. Bereits die in den frühen Quellenberichteten Konflikte zeigen, dass die Autorität Jesuauf den Geist Gottes zurückgeführt oder als Bund mitdem Satan gewertet werden konnte.4

    Historische Jesusforschung zielt also auf das Verste-hen des Zusammenhangs von Geschehnissen und ihrerspäteren Deutung, von Ereignis und Erzählung.5 Sie be-fragt die Quellen daraufhin, ob sich das von ihnen Be-richtete tatsächlich ereignet hat, warum gerade dieseDinge von Jesus berichtet werden, anderes dagegen

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    4 Besonders signifikant ist hier die Auseinandersetzung über denBeelzebulvorwurf in Mk 3,22–30/Lk 11,14–23/Mt 12,22–30.Vgl. dazu Teil B. 2.2.2.

    5 Vgl. M. Moxter, Erzählung und Ereignis.

  • nicht und wie sich Ereignis und Deutung zueinanderverhalten. Historische Jesusforschung betrachtet dieQuellen also mit einem kritisch-differenzierenden Blick.

    Die Bibelwissenschaften haben maßgeblich zur Aus -prägung dieses kritischen Bewusstseins beigetragen,dessen Anfänge sich bis ins 17. Jahrhundert zurück -verfolgen lassen.6 In der Jesusforschung begegnet eszum ersten Mal in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun-derts in einer Schrift mit dem Titel »Apologie oderSchutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes« desHamburger Orientalisten Hermann Samuel Reimarus(1694–1768), von der Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781) posthum sieben Teile als »Fragmente eines Unge-nannten« publizierte. Seither ist die Unterscheidungzwischen den Ereignissen des Lebens und WirkensJesu einerseits, ihrer Darstellung in den Evangelien an-dererseits, eine Voraussetzung der Beschäftigung mitJesus, deren Berechtigung niemand bezweifelt.

    Die zweite Antwort lautet: Historische Forschungstellt die Vergangenheit nicht so wieder her, wie sie sicheinst ereignet hat. Sie befragt die Quellen vielmehr ausihrer eigenen Zeit heraus, versteht die Vergangenheitalso im Licht ihrer eigenen Gegenwart. Für die histo -rische Jesusforschung bedeutet das: Sie entwirft Bilderder Person Jesu, die dem Kenntnisstand über die da-malige Zeit entsprechen, die zudem geprägt sind vonder jeweiligen Sicht auf die Wirklichkeit und denjeni-gen Annahmen, die bei der Interpretation der Textestets – bewusst oder unbewusst – eine Rolle spielen.Historische Jesusforschung setzt den christlichen Glau-ben also der kritischen Prüfung durch geschichtswis-senschaftliche Methoden aus. Dabei gelangt sie niemals

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    6 Vgl. K. Scholder, Ursprünge und Probleme.

  • zu sicheren, unrevidierbaren Resultaten über die Ver-gangenheit. Sie stellt aber ein Bild Jesu vor Augen, dasin der jeweiligen Gegenwart vor den Quellen rationalund ethisch verantwortet ist. Historische Jesusfor-schung ist also kein dem christlichen Glauben entge-gengesetztes Unterfangen, wiewohl man auch ohneChrist zu sein sich mit Jesus als historischer Person be-fassen kann. Für den christlichen Glauben stellt die his-torische Jesusforschung dagegen die Herausforderungdar, ihr Bekenntnis zu Jesus angesichts der je aktuellenErkenntnisse über Jesus und seine Zeit zu formulieren.

    Historische Jesusforschung stellt für die Verhältnis-bestimmung von historischem Jesus und geglaubtemChristus also zugleich eine Herausforderung und ei-nen Gewinn dar. Die Herausforderung besteht darin,das Bekenntnis zu Jesus der kritischen Prüfung durchwissenschaftliche Forschung auszusetzen und ange-sichts der dabei zutage geförderten Ergebnisse immerwieder neu zu durchdenken. Der Gewinn bestehtdarin, dass das Bekenntnis auf diese Weise den je ak-tuellen Erkenntnis- und Verstehensbedingungen kor-respondiert und nicht zu einem abständigen und nurschwer vermittelbaren Inhalt wird. Auch das sei etwasnäher erläutert.

    Die zahlreichen literarischen und archäologischenQuellen, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun-derts entdeckt und veröffentlicht wurden,7 haben zu

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    7 Zu verweisen ist vor allem auf den wichtigen Textfund vonQumran (1947), auf die Editionen und Übersetzungen zahlrei-cher weiterer Schriften aus jüdisch-hellenistischer Zeit sowieauf wichtige archäologische Funde in Judäa und Galiläa. DieseQuellen haben unser Bild vom Judentum der Zeit Jesu wesent-lich präzisiert. Sie bilden damit die unverzichtbare Grundlagefür jede historisch-kritische Jesusdarstellung.

