Johann Friedrich Oberlin der Sozialreformer im 18. und 19. Jahrhundert
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Das Thema meiner Seminararbeit lautet:
Johann Friedrich Oberlin der Sozialreformer im 18. und 19. Jahrhundert
Autor: Markus Nagel FB2 TH Darmstadt Institut für Theologie
und Sozialethik
Veranstaltung: Kirchengeschichtliche Vorlesung: Neuzeit. Von der
Französischen Revolution bis zur Weimarer Republik im
Wintersemester 1996/97
Dozent: Prof. Dr. Karl Dienst Oberkirchenrat i.R.
Inhaltsverzeichnis:
Einleitung...............................................................................................................
Hauptteil.................................................................................................................
Oberlin vor dem Hintergrund seiner Zeit................................................................
Oberlin Biographie.................................................................................................
Die Theologie.........................................................................................................
Die Pädagogik.........................................................................................................
Aufgabenfeld im Steintal........................................................................................
Die Kleinkinderschulen.......................................................................................
Das Pensionat......................................................................................................
Erwachsenenbildung...........................................................................................
Oberlins Einfluss....................................................................................................
Schluss....................................................................................................................
Zusammenfassung:.................................................................................................
Literaturliste:..........................................................................................................
Einleitung
Es herrscht ein reges Interesse an dem Franzosen Johann Friedrich Oberlin.
Bereits zu seinen Lebzeiten wurden Abhandlungen über ihn verfasst. Mit seinem
Tod entdeckte man ihn auch im deutschen und im englischen Sprachraum. Eine
erstaunliche Anzahl von Biographien und Aufsätzen über Oberlin wurden bereits
im 19. Jahrhundert geschrieben.1 Dabei hatte Oberlin in einer wirtschaftlich,
politisch und kulturell völlig unbedeutenden Gegend gelebt. Selten nur ist er aus
seiner Pfarrgemeinde herausgekommen. Er war weder ein grosser Pädagoge noch
ein bedeutender Theologe. Ebenso hat er kein neues philosophisches System
entwickelt. Schriftliches hat er nur in sehr begrenztem Umfang hinterlassen,
keineswegs mit dem Anspruch verfasst, als wissenschaftliche Abhandlung zu
gelten. Trotzdem ist das Interesse an Oberlin auch heute noch ungebrochen gross.
Wenn man den Veröffentlichungen über Oberlin Glauben schenkt, sie von häufig
vorkommenden Heiligenverehrungen und Legendenbildungen freimacht, welche
1 Psczolla Erich, Johann Friedrich Oberlin, 1740-1826, Gütersloh 1979, S.190ff.
2
Oberlin schon fast nicht mehr als einen Menschen erscheinen lassen, so stösst
man auf die grossartige Leistung eines Mannes. Er hat es geschafft, dass eine
ganze Region, das Steintal2 wirtschaftlich zu ‘revolutionieren’. In den
Hungerjahren 1816/17 konnten die Steintäler sogar ihre katholische
Nachbargemeinde mit einem Hilfsfond unter die Arme greifen.
2 „Das Steintal liegt im Elsass nahe der Grenze zu Lothringen […]. Es ist nur ein kleines Tal eingebettet
zwischen den östlichen und westlichen Hängen der Vogesen.“ In: Kurtz John W., Johann Friedrich
Oberlin, Sein Leben und Wirken, 1740-1826, S.35.
Seinen Namen erhielt das Steintal, auch als ‘Ban de la Roche’ bezeichnet, nach einer mittelalterlichen
Burgruine, die ‘Burg Stein’ oder ‘Château de la Roche’ genannt wurde.
Das Steintal ist eine wasserreiche, landwirtschaftlich unfruchtbare Gebirgslandschaft. Der enorme
Höhenunterschied, er zählte im seiner extremsten Ausprägung 610 Meter, innerhalb der einzelnen
Ortschaften des Steintals, machte ein intaktes Gemeindeleben beinahe unmöglich. Die Steintäler sprachen
einen lothringische Dialekt, Patois, grenzten sich dadurch noch zusätzlich von der Umgegend, die
französischsprechend war, ab.
Vgl. (Ich verwende die üblichen Abkürzungen, ohne sie gesondert auszuweissen.) Psczolla Erich, Johann
Friedrich Oberlin 1740-1826, Gütersloh 1979, (Ich verwende für dieses Buch die Abkürzung: Psczolla,
Oberlin I) S.20.
„Das Steintal ist regenreicher als andere Gegenden des Elsass. Der reiche Niederschlag legte jedoch im
Winter die Verbindungen zwischen den Dörfern [und der Umgegend] lahm.“ Ebenda, S.35.
Häufig wurde das Steintal in Kriege hineingezogen. Zum Beispiel richtet der Dreissigjährige Krieg grosse
Verwüstungen im Tal an. Grosse Teile der Bevölkerung starben. In den Quellen wird von starkem
Aberglauben der Steintaler berichtet. Eine immense Zahl von Hexenprozessen fand im Steintal statt. Vgl.
Burckhardt W., Oberlin Band 2, Leben und Wirken Johann Friedrich Oberlins 1740-1789, von Daniel
Ehrenfried Stoeber, S.32.
Das Bevölkerungswachstum des Steintals lag deutlich unter dem landesweiten Durchschnitt. Extreme
Mängel wiess auch das Steintaler Schulwesen auf. Nur wenige der Lehrkräfte konnten überhaupt Lesen
und Schreiben. Nur mit Mühe liessen sich die Menschen des Steintals durch die Landwirtschaft ernähren.
