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Joachim Bauer

PRINZIPMENSCHLICHKEIT

Warum wir von Natur aus kooperieren

WILHELM HEYNE VERLAGMÜNCHEN

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100

Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte PapierMünchen Super liefert Mochenwangen.

Aktualisierte Taschenbucherstausgabe 09/2008

Copyright © 2006 by Hoffmann und Campe Verlag, HamburgDer Wilhelm Heyne Verlag, München, ist ein Verlag

der Verlagsgruppe Random House GmbH

Printed in Germany 2008

Umschlaggestaltung: Hauptmann und Kompanie Werbeagentur,München – Zürich

Umschlagfotos: Flying Colours Ltd (oben links),Stockbyte (unten links), Peter Cade (oben rechts /unten rechts)

Satz: Dörlemann Satz, LemfördeDruck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-453-63003-1

Inhaltsverzeichnis

Vorwort zur Taschenbuchausgabe 7

1. Leitmotive des Lebens:Kampf oder Kooperation? 9

2. Der Mensch:Für gelingende Beziehungen konstruiert 23

3. Die Bedeutung der Aggression 75

4. Darwins »war of nature« und das Prinzipder Unmenschlichkeit 97

5. Soziobiologische Science-Fiction oder:Warum Gene nicht egoistisch sind 135

6. Die Erforschung der Kooperation:Spieltheorie und Beziehungsanalyse 177

7. Kooperation als gesellschaftlichesProjekt 201

8. Nachtrag:Kooperation, ganz unwissenschaftlich 227

9. Danksagungen 229

Literatur 233

Register 249

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Vorwort zur Taschenbuchausgabe

Die naive Frage, ob der Mensch oder die Natur »gut«seien, wird in diesem Buch weder gestellt noch beantwor-tet. Prinzip Menschlichkeit ist ein Sachbuch, das der Fragenachgeht, wie sich der Mensch und seine inneren Antriebeaus moderner neurobiologischer Sicht beschreiben lassen.Was das Potential menschlicher Aggression betrifft, so ge-höre ich zu jenen eher skeptischen Zeitgenossen, die esfür möglich halten, dass wir uns als menschliche Speziesauslöschen werden. Die Chancen dafür stehen jedenfallsnicht schlecht und sie werden täglich besser. Die zynischenAnhänger des altgriechischen Philosophen Heraklit, derden Krieg für den Vater (!) aller Dinge hielt, werden wohlleider auch in Zukunft auf ihre Kosten kommen. Aller-dings vermag es mein Buch, jenen, die sich einer solchzerstörerischen Entwicklung trotz allem entgegenstellenwollen, einige gute Argumente an die Hand zu geben.

Eine der Fragen, denen sich mein Buch zuwendet, gilteiner Feststellung Charles Darwins aus dem Jahre 1871,der zufolge der Mensch einem fortwährenden Konkur-renzkampf ausgesetzt bleiben müsse. Vielen ist bis heutenicht bewusst, welche weit reichenden Folgen – auch imSinne einer »Self-fullfilling Prophecy« – dieses StatementDarwins hatte: Ernst Haeckel und zahlreiche weitere pro-minente Vertreter der deutschen Intelligenz, vor allem

aus dem Bereich der Medizin und der Psychiatrie, hattendas Denken in den Kategorien der biologischen Auslesein Deutschland auf breiter Front populär gemacht, langebevor das verbrecherische Regime der Nazis die Erntedieser Denkweise einfuhr, sie mit weiteren Komponen-ten anreicherte und unser schönes Land in den Abgrundstürzte. Doch zu glauben, die Angelegenheit hätte hiermitihr Ende gefunden, wäre ein Irrtum. In Gestalt der So-ziobiologie und ihres Science-Fiction-Konstrukts vom»egoistischen Gen« feiert das alte Denken eine glanzvolleWiederauferstehung. Seine Bedeutung erhält es u.a. alsimplizite, pseudowissenschaftliche Begründung des der-zeit weltweit herrschenden ökonomischen Systems. Fürdas Weltwirtschaftssystem mag es zutreffen, doch sindGene wirklich egoistisch?