  • einer wesentlich genaueren Wahrnehmung des Ju -dentums der Zeit Jesu geführt. Heutige Jesusdarstel-lungen unterscheiden sich gerade an diesem Punkt vonsolchen, die vor dem Bekanntwerden dieser Schriftenverfasst wurden. Dazu beigetragen hat aber auch, dassdie jüdischen Quellen heute mit anderen Augen be-trachtet werden. Verantwortlich hierfür ist die Neu -besinnung auf das Verhältnis des Christentums zumJudentum, die in der christlichen Theologie in derzweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – ausgelöst nichtzuletzt durch die Shoa – einsetzte. Sie hat die Sensibili-tät für die Verwurzelung des Christentums im Juden-tum wesentlich befördert. Niemand bestreitet heute,dass Jesus und Paulus im Kontext des antiken Juden-tums verstanden werden müssen – als galiläischerWanderprediger der eine, als zu Jesus Christus bekehr-ter Diasporajude und Pharisäer der andere. Die Erfor-schung des antiken Judentums als des historischenKontextes für das Wirken Jesu und die Entstehung deschristlichen Glaubens hat Thesen wie etwa diejenige ei-nes »arischen Jesus« oder paganer Religiosität als Mut-terboden des frühen Christentums als auf einer proble-matischen Entgegensetzung von »Judentum« und»Christentum« erweisen können. Dass Jesus fest in denjüdischen Schriften und Traditionen seiner Zeit ver-wurzelt war, wird heute von niemandem bestritten.Der historische Kontext Jesu, des Juden aus Galiläa,kann deshalb nicht zuletzt zu einem neuen Blick aufdiejenigen Traditionen führen, die Juden und Christenmiteinander verbinden.8 Das zeigt: Nicht nur die Quel-

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    8 Das betrifft auch und gerade das Bekenntnis zu Jesus Christusals demjenigen, dem eine einzigartige Würde und Autorität ne-ben dem Gott Israels zukommt. Vgl. dazu P. Schäfer, ZweiGötter im Himmel. Schäfer legt in diesem Buch die jüdischen

  • lenlage, auch der Blick auf die Quellen hat sich verän-dert. Historische Forschung hat immer auch eine Kor-rektivfunktion im Blick auf das Verständnis der Gegen-wart im Horizont der Spuren der Vergangenheit.

    Historische Forschung ist demnach der Vergangen-heit wie der Gegenwart gleichermaßen verpflichtet. Siebewahrt die Spuren des Gewesenen vor dem Verges-sen, sie wehrt zugleich einer Instrumentalisierung derVergangenheit zu ethisch fragwürdigen oder politischvordergründigen Zwecken.9

    Zwischen einem mittels historischer Forschung ent-worfenen »historischen Jesus« und dem »irdischen Je-sus« ist darum zu unterscheiden: Der »historische Je-sus« ist stets ein Produkt der Quellenauswertungdurch einen Interpreten oder eine Interpretin. Abhän-gig davon, wie die Quellen beurteilt und zusammen-gefügt werden, entstehen dabei verschiedene Bilder.Historische Jesusdarstellungen – gerade auch diejeni-gen der neueren, auf intensiver Quellenauswertung ba-sierenden Forschung – weisen deshalb z. T. beträcht -liche Unterschiede auf. Zu einem eindeutigen Bild vonJesus wird historische Forschung niemals gelangen,denn die Quellen lassen nicht nur eine Deutung zu. Der»irdische Jesus« ist dagegen der Jude, der im 1. Jahr-hundert in Galiläa gelebt und gewirkt hat und stets nurvermittelt durch Deutungen zugänglich ist. SpätereZeiten sind für diese Deutungen auf Zeugnisse verwie-sen, die Rückschlüsse auf die Person Jesu und ihrenKontext ermöglichen. Historische Jesusdarstellungen,

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    Wurzeln der Vorstellung einer zweiten göttlichen Instanz ne-ben dem einen und einzigen Gott dar.

    9 Diese ethische Dimension der Beschäftigung mit der Vergan-genheit hat Paul Ricœur in seinem letzten großen Werk nocheinmal betont. Vgl. ders., Gedächtnis.

  • wie andere historische Darstellungen auch, sind darumimmer eine Verbindung von Gegenwart und Vergan-genheit und leisten so einen Beitrag zum Verstehen derWirklichkeit. Das Resultat einer heutigen historischenJesusdarstellung ist darum der erinnerte, vergegenwär-tigte Jesus aus einer spezifischen Perspektive vom An-fang des 21. Jahrhunderts.10