Stuber schrieb über das Steintal:
„Die Steintäler sind insgesamt sehr arm, und reich heissen nur die, die weniger Not leiden. Sie
wohnen unter Strohdächern, gehen in Holzschuhen und ernähren sich von einem geringen
Ackerbau und unbedeutender Viehzucht. […] Fleisch essen viele das ganze Jahr nicht, es wäre
denn etwa bei einem Gastmahl. Man findet Leute, die in ihrem Leben kein Rindfleisch gegessen
haben und denen die Schafe sogar der Gestalt nach unbekannt sind.“
Zitiert In: Baum Johann Wilhelm, Johann Georg Stuber, der Vorgänger Oberlins im Steintal und
Vorkämpfer einer neuen Zeit in Strassburg, Strassburg 1846, S.67f.
Auf eine Gefahr bei der Beurteilung der Situation des Steintals sei hingewiesen: Besonders in den älteren
Werken versuchte man häufig die Zustände im Steintal möglichst drastisch zu schildern. Dabei dürfte der
3
Ziel dieses Aufsatzes soll sein, verständlich zu machen, wie es zu den grossen
Umwälzungen im Steintal unter Oberlins Regie kam.3
Es wird zu fragen sein, wie originell Oberlins Gedanken und die daraus
resultierenden Reformen waren. Wie kann ein einzelner Mensch solch eine
Arbeitsleistung vollbringen, wie Oberlin im Steintal?
Hauptteil
Oberlin vor dem Hintergrund seiner Zeit
Oberlin lebte in einer Zeit des grossen Umbruchs, der beinahe alle
Lebensbereiche umfasste. Die hohe Geistlichkeit und der Adel übte
grundherrschaftliche Funktionen aus. Mit der Französischen Revolution
veränderte sich die alte Ordnung grundlegend. Der Absolutismus war am Ende.
Eine neue Verwaltung wurde aufgebaut. Die Schreckensherrschaft der Jakobiner
begann.4 Ihre Herrschaft dauerte nur wenige Jahre. Oberlin überlebte auch die
Herrschaft Napoleon Bonapartes. Mitbestimmend für die politischen
Veränderungen war die Aufklärung, die zu einer radikalen Abkehr von aller
Tradition führte. Die Welt schien auf einmal ohne eine göttliche Macht
auszukommen. Der Mensch war in den Mittelpunkt gerückt. Auf ihn musste sich
fortan alles beziehen. Der Mensch wollte mündig sein, sich nicht mehr vorschnell
von Kirche, König oder Lehnsherr etwas vorschreiben lassen. In Frankreich
entwickelte Montesquieu die Idee der Gewaltenteilung unter monarchischer
eine oder andere etwas übertrieben haben, um Oberlins Reform grandioser erscheinen zu lassen. Vgl.
Psczolla Erich, Aus dem Leben des Steintalpfarrers Oberlin, Lahr-Dinglingen 1987 (Ich verwende hinfort
für dieses Buch die Abkürzung: Oberlin II), S.13.3 Auf Oberlins Mitarbeiter wird in dieser Abhandlung nicht eingegangen. Sie standen zu sehr in seinem
Schatten. Sie wirkten eigentlich nicht originär, sondern führten die von Oberlin übertragene Arbeiten ganz
im Sinne Oberlins aus. Ohne seine Mitarbeiter wäre aber Oberlin nie so erfolgreich mit seinen Reformen
gewesen. In der Forschung wurde nur auf Louise Scheppler näher eingegangen.
Nach dem frühen Tod von Magdalena Salomé, Oberlins Frau, fielen Louise Scheppler neben der Leitung
des Oberlin’schen Haushaltes immer wichtigere Aufgaben beim Reformwerk zu. Siehe dazu: Psczolla
Erich, Louise Scheppler, Mitarbeiterin Oberlins, Witten 1963.4 Auf Oberlins Konflikte mit den Jakobinern wird im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen. Siehe dazu:
Kurtz, Oberlin, S.199-218.
4
Oberaufsicht. Rousseau hingegen forderte Volkssouveränität und die Abschaffung
aller feudalen Zwänge.
Die Welt veränderte sich rasend schnell. Neue Erdteile wurden entdeckt. Die
Pädagogik als Wissenschaft von der Erziehung entstand.
Der Pietismus5 als Gegenbewegung zur rationalistischen Theologie begann sich
unter Einflussnahme aufklärerischen Gedankengutes in der evangelischen Kirche
des 18. Jahrhunderts auszubreiten.
Von England kommend, wurde auch das Steintal noch zu Lebzeiten Oberlins von
der Industriellen Revolution getroffen.
Oberlin Biographie
Johann Friedrich Oberlin, bekannt geworden als „der Steintalpfarrer“, wurde am
31. August 1740 geboren. Er entstammte väterlicherseits einem Bäckergeschlecht.
Erst Oberlins Vater brach mit der Tradition. Er ging auf die Universität und liess
sich zum Lehrer ausbilden und unterrichtete am berühmten Strassburger
Gymnasium. Oberlins Vater hatte Oberlin selbst sehr stark geprägt. Sooft es die
Zeit erlaubte, ging der Vater mit Oberlin und seinen Geschwistern auf das
Landgut ‘Schloss Hägeli’6, nahe Strassburg gelegen. Sein Vater bildete ihn aus in
„der praktischen Anwendung der Botanik und Ackerkunde.“7 In diesen
Wochenenden mit seinem Vater eignete sich Oberlin
5 Def. Pietismus, lateinisch: pietas=Frömmigkeit: „ev. Bewegung seit dem Ende des 17. Jh., bes. in
Dtschld. In Abkehr von der verweltlichten u. erstarrten Orthodoxie [...] trat der P. für eine lebendige
Glaubenserfahrung, für den Erweis des Glaubens in praktischer Frömmigkeit, für die Abkehr von der Welt
u. für die aktive Mitarbeit der Laien durch die Sammlung der „bekehrten“ Christen in Konventikeln ein.