Als Mediziner, der selbst jahrelang an Genen des Im-munsystems und später im Bereich der Neurobiologieerfolgreich geforscht hat, möchte ich in diesem Buch aufzweierlei hinweisen. Zum einen: Gene sind nicht egois-tisch, sondern funktionieren als biologische Koopera-toren und Kommunikatoren. Zum anderen möchte ichunter Bezugnahme auf die moderne Hirnforschung dar-stellen, welche biologische (!) Bedeutung der sozialen Ak-zeptanz beim Menschen zukommt. Unser Gehirn machtaus Psychologie Biologie. Ein Umstand, der bei Neu-roforschern in den USA zum Begriff des »social brain«führte. So wird es meine geschätzten Leser nicht über-raschen: »Die Entdeckung des Social Brain« war einerder Titel, die ich einst für dieses Buch angedacht hatte.

Freiburg, im Sommer 2008 Joachim Bauer

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1.Leitmotive des Lebens:Kampf oder Kooperation?

Zum Besten, was man in New York gelegentlich übereinen anderen hören kann, gehört der mit Hochachtunggesprochene Satz: »He (she) is a mensch.« Die Bezeich-nung entspricht einer Art Nobelpreis der persönlichenWertschätzung.1 Einzelne Personen mögen die Vorausset-zungen für dieses Prädikat erfüllen. Was wir jedoch vonNatur aus sind, war immer umstritten. Die Frage, obMenschen von Natur aus auf Kampf oder Menschlich-keit ausgerichtete Wesen seien, wird auch in unserer Zeitkontrovers gesehen.2 In jüngster Zeit hat eine Serie neu-robiologischer Beobachtungen ein neues Bild entstehenlassen. Es beschreibt den Menschen als ein Wesen, dessenzentrale Motivationen auf Zuwendung und gelingendemitmenschliche Beziehungen gerichtet sind. Die neuenErkenntnisse und sich daraus ergebenden Schlussfolge-rungen sind das Thema dieses Buches.

1 »He/she is a mensch«: In seiner in den USA geläufigen Verwendungstammt der Satz aus dem Jiddischen (American Heritage Dictionary of theEnglish Language, Fourth Edition, 2000).

2 »Mord steckt in uns« titelte der »Der Spiegel« (Ausgabe 35/2005)mit einem Zitat des US-Psychologen und Buchautors David Buss. Der»Focus« (Ausgabe 40/2005) plädierte dagegen für »Siegen auf die netteTour«.

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Neue Erkenntnisse werfen immer auch Fragen auf:Wie steht es um den Menschen im »Kampf ums Dasein«,was bedeuten die jüngsten Beobachtungen für jenes Men-schenbild, das sich im Gefolge Charles Darwins entwi-ckelt hat? Was ist aus unseren »egoistischen Genen« ge-worden, von denen uns die Soziobiologen um RichardDawkins erzählt haben? Welchen Stellenwert hat, wennder Mensch ein im Innersten auf Zuwendung und Koope-ration gepoltes Wesen ist, die Aggression, dieses mar-kante und so bedrohliche Faktum unseres Dasein? IhrStellenwert wird auf der Basis von wissenschaftlichenUntersuchungen, die seit kurzem auch zu dieser Fragevorliegen, neu zu bestimmen sein. Schließlich bleibt zuklären, welche Schlussfolgerungen sich aus dem »Prin-zip Menschlichkeit« für die gesellschaftlichen Lebens-bereiche ergeben, für die Wirtschaft, für das Leben amArbeitsplatz, aber auch für die Pädagogik, den Bildungs-bereich und die Medizin. Bis zu diesen Fragen hin wirddas Buch den Bogen spannen.

Die Macht, die von Menschenbildern ausgeht

Anthropologische Vorstellungen3 bzw. Menschenbildersind mehr als nur Glaubenssache. Sie bestimmen nichtnur, wie wir uns selbst und andere sehen, sondern auch,wie wir miteinander umgehen. Und damit haben sie weitreichende Auswirkungen darauf, wie wir leben. Bei nä-

3 A������« (Anthropos), aus dem Altgriechischen, bedeutet »Mensch«.»Anthropologie« meint die »Wissenschaft vom Menschsein«.