    Wie war es »wirklich«? Diese Frage lässt sich nur be-antworten, wenn Tatsachen und Ereignisse innerhalbeines Zusammenhangs gedeutet werden, der sich erstdem Blick späterer Interpreten erschließt. Die histo -rischen Ereignisse des Wirkens und Geschicks Jesu, umdie es im Folgenden geht, müssen aus den Quellen er-schlossen, miteinander verknüpft und in einen histo -rischen Kontext eingeordnet werden. Ob ein Zeit -genosse Jesu ihn in dem Bild, das dabei entsteht,wiedererkennen würde, bleibt eine hypothetischeFrage, die aber auch nicht über den Wert einer heutigenJesusdarstellung entscheidet. Wichtiger ist: Ein solchesJesusbild muss unter gegenwärtigen Erkenntnisbedin-gungen nachvollziehbar und an den Quellen orientiertsein – auch und gerade dort, wo uns Jesus in diesenQuellen fremd und unbequem erscheint. »Wirklich«meint dann: angesichts der je aktuellen Verstehensvor-aussetzungen plausibel, wobei die jeweilige Gegenwartim Licht der Zeugnisse der Vergangenheit als gewordeneverstanden wird. Die Frage, wer Jesus war, kann des-halb von derjenigen, wer er heute ist, nicht getrenntwerden.

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    10 Vgl. dazu das Themenheft Jesus and Memory: The MemoryApproach in Current Jesus Research, EC 6/3, 2015.

  • 2. Ein Blick in die Forschungsgeschichte

    Eine heutige Jesusdarstellung baut auf der mehr alszweihundertjährigen Arbeit historisch-kritischer For-schung auf. Sie profitiert von den dabei gewonnenenErkenntnissen über die Quellen sowie über den poli -tischen, religiösen und kulturellen Kontext Jesu.

    Die historisch-kritische Jesusforschung wird zumeistin drei Phasen eingeteilt: die sog. »liberale Leben-Jesu-Forschung«, die das 19. Jahrhundert bestimmte und amBeginn des 20. Jahrhunderts an ihr Ende kam, die sog.»neue Frage nach dem historischen Jesus«, deren Be-ginn in der Regel in dem wichtigen Vortrag Ernst Kä-semanns über »Das Problem des historischen Jesus«von 1953 gesehen wird,11 sowie die in den achtzigerJahren des 20. Jahrhunderts einsetzende, sich selbst als»dritte Frage« (»Third Quest«) nach dem historischenJesus bezeichnende Richtung. Man kann natürlich auchhiervon abweichende Einteilungen vornehmen.12 ImFolgenden soll es jedoch nicht um derartige Eintei-lungsfragen, sondern um einige grundlegende Merk-male der neuzeitlichen Jesusforschung gehen.13

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    11 Zuerst veröffentlicht 1954, dann wieder 1964 als: E. Käsemann,Das Problem des historischen Jesus.

    12 Vgl. etwa S. E. Porter, Criteria, 28–59, der selbst vier Periodenunterscheidet. G. Theissen / A. Merz, Jesus, 22–30, schlageneine Unterteilung in fünf Phasen vor. Zu beachten ist auf jedenFall, dass die neuzeitliche Jesusforschung, ungeachtet ihrer nä-heren Unterteilung, durch gemeinsame Voraussetzungen ge-kennzeichnet ist. Allen Phasen gemeinsam sind die bereits ge-nannte Differenzierung zwischen urchristlichem Zeugnis undhistorischer Wirklichkeit, die Überzeugung, Jesus müsse ausden Bedingungen seiner Zeit heraus verstanden werden, sowiedie Unterscheidung von historischem Jesus und Christus desGlaubens.

    13 Vgl. hierzu den informativen Überblick von D. du Toit, Erneut

  • Eine wichtige Voraussetzung für die Frage nach demhistorischen Jesus ist die oben schon genannte Beurtei-lung der biblischen Schriften am Maßstab der kri -tischen Vernunft. Dass die Bibel, in christlicher Antikeund christlichem Mittelalter Grundlage des Welt- undMenschenbildes, in der Neuzeit zum Gegenstand wis-senschaftlicher Kritik wurde, ist eine in ihrer Bedeu-tung kaum zu überschätzende Entwicklung. Sie bildetdie Grundlage für das historisch-kritische Bewusstsein,das die Aussagen der Heiligen Schrift nicht mehr auto-matisch mit der Wahrheit gleichsetzt, sondern zwi-schen historischer Wirklichkeit und Deutung unter-scheidet. Diese heute selbstverständlich erscheinendeUnterscheidung war zur Zeit ihrer Entstehung eine re-gelrechte Revolution.

    Innerhalb der Jesusforschung wird diese Entwick-lung zuerst bei dem schon genannten Hermann Sa-muel Reimarus greifbar. In seiner bereits erwähntenSchrift zur Verteidigung der »vernünftigen VerehrerGottes« stellt er eine Differenz zwischen der Lehre Jesuund der Entstehung des christlichen Glaubens fest undbezeichnet es als einen »gemeinen Irrthum der Chris-ten«, beides miteinander vermischt zu haben. Die Ver-kündigung Jesu selbst sei eine im Kontext des Juden-tums angesiedelte ethische Belehrung, ausgerichtet auf»Aenderung des Sinnes, auf ungeheuchelte Liebe Got-tes und des Nächsten, auf Demuth, Sanftmuth, Ver-läugnung sein selbst, auf Unterdrückung aller bösenLust«, auf moralische Besserung des Menschen also, je-doch nicht auf ein neues, das Judentum ablösendes Re-ligionssystem. Dieses hätten vielmehr erst die Apostel(Reimarus meint hier die Verfasser der neutestament -

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    auf der Suche, sowie J. P. Meier, The Present State of the »ThirdQuest«.

