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Zum Thema: Krummer Rücken | Der Orthopäde 1•2002 2 Zusammenfassung Das Wirbelsäulenwachstum erfolgt ähnlich dem der Extremitäten. Die Dynamik ist unterschiedlich in den einzelnen Wachs- tumszonen der Wirbel. Die neurozentralen Bogenepiphysen, deren Wachstum die Größe des Wirbelkanals bestimmt, sind bereits embryonal und in der frühen Kind- heit analog zur Entwicklung des zentralen Nervensystems äußerst aktiv. Hingegen ist das enchondrale Höhenwachstum erst nach der Pubertät, bei Jungen erst am Ende des 17. Lebensjahrs abgeschlossen. Das enchondrale Wachstum der Wirbel- säule reagiert empfindlicher auf Störungen als das periostale Tiefen- und Breitenwachs- tum der Wirbelkörper.Das Wirbelsäulen- wachstum ist zwar genetisch determiniert, wird aber speziell in der Adoleszenz bei- spielsweise durch die Haltung (Kyphose) beeinflusst. Dies bietet die Möglichkeit eines Therapieansatzes bei Wirbelsäulendeformi- täten. Da die Wirbelsäule eine Gliederkette mit 25 Einheiten ist, gibt es weitaus mehr Möglichkeiten eines kompensatorischen Wachstums bei kurzstreckigen Wachstums- störungen als bei den Extremitäten. Die Gesamtaufrichtungstendenz der Wirbelsäule ist faszinierend.Während des Wachstums werden Deformitäten in den angrenzenden Wirbelsäulenabschnitten ausgeglichen, sodass die Augenachse horizontalisiert bleibt und Abweichungen vom Lot nur selten entstehen. Die Arbeit beschreibt das physiologi- sche, makromorphologische Wachstum und die Wuchsänderungen bei Bestrahlungen wegen Wilmstumoren, bei der Spondylolis- thesis, von Kyphosen und von dorsalen Schlussstörungen der Wirbelsäule. Anatomie und Physiologie des Wirbelsäulenwachstums Die embryonale Wirbelsäule wird zu- nächst mesenchymal angelegt. Über die knorpelige Präformierung erfolgt dann die Ossifikation, die zentral im Wirbel- körper beginnt (Abb. 1). An den einzel- nen Wirbeln sind anatomisch unter- schiedliche Wachstumszonen zu beob- achten. Das Höhenwachstum der Wir- belkörper erfolgt enchondral an den knorpeligen Wachstumsplatten, die zwi- schen dem bereits ossifizierten Wirbel- körper und der knorpeligen Endplatte liegen, in der die Fasern des Anlus fibro- sus einstrahlen. Die Frage, ob die krania- le oder kaudale Wachstumszone einen größeren Anteil am Höhenwachstum hat, wurde bereits 1962 von Larsen u. Nordentoft [10] definitiv beantwortet, die anhand von Wachstumsstillstandsli- nien bei temporär schweren Erkrankun- gen im Kindesalter die Symmetrie des Wachstums der Deck- und Grundplatte nachweisen konnten (Abb. 2). Im Gegensatz zum enchondralen Höhenwachstum erfolgt das Tiefen- und Breitenwachstum perichondral. Ventral ist der Zuwachs am ausgeprägtesten, zum Wirbelkanal hin findet kein Tiefen- wachstum statt. Der Wirbelkanal selbst ist bereits beim Kleinkind annähernd so groß wie bei Erwachsenen. Dies hängt mit dem Wachstum des Neurokraniums zusammen, das sich bekannter Weise (Vergleich zur Schädelgröße) embryo- nal sowie im Säuglings- und Kleinkin- desalter überproportional entwickelt. Anatomisch ist das Wachstum des Wirbelbogens sowohl in den neurozen- tralen Bogenepiphysen als auch in der knorpeligen Zone zwischen den beiden Wirbelbogenenden (physiologische Spi- na bifida im Embryonal- und Kleinkin- desalter; Abb. 3) lokalisiert. Hierbei zeigt die neurozentrale Bogenepiphyse ein sehr starkes Wachstum embryonal und im Kleinkindesalter (Abb. 4). Knutsson [9] sah bis zum 5. Lebensjahr eine steti- ge Zunahme der Interpedukularkon- stanz, die sich bis zum 10. Lebensjahr nur noch gering weiter entwickelt und dann fast unverändert bleibt. Das en- chondrale Wachstum der neurozentra- len Bogenepiphyse ist dementsprechend bereits beim 5- bis 6-Jährigen weitge- hend abgeschlossen, beim 10-Jährigen ist diese Epiphyse meistens schon ver- schlossen. Dorsal erfolgt der Bogenschluss be- zogen auf die gesamte Wirbelsäule in kraniokaudaler Richtung [22]. Der Bo- genschluss von L5 und S1 erfolgt erst postnatal. So fand Fredrickson [5] in ei- ner Längsstudie von 500 Wirbelsäulen- gesunden bei 6-Jährigen noch einen in- kompletten Bogenschluss von L5 von 18%, bei Erwachsenen nur noch von 7%. Zum Thema: Krummer Rücken Orthopäde 2002 · 31:2-10 © Springer-Verlag 2002 J. Pfeil · Orthopädische Klinik im St. Josefs-Hospital Wiesbaden Wachstum der Wirbelsäule unter normalen und krankhaften Bedingungen Prof. Dr. J. Pfeil Orthopädische Klinik, St. Josefs-Hospital Wiesbaden, Standort Mosbacher Straße 10, 65187 Wiesbaden Schlüsselwörter Wirbelsäulenwachstum · Strahlenskoliose · Spondylolisthesis · Kyphose · Wirbelsäulenmorphologie

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Zum Thema: Krummer Rücken

| Der Orthopäde 1•20022

Zusammenfassung

Das Wirbelsäulenwachstum erfolgt ähnlich

dem der Extremitäten. Die Dynamik ist

unterschiedlich in den einzelnen Wachs-

tumszonen der Wirbel. Die neurozentralen

Bogenepiphysen, deren Wachstum die

Größe des Wirbelkanals bestimmt, sind

bereits embryonal und in der frühen Kind-

heit analog zur Entwicklung des zentralen

Nervensystems äußerst aktiv. Hingegen ist

das enchondrale Höhenwachstum erst nach

der Pubertät, bei Jungen erst am Ende des

17. Lebensjahrs abgeschlossen.

Das enchondrale Wachstum der Wirbel-

säule reagiert empfindlicher auf Störungen

als das periostale Tiefen- und Breitenwachs-

tum der Wirbelkörper. Das Wirbelsäulen-

wachstum ist zwar genetisch determiniert,

wird aber speziell in der Adoleszenz bei-

spielsweise durch die Haltung (Kyphose)

beeinflusst. Dies bietet die Möglichkeit eines

Therapieansatzes bei Wirbelsäulendeformi-

täten.

Da die Wirbelsäule eine Gliederkette

mit 25 Einheiten ist, gibt es weitaus mehr

Möglichkeiten eines kompensatorischen

Wachstums bei kurzstreckigen Wachstums-

störungen als bei den Extremitäten. Die

Gesamtaufrichtungstendenz der Wirbelsäule

ist faszinierend.Während des Wachstums

werden Deformitäten in den angrenzenden

Wirbelsäulenabschnitten ausgeglichen,

sodass die Augenachse horizontalisiert

bleibt und Abweichungen vom Lot nur

selten entstehen.

Die Arbeit beschreibt das physiologi-

sche, makromorphologische Wachstum und

die Wuchsänderungen bei Bestrahlungen

wegen Wilmstumoren, bei der Spondylolis-

thesis, von Kyphosen und von dorsalen

Schlussstörungen der Wirbelsäule.

Anatomie und Physiologie des Wirbelsäulenwachstums

Die embryonale Wirbelsäule wird zu-nächst mesenchymal angelegt. Über dieknorpelige Präformierung erfolgt danndie Ossifikation, die zentral im Wirbel-körper beginnt (Abb. 1). An den einzel-nen Wirbeln sind anatomisch unter-schiedliche Wachstumszonen zu beob-achten. Das Höhenwachstum der Wir-belkörper erfolgt enchondral an denknorpeligen Wachstumsplatten, die zwi-schen dem bereits ossifizierten Wirbel-körper und der knorpeligen Endplatteliegen, in der die Fasern des Anlus fibro-sus einstrahlen.Die Frage,ob die krania-le oder kaudale Wachstumszone einengrößeren Anteil am Höhenwachstumhat, wurde bereits 1962 von Larsen u.Nordentoft [10] definitiv beantwortet,die anhand von Wachstumsstillstandsli-nien bei temporär schweren Erkrankun-gen im Kindesalter die Symmetrie desWachstums der Deck- und Grundplattenachweisen konnten (Abb. 2).

Im Gegensatz zum enchondralenHöhenwachstum erfolgt das Tiefen- undBreitenwachstum perichondral. Ventralist der Zuwachs am ausgeprägtesten,zum Wirbelkanal hin findet kein Tiefen-wachstum statt. Der Wirbelkanal selbst

ist bereits beim Kleinkind annähernd sogroß wie bei Erwachsenen. Dies hängtmit dem Wachstum des Neurokraniumszusammen, das sich bekannter Weise(Vergleich zur Schädelgröße) embryo-nal sowie im Säuglings- und Kleinkin-desalter überproportional entwickelt.

Anatomisch ist das Wachstum desWirbelbogens sowohl in den neurozen-tralen Bogenepiphysen als auch in derknorpeligen Zone zwischen den beidenWirbelbogenenden (physiologische Spi-na bifida im Embryonal- und Kleinkin-desalter; Abb. 3) lokalisiert. Hierbei zeigtdie neurozentrale Bogenepiphyse einsehr starkes Wachstum embryonal undim Kleinkindesalter (Abb. 4). Knutsson[9] sah bis zum 5. Lebensjahr eine steti-ge Zunahme der Interpedukularkon-stanz, die sich bis zum 10. Lebensjahrnur noch gering weiter entwickelt unddann fast unverändert bleibt. Das en-chondrale Wachstum der neurozentra-len Bogenepiphyse ist dementsprechendbereits beim 5- bis 6-Jährigen weitge-hend abgeschlossen, beim 10-Jährigenist diese Epiphyse meistens schon ver-schlossen.

Dorsal erfolgt der Bogenschluss be-zogen auf die gesamte Wirbelsäule inkraniokaudaler Richtung [22]. Der Bo-genschluss von L5 und S1 erfolgt erstpostnatal. So fand Fredrickson [5] in ei-ner Längsstudie von 500 Wirbelsäulen-gesunden bei 6-Jährigen noch einen in-kompletten Bogenschluss von L5 von18%, bei Erwachsenen nur noch von 7%.

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Wachstum der Wirbelsäule unter normalen und krankhaften Bedingungen

Prof. Dr. J. PfeilOrthopädische Klinik, St. Josefs-Hospital

Wiesbaden, Standort Mosbacher Straße 10,

65187 Wiesbaden

Schlüsselwörter

Wirbelsäulenwachstum · Strahlenskoliose ·

Spondylolisthesis · Kyphose ·

Wirbelsäulenmorphologie

Der Orthopäde 1•2002 | 3

J. Pfeil

Spinal growth under physiological and pathological conditions

Abstract

Spinal growth is developing analogously to

extremity growth. As the vertebral spine is

built by 25 “vertebral units”there are much

more possibilities of compensatory growth

in short parts of pathologic alterations than

there are in cases of affected extremities that

only show epiphyseal compensations in

metaphyseal or diaphyseal deformities

(such as juvenile fractures).The dynamics of

growth is different in the spine.The neuro-

central epiphysis, basis to seize of spinal

channel, shows very strong dynamics in

embryonal and early childhood growth

corresponding to the development in central

nerve system.Whereas, enchondral height

growth of vertebral bodies does not end

after puberty, in male sex even at about the

age of eighteen.

Enchondral growth of the spine is much

more sensible to affections than periostal

growth.This is analogous in the extremities.

Spinal growth is determined genetically, but

especially in puberty it can be influenced by

the child's posture.This is a therapeutic hint

especially for the period of fast vertebral

growth in puberty.The strong straightening

tendency of spine is fascinating.Thus, in the

period of growth all spinal deformities are

compensated by the vertebral segments

below and above, so that the axis appears in

horizontal line and the spine altogether in

perpendicular position.

Keywords

Spinal growth · Radiologically induced

scoliosis · Spondylolisthesis · Kyphosis ·

Spinal morphology

Das Wachstum der Wirbelgelenkeverläuft analog zu dem Wachstum derGelenke der Extremitäten. Die Gelenkewerden durch enchondrales Wachstumunter der funktionellen Beanspruchungin ihrer definitiven Form und Größeausgebildet. Die Bandscheiben ent-wickeln sich aus der Chorda dorsalis.Bereits der fötale Nucleus pulposus istnicht vaskularisiert. Die Blutgefäße en-den an der Außenseite des Anulus fibro-

sus. Mit der Größen- und insbesondereBreitenzunahme der Wirbelkörperwächst der Anulus fibrosus analog. Derbei der Geburt fast die gesamte Band-scheibe ausfüllende Nucleus pulposus,in dem nekrotische Reste der Kaudalzel-len beim Kleinkind nachweisbar sind,nimmt in der Relation an Größe ab. Derkindliche Nucleus pulposus wirkt wieeine prall elastische Kugel und überträgtventral den axialen Kraftfluss zum über-wiegenden Teil (Abb.5).Erst im Erwach-senenalter wird durch degenerative Ver-änderungen diese physiologische Funk-tion der Bandscheiben aufgehoben.

Die Muskulatur des Rumpfes ent-wickelt sich analog zu dem der Gliedma-ßen [2]. Die Wirbelsäule insgesamtnimmt während des Wachstums an Hö-he und Breite zu. Die meisten Datenstammen aus Längsschnittuntersuchun-gen mit Messungen der Sitz- und Steh-größe [1, 4]. Des Weiteren wurden rönt-genmorphometrische Vermessungenam Einzelwirbel durchgeführt [6]. AlleUntersuchungen zeigen ähnliche Ergeb-nisse. Es besteht eine deutliche zeitlicheDiskrepanz zwischen dem Wachstumder unteren Extremität und dem Rumpf-wachstum. Während vor und zu Beginnder Pubertät die untere Extremität einemaximale Wachstumsdynamik hat, setztdas maximale Wirbelsäulenwachstumetwa 2 Jahre später ein und setzt sich umdie gleiche Zeit dann nach Sistieren des

Orthopäde2002 · 31:2-10 © Springer-Verlag 2002

Abb. 1 � Beginn der zentralen Wirbelkörper-ossifikation. Radiär um den verknöchertenKern sind Blutgefäße angeschnitten (5. Embryonalmonat)

Abb. 2 � Wirbel in Wirbelbildungbei einer 26-jährigen Frau, die

im Alter von 5 Jahren an einem Lungenabszess erkrankt war [10]

Zum Thema: Krummer Rücken

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Längenwachstums der unteren Extremi-tät fort. Bei Mädchen wird das Wachs-tum des Rumpfes mit dem 10., bei Jun-gen erst mit dem 11. Lebensjahr akzele-riert. Die Knaben wachsen hingegenausgeprägter und länger als die Mäd-chen. Somit ist das enchondrale Wachs-tum an der Wirbelsäule im Bereich desWirbelbogens weit vor dem Abschluss

des Wachstums der Extremitätenfugen,das enchondrale Höhenwachstum erstnach dem Sistieren desselben beendet.

Pathophysiologie des Wirbelsäulenwachstums

Die Form der Wirbelsäule wird durch he-reditäre Faktoren aber auch durch die

funktionelle Beanspruchung währenddes Wachstums geprägt. Durch die Viel-zahl der einzelnen Wirbel- und Bewe-gungssegmente sind kompensatorischeWachstumsveränderungen bei lokalisier-ten Wachstumsstörungen eines Wirbel-säulenabschnitts immer nachweisbar.DieKenntnis der Pathophysiologie der wach-senden Wirbelsäule entsteht demnachzum einen durch Einzelbeobachtungenbei Formveränderungen eines Wirbel-säulenabschnitts, durch experimentelleUntersuchungen, insbesondere aberdurch die Analyse von kindlichen Wirbel-säulenerkrankungen und Nachuntersu-chungen bei therapeutischen Interventio-nen an der kindlichen Wirbelsäule.

Verlaufsbeobachtungen kindlicher Spondylolisthesen

Spondylolisthesen werden nur beim bid-pedal gehenden Menschen beobachtet.Beim Neugeborenen sowie bei Kindern,die nicht zum Laufen gekommen sind,wurde nie eine Spondylolyse oder alsFolge davon eine Spondylolisthesis fest-gestellt. So ist die Rate der Spondylolysewährend des Wachstums ansteigend [5].

Biomechanisch wird die Spondylo-lyse als Ermüdungsbruch des Zwischen-gelenkstücks erklärt. Insbesondere Ro-tationsbewegungen bei axialen Bela-stungen, Reklination der lumbalen Wir-belsäule werden sowohl experimentellals auch durch die Beobachtung derHäufung der Spondylolyse bei Sportar-ten mit entsprechender Rückenbela-stung erklärt [8, 18, 19]. Dasselbe gilt fürKinder mit hochstehenden Hüftluxatio-nen [25] und Kautschukkontorsionisten,die die Hypermobilität durch Hyperfle-xion der lumbalen Wirbelsäule errei-chen. Auch Erkrankungen mit Ver-schlechterung der Knochentextur wei-sen eine hohe Spondylolyserate auf [25].Weiterhin ist mehrfach auch auf die er-höhte Inzidenz der lumbosakralen Spinabifida bei der Spondylolyse hingewiesenworden.

Noch in den 1940er Jahren gab eskeinen Bericht von fortschreitendemGleiten zwischen zwei Untersuchungen.Bereits Neugebauer [12], der 1960 publi-zierte Einzelfälle mit Progression derSpondylolisthesis zusammenfasste, be-merkte, dass nicht nur ein Ventralgleitensondern insbesondere eine starke Kip-pung (Kyphosierung) im spondylolis-thetischen Segment eintrat (Abb. 6).