Im Luthertum regte Ph. J. Spener mit seiner Schrift „Pia desideria“ (1675) den P. an. Der prakt. P. wurde
bes. durch die neugegründete pietist. Universität Halle (Saale) gefördert und hatte dort in A. H. Francke
seinen bedeutendsten Vertreter. Ein P. mit engerer Verbindung zum Kirchenregiment entstand in
Württemberg; eine eigene Kirchengemeinschaft dagegen stiftete Graf Zinzendorf in der Brüdergemeine in
Herrenhut. [...]“ Das Bertelsmann Lexikon in zehn Bänden, Band 8, Gütersloh, 1983, S.10.6 Das Landgut war ein Besitz von Oberlins Grossvater mütterlicherseits, Rechtsprofessor Johann Heinrich
Feltz (1665-1727).7 Kurtz, Oberlin, S.16.
5
„vor allem aber das landwirtschaftliche Wissen [an], das die eigentliche
Basis schaffen sollte für all seine intensive Arbeit und sein
Experimentieren für die Landwirtschaft im Steintal.“8
Von seiner Mutter erhielt Oberlin seine Liebe für die zeitgenössische Literatur.
Allabendlich las sie ihren Kindern vorzugsweise aus den Werken Gellert’s und
Kloppstock’s vor. Oberlin profitierte zeitlebens von seiner umfangreichen
Erziehung, die er erhalten hatte. Er konnte später viele der Erkenntnisse seiner
Kindheit und Jugend an die Steintal Bevölkerung weitergeben.9
Über Oberlins Kindheit weiss man in der Forschung nicht viel. Es lassen sich
allenfalls einige legendenhafte Geschichten erzählen10. Im Hause Oberlin
herrschte militärischer Drill. Oberlin gewann dadurch grosses Interesse am
Soldatenwesen. Er schlug zwar eine akademische Laufbahn ein, behielt aber
zeitlebens die Begeisterung für das Militär. Er beschreibt sich selber als beinahe
Achtzigjähriger:
„Ich bin ein wahrer Soldat, allein ich war es mehr noch, ehe meine
Körperkraft so sehr geschwächt ward; […]. Ich bin der grösste
Bewunderer militärischer Ordnung und Subordination.“11
Ihn faszinierte nun aber nicht das ‘Soldatenhandwerk’, vielmehr wollte er
Tugenden fördern, die „den Feigen zum Mute und den Unordentlichen zur
Pünktlichkeit antreibt.“12 Mit sich selbst war Oberlin sehr streng. Er lebte äußerst
asketisch13 und versuchte so, das Beste aus seinem Leben herauszuholen.
8 Ebenda.9 Interessanterweise liess seine Gemeinde auf Oberlins Grab ein einfaches Eisenkreuz mit der Aufschrift,
„Papa Oberlin“, anbringen, als Zeichen für den Stellenwert und die Autorität, die Oberlin als Pfarrer im
Steintal eingenommen hatte. 10 Diese legendenhaften Geschichten haben dazu geführt, dass die Person Oberlin mit einem
Heiligennimbus belegt wurde, was eine einigermassen objektive historische Betrachtung aus zweiter Hand,
sprich mittels Biographien, erschwert hat, wenn nicht sogar unmöglich machten.11 Burckhardt W., Johann Friedrich Oberlin Pfarrer im Steintal, vollständige Lebensgeschichte und
gesammelte Schriften. Herausgegeben von Dr. Hilpert, Stöber und Anderen. Mit Berücksichtigung aller
Hülfsmittel zusammengestellt und übertragen von W. Burckhardt, Pfarrer. Stuttgart 1843, 4 Bände.; BI:
Übersetzung eines Werkes von Sarah Atkins, Memoirs of J. F. Oberlin, London 1829, S.210.12 Ebenda.13 Oberlin hat die strengen Regeln, denen er sich unterwarf, in seinen Tagebüchern aufgezeichnet. Kurtz
schreibt dazu:
6
Von 1755 bis 1761 studierte Oberlin an der Universität in Strassburg. Seinem
Studium schlossen sich fünf Jahre Hauslehrertätigkeit bei dem Strassburger Arzt
Ziegenhagen an.14 Nach Abschluss dieses wichtigen Lebensabschnittes, lernte
Oberlin durch seine Mutter den Steintaler Pfarrer Stuber kennen. Nach einer
zweiten Begegnung machte Stuber Oberlin den Vorschlag, sein Amtsnachfolger
in Waldersbach im Steintal zu werden.15 Nach einigem Hin und Her sagte Oberlin
zu. Im Jahr 1767 wurde Oberlin zum Pfarrer des Steintals ernannt. Oberlin behielt
diese Stelle durch die Wirren der Französischen Revolution hindurch bis zu
seinem Tod im Jahr 1826.
Die Theologie
Die Bibel war für Oberlin Grundlage aller Veränderungen, die er bezweckte.
Häufig legte er Texte aus den fünf Büchern Mose aus.
Oberlin lässt sich nicht klar in eine der vielen theologischen Richtungen seiner
Zeit einordnen. Er holte sich aus den unterschiedlichsten Lehren seine Impulse.
Er war ein Grenzgänger. Man muss, um ihn einigermassen in seiner Theologie
beschreiben zu können, seine geistige Entwicklung nachzeichnen. In Oberlins
Familie pflegte man schon seit mehreren Generationen die lutherische
Frömmigkeit. Oberlins Eltern fühlten sich aber auch mit den Pietisten16
verbunden.
Oberlin selbst setzte sich während seiner Zeit als Student in Strassburg mit dem
Pietismus auseinander. Er wurde regelmässiger Besucher einer Bibelstunde, die
sich um die Bibel und die Schriften Zinzendorfs versammelte. Eine der Leiter
dieser Bibelstunde, J. S. Lorenz, Strassburger Prediger, inspirierte Oberlin sehr
„Es ist bezeugt, dass Oberlin tatsächlich nach diesen strengen Regeln gelebt hat: Er ass nur
zweimal am Tag, eine richtige Mahlzeit zur Mittagszeit (obwohl meist ohne Fleisch und Wein)
und abends Brot und Wasser; er erlaubte sich nur wenige Stunden Schlaf und wies mit
puritanischer Strenge sein Leben lang ‘Versuchungen des Fleisches’ zurück.“
Kurtz, Oberlin S. 24. Vgl. auch Psczolla, Oberlin I S.35ff.14 Hier lernte Oberlin wichtige Grundlagen der Medizin. Kurtz berichtet sogar von einfachen chirurgischen
Handgriffen, wie zum Beispiel der Aderlass, die Oberlin unter Aufsicht Ziegenhagens erlernte. Ebenda,
S.26. 15 Stuber konnte aus gesundheitlichen Gründen sein Amt im Steintal nicht länger ausüben. 16 Siehe Definition in Anmerkung 5.