  • lichen Briefe, im Unterschied zu den Evangelisten alsGeschichtsschreibern) nach Jesu Tod entwickelt und andie Stelle der einfachen, natürlichen Religion Jesu dasSystem eines leidenden, vom Tode auferstehenden undnach seiner Himmelfahrt zum Gericht wiederkommen-den Erlösers gesetzt.

    Trotz etlicher Unzulänglichkeiten, auf die hier nichtnäher einzugehen ist, ist die Theorie von Reimarus dieerste konsequente Erklärung der Lehre Jesu aus ihremhistorischen Kontext heraus. Dass die Frage nach Jesusimmer auch eine Aufgabe historischer Forschung ist,wurde dabei durch Reimarus (und Lessing) zu Rechtherausgestellt und in der neueren Jesusforschung wie-der deutlich hervorgehoben. Die Kenntnisse über diepolitischen, sozialen und religiösen Verhältnisse derZeit Jesu sind dabei heute ungleich präziser als zu Zei-ten von Reimarus. Diese Kenntnisse bilden einen wich-tigen Bestandteil gegenwärtiger Jesusdarstellungen.Um das Auftreten Jesu zu beschreiben, muss danach ge-fragt werden, mit welchen Menschen er in Kontakt kam,müssen die sozialen und politischen Verhältnisse derGegend, in der er wirkte, in den Blick genommen wer-den. Um den historischen Kontext Jesu auszuleuchten,sind alle Materialien, die hierüber Informationen lie-fern, heranzuziehen. Biblische und außerbiblische Textehalten Kenntnisse zur Geschichte Palästinas und des galiläischen Judentums bereit. Archäologische Funde,Inschriften oder Münzen helfen, dieses Bild zu konkre-tisieren. Die umfassende Berücksichtigung dieses Ma-terials ist in den zurückliegenden beiden Jahrzehntenzu einem festen Bestandteil der Jesusforschung gewor-den.14 Mit dem Programm, Jesus aus seinem konkreten

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    14 Vgl. z. B. C. A. Evans, Jesus and His Contemporaries, 1–49;J. H. Charlesworth, Jesus and Archaeology.

  • jüdischen Kontext heraus zu verstehen, bewegt sich dieJesusforschung dabei in den Spuren von Reimarus.

    Ein weiterer Aspekt ergibt sich aus dem besonderenCharakter der Evangelien. Hatte noch Reimarus – ähn-lich wie auch Lessing – deren Verfasser als glaubwür-dige Geschichtsschreiber betrachtet,15 so entdeckte Da-vid Friedrich Strauß (1808–1874), dass die Berichte überJesus von Motiven geprägt sind, die größtenteils ausdem Alten Testament oder dem Judentum stammen(wie etwa die Erwartung des kommenden Messias)und die nunmehr auf Jesus übertragen wurden, um dieBedeutung seiner Person zum Ausdruck zu bringen.Strauß verwendete hierfür den Begriff »Mythos« undverstand darunter die »geschichtsartige Einkleidung«von Ideen, die in der Person Jesu als verwirklicht ange-sehen wurden und deren höchste die Idee der Gott-menschheit sei. War bei Reimarus zum ersten Mal dasVerhältnis von Wirken Jesu und Entstehung des christ-lichen Glaubens thematisiert worden, so werden beiStrauß die Evan gelien selbst auf ihre historischeGrundlage hin befragt. Die dabei eingeführte Differen-zierung zwischen historischer Wirklichkeit und deu-tender Darstellung ist seither aus der Jesusforschungnicht mehr wegzudenken.

    Die von Strauß aufgeworfene Frage, ob die histo -rischen Ereignisse des Wirkens Jesu zur Wahrheit desChristentums dazugehören oder aber zugunsten der»Ideen«, mit denen sie gedeutet wurden, letztlich ver-zichtbar seien, wird von Martin Kähler (1835–1912) ineinem berühmt gewordenen Vortrag von 1892 mit dembezeichnenden Titel »Der sogenannte historische Jesusund der geschichtliche, biblische Christus« dahinge-hend beantwortet, dass der Versuch, hinter den biblisch

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    15 Vgl. G.E. Lessing, Neue Hypothese.

  • bezeugten Christus auf den historischen Jesus zurück-gehen zu wollen, ein Holzweg sei. Die neutestament -lichen Darstellungen seien Verkündigung, deren Wahr-heit nicht mit den Mitteln historischer Kritik erhobenwerden könne. Es gelte vielmehr, den wirklichen in demgepredigten Christus zu erkennen. Eine Unterscheidungvon historischen Ereignissen und ihrer Deutung durchden christlichen Glauben, der ihnen erst nachträglicheine Bedeutung verleihe, lehnte Kähler dagegen vehe-ment ab.