Abb. 3a–c � Vergleich der (axialen) Wirbelanatomie beim 3-jährigen (a) und 10-jährigen Kind (b)

mit dem Erwachsenen (c). Zu beachten sind die neurozentralen Bogenepiphysen zwischen Wirbelkörper und -bögen sowie die knorpelige Überbrückung der dorsalen Bogenenden

Abb. 4a,b � Die neuro-zentrale Bogenepiphyse im axialen (a) und sagitta-len (b) Schnitt

Der Orthopäde 1•2002 | 5

In eigenen Studien wurden 62 Kin-der, bei denen während des Wachstumseine Spondylolisthesis diagnostiziertwurde, über durchschnittlich 5 1/2 Jahrenachbeobachtet. Radiologisch ausge-wertet wurden die Bogenschlussstörun-gen L5 und S1 sowie die Interartikular-portion (keine Veränderung/Lyse/Elon-gation/Elongation mit Lyse). Die Ven-tralverschiebung wurde nach Meyerdingund Marique gemessen [11]. Die Kypho-sierung des Bewegungssegmentes nachBoxall et al. [3] sowie nach van Rens undvan Horn ([17]; Abb. 7). Qualitativ fielenbei dem seitlichen Strahlengang zwei re-produzierbare Veränderungen des Sa-kralplateaus auf. Die S-Form ist gekenn-zeichnet durch eine Ausmuldung desdorsalen Sakralplateaus bei physiolo-gisch ventraler Sakralfläche.Die Kuppel-form entsteht durch eine völlige Abrun-dung der gesamten kranialen Sakralflä-che insbesondere im ventralen Bereich.Im Verlauf wurde auf das Vorhanden-sein dieser qualitativen Merkmale ge-achtet.

Auffällig war, dass nach MeyerdingI und II sich bei 30 Patienten die S-Form,bei 2 Patienten die Kuppelform und bei15 Patienten eine physiologische Ausge-staltung des Sakralplateaus zeigten,während hingegen nach Meyerding IIIund IV immer eine Kuppelform vorlag.Bis zu einer Ventralverschiebung von20% wurde die Kuppelform nie nachge-wiesen. Dementsprechend war die Kup-pelform auch mit einer pathologischenKyphosierung im Gleitsegment verbun-den. Eine Progredienz im Verlauf wurdebei einem unauffälligen Sakralplateaunie, bei der S-Form in etwa der Hälfteder Patienten, bei der Kuppelform im-mer beobachtet.Auffällig war bei höher-

gradigen Spondylolisthesen die kon-stant nachweisbare hyperkompensatori-sche Hyperlordose der darüber liegen-den lumbalen Wirbelsäule mit vermehr-tem Höhenwachstum („Tonnenwirbel“).Auch wir fanden eine deutliche Erhö-hung der Inzidenz der Spina bifida oc-culta. Insbesondere bei Elongation derInterartikularportion zeigte sich einehohe Inzidenz der Spina bifida occultalumbosakral (48%).

Zusätzlich führten wir funktions-morphologische Untersuchungen ankindlichen Wirbelsäulen durch. Hierbeiwurde vor und nach iatrogener Durch-trennung der Interartikularportion die

Mobilität im Segment untersucht. Bei al-len Präparaten wurde durch die Durch-trennung der Interartikularportion dieReklinationsfähigkeit (im Gegensatz zurInklinationsfähigkeit) vermehrt. DieSpondylolyse erhöht somit die Mobilitätdes Bewegungssegments zu Lasten derStabilität. Ferner fanden wir bei Präpa-raten mit noch nicht vorhandenem knö-chernen Bogenschluss (Spina bifida),dass sich die Mobilität der beiden Wir-belbogenenden zueinander durch diedurchgeführte Spondylolyse vergrößer-te.Aus den klinischen Verlaufsbeobach-tungen und den experimentellen Unter-suchungen werden folgende Schlüsse

Abb. 5 � Kindliche Bandscheibe (11 Jahre) Darstellung des Nucleus pulposus und des Anu-lus fibrosus

Abb. 6 � Progression einer Spondylolisthesis zwischen

6 und 8 Jahren mit Veränderung des Sakralplateaus von der

S- zur Kuppel-Form

Abb. 7a,b � Quantifizierungder Kippung bei

der Spondylolisthesis.a Nach Boxall et al. [3];

b nach van Rens und van Horn [17]

Zum Thema: Krummer Rücken

| Der Orthopäde 1•20026

zur Ätiopathogenese der Spondylolis-thesis gezogen:

Die Spondylolyse ist eine postnataleErkrankung, die nur beim aufrecht ge-henden Menschen beobachtet wird [13,16]. Die Spondylolisthesis tritt nur beifehlender dorsaler Stabilisierung als Fol-ge der Spondylolyse ein. Bei fehlenderdorsaler Stabilisierung (Spondylolyse)wird die Belastung vermehrt über denventralen Pfeiler der Wirbelsäule über-tragen und zeigt somit vektoriell eineaxiale als auch eine nach zentral gerichte-te Schubkraft. Nach eingetretener Spon-dylolyse erfolgt somit zunächst eine ge-ringe diskoligamentär begrenzte Ventral-dislokation im Segment. Der kindlicheNucleus pulposus wirkt wie eine prallela-stische Kugel und überträgt die Kräfte aufdie Abschlussplatten. So kommt es zu-nächst zur Ausmuldung im dorsalenAbschnitt der Deckplatte des Sakrum(S-Form) bei gleichzeitiger Abnahme derHöhe im dorsalen Bereich von L5, sodasseine trapezoidförmige Umgestaltung des5. Lendenwirbels im seitlichen Strahlen-gang sichtbar ist (Abb. 8). Diese Wachs-tumsveränderung bewirkt ein weiteresVoranschreiten der Verkippung/Ventral-schiebung im betroffenen Segment.

Die Progression der Spondylolis-thesis ist somit als (pathologische)Wachstumsveränderung des Bewe-gungssegmentes – initiiert durch dieSpondylolyse – erklärt.

Die Dynamik ist analog zu dem Wir-belsäulenwachstum,wie es beispielswei-se auch bei Skoliosen beobachtet wird.Die Progression der Spondylolisthesis istsomit im Wesentlichen auf das Wachs-tumsalter beschränkt.Hingegen sind dieventralen appositionellen Anbauten,wiebereits von Wolff [24] und Pauwels [15]beschrieben, im Sinne sekundärer dege-

nerativer Veränderungen nicht auf dieWachstumsperiode begrenzt.

Die erhöhte Rate des inkomplettendorsalen Bogenschlusses bei insbeson-dere höhergradigen Spondylolisthesenist durch die mechanische Instabilitätund somit durch die Ossifikationsbehin-derung erklärt. Wiltse et al. [23] unter-schied bei kindlichen Spondylolisthesenzwischen der dysplastischen und spon-dylolytisch-isthmischen Form. Kenn-zeichnend für die dysplastische Formhält er die kuppelförmige Veränderungdes Sakralplateaus und der Spina bifida,der von ihm auch eine ätiopathogeneti-sche Bedeutung zugemessen wird. DieEinteilung von Wiltse orientiert sich so-mit an sekundären Veränderungen derSpondylolisthesis. Sie geht vom Endzu-stand der Morphologie aus, was zu ätio-logischen Fehlschlüssen führt.

Aufgrund unserer Untersuchungensind die von ihm beschriebenen beidenTypen ätiopathogenetisch identisch, dieunterschiedliche Morphologie ist nurabhängig vom Zeitpunkt des Beginnsder Erkrankung und der Tatsache, ob zudiesem Zeitpunkt der Wirbelbogen be-

reits komplett ossifiziert ist oder nichtund welches „Rest-Wachstumspotenzi-al“ im Segment verbleibt. Nach unseremErmessen sollte deshalb nur von derkindlichen Spondylolisthesis gespro-chen werden, die Feindifferenzierungerfolgt durch die Segmentangabe, dieQuantifizierung der Spondylolisthesisund der qualitativen morphologischenVeränderung im Segment.

Strahlenbedingte Wirbelsäulenveränderungen

Strahleninduzierte Skelettveränderun-gen sind in experimentellen Untersu-chungen ausgiebig erforscht. So wiesRubin et al. [20] experimentell Wachs-tumsstörungen nach differenzierter Be-strahlung langer Röhrenknochen nach(Abb. 9). Hierbei zeigten sich je nach Be-strahlungslokalisation (ganz, Metaphy-se, Diaphyse, Epiphyse) unterschiedlicheMuster der Beeinflussung des Längen-und Breitenwachstums in Abhängigkeitder jeweils durch die Strahlung geschä-digten enchondralen oder periostalenWachstumsbereiche. Beim Menschen,dem einzigen bipedalen Wesen, verbie-tet sich allein schon aus ethischen Grün-den eine experimentelle Bestrahlung.Dennoch bestehen bei Patienten, die we-gen eines Wilms-Tumors – dem dritt-häufigsten kindlichen Tumorgeschehen– im Rahmen des Therapieprotokollseinseitig bestrahlt worden sind, ausgie-bige Erfahrungen über die strahlenindu-zierten Wachstumsveränderungen derWirbelsäule.

So haben wir selbst bei 82 Fällen dieentsprechenden Wachstumsverände-rungen nachbeobachtet. Von allen Pati-enten waren die Strahlungsprotokollenoch verfügbar, sodass für Lokalisation

Abb. 8 � SchematischeDarstellung der Wachs-tumsveränderungen beikindlichen Spondylolis-thesen(blau: Wachstumshem-mung; grün: appositionelle Anbauten)

Abb. 9 � Wachs-tumsstörungen

nach differenzier-ter Bestrahlunglanger Röhren-

knochen.(Mod. nach [20])

Der Orthopäde 1•2002 | 7

und Dosierung von exakten Grundlagenausgegangen werden konnte (Abb. 10).Ferner sind durch die Nachkontrollenvon Niere, Milz, i.v.-Urogramm undRöngenthorax (Metastasenscreening)umfangreiche Dokumentationen derWirbelsäule vorhanden,sodass morpho-metrische Vermessungen im Längs-schnitt möglich sind. Von den Patientendie im Regelfall im Alter von 2–3 Jahrenmit bis zu 45 Gray als Maximaldosis be-strahlt worden sind [21], liegen umfas-sende Daten der durch die Strahlung ver-änderten Wirbelsäulenabschnitte vor.

Bei der Analyse wurde zunächst aufdie qualitative Veränderung des einzel-nen Wirbels im Bestrahlungszentrumgeachtet. Hierbei fanden sich deutlicheWachstumsstillstandslinien [14], die imGegensatz zu den bei Bleivergiftungengesehenen Wachstumsstillstandslinienkürzer und unregelmäßiger sind. DieWirbelkörper wachsen trapezoidförmigmit geringster Höhe ventral der be-strahlten Seite zugewandt. Das erstma-lige Auftreten von röntgenologischenVeränderungen sowie die Häufigkeit derveränderten Wirbelkörper war in ho-

hem Maße abhängig von der Nähe zumBestrahlungszentrum, das immer auf L2ausgerichtet war. So traten im Mittelbeim 1.–3. Lendenwirbel sichtbare Ver-änderungen erstmalig ca. 1 Jahr nach derBestrahlung auf, während im Randbe-reich des Bestrahlungsfelds (TH11 undL5) durchschnittlich über 3 Jahre vergin-gen, bis entsprechende Veränderungenerkennbar wurden. In allen Lendenwir-belkörpern waren strahleninduzierteVeränderungen nachweisbar.

Die morphometrischen Vermessun-gen der Einzelwirbel erfolgte unter un-terschiedlichen Gesichtspunkten. DieVermessung der thorakalen im Ver-gleich zu den lumbalen Wirbeln ergabkeine nachweisbaren Veränderungen.Somit ist festzustellen, dass die Zytosta-tikatherapie wie auch die Tumorerkran-kung per se keinen Einfluss auf das Wir-belsäulenwachstum haben. Im Bereichder Lendenwirbelsäule ist der 2.Lenden-wirbel, wie bereits ausgeführt, entspre-chend seiner anatomischen Nähe zurNiere, immer am stärksten und ausge-prägtesten durch die Bestrahlung verän-dert. Daher wurden auch hier die mor-

phometrischen Vermessungen durchge-führt. Hier fanden sich massive Verän-derungen zum Normalkollektiv, fernerzu Kindern, die früher oder später be-strahlt worden sind. Insbesondere beiFrühbestrahlten zeigte sich eine ossäreSpinalkanalstenose durch die Verminde-rung des enchondralen Wachstums derneurozentralen Bogenepiphysen,wohin-gegen bei Spätbestrahlten (Diagnose-stellung nach dem 2 1/2sten Lebensjahr)weitaus weniger Veränderungen zu fin-den waren. Die trapezoidförmige Alte-ration bei LWK2 ist durch die Beeinflus-sung des Höhenwachstums erklärt. Dieswar uniform nachweisbar.

Das Wachstum der Bandscheiben istweitaus weniger beeinträchtigt. Deshalbentwickelt sich die für die strahlenindu-zierte Skoliose typische kompensatori-sche Erhöhung des Zwischenwirbelraumsin Relation zum keilförmig verändertenWirbelkörper selbst (Abb.11),sodass – ob-gleich eine trapezoide Form vorliegt – zu-

Abb. 10 � Bestrahlungs-planung zur Wilms-Tumor-therapie; Isodosenberech-nung des ventralen und dorsalen Stehfelds, projeziertauf das a.-p.-Bild

Abb. 11a,b � Kompensation der Keilwirbeldurch die asymmetrische Erhöhung des Zwischenwirbelraums im a.-p.-Röntgenbild (a)

und in der Schemazeichnung (b)

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| Der Orthopäde 1•20028

nächst der Skoliosewinkel, der hierdurchvorgegeben ist, geringer ist. Alle im Er-wachsenenalter nachuntersuchten Patien-ten wiesen eine Lumbalskoliose mit Kon-kavität zur bestrahlten Seite auf. DerLWK2 war der Scheitelwirbel,der 12.BWKder obere und der 4.Lendenwirbel der un-tere Neutralwirbel. Dies war unabhängigvom Ausmaß der Skoliose.

Das Ausmaß der Skoliose selbst istvom Zeitpunkt der Bestrahlung abhängig.So zeigte sich die ausgeprägteste Skoliosebeim jüngsten bestrahlten Kind (Bestrah-lungsalter 1/2 Jahr), das bei einem COBB-Winkel von 60° im Alter von 13 Jahren alseinziges spondylodesiert wurde. Wegender zunächst kompensatorisch relativen

Erhöhung des Zwischenwirbelraums ent-wickelt sich eine nennenswerte Skoliose,die erst Jahre nach Abschluss der Bestrah-lung erkennbar wird. Daher sind bei die-sem Patientenkollektiv langfristige Kon-trollen prinzipiell notwendig.Die Progre-dienz der aktinogenen Skoliose ist annä-hernd vergleichbar mit der idiopathischerSkoliosen.

Da der Beckenkamm mit im Be-strahlungsfeld liegt, ist folglich dort dasWachstum gleichermaßen reduziert.Teilweise differiert die Beckenkammhö-he in Relation zur unbestrahlten Seitebis zu 4 cm. Daher kann es geschehen,dass irrtümlicherweise ein die Skolioseverstärkender Beinlängenausgleich ver-

ordnet wird bei indirekter Beinlängen-bestimmung am Beckenkamm (Abb. 12).Im seitlichen Profil entsteht durch dietrapezoidförmig Veränderung im Be-strahlungsbereich immer eine patholo-gische lumbale Kyphose und – aufgrunddes kompensatorischen Wachstums – ei-ne tiefthorakale Lordose. Die sagittaleForm der Wirbelsäule ist somit fünfbo-gig (Abb. 13).

Die Inzidenz der Spina bifida nachWachstumsabschluss war deutlich er-höht (5. Lendenwirbel 33% gegenüber7% Normalkollektiv, sakral 93% gegen-über 18%). Durch die Beeinträchtigungdes enchondralen Wachstums war die„Durchossifzierung“ des Bogens ausge-blieben.

Zusammenfassend ist zu bemerken,dass die enchondrale Ossifikation ana-log zu den bei den Extremitäten gefun-denen Veränderungen stärker durch dieBestrahlung beeinflusst wird als das pe-riostale Wachstum. Das Bandscheiben-wachstum wird durch die Bestrahlungweniger beeinträchtigt, sogar kompen-satorisch vermehrt und führt zur parti-ellen Kompensation der statischen De-formität.

Kyphosen

Die Differenzierung zwischen physiolo-gischen und pathologischen Formen istbei Kyphosen schwieriger,da ja physiolo-

Abb. 12 �„Iatrogener, skoliogener“ Beinlängenausgleich bei Strahlenskoliosen anhandder indirekten Beinlängenmessung am Beckenkamm

Abb. 13 � Fünfbogiges, sagittalesWirbelsäulenprofil bei strahlen-

therapierten Wilms-Tumorpatienten

Der Orthopäde 1•2002 | 9

gischer Weise eine Kyphose im thoraka-len Bereich besteht und somit der Über-gang zur pathologischen Entwicklungnur fließend definiert werden kann. An-guläre oder arkuläre Kyphosen im Kin-desalter können von unterschiedlicherÄtiologie sein, beginnend bei juvenilerOsteoporose und Spondylitiden,seltenertraumatischen Ereignissen bis zur häu-figen Erkrankung des M. Scheuermann.

Bei angulären Kyphosen ist immerein kompensatorisch vermehrtes Hö-henwachstum der angrenzenden nichtdurch die Pathologie beeinflussten Wir-belsäulenabschnitte sichtbar. Bei rever-siblen Osteopathien, insbesondere derjuvenilen Osteoporose, ist im Gegensatzzum Erwachsenen bei Verbesserung derStoffwechselsituation immer ein reakti-ves Mehrwachstum bis hin zur vollstän-digen Kompensation der Deformität zubeobachten, da die Erkrankung selbstdie Wachstumszonen nicht zerstört(Abb. 14).

Interessant ist die Verlaufsbeobach-tung nach der Korrektur kindlicher Ky-phosen. Erfolgt eine Kyphosenkorrekturerst nach Ende des Wachstums mit allei-niger dorsaler Instrumentation, kommtes regelmäßig durch die auf Dauer aus-bleibende ventrale Abstützung zum Im-plantatversagen (Spondylodeseverfah-ren). Hingegen ist bei Instrumentationim Wachstumsalter grundsätzlich einvermehrtes ventrales Nachwachsen „indie Lücke hinein“ zu beobachten. Hier-bei ist zu beachten, dass insbesonderebei Jungen aufgrund des erst spät en-denden Höhenwachstums der Wirbel-

säule bei dorsaler Aufrichtung der In-strumentation bis zum 17-Jährigen nochder Effekt des Nachwachsens der Wir-belkörper eintreten kann [7].

Spina bidifa

Der Begriff der Spina bifida wird unter-schiedlich angewendet. Als radiologi-scher Befund in der konventionellenBildgebung wird das Fehlen der knö-chernen Überbrückung der dorsalenWirbelbogenanteile gesehen. Diese sagtnichts über die Ätiologie, Pathogeneseund klinische Bedeutsamkeit dieses „Be-fundes“ aus.Vergleichende anatomischeStudien zwischen der Spina bifida aper-ta mit dem viel häufigerem isolierten ra-diologischen Befund der fehlenden knö-

chernen Überbrückung zeigen einenprinzipiellen Unterschied. Bei der Spinabifida aperta liegt während der Embryo-nalentwicklung gleichzeitig eine Fehlbil-dung des Neuralraums vor.Die Bogenen-den sind divergierend. Im postnatalenWachstum besteht keinerlei Chance,dassdiese Bogenenden „zueinander finden“.