7
stark. Kurtz behauptet sogar, Lorenz habe von allen seinen Lehrern den stärksten
Einfluss auf Oberlin gehabt - „in seinem theologischen Denken wie in seiner Art
zu predigen.“17 In diesem Zusammenhang betonen die meisten Oberlinbiographen
die Wichtigkeit von Oberlins „Erneuerung seines Taufbundes“18, einer schriftlich
verfassten Erklärung der völligen Auslieferung seines Lebens an Gott. Er schrieb
diese Erklärung am 1. Januar 1760. Oberlin hat dieses Schriftstück dreimal mit
Randbemerkungen versehen: Im Jahre 1765, 1770 und gegen Ende seines Lebens,
im Jahr 1822 mit dem Ausruf: „Herr erbarme Dich.“19
Oberlin aufgrund dieser Prägung und seiner „Weihe“ als Pietisten zu bezeichnen
greift zu kurz20, allenfalls im Sinne eines Sozialreformers wie der Hallenser
Francke. Oberlins ganzer Einsatz richtete sich auf die Reform der Zustände im
Steintal. Trotz dieser Weltzugewandtheit redet Oberlin häufig vom Tod. Ja, ihn
trieb bereits in jungen Jahren eine tiefe Todessehnsucht, verstärkt durch den
frühen Tod seiner Frau Magdalena im Jahr 1783.21 Nur vorsichtig nähern sich
seine Biographen Oberlins mystischer Ader. Er berichtete beispielsweise 84-
jährig, dass ihm neun Jahre lang beinahe jeden Tag seine verstorbene Frau
erschienen war.22 Daneben berichtete er auch von Himmelsvisionen, die ihm
widerfahren seien. Er zeichnete Bilder dieser Himmelsvorstellungen und
entwickelte richtiggehende ‘Himmelssysteme’.23 Mit seinen Himmelsvisionen und
überhaupt mit seiner mystischen Ader war Oberlin ganz Kind seiner Zeit und
17 Kurtz, Oberlin, S. 19f.18 Psczolla bezeichnet dieses wichtige Ereignis im Leben Oberlins mit lutherischer Typologie als
„Erneuerung des Taufbundes“, Oberlin I, S.35ff., Kurtz bezeichnete es als „Gottesweihe“ und verweist auf
das Buch des Engländers Doddridge: Rise and Progress of Religion in the Soul „- das [...]empfahl, dass
jeder ernsthafte Gläubige seinen Entschluss, Gott zu dienen, auf diese Art in einer schriftlichen Erklärung
bekräftigen solle.“ Kurtz, Oberlin, S.21-24.19 Ebenda, S.23.20 Sein geistiger Horizont war sehr weit. Z.B. hat sich Oberlin zeitlebens auch zur Katholischen Kirche
hingezogen gefühlt. Seine ökumenische Gesinnung wurde bei seiner Beerdigung von Dr. Bedel, dem
katholischen Bezirksarzt aus der Nachbargemeinde durch eine Rede am Grab gewürdigt. Siehe Kurtz,
Oberlin, S. 256 und Psczolla Erich, Oberlin II, S.12f.21 Vgl. Kurtz, S. 155-160.22 Vgl. Ebenda, S. 176 und Psczolla, Oberlin I, S.126.23 Kurtz, S.165f.
8
befand sich in Gesellschaft der Theosophen Swedenborg, Lavater, Jung-Stilling,
Oetinger Böhme und vieler anderer.
Die Pädagogik
Die pädagogischen Konzepte seiner Zeit waren Oberlin vertraut. Er verfügte über
umfassende Kenntnisse der zeitgenössischen Pädagogik.
„In seiner Bibliothek befanden sich auch Werke von Pestaozzi, Campe,
Basedow, von August Hermann Francke und auch das Buch des
Herrnhuter Pädagogen Paul Eugenius Layritz […].“24
Pszcolla betont aber zurecht, dass man Oberlins Engagement in dem Bereich nicht
vorschnell in eine Zeitströmung einordnen kann.
„Es war nicht nur die von Rousseau ins öffentliche Bewusstsein gebrachte
Erkenntnis von der Eigenständigkeit kindlichen Wesens, es war nicht nur
der pädagogische Optimismus der Aufklärung, nicht nur der
Philanthropinismus, es war nicht nur die pietistische Sorge um die
Kinderseele, […].“25
Es zeigt sich wieder, dass ein Einordnen Oberlins in eine der jeweiligen
Zeitströmungen, weder ihm noch seinem Wirken gerecht wird.
Oberlin selbst hat keine eigene Pädagogik geschrieben. In vielen seiner Briefe
erfahren wir aber Grundlegendes zu seinen Erziehungsmethoden. Oberlin war ein
Mann der Tat. Seine Pädagogik entwickelte er nach und nach aus der
Notwendigkeit, seiner Gemeinde aus der sozialen Misere herauszuhelfen. Die
Bibel war die Richtschnur. Psczolla erwähnt, wie Oberlin seinen eigenen
pädagogischen Ansatz begründet hatte. Er tat es in sechs Punkten:
„1. Gott hat die Gebote gegeben, darum sind sie zu befolgen.
2. Beispiele aus dem Alten Testament lassen uns Erfolg oder Misserfolg
der Erziehung erkennen.