    Die Linie von Strauß zu Kähler lässt sich über RudolfBultmann und Paul Tillich bis zu dem nordamerika -nischen Exegeten Luke Timothy Johnson verlängern.16

    Das Kennzeichen dieser Position ist es, eine Rekon-struktion des historischen Jesus jenseits der christlichenGlaubenszeugnisse – und damit das Projekt eines »his-torischen Jesus« – angesichts der Quellen für nicht rea-lisierbar und theologisch für unsachgemäß zu halten.Die Deutungen seines Wirkens und Geschicks aus derSicht des christlichen Glaubens seien genau diejenigeForm, in der Jesus geschichtlich wirksam geworden sei,deshalb sei es methodisch wie sachlich unangemessen,unabhängig hiervon nach einem »historischen Jesus«suchen zu wollen.

    Diese Position hat in der deutschsprachigen Jesus-forschung eine nachhaltige Wirkung ausgeübt. Ihrprinzipielles Recht liegt in dem Insistieren darauf, dasshistorische Forschung nicht hinter die christlichenGlaubensüberzeugungen zu dem »wirklichen« Jesusvordringt. Dass die nachösterlichen Glaubensüberzeu-

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    16 Was bei Strauß »Mythos« hieß, hat bei Bultmann eine Entspre-chung in dem Begriff »Kerygma«, hinter das historische For-schung nicht zurückgelangen könne. Vgl. dazu vor allemR. Bultmann, Verhältnis.

  • gungen die Darstellungen des vorösterlichen WirkensJesu maßgeblich geprägt haben, steht außer Frage.Gleichwohl wäre es voreilig, die historische Jesusfragedamit grundsätzlich zu verabschieden. Zwischen his-torischen Ereignissen und deren Deutung kann in denEvangelien durchaus unterschieden werden, Konturender historischen Person Jesu lassen sich in den Ent -würfen der Evangelien erkennen. Eine grundsätzlicheSkepsis gegenüber einem historisch-kritisch erstelltenBild Jesu17 ist deshalb überzogen.18 Zu einem solchenBild gehört wesentlich mehr als das, was Bultmann alshistorisch gesichert über das Wirken Jesu sagen zu kön-nen meinte.19

    An dieser Stelle wird eine Tendenz erkennbar, diedie Jesusforschung im Gefolge Bultmanns maßgeblich

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    17 Einige Äußerungen Bultmanns bringen eine solche Haltungzum Ausdruck. Vgl. etwa ders., Jesus, 10: »… freilich bin ichder Meinung, daß wir vom Leben und der Persönlichkeit Jesuso gut wie nichts mehr wissen können, da die christlichen Quel-len sich dafür nicht interessiert haben, außerdem sehr frag-mentarisch und von der Legende überwuchert sind, und da an-dere Quellen nicht existieren.« Ders., Verhältnis, 454: »Dieses[das Kerygma, J. S.] ist nicht an der ›objektiven Geschichtlich-keit‹ über das Daß hinaus interessiert, sondern es fordert denGlauben an Christus den Gekreuzigten und Auferstandenen,und von da aus versteht es die Geschichte Jesu, – soweit es fürsie überhaupt Interesse hat [. . .]«.

    18 So zu Recht auch G. Theissen/A. Merz, Jesus, 98–122.19 In seinem in Anm. 16 genannten Aufsatz gibt Bultmann eine

    knappe Zusammenfassung dessen, was sich s. E. »mit einigerVorsicht« über das Wirken Jesu sagen lässt (451f.). Aufgezähltwerden die Exorzismen, Verletzung von Sabbat- und Rein-heitsgeboten, die Polemik gegenüber »jüdischer Gesetzlich-keit«, die Gemeinschaft mit deklassierten Personen und dieGründung einer eigenen Gemeinschaft. Dies ist natürlich keinhistorisch gesicherter »Minimalkonsens«, sondern eine be-stimmte Auswahl aus den Überlieferungen, die auch andersaussehen könnte.

  • geprägt hat. Die Jesusdarstellungen dieser Phase, dersog. »neuen Frage nach dem historischen Jesus«, warenin der Regel auf seine »Verkündigung« konzentriert.Das »Eigentliche« seines Wirkens wurde also vor-nehmlich in seinen Worten und Gleichnissen gesehen,der historische und soziale Kontext dagegen eher bei-läufig als »Rahmen« abgehandelt.20 Vorausgesetzt istdabei die durchaus zutreffende Einsicht, dass denEvangelien Überlieferungen vorausliegen, die sie selbstin einen chronologischen und geographischen Rahmengestellt haben. Dieser »Rahmen« ist allerdings keines-wegs belanglos. Er vermittelt vielmehr wichtige Kennt-nisse über die Zeit und die Regionen des Wirkens Jesuund bettet sein Wirken in konkrete soziale, kulturelleund religiöse Zusammenhänge ein. Er ist deshalb füreine Interpretation seines Auftretens unverzichtbar.Dagegen wäre es nicht einleuchtend, die BedeutungJesu auf seine »Verkündigung« zu reduzieren, diese ih-ren konkreten Zusammenhängen zu entheben und diekonkreten Kontexte, die sein Wirken historisch erst ver-stehen lassen, an den Rand zu stellen.

