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Jonas Helbig Der Opportunist

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Jonas Helbig

Der Opportunist

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Jonas Helbig

Der Opportunist

Eine Genealogie

Wilhelm Fink

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Diese Arbeit wurde im Jahr 2014 an der Albert-Ludwigs-UniversitätFreiburg als Dissertationsschrift eingereicht und von dieser angenommen.

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Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn

ISBN 978-3-7705-5931-2

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Für Ute und Heinz Helbig

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Danksagung

ag das Schreiben eines Buches meist auch eine einsame Angele-genheit sein, so kommt man dabei doch nie ohne die Unter-

stützung anderer aus. Dafür möchte ich mich bedanken. Zunächsteinmal bei meiner Frau Rosemary für ihre von mir nicht selten stra-pazierte Geduld sowie für die vielen anregenden Gespräche und Dis-kussionen. Weiterhin bei meinen Eltern, denen ich dieses Buch wid-me.Besonderer Dank gilt außerdem Ulrich Bröckling, der mich nicht nurdarin bestärkte, eine Dissertation zu verfassen, sondern der diese auchimmer mit genügend Zeit und klugem Ratschlag betreute. Ebensobin ich Julia Schumbrutzki zu besonderem Dank verpflichtet, dievom ersten Kapitelentwurf bis zum fertigen Manuskript unzähligeStunden mit Korrekturlesen verbracht hat.Nicht zuletzt danke ich dem an der Martin-Luther-Universität inHalle-Wittenberg angesiedelten Landesforschungsschwerpunkt »Auf-klärung – Religion – Wissen« für ein großzügiges Arbeitsstipendiumsowie der Wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg im Breisgau fürdie Bezuschussung des Buchdruckes.

M

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Inhalt

Einleitung: Kairos......................................................................... 11

Kapitel I:Gelegenheit Macht Diebe.

Opportunismus in Kriminologie und Strafrecht

1. Georg Wachs ............................................................................ 312. Der Gelegenheitsverbrecher ...................................................... 402. 2.1 Contra naturam sui generis?................................................ 482. 2.2 Dutzendmensch.................................................................. 673. Minima non curat praetor......................................................... 942. 3.1 Zweckgedanken im Strafrecht............................................ 1092. 3.2 Das Opportunitätsprinzip.................................................. 1304. Doppelter Opportunismus oder Macht als Möglichkeit ........... 149

Kapitel II:Land of Opportunity. Opportunismus in der Ökonomie

1. Listige Interessen ..................................................................... 1612. Good Governance Against Bad Opportunists .......................... 1843. Entrepreneurial Opportunities................................................. 206

Kapitel III:Die Fahne nach dem Wind. Opportunismus und Politik

1. Ein Neologismus ..................................................................... 2232. ›Man muß also ein Fuchs sein‹ ................................................. 2303. Das Endziel des Sozialismus..................................................... 255

Schluss: Jenseits von Wert und Zweck ......................................... 287

Literatur ...................................................................................... 311

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Einleitung: KairosEINLEITUNG: KAIROS

EINLEITUNG: KAIROS

seudomonas aeruginosa ist ein Opportunist. Zumindest greifenaufldiese Bezeichnung Mediziner zurück, wenn es ihnen darum

geht, ein stäbchenförmiges, etwa 2-4 µm langes Bakterium zu cha-rakterisieren.1 Pseudomonas aeruginosa kommt überall vor, ist ubiqui-tär. Als Gründe hierfür werden gemeinhin seine hohe Widerstandsfä-higkeit, seine geringen Nährstoffansprüche sowie daraus folgend seinehohe Adaptabilität an verschiedenste Umwelten angegeben. FeuchteStand-orte bevorzugend, gedeiht Pseudomonas aeruginosa in Bödengenauso wie im Wasser, in kalten alpinen Bächen genauso wie imLeitungswasser, auf Pflanzen und Früchten genauso wie im Dickdarmvon gesunden Menschen. Das Bakterium findet gleichermaßen einReservoir im häuslichen Umfeld wie in Krankenhäusern und Ambu-lanzen, kann auf Zahnbürsten, Abwaschschwämmen, in Duschen,Spülmaschinen, dem Innenmaterial von Turnschuhen oder der Auf-bewahrungsflüssigkeit von Kontaktlinsen wie in Beatmungs- und In-halationsgeräten, Luftbefeuchtungs- und Klimaanlagen von Intensiv-stationen oder kontaminierten Infusionslösungen und Blutkonservenausgemacht werden.

Besondere Aufmerksamkeit erfährt Pseudomonas aeruginosa im kli-nisch-ambulanten Kontext. Hier prosperiert das Bakterium nicht nurprächtig, sondern es agiert zugleich auch als einer der häufigsten Er-reger nosokomialer, das heißt im klinischen Bereich eingeholter In-fektionen. Neben dem Respirationstrakt beginnt Pseudomonas aeru-ginosa mit seiner Kolonisierung häufig an feuchten Hautstellen, kön-

01 Vgl. zur Benennung des Bakteriums als Opportunisten exemplarisch Fick, Robert

B. (Hg.), Pseudomonas aeruginosa the opportunist : pathogenesis and disease, BocaRaton 1993. Alle im weiteren getroffenen medizinischen Aussagen zu Pseudomonasaeruginosa orientieren sich an Ficks Vorwort und Einleitung zu dem von ihm her-ausgegebenen Sammelband sowie außerdem an Anonym, »Wichtige Erreger inKlinik und Praxis. Pseudomonas aeruginosa«, in: Zeitschrift für Chemotherapie 29(2008), S. 23 und Späth, Isabel, Art. »Pseudomonas«, in: Gholamreza Darai u.a.(Hg.), Lexikon der Infektionskrankheiten des Menschen, Berlin/Heidelberg 2009, S.683–685.

P

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EINLEITUNG: KAIROS12

nen seine Infektionen markant an einer starken, blau-grünfarbigenWundeiterbildung sowie einem faulig-verwesenden Geruch erkanntwerden. Gegen diverse Desinfektionsmittel und Antibiotika resistent,finden sich die meisten nosokomialen Fälle von Pseudomonas aeru-ginosa-Infektionen im Intensivpflegebereich, auf Verbrennungsstatio-nen und auf hämatologisch-onkologischen Stationen. Im außerklini-schen Bereich reicht das Spektrum von beispielsweise durch Mikro-verletzungen der Hornhaut verursachten ophthalmologischen, sprichdas Auge betreffenden, Infektionen über meist im äußeren Gehör-gang auftretende, bei Diabetikern eventuell sogar den Schädelkno-chen penetrierende Infektionen des Ohres bis hin zu Pneumonienoder Osteomyelitis, das heißt infektiösen, etwa durch ein Baga-telltrauma (wie eine Prellung der Fußsohle) ausgelösten Entzündun-gen der Knochen und Gelenke. Ausgesprochen häufig kommen In-fektionen mit Pseudomonas aeruginosa im außerklinischen Bereich beiMukoviszidose- und AIDS-Patienten vor.