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herer Betrachtung wird deutlich, dass Menschenbilderzu einem nicht geringen Teil mit den Erfahrungen zu-sammenhängen, die wir mit anderen – vielleicht auchmit uns selbst – gemacht haben. Auch die Art und Weise,wie andere uns gesehen haben oder sehen, kann unserDenken über den Menschen prägen. Und nicht zuletztbeeinflussen Wünsche, wie wir uns und andere gernsehen wollen, unser Menschenbild. Den meisten amnächsten sein dürfte aber das, was sie unmittelbar in sichfühlen. Nicht jeder empfindet grundsätzlich Sympathiefür andere Menschen und findet immer zumindest halb-wegs gute Lösungen, falls ihm jemand Schwierigkeitenbereitet. Viele verbinden mit anderen Menschen Erfah-rungen von Leid oder erleben Angst. Noch quälenderkann es sein, mit immer wieder auftauchenden eigenenGefühlen von Neid, Zorn und gar Hass konfrontiert zusein, wenn es um andere Menschen geht. Schlechte Ge-fühle können verstörend und irritierend sein: Ist das»normal«? Gehören solche Gefühle zu mir selbst, binich das, was ich fühle? Oder sind sie von außen be-stimmt, hervorgerufen durch das, was mir widerfahrenist? Falls ja, so würde sich die Frage stellen, ob die Ent-wicklung eines negativen Menschenbildes die einzigmögliche Reaktion ist oder ob es andere, positivere Ar-ten der Verarbeitung negativer Erfahrungen gibt. Diesalles sind schwierige, für manche Menschen auch quä-lende Fragen.

Menschenbilder mögen die Folge von Erfahrungen sein,noch wichtiger aber ist, was sie ihrerseits bewirken. Siebestimmen, ob wir anderen vertrauen oder nicht, was wirvon anderen erwarten und wie wir auf andere reagie-

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ren. Eine tief verwurzelte Grundüberzeugung, dass Men-schen von Natur aus zur Bosheit neigen, wird – sagenwir – einen Lehrer nicht nur im Einzelfall auf eine be-stimmte Weise auf ein Kind reagieren lassen, das zum Bei-spiel einen Fehler gemacht hat, sie wird vielmehr seinengesamten Erziehungsstil prägen. Die Annahme, Men-schen seien grundsätzlich auf ihren eigenen Vorteil be-dacht und bereit, sich dazu jedes erlaubten (und vielleichtauch nicht erlaubten) Mittels zu bedienen, wird einenVorgesetzten nicht nur in einer konkreten Situation aufMitarbeiter reagieren lassen, die ihm zum Beispiel Pro-bleme bereitet haben, sondern sie wird den gesamtenVerhaltens- oder Führungsstil an diesem Arbeitsplatz be-stimmen. Bei näherer Betrachtung kann sich dabei zei-gen, dass der Stil des Umgangs mit Menschen manchmaldie Kraft einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung hat.Andere mit Vertrauen zu behandeln, kann vertrauens-volle Verhaltensweisen begünstigen. Misstrauen und ne-gative Vorannahmen können andererseits dazu führen,dass sie genau das auslösen, was sie unterstellen. Aberauch darauf ist nicht immer Verlass. Jedermann hat dieErfahrung gemacht, dass Vertrauen nicht immer mit Ver-trauen beantwortet wird. Sollten uns negative Erfahrun-gen veranlassen, ein generell negatives Menschenbild zuentwickeln? Was aber würde dann passieren, wenn wirmit dieser Haltung nun wieder Menschen begegnen, diebereit wären, auf Vertrauen mit Vertrauen zu reagieren?Wir sehen, die Argumentation dreht sich im Kreis. Wirbrauchen Rat »von außen«. Doch wer hat die »Oberho-heit« über die anthropologischen Modelle, die wir unsmachen und nach denen wir leben können? Dieses Buch

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wird keine solche Oberhohheit beanspruchen. Es wird je-doch eine Reihe wichtiger neuer Erkenntnisse darlegen,die dafür sprechen, dass wir – und warum wir – von Na-tur aus »menschliche« Wesen sind, und es wird zeigen,welche Chancen sich daraus ergeben.