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    20 In Bultmanns Jesusbuch wird der »zeitgeschichtliche Rahmen«auf wenigen Seiten abgehandelt, bevor dann die »Verkündi-gung Jesu« als dasjenige entfaltet wird, was er »eigentlich ge-wollt hat«. Auch bei G. Bornkamm wird der historische Kontextdes Wirkens Jesu in einem einleitenden Abschnitt »Zeit undUmwelt« skizziert, spielt dagegen in der Darstellung selbstkaum noch eine Rolle. Eine Fortsetzung hat diese Richtung derJesusforschung in Teilen der neueren Q-Forschung gefunden.Dabei wird eine vermeintlich älteste Schicht dieser hypothe -tischen Quelle auf Jesus zurückgeführt. Es ist kein Zufall, dassbei einem solchen Vorgehen auch das Thomasevangelium vielBeachtung findet, das im Wesentlichen kontextlose Worte undGleichnisse Jesu enthält, also – in gewisser Analogie zu demskizzierten Forschungsansatz – auf eine Darstellung des histo-rischen Kontextes verzichtet.

  • Die mit den Namen von Strauß, Kähler, Bultmannund Johnson verbundene Linie der Jesusforschung for-muliert also ein wichtiges Korrektiv gegen eine naiveGleichsetzung von historischer Forschung und vergan-gener Wirklichkeit: Die Bedeutung des Wirkens undGeschicks Jesu lässt sich nicht unabhängig von denDeutungen in den frühen Quellen erfassen. HistorischeDarstellungen müssen vielmehr verständlich machen,wie Deutung und historisches Ereignis aufeinander zubeziehen sind. Andererseits spricht die Einsicht in den»mythischen« oder »kerygmatischen« Charakter derEvangelien nicht gegen ihren Wert als historische Quel-len. Der historische Kontext des Wirkens Jesu bleibtvielmehr durchaus erkennbar und erlaubt es, Kontu-ren seines Auftretens nachzuzeichnen.

    Ein dritter Aspekt der historischen Jesusforschungverbindet sich mit dem Namen von Albert Schweitzer(1875–1965). Schweitzer hatte die Abhängigkeit histo -rischer Darstellungen von den Urteilen und Wertmaß-stäben ihrer Verfasser innerhalb der Jesusforschungdeutlich erkannt. In seiner »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung« kritisierte er die Jesusdarstellungen derForschung des 19. Jahrhunderts dafür, dass sie dieFremdheit Jesu nicht ernst genommen und ihn um denPreis der Bewahrung seiner Besonderheit in ihre eigeneZeit hineingeholt hätten, aus der er allerdings wiederin seine eigene Zeit zurückgekehrt sei.

    Hatte Schweitzer damit zu Recht auf die Gefahr auf-merksam gemacht, die in einer unreflektierten Aneig-nung der Vergangenheit liegt, so besitzt auch sein eige-ner Entwurf eine methodische Schwäche: Schweitzerwollte an die Stelle der geschichtlichen Erkenntnis, dieder Vorläufigkeit unterworfen sei, das von wandelba-ren historischen Urteilen unabhängige Fundament deschristlichen Glaubens setzen.21 Dieses meinte er in der

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  • »Persönlichkeit« und dem »Willen« Jesu zu finden, dievon dem Vorstellungsmaterial, in das sie gekleidetwurden, unabhängig seien.22 Damit steht Schweitzer inder Tradition eines Geschichtsbildes, das durch dieOrientierung an großen Persönlichkeiten gekennzeich-net ist und sich auch schon vor ihm in der Jesusfor-schung bemerkbar gemacht hatte.23 Zugleich bereiteteSchweitzer mit der Betonung des angeblich zeitlosen»Willens Jesu« eine Richtung vor, an die dann vor allemin der oben angesprochenen, auf die »Verkündigung«Jesu konzentrierten Richtung angeknüpft wurde.