Allen genannten Infektionen gemein ist, dass sie in der Regel beieinem immungeschwächten Wirt auftreten. Die Immunschwächungdient Pseudomonas aeruginosa als die günstige Gelegenheit, als dervorteilhafte Augenblick, um mit seiner Kolonisierung zu beginnen.Der Erreger entfaltet seine Kräfte, wenn die des Wirts geschwächtsind. Er nutzt seine als exzellent geltende Angepasstheit an die Um-welt, seine ubiquitäre Präsenz, um im richtigen Moment ein kom-promittiertes organisches System, einen geschwächten Körper zu be-siedeln. Seine Stärke steht in Relation zu der des Wirts, verhält sichihr gegenüber umgekehrt proportional. Hat der Keim die Gelegen-heit erst einmal wahrgenommen, verursacht er nicht selten schwere,rasch tödlich endende Erkrankungen. Etwa weist eine Pseudomonas-Sepsis mit die höchste Letalität unter allen Sepsisformen, unter allenauch als Blutvergiftung bekannten Formen systemischer Entzün-dungsreaktionen auf. In jedem Fall sind die Mittel gegen Pseudomo-nas aeruginosa begrenzt. Weder kann man den tödlichen Verlauf einerdurch den Keim ausgelösten Infektion immer verhindern, noch lassensich seine günstigen Gelegenheiten umfassend präventiv ausschalten,passt er doch gerade im nosokomial-ambulanten Bereich, also anOrten, die einer hochgradigen Hygiene unterliegen, immer wiederden richtigen Moment ab, um den Wirt aggressiv zu attackieren, umeine sich aufzeigende Schwachstelle zu seinem Vorteil zu nutzen.

Für Mediziner ist es genau jene Eigenschaft des Handelns in dergünstigen Gelegenheit, welche sie dazu veranlasst, Pseudomonas aeru-ginosa als Opportunisten zu bezeichnen. Allerdings erfährt keineswegs

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EINLEITUNG: KAIROS 13

bloß dieser spezielle Keim eine derartige Etikettierung. Neben ande-ren Bakterienarten fallen auch verschiedene Formen von Pilzen undViren unter das Label ›opportunistischer Erreger‹. Stets soll damitausgedrückt werden, dass sie in der günstigen, weil für sie vorteilhaf-ten Gelegenheit agieren. Und stets steht dabei ihr Opportunismus, sobetonen es jedenfalls einige Vertreter der Dermatologie, für eine Exi-stenzweise, die sich zwischen Parasitismus (von Parasit – der Tischge-nosse oder der Schmarotzer) und Kommensalismus (von Kommen-sale – der Tischgenosse) bewegt, also allgemein gesprochen zwischeneiner Ernährungsform, bei der ein Organismus auf Kosten und zumSchaden eines anderen lebt, und einer Ernährungsform, die zwarebenfalls auf Kosten eines Wirtsorganismus geht, bei der dieser abernicht geschädigt wird. Wie die Dermatologen unmittelbar ergänzen,trage der Opportunismus deshalb aber »weder eine positive noch einenegative Bedeutung«; stattdessen handele es sich bei ihm im Sprach-gebrauch der Medizin lediglich um »eine neutrale Beschreibung fürdie Existenzweise diverser infektiöser Agenten«.2

Im Bereich des Sozialen, auf dem Gebiet der Gesellschaft, also aufjenem Areal, das den Untersuchungsrahmen der vorliegenden Arbeitbildet, ist das anders. Auch hier tauchen an den verschiedensten Stel-len und meist in großer Zahl Agenten auf, die unter dem Etikett›Opportunist‹ firmieren. Und auch hier zählt als eines ihrer zentral-sten Merkmale das auf den eigenen Vorteil zielende Handeln in dergünstigen Gelegenheit, im richtigen Augenblick, im opportunenMoment. Anders als in der Medizin wird ein solches Verhalten hierjedoch zumeist moralisch verurteilt. Nicht selten in eine ausgeprägtePolemik eingebettet, verbirgt sich hinter dem Begriff des Opportu-nismus respektive der fast ausschließlich in der maskulinen Formverwendeten Kennzeichnung eines sozialen Agenten als Opportuni-sten ein Schimpfwort, eine pejorative Fremdzuschreibung. Opportu-nismus, verrät etwa eine populärwissenschaftliche, an der Optimie-rung von Lebenschancen interessierte Studie, wird »primär abwertendverwendet«, ist eine »pejorative Kennzeichnung« für die Handlungenvon Akteuren, die in der günstigen Gelegenheit (opportunity) »ihreneigenen Vorteil auf Kosten anderer« realisieren, ohne sich dabei umdie »moralische Gerechtfertigtkeit« zu sorgen.3 Eine andere Studie 02 Niewerth, M./Korting, H. C., »Candida albicans and the principle of opportun-

ism. An essay«, in: Mycoses 45 (2002), S. 253–258, hier: S. 254, eigene Überset-zung.

03 Morris, Donald, Opportunity: Optimizing Life’s Chances, Amherst/New York 2006,S. 168, 171, eigene Übersetzung.

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derselben Gattung charakterisiert den Opportunismus als einen anden »augenblicklichen Umständen« ausgerichteten, »weniger nachmoralischen Prinzipien« verfahrenden Modus der Realisierung despersönlichen Vorteils, der in der »Mitte des sozialen Lebens« zur»Normalität« gehört, und dessen Protagonisten ein Spektrum vom»Arschkriecher« über den machthungrigen Karrieristen bis hin zumSchurken, einem »von Grund auf schlechten Menschen«, abdecken.4

Aber auch einschlägige, wesentlich nüchterner daherkommende sozi-alwissenschaftliche Kompendien verbinden die von den Opportuni-sten wahrgenommenen günstigen Gelegenheiten mit Prinzipien- undGrundsatzlosigkeit, mit einer den geringsten Widerstand suchendenAnpassung an die jeweiligen Herrschafts- und Einflussverhältnissezugunsten persönlicher Vorteile oder ganz einfach nur mit einer ab-wertend verstandenen Zweckmäßigkeit.