Der Paukenschlag des Jahres 1859

In der Frage, wie wir von Natur aus sind und wie wir le-ben sollten, hatten Theologie und Kirchen über Jahrhun-derte das Monopol. Vor etwa zweihundert Jahren, in derZeit der Aufklärung, begann sich in dieser Hinsicht etwaszu ändern: Der traditionelle Anspruch der Kirche, dieEntstehung der Erde, die Naturgeschichte, vor allem aberdas Menschenbild und die Regeln des Zusammenlebenserklären und bestimmen zu können, ging in andereHände über. Angestoßen durch die kritischen Denker derAufklärung, kam es in Fragen des Menschenbildes zurÜbergabe der Oberhoheit der Kirchen an die Eigenver-antwortung des Menschen, an seine Vernunft. Die ethi-sche Grundregel der Aufklärung lautete: Handle nachRegeln, nach denen auch alle anderen handeln könnten.Dieser Grundsatz wurde als der »kategorische Impera-tiv« Immanuel Kants4, im angloamerikanischen Sprach-raum auch als »Golden Rule« (Goldene Regel) bezeich-net. Allerdings blieb der neue ethische Standard der

4 »Handle nur nach der Maxime, von der du zugleich wollen kannst,dass sie ein allgemeines Gesetz werde« (Immanuel Kant, 1724–1804, in:Kritik der praktischen Vernunft, 1788).

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Aufklärung, obwohl er sich gegen die Vormundschaft derKirchen richtete und die Verantwortung in die Hände desMenschen selbst legte, letztlich doch auf dem Boden derjüdisch-christlichen Tradition. Denn von dort kam her,was auch in der Aufklärung weiterhin Geltung hatte: dasRecht eines jeden auf Leben und die Pflicht zur Unterstüt-zung der Schwachen. Doch dabei sollte es nicht bleiben.Ein Paukenschlag im Jahre 1859 veränderte die Situation:Charles Darwin publizierte seinen Bestseller »Über dieEntstehung der Arten«. Die Erstauflage des Buches warinnerhalb kurzer Zeit vergriffen. Zwölf Jahre später legteDarwin, der ursprünglich Theologe war und erst in spä-teren Jahren zum Naturforscher wurde, mit einem zwei-ten Werk nach: 1871 erschien sein zweiter Bestseller, »DieAbstammung des Menschen«.

Wie Charles Darwin das Menschenbildrevolutionierte

Darwins Evolutionstheorie war die Ablösung der rühren-den biblischen Schöpfungsgeschichte durch eine überzeu-gende, gut begründete Theorie über die Entstehung derArten in Pflanzenwelt und Tierreich. Die Erkenntnis, derMensch entstamme der Familie der Primaten, schockierteviele Zeitgenossen Darwins. Doch obwohl sie von reli-giös-fundamentalistischer Seite immer wieder angezwei-felt und attackiert wird, hat sie sich bis heute als wissen-schaftlich bestens abgesichert erwiesen. Darwins Werkbeschränkte sich jedoch nicht nur auf die Abstammungs-lehre. Er machte vielmehr eine Reihe von Aussagen, die in

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ihren historischen Folgen tiefgreifender und weit brisan-ter waren als seine Erkenntnis, dass der Mensch mit allenanderen Lebewesen durch einen gemeinsamen Stamm-baum verbunden ist. Der wirkliche Sprengstoff seinerTheorie lag, wie die Geschichte Europas zwischen 1870

und 1930 zeigen sollte5, in seinen martialischen Ansich-ten über die inneren Grundregeln der Biologie.

Darwin erkannte, dass sich Lebewesen im Verlauf vie-ler Generationen in unterschiedliche Richtungen weiter-entwickeln und so nicht nur neue individuelle Eigenschaf-ten, sondern auch neue Arten hervorbringen.6 Lebewesenmit neu ausgebildeten biologischen Eigenschaften, so ar-gumentierte er weiter, könnten nur dann überleben, wennihnen die Anpassung an die äußere Welt gelinge, sie seiendaher einem Selektionsdruck ausgesetzt, der nur gut an-gepassten Individuen das Überleben ermögliche. Bis zudiesem Punkt besteht bis heute innerhalb der Wissen-schaft Einigkeit. Darwin ging nun aber einen entschei-