Ist der Wirbelkanal knorpelig dor-sal geschlossen, d. h. die Bogenendensind konvergierend zueinander ausge-richtet,erfolgt meist durch enchondralesWachstum der „Bogenschluss“. Dies er-klärt den Rückgang des radiologischenBefundes der Spina bifida bei epidemo-logischen Längsschnittuntersuchungenvon Kindern. Pathomorphologisch istsomit eine klare Differenzierung zurSpina bifida aperta gegeben.

Abb. 14 � Röntgenverlauf einer juvenilen Osteoporose. Rückgang der Fisch- und Keilwirbelbildung nachBesserung der Stoffwechselsituation im Verlauf

Abb. 15a–c � Differenzierung der Spina bifida occulta

im Röntgenbild. a klaffend,b angenähert, c überlappend

Zum Thema: Krummer Rücken

| Der Orthopäde 1•200210

Interessant ist die pathoanatomi-sche Feindifferenzierung der radiologi-schen „Spina bifida occulta“. Ihr Erschei-nungsbild kann eine klaffende, eine an-genäherte oder eine überlappende Formaufweisen (Abb. 15).

So fanden wir regelmäßig bei Pati-enten, die wegen eines Wilms-Tumorsstrahlentherapiert worden waren, imBestrahlungsbezirk entweder die klaf-fende oder angenäherte Form, wohinge-gen bei der kindlichen Spondylolisthe-sis die überlappende Form zahlenmäßigdeutlich überwog.

Dies lässt sich durch die unter-schiedliche Ursache erklären. Bei derBestrahlung wird das enchondraleWachstum gestört, eine mechanische Al-teration des Wirbelbogens per se liegtaber nicht vor, sodass lediglich die knö-cherne „Durchossifizierung“ des Wir-belbogens dorsal ausbleibt.

Hingegen führt die Spondylolyse zueiner ausgeprägten mechanischen Insta-bilität im dorsalen Bogenbereich [16].Die mechanische Instabilität führt zuVerschiebungen der beiden Bogenendenzueinander. Dies entspricht röntgen-morphologisch und pathoanatomischder überlappenden Form der „Spina bi-fida occulta“.

Fazit für die Praxis

Die Wachstumsdynamik der einzelnenWachstumszonen an der Wirbelsäule ist sehrunterschiedlich.Während die neurozentraleBogenepiphyse, die für die Größe des Wirbel-kanals maßgebend ist, eine hohe Wachs-tumsdynamik embryonal und in der früh-kindlichen Entwicklung korrespondierendzum zentralen Nervensystem in dieser Zeit-periode zeigt, sistiert dieses Wachstum sehrfrüh. Hingegen ist das enchondrale Höhen-

wachstum in den Wachstumszonen der Wir-belkörperabschlussplatten von anderer Dy-namik mit einem Maximum während undauch noch nach der Pubertät, die beim Jun-gen erst etwa mit dem abgeschlossenen17. Lebensjahr endet.

Das enchondrale Wachstum der Wirbel-säule ist sensibler für Störungen als das pe-riostale Breiten- und Tiefenwachstum. Diesist anlog zu den Extremitäten.

Die Veränderungen nach Bestrahlungenim Bereich der Wirbelsäule im Rahmen einerWilms-Tumortherapie zeigen ein uniformesBild der Skolioseentwicklung mit Scheitel-wirbel L2, gleichzeitig Kyphosierung durchdie trapezoidförmige Konfiguration, die ent-sprechend der Strahlenfeldposition ein Wir-belsäulenwachstum zeigt, das mit kleinsterHöhe ventral und zur Bestrahlungsseite hinausgerichtet ist. Auch das enchondrale dor-sale Wirbelsäulenwachstum wird stark be-einträchtigt. So kommt es bei frühkindlichenBetrahlungen durch die Behinderung derneurozentralen Bogenepiphyse zur Spinalka-nalstenose und zum Ausbleiben der Durch-ossifizierung des dorsalen Wirbelbogens.

Bei der Spondylolisthesis wird die Pa-thogenese durch initial pathologischesWachstum des Segments und daraus resul-tierende Spondylolyse erklärt. Differenziertwird zwischen dem häufigen isolierten ra-diologischen Befund der Spina bifida occul-ta, einer Ossifikationsstörung der zueinanderkonvergierend angeordneten dorsalen Wir-belbogen mit knorpeliger Überbrückungohne klinische Relevanz und der Spina bifidaaperta mit divergierenden dorsalen Wirbel-bogen, mit Neuralraumdefekt und ohneÜberbrückung (Abb. 16).

Universelles Prinzip bei kurzsegmenta-len Deformitäten der kindlichen Wirbelsäuleist das kompensatorische Wachstum der an-grenzenden Wirbelsäulenabschnitte. So wer-den fast alle Deformitäten der Wirbelsäule,die im Wachstumsalter vorhanden sind, re-spektive entstehen, durch kompensatori-sches Wachstum der darüber und darunterliegenden Wirbelsäulenabschnitte so ausge-glichen, dass die Augenachse horizontalisiertund die Wirbelsäule als Ganzes in sich im Lotsteht.

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Abb. 16 � Morphologisches Präparat (6. Em-bryonalmonat) einer Spina bifida aperta.Die beiden Wirbelbogenenden (Pfeile) gehendivergierend vom Wirbelkörper ab

Der Orthopäde 1•2002 | 11

Zusammenfassung

Obwohl seit der Antike praktiziert, ist die

konservative Behandlung von Wirbelsäulen-

deformitäten bis auf den heutigen Tag

umstritten. Am Beispiel der idiopathischen

Skoliose und der Scheuermann-Kyphose

wird die historische Entwicklung der konser-

vativen Therapie unter besonderer Berück-

sichtigung der Orthetik und Physiotherapie

dargestellt. Es ist dabei erstaunlich, wie früh

bereits wesentliche und noch heute gültige

Prinzipien konservativer Behandlung erar-

beitet wurden und wie viele der modernen

Behandlungskonzepte schon im 19. Jahr-

hundert beachtliche Vorläufer aufweisen.

Anhand der bisherigen Erkenntnisse

und eigener Erfahrungen werden Indikation,

Durchführung und realistische Möglichkei-

ten der aktuellen konservativen Behandlung

bei idiopathischer Skoliose und Scheuer-

mann-Kyphose aufgezeigt.

Schlüsselwörter

Wirbelsäule · Idiopathische Skoliose ·

Scheuermann-Kyphose · Spontanverlauf ·

Konservative Therapie · Korsettbehandlung ·

Medizingeschichte

Konservative Behandlung der idiopathischen Skoliose

Die Wirksamkeit der konservativen Be-handlungsmaßnahmen bei der idiopa-thischen Skoliose ist nicht erst in jüng-ster Zeit Gegenstand heftiger Diskussio-nen.Nicht einmal das Korsett als tragen-der Pfeiler der konservativen Skoliose-behandlung ist davon ausgenommen.Bereits 1908 hat Alfred Schanz (1868–1931) – ein führender Vertreter der deut-schen Orthopädietechnik – diesen Sach-verhalt angesprochen und zu erklärenversucht:„Wenn man die Geschichte die-ser Skoliose studiert, so sieht man, dassder orthopädische Apparat seit langerZeit eine große Rolle spielt. Es sind imLaufe der Zeit eine Unzahl von Kon-struktionen gegeben worden mit Varia-tionen in allen nur erdenklichen Rich-tungen. Trotzdem sind die Orthopädenniemals zu einer einheitlichen Wert-schätzung dieser Apparate gekommen.Man findet vielmehr zu allen Zeiten Dis-kussionen über die Zweckmäßigkeit derApparate in der Skoliosetherapie über-haupt, und ebensolche Diskussionenüber die einzelnen Apparate. Die Ursa-che für diese ganz auffällige Erschei-nung liegt darin, daß man die ganze Fra-ge nicht systematisch angegriffen hat,sondern daß man immer nur aus einzel-nen Beobachtungen einzelnen Versu-chen und einzelnen Resultaten verallge-meinernde Schlüsse zog. So mußte mannach den Zufallsverschiedenheiten der

Grundlagen zu verschiedenen Folgerun-gen gelangen“ [69].

Verstand Schanz unter systema-tisch, „daß man aus der Pathologie derSkoliose die allgemeinen Indikationenableitet und daß man sich fragt, … wieweit diese mit den Hilfsmitteln der or-thopädischen Technik zu lösen sind“[69] und nicht etwa – wie heutzutage ge-fordert – ein die Kriterien der EvidenceBased Medicine (EBM) erfüllendes Stu-dienkonzept – so hat seine Forderungnach einer systematischen Klärung derZweckmäßigkeit von Korsettbehandlun-gen nichts an Aktualität eingebüßt [22].Was für die Korsettbehandlung zutrifft,gilt in noch weit ausgeprägterem Maßefür die krankengymnastische Skoliose-therapie. Hier fehlen systematische Stu-dien weitgehend. Einzig über die Elek-trostimulation konnte in der Zwischen-zeit Klarheit gewonnen werden, sie hatsich nicht als wirksam erwiesen.

Historische Entwicklung der krankengymnastischen Skoliosetherapie

Die in der Antike zur Ausbildung eineswohlgeformten und gesunden Körpersgepflegte Gymnastik wurde bereits imVorfeld der Aufklärung von Nicolas An-

Zum Thema: Krummer RückenOrthopäde2002 · 31:11-25 © Springer-Verlag 2002

T. Böni1 · K. Min1 · F. Hefti2

1 Orthopädische Universitätsklinik Balgrist, Zürich2 Kinderorthopädische Universitätsklinik Basel

Idiopathische Skoliose und Scheuermann-KyphoseHistorische und aktuelle Aspekte der konservativen Behandlung

Dr.Thomas BöniOrthopädische Universitätsklinik Balgrist,

Forchstraße 340, CH-8008 Zürich, Schweiz

Zum Thema: Krummer Rücken

T. Böni · K. Min · F. Hefti

Idiopathic scoliosis and Scheuermann'skyphosis. Historical aspects and currenttrends in the nonoperative treatment

Abstract

Although in practice since antiquity the non-

operative treatment of spinal deformities

is still controversial. Giving preference to

orthotic treatment and physiotherapy the

historical development of nonoperative

treatment will be demonstrated by the

examples of idiopathic scoliosis and

Scheuermann's kyphosis. It is surprising how

early essential and still valuable principles of

nonoperative treatment had been acquired

and how many of the present-day concepts

have remarkable forerunners in the 19th

century.

In the light of previous knowledge and

personal experience the indication, practice

and realistic capabilities of modern nonope-

rative treatment of idiopathic scoliosis and

Scheuermann's kyphosis are pointed out.

Keywords

Spine · Idiopathic scoliosis ·

Scheuermann's kyphosis · Natural history ·

Nonoperative treatment · Orthotic treatment ·

Medical history

dry (1658–1742) zur Vorbeugung und Be-handlung von Körperdeformitäten emp-fohlen [4]. Die angegebenen Übungenzielten eher auf eine allgemeine Kräfti-gung und Haltungskorrektur und dür-fen noch nicht als spezifische Skoliose-gymnastik angesprochen werden. Erstzu Beginn des 19. Jahrhunderts findenwir Hinweise für eine gezielte kranken-gymnastische Behandlung der idiopa-thischen Skoliose. John Shaw (1791–1827)hielt regelmäßig und korrekt ausgeführ-te Krankengymnastik für die wirksam-ste Behandlungsmethode bei leichtenSkoliosen. Bei ausgeprägteren Deformi-täten sei sie zwar noch immer nützlich,eine Heilung könne aber nicht mehr be-wirkt werden [75]. Charles Gabriel Pra-vaz (1791–1853) verhalf der Kranken-gymnastik zu einem festen Platz in derSkoliosebehandlung und entwickelte da-zu spezielle Behandlungsgeräte [63].Jacques-Mathieu Delpech (1777–1832),[20] und Guillaume Jalade-Lafond(1805), [44] gaben hilfreiche Illustratio-nen für die Durchführung der empfoh-lenen Skolioseübungen.

Einen maßgeblichen Einfluss aufdie weitere Entwicklung der Skoliose-gymnastik übte Pehr Hendrick Ling(1776–1839), der Begründer der auf me-chanische Hilfsmittel verzichtendenschwedischen Heilgymnastik, mitseinen unter Anleitung des Arztesoder Krankengymnasten ausgeführten„Widerstandsbewegungen“ aus. H.W.Berend, Moritz Michael Eulenburg(1811–1887),George H.Taylor (1821–1896)und Mathias Roth (1819–1891) machten

sich um die Verbreitung und Weiterent-wicklung des Lingschen Systems ver-dient. Mit Jonas Gustav Wilhelm Zander(1835–1920), dem Begründer der Me-dico-Mechanik,nahm die apparative Be-handlung Einzug in die Skoliosegymna-stik. Seine verschiedenen, nach wissen-schaftlichen Prinzipien entwickeltenApparate ermöglichten es ihm, in sei-nem Institut mehrere Skoliosepatientengleichzeitig zu behandeln. Zahlreiche,z. T. hochdifferenzierte Apparate zur ak-tiven und passiven Skoliosetherapiewurden um die Jahrhundertwende vonAugust Ludwig Karl Wullstein (1864–1930), [88] und Wilhelm Schulthess(1855–1917), [73] entwickelt.

Die in Präzisionsarbeit ausgeführ-ten redressierenden Bewegungsappara-te mit ihren Skalen gestatteten demHilfspersonal im Übungssaal (Abb. 1),ohne großen Zeitaufwand die individu-elle Ausgangsposition für jeden Skolio-sepatienten einzustellen. Sie erlaubtendie Durchführung gezielter aktiver bzw.passiver, isometrischer bzw. nicht iso-metrischer Widerstandsbewegungen ineng umschriebenen Wirbelsäulenab-schnitten. Die aufwendige und kosten-intensive maschinelle Orthopädie konn-te sich in der Skoliosegymnastik nichtdauerhaft durchsetzen. Die einfache ak-tive Skoliosegymnastik konnte ihr Feldbehaupten. Die „selbsttätige Redressi-onsbehandlung“ der Skoliose wurdeerstmals von Adolf Lorenz (1854–1946)in seiner 1886 erschienen Monographie„Pathologie und Therapie der seitlichenRückgratsverkrümmung (Scoliosis)“

| Der Orthopäde 1•200212

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Abb. 1 � Um die Jahrhundertwende prägte die „Medico-Mechanik“ das Bild der Skoliosebehandlung. Hier die Ansicht des großen Übungssaales der Anstalt Balgrist in Zürich mit ihrer Abteilung für redressierende Bewegungsapparate. Wilhelm Schulthess (1855–1917),der Begründer der Klinik, hat die meisten der hier abgebildeten – heute nicht mehr erhaltenen – aktiven und passiven Bewegungs-apparate selbst entwickelt (Archiv Balgrist)

[50] propagiert und 1905 von AlbertHoffa (1859–1907) wieder aufgenom-men.Auch die passive manuelle Redres-sionsbehandlung der Skoliose geht aufLorenz zurück und wurde von Hoffa inForm der „Umkrümmungsübungen“weitergeführt.

Einen anderen Weg in der Skoliose-gymnastik beschritt Rudolf Klapp(1873–1949) mit dem nach ihm benann-ten „Kriechverfahren“ [46], das ur-sprünglich zur Mobilisierung versteifterSkoliosen gedacht war und durch dieAusübung im Kreis mit Tiefer- und Hö-herstellen einzelner Extremitäten eineasymmetrische Kräftigung der Rücken-muskulatur und eine Torsionswirkungauf die Wirbelsäule anstrebte.

Die an Erfindungen überaus reicheund maßgeblich von Ärzten getragenePhase der Skoliosegymnastik um dieJahrhundertwende machte unter demEinfluss der Röntgendiagnostik einerzunehmenden Ernüchterung und Resi-gnation Platz.Die krankengymnastischeBehandlung wurde nun zunehmendnichtärztlichen Therapeuten überlassenund von diesen zu mehr oder wenigergeschlossenen Systemen ausgebaut. AufMoritz Hermann Gocht (1869–1938) undseine noch in Schweden ausgebildeteKrankengymnastin Frau Gessner gehendie vor dem Zweiten Weltkrieg in derBerliner Charité entwickelten, damalsnicht publizierten „Korrekturübungennach Gocht-Gessner“ zurück. Das Prin-zip wurde von den Krankengymnastin-nen Hilda Mater und Heidi Martens wei-terentwickelt und erst 1999 von der Phy-

siotherapeutin Edeltraud Dieffenbacheiner breiteren medizinischen Oeffent-lichkeit zugänglich gemacht [23]. Auchdas von Luise und Egon von Niederhöf-fer [58] entwickelte Behandlungskon-zept gründet, wie dasjenige von Gocht-Gessner, in der schwedischen Heilgym-nastik. Als Behandlungsansatz wurdedie konkavseitige, als überdehnt undschwächer beurteilte „Quermuskulatur“aufgefasst, die es durch gezielte isome-trische Übungen anzugehen galt. DiesesKonzept wurde in der Folge von E.Becker [8] weiter ausgebaut.

Ebenfalls ein eigenständiges kran-kengymnastisches Skoliosetherapiekon-zept entwickelte Martha Scharll nachdem Zweiten Weltkrieg in München[70]. Sie löste sich vom nicht erreichba-ren Behandlungsziel der Krümmungs-korrektur und strebte einen befundori-entierten Ausgleich der seitenunglei-chen Haltungs- und Bewegungsmusteran. Ihr Behandlungskonzept wurde vomArzt Michael Weber und der Kranken-gymnastin Susanne Hirsch weiterent-wickelt und ausgebaut [81].

Wohl am bekanntesten im deutsch-sprachigen Raum wurde die von Katha-rina Schroth (1894–1985) 1924 erstmalsmitgeteilte „Atmungs-Orthopädie Ori-ginal Schroth“. Bereits der Titel ihrerErstveröffentlichung „Die Atmungs-Kur– Leitfaden zur Lungengymnastik“ [72]weist auf die zentrale Rolle der Atmungbei der Skoliosegymnastik hin. Durchden „Dreh-Atem“, das gezielte konkav-seitige Einatmen ins Rippental, gelingteine aktive Selbstkorrektur der skolioti-

schen Fehlhaltung, d. h. des noch beweg-lichen Anteils der seitlichen bzw. rotato-rischen Deformität.