Eine solche Negativbesetzung der günstigen Gelegenheit ist zu-nächst einmal mindestens überraschend, gilt der opportune Augen-blick doch bereits seit der Antike, genauer gesagt seit der Rede vom›Kairos‹ als etwas, das erhofft, begehrt, bewundert und gefeiert wird.So steht der Kairos typischerweise für den richtigen Zeitpunkt, füreinen entscheidenden Moment, für eine Stelle in Raum und Zeit, inder sich etwas Außerordentliches ereignet.5 Einer seiner geläufigstenetymologischen Ableitungen zufolge geht der Begriff auf das Fach-handwerk des Webens zurück und meinte ursprünglich die Öffnung,die beim Weben in jenem kurzen Moment entsteht, wo sich dieKettfäden heben beziehungsweise senken, um den Schussfaden oderauch Einschlag hindurchzutreiben. In der griechischen Mythologieerhielt der jüngste Sohn des Zeus den Namen Kairos, feierte man diegünstige Gelegenheit folglich als Gottheit in der Gestalt eines Jüng-lings und widmete diesem nach einem Bericht des Pausanias zahlrei-che Altäre in Olympia. Die antike griechische Dichtung und Philo-sophie identifizierte den Kairos nicht nur als einen gott- beziehungs-weise naturgegebenen Punkt in Raum und Zeit, der denjenigen, dieihn erkannten und nutzten, ein gelingendes Handeln versprach, son-

04 Silbermann, Alphons, Von der Kunst der Arschkriecherei, Berlin 1997, S. 58, 59,

66.05 Vgl. zum Kairos insbesondere Kerkhoff, Manfred, »Zum antiken Begriff des Kai-

ros«, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 27, 2 (1973), S. 256–274; ders./E.Amelung, Art. »Kairos«, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Phi-losophie, Bd. 4, Basel 1976, S. 667–669 sowie den mit einer umfangreichen Bi-bliographie ausgestatteten Sammelband Sipiora, Phillip/Baumlin, James S. (Hg.),Rhetoric and Kairos. Essays in History, Theory, and Praxis, New York 2002.

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dern unter anderem auch als einen Hinweis auf das ›richtige Maß‹oder die ›richtige Mitte‹, als ein ästhetisches wie ethisches Prinzip desNicht-zu-früh und Nicht-zu-spät, des Nicht-zu-viel und Nicht-zu-wenig. Bei einigen antiken Rhetorikern und allen voran bei dem So-phisten Gorgias avancierte der Kairos sogar zur konzeptionellenSchlüsselkategorie, verbarg sich hinter ihm eine ganz auf die Adaptionan die rhetorische Situation ausgerichtete Überredungstechnik. Mitder lateinischen Dichtung wandelte sich der Jüngling dann in eineFrau; aus Kairos wurde ›Occasio‹, aus dem Gott eine Göttin. Auch indieser Gestalt sollte die günstige Gelegenheit von der Antike über dieRenaissance bis in die Moderne, von den Disticha Catonis über Nic-colò Machiavelli bis hin zu Johann Wolfgang Goethe und HeinrichHeine immer wieder bewundernd thematisiert werden.6 An verschie-denen Stellen des alten und neuen Testaments auffindbar, nahm dieGelegenheit daneben stets auch eine bedeutende Stellung im Chri-stentum ein. Unter dem Namen Kairos rückte sie der so genannteReligiöse Sozialismus am Beginn des 20. Jahrhunderts sogar in denVordergrund theologischer Diskussionen. Hier verkörperte der Kai-ros vereinfacht gesagt ein in der Geschichte immer wieder zu beob-achtendes plötzliches Hereinbrechen des Göttlichen in die ebenfallsschon im antiken Griechenland als Gottheit zu findende und ihmdort gegenübergestellte Kategorie der regelmäßigen und messbarenZeit, des ›Chronos‹.7

Mit dem Opportunismus liegt nun seit etwa dem letzten Dritteldes 19. Jahrhunderts ein Begriff für einen Handlungsmodus vor, derauf genau jene strahlende, seit Jahrtausenden bewunderte Gelegenheitausgerichtet ist, und der diese Gelegenheitsfixierung in gewisser Hin-sicht sogar in seinem Namen führt. So wird Opportunismus etymo-logisch gewöhnlich aus den lateinischen Worten opportunitas (be-queme, günstige Lage, günstige, lockende Gelegenheit, günstigerUmstand oder Vorteil) und opportunus (bequem, geeignet, gelegen,günstig oder passend) abgeleitet, wobei Letzteres wiederum auf daslateinische ob portum zurückgehen soll, ein in der antiken Seefahrer-

06 Vgl. Rüdiger, Horst, »Göttin Gelegenheit – Gestaltwandel einer Allegorie«, in: Ar-

cadia 1, 2 (1966), S. 121–166.07 Jedenfalls deutet einer der bekanntesten Vertreter des Religiösen Sozialismus, Paul

Tillich, den Kairos auf diese Weise. Vgl. derselbe, Der Widerstreit von Raum undZeit. Schriften zur Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1963, insbesondere: S. 34–35,137–139. Für einen Überblick zur theologischen Kairos-Debatte siehe Christo-phersen, Alf, Kairos. Protestantische Zeitdeutungskämpfe in der Weimarer Republik,Tübingen 2008.

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sprache verwendeter Ausspruch, der so viel wie ›zum Hafen hin‹meinte und der auf einen günstigen, das heißt in Richtung des Ha-fens wehenden Wind hinwies. Obwohl der Opportunismus demnachwie wohl kaum ein anderer Handlungsbegriff vor ihm die günstigeGelegenheit explizit in seinen Lettern trägt und obwohl er deshalb ei-gentlich vor positiven Bedeutungen nur so überquellen müsste, fun-giert er faktisch seit seinem Auftauchen ganz im Gegensatz dazu alsein Schimpfwort, beschreibt er gewöhnlich eine scheinbar paradoxeHandlungssituation, in der die Realisierung der günstigen Gelegen-heit als ungünstig, unpassend und ungelegen, das Gelegenheitshan-deln also simultan als moralisch gut und moralisch schlecht markiertwird. Es ist genau jene Negativbesetzung der in der Regel positivkonnotierten und gerade in der Alltagskommunikation omnipräsen-ten günstigen Gelegenheit mithilfe des Opportunismusbegriffs, genaujene Funktion des Opportunismus als Schimpfwort, die das Interesseder vorliegenden Arbeit weckt. Als Frage formuliert: Warum handeltes sich beim Opportunismus, der auf einer ganz basalen Ebene ersteinmal nichts weiter als das Handeln in der günstigen Gelegenheitmeint, um eine moralisch getadelte Praxis, um ein Schimpfwort?