5 Siehe Kapitel 4.6 Darwin sprach von »Variationen« (nichterbliche Abweichungen) und

»Varietäten« (erblich gewordene Abweichungen). Er war davon überzeugt,dass beides Zufallsereignisse seien, zugleich aber auch – so wie der franzö-sische Biologe Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829) – der Meinung, dassVeränderungen von biologischen Merkmalen, die durch Umwelteinflüssezustande gekommen sind, zu einer erblichen Verankerung führen können(Darwin, 1859, S. 111; und 1871, S. 36 und 67). Der immer wieder behaup-tete Gegensatz zwischen Darwin und de Lamarck ist historisch nicht zutref-fend. Erst der an der Universität Freiburg i. Br. lehrende Zoologe AugustWeismann (1834–1914) stellte die Regel auf, dass Erfahrungen, die Indivi-duen in der Umwelt machen, nicht in den Erbgang eingehen könnten(»Weismann-Barriere«). In den letzten Jahren wurden allerdings genetischeMechanismen entdeckt (die so genannte RNA-Interferenz), die es doch alsmöglich erscheinen lassen, dass Umwelteinflüsse die Keimbahn gezielt ver-ändern (siehe Hiller, 2004).

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denden Schritt weiter und entwickelte zwei umstritteneGrundannahmen. Die erste war, dass sowohl die Varia-tionen innerhalb einer Art als auch Arten als Ganzes auf-grund des Selektiondrucks der Natur fortlaufend gegen-einander ums Überleben kämpfen müssten.7 Es hättensich daher – so seine Schlussfolgerung – im Verlauf derEvolution nur solche neuen Eigenschaften durchsetzenkönnen, die einen Vorteil im gegeneinander geführtenKampf ums Überleben bedeutet hätten. Lebewesen seiendaher ihrer inneren Natur nach Kämpfer im Verdrän-gungskampf. Die zweite, ebenso umstrittene Grundan-nahme Darwins war ein Umkehrschluss: Der Prozess derAuslese unter dem Druck des Überlebenskampfes – undsonst nichts – sei die treibende Kraft für die Entwicklungder Arten von »niederen« zu »höheren« Wesen.8 Diewichtigsten biologischen Grundregeln waren für Darwindaher der »war of nature« (Krieg der Natur), der »strug-gle for life« (Kampf ums Überleben) sowie die Ausson-derung der Schwächsten und Auslese der Tüchtigsten.Die biologische Grundeigenschaft aller Lebewesen, derMensch eingeschlossen, war für Darwin der Wille, gegen-einander ums Überleben zu kämpfen.9 Kooperation, Zu-sammenhalt und gemeinschaftliches Handeln wurdenvon ihm als untergeordnete Hilfssysteme eingeordnet, diesich ausschließlich aus dem Kampf ums Überleben herausentwickelt hätten und die nur im Dienste dieses Kampfes

7 Darwin betonte ausdrücklich, dass der Kampf der Individuen und derArten primär gegeneinander geführt werde (Darwin, 1859, Kapitel 11,S. 422; Kapitel 15, S. 563; siehe auch Kapitel 11, S. 402ff.).

8 Darwin (1859), Kapitel 15, S. 565.9 Siehe das Zitat von Charles Darwin zu Beginn des vierten Kapitels.

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stünden. Damit hatte Darwin den Grundstein für einneues Menschenbild gelegt.10

Eine Ersatzreligion war geboren, die weit reichendeFolgen hatte. Neben Karl Marx wurde Charles Darwinder Zweite, von dem eine Art Realexperiment für dieMenschheit ausgehen sollte. Darwin hatte den Start-schuss für das bis heute nachwirkende Zeitalter des Dar-winismus gegeben. Der Naturforscher Adam Sedgwick,einer der Professoren, bei denen Darwin an der Univer-sität von Cambridge Vorlesungen gehört hatte, und die-sem im Prinzip durchaus gewogen, äußerte sich in einemBrief an Darwin bereits 1859 über die Folgen von dessenLehre: »Die Menschlichkeit könnte einen Schaden erlei-den, der zu einer Brutalisierung der Menschheit führenkönnte.« In wenigen Ländern war die Resonanz aufDarwin derart gewaltig wie in Deutschland.11 Bereits einJahr nach Erscheinen von Darwins erstem Hauptwerkberichtete Ernst Haeckel – er sollte innerhalb wenigerJahre einer der meistgelesenen populären Wissenschafts-autoren werden – auf einer Tagung vor deutschen Ärz-ten und Naturforschern über die neue Lehre. DarwinsWerk ließ zahlreiche Gebildete, Wissenschaftler undPolitiker zur Feder greifen und löste in Deutschlandüber Jahrzehnte eine ganze Serie von Bestsellern aus. DieFaszination des Darwinismus lag nicht nur in seinemrevolutionären Verständnis der Naturgeschichte, son-