Die Schroth-Therapie wurde stetig,zuerst durch Katharina Schroth selbst,später durch ihre Tochter Christa Leh-nert-Schroth [48] und ihren Enkel, denArzt Hans-Rudolf Weiss, weiterent-wickelt.Sie versteht sich heute als dreidi-mensionale Skoliosebehandlung, die aufsensomotorischen und kinästhetischenPrinzipien beruht. Das Behandlungs-programm beinhaltet die Korrektur derskoliotischen Haltung und die Korrek-tur des skoliotischen Atemmusters un-ter Zuhilfenahme von propriozeptivenund exterozeptiven Reizen sowie derSpiegelkontrolle. Das aus zahlreichen –wie in der modernen Korsettbehand-lung – mit der Beckeneinstellung begin-nenden Übungen bestehende Therapie-system ist systematisch aufgebaut undverfügt über eine eigene Nomenklatur.

Die Erlernung der später selbständigdurchführbaren Schroth-Therapie erfolgtambulant oder stationär unter Anleitungvon speziell dafür ausgebildeten Physio-therapeutinnen. Neben Motivation, Dis-ziplin, einem Mindestmaß an intellektu-ellen Fähigkeiten sowie der Bereitschaft,ein Gefühl für den eigenen Körper zu ent-wickeln,stellt die Eigenverantwortlichkeitdes Skoliosepatienten eine wichtige Vor-aussetzung für diese Therapie dar. Siekann auch in einem geeigneten Korsett(CTM, CBW), durch Atmen in die Frei-räume hinein, ausgeführt werden.

Neben diesen klassischen kran-ken gymnastischen Übungssystemen(Schroth, Gocht-Gessner, v. Niederhöf-fer, Scharll) kommen auch die in Anleh-nung an die entwicklungskinesiologi-sche Therapie von Vaclav Vojta [79]durch P. Hanke [33] enwickelte E-Tech-nik (Reflexkriechen, Reflexumdrehen)sowie die PNF (propriozeptive neuro-muskuläre Fazilitation), [77] bei deridiopathischen Skoliose zur Anwen-dung. Diese Verfahren zielen auf eine re-flektorische Anbahnung bzw. Aktivie-rung korrigierender – neuer oder verlo-rengegangener – Bewegungsmuster undsind weitestgehend auf die Mitarbeit desTherapeuten angewiesen.

Historische Entwicklung der Korsett- und Gipsbehandlung

In der medizinischen Literatur der Anti-ke und Spätantike suchen wir vergeblich

Der Orthopäde 1•2002 | 13

Abb. 2 � Ambroise Paré (1500–1590), dem wohl bedeutendsten französischen Chirurgen der Renaissance, verdanken wir die erste Abbildung eines Skoliosekorsetts. Sein „Corselet pour dresser un corpstortu“ ist aus dünnem Eisen gefertigt und, um es leichter zu machen,mit Löchern versehen. Er legte Wert darauf, dass das Korsett gut angepasst und gepolstert wird, um nicht zu verletzen und verlangte,dass es im Wachstumschub alle 3 Monate gewechselt werden soll,um nicht zu schaden [60]

Zum Thema: Krummer Rücken

nach Hinweisen auf Rumpforthesen zurSkoliosebehandlung. Einzig bei Paulosvon Aegina (7. Jahrhundert) werden inLib. VI Cap. 117 „Über die Wirbel desRückgrats“ [61] gepolsterte Latten undeine Bleiplatte im Zusammenhang mitder Skoliose erwähnt: „dass man beiSkoliose ähnlich wie bei Lordose undKyphose eine Zusammenschnürungund eine Zusammenpassung bewerk-stelligen und alsdann Holzlatten, dreiFinger breit, etwas länger als die Längeder Verkrümmung beträgt, mit Leinenund Werg gepolstert auf die Wirbel le-gen und zweckentsprechend festbindenkönne. Man gebe eine leichte Nahrung.Wenn dennoch Spuren des Buckels zu-

rückbleiben, so soll man lange Zeit er-schlaffende und erweichende Umschlä-ge zugleich mit den angedrückten Lat-ten anwenden. Einige haben auch einePlatte von Blei in Anwendung gezogen.“

Aus dem Sinnzusammenhang derTextstelle ist jedoch unter Skoliose ehereine infolge plötzlicher Gewalteinwir-kung entstandene Seitverkrümmung alseine Deformität zu verstehen. Dies ent-spricht durchaus der hippokratischenTradition, in der die seitliche Verkrüm-mung der Wirbelsäule bei den Verren-kungen abgehandelt wird. Für die medi-zinischen Autoren des Mittelalters ist dieorthetische Behandlung der Skoliose keinThema. Erst in der Neuzeit, und mit kei-

nem Geringeren als Ambroise Paré(1500–1590), findet das Korsett Eingangin die Behandlung der Wirbelsäulende-formitäten. Im 17. Buch seiner Chirurgie(1575/1579), [60], das den „Behelfen undKunstgebilden zum Ausgleich natürlicheroder durch Unfall entstandener Mängel“gewidmet ist, handelt das 8. Kapitel „Vondenjenigen die verkrümmt sind und einverbogenes Rückgrat haben“.

Für die Behandlung der – haupt-sächlich bei Mädchen zu beobachtenden– seitlichen Verbiegung der Wirbelsäulein Form des Buchstabens S empfiehlt ersein „Korsett um einen krummen Kör-per aufzurichten“ (Abb. 2): „Um ein sol-ches Gebrechen wiederherzustellen

| Der Orthopäde 1•200214

Abb. 3 � a Jean André Venel (1740–1791), hier im Alter von 50 Jahren,gründete 1780 das erste orthopädische Spital der Welt in Orbe (Schweiz)und bot seinen Skoliosepatienten ein umfassendes Behandlungs-konzept (Physiotherapie, Korsett, Streckbett), (Stich von Wilhelm Bock).b Venel's „appareil du jour“ verfügte als erstes Skoliosekorsett nebenMechanismen für die Extension und Translation über eine spezielle Vorrichtung zur Derotation [78]. c Einziges erhalten gebliebenes,wahrscheinlich auf Venel's Nachfolger und Neffe Pierre Frédéric Jaccard(1768–1820) zurückgehendes „Corset redresseur“ mit dem in der Mittedes Korsetts angebrachten Derotationsmechanismus (Medizinhistori-sches Museum der Universität Zürich). d Nicht nur das Prinzip der Derotation geht auf Venel zurück, mit seinem „lit à extension“ schuf er auch das erste Streckbett zur Skoliosebehandlung [78]

oder zu verbergen, läßt man Korsetteaus dünnem Eisen tragen, die mit Lö-chern versehen sind, damit sie nicht zuschwer wiegen und die so gut angepaßtund gepolstert sind, daß sie keineswegsverletzen: diese sollen oftmals gewech-selt werden und bei denen die wachsen,müssen sie alle drei Monate gewechseltwerden, mehr oder weniger, sowie mansieht, dass es nötig ist: weil andernfalls,anstelle dass man etwas Gutes tut, tutman etwas Schlechtes“ [60].

Die von Francis Glisson (1597–1677)in „De rachitide“ (1650) angegebeneSchwinge oder Schwebe („Englishswing“,„escarpolette anglaise“) zur kor-rigierenden Extensionsbehandlung derrachitischen Skoliose [31] wurde späterzum festen Bestandteil verschiedenerApparate zur Behandlung der idiopathi-schen Skoliose. Jean-André Venel (1740–1791), (Abb. 3a), der 1780 die erste ortho-pädische Klinik der Welt in Orbe(Schweiz) gründete, gelang in seiner„Description de plusieurs nouveaux mo-yens mécaniques, propres à prévenir,borner et même corriger, dans certainscas, les corbures latérales et la torsion del'épine du dos“ (1788), [78] ein konzep-tioneller Durchbruch in der Korsettkon-struktion. Sein Korsett („appareil dujour“), (s. Abb. 3b, c) verfügte, neben ei-ner Extensionsvorrichtung für den Kopfund die Axillen sowie translatorisch wir-kenden Pelotten, erstmals über einen in

die letzteren integrierten Derotations-mechanismus zur Korrektur der Torsi-on (s. Abb. 3d).

Venel [78] darf zu Recht als Vaterdes Derotationsgedankens in der Skolio-senbehandlung bezeichnet werden. Erwar der festen Überzeugung, dass dieSkoliosebehandlung keine Unterbre-chung dulde und entwickelte deswegendas erste Streckbett („lit à extension“)zur Skoliosebehandlung, seinen „appa-reil de nuit“. Mit seinem Korsett undStreckbett, stets ergänzt durch Bewe-gungsübungen und passive Applikatio-nen, erzielte Venel für seine Zeit beacht-liche Resultate.

Kaum mehr zu überblicken sind dieim 19. Jahrhundert vorgeschlagenenKorsette und portablen Apparate zurSkoliosebehandlung. Neben heute gro-tesk anmutenden Konstruktionen, wiedem Apparat von Brown (1848), [29], fin-den sich textile und semirigide Orthe-sen – wie die Bandagen von Barwell(1877,) [29], (Abb. 4a) oder den Apparatvon Dürst (1857), [29] – die durchaus alsVorläufer der heute wieder auf großesInteresse stoßenden dynamischenSkolioseorthesen, wie dem „DynamicBrace“ von Rivard und Coillard (Spine-Cor, Fa. Biorthex), (s. Abb. 4b) oder derdynamischen Skolioseorthese in offenerRahmenkonstruktion nach Veldhuizen(TriaC, Fa. Sporlastic), bezeichnet wer-den dürfen.

Nach der Erfindung der Gipsbindedurch Antonius Mathysen (1805–1878)im Jahre 1851, fand die Gipstechnik nochim gleichen Jahrhundert Eingang in dieSkoliosebehandlung. Zu den Pionierendes redressierenden Gipsverbandes zäh-len neben Lewis Albert Sayre (1820–1900), der den Gips im Stehen unter Ex-tension (Glisson- und Achselschlinge)1877 [68] anlegte, Alfred Schanz (1868–1931), der den Seriengips einführte, Au-gust Ludwig Karl Wullstein (1864–1930),der 1902 einen speziellen Behelf zumAnlegen des Gipses im Sitzen (Wull-stein-Apparat) entwickelte und EdvilleGerhardt Abbott (1870–1938), der dasAnlegen des Gipses im Liegen in einemeigens dazu entwickelten Rahmengestell(Abbott-Tisch) 1911 [1] bevorzugte.

Der „turnbuckle cast“ (Umkrüm-mungs-Quengelgips) wurde 1924 von Ro-bert Williamson Lovett (1859–1924) undBrewster und erneut 1953 von Risser [66]empfohlen. Die Idee des seriellen Gipseswurde 1948 von von Lackum [80] mit dem„surcingle cast“, 1958 von Risser mit sei-nem „localizer cast“,einer Weiterentwick-lung des „turnbuckle cast“, mit zusätzli-chem lateralem Druck zur Redression,und 1964 von Yves Cotrel [54] mit seinem„plâtre EDF“ (Extensions-Derotations-Flexions-Gips) wieder aufgenommen.

1958 schlugen Stagnara u. Perdriol-le [76] den „plâtre à tendeurs“, den soge-nannten Extensions-Quengel-Gips, vor.Durch eine Spindel ermöglichte er einekontinuierliche Streckung und Umbie-gung der Wirbelsäule.Die moderne Kor-settbehandlung wurde von Blount undSchmidt mit dem erstmals 1946 für diepostoperative Stabilisation entwickeltenMilwaukee-Korsett eingeleitet. In den50er Jahren fand es dann Eingang in diekonservative Skoliosebehandlung [11].Das auf einer Beckenfassung mit deutli-cher Bauchpresse zur Extension undEntlordosierung aufbauende Milwau-kee-Korsett kombiniert die ursprünglichpassive distrahierende – später aktiveextendierende – Wirkung eines Hals-rings (Kinnanlage, Okzipitalpelotte) mitder redressierenden Wirkung von lum-balen und thorakalen Pelotten bzw.Ach-selschlingen. Durch den Halsring ist esals einziges Skoliosekorsett für die Be-handlung von idiopathischen hochtho-rakalen Skoliosen (Skoliosescheitel hö-her als Th6) geeignet. 1950 stellte Stag-nara das Lyoner-Korsett vor.Die auch alsStagnara-Korsett bezeichnete Skolio-

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Abb. 4 � a Der Wunsch nach einer flexiblen Skolioseorthese ist alt. Im 19. Jahrhundert wurden bereits zahlreiche Lösungsvorschäge vorgelegt wie die abgebildete, von Barwell1877 in London angegebene und nach ihm benannte „dorso lumbar bandage“ [29].b Die moderne flexible Skolioseorthese von Rivard und Coillard (SpineCor, Fa. Biorthex)knüpft an die Tradition der im 19. Jahrundert entwickelten Skoliosebandage von Barwell,Sayre und Fischer an (Fa. Biorthex)

Zum Thema: Krummer Rücken

seorthese verfügt über eine Bauchpressezur Extension sowie neben Freiräumenüber großflächige Druckpelotten zurTranslation und Derotation. Da die Frei-räume nicht konsequent gegenüber denDruckpelotten angebracht sind, übt die-ses Korsett teilweise eine komprimieren-de Wirkung aus und gestattet kein akti-ves Ausweichen in die Freiräume hinein.

In den 70er Jahren entwickeltenHall, Watts und Miller am Boston Chil-dren's Hospital das Boston-Korsett alsvorwiegend derotierende, in verschiede-nen Größen erhältliche, vorgefertigteModulorthese [32]. Neben einer Bauch-presse zur Extension werden einklebba-re Pelotten zur Derotation und Transla-tion eingesetzt. Die Möglichkeit derSchaffung von Freiräumen gegenüberden Pelotten ist beschränkt.

1970 stellte Chêneau erstmals einaktives Skoliosekorsett vor. Er verzichte-te dabei auf eine ausgeprägte Bauchpres-se zur Extension und Delordosierungder Lendenwirbelsäule und betonte dieSchaffung von Freiräumen für die akti-ve Wegbewegung von den Druckpelot-ten. Dieses Korsett, von Chêneau bis aufden heutigen Tag ständig weiterent-wickelt, fand als CTM (Chêneau-Toulouse-Münster)-Korsett Verbreitungund wurde seither wiederholt modifi-ziert (Rahmouni, Rigo, Weiss).

1982/83 versuchten Eichler und Rex-ing [26] die Prinzipien von Chêneau mitdenjenigen des Boston-Korsetts zu ver-binden und entwickelten das CBW(Chêneau-Boston-Wiesbaden)-Korsett.Neben einer individuellen Bauchpresse,dorsalem Verschluss und zusätzlich ein-klebbaren Druckpelotten zur Derotationund Translation (Boston),verfügt es überkonsequent gegenüber den Pelotten ange-brachte Freiräume zur aktiven Korrektur(Chêneau) und legt besonderes Gewichtauf die Einstellung des sagittalen Profils.Weniger Verbreitung in Europa fand dasin den 70er Jahren von Bunnell am Wil-mington Children’s Hospital in Delawareentwickelte Wilmington-Korsett [16].DasKorsett wird nach einem in korrigierterStellung im Cotrel- bzw. Risser-Rahmenabgenommenen Gipsabdruck gefertigt.Starke Extension, Derotation und Kom-pression bewirken eine passive Korrektur,Freiräume fehlen gänzlich.

Als Alternative zu den bisher ange-führten Ganztagskorsetten,entwickeltenReed u.Hooper seit 1978 den Charleston-Bending-Brace (CBB) als Nachtorthese.

Angestrebt wird eine massive Korrektur(75%), wenn möglich gar eine Überkor-rektur der Primärkrümmung durch Fi-xierung in Seitneigung (Bending).Dero-tierende Pelotten oder Freiräume sindnicht vorgesehen, auf die Gefahr einerZunahme von Sekundärkrümmungenmuss besonders geachtet werden.

Historische Entwicklung der Elektrostimulation

Bereits 1856 berichtete X.Seiler [74] überseine in Paris durchgeführten Behand-lungen von Wirbelsäulendeformitätenmit galvanischem Strom. Nachdem esOlsen et al. [59] um die Mitte der 70erJahre gelang, durch elektrische Stimula-tion implantierter Elektroden im Tier-versuch Skoliosen zu erzeugen und zukorrigieren, stellten 1979 Bobechko et al.[12] ein implantierbares System für denEinsatz am Menschen vor. Wegen zahl-reicher technischer Probleme fand eskeine weitere Verbreitung. Erst die Ent-wicklung seitlicher transkutaner Elek-trostimulation in den 80er Jahren durchAxelgaard u.Brown [6] und Mc Cullough[52], welche eine aktive Kontraktion derkonvexseitigen Rumpfmuskulatur durchkonvexseitiges Anbringen der Elektro-den am oberen und unteren Ende derHauptkrümmung bewirkte, löste einenregelrechten Boom der Elektrotherapiein der Skoliosebehandlung aus. Die Be-handlung wurde nach mehreren Multi-centerstudien von der FDA zugelassen.Bereits 1987 erfolgten jedoch erste Mel-dungen über Therapieversager und dieMethode geriet rasch in Misskredit.

Aktuelle konservative Behandlungder idiopathischen Skoliose

Die primären Ziele der konservativenBehandlung umfassen die:

● Verlangsamung der Progredienz,● Verhinderung der Progredienz,● Korrektur der bestehenden Krüm-

mung (Initialkorrektur, Langzeit-korrektur).

Zum Erreichen der primären Behand-lungsziele stehen folgende konservativeBehandlungsmaßnahmen zur Diskus-sion:

● krankengymnastische Skoliosethera-pie (Physiotherapie),

● Korsett- bzw. Gipsbehandlung,● (Elektrostimulation).

Aktuelle krankengymnastischeSkoliosetherapie (Physiotherapie)

Ungezielte physiotherapeutische Maß-nahmen haben heute keinen Platz mehrin der konservativen Skoliosebehand-lung. Korrektur-, Aufbau- und Atem-übungen sollen individuell, d. h. befund-orientiert, für jeden Skoliosepatientenfestgelegt und systematisch erlernt wer-den. Für die moderne krankengymna-stische Skoliosetherapie ist die Korsett-behandlung integraler Bestandteil deskonservativen Behandlungskonzepts.Sie trägt diesem Umstand durch diekrankengymnastischen Übungen imKorsett Rechnung. Es stehen heute ver-schiedene spezifische krankengymna-stische Skoliosebehandlungskonzeptezur Verfügung, die diese Anforderungenerfüllen:

● Skoliosetherapie nach Schroth(Weiterentwicklung nach Lehnert-Schroth [48] und Weiss/Rigo [82]),

● Skoliosetherapie nach Gocht-Gessner (Weiterentwicklung nachDieffenbach [23]),

● Skoliosetherapie nach Scharll(Weiterentwicklung nach Weber u.Hirsch [81]),

● Skoliosetherapie nach v. Nieder-höffer [58],

● Skoliosetherapie auf entwicklungs-kinesiologischer Grundlage (E-Technik) nach Hanke [33],

● Skoliosetherapie auf sensomoto-risch-kinästhetischer Grundlage(PNF-Technik= propriozeptive neu-romuskuläre Fazilitation), [77].