Bei der Suche nach möglichen Antworten auf diese Frage führt ei-ne erste Spur gleich noch einmal zur Etymologie der Begriffe Gele-genheit und Opportunismus, präziser noch, zu einer hier bisher un-terschlagenen Bedeutung von Kairos und opportunus. Wie verschie-dene, etwa bei Homer oder später bei Aischylos zu findende Verwen-dungen von Kairos belegen, konnte der Terminus auch auf einenverwundbaren oder tödlichen Punkt am Körper verweisen, auf eineÖffnung, von der her »man zum Leben selbst vordringen kann, umtötend zu treffen«.8 Einen ganz ähnlichen Sinngehalt trug mitunterauch das lateinische opportunus, indem es nach Auskunft einschlägigerWörterbücher bisweilen zur Benennung von durch feindliche An-griffe bedrohten Punkten, sowie damit zusammenhängend, von Zu-ständen des Ausgesetzt-Seins, der Bloßstellung oder Preisgabe diente.Berücksichtigt man diese semantischen Wurzeln des Opportunismusund vergegenwärtigt man sich gleichzeitig, dass es sich bei dem Be-griff normalerweise um eine pejorative Fremdzuschreibung handelt,dann lässt sich schlussfolgern, dass sein Gebrauch ein spezifisches Be-ziehungsverhältnis, eine bestimmte Relation impliziert: Die günstigenGelegenheiten der einen sind die verwundbaren Punkte der anderen.Die Kairoi der Opportunisten sind die Schwachstellen ihrer Gegen-

08 Kerkhoff 1973, S. 259.

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EINLEITUNG: KAIROS 17

über. Die opportunen Momente der als Opportunisten Beschimpftensind die Bloßstellungen der Schimpfenden. Doch wer sind auf demweiten Feld des Sozialen beziehungsweise der Gesellschaft die Be-schimpften und wer die Schimpfenden? Wo genau, von wem und ge-gen wen wird dort der Vorwurf des Opportunismus artikuliert? Wofindet sich dort das Pendant zu jenen Relationen, die im Bereich derMedizin (welche den Opportunismusbegriff vom Feld des Sozialenübernommen hat) durch die opportunistischen Erreger und die kom-promittierten Immunsysteme diverser Wirte bestimmt werden? Unterwelchen Bedingungen ist im Gesellschaftsbereich die Rede von Op-portunisten und welche Systeme, welche Körperschaften, welche Ak-teure sind dadurch bloßgestellt, bedroht, verletzt oder vielleicht sogartödlich getroffen? Eng mit diesen Fragen verbunden sind zwei weite-re, nämlich die nach der methodologischen Anlage und dem Aufbaudieser Studie.

Die vorliegende Arbeit weist sich in ihrem Untertitel als Genealo-gie aus. Damit folgt sie einem vor allem von Michel Foucault im An-schluss an Friedrich Nietzsche entwickelten historisch-genetischenAnalyseverfahren.9 An nur wenigen Stellen seines Werkes explizit be-handelt, zeichnet Foucault die Genealogie in seiner Antrittsvorlesungam Collège de France als eine Spielart der in weiten Teilen ebenfallsvon ihm formulierten Diskursanalyse. Unter Diskursen versteht erganz allgemein historisch gewordene, temporär stabilisierte und aus»Serien diskursiver Ereignisse« beziehungsweise aus Serien ähnlicherAussagen bestehende Bedeutungseinheiten, welche die gesellschaftli-che Wirklichkeit konstituieren, indem sie »systematisch die Gegen-stände bilden, von denen sie sprechen«.10 Was Foucault an solchenmaterialisierend wirkenden Diskursen besonders interessiert, sind de-ren Ordnungsmechanismen, das heißt diejenigen Prozesse und Ver-fahren, durch welche die Bedingungen und Grenzen des Sag- undMachbaren festgelegt werden. Genau hier operiert für ihn eine ge-nealogische Analyse. Sie zielt auf die »Serien der tatsächlichen For-

09 Siehe für eine ausführliche Beschäftigung mit diesem analytischen Zugang unter

anderem Saar, Martin, Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie des Subjektsnach Nietzsche und Foucault, Frankfurt/M./New York 2007 sowie den ein The-menheft zur Genealogie vorstellenden Einleitungstext Bevir, Mark, »What is Ge-nealogy?«, in: Journal of the Philosophy of History 2 (2008), S. 263–275.

10 Foucault, Michel, Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1973, S. 74. Einen der be-sten Überblicke über die Diskursanalyse bietet nach wie vor Sarasin, Philipp: »Ge-schichtswissenschaft und Diskursanalyse«, in: derselbe, Geschichtswissenschaft undDiskursanalyse, Frankfurt/M. 2003, S. 10–60.

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EINLEITUNG: KAIROS18

mierung des Diskurses« und somit vor allem auf die Untersuchungder, wie Foucault es in seiner Antrittsvorlesung nennt, »Affirmations-kraft« des Diskurses, eine Kraft, die jene auch als Positivitäten cha-rakterisierbaren Gegenstandbereiche etabliert, mithilfe derer dann»wahre oder falsche Sätze behauptet oder verneint werden können«und mit deren Analyse sich ein »glücklicher Positivismus« als das»Temperament der Genealogie« entpuppt.11 Worum die Genealogiefolglich kreist, ist eine Diskursanalyse der Regelmäßigkeiten, dasheißt eine Untersuchung des historischen Gewordenseins von positi-ven, seriell wiederholten und insofern regelmäßigen Aussagen, vonSerien ähnlicher diskursiver Ereignisse. Weniger abstrakt ausgedrückt,interessiert sich die genealogische Analyse für an die Historie gebun-dene Regelmäßigkeiten, die in Gestalt von Normen und Werten, vonEin- und Ausschlüssen, von Praktiken und Institutionen die Sinnein-heit Diskurs bilden.

Wenn die vorliegende Studie angibt, genealogisch zu arbeiten,dann geht es dabei zwar ebenfalls um jene Regelmäßigkeiten, aller-dings dort, wo deren (Re-)Produktion gestört wird. Foucault zufolgehandelt es sich bei Diskursen immer auch um »Zäsuren, die den Au-genblick zersplittern«, die ihn »in eine Vielzahl möglicher Positionenund Funktionen zerreißen« und somit aus einem eigentlich von Zu-fälligkeit und schier unbegrenzten Aussagemöglichkeiten bestimmtenEreignis ein diskursiv geordnetes, ein in verschiedene Bedeutungengesplittetes Ereignis machen.12 Nimmt man nun die Augenblicke, dieKairoi, die günstigen Gelegenheiten der Opportunisten genealogischin den Blick, so scheint man sich innerhalb der dafür infrage kom-menden Diskurse mit Punkten zu befassen, an denen dieses Ordnendes Augenblicks, diese Bedeutungszersplitterung, diese semantischeKontrolle des Ereignisses mithilfe von Positions- und Funktionszu-weisungen mindestens auf Schwierigkeiten stößt. Jedenfalls muss sicheine solche Vermutung erhärten, wenn man die Anmerkungen Ro-land Barthes’ zum Kairos mit einbezieht. Nach Barthes handelt essich beim Kairos, den er im Zuge seiner Vorlesung über das Neutrumthematisiert, um eine kontingente »Kraft«, die auf verschiedensteWeisen den Diskurs, genauer gesagt dessen durch einen »unerbittli-chen Binarismus« organisierte Paradigmen erschüttert: Er ist ein »dy-

11 Foucault, Michel, Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt/M. 1991 [1970], S. 44.12 Ebd., S. 37. Dieselbe teilende Wirkung hat der Diskurs nach Foucault auch auf

das Subjekt, neben dem Augenblick die zweite der beiden »kleinsten Einheiten, dieimmer anerkannt worden sind« (ebd.).