3. Jesu Worte haben Gültigkeit. Jesus dient uns in seinen verschiedenen
Altersstufen als Vorbild (hier werden wir ein Fragezeichen setzen müssen,
da wir sehr wenig über die Altersstufen Jesu wissen).
24 Psczolla, Oberlin II, S.37.25 Psczolla, Oberlin I, S. 75.
9
5. Wenn wir bedenken, was Jesus für uns getan hat, erhalten wir Kraft und
Mut für unsere Erziehungsaufgabe.
6. Was in den Briefen des Neuen Testamentes gesagt ist, verdient grösste
Beachtung.“26
E. Hoffmann weist darauf hin, dass Pestalozzi in seinem pädagogischen Werk
womöglich unter dem Einfluss von Oberlin stand.27 Oberlin liess sich von August
Hermann Francke inspirieren, zum Beispiel war der „Anschauungsunterricht“28
nach dem Vorbild der Franck’schen Stiftungen in Halle eingerichtet worden. Er
diente dazu, dass die Schüler nicht nur theoretisch lernten, sondern sich in ihrem
Lernen auch mit der Natur auseinandersetzten.29
Aufgabenfeld im Steintal
Oberlins Tätigkeiten im Steintal umfassten nicht nur die für einen Geistlichen
typischen Aufgaben. Er erfuhr eine umfassende Erziehung, die er in seiner
Gemeinde einsetzte. Seine Reformarbeit im Steintal muss daher auch als
Erziehungsaufgabe verstanden werden. Oberlin betrieb auch
Erwachsenenbildung. Er arbeitete als Handwerker, Landwirt, Erfinder30, Arzt und
Pharmazeut, um nur einige Aufgabenfelder zu nennen.
Sein Hauptaugenmerk richtete er auf den Ausbau des Schulwesens. Davon
erhoffte er sich weitreichende Veränderungen im sozialen Gefüge des Steintals.
Die Kleinkinderschulen
Er war noch nicht lange im Pfarramt im Steintal tätig, da machte Oberlin einen
Rundgang durch seine Gemeinde. Das Elend der verwahrlosten Kleinkinder liess
ihn nicht wieder los.31 Bereits im ersten Jahr seiner Amtszeit nahm der Plan, einen
Kleinkinderhort einzurichten in Oberlins Gedanken Gestalt an.
26 Ebenda, S.39.27 Hoffmann E., Oberlin und Pestalozzi, Ev. Kinderpflege, Witten 1954, S.94ff.28 Kurtz, Oberlin, S.79.29 Oberlin startete zu diesem Zweck Exkursionen in die Natur, um Tiere zu beobachten und Pflanzen und
Gestein zu untersuchen. Die Schüler sollten schon in jungen Jahren einen Bezug zur Erde bekommen, die
sie ernährt.30 Er entwarf eine Druckerpresse, Kurtz, Oberlin S.143.31 Vgl. Heinsius, Wilhelm, Johann Friedrich Oberlin und das Steintal, Lahr, o. J., S.33.
10
Oberlin wollte Frauen für die Aufsicht über die Kleinen gewinnen. Im Jahr 1769
stellte sich Sara Banzet aus Bellefosse als Erste32 für diese Aufgabe zur
Verfügung. Sie verfügte über gute Strickkenntnisse und wollte den Kindern das
Stricken lehren.
Die Gründung der Kleinkinderschulen wird noch heute als „Sternstunde der
modernen Sozialarbeit“33 gefeiert. Kurtz betont, dass Oberlin der Erste gewesen
sei, der ein regelmässiges Programm für Kleinkinder ausserhalb des Elternhauses
und in Gruppen anbot.34 Sogar Theodor Fliedner soll in London ein nach dem
Oberlin’schen Muster aufgebauten Kindergarten besichtigt haben und sich von
diesem für sein eigenes Werk inspiriert haben lassen.35
Die Kinder gingen im Alter von drei oder vier Jahren zur Kleinkinderschule.36
Die Unterrichtszeit umfasste 12 bis 16 Stunden in der Woche, auf vier Tage
aufgeteilt. Gelehrt wurden Lesen, Schönschreiben, Kopfrechnen, Singen und
Auswendiglernen von Liedern und Bibelsprüchen, Naturgeschichte und biblische
Geschichten. Anfang- und Schlusspunkt des Unterrichts wurden durch ein Gebet
gesetzt.
In allem Gelehrten fand gleichzeitig Spracherziehung statt. Oberlin wollte, dass
schon die Kleinsten begannen französisch zu lernen. Der für einen Franzosen nur
schwer verständliche Dialekt Patois sollte so aus dem Steintal verschwinden. Er
war mit dafür verantwortlich gewesen, dass das Tal zunehmend von der
Aussenwelt abgeschnitten worden war. Mit sechs beziehungsweise sieben Jahren
wechselten die Kinder in die normale Schule.
Als Lehrer konnte Oberlin sehr streng auftreten. Johann Georg Stuber, Oberlins
Vorgänger als Pfarrer im Steintal schrieb an den frischgebackenen Pfarrer Oberlin
32 Oberlin eröffnete damit Frauen den Weg in das freie und öffentliche Berufsfeld, für jene Zeit eine
revolutionäre Neuerung.33 Schering E, Sternstunde der Sozialpädagogik, Johann Friedrich Oberlin, Gründer der ersten Kindergärten
und Wegbereiter der Inneren Mission, Bielefeld 1959, S.18. Zitiert. In: Pszcolla, Oberlin I, S.75.34 vgl. Kurtz, S.53.35 Siehe Ringwald A., Johann Friedrich Oberlin Der Gärtner Gottes im Steintal, Stuttgart 1951, S.16.36 Neben den Kleinkinderschulen gab es auch Strickschulen. Die hatten an zwei Tagen in der Woche
geöffnet. Kleine und grössere Kinder konnten hier Stricken lernen aber nicht nur das. Auf dem ‘Lehrplan’
standen weiterhin Naturgeschichte, Geographie, Rechnen, Pflanzenkunde und Gartenbau.