    Schweitzer geht es also, ähnlich wie Kähler undBultmann, um ein sicheres Fundament, auf das sich derZugang zu Jesus gründen kann. Gesucht wird diesesFundament von allen drei Forschern jenseits wandel-barer historischer Urteile. Diese Vorstellung ist jedocheine Illusion. Es kann bei der Beschäftigung mit Jesusnicht darum gehen, das »zeitlos Gültige« vom wandel-baren »Material«, in das es gekleidet wurde, absondernzu wollen. Das lässt sich unschwer an Schweitzer selbstzeigen: Seine Konzentration auf die vermeintlich zeit-lose »Persönlichkeit«  Jesu und seinen »Willen« sinddem Persönlichkeitsideal des 19. Jahrhunderts und ei-ner bestimmten Sicht auf die »spätjüdische« Apokalyp-tik verpflichtet –  und damit durchaus zeitbedingt,wenn auch auf andere Weise als die von ihm kritisier-

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    21 Vgl. A. Schweitzer, Geschichte, 621: »Die Arbeit, welche diehistorische Theologie durchführen zu müssen glaubte … ist nurdie Backsteinumkleidung des wahren, unerschütterlichen, his-torischen Fundaments, das von jeder geschichtlichen Erkennt-nis und Rechtfertigung unabhängig ist, weil es eben da ist.«

    22 Zu solchem »Vorstellungsmaterial« rechnete er z. B. die »primi-tive spätjüdische Metaphysik, in der Jesus seine Weltanschau-ung ausspricht« (Geschichte, 623).

    23 Vgl. G. Theissen / D. Winter, Kriterienfrage, 42–65.

  • ten Darstellungen. Christlicher Glaube kann nicht aufein »unerschütterliches Fundament« oder eine »ewigeVernunftwahrheit« im Sinne Lessings gegründet wer-den. Er ist vielmehr stets von den geschichtlichen Ent-wicklungen und den damit verbundenen Veränderun-gen der Sicht auf die Vergangenheit betroffen; er ist derständigen Prüfung an den Quellen unterworfen undkritischen Fragen nach der Plausibilität seiner Wirk-lichkeitsdeutung ausgesetzt. Genau darauf gründet dieStärke eines Glaubens, der sich solch kritischer Prüfungnicht verweigert. Nur ein intellektuell und ethisch ver-antworteter Glaube ist davor gefeit, sich in einen Son-derbereich zurückzuziehen und zur Ideologie zu wer-den. Nur ein solcher Glaube kann deshalb im offenenDiskurs über die Deutung der Wirklichkeit bestehen.

    Schließlich ist ein Weiteres zu bedenken: Dass dieEvangelien vor- und nachösterliche Überlieferungenmiteinander verschmelzen, verleiht dem Unterfangender kritischen Jesusforschung von vornherein eine Am-bivalenz: Die Frage, welche Überlieferungen als au-thentisch, welche als spätere Deutungen, welche Facet-ten für ein Bild von Jesus als besonders markant undcharakteristisch, welche als eher belanglos beurteiltwerden, hängt immer auch von dem vorausgesetztenGesamtbild vom Wirken Jesu und seinem historischenKontext ab.

    Die Vielfalt der Jesusbilder in der neueren For-schung liefert dafür einen eindrücklichen Beleg. DieDifferenzen entstehen nicht – jedenfalls nicht in ersterLinie – dadurch, dass mit verschiedenen historischenMaterialien gearbeitet würde, sondern durch die je-weils vorausgesetzten Annahmen über historischePlausibilitäten. So hält etwa Ed Parish Sanders die jüdische »Restaurationseschatologie« (»restorationeschatology«) für denjenigen Kontext, innerhalb des-

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  • sen die Wirksamkeit Jesu interpretiert werden müsse.Dabei hält er die Erzählung von der Tempelaustrei-bung für den sichersten Ausgangspunkt einer Untersu-chung des Wirken Jesu und beginnt seine Darstellungmit deren Analyse.24

    Für Richard A. Horsley sind dagegen die sozialenVerhältnisse im Palästina des 1. Jahrhunderts der maß-gebliche Kontext, um das Wirken Jesu zu interpretie-ren. Anders als bei Sanders wird die Wirksamkeit Jesudeshalb wesentlich stärker im Blick auf ihre politischenund sozialen Implikationen hin befragt. Jesus wolltedie Gottesherrschaft als neue Ordnung, die sich gegenUnterdrückung und soziale Ungerechtigkeit richtet, be-reits gegenwärtig erfahrbar machen und nicht, wieSanders meint, auf die zukünftige, von Gott selbst her-aufgeführte Ordnung verweisen.25

    Lassen sich für verschiedene Einordnungen Jesu insein historisches Umfeld Argumente anführen, so bedeutet das nicht, dass die Darstellungen dadurch beliebig würden. Es zeigt jedoch, dass sich die histo-risch-kritische Jesusforschung in einem gewissen »Un-schärfebereich« bewegt, da sie es als historisches Un-ternehmen mit Quellen zu tun hat, die kein eindeutigesBild der Vergangenheit vermitteln. Ihr Ziel kann des-halb nicht das Erreichen des einen Jesus hinter den Tex-ten sein, sondern ein auf Abwägen von Plausibilitätengegründeter Entwurf, der sich als Abstraktion von denQuellen stets vor diesen bewegt.