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EINLEITUNG: KAIROS 19

namisches Element, ein energiegeladener Augenblick«, welchem eine»Abwandlung der Zeitlichkeit des Diskurses«, eine »Unterwanderungdes Diskurses der Herrschaft«, ein »[p]erfektes Unterlaufen des Sy-stems«, eine momenthafte Außerkraftsetzung der binären (das heißtfür Barthes einer nach der Logik des »Das eine auswählen und dasandere zurückweisen« verfahrenden) Sinnproduktion des Diskurseskorrespondiert.13 Für eine Genealogie des Opportunismus bezie-hungsweise des Opportunisten – als der personalisierten, den Cha-rakter einer pejorativen Fremdzuschreibung pointierter zum Aus-druck bringenden und deshalb für den Titel der vorliegenden Studiegewählten Variante dieses Handlungsmodus – bedeutet das, wenigereine Diskursanalyse der Regelmäßigkeiten als vielmehr eine der Un-regelmäßigkeiten zu betreiben.14

Unberührt von der verstärkten Konzentration auf die Unregelmä-ßigkeiten, teilt die hier geplante Genealogie eine Vielzahl all jener Ei-genschaften, welche diesem historisch-genetischen Analyseverfahrenauch im Allgemeinen zugeschrieben werden. Entsprechend ordnet siesich erstens in die seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ent-standene Theorieströmung des Poststrukturalismus ein.15 Zwar kon-stituiert sich der Poststrukturalismus aus bisweilen ganz unterschied-lichen Ansätzen, gleichwohl basieren diese Ansätze auf ähnlichentheoretischen Prämissen. Das impliziert wiederum eine gewisse An-schlussfähigkeit untereinander, von der auch hier Gebrauch gemachtwird. Im Besonderen interessieren innerhalb des poststrukturalisti-schen Portfolios die Anschlüsse zur so genannten dekonstruktiven Sy-stemtheorie.16 Insofern diese unter anderem mit den Verbindungsli-nien zwischen der Foucaultschen Genealogie und der SystemtheorieNiklas Luhmanns beschäftigt ist, erlaubt ihre Berücksichtigung zu-nächst einmal den analytisch hilfreichen Zugriff auf den im Vergleich 13 Barthes, Roland, Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977-78, Frank-

furt/M. 2005, S. 33, 281, 282, 284–285.14 Siehe zum Gedanken einer Diskursanalyse der Unregelmäßigkeiten auch Helbig,

Jonas, »Schreibfehler. Zum Verhältnis von Diskurs und Austins performative«, in:Robert Feustel/Maximilian Schochow (Hg.), Zwischen Sprachspiel und Methode.Perspektiven der Diskursanalyse, Bielefeld 2010, S. 33–56, insbesondere S. 35–42.

15 Siehe dazu überblicksartig Moebius, Stephan/Reckwitz, Andreas, »Einleitung:Poststrukturalismus und Sozialwissenschaften: Eine Standortbestimmung«, in: die-selben (Hg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt/M. 2008, S. 7–23.

16 Vgl. Stäheli, Urs, Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von NiklasLuhmanns Systemtheorie, Weilerswist 2000 sowie derselbe, »Semantik und/oderDiskurs. ›Updating‹ Luhmann mit Foucault?«, in: kultuRRevolution. Zeitschrift fürangewandte Diskurstheorie 47 (2004), S. 14–19.

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EINLEITUNG: KAIROS20

zur Genealogie wesentlich ausdifferenzierteren und deutlich präzise-ren systemtheoretischen Begriffsapparat. Darüber hinaus sensibilisiertsie aber auch für das vor allem von ihr sichtbar gemachte Wechsel-spiel zwischen dem Einfluss von Diskursen auf die (Re-)Produktionvon über den einzelnen Diskurs hinausgehenden Strukturen (gemeintsind in erster Linie die mithilfe von Leitunterscheidungen bezie-hungsweise binären Codes operierenden gesellschaftlichen Funktions-systeme, wie etwa das Rechtssystem) einerseits und umgekehrt derWirkung eben dieser Strukturen auf die (Re-)Produktion von Dis-kursen andererseits. Der Bezug auf die dekonstruktive Systemtheorieermöglicht so gesehen einen breiteren Analyserahmen. Er erlaubt eszu untersuchen, ob und wenn ja, auf welche Weise sich der Oppor-tunismus in die Operationen von Funktionssystemen einmischt, obund wenn ja, auf welche Weise er einen Effekt auf deren Leitunter-scheidungen wie etwa Recht/Unrecht, zahlen/nicht zahlen, Regie-rung/Opposition oder wahr/falsch hat.

Analog zu allgemeinen Beschreibungen genealogischen Arbeitensagiert die vorliegende Studie zweitens als eine Analytik der Macht.Ganz grundsätzlich bringt dies mit sich, bei der Bearbeitung des Op-portunismus alle Aufmerksamkeit dem »Würfelspiel des Ereignisses«,das heißt verschiedensten, durch den »Zufall des Kampfes«, durch dasSpiel von Kräften geprägten Machtprozessen zu widmen, in denenEreignisse überhaupt erst diskursiv geformt, diese Formen aber zu-gleich wieder herausgefordert werden.17 Macht ist aus genealogischerPerspektive allgegenwärtig, wirkt sowohl produktiv als auch destruk-tiv. Einerseits stabilisiert sie diskursive Sinngebilde, andererseits sorgtsie für einen nur vorläufigen Charakter dieser Stabilisierungen, indemsie sich an deren Erschütterung, Verschiebung oder gar Zerstörungbeteiligt. Einerseits verweist sie auf Kräfte, die dem Diskurs, um es inden bereits zitierten Worten Barthes’ zu formulieren, zu seinem ›un-erbittlichen Binarismus‹ verhelfen, die also beispielsweise Positiv- vonNegativwerten, Kriminelle von Bürgern, anormal von normal, Gläu-bige von Ketzern, Gewinn von Verlust, gesund von krank oder weib-lich von männlich scheiden, die ein- und ausschließen, die normie-ren, subjektivieren und institutionalisieren. Andererseits verweist sieaber auch auf Kräfte, welche diese Binarismen, diese Differenzen, die-se Unterscheidungen unerbittlich angreifen und infrage stellen. Die

17 Foucault Michel, »Nietzsche, die Genealogie, die Historie« [1971], in: Walter

Seitter (Hg.), Von der Subversion des Wissens, Frankfurt/M. 1987, S. 69–90, hier S.80.