11
aus Sorge, Oberlin würde seine Gemeinde tyrannisch regieren: „‘Ach, er hütet
mir meine Herde mit einem Stab von Eisen.’“37
Im Steintal gab es vor Oberlins Dienstzeit schon Schulen. Bereits um das Jahr
1750 konnten ungefähr die Hälfte der Steintalbewohner lesen und schreiben.38
Stuber, Oberlins Vorgänger, leitete Reformen im Schulwesen ein. Oberlin baute
seine eigenen Reformen darauf auf.
Das Pensionat
Weit über das Steintal hinaus bekannt wurde das von Oberlin gegründete
Pensionat. Kinder aus wohlhabenden Familien lebten und lernten hier unter
Oberlins Obhut. Das Pensionsgeld besserte Oberlins „dürftige Haushaltskasse“39
auf. Im Internat herrschten klare Regeln. Hierüber wurde im Jahr 1779 ein
Pflichtenkatalog40 eingeführt. Darin wurden genaue Verhaltensregeln für das
tägliche Leben aufgeführt. So sollten die jungen Menschen das ‘gemeinsame
Leben’ einüben. Oberlin arbeitete für die Pensionszöglinge einen
Unterrichtsplan41 aus, der für damalige Verhältnisse eine grosse Bandbreite des
Lernstoffes vorsah.
Erwachsenenbildung
Vor allem in zwei Bereichen des Steintals galt es, Verbesserungen anzustreben:
1. Das Steintal litt unter seiner räumlichen Isolation. Das hatte im Lauf der Zeit
die Ausprägung eines eigenen Dialektes zur Folge, der zusätzlich zur Isolation
beitrug.
2. Das Steintal wurde regelmässig von Hungersnöten heimgesucht. Selbst bei
optimaler Witterung reichten die Ernteerzeugnisse kaum aus, die Bevölkerung
hinreichend zu versorgen.
Oberlins Plattform für seine sozialen Umwälzungen im Steintal war die Kanzel
am Sonntagmorgen im Gottesdienst. Von dort herab verkündete er seine
sozialreformerischen Ideen. Er verstand es, seine Zuhörer mitzureissen und sie zu
37 Kurtz W. J. , Oberlin, S.47.38 Vgl. Psczolla Erich Oberlin II, S. 45.39 Psczolla, Oberlin II, S.57.40 Ebenda S.58f. hat Psczolla die ‘Regeln’ in einem Auszug veröffentlicht.41 Ebenda S.59f.
12
begeistern. Hier nahmen viele Neuerungen ihren Anfang. Für einen lutherischen
Pfarrer, predigte er sehr wenig orthodox42 und mit grossem Gegenwartsbezug. Es
ging die Bevölkerung des Steintals direkt an. Er wusste sich, wie Psczolla
schreibt: „durch die biblische Botschaft zum Handeln aufgefordert und
gestärkt.“43 In seinen Predigten spielte die Notwendigkeit der Umkehr des
Einzelnen hin zu einem gottgefälligen Leben, die wichtigste Rolle. Oberlin
betonte sehr stark den geistlichen Aspekt von Arbeit an sich. Arbeit ist für
Oberlin geheiligt, „wenn sie aus Liebe zu Christus getan wird.“44 Konnte Oberlin,
wie bereits erwähnt, zu Beginn seines Dienstes im Steintal sehr hart mit seiner
Gemeinde umgehen, so machten ihn die Jahre barmherziger.45
Oberlin packte in seinen Predigten das Leben von der praktischen Seite aus an. Es
ging ihm nicht darum, eine Lehre zu verkünden. Er wollte vielmehr im Geist des
Evangeliums das Steintal reformieren. Für alle anstehenden Arbeiten konnte er
allenfalls vorbildlich vorarbeiten46. Um tiefgreifende Veränderungen möglich zu
machen, brauchte Oberlin die breite Unterstützung und aktive Mithilfe der
Bevölkerung.
Den Hungersnöten geeignet zu begegnen, hiess, die Ernteerträge in Qualität und
Quantität zu steigern. Oberlin sah, dass er, als Städter, der dazu noch direkt von
der Universität kam, nicht über die entsprechende Autorität verfügte, die
42 Die Predigt eines Orthodoxen beschränkte sich meist auf das Entfalten einer dogmatisch gestalteten
Glaubenslehre. Im Falle der lutherischen Lehre, die Vorstellung von der ‘Rechtfertigung aus Gnaden’.43 Psczolla Erich, Oberlin I, S.69.44 Kurtz, Oberlin, S.111f.45 Kurtz berichtet über ein Schlüsselerlebnis in Oberlins Leben: die Nicolas-Affäre (S.89f.): Der
ortsbekannte ‘Säufer’ Nicolas hatte sich nach einer Predigt Oberlins, welche er sich im Wirtshaus erzählen
liess, öffentlich gegen Oberlins theologische Überzeugung gewendet. Oberlin hatte über die ‘ewige
Verdammnis’ gepredigt. Nicolas meinte dazu, dass sogar er seinem Sohn, wenn dieser ihn bäte, er ihm
jederzeit verzeihen würde. Wievielmehr tue das Gott. So könne doch nicht von einer ‘ewigen Höllenqual’
die Rede sein. Oberlin hörte von dieser nächtlichen ‘Kneipenpredigt’ und nahm sie zum Anlass über sein
Verständnis der Hölle neu nachzudenken. „Beim Nachdenken über diesen Vorfall [...], fasste Oberlin am
Ende den Beschluss, nie wieder in einer Predigt auf der ewigen Fortdauer der Höllenqualen zu bestehen.“
Kurtz, Oberlin, S.90.46 Oberlins Vorbild gab oft erst den Anstoss für eine neue Reform. Das Predigen allein reichte nicht aus.
Im Bezug auf das Strassenbauprojekt begannen die Arbeiten erst, nachdem Oberlin selbst Hand angelegt
hatte. Vgl. Ebenda, S.112.