10 Siehe Kapitel 4.11 Darwin schrieb 1868 an Wilhelm Preyer: »Die Unterstützung, die ich

von Deutschland aus erhalte, ist der Hauptgrund für meine Hoffnung,daß meine Sicht der Dinge am Ende die Oberhand behält« (The Life andLetters of Charles Darwin. Francis Darwin, Ed., New York 1919).

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dern vor allem in dem Versuch, das Zusammenlebenvon Menschen, Ethik und Moral auf ein neues, schein-bar wissenschaftlich begründetes Fundament zu stellen.Das, was Darwin und seine Anhänger für die Regeln derbiologischen Evolution hielten, sollte zugleich die Basisjener Regeln sein, nach denen Menschen ihr Zusammen-leben einrichten. Was sich daraus zwischen 1870 und1930 entwickeln sollte, soll an späterer Stelle geschildertwerden.12

Das Menschenbild der Soziobiologie

Mit Darwin hatte sich die modern Biologie in die Fragenach dem Menschenbild eingemischt.13 Diese Einmi-schung war, wie es scheint, unvermeidlich, obwohl sievon nicht wenigen, zum Beispiel Rudolf Virchow14, ab-gelehnt wurde. Die Biologie wird sich aus der Diskussionum das Menschenbild jedenfalls nicht mehr zurück-ziehen können. Ob Darwins Antworten die richtigenwaren, ist fraglich. Dieses Buch wird mit Blick auf dasMenschenbild – gestützt auf neurobiologische Befunde –eine andere Position als die Darwins beschreiben. Ob-

12 Siehe Kapitel 4.13 Der Erste, der innerhalb des Abendlandes die Biologie in die Diskus-

sion um das Menschenbild eingeführt hatte, war vermutlich Aristoteles mitseiner Naturrechtslehre (sie wurde, obwohl nichtchristlichen Ursprungs,später von Thomas von Aquin in die katholische Lehre übernommen undist – siehe die Enzyklika »Humanae Vitae« – bis heute die Grundlage fürdas katholische Verbot der Geburtenkontrolle).

14 Rudolf Virchow (1821–1902) war ab 1856 Professor für Medizin ander Berliner Charité und Begründer der Zellularpathologie.

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wohl viele, darunter auch zahlreiche prominente Wis-senschaftler, weder Darwins »Kampf ums Überleben«im Sinne eines biologischen Grundgesetzes noch seineanthropologischen Auffassungen teilen, beherrscht derDarwinismus in diesen Fragen bis heute den orthodoxenbiologischen Kanon. Was in den Naturwissenschaftender westlichen Länder hinsichtlich der Natur des Men-schen derzeit »offiziell« vertreten wird, findet sich inzwei Büchern, die zur Grundlage der Denkschule der sogenannten Soziobiologie wurden. Im Jahre 1975 veröf-fentlichte der amerikanische Zoologe Edward O.Wilsonsein Buch »Sociobiology«. Kurz darauf trat 1976 derenglische Biologe Richard Dawkins mit seinem Buch»The Selfish Gene« auf den Plan, das 1978 unter dem Ti-tel »Das egoistische Gen« in deutscher Fassung erschien.Wilson und Dawkins postulierten, dass nicht Lebewe-sen, sondern Gene die Akteure der Evolution seien.15 An-triebsfeder allen Lebens auf dieser Erde sei das Ziel derGene, sich selbst maximal zu vermehren und gegen dieKonkurrenz anderer Gene durchzusetzen. Der neodar-winistischen, soziobiologischen Denkschule von Wilsonund Dawkins gelang es, Darwins »war of nature« aufeine neue Stufe zu heben: Organismen und Individuenspielten jetzt im Grunde keine entscheidende Rollemehr – außer jener, ihren Genen im Kampf um derenÜberleben dienlich zu sein. Das anthropologische Mo-dell eines primär selbstsüchtigen, nur zum Zwecke des

15 Weder Wilson noch Dawkins hatten jemals selbst direkt an Genen ge-forscht. Dem Erfolg ihrer Theorien tat dies überraschenderweise keinenAbbruch.