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EINLEITUNG: KAIROS 21

hier geplante Genealogie muss sich schwerpunktmäßig auf jene de-struktive Seite der Macht konzentrieren, rücken mit dem Opportu-nismus doch aller Voraussicht nach überwiegend solche Ereignisse insZentrum, bei denen die (Re-)Produktion des Diskurses gestört wird.Dabei muss sie aber genauso die produktive Seite im Auge behalten,und zwar nicht nur aufgrund des Umstandes, dass sich opportunisti-sche Störungen dann besser begreifen lassen, wenn man ein genaueresVerständnis von der gewöhnlichen Funktionsweise des Gestörten hat.Sie muss es auch deshalb, weil es sich beim Schimpfwort Opportu-nismus um eine Moralisierung und folglich um den Versuch handelt,über die Kennzeichnung opportunistischen Verhaltens als schlechteine von diesem Verhalten betroffene, im Diskurs als moralisch gutcodierte Form durchzuhalten. Der letztgenannte Punkt macht aus dervorliegenden Arbeit zum Opportunismus zugleich auch eine Ge-schichte der Moral. Insofern folgt die Arbeit dem traditionellen ge-nealogischen Bemühen, zur »Kenntnis der Bedingungen und Um-stände« beizutragen, unter denen die »Werturteile gut und böse« re-spektive gut und schlecht Anwendung finden.18

Eng mit dem Axiom der Machtverfasstheit von Diskursen ver-knüpft, akkumuliert die geplante Genealogie des Opportunismusdrittens schließlich ein perspektivisches Wissen. Gemeint ist damit,dass sie Distanz hält zu dem auch heute noch bei nicht wenigen Ver-tretern der Wissenschaft anzutreffenden Bemühen, »so weit wie nurmöglich alles zu verwischen, was in ihrem Wissen den Ort verratenkönnte, von dem aus sie blicken, den Zeitpunkt, an dem sie sich be-finden, die Partei, die sie ergreifen, und die Unvermeidlichkeit ihrerLeidenschaften«.19 Anders formuliert arbeitet die vorliegende Studieunter der Annahme der Begrenztheit wissenschaftlicher Objektivität.Dementsprechend sucht sie auch nicht nach einer »unbeweglichenund allem Äußeren, Zufälligen und Zeitlichen vorhergehendenForm«, versucht sie nicht zu beantworten, was genau der Opportu-nismus ist.20 Ausgehend von einer Gegenwart, die den Opportunis-mus zuvorderst mit einem spezifischen, in verschiedenen gesellschaft-lichen Bereichen vorkommenden Modus des Handelns assoziiert,fragt die vorliegende Studie stattdessen, wie dieser Handlungsmodusdort jeweils beschrieben wird. Genauer noch fragt sie, wie er dort je-

18 Nietzsche, Friedrich, »Zur Genealogie der Moral« [1887], in: derselbe, Werke in

drei Bänden, Bd. 2, München/Wien 1999, S. 761–900, hier: S. 765, 768.19 Foucault 1971, S. 82.20 Ebd., S. 71.

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EINLEITUNG: KAIROS22

weils beschrieben worden ist, erschließt sie seine Gegenwart also vor-nehmlich über seine Geschichte. Sie geht seinen historischen Gestal-ten nach. Sie schaut sich deren jeweilige Entstehung, deren jeweiligeEntwicklung sowie deren jeweilige Wirkung auf den ›unerbittlichenBinarismus‹ der Diskurse oder, wie es bei Jacques Derrida mit Bezugauf Leitunterscheidungen wie wahr/falsch heißt, auf die »Autoritätdes Codes« an.21 Analog zur Begriffsgeschichte versucht sie dabei sonahe wie möglich am Terminus zu bleiben.22 Sie setzt ihre analyti-schen Schwerpunkte dort, wo in der einen oder anderen Form dasWort Opportunismus vorkommt. Dieser Begriffsnähe sind jedochGrenzen gesetzt. Begründet liegt das darin, dass man es beim Op-portunismus mit einer diskursiven Unregelmäßigkeit, sprich mit ei-nem Untersuchungsgegenstand zu tun hat, der sich nicht selten nurmarginal, an den Rändern und in den Lücken von Diskursen zeigt.Entsprechend taucht der Begriff des Opportunismus mitunter nurganz vereinzelt und verstreut auf, ein Umstand, der es in manchenBereichen erfordert, singulären Erwähnungen oder verwandten Be-griffen (wie etwa Opportunität) nachzugehen. Doch wo genau findensich nun jene Gesellschaftsbereiche, in denen die Rede vom Oppor-tunismus ist? Wo genau sind die hinter dem Begriff vermutetenMachtrelationen, die von Polemik begleiteten Kräftespiele auszuma-chen, durch welche die (Re-)Produktion diskursiver Binarismen ge-stört, unterlaufen, abgewandelt oder sogar bedroht wird? Und mitwelchen Zeiträumen hat man es dabei zu tun?

Den Opportunismus einer genealogischen Analyse zu unterziehen– und hier erfolgt die Überleitung auf die Frage nach dem inhaltli-chen Aufbau der Arbeit –, erfordert zunächst einmal die Vergegen-wärtigung von insbesondere zwei Aspekten. Zum einen widmet mansich damit auf dem weiten Feld der Erforschung sozialer Hand-lungsmodi und Praktiken einem Gegenstand, der gerade von denProtagonisten dieses Feldes, von den Sozial-, Kultur- und Ge-schichtswissenschaften, bisher kaum beachtet worden ist. Vor allemaus historisch-sozialtheoretischer Perspektive getroffene und insofernfür die vorliegende Studie besonders interessante Aussagen zum Op-portunismus sind auf eine Handvoll Studien sowie sporadisch vorlie-

21 Derrida, Jacques, Limited Inc., Wien 2001, S. 4222 Siehe zu den Schnittmengen zwischen der Begriffsgeschichte und den diese Arbeit

leitenden methodischen Ansätzen der Diskurs- und Systemtheorie überblicksartigAndersen, Niels Åkerstrøm, Discursive analytical strategies. Understanding Foucault,Koselleck, Laclau, Luhmann, Bristol 2003, S. 93–116.