Die krankengymnastische Behandlungder idiopathischen Skoliose stellt hoheAnforderungen an den Therapeuten underfordert deshalb eine spezielle Ausbil-dung und Erfahrung in den angeführtenBehandlungsmethoden. Auch vom Pati-enten wird bei der Erlernung und bei derkonsequenten selbständigen Fortfüh-rung dieser Skoliosetherapien ein hoherEinsatz erwartet. Er ist nur durch Diszi-plin und Übernahme von Selbstverant-wortung zu leisten. Ist die Diagnose ei-ner idiopathischen Skoliose gestellt, hatu. E. die Physiotherapie bei den nachste-henden Indikationen ihren festen Platzim konservativen Therapieplan.

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Indikation zur krankengymnastischenSkoliosetherapie

● Verbesserung der skoliotischen Hal-tung und der allgemeinen Körper-haltung,

● Kräftigung der Rumpf- und Körper-muskulatur,

● Entlordosierung,● Verbesserung der Herz-Kreislauf-

und Lungenfunktion,● Förderung des Körper- und Selbst-

bewusstseins, Entwicklung einerpositiven Krankheitseinstellung,

● Unterstützung und Überwachungeiner Korsettbehandlung,

● Schmerzbehandlung.

Resultate der krankengymnastischenSkoliosetherapie

Die Krankengymnastik als alleinigekonservative Behandlungsmaßnahmevermag die Progression der Skoliosenicht zu verhindern und schon gar nicht

die Skoliose langfristig zu korrigieren.Dies ist in erster Linie darauf zurückzu-führen, dass die Einwirkungszeit der ak-tiven und passiven korrigierenden Kräf-te bei der Physiotherapie viel zu kurz ist.

Klassische Skoliosetherapien, wiedie dreidimensionale Skoliosebehand-lung nach Schroth, sind bei sehr inten-siver Anwendung kurzfristig wirksam,z. B. während eines mehrwöchigen sta-tionären Aufenthalts (mit mehrerenStunden Therapie täglich), die Progre-dienz geht aber nach Beendigung derIntensivtherapie weiter. Es sind uns kei-ne gut dokumentierten Studien be-kannt, die die Wirksamkeit der Physio-therapie zur Verhinderung der Progre-dienz der Skoliose belegen. EinzelneStudien stellen hingegen die Wirkungder Physiotherapie generell in Frage [17,30]. Es ist daher sorgfältig darauf zuachten, dass durch die ausschließlicheAnwendung der Skoliosegymnastiknicht der Zeitpunkt zur Indikation an-derer, effektiverer Behandlungsmaß-

nahmen (Korsett, Operation) verpasstwird.

Aktuelle Skoliosekorsett- und Gipsbehandlung

Die Korsett- bzw.Gipsbehandlung ist dieeinzige nicht operative Skolioseherapie,für die ein wissenschaftlicher Wirksam-keitsnachweis vorliegt. Die Wirksamkeitder Korsett- bzw. Gipsbehandlung hängtvon folgenden Faktoren ab:

● Deformierende Kraft – abhängigvom:– Wachstumspotential der Wirbel-

säule,– Ausmaß der Deformität;

● Flexibilität bzw. Rigidität der Wirbel-säule;

● angewandte korrigierende Kraft –abhängig von:– Stärke,– Ort,– Richtung,– Zeitdauer.

Bei ausgeprägten Krümmungen (Cobb-Winkel >55°) ist die Extension wirksa-mer als die Translation.

Funktionsweise moderner Skoliosekorsette

Bei modernen Skoliosekorsetten bzw.-gipsen kommen – häufig kombiniert –folgende 4 Wirkprinzipien zur Anwen-dung:

● Extension (aktiv/passiv): mittelsHalsring und Bauchpresse (z. B. Mil-waukee-Korsett; Extensions-Spindel-Gips nach Stagnara);

● Translation (aktiv/passiv): durchseitliche Druckpelotten nach dem 3-Punkte-Prinzip und korrespondie-renden Freiräumen [z. B. Chêneau(CTM/CBW)-Korsett, Boston-Kor-sett];

● Derotation (aktiv/passiv): durch dor-sale bzw. ventrale Druckpelotten inder gleichen Transversalebene undkorrespondierenden Freiräumen[z. B. Chêneau (CTM/CBW)-Korsett,Boston-Korsett (Freiräume be-schränkt)];

● Kompression: ohne oder mit unge-nügenden aktiven oder passivenAusweichmöglichkeiten in entspre-chende Freiräume (z. B. Wilmington-

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Abb. 5 � a Modernes Derotations- und Transla-tionskorsett mit kompensatorischen Freiräumen(1 dorsale Derotationsanlage mit zusätzlichkyphosierender Wirkung, 2 ventrale Stabilisie-rungspelotte, medial des Humeruskopfes,3 laterale Achselanlage, 4 dorsolaterale Thorakalpelotte, 5 ventrale Derotationspelotte,6 ventrale untere Sternalpelotte, 7 lumbale Derotationspelotte, 8 asymmetrische Bauch-presse, 9 Glutealanlage, 10 Trochanteranlage),(Balgrist Tec). b Gleiche Orthese wie in a am Patienten. Man beachte die Freiräume links thorakal und rechts lumbal sowie das korrekteKörperlot in der Frontalebene (Balgrist Tec)

Zum Thema: Krummer Rücken

Korsett, Lyoner- bzw. Stagnara-Korsett, Cotrel-Gips);

● passive Umkrümmung des Rumpfeszur Gegenseite: durch Überkorrektur[z. B. Charleston-Bending-Brace;Umkrümmungsgips (turnbuckle-cast) nach Risser].

Das Milwaukee-Korsett war primär alspassiv extendierendes Korsett konzipiert[11].Ein Halsring mit Kinn- und Nacken-anlage war durch einen ventralen und 2dorsale Stäbe mit einem Beckenkorb ver-bunden. Die Stäbe wurden elongiert, biseine passive Extension zustande kam.DieKinnanlage führte zu Druckstellen undKieferdeformitäten. In den 70er Jahrenwurde deshalb der Kinn- und Nackenringnur noch zur Mahnwirkung eingesetzt,um die aktive Aufrichtung zu erzwingen(der Patient soll sein Kinn aktiv 1–2 cmvon der Kinnanlage abheben können).

Bei den meisten idiopathischen Ado-leszentenskoliosen ist der Einsatz exten-dierender Kräfte vom Ansatz her proble-matisch, da dadurch das sagittale Profilweiter abgeflacht und die bereits vorhan-dene Lordosetendenz verstärkt wird. Esist daher nicht erstaunlich, dass die Re-sultate nach der Behandlung mit wenigerextendierenden Korsetten (z. B. Boston-Korsett) besser sind, als diejenigen mitdem Milwaukee-Korsett [55]. Mit seinemvon weitem sichtbaren Halsring, der sichauch unter Kleidern nicht versteckenlässt, wird das Milwaukee-Korsett heutekaum mehr akzeptiert. Nur bei hochtho-rakalen Skoliosen (Scheitelwirbel >Th6)kann es noch indiziert werden.

Komprimierende Korsette (Wil-mington-Korsett,Lyoner- bzw.Stagnara-Korsett) verwenden wir nicht bzw. nichtmehr, da sie die Lungenfunktion starkbeeinträchtigen und zu unerwünschtenDeformierungen des Rippenthorax füh-ren. Die Resultate sind zudem wenigerüberzeugend als diejenigen nach Be-handlung mit dem Boston-Korsett [2, 7].

Wir bevorzugen Korsette, die trans-latierende und derotierende Druckpe-lotten aufweisen und ihnen gegenüberkorrespondierende Freiräume verfügen(Abb. 5a, b). Solche Korsette sind dasChêneau (CTM/CBW)-Korsett [42] unddas Boston-Korsett [32]. Eine einfacheThorakalkrümmung wird dabei durchtranslatierende Pelotten nach dem 3-Punkte-Prinzip redressiert: der bis anden Scheitel heranreichenden konvex-seitigen Thorakalpelotte stehen zwei

konkavseitige Gegenpelotten, eine ober-halb (Achselanlage) und eine unterhalb(Lumbalpelotte) gegenüber. Um das 3-Punkte-Prinzip bis auf das Beckenni-veau fortzusetzen (sog. 4-Punkte-Prin-zip) ist eine konvexseitige Trochanter-fassung notwendig. Die Derotation wirddurch eine dorsale Komponente derkonvexseitigen Thorakalpelotte sowieeine konkavseitig auf gleicher Höhe an-gebrachte ventrale Anlage bewirkt.

Um die derotierende Wirkung si-cherzustellen, sind umgekehrt gerichtetAnlagen auf Schulter- und Beckenniveaunotwendig. Um ein aktives und passivesAusweichen zu ermöglichen, sind allenicht zur Anbringung von translatieren-den, derotierenden und entlordosieren-den Pelotten benötigten Räume freizu-halten (im Boston-Korsett nur be-schränkt erfüllt). Die Derotation wirktsich jedoch stärker auf den Rippen-buckel [83] als auf die Skoliose [84] aus.

Über die dynamischen Skolioseor-thesen (SpineCor, TriaC), die bei Cobb-Winkeln von 15–30° bzw. 15–35° indiziertwerden, liegen erste positive Behand-lungsergebnisse vor, aber noch nicht ge-nügend, unabhängig von den Entwick-lern erhobene Daten, um ihre Wirksam-keit abschließend beurteilen zu können.

Die Behandlung mit geschlossenenredressierenden Gipskorsetten gewähr-leistet eine optimale Tragdauer, was dieWirksamkeit günstig beeinflusst. Diemeisten Gipskorsette wirken jedochkomprimierend, was die Lungenfunkti-on beeinträchtigt und Thoraxdeformi-täten verursachen kann. Die Akzeptanzist heute praktisch nicht mehr gegeben.Eine Indikation für serielle Redressions-gipse (z. B. Extensions-Derotations-Fle-xionsgips nach Cotrel) sehen wir gele-gentlich noch bei kleinen Kindern mitausgeprägten Deformitäten, bei denenein Aufschub der Operation aus Wachs-tumsgründen erwünscht ist.

Indikation zur Skoliosekorsettbehandlung

Ein Korsettbehandlung ist nach unsererMeinung angezeigt, wenn folgende Vor-aussetzungen erfüllt sind:

● idiopathische Skoliose mit einemCobb-Winkel >20°,

● nachgewiesene Progredienz (Zunah-me des Cobb-Winkels >5° zwischen 2Röntgenkontrollen),

● noch vorhandene Wachstumspotenz(Risser <IV).

Bei Skoliosen mit Cobb-Winkel >30°und noch vorhandener Wachstumspo-tenz stellen wir die Indikation auch ohnenachgewiesene Progredienz.

Wir sind mit der Indikation zurKorsettbehandlung zurückhaltender alsandere Autoren. Dies deshalb, weil Kor-settwirkung bei Krümmungen mit ei-nem Cobb-Winkel <30° fraglich ist. Inder Studie von Miller et al. [53] wurden 2gleichartige Kollektive von Mädchen mitidiopathischen Adoleszentenskoliosenzwischen 15° und 30° verglichen. 144wurden mit einem Milwaukee-Korsettund 111 wurden nicht behandelt. Das Re-sultat zeigte keinen signifikanten Unter-schied; 75% der Unbehandelten warennicht progredient, und auch bei den Be-handelten nahmen immerhin 5% derKrümmungen zu. Es zeigte sich, dass diemeisten dieser Skoliosen nicht hättenbehandelt werden müssen.

Bei Jugendlichen in der Pubertät istdie Korsettbehandlung nicht unproble-matisch. In diesem Alter besteht ein gro-ßes Bedürfnis, sich von den Schulkame-raden möglichst nicht zu unterscheiden.Dies äußert sich nicht nur in der Klei-dung, sondern auch in den musikali-schen, sportlichen und sonstigen Frei-zeitinteressen.Als Korsettträgerin ist dieSkoliosepatientin meist alleine in derSchulklasse oder gar in der ganzenSchule. Daher fühlt sie sich viel stärkerisoliert als etwa eine Trägerin von Zahn-spangen. Heute tragen bis zur Hälfte derKinder einer Schulklasse Zahnspangenund Zahnärzte sehen sich zuweilen mitder Situation konfrontiert, dass sich Ju-gendliche mit normaler Zahnstellung ei-ne Zahnspange wünschen,um sich mög-lichst nicht von ihren Kameraden zu un-terscheiden. Die psychischen Auswir-kungen der Korsettbehandlung wurdenin mehreren Arbeiten untersucht. Eswurden zwar kaum Langzeitstörungenbeobachtet, aber für die meisten Jugend-lichen war die Korsettbehandlung einepsychische Belastung [14, 28, 45, 51].

In unserer gänzlich auf Bewegungund Dynamik ausgerichteten modernenGesellschaft lässt die Akzeptanz rigiderRumpforthesen immer mehr zu wün-schen übrig. In Nachkontrollen mit Be-fragungen wird über effektive Tragezei-ten von 65% berichtet [14, 21]. In einerinteressanten Untersuchung [43] bei

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50 Patienten mit Boston-Korsett wurdenohne Wissen der Patienten Silberplätt-chen in die Korsette eingebaut. DiesePlättchen oxydieren unter Körperkon-takt und ermöglichen es,die Kontaktzeitund damit die Tragzeit sehr genau zu be-stimmen. Die effektive Tragzeit der Kor-sette betrug 17% der verordneten Zeit.Diese Untersuchung wirft ein kritischesLicht auf alle Studien, die von einer zu-verlässigen Korsetttragzeit ausgehenund stellt die Wirksamkeit der Korsett-behandlung wegen schlechter Compli-ance in Frage. In diesem Zusammen-hang zeigte eine Studie [2],dass das Kor-sett bei Teilzeit-Tragen fast so effizientist, wie wenn es ganztags angelegt ist.

Noch mehr als bei thorakalen Sko-liosen sollte bei lumbalen Skoliosen aufeine konsequente Korsettbehandlunggedrängt werden, da hier die operativeTherapie keine befriedigende Alternati-ve bietet.

Resultate der Skoliosekorsettbehandlung

Die Korsettbehandlung vermag die Pro-gredienz aufzuhalten, die Skoliose je-doch nicht auf Dauer zu korrigieren. Dieanfängliche Verminderung der Krüm-mung geht nach Absetzen der Behand-lung nach Wachstumsabschluss wiederverloren. Bei konsequentem Tragen desKorsetts darf man dem Patienten in Aus-sicht stellen, dass seine Skoliose dauer-haft so bleibt, wie sie zu Beginn war. Al-lerdings hat das Korsett diese Wirksam-keit nur bis zu einem Krümmungswin-kel von ca. 40°. Unsere eigene Untersu-chung an 29 Patienten mit Skoliosenzwischen 25° und 40° und Behandlungmit verschiedenen Korsetten (Mil-waukee, Chêneau, Boston) zeigte, dass esanfänglich zu einer Verbesserung desSkoliosewinkels kommt. Bei Absetzendes Korsetts ist der Cobb-Winkel immernoch etwas kleiner als bei Behandlungs-beginn. Zwei Jahre nach Behandlungs-abschluss entspricht er wieder dem Aus-gangswinkel. Die Studie umfasste nurPatienten, die gemäß eigenen Angabendas Korsett konsequent getragen hatten.Keine dieser Patienten oder Patientin-nen musste operiert werden.

Untersuchungen über die Behand-lung mit dem Boston-Korsett bestätigen,dass die Progredienz bei guter Compli-ance in 95% der Fälle verhindert werdenkann [27, 57]. Nach dem Absetzen muss

mit einer Zunahme des Winkels um et-wa 5° gerechnet werden [56]. Die Resul-tate der Behandlung mit dem Boston-resp.Chêneau (CTM/CBW)-Korsett sindbesser als diejenigen mit dem Mil-waukee-Korsett [25, 37, 42, 55].

Die Resultate mit dem komprimie-renden Wilmington-Korsett vermögenvergleichsweise nicht zu überzeugen [2,62]. Eine groß angelegte Studie der „Sco-liosis Research Society“ zeigte bei 286Mädchen mit idiopathischer Adoleszen-tenskoliose eine „Versagensquote“ derunbehandelten Skoliosen von 52%, dermit Elektrostimulation therapierten von63% und der mit Korsett behandeltenvon 36% [57].

Diese und andere Arbeiten wurdenvon Dickson u. Weinstein kritisch be-leuchtet [22]. Sie kamen zum Schluss,dass die bisherigen Studien den Beweisder Wirksamkeit der Korsettbehand-lung ungenügend liefern, da sie nichtkontrolliert und randomisiert durchge-führt wurden, wobei es allerdings frag-würdig ist, ob eine derartige Randomi-sierung angesichts der offensichtlichenWirksamkeit der Korsett-Therapieethisch zulässig ist. Die Evidenz derWirksamkeit der Korsettbehandlungleidet sicher unter dem schwer kontrol-lierbaren Problem der Compliance.Winter und Lonstein haben sich kürz-lich zu diesem Dilemma wie folgt geäu-ßert [86]: „Die Effektivität der Korsett-behandlung steht heute außer Frage.Nicht alle Patienten profitieren davon.Dies sollte uns aber nicht davon abhal-ten, allen Patienten diese Möglichkeitanzubieten. Es ist besser, wenn man esohne Erfolg versucht hat, als wenn manes gar nicht probiert hat. Die Korsettbe-handlung kann somit die Anzahl derschweren Deformitäten mit der Not-wendigkeit der chirurgischen Behand-lung vermindern“.

Weiter gilt es bei der Korsettbe-handlung zu beachten, dass:

● das Korsett während der Tragzeit zueiner Verschlechterung der Lungen-funktion führt, die sich jedoch nachAbsetzen des Korsetts sehr schnellwieder erholt [65];

● das Korsett die Rotation der Wirbel-körper [84] und die Lordose nicht zukorrigieren vermag [85];

● die Rückenoberfläche (d. h. der Rip-penbuckel) etwas besser korrigiertwird als die Skoliose selbst [83].

Tragdauer des Skoliosekorsetts

Das Korsett muss bis Wachstumsab-schluss (Risser IV) konsequent Tag undNacht, d. h. während 22–23 h/Tag, getra-gen werden. Da die psychologische Be-lastung durch die Korsettbehandlungsehr groß ist, braucht der Patient einegute Führung und Begleitung. Nur wennalle Beteiligten (Patient, Eltern, Arzt,Physiotherapeutin, Orthopädietechni-ker und Lehrer) vom Sinn der Behand-lung überzeugt sind, besteht Aussichtauf Erfolg. Das Korsett darf nur fürsportliche Aktivitäten oder während derPhysiotherapie ausgezogen werden.Sport darf uneingeschränkt betriebenwerden.