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Eigennutzes kooperativen, letztlich aber nur auf denKampf ums Überleben programmierten Menschen wardamit auf eine scheinbar unangreifbare Weise weiter ze-mentiert worden.

Die moderne Neurobiologie

Nicht nur aus der Sicht der Neurobiologie, auch aus demBlickwinkel der Genetik ergibt sich eine Perspektive, diesich sowohl vom Denken Darwins als auch der Soziobio-logen in zentralen Punkten unterscheidet. Darum soll esin diesem Buch gehen. Ob Konkurrenz und Kampf dieprimären inneren Triebkräfte sind, die das Verhalten le-bender Systeme steuern, ist fraglich. Auf den Menschenbezogen sind diese Annahmen falsch.16 Definitiv falschist auch, dass Gene gegeneinander konkurrierende Ak-teure sind und – jedes Gen sozusagen gegen den Restder Welt – um die Vorherrschaft kämpfen.17 Tatsäch-lich weiß niemand, was die inneren Triebkräfte und dieZiele der Evolution sind. Herausragende Wissenschaftlerim Bereich der Biologie und der Medizin, unter ihnendie amerikanische Biologin Lynn Margulis18, sind derMeinung, Begriffe wie »Konkurrenz« und »Überlebens-

16 Siehe Kapitel 2.17 Siehe Kapitel 5.18 Lynn Margulis (geboren 1938) zählt zu den bedeutenden Biologinnen

unserer Zeit. Sie entdeckte, wie es zur Bildung der so genannten euka-ryontischen Zellen kam, aus denen alle höheren Lebewesen bestehen. ImJahre 2000 wurde ihr von Bill Clinton die »National Medal of Science« ver-liehen.

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kampf« seien menschliche Konstruktionen, die aus demWirtschaftsleben kämen und von außen an die Biologieherangetragen worden seien. Die Biologie kenne kein Er-folgsdenken, wie es die Wirtschaft beherrsche. Für dieNatur seien derartige Kriterien irrelevant. Einer wach-senden Zahl von Wissenschaftlern scheint es an der Zeitzu sein, einige der impliziten Annahmen des Darwinis-mus und der Soziobiologie, an die wir uns gewöhnt ha-ben, in Frage zu stellen. Ziel dieses Buches ist es, demKonzept einer ausschließlich oder primär im Kampf be-findlichen Natur eine Reihe von neueren biologischen Be-funden entgegenzustellen, die dafür sprechen, dass dasdarwinistische Modell des »war of nature« einseitig undunvollständig ist und durch eine differenzierte Betrach-tung ersetzt werden muss.

Keine Sympathien für Kreationismus und»intelligent design«

Wer Fragen an Darwin stellt, begibt sich – jedenfalls imBereich von Forschung und Lehre – auf vermintes Ge-lände. Wissenschaftler, die auch nur leise Zweifel zu äu-ßern wagten, machten Erfahrungen, wie sie Häretiker beireligiösen Glaubenswächtern oder Dissidenten in autori-tären Regimen machen können. Es scheint zu einemgewissen Reflex mancher wissenschaftlicher Meinungs-führer geworden zu sein, jedes kritische Nachdenkenüber Darwin mit hysterischer Aufgeregtheit zu beant-worten. Eine gegenüber kritischen Stimmen routinemä-ßig vorgebrachte Unterstellung lautet, man gehöre zu den