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EINLEITUNG: KAIROS 23

gende Passagen begrenzt.23 Zum anderen impliziert eine genealogi-sche Untersuchung des Opportunismus die Beschäftigung mit derGeschichte eines Begriffes, dessen Karriere ihren Ursprung in derwestlichen politischen Kommunikation des späten 19. Jahrhundertshat. Im Bereich der Politik tauchte der Begriff erstmals vermehrt aufund mit dem Bereich der Politik wird er bis heute wohl am häufig-sten assoziiert. So fällt etwa in der Tagespresse regelmäßig dann dasWort Opportunismus, wenn es um das Gebaren von vermeintlichrückgratlosen Politikern geht, die aus Gründen der Macht im Wider-spruch zu mit ihnen ansonsten in Verbindung gebrachten Prinzipienund Überzeugungen handeln.24 Nicht zuletzt auch reflektiert in ge-flügelten Wörtern wie »Paris ist eine Messe wert« (Heinrich IV.),»Politik verdirbt den Charakter« (Otto von Bismarck) oder »Waskümmert mich mein Geschwätz von gestern« (Konrad Adenauer),gelten Politiker als die Opportunisten par excellence, als schlüpfrigeGesellen, die ihre Ideale regelmäßig den jeweiligen Umständen op-fern. Es ist jedoch keineswegs bloß die politische Kommunikation, inder man auf den Begriff des Opportunismus stoßen kann. Im Ge-genteil lassen sich auf dem Gebiet des Sozialen zwei weitere Arealeoder soziale Systeme ausmachen, in denen der Terminus beziehungs-weise das am opportunen Moment ausgerichtete Handeln seit dem20. Jahrhundert eine gesteigerte Aufmerksamkeit erfährt: Das Rechtund die Ökonomie. Neben der Politik sind es diese beiden Gesell-schaftsbereiche, die im Mittelpunkt der folgenden Analyse des Op-

23 Zu nennen ist hier vor allem das Werk Niklas Luhmanns, in welchem der Op-

portunismus an verschiedenen Stellen nicht nur eine tiefergehende sozialtheoreti-sche Betrachtung findet, sondern in dessen Frühphase der Terminus sogar explizitzum »systemtheoretische[n] Begriff« erhoben wird. Vgl. Luhmann, Niklas, Zweck-begriff und Systemrationalität. Über die Funktion von Zwecken in sozialen Systemen,Frankfurt/M. 1973, S. 201. Bezogen auf Luhmanns Aussagen zum Opportunis-mus und aufgrund einer teilweise stark ausgeprägten Polemik nur schwer ver-wendbar, gehört zu den wenigen nennenswerten sozialtheoretischen Auseinander-setzungen mit Opportunismus des Weiteren die Studie von Lipp, Wolfgang, »An-omie, Handlungsmöglichkeit, Opportunismus. Grenzfragen der Systemtheorie«,in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 128 (1972), S. 344–370. Abgesehenvon dieser marginalen Beschäftigung mit dem Opportunismus in der deutschenSoziologie der späten 1960er und frühen 1970er Jahre lässt sich seit jüngster Zeitin der französischsprachigen Wissenschaftsliteratur ein gewisses sozialtheoretischesInteresse am Opportunismus erkennen. Siehe dazu: Banoun, Arnaud/Dufour, Lu-cas (Hg.), L’opportunisme. Une approche pluridisciplinaire, Paris 2011.

24 Vgl. exemplarisch Mulholland, Hélène/Wintour, Patrick, »David Cameron callsLabour opposition to voting reform ›opportunism‹«, in: theguardian.com, 28.07.2010 oder Seibt, Gustav, »Gefährlich, aber unentbehrlich«, in: Süddeutsche Zei-tung, 07.09.2013.

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EINLEITUNG: KAIROS24

portunismus stehen.25 Bearbeitet wird jedes der drei Untersuchungs-felder separat, und zwar deshalb, weil die Rede vom Opportunismusdort jeweils nicht dieselbe ist, weil sich die Konturen opportunisti-schen Verhaltens durch die spezifischen Diskurse und Rationalitätender jeweiligen Bereiche, der jeweiligen Gesellschaftssysteme bestim-men.

Obwohl die Karriere des Opportunismusbegriffs ihren Ausgangs-punkt in der Politik hat, widmet sich die vorliegende Studie zunächstdem Bereich des Rechts, besser gesagt des Strafrechts und der Krimi-nologie (Kapitel I). Dieses Vorgehen mag auf den ersten Blick inso-fern überraschen, als auf einem Feld begonnen wird, auf dem die Be-griffe Opportunismus und Opportunist im Vergleich zu den beidenanderen hier zu untersuchenden Gesellschaftsbereichen deutlich sel-tener vorkommen. Gleichwohl ist es aber gerade jenes Feld, auf demsich die Problematik des Opportunismus nicht nur am komplexestenund umfangreichsten präsentiert, sondern auf dem sich auch Zu-sammenhänge herauskristallisieren werden, die für das Verständnisdes Opportunismus in Ökonomie und Politik hilfreich sein können.Mehr noch muss man aus chronologischer Sicht sogar mit diesem Be-reich beginnen, denn bevor der Begriff des Opportunismus in derPolitik des späten 19. Jahrhunderts erstmals in größerem Umfang an-gewendet und bekannt wurde, tauchte in um die Mitte desselbenJahrhunderts geführten Debatten des deutschen Strafprozessrechtsdie sogenannte ›Opportunität‹ und damit die vielleicht früheste Be-griffsvariante des Opportunismus auf. Eingeführt wurde der Termi-

25 Auch wenn diese drei Gesellschaftsbereiche diejenigen sind, in denen die Thema-

tik des Opportunismus mit Abstand am signifikantesten auftritt, heißt das selbst-verständlich nicht, dass sie sich nicht auch in anderen Kontexten untersuchen las-sen würde. Beispielsweise liegt mit dem Aufsatz Mulsow, Martin, »Mehrfachkon-version, politische Religion und Opportunismus im 17. Jahrhundert«, in: Kasparvon Greyerz (Hg.), Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessio-nelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese, Gütersloh 2003, S.132–150 ein Versuch vor, den Opportunismus avant la lettre in Bezug auf Religi-on zu untersuchen. Wie die Lektüre jedoch schnell zeigt, handelt es sich bei die-sem Zusammenhang vor allem um ein politisches Problem. Jenseits einer sozial-wissenschaftlichen Perspektive, und damit auch jenseits des Rahmens der vorlie-genden Studie, gibt es mit der Belletristik ein weiteres Feld, auf dem der Oppor-tunismus regelmäßig ein Thema ist. Zu denken wäre hier beispielsweise an Hein-rich Manns Der Untertan, an Ödön von Horváths Der ewige Spießer, an RobertMusils Der Mann ohne Eigenschaften oder auch an Wolfgang Koeppens Das Treib-haus. Fast noch überraschender als im Fall der Sozialtheorie liegt jedoch auch hiereine umfassende (dann selbstverständlich an literaturwissenschaftlichen Maßstäbenausgerichtete) Untersuchung bisher nicht vor.