Die Korsettbehandlung muss im-mer von einer gezielten Skoliosegymna-stik begleitet werden. Durch das Korsettkommt es zur Atrophie der paraverte-bralen Muskulatur, welche weniger Hal-tearbeit zu leisten hat und die Lungen-funktion im Korsett ist eingeschränkt.Dem muss durch Skoliosegymnastik,Schwimmen und Sport und entgegengewirkt werden. Die Frage der Korsett-entwöhnung wurde bisher nicht wissen-schaftlich geklärt. Wir sind der Ansicht,dass sie nicht generell notwendig ist.Wirplädieren für eine Intensivierung derSkoliosetherapie (muskulärer Aufbau)im Hinblick auf die Korsettentwöhnungund empfehlen die schrittweise Entwöh-nung des Korsetts bei Vorliegen einermuskulären Insuffizienz oder bei Auf-treten von Schmerzen nach dem Able-gen des Korsetts.

Elektrostimulation

Die Elektrostimulation kann mit im-plantierten [87] oder oberflächlichenElektroden [15] durchgeführt werden.Die Stimulation erfolgt nachts.Währenddie Initiatoren über gute Resultate be-richteten, wurde in anderen Untersu-chungsserien eine Progredienz bei 27%[3], 50% [24] oder gar 86% [2] ermittelt.Eine multizentrische Studie [57] zeigt,dass im Gegensatz zur Korsettbehand-lung die Elektrostimulation den Spon-tanverlauf nicht beeinflusst. Unsere ei-genen beschränkten Erfahrungen wei-sen in gleiche Richtung. Von insgesamt12 Patienten mussten 4 wegen Progre-dienz operiert werden. Solche Zahlensind nicht akzeptabel, da sie dem Spon-tanverlauf entsprechen. Durch die Sti-

Der Orthopäde 1•2002 | 19

Zum Thema: Krummer Rücken

mulation der dorsalen Muskulatur ver-stärken wir die Lordose, was nicht er-wünscht ist. Die Elektrostimulation hatdie in sie gesetzten Erwartungen nichterfüllt und ist keine wirksame Alternati-ve zur Korsettbehandlung; wir haben siedaher verlassen.

Klinische und radiologische Kontrolle der konservativen Skoliosebehandlung

Bei klinischem Verdacht auf Skoliosesoll eine Ganzwirbelsäulenaufnahme imStehen in p.a. und seitlichem Strahlen-gang angefertigt werden. Liegt derCobb-Winkel <20°, reichen vor dem pu-bertären Wachstumsschub (Mädchen:vor dem 11. Lebensjahr, vor der Menar-che; Knaben: vor dem 13. Lebensjahr)jährliche klinische Kontrollen (ohneRöntgenbild) aus. Eine radiologischeKontrolle ist nur bei Verdacht auf Zu-nahme der Skoliose aufgrund der Rip-penbuckel- bzw. Lendenwulstmessungmit dem Inklinometer oder einer Ober-flächenmessmethode (z. B. ISIS-Metho-de) notwendig.Während des pubertärenWachstumsschubes sollen die klini-schen Kontrollen in diesem Falle halb-jährlich erfolgen.

Liegt der Cobb-Winkel >20°, emp-fehlen wir vor dem pubertären Wachs-tumsschub 6-monatliche, im pubertärenWachstumsschub 3-monatliche klini-sche Kontrollen. Ein Röntgenbild ferti-gen wir auch hier nur an, wenn die klini-schen Parameter den Verdacht einerProgredienz nahelegen. Bei wechseln-den Untersuchern ist hier im pubertä-ren Wachstumsschub eine jährliche ra-diologische Kontrolle ratsam.Wird eineKorsettbehandlung indiziert, muss dasKorsett nach Fertigstellung klinisch undradiologisch kontrolliert werden.

Bei der klinischen Kontrolle ist dar-auf zu achten, dass:

● die Pelotten und Freiräume demKrümmungsmuster entsprechendkorrekt plaziert sind,

● das Korsett keine scharfen Kantenaufweist,

● der Beinausschnitt genügend weitist, um ein bequemes Sitzen ohneAbschnürung der Beine oder Hoch-schieben des Korsettes zu ermögli-chen,

● der Pelottendruck satt, aber nicht zustark ist (die Hautrötung unter derDruckpelotte sollte 15 min nach derKorsettentfernung abblassen),

● das Korsett im Gesäßbereich nicht zukurz (hochschieben des Korsettsbeim Gehen durch die Glutealmus-kulatur) oder zu lang (hochschiebendes Korsetts beim Sitzen durch dieSitzfläche) ist,

● bei Mädchen die Mammae freigelegtsind,

● die Achselanlage genügend Spiel-raum für den M. pectoralis majorund den M. latissimus dorsi zulässtund keine Kompressionserscheinun-gen an Gefäßen und Nerven desArms verursacht,

● sofern notwendig, die Scapula soweit gefasst wird, dass sie bei Armbe-wegungen nicht über den Korsett-rand gleitet,

● der Patient im Lot steht oder einevorbestehende Lotdekompensationnicht verschlechtert wird.

Bei der radiologischen Kontrolle imKorsett (Abb. 6) ist darauf zu achten,dass:

● die Pelotten vorgängig markiertwurden,

● die Pelottenlage korrekt ist,● eine Korrektur der Krümmung er-

zielt wurde (prognostisch günstigeKorrekturen von 50% können meistnur bei flexiblen Krümmungen er-zielt werden, bei rigiden Krümmun-gen sind Korrekturen von 20–30%realistisch).

Klinische Kontrollen sollen während dergesamten Zeit der Korsettbehandlungalle 3 Monate durchgeführt werden (amKorsett sollten dabei Tragspuren er-kennbar werden!). Korsettfreie radiolo-gische Kontrollen sollen dabei im pu-bertären Wachstumsschub alle 6 Mona-te, spätestens jedoch jährlich (nur p.a.)vorgenommen werden.

Konservative Therapie der Scheuermann-Kyphose

Das Krankheitsbild der „Kyphosis dor-salis juvenils“ wurde erstmals 1921 [71]vom dänischen Orthopäden und Radio-logen Holger Werfel Scheuermann(1877–1960) beschrieben und als „Osteo-chondritis deformans juvenilis dorsi“von anderen Kyphoseformen abge-grenzt. Nachdem seine Dissertation zudiesem Thema abgelehnt wurde, verliehihm die gleiche Universität im 80. Le-

| Der Orthopäde 1•200220

Abb. 6 � a Radiologische Kontrolle vor der Korsettversorgung. Thorakal rechtskonvexeHauptkrümmung mit einem Cobb-Winkel von 35° (Balgrist). b Radiologische Kontrolleim Korsett. Kraniales und kaudales Ende der Thorakal- (1) und Lumbalpelotte (2) mitDraht markiert. Korrektur des Cobb-Winkel von 35° auf 22° (37%). Lot in der Frontal-ebene kompensiert (Balgrist)

bensjahr die Ehrendoktorwürde. DasResumé seiner grundlegenden Arbeit istkonzis: „Kyphosis dorsalis juvenilis, diesogenannte Lehrlingskyphose odermuskuläre Kyphose,beruht nach meinerAnschauung auf einem Leiden in denWachstumslinien der Wirbelkörper zwi-schen Corpus und der Epiphysierung,nicht, wie angenommen, auf einer Insuf-fizienz der Rückenmuskulatur“ [71].

Obwohl die Krankheit bereits vorihrer Beschreibung durch Scheuermannexistiert hat, ist ihre Abgrenzung von an-deren, früher häufigen Kyphoseformenwie der Tbc-Spondylitis (Malum Potti)und der Rachitis in historischen Be-handlungsberichten oft nicht zuverläs-sig möglich. Konservative Kyphosebe-handlung hat sich vor 1921 nicht auf dieScheuermann-Kyphosen beschränkt.

Historische Entwicklung der Physiotherapie bei Scheuermann-Kyphose

Die Krankengymnastik der Kyphosezielt seit Nicolas Andry (1658–1741) [4]auf eine aktive Haltungskorrektur durchÜbungen. Albert Hoffa (1859–1907) hältdazu in seinem 1891 erschienen „Lehr-buch der orthopädischen Chirurgie“[39] fest: „Die Behandlung hat in ersterLinie gegen die Energielosigkeit der Pa-tienten anzukämpfen. Die Kinder müs-sen es durch eine geradezu pädagogi-sche Erziehung lernen, ihre Rückenmus-kel wieder dem Einfluße ihres Willenszugänglich zu machen. Dazu eignet sichvorzüglich die sogenannte „moralische“Methode der Gymnastik … und wirwenden diese deshalb auch stets zu-nächst an, indem wir dabei möglichstdas ästhetische und das Ehrgefühl desKindes zu heben suchen. Unterstütztwird das Erwachen der Willenskraftdurch eine zweckmäßig geleitete Gym-

nastik. Hier kommen einmal die Übun-gen in Betracht, welche direct eine Kräf-tigung der Rücken- und Nackenmusku-latur bewirken, das sind die Schwimm-übungen, die Rumpfdrehungen und dasRumpfstrecken (Abb. 7), während dieBeine auf einer Polsterbank fixiert sindund der Kopf mit nach unten gerichte-tem Gesicht möglichst hoch gehaltenwird“.

Wie die Skoliosegymnastik erhieltauch die Kyphosegymnastik wichtigeImpulse von der schwedischen Heil-gymnastik, so durch die gezielten Wi-derstandsbewegungen. Die Grenzen derKyphosegymnastik hat Hoffa bereitsdeutlich aufgezeigt: „Gymnastik undMassage wende ich für sich alleine nurdann an, wenn die Kinder bei der erstenUntersuchung auf eine dahin gerichteteAufforderung sich ganz gerade stellenund ihre Schultern völlig zurücknehmenkönnen. Kann dies nicht geschehen, lie-gen also schon Contracturen der Weich-teile an der vorderen Seite der Wirbel-säule vor, so müssen diese gedehnt unddie Wirbelsäule erst mobilisiert werden,ehe die krankengymnastischen Übun-gen erfolgreich von Statten gehen kön-nen“ [39].

Hierzu dienen ihm dann Hang-übungen an Schweberingen, Suspensio-nen im Sayreschen Rahmen (Selbstex-tension mit der Glisson-Schlinge) undaktive oder passive Umkrümmungs-übungen am Lorenz-Wolm-Apparat.Auch die Kyphose wurde in der Ära der„Medico-Mechanik“ um die Jahrhun-dertwende zum Objekt ausgeklügelteraktiver und passiver Bewegungsappara-te. Diese wurden wie bei der Skoliosebe-handlung rasch wieder verlassen undmachten erneute der aktiven haltungs-korrigierenden KrankengymnastikPlatz. Wahrscheinlich wegen der gerin-geren Komplexität der Deformität ist es

nie zur Ausbildung spezieller physiothe-rapeutischer Schulen oder Behand-lungskonzepte für die Scheuermann-Ky-phose gekommen. Die meisten moder-nen Behandlungsprinzipien wurden derSkoliosegymnastik entnommen und fürdie Scheuermann-Kyphose angepasst.

Historische Entwicklung der Korsett- und Gipsbehandlung bei Scheuermann-Kyphose

Einen frühen orthopädischen Apparat,das sog. „Creutz“ hat Lorenz Heister(1683–1758) in seiner „Chirurgie“ von1719 [38] zur Behandlung des „hohenRückens“ oder „Buckel“ empfohlen:„Zudem End hat man auch gegen denBuckel ein besonderes eisernes Instru-ment in Form eines Creutzes erdacht(Abb. 8), welches man auf den Rückgradgehörig appliciret, und um den Leib,Hals und Schultern fest macht, so hältsolches den Rückgrad beständig gerad,und verhindert, daß sich derselbe nichtweiter biegen könne: worauf endlich beyden Kindern wiederum verwächset, wasungleich gewesen, oder man verhindertdoch, daß der Schade nicht größer undheßlicher werde“.

Dass sich unter einem Buckel aucheine Skoliose verstecken kann, machtHeister mit seiner Definition deutlich:„Einen Buckel nennet man eine Verdre-hung des Rückgrads, wenn derselbe ent-weder zu viel rückwerts, vorwerts, oderauf eine Seite verdrehet ist“. Das späternach ihm benannte „eiserne Kreuz“blieb also nicht der Kyphosebehandlungvorbehalten.Einen eher der Vorbeugungals der Behandlung einer etablierten Ky-phose dienenden Behelf hat Nicolas An-dry (1658–1741) mit seiner auf den Tanz-lehrer Prion zurückgehenden „Menton-nière“ angegeben [4]: „Dieses Mittelbestehet in einem Kinnblech, welches,von vorne durch zween nach Art einesZigzags gebogene Drähte von Messingunterstützet, welche es berühret, undmit den beyden Enden auf dem Randedes Gewölbes der Schnürbrust ruhet,das Kinn umarmet, und es ohne die ge-ringste Gewallt in die Höhe zurückstößt“.

Andry's Kinnstütze hat später Ein-gang ins Milwaukee-Korsett gefunden.Bereits bei Jean Louis Petit (1674–1750)findet sich der Prototyp der noch heuteim Handel erhältlichen einfachen Mahn-bandage,bestehend aus einem achterför-

Der Orthopäde 1•2002 | 21

Abb. 7 � Für Albert Hoffa(1859–1907), der der sogenannten„moralischen Gymnastik“ großeBedeutung beimaß, hatte dieKyphosegymnastik „in erster Liniegegen die Energielosigkeit desPatienten anzukämpfen“. Dazuempfahl er die hier wiedergege-bene, nicht eben in komfortablerAusgangsstellung durchzuführendeÜbung für die Rückenstrecker [39]

Zum Thema: Krummer Rücken

mig um die Schultern geschlungenenBandes,dessen Kreuzungspunkt auf demRücken liegt. Zahlreich variiert, u. a. vonBrünninghausen, Saveur-Henri VictorBouvier (1799–1877) und Karl HermannSchildbach (1824–1888),wurde die Schul-terretraktion Bestandteil vieler Korrek-tionsapparate [39].

Dem Prinzip des Heister-Kreuzes,allerdings ohne Halsband, entsprechendie Geradhalter von Le Bellequie,Wend-schuh und Teufels Modell „Aufrecht“[39]. Eine rückwärts federnde Rücken-schiene mit redressienden Thorakalpe-lotten und einem gut ausgearbeitetenHüftkorb scheint erstmals Banning ent-wickelt zu haben.Einen gewissen Gegen-halt im Bereich des Abdomens weisenerstmals die Korsette von Max Dolega(1864–1899) und Hoffa, der das Hessing-Korsett mit einer rückwärts federndenRückenschiene kombinierte [39]. Die fe-dernde Rückenschiene wurde von Nyropdurch eine eigentliche Feder ersetzt [39].

Dem Umstand, dass die Aufrich-tung der Scheuermann-Kyphose, beson-

ders wenn sie rigide ist, oft nur eine Ver-stärkung der Lendenlordose bewirkt,hat 1921 erstmals L.Aubry [5] Rechnunggetragen und Georg Hohmann legt be-sonderes Gewicht auf diesen kritischenPunkt bei der Korsettkonstruktion: „Istdagegen die Rundrückenbildung fi-xiert … so reicht einmal eine solcheGurtbandage („Mahnbandage“) nichtaus, andererseits würde dieselbe nur be-wirken, daß der Oberkörper im ganzenwegen der vorhandenen Steife der Wir-belsäulenkrümmung nach rückwärtsgezogen und dadurch das Hohlkreuzvermehrt wird, ohne daß eine Abfla-chung der Rückenkrümmung geschieht.Um eine Korrekturwirkung durch direk-ten Pelottendruck auf die Krümmungauszuüben, muß man von einer festenBasis ausgehen, d. h. man muß mit ei-nem breiten, festen Ring aus Stahlblechdas Becken fassen und die meist vorhan-dene Lendenlordose auszugleichen ver-suchen, indem man den vorgestrecktenLeib mit einer Leibbinde gegen dieseBeckenfixierung heranzieht“ [41].

Das Prinzip der Entlordosierungder Lendenwirbelsäule liegt auch dem1958 von Kurt J. Becker [9] vorgestellten„aktiven bzw. kombiniert zweiteiligaktiv-passiven“ Reklinationsgips bzw.-korsett zugrunde. Durch die Fixationder entlordosierten Lendenwirbelsäuleim Gips oder Aluminium-Walkleder-Korsett wird der Patient, um geradeaussehen zu können, gezwungen, sich imOberkörper aufzurichten oder die Hüf-ten und Knie zu beugen. Dem 3-Punkte-Prinzip folgend ist der Druck ventral imBereich des Abdomens und dorsal kra-nial unmittelbar unterhalb des Kypho-sescheitels und kaudal über dem Sak-rum am größten,hier können denn auchDruckstellen auftreten. Durch Ein-schränkung der Zwerchfellatmung auf-grund der kräftigen Bauchpresse wirddie Thoraxatmung forciert und zur Ex-tension genutzt. Bei ungenügender akti-ver Aufrichtung, sei es wegen Steifigkeitder Kyphose oder muskulärer Schwäche,wird der Gips durch einen „Gipskum-met“ ergänzt, um damit einen horizon-talen Zug nach dorsal über die Schulternhinweg auf das Brustbein auszuübenund so die Kyphose passiv zu redressie-ren. Ein verstellbares Reklinationskor-sett mit Sternalpelotte hat Georg Hoh-mann (1880–1970) schon 1941 [41] ange-geben. Dieses Konzept wurde von Lud-wig Wergenz weiterentwickelt.

Die Gipsbehandlung der Scheuer-mann-Kyphose wurde in den 50er Jah-ren durch P. Stagnara mit seinem „Cor-set plâtré en deux temps“, seinem im Ab-bott-Cotrel Rahmen angelegten „Corsetplâtré en un temps“ sowie seinem „Cor-set plâtré d'élongation“ gefördert. AlsKorsett favorisierte er die 1958 ausgereif-te „Orthèse lyonnaise bivalve pour cy-phose“. In den Vereinigten Staaten wur-de der „Risser-Gips“ und in den späten50er Jahren das mit einer dorsomedia-len Pelotte versehene „Milwaukee-Kor-sett“ für die Behandlung der Scheuer-mann-Kyphose übernommen.

Aktuelle konservative Behandlungbei Scheuermann-Kyphose

Es stehen folgende Möglichkeiten zurVerfügung:

● Physiotherapie,● Korsett- und Gipsbehandlung.