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so genannten Kreationisten, also zu jenen religiösen Fun-damentalisten, die nach wie vor der Meinung sind, dieErde sei – samt aller auf ihr lebenden Arten – vor einigentausend Jahren von Gottes Hand in einem siebentägigenSchöpfungsprozess erschaffen worden. Dieses Buch argu-mentiert weder für den Kreationismus noch für die Theo-rie des »intelligent design«, der zufolge die Evolutioneinem göttlichen Plan folgt.19 Darwins Abstammungs-lehre steht aufgrund einer überwältigenden Ansammlungvon entsprechenden Funden und Beobachtungen außerFrage. Die Kritik betrifft einen ganz anderen Punkt, näm-lich ob die Evolution tatsächlich nach dem Prinzip desKampfes ums Dasein voranschreitet, ob Gene »egois-tisch« sind und ob der Mensch, wie Darwin es formu-lierte, ein Wesen ist, welches dem Kampf ausgesetztbleiben muss. Manchen scheint es schwer zu fallen, sichvorzustellen, dass man über Darwin kritisch nachdenkenkann, ohne an seiner Abstammungslehre zu zweifeln. EinNachdenken ist aber unausweichlich, nachdem in denvergangenen Jahren gewonnene Erkenntnisse der Neuro-biologie die Ziele menschlichen Verhaltens in einem völ-lig neuen Licht erscheinen lassen. Doch wie sehen dieseErkenntnisse aus?

19 Den Kreationismus und die »Intelligent-design«-Idee abzulehnen, be-deutet nicht zwingend, auch Gott in Frage zu stellen. Ob Gott ist und wie erist, sind keine Fragen, die mit den Methoden der Naturwissenschaft beant-wortet werden können. Moderne theologische Vorstellungen sehen Gottschon lange nicht mehr als einen außerhalb der Welt tätigen Schöpfer. Aufden großen, von der Kirche zu seinen Lebzeiten drangsalierten katholischenTheologen und Naturforscher Teilhard de Chardin geht die Vorstellungzurück, dass Gott in der Welt, in den sie belebenden Wesen und daher auchin uns sei.

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2.Der Mensch:Für gelingende Beziehungen konstruiert

Wir sind – aus neurobiologischer Sicht – auf soziale Re-sonanz und Kooperation angelegte Wesen. Kern allermenschlichen Motivation ist es, zwischenmenschlicheAnerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zunei-gung zu finden und zu geben. Doch kann die Neurobio-logie dazu überhaupt Stellung beziehen? Kann der biolo-gische Bauplan, nach dem wir als Lebewesen konstruiertsind, überhaupt etwas darüber aussagen, welche Verhal-tensweisen unserer Natur gemäß sind, welche uns gut tunund welche geeignet sind, uns krank zu machen? Wennes um Ernährungsgewohnheiten oder angemessene For-men körperlicher Belastung geht, würden wir diese Frageohne Zweifel bejahen. Doch wie ist die Situation, wennes darum geht, welche psychischen Bedürfnisse Men-schen haben, wie sie den Umgang miteinander optimalgestalten können und wie ein gesellschaftlicher Rahmenaussehen sollte, in dem ein solcher Umgang optimal zumTragen kommen kann? Zweifellos besitzt die Biologie indieser Hinsicht keine Deutungshoheit. Dennoch könnenErkenntnisse aus ihrem Bereich für die Frage, wie men-schengemäßes Leben aussieht, von erheblichem Belangsein. Das Bild, das sich aus einer Reihe von neueren Be-obachtungen ergibt, lässt den Menschen als ein in seinen

UNVERKÄUFLICHE LESEPROBE

Joachim Bauer

Prinzip MenschlichkeitWarum wir von Natur aus kooperieren

ERSTMALS IM TASCHENBUCH

Taschenbuch, Broschur, 256 Seiten, 11,8 x 18,7 cmISBN: 978-3-453-63003-1

Heyne

Erscheinungstermin: August 2008

Ein Buch über das wichtigste Erfolgsgeheimnis der Evolution! Kampf oder Kooperation? Der renommierte Medizinprofessor und Psychotherapeut JoachimBauer widerlegt die weit verbreitete These, der Mensch sei primär auf Egoismus und Konkurrenzeingestellt. Ausgehend von aktuellsten neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zeigt er, dassdas menschliche Handeln vielmehr durch das Streben nach Zuwendung, Wertschätzung undKooperation bestimmt wird.