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EINLEITUNG: KAIROS 25

nus der Opportunität im Kontext der Frage nach strafrechtlichenMöglichkeiten des Umgangs mit geringfügigen Vergehen und Über-tretungen, das heißt mit Deliktformen, welche von der am Ende des19. Jahrhunderts entstehenden Kriminologie als Gelegenheitsverbre-chen klassifiziert und dann in der amerikanischen Soziologie abwei-chenden Verhaltens um die Mitte des 20. Jahrhunderts auch als Op-portunismus bezeichnet werden sollten. Jene Gemengelage aus Gele-genheitsverbrechen einerseits und deren strafrechtlicher Handhabungandererseits ist es auch, die den Rahmen der Untersuchung des Op-portunismus im Recht bildet. Die erste Hälfte dieser Untersuchungbeschäftigt sich mit dem Typ des Gelegenheitsverbrechers, wie er inden bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts prosperierenden Verbrecher-taxonomien der biologisch informierten Kriminologie und ab dieserZeit dann auch in den Diskursen der Kriminalsoziologie beziehungs-weise der Soziologie abweichenden Verhaltens zu finden ist (KapitelI.2). Gekennzeichnet durch das Begehen geringfügiger Delikte in dergünstigen Gelegenheit, steht hier eine Figur im Zentrum der Auf-merksamkeit, die in den Verbrechenslehren des späten 19. sowie des20. Jahrhunderts zwar eine nur marginale Rolle spielt, die in denKlassifikationsanstrengungen dieser Lehren aber gleichsam immerwieder zum Problem wird. Der Blick auf den Gelegenheitsverbrecherist der Blick auf eine Masse von Menschen, die etwa in HotelsHandtücher mitgehen lassen, die aus öffentlichen Gebäuden odervom Arbeitsplatz Toilettenpapier für den privaten Gebrauch zu Hau-se entwenden, die Bibliotheksbücher stehlen, die schwarzfahren, dienicht-erbrachte Arbeitsleistungen in Rechnung stellen, die Steuernhinterziehen, die Marihuana rauchen und so weiter. Während derOpportunist in Gestalt des Gelegenheitsverbrechers den Kriminolo-gen vor allem typologische Schwierigkeiten bereitet, stellt er die Ver-treter des materiellen Strafrechts sowie des Strafprozessrechts vornicht minder große Herausforderungen hinsichtlich der Frage nachprobaten Mitteln seiner Sanktionierung. Zu untersuchen, welcher Artdiese Herausforderungen im Einzelnen sind und weshalb die diesbe-züglich seit Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten strafrechtlichenAntworten mit Begriffen wie Zweckstrafrecht oder Opportunitätselbst wiederum eine Semantik des Opportunismus durchzieht, be-stimmt die zweite Hälfte der Arbeiten auf dem juridischen Gebiet(Kapitel I.3). Aspekte, die hierbei eine eingehendere Betrachtung fin-den, sind unter anderem die Bewährungsstrafe, das Ordnungswidrig-keitenrecht sowie die staatsanwaltliche Kompetenz zur Eröffnung be-ziehungsweise Einstellung eines Strafverfahrens.

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EINLEITUNG: KAIROS26

Im Anschluss an eine Bilanzierung der kriminologisch-strafrechtli-chen Beschäftigung mit dem Opportunismus (Kapitel I.4) konzen-triert sich die Analyse als Nächstes auf den Bereich der Ökonomie(Kapitel II). In den Fokus gerät hier vor allem die so genannte Trans-aktionskostenökonomik, eine Strömung der Neuen Institutionen-ökonomik, die in den 1970er Jahren relativ unvermittelt den Begriffdes Opportunismus in die Wirtschaftskommunikation einführte. Einerstes Teilkapitel (II.1) diskutiert zunächst deren ökonomisch spezifi-sche und hochgradig polemisierende Definition des Opportunismusals Verfolgung des Eigeninteresses unter Zuhilfenahme von List. In-sofern die Transaktionskostenökonomik den Opportunismus dem-entsprechend als einen für die wirtschaftlichen Austauschprozessehochproblematischen Handlungsmodus versteht, sucht sie, ähnlichwie das Strafrecht, nach probaten Mitteln zu dessen Bekämpfung undPrävention. Diese von ihr unter der Überschrift der Governance ge-führte Suche bildet den Gegenstand eines zweiten Teilkapitels (II.2).Jenseits der transaktionskostentheoretischen Debatten folgt ein weite-rer Abschnitt schließlich Aussagen, die vornehmlich in der populär-wissenschaftlichen ökonomischen Ratgeberliteratur auftauchen unddenen zufolge der Opportunismus nicht als ein Schimpfwort gilt,sondern im Gegenteil als Modus der gekonnten Realisierung unter-nehmerischer Gewinngelegenheiten gefeiert wird (Kapitel II.3).

Kapitel III widmet sich mit dem Bereich der Politik dem letztender drei hier anvisierten Untersuchungsfelder. Ausgehend von einerkurzen einleitenden Betrachtung der Anfänge des Begriffes in denpolitischen Lagerkämpfen der jungen, 1870 ausgerufenen DrittenRepublik Frankreichs (Kapitel III.1), dreht sich die Analyse im Wei-teren um zwei verschiedene Verwendungen des Opportunismusbe-griffs. Die erste Verwendung (Kapitel III.2) verbreitete sich im Ver-lauf des 20. Jahrhunderts, ist vornehmlich in der politischen Theorieangesiedelt und führt den Begriff als eine Art Synonym für politischkluges Handeln. Bedingt durch den Umstand, dass die Frage politi-scher Klugheit bis heute vor allem mit dem Namen Niccolò Machia-vellis verbunden ist, bildet dessen politische Handlungslehre denzentralen Untersuchungsgegenstand dieses Abschnitts. Die zweiteVerwendung findet sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhundertsim Kontext der europäischen Arbeiterbewegung und der dort zirku-lierenden Frage nach der revolutionären Durchsetzung des Sozialis-mus beziehungsweise Kommunismus (Kapitel III.3). Neben den imZuge des so genannten Revisionismusstreits entstandenen Texten Ro-sa Luxemburgs und Eduard Bernsteins interessieren hier insbesondere

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EINLEITUNG: KAIROS 27

die Schriften Lenins. Kaum anderswo nimmt der Opportunismus ei-ne derartig prominente Stellung ein wie in Letzteren und kaum an-derswo wird so heftig gegen ihn polemisiert wie dort. Ganz in derNähe des politischen Feldes verweilend, nimmt die vorliegende Ge-nealogie im Schlusskapitel Bezug auf die bei Niklas Luhmann zu fin-dende Definition des Opportunismus als einer jenseits von Wert undZweck liegenden höheren Form von Rationalität und diskutiert dieseim Anschluss an einen zusammenfassenden Vergleich der in den dreiGesellschaftsbereichen gewonnenen Untersuchungsergebnisse.

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EINLEITUNG: KAIROS28

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KAPITEL I

Gelegenheit Macht Diebe

Opportunismus in Kriminologieund Strafrecht

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