13
Steintaler, die seit Generationen von der Landwirtschaft lebten, hierin zu
belehren. Er ging deshalb als Vorbild voran. Ein Feld hinter dem Pfarrhaus wurde
ihm zur Verfügung gestellt. Von hier aus begann er seinen
‘Anschauungsunterricht für Erwachsene’47. 48
Gegen die starke Isolation wurde ein umfassendes Strassenbauprogramm
gestartet, um das Steintal an die Umgegend besser anzuschliessen.49 Das
Programm beinhaltete auch einen Brückenbau. Oberlin versuchte zuerst die
Behörden für den Brückenbau zu gewinnen. Obwohl ein Mädchen beim
Überqueren des Flusses tödlich verunglückte, versagten die Behörden ihre
Mithilfe. Die Steintaler bauten also die Brücke alleine. „Es entstand die ‘Brücke
der Barmherzigkeit’, auch heute noch so genannt.“50 Die ‘Brücke der
Barmherzigkeit’ gilt als das Symbol für Oberlins Reformen im Steintal.
Oberlin musste die Leute oft erst zum Arbeiten ermuntern. In der Vergangenheit
hatte sie die Erfolglosigkeit der Arbeit resignieren lassen.
47 Vgl. Ebenda, S.116f.48 Der Boden des Steintals war sandig und daher eher unfruchtbar. Oberlin fing an zu düngen und das Land
zu bewässern. Er legte eine Dunggrube an, und beauftragte Kinder, kompostierbare Abfälle zu sammeln.
Oberlin trat dafür ein, die morastigen Gebiete trockenzulegen. Ein weiterer Schritt im Oberlinschen
Reformprogramm war die Veredelung von Früchten, die bereits im Steintal angebaut wurden. Die
Kartoffel war im Steintal ein verschmähtes Gemüse, bis in die Zeit Oberlins hinein. Er importierte
verschiedene ausländische Saatproben. Bei einer Schweizer Sorte wurde er fündig. Sie war sehr geeignet
für das Steintal. „Bald sollte es genug Kartoffeln geben, um die Steintaler zu ernähren, und schon nach
1780 konnten ganze Wagenladungen auf den neuen Wegen […] nach Strassburg geschafft werden.“ Kurtz,
Oberlin, S.118.
Als Oberlin erkannt hatte, dass er in der Kartoffel das geeignete Grundnahrungsmittel für das Steintal
gefunden hatte, begann er gegen ihr schlechtes Image anzukämpfen. Es gelang ihm, die Kartoffel zu
etablieren. Er leistete damit einen grossen Beitrag zur gesicherten Ernährung im Steintal. Auch in der
Viehwirtschaft wandelte sich das Steintal unter Oberlins Initiative.
Oberlin war der Meinung, dass im Steintal Obst gut gedeihen würde. Er richtete zu diesem Zweck eine
Baumschule ein. Im Jahr 1778 bündelte Oberlin seinen landwirtschaftliches Einsatz in der Gründung des
„Landwirtschaftlichen Verein[s] des Steintals“. Es sollte eine Hilfsorganisation für die Landwirte sein.
Interessant ist, dass selbst einem solch profanen Verein von Oberlin noch religiöse Bedeutung zugemessen
wurde. Vgl. Oberlins Sichtweise von Arbeit, oben erwähnt. 49 Vgl. Benoit, Jean-Paul, Brücke der Barmherzigkeit, Das Leben Johann Friedrich Oberlins, Berlin 1978³,
S.99-107.50 Pszcolla, Oberlin I, S. 74.
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Bei Oberlin aber herrschte Aufbruchstimmung. Für die langen Wintermonate, in
denen der Landwirt zur Untätigkeit ‘verurteilt’ ist, führte Oberlin Arbeiten im
Haus ein, zum Beispiel am Webstuhl.
Oberlin förderte aber nicht nur die körperliche Arbeit. Genau wie bei der
Erziehung der Kinder legte er Wert auf eine umfassende Bildung und Aufklärung
der Erwachsenen. Zu diesem Zweck trug Oberlin Bücher der unterschiedlichen
Themen zu einer Leihbibliothek zusammen, in der die Steintaler sich Bücher
leihen konnten.
Daneben stellte Oberlin selbst einen Almanach zusammen. Er erschien jährlich
und wurde an alle Haushalte verteilt. Der Almanach umfasste Nützliches, wie die
Wetterregel und Unterhaltsames, Erbauliches wie Gedichte, Geschichten und
Berichte aus fremden Ländern. Er informierte auch über Sternenkunde. Er
erklärte die nationalen Gedenktage und gab Auskunft über Landwirtschaft,
Viehzucht, Gesundheitsfragen, Körperpflege und anderes mehr. 51
Bei den meisten Neuerungen hatte der Pfarrer am Anfang gegen den Widerstand
der Steintaler zu kämpfen.52 Oft griff Oberlin mit seinen Neuheiten alte
Gewohnheiten an.53
Es würde bei weitem den Rahmen einer solchen Arbeit sprengen, wollte man auf
alle Reformen eingehen die Oberlin im Steintal initiierte. Das Steintal hat sich in
seinem äusseren Erscheinungsbild während der Dienstzeit Oberlins grundlegend
verändert. Die psychische Verfassung der Steintaler war eine andere Geworden.
Die Resignation der Menschen vormals Markenzeichen des Steintals musste der
Innovation und dem Lebenswillen weichen. Die Bewohner verfügten, im
Vergleich mit strukturell ähnlichen Gebieten wie dem Steintal, über einen sehr
weitgefächerten Bildungsstand und über herausragende landwirtschaftliche und
ökonomische Fähigkeiten.
51 Kurtz, Oberlin, S. 194.52 Wie bereits am Anfang erwähnt, berichtet vor allem die ältere Oberlin-Literatur sehr einseitig. Sie hebt
die Leistungen Oberlins, in dem sie die Steintaler beinahe als Barbaren, faule Nichtstuer darstellt.53 Vgl Oberlins Initiative zum gemeinsamen Brotbacken in einem Backhaus. Kurtz, Oberlin, S. 123f.