Aktuelle Physiotherapie bei Scheuermann-Kyphose

Bei Morbus Scheuermann mit einer teil-fixierten Kyphose ist eine krankengym-nastische Kyphosetherapie angezeigtund die Indikationen entsprechen de-nen der Skoliosegymnastik. Bei einerKorsettbehandlung ist sie obligat.Anga-ben für differenziertes Übungspro-gramm finden sich bei Lehnert-Schrothu.Weiss [49]. Besondere Beachtung ist –wie bei der Skoliosetherapie – derBeckenausgangsstellung zu schenken,um eine Zunahme der Lendenlordosedurch aktiv aufrichtende Übungen fürdie Brustwirbelsäule zu vermeiden.Ver-kürzungen der ischiokruralen Muskula-tur, der lumbalen Streckmuskulatur, desM. pectorsalis major und minor sowieder Nackenstrecker sollen gezielt ange-gangen werden. Rudern, Fahrradfahrenmit Rennlenkern und Gewichthebensind ungeeignete Sportarten für Patien-ten mit Scheuermann-Kyphose [35].

Aktuelle Korsett- und Gipsbehandlungbei Scheuermann-Kyphose

Für die Behandlung von thorakalenScheuermann-Kyphosen im Korsettindi-kationsbereich sind Mahnbandagen, diedie Schultern retrahieren, ungenügend.Zur wirksamen orthetischen Behandlungsind entweder aufrichtende Korsette bzw.

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Abb. 8 � Lorenz Heister (1683–1758) hat das „Creutz“ nicht erfunden, aber populärgemacht. Es darf als Vorläufer aller späterenGeradhalter bezeichnet werden.Die Gebrauchsanleitung lautet lapidar:„Das Creutz AAAA wird auf den Rücken, und derRing BB um den Hals applicirt: die Riemen CCaber werden um die Aerme, und das untereBand um den Leib gebunden“ [38]

Gipse nach dem 3- bzw.4-Punkte-Prinzip[40], [z. B. nach Becker, Hepp-Kurda, Ha-bermann, Gschwend-Bähler, Wergenz,Orthèse lyonnaise bivalve nach Stagnara,Balgrist-Korsett (Abb. 9)] oder extendie-rende Korsette bzw. Gipse mit einemHalsring (z.B.Milwaukee-Korsett,Corsetplâtré d'élongation nach Stagnara [76])notwendig. Entscheidend ist dabei im-mer, dass der Gips bzw. der Gipsabdruckin maximaler Kyphosierung der Lenden-wirbelsäule angefertigt wird. Dorsal darfdas Korsett kranial nur bis maximal anden Kyphosescheitel heranreichen, kau-dal muss es das Sakrum mitfassen.

Durch diese Delordosierung derLendenwirbelsäule wird der Oberkörperdes Patienten und damit sein Schwer-punkt nach vorne verlagert. Der Patientmuss jetzt seine Brustwirbelsäule aktivaufrichten, um nicht nach vorne zu kip-pen oder den Blick vom Boden heben zukönnen. Ist der Patient mit dieser 3-Punkte-Fixation der Lendenwirbelsäulein der Lage, seine Kyphose aktiv aufzu-richten und aufgerichtet zu halten – wasmeist nur bei flexibleren Krümmungenleistungsfähiger Rückenmuskulatur derFall ist – braucht er keine zusätzliche,passiv redressierende Sternal- bzw.Tho-rakalpelotte nach dem 4-Punkte-Prinzip.

Bei rigiden thorakalen Scheuer-mann-Kyphosen empfehlen wir vor derKorsettversorgung wie Stagnara nach

intensiver mobilisierender Physiothera-pie eine Serie von 2–3 Redressionsgip-sen (z. B. Corset plâtré en deux tempsoder en un temps nach Stagnara). An-stelle der Korsettbehandlung kann aucheine Gipsbehandlung nach den gleichenPrinzipien erfolgen. Der besseren Com-pliance steht hier eine deutlich schlech-tere Akzeptanz gegenüber.

Bei der thorakolumbalen und beider lumbalen Form des Morbus Scheu-ermann ist ein lordosierendes Korsettnach dem 3-Punkte-Prinzip (z.B.Bivalvenach Stagnara, Jewett, Vogt und Bähler[40]) angezeigt. Hier muss also, im Ge-gensatz zur thorakalen Kyphose,die Len-denwirbelsäule und der thorakolumbaleÜbergang lordosiert werden.Da die Pro-gnose dieser Krankheitsformen in bezugauf spätere chronische Rückenschmer-zen ungünstig ist,empfehlen wir hier we-gen der besseren Compliance auch dieAnfertigung eines lordosierenden Gips-korsetts im ventralen Durchhang.Damitkann es bei genügender verbleibenderWachstumspotenz gelingen,das Sagittal-profil wieder herzustellen.

Funktionsweise moderner Kyphosekorsette

Bei modernen Kyphosekorsetten bzw.-gipsen kommen folgende Wirkprinzi-pien zur Anwendung:

● Extension (aktiv/passiv): mit Hals-ring und Bauchpresse, zusätzlichedorsale Pelotte auf Höhe des Kypho-sescheitels (z. B. Milwaukee-Korsett,Corset plâtré d'élongation nachStagnara);

● Translation (aktiv/passiv): mit einerventralen Bauchanlage und je einerdorsalen Pelotte unterhalb desKyphosescheitels und über dem Sak-rum (nach dem 3-Punkte-Prinzip)zur teilaktiven Aufrichtung derBrustwirbelsäule oder mit einer zu-sätzlichen ventralen Sternal- bzw.Thoraxpelotte (nach dem 4-Punkte-Prinzip) zur passiven Aufrichtungder Brustwirbelsäule (z. B. Reklina-tionskorsett bzw. -gips nach Becker,Hepp-Kurda, Habermann,Gschwend-Bähler, Wergenz, Orthèseslyonnaise bivalve nach Stagnara,Balgrist-Korsett (s. Abb. 9).

Indikation der Kyphosekorsettbehandlung

Eine Korsettbehandlung ist nach unse-rer Meinung angezeigt, wenn folgendeVoraussetzungen erfüllt sind:

● thorakale Scheuermann-Kyphose:sagittaler Cobb-Winkel >50° beinoch nicht abgeschlossenem Wachs-tum (Risser <IV),

● thorakoklumbaler Morbus Scheuer-mann: Kyphosierung am thorako-lumbalen Übergang bei noch nichtabgeschlossenem Wachstum (Risser<IV),

● lumbaler Morbus Scheuermann: Lor-doseverlust der Lendenwirbelsäulemit sagittalem Cobb-Winkel <20°bei noch nicht abgeschlossenemWachstum (Risser <IV),

● bei Schmerzen trotz adäquaterPhysiotherapie.

Resultate der Kyphosekorsettbehandlung

Im Gegensatz zur Skoliose lässt sich mitder Korsettbehandlung eine Scheuer-mann-Kyphose bei noch ausreichendemWachstumspotential nicht nur stabilisie-ren, sondern auch korrigieren [13, 36, 47,64, 67]. Es kommt dabei zur teilweisenAufrichtung der Keilwirbel infolge kom-pensatorischen Wachstums der ventra-len Wirbelkörperabschnitte [34]. Bedin-gung hierfür ist natürlich eine gute

Der Orthopäde 1•2002 | 23

Abb. 9 � Moderne Reklinationsorthese für die Behandlung einerthorakalen Scheuermann-Kyphose nach dem 4-Punkte-Prinzip.Die Lendenwirbelsäule wird durch die Bauchpresse (1) und die beidendorsalen Pelotten am Sakrum (2) und unterhalb des Kyphosescheitels(3) in kyphotischer, bzw. entlordosierter Stellung nach dem 3-Punkte-Prinzip fixiert. Auf dieser Basis aufbauend wird die Kyphose durch die thorakale Anlage (4) redressiert und die Versorgung zum 4-Punkte-Prinzip ergänzt (Balgrist Tec)

Zum Thema: Krummer Rücken

Compliance, d. h. das Korsett muss tat-sächlich getragen werden. Erfahrungs-gemäß ist dies selten in genügendemAusmaß der Fall. Nach Wachstumsab-schluss zeigen bei guter Compliance 2/3der Patienten eine Besserung, 1/3 sindunverändert oder verschlechtert [34,67].

Es gibt Daten dafür, dass die Kor-settbehandlung bei Scheuermann-Ky-phosen mit einem sagittalen Cobb-Win-kel >60° nicht mehr wirksam ist [67].Unseres Erachtens ist die Korsettbe-handlung bei teilrigiden Kyphosen miteiner passiven Korrigierbarkeit von ca.40% bis zu einem sagittalen Cobb-Win-kel von 75° vertretbar, sofern am kauda-len Krümmungsende keine Retrolisthe-sen vorliegen.

Tragedauer des Kyphosekorsetts

Die Tragedauer eines Kyphosekorsettsist zu Beginn wie die des Skoliosekor-setts ganztags, d. h. während 22–23 h amTag. Im Gegensatz zur idiopathischenSkoliose kann bei der Scheuermann-Ky-phose nach erfolgreicher Aufrichtungund mit fortschreitender Knochenreifedie Tragezeit reduziert und das Korsettteilzeitlich getragen werden. Eine Re-duktion der Tragezeit ist bei guter Com-pliance in der Regel nach 1 Jahr möglich.

Klinische und radiologische Kontrolleder konservativen Behandlung der Scheuermann-Kyphose

Für die Indikationsstellung zur Korsett-behandlung werden Röntgenbilder derganzen Wirbelsäule im a.-p.- und seitli-chen Strahlengang benötigt. Nach Fer-tigstellung des Korsetts muss dessenWirkung radiologisch im seitlichen Bild(bei einer dorsalen Pelotte unterhalb desKyphosescheitels mit vorgängiger Mar-kierung) kontrolliert werden. Anschlie-ßend erfolgen klinischen Kontrollen al-le 3 Monate. Die Kyphosemessung er-folgt am stehenden Patienten in ent-spannter Ruhehaltung und aktiver Auf-richtung, wozu sich die Verwendung ei-nes Kyphometers oder die Aufzeichnungdes Sagittalprofils z. B. mit der „medi-mouse“ (Fa. idiag) empfiehlt. Radiologi-sche Kontrollen sollen bei fehlender Ky-phoseverlaufsmessung halbjährlich (nurim seitlichen Strahlengang), ansonstenjährlich bis zur Korsettentwöhnungdurchgeführt werden.

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Der Orthopäde 1•2002 | 25

Zum Thema: Krummer Rücken

| Der Orthopäde 1•200226

Zusammenfassung

Die Hauptindikation zur operativen Behand-

lung von idiopathischen Skoliosen und

Scheuermann-Kyphosen ist die Kosmetik.

Allerdings sind auch Schmerzen bei Skolio-

sepatienten häufiger zu finden, und bei

hochgradigen Deformitäten eine Einschrän-

kung der Lungenfunktion, besonders wenn

schwere Skoliosen bereits im Alter von

5 Jahren bestanden („early onset“).Skoliosen

unter 30° nehmen im Erwachsenenalter

nicht zu, jene zwischen 50° und 75° werden

in den 40 Jahren nach Wachstumsabschluss

um durchschnittlich 25° zunehmen. Bei

juvenilen Kyphosen ist die Progression im

Erwachsenenalter nicht gut dokumentiert.

Ziel der operativen Behandlung ist es,

die Progression zu stoppen, das Wachstum

der Wirbelsäule zu lenken,oder eine Korrektur

und Fusion zu erzielen durch Instrumentation

und Knochentransplantate. Das wird

erreicht durch die Korrekturprinzipien der

Kompression, Distraktion, Derotation und

Translation.

Die zur Korrektur angewandten Kräfte

werden durch Verankerungsteile (Pedikel-

schrauben,Wirbelkörperschrauben, Haken,

sublaminäre Drahtcerclagen) auf die Wirbel-

säule übertragen. Je höher die Korrektur-

kräfte sind, desto höher ist die erreichte

Korrektur,desto höher ist aber auch das Risiko

der Fraktur und des Ausrisses von Implanta-

ten. Durch Mobilisation kann die Steife redu-

ziert werden, und es kann bei gleichen

Kräften eine bessere Korrektur erzielt werden.

Die besten Mobilisationstechniken sind die

Bandscheibenexzision, die Entfernung der

Wirbelgelenke und Techniken zur Mobilisation

des Thorax.

Indikationsstellung

Idiopathische Skoliosen und juvenileKyphosen sind in der bei weitem über-wiegenden Mehrzahl der Fälle Erkran-kungen, welche den Patienten kosme-tisch beeinträchtigen. Schwere Störun-gen der Lungenfunktion treten bei hoch-gradigen Skoliosen ein, welche vor dem5. Lebensjahr auftreten („early onset“).Bis zum Alter von 5 Jahren bildet sichdas Lungenparenchym aus,eine Störungin diesem Alter führt irreversibel zu we-niger Lungenvolumen. Diese Patientenversterben früher als der Bevölkerungs-durchschnitt an Erkrankungen wie Corpulmonale oder Pneumonien [3]. Sko-liosen, welche nach dem 5. Lebensjahrauftreten („late onset“), können mit ei-ner mäßigen restriktiven Ventilations-störungen einhergehen, welche jedocherst über Cobb 90° ein Ausmaß errei-chen, welches Beruf oder Alltagslebenstört.

Die meisten Patienten mit idiopa-thischen Skoliosen, welche sich operie-ren lassen, haben zum Zeitpunkt derOperation eine normale Lungenfunkti-on [27].Allerdings zeigt eine Studie,dassSkoliosepatienten noch 25 Jahre nachder Behandlung eine bessere Atemfunk-tion haben als vor Therapie [21]. Über

restriktive Ventilationsstörungen bei ju-venilen Kyphosen (M. Scheuermann) istwenig bekannt. Zumindest bei älterenPatienten verschlechtert eine Kyphosedie Lungenfunktion [26]. Patienten mitScheuermann-Kyphosen mit einemScheitelwirbel Th8 und höher und einerKrümmung von mehr als 100° Cobb ha-ben eine restriktive Lungenfunktions-störung [19].

Bei idiopathischen Skoliosen wirdkontrovers diskutiert, ob Schmerzenhäufiger auftreten als in der Normalbe-völkerung. In einer großen Studie wur-de bei 2441 Kindern mit idiopathischerSkoliose eine Kreuzschmerzprävalenzvon 23% gefunden [5]. Dies entsprichtungefähr der Prävalenz von Rücken-schmerzen bei Kindern in Querschnitt-untersuchungen. Patienten mit thorako-lumbalen und lumbalen idiopathischenSkoliosen haben deutlich häufiger(Punktprävalenz 68% bei Skoliosen,35% bei Kontrollen) und mehr(Schmerzskala 3,2 zu 1,9 bei möglichenWerten bis 10) Schmerzen als eine ver-gleichbare Kontrollgruppe [24]. Rotati-onsolisthesen der Lendenwirbelsäuleentwickeln sich häufig bei Lumbal-skoliosen. Diese sind eindeutig mitSchmerzen assoziiert [28]. Bei Skoliose-patienten wird auch ein erhöhtes Aus-maß an degenerativen Veränderungender Lendenwirbelsäule gefunden, so-wohl bei operierten als auch bei konser-vativ behandelten Patienten [7].

Zum Thema: Krummer RückenOrthopäde2002 · 31:26-33 © Springer-Verlag 2002

M. Krismer · H. Behensky · B. Frischhut · C.Wimmer · M. OgonOrthopädische Universitätsklinik Innsbruck

Operative Therapie vonidiopathischen Skoliosenund juvenilen Kyphosen

Univ. Prof. Dr. Martin KrismerOrthopädische Universitätsklinik,

Anichstraße 35, 6020 Innsbruck/Österreich

Schlüsselwörter

Skoliose · Kyphose · Morbus Scheuermann ·

Operative Korrektur · Mobilisationstechniken

Der Orthopäde 1•2002 | 27

M. Krismer · H. Behensky · B. FrischhutC.Wimmer · M. Ogon

Operative treatment of idiopathicscoliosis and juvenile kyphosis

Abstract

Indication for operative treatment of idio-

pathic scoliosis and juvenile kyphosis is

mainly cosmetic.There is also a higher inci-

dence of pain in scoliosis patients, and re-

duced pulmonary function in severe defor-

mity, especially in severe deformities present

at the age of 5 years (early onset). Scoliotic

curves of less than 30° will not progress in

adults, whereas curves of 50–75° will further

progress a mean of 25° during 40 years.

Progression in adults with juvenile kyphosis

is not well documented.

Operative treatment aims to stop

progression, to control spinal growth, or to

perform correction and fusion by spinal in-

strumentation and bone grafts.These goals

can be achieved either by an anterior, a pos-

terior, or a combined approach.Correction

principles are compression, distraction,

derotation and translation.

The forces applied by correction are

transferred by fixation devices (pedicle

screws, anterior screws, hooks, sublaminar

wires) to the spine.The higher correction

forces are, the higher is the correction

achieved,but also the risk of fracture and torn

out implants. Mobilisation reduces rigidity

and allows to achieve a better correction with

equal forces.The best mobilisation techniques

are disc excision, facet joint removal, and

techniques to mobilise the thorax.

Keywords

Scoliosis · Kyphosis · Scheuermann’s disease ·

Fixation devices

Im Vergleich von 76 Scheuermann-Patienten (im Mittel 71°) mit 34 Kon-trollpatienten wurden keine signifikan-ten Unterschiede bezüglich Kranken-standtage durch Kreuzschmerzen,Akti-vitäten des täglichen Lebens, Selbstbe-wusstsein, Schmerzmedikamente undder Inzidenz von Spondylolisthesen ge-funden [19]. Einige Patienten wiesen je-doch geringe neurologische Ausfälle auf.

Die Progression einer idiopathischenSkoliose im Kindesalter ist abhängig vomKrümmungsausmaß und der körperli-chen Reife.Skoliosen unter 30° Cobb sindim Erwachsenenalter nicht progredient,Krümmungen zwischen 50° und 75°Cobb nehmen jedoch in den 40 auf denWachstumsabschluss folgenden Jahrenum weitere 25° Cobb zu [28, 29]. Krüm-mungen über Cobb 50° nach Wachstums-abschluss erreichen somit ein Ausmaßvon ca. 75°. Für juvenile Kyphosen gibt esnur wenige Berichte und keine systemati-sche Untersuchung über die Progredienz.In einem Bericht über 11 Fälle, die eineKorsettbehandlung nicht durchführten,war nur einer progredient.Allerdings be-stehen Fallberichte über deutliche Krüm-mungszunahmen [30].