    Für diesen geschichtshermeneutischen Zugangwurde der Begriff der »Erinnerung« in die Jesusfor-schung eingeführt.26 Damit ist nicht die individuelle

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    24 E. P. Sanders, Jesus, 61–76.25 Vgl. R.A. Horsley, Galilee.26 Vgl. dazu J. Schröter, Erinnerung. Hier wird der Begriff zum

  • Aufbewahrung von Inhalten des Wirkens und derLehre Jesu im Gedächtnis seiner Nachfolger gemeint,27

    sondern die Aneignung der Vergangenheit aus der Perspektive der jeweiligen Gegenwart. Dieser Zugangknüpft an ein Verständnis des Erinnerungsbegriffs an,das Jan Assmann im Anschluss an Maurice Halbwachsentwickelt hat.28 Assmann geht – wie auch Halbwachs– von der sozialen, kollektiven Dimension des Ge-dächtnisses aus, in dem diejenigen Traditionen aufbe-wahrt werden, die für das Selbstverständnis einer Ge-meinschaft grundlegend sind. Zu dieser Form desGedächtnisses gehört deshalb immer auch die Aktuali-sierung und Inszenierung von Traditionen im Lebenvon Gemeinschaften – etwa durch Erzählungen, Ritu-ale, Gedenktage und dergleichen. Für das Judentum istin diesem Sinn etwa die Exoduserzählung eine Tradi-tion, die im Gedächtnis des jüdischen Volkes aufbe-wahrt, gelesen und bei der Passahfeier rituell inszeniertwird. In der Christentumsgeschichte lässt sich dem dieFeier des Abendmahls vergleichen, die an das letzte

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    ersten Mal in seiner geschichtshermeneutischen Bedeutung für die Interpretation der Jesusüberlieferung verwendet. Spä-ter hat ihn James Dunn in seiner Jesusdarstellung in etwas an-derer Weise gebraucht. Die Verwendung des Erinnerungs -begriffs zur Bezeichnung des kulturellen oder sozialen Ge-dächtnisses einer Gemeinschaft wurde u. a. von C. Keith, JesusTradition, und R. Zimmermann, Gleichnisse, aufgegriffen undweiterentwickelt. Vgl. auch die Beiträge in: Jesus and Memory,EC 6/3, 2015.

    27 In dieser Weise wurde der Begriff zuerst von B. Gerhardsson inseiner monumentalen Studie »Memory and Manuscript« ge-braucht. Gerhardssons Ansatz wurde u. a. von Samuel Byrskogund Rainer Riesner fortgeführt. In der vorliegenden Darstellungwird der Erinnerungsbegriff dagegen ausschließlich in der ge-nannten geschichtshermeneutischen Bedeutung verwendet.

    28 Vgl. J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis.

  • Mahl Jesu mit seinen Jüngern in Jerusalem anknüpftund Jesus in der mahlfeiernden Gemeinde vergegen-wärtigt. »Erinnerung« bezeichnet diesem Verständniszufolge den Rückgriff auf für bedeutsam gehalteneVergangenheit, die in Erzählungen, Ritualen, Festenund anderen Formen angeeignet und vergegenwärtigtwird.

    Die kritische Prüfung des historischen Materialswird damit in keiner Weise überflüssig. Die Aneignungder Vergangenheit wird sich vielmehr auf solche Zeug-nisse stützen, die kritischer Analyse als verlässlich erscheinen. Ein am Erinnerungsbegriff orientierter Zu-gang zur Vergangenheit – und damit auch zur Jesus -überlieferung – ist sich aber dessen bewusst, dass dieZeugnisse der Vergangenheit die für die Gegenwart be-deutsame Geschichte nicht unmittelbar enthalten.Diese muss vielmehr erst durch eine auf kritischer Ana-lyse und kreativer Einbildungskraft basierende Erzäh-lung aus ihnen geschaffen werden. Die Aneignung derVergangenheit ist demzufolge ein Prozess, bei dem diehistorischen Quellen aus der Perspektive der Gegen-wart gedeutet und zu einem Bild zusammengefügtwerden, das dem jeweiligen Erkenntnisstand und denVoraussetzungen, mit denen wir die Quellen interpre-tieren, entspricht. Die historische Erzählung gründetdabei auf den Zeugnissen der Vergangenheit und wirdsich durch sie korrigieren lassen. Sie ist zugleich einProdukt historischer Einbildungskraft, die aus denZeugnissen der Vergangenheit lebendige, bedeutsameGeschichte erschafft.29

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    29 Reinhart Koselleck hat das in das Diktum gefasst, dass dieQuellen ein »Vetorecht« haben, uns aber nicht sagen, was wirsagen sollen. Vgl. ders., Vergangene Zukunft, 206f.

    CoverTitelImpressumInhaltVorwortVorwort zur 2. AuflageVorwort zur 6. AuflageA. Einführung1. Der »historische« und der »erinnerte« Jesus oder: Wie es »wirklich« war2. Ein Blick in die Forschungsgeschichte

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