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Oberlins Einfluss
Über seinen Tod hinaus hat Oberlin Einfluss weit über das Elsass hinaus. Durch
Oberlins Verbindungen mit der ‘Britischen und Ausländischen Bibelgesellschaft’
ist sein Name bis nach Amerika vorgedrungen.
Kurtz schreibt:
„Sechs Jahre nach Oberlins Tod, 1833, wurde in Ohio die Stadt Oberlin und das
Oberlin-College54 gegründet […].“55 56 Die Satzung, die für die neugegründete
Stadt und das Colleg erlassen wurden, richtete sich streng nach den Richtlinien,
die Oberlin für das Steintal formuliert hatte. In Europa wird der Name
hauptsächlich mit neugegründeten Erziehungsstätten in Verbindung gebracht.
Schluss
Zusammenfassung:
Wie originell waren nun die Gedanken Oberlins und wie originell die von ihm
initiierten Reformen?
Oberlin lebte in einer Zeit, in der die ganzen Lebensverhältnisse umzustürzen
drohten. Es war eine Zeit von grossen Veränderungen. Oberlin war nicht so sehr
der Denker, der beispielsweise über neue Gesellschaftsformen nachdachte, als der
Pragmatiker, der Mann für die Tat.
Er war an umfassender Bildung interessiert, deshalb befand er sich im Kontakt
mit erstaunlich vielen geistigen Grössen der Zeit. Von ihren geistigen Ideen liess
er sich gerne beeinflussen. Er war ganz ‘Kind seiner Zeit’, ohne sich jedoch sehr
stark auf eine bestimmte Zeitströmung festlegen zu lassen. Die Ideen als solches
interessierten Oberlin nur dann wirklich, wenn er sie im praktischen Leben
umsetzten konnte, das hiess im harten Alltag des Steintals, im Kampf gegen den
54 Das Colleg wurde im 20. Jahrhundert zu einer geisteswissenschaftlichen Hochschule ausgebaut. 55 Kurtz, Oberlin, S. 238.56 Bemerkenswert ist auch, dass laut Klappentext von Kurtz, Oberlin, John W. Kurtz selbst einen Lehrstuhl
am Oberlin-Colleg der Stadt Oberlin in Ohio/ USA inne hat.
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Hunger. Man kann also sehen, dass die Gedanken Oberlins alles andere als
originell waren.
Seine daraus resultierenden Reformen sind in ihrer Zusammensetzung und ihrem
Ausmaß, ihrer Breitenwirkung sicher einmalig. Gerade im Bereich des
Schulwesens setzt Oberlin als einer der Ersten und mit am konsequentesten die
pädagogischen Gedanken seiner Zeit in die Tat um.
In einem zweiten Fragekomplex geht es um Oberlin als Person. Wie muss ein
Mensch physisch und psychisch gestaltet sein, um eine solche Arbeitsleistung wie
die Reform des Steintals zu vollbringen?
Oberlin verfügte über ausserordentliche handwerkliche Fähigkeiten, die er sich als
Grundstock sicher schon in seiner Kindheit und Jugendzeit angeeignet hatte. Für
die fortschreitende Reform im Steintal musste er immer etwas Neues dazu lernen.
Das verlangte geradezu nach einem asketischen Lebenswandel, einer genauen
Zeiteinteilung und einer guten gesundheitlichen Konstitution. Das Jenseits spielte
in Oberlins Theologie und Vorstellungswelt eine grosse Rolle. Aber in ihren
Auswirkungen musste seine Theologie hier und heute für das Steintal seine
Relevanz haben. Oberlin brauchte Mut, um immer wieder Reformen auch bei
Skepsis und Resignation der Steintaler durchzuführen. Er hatte Hoffnung, hatte
eine ‘Vision’ für seine Gemeinde.
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Literaturliste:
Baum Johann Wilhelm, Johann Georg Stuber, der Vorgänger Oberlins im
Steintal und Vorkämpfer einer neuen Zeit in Strassburg, Strassburg 1846
Benoit, Jean-Paul, Brücke der Barmherzigkeit, Das Leben Johann Friedrich
Oberlins, Berlin 1978³
Burckhardt W., Johann Friedrich Oberlin Pfarrer im Steintal, vollständige
Lebensgeschichte und gesammelte Schriften. Herausgegeben von Dr. Hilpert,
Stöber und Anderen. Mit Berücksichtigung aller Hülfsmittel zusammengestellt
und übertragen von W. Burckhardt, Pfarrer. Stuttgart 1843, 4 Bände.; BI:
Übersetzung eines Werkes von Sarah Atkins, Memoirs of J. F. Oberlin,
London 1829
Das Bertelsmann Lexikon in zehn Bänden, Band 8, Gütersloh, 1983
Deutsches Wörterbuch. Gütersloh 1997
Heinsius, Wilhelm, Johann Friedrich Oberlin und das Steintal, Lahr, o. J
Hoffmann E., Oberlin und Pestalozzi, Ev. Kinderpflege, Witten 1954
Kurtz W. John, Johann Friedrich Oberlin, Sein Leben und Wirken, 1740-1826,
Metzingen, 1982
Psczolla Erich, Aus dem Leben des Steintalpfarrers Oberlin, Lahr-Dinglingen
1987
Psczolla Erich, Louise Scheppler, Mitarbeiterin Oberlins, Witten 1963
Psczolla Erich, Johann Friedrich Oberlin 1740-1826, Gütersloh 1979
Ringwald A., Johann Friedrich Oberlin Der Gärtner Gottes im Steintal,
18
Stuttgart 1951
Schering E, Sternstunde der Sozialpädagogik, Johann Friedrich Oberlin,
Gründer der ersten Kindergärten und Wegbereiter der Inneren Mission,
Bielefeld 1959
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