Von diesen Einschränkungen abge-sehen bilden die meisten idiopathischenAdoleszentenskoliosen und juvenilenKyphosen,wie eingangs festgehalten,einkosmetisches Problem. Dieses ist jedochhäufig erheblich. Daher besteht verbrei-tet die Meinung, dass idiopathische Sko-liosen über Cobb 50° operiert werdensollten. Bei Skoliosen zwischen 40° und50° sollte in Abhängigkeit von der zu er-wartenden Progression die Indikationzur Operation gestellt werden [12]. Zuergänzen wäre, dass kosmetisch beson-ders ungünstige Skoliosen, z. B. bei sehrausgeprägter Lordose, auch bei geringe-ren Cobb-Winkeln operiert werden soll-ten. Für Kyphosen ist es schwieriger ein-deutige Empfehlungen zu geben. Juveni-le Kyphosen über 70° Cobb stellen je-doch unseres Erachtens eine Operati-onsindikation dar, wenn lumbaleSchmerzen vorliegen oder ein durch diekosmetische Beeinträchtigung beding-ter Leidensdruck besteht.

In einer idealen Arzt-Patienten-Be-ziehung sollten die therapeutischen Zie-le von Arzt und Patient möglichst über-einstimmen. Der Arzt kennt die Mög-lichkeiten und Grenzen der von ihm be-

Orthopäde2002 · 31:26-33 © Springer-Verlag 2002

Abb.1 � Links: Abstützspan mit autologerFibula bei Kyphose. Der Raum zwischenFibula und Wirbelsäule muss mit Knochen-material aufgefüllt werden, z. B. mitRippenteilen, welche über den vorderenZugang gewonnen wurden. Rechts:Abstützspan mit autologer, vaskulari-sierter Rippe, welche über den thorakalenZugang gewonnen und aus dem Thoraxin die abstützende Position gedreht wird

Abb. 2 � Links: Korrektur durch Instru-mentation ohne (konkavseitige) Fusionmit subkutanem Harrington-Stab. DerStab steht kranial über den Haken hinaus,um weitere Distraktionen ohne Stab-wechsel zu ermöglichen.Rechts: Korrektur durch Luque trombone.Es werden 2 Stäbe posaunenartig so ge-bogen, dass sie teilweise überlappen undmit zunehmendem Körperwachstumauseinander gleiten. Die Korrektur er-folgt durch Translationskräfte, welcheüber sublaminäre Drahtcerclagen dieWirbelsäule an die Stäbe annähern

Zum Thema: Krummer Rücken

| Der Orthopäde 1•200228

herrschten Therapien und muss demPatienten zu realistischen Erwartungenverhelfen. Bei idiopathischen Adoles-zentenskoliosen und juvenilen Kypho-sen hat der Patient ein erhebliches kos-metisches Problem, welches operativ be-handelt werden kann. Die Operationbirgt Risiken bis hin zur Querschnittlä-sion. In dieser Situation sieht der Patientfolgende Ziele einer Operation:

◗ Gutes kosmetisches Ergebnis,„unauffällig werden“.

◗ Kein bleibender Schaden.◗ Normales Leben so schnell wie

möglich wieder aufnehmen(Beruf, Freizeit).

◗ Keine starken Schmerzenperioperativ.

An diesen Kriterien wird der Patient denbehandelnden Arzt messen.Ärzte neigendazu,mehr operationsbezogene Kriterienin den Vordergrund ihrer Berichte zustellen wie Cobb-Winkel und Korrekturderselben,Dekompensation,Derotation,Blutverlust.

Die kosmetische Zielsetzung bedeu-tet, körperlich unauffällig zu werden.Rundrücken, Rippenbuckel, einseitigerSchulterhochstand, Taillenasymmetriewerden vom Patienten versteckt. DasSchwimmbad wird gemieden, die Klei-dung unter der Zielsetzung ausgewählt,den körperlichen Makel zu verbergen.Ein Eingriff ist dann erfolgreich, wennder eigene Körper wieder als herzeigbarund unauffällig angesehen wird.

Komplikationen werden vom Pati-enten in Kauf genommen, solange keinbleibender Schaden entsteht. Die Quer-schnittläsion oder die Leberzirrhosedurch Hepatitis C als Folge eines opera-tiven Wirbelsäuleneingriffs mit kosme-tischer Indikationsstellung sind jedochso schwerwiegend, dass Aspekten derSicherheit Priorität eingeräumt werdenmuss.

Ein normales Leben soll rasch wie-der aufgenommen werden. Postoperativsoll ein Bewegungsumfang vorliegen,derAlltagsbewegungen erlaubt. Durch dieoperative Versteifung langer Abschnitteder Brust- und Lendenwirbelsäule wirddie Rumpfrotation (untere Brustwirbel-säule) und die Rumpfseitneigung (Len-denwirbelsäule) meist erheblich einge-schränkt. Glücklicherweise ist jedochdie Rumpfvorbeuge die wichtigste All-tagsbewegung, und eine Einschränkungdieser Bewegung in der Wirbelsäule

kann meist durch die Hüften kompen-siert werden. Der Patient erwartet, nach2–3 Monaten Schule oder Beruf wiederaufnehmen zu können.

Operationsverfahren

Operationen zur Behandlung idiopathi-scher Skoliosen und juveniler Kyphosenkönnen drei unterschiedliche Ziele ver-folgen [16]:

◗ Erhalten des Status quo (Progressionverhindern),

◗ Wachstum lenken,◗ Korrigieren und Korrektur halten.

Ein Erhalten des Status quo ohne ange-strebte Korrektur ist nur dann erstre-benswert, wenn eine Korrektur ein er-hebliches Risiko darstellt. Dies kann beikongenitalen und iatrogenen Deformi-täten sehr wohl der Fall sein. Im Zusam-menhang mit idiopathischen Skoliosenist diese Zielsetzung unerheblich, kannaber bei Kyphosen eine Rolle spielen.

Erhalten des Status quo

Das Erhalten des Status quo ist dann in-diziert, wenn eine progrediente Defor-mität nur mit erheblichem Risiko durcheine Operation korrigiert werden kann.Eine Risiko-Nutzen-Analyse, welcheGegenstand eines Gesprächs zwischenArzt, Patient und Angehörigen ist, kannzum Ergebnis kommen, dass ein Stoppder Progredienz ohne wesentliche Kor-rektur erstrebenswerter ist als eine Kor-rektur mit hohem Risiko. Ein solchesVorgehen ist bei kongenitalen Deformi-täten häufig sinnvoll, bei idiopathischenSkoliosen fast nie indiziert, und bei ei-ner Scheuermann-Kyphose nur dann zuerwägen, wenn jene so hochgradig ist,

Abb. 3a, b � Röntenbild vor (a) undnach (b) Durchführung einer kon-vexseitigen Epiphysiodese und dor-salen Fusion sowie Instrumentationmit Luque trombone

Abb. 4 � Die Form der Wirbelkörperbleibt bei der Korrektur unverändert,

nur die Stellung der Wirbel zueinanderwird verändert

Der Orthopäde 1•2002 | 29

dass eine Aufrichtung wegen der beste-henden Verkürzung ventraler Struktu-ren wie Thorax, Bauchmuskulatur, inne-rer Organe nicht möglich ist.Die Abstüt-zung kann durch eine autologe Fibulaoder eine vaskulär gestielte Rippe erfol-gen ([15]; Abb. 1).

Bei Patienten mit großem Wachs-tumspotenzial ist ein Abstützspan ge-fährlich. Erfolgt die gewünschte Fusiondes Abstützspans mit der Wirbelsäule,und wächst die Wirbelsäule weiter, ent-steht eine sehnenartige Struktur, welchedie Wirbelsäule in eine zunehmendeKyphose zwingt.

Wachstum lenken

Im Prinzip kann Wachstum gelenkt wer-den durch ventrale und dorsale Eingrif-fe, einseitig oder beidseitig, je nach zu-grundeliegender Deformität. Bei einemeinseitigen ventralen Eingriff wird einStück der Bandscheibe mit Apophyseentfernt und durch Knochenspäne er-setzt. Dies kann auch thorakoskopischerfolgen [9, 25]. Bei einem dorsalen ein-seitigen Eingriff werden die Wirbelge-lenke im zu behandelnden Abschnitt derWirbelsäule teilweise reseziert und dannKnochenspäne angelagert. Bei kleinenKindern wird Bankknochen verwendet.

Einzelne Publikationen berichten,dass bei kleinen Kindern mit infantilenSkoliosen eine kombinierte ventrale unddorsale konvexseitige operative Reduk-tion des Wachstumspotenzial zu einer

langfristigen Korrektur oder zumindestzum Halten der Krümmung führt [1, 13].Andere Publikationen zum Teil mit grö-ßerem Patientengut berichten, dass nureine zusätzliche Korrektur durch Instru-mentation ohne Fusion ausreichend ef-fektiv ist [18, 23]. Wir empfehlen daherbei Skoliosen die Kombination von In-strumentation und konvexseitiger Fusi-on ventral und dorsal, wobei in begrün-deten Fällen (Kyphose oder Lordose)nur ventral oder nur dorsal fusioniertwird. Die Instrumentation kann durchDistraktion mit einem Stab-Haken-Kon-strukt erfolgen, wobei durch Aussprei-zen oder Nachdrehen von Muttern alle4–6 Monate je nach Korrekturverlust ei-ne erneute Distraktion erfolgt. Bei die-sem Verfahren erfolgt alle 4–6 Monateeine Operation mit relativ kleinem Zu-gang (ca. 4 cm Inzision), ungefähr alle2 Jahre wird ein Stabwechsel durchge-führt. Zur Vorbeugung einer Hakendis-lokation ist eine permanente Korsettver-sorgung nötig.

Alternativ, und unserer Meinungnach effektiver, ist eine Konstruktionmit Luque trolley oder Luque trombone(Abb. 2 und 3), bei der die häufigen Re-operationen zum Nachspannen entfal-len. Hier kann ein Stab oder können2 Stäbe, welche mit Drahtcerclagen fi-

xiert sind, mit dem Längenwachstumder Wirbelsäule entlang der Wirbelsäu-le gleiten. Wichtig ist, bei der Präparati-on der Konkavseite dorsal die Wirbel-säule nicht zu denudieren, sondern imGegensatz zur sonst üblichen Präparati-onstechnik die autochthone Muskulaturwirbelsäulennah zu durchtrennen. Den-noch kommt es nicht selten zu unge-wünschten Fusionen. Bei Komplikatio-nen stellt die Entfernung der Cerclagenein Gefahrenpotenzial dar. Kürzlichwurde über eine größere Serie berichtet[23], bei der die Cobb-Winkel vondurchschnittlich 65° nach 5 Jahren auf35° reduziert und dann gehalten werdenkonnten.

Korrigieren und Korrektur halten

Da das Grundprinzip der Korrektur ei-ner deformierten Wirbelsäule abweichtvon jenen Korrekturprinzipien, die beilangen Röhrenknochen zur Anwendunggelangen, ist ein Hinweis darauf an die-ser Stelle nötig. Verfahren zur Verände-rung der Wirbelform sind in Erprobung,aber nicht im klinischen Einsatz. Daherist eine Voraussetzung aller derzeit üb-lichen Korrekturverfahren, dass die beiidiopathischen Skoliosen und juvenilenKyphosen immer veränderte Wirbel-

Abb.5 � Schematische Zeichnung eines Skoliose-wirbels der Brustwirbelsäule. Der Pedikel istauf der Konvexseite kräftiger, das Wirbelgelenkauf der Konkavseite, die intrinsische Rotationist gut erkennbar (aus: C. Nicoladoni (1882)Die Torsion der skoliotischen Wirbelsäule.Ferdinand Enke, Stuttgart)

Abb. 6a, b � Technik zur Rippenbuckelresektion und zur Anhebung desRippentals. a Bei der Rippenbuckelresektion wird der Rippenstumpfmit einem kräftigen, nicht resorbierbaren Faden mit dem Querfortsatzverknüpft. b Bei der Anhebung des Rippentals wird die Rippe über denimplantierten Stab gehoben und auf diesem mit Naht befestigt. DieRippe bekommt Anschluss an die zur Fusion angelegten Knochenspäne.Beide Verfahren helfen auch bei thorakalen Skoliosen den Thorax zumobilisieren

Zum Thema: Krummer Rücken

| Der Orthopäde 1•200230

form nicht korrigiert wird, sondern nurdie Stellung der Wirbel zueinander(Abb. 4). Da die Stellung der Wirbel zu-einander durch Bandscheiben, Bänder,Wirbelgelenke, Muskeln und Brustkorbgehalten wird, wird das Ausmaß derKorrektur davon abhängen, ob dieseStrukturen im Rahmen der Korrekturnur in ihre Endlage bewegt oder aberoperativ durchtrennt, reseziert, mobili-siert werden. Keilresektionsverfahrenwie die „eggshell procedure“ bilden eineAusnahme, werden aber bei idiopathi-schen Skoliosen und juvenilen Kypho-sen in den seltensten Fällen zur Anwen-dung kommen.

Die Deformität der Wirbelkörperkann erheblich sein. Juvenile Kyphosensind definiert durch eine Keilform derWirbelkörper, entweder 3 Wirbelkörpermit mindestens 5° Keilform, oder einWirbel mit mindestens 10°. Bei Skolio-sewirbeln besteht eine starke intrinsi-sche Rotation, welche auch von kranialnach kaudal bis zu 6° pro Wirbel zu oderabnehmen kann ([17]; Abb. 5).

Mobilisationstechniken

Am effektivsten erfolgt eine Mobilisati-on über Entfernung von Bandscheiben.Juvenile Kyphosen sind oft recht flexi-bel. Zeigt jedoch eine Röntgenaufnahmeder Brustwirbelsäule seitlich im Liegenbei Lagerung des Scheitelwirbels auf ei-ner Rolle, dass keine wesentliche Kor-rektur erzielt wird,so kann durch Resek-tion der ventralen Bandscheibenanteileund Lig. longitudinale anterius eine sehreffektive Korrektur erreicht werden.Hochgradige Kyphosen sind allerdings

auch durch die erworbene rigide Tho-raxform schwer zu korrigieren. Bei Sko-liosen können vordere Korrekturverfah-ren häufig eine ausgezeichnete Korrek-tur und sogar eine Überkorrektur errei-chen, weil die Bandscheiben dort ent-fernt werden und somit eine effektiveMobilisation im Verfahren inkludiert ist.

Durch Thorakoskopie kann eineMobilisation mit geringerer Invasivitäterfolgen als bei offener Thorakotomie.Bei Skoliosen muss nur der konvexe An-teil des Diskus entfernt werden. Bei Sko-liosen unter 70° ist dies selten nötig, beiSkoliosen über Cobb 90° liegt die Wir-belsäule so knapp unter der Brustwand,dass nicht genügend Raum für eine tho-rakoskopische Mobilisation zur Verfü-gung steht. In diesem Indikationsbe-reich ist das Verfahren effektiv undleicht durchführbar [20]. Bei juvenilenKyphosen sind die Bandscheiben sehrschmal, der vordere Anteil des Diskusmuss auch auf der dem Zugang abge-wandten Seite entfernt werden. Hier er-

scheint uns ein offener Zugang zielfüh-render.

Bei schweren thorakalen idiopathi-schen Skoliosen verhindert die Rigiditätdes Thorax häufig eine ausreichendeKorrektur. Hier kann durch Durchtren-nen der Rippen auf der Seite des Rip-pentals und Anheben des Thorax aufden zur Instrumentation verwendetendorsalen konkaven Stab nach Beendi-gung der Korrektur eine Mobilisationerfolgen, ebenso durch Rippenbuckelre-sektion (Abb. 6).Allerdings sind derarti-ge Eingriffe mit einer Reduktion der Vi-talkapazität verknüpft und sollten beigrenzwertiger Atemfunktion nicht zurAnwendung kommen.

Das Korrekturausmaß ist abhängigvon der Flexibilität der Krümmung unddem Ausmaß sowie der Richtung derangewandten korrigierenden Kräfte.Diekorrigierenden Kräfte können nicht be-liebig erhöht werden, da die Verbindungzwischen dem zur Korrektur verwende-ten Instrumentarium und den Wirbelnnicht beliebige Kräfte verträgt. Somitkann zwar durch Wahl stabiler Verbin-dungen zwischen Instrumentarium undWirbeln, wie dies vor allem auch Pedi-kelschrauben darstellen, das Ausmaßder angewandten Kraft erhöht und so-mit auch die Korrektur verbessert wer-den.Alternativ kann durch Mobilisationbei niedrigeren Kräften ebenfalls mehrKorrektur erzielt werden (Abb. 7).

Korrekturmechanismen

Die Korrektur kann in dreierlei Rich-tung erfolgen. Kompression hat den Vor-teil, dass zumindest bei idiopathischenSkoliosen und juvenilen Kyphosen kei-ne Dehnung des Rückenmarks eintritt,das neurologische Risiko somit gering

Abb. 7 � Die Abszisse zeigt die erzielte Korrektur. 100% bedeuteteine Wirbelsäule mit normaler Form, 0% die Ausgangssituation.Die Ordinate zeigt die zunehmend angewandte Kraft („load-dis-placement-curve“). Bei zu hoher Kraft tritt der Riss von Bändern,ein Ausriss von Haken oder Schrauben, bzw. eine Fraktur ein.Dadurch erfolgt eine sprunghafte Verlagerung

Abb. 8 � Durch Kompression einesdorsalen Instrumentariums erfolgtdorsal eine Verkürzung der Wirbel-

säule und damit die Korrektur einerKyphose

Der Orthopäde 1•2002 | 31

ist. Bei juvenilen Kyphosen ermöglichtdie dorsale Kompression eine effektiveKorrektur (Abb. 8). Ist die Krümmungsehr rigide, wird eine ventrale Mobilisa-tion durch Entfernung der vorderen An-teile der Bandscheiben sinnvoll sein. Beiidiopathischen Skoliosen hat nur dieKorrektur durch Kompression von ven-tral Bedeutung erlangt. Zwar stand beiHarrington-Instrumentarium ein Kom-pressionsinstrumentarium von dorsalzur Verfügung, die Hauptkorrektur er-folgte aber über Distraktion.

Die Kompression ist bei der ventra-len Korrektur von Skoliosen ein wesent-liches Korrekturprinzip, welches bei denVerfahren nach Dwyer [8] und Zielke[31] sowie den daraus abgeleiteten Ver-fahren zur Anwendung kommt. Mit derKorrektur der Seitkrümmung ist dabeiimmer auch eine Kyphosierung verbun-den, was in der Lendenwirbelsäule nichterwünscht ist. Durch Verwendung vonausreichend hohen Knochentransplan-taten oder Implantaten kann dieser Ef-fekt vermieden werden (Abb. 9). Nebender Kompression steht ventral noch derKorrekturmechanismus der Derotationzur Verfügung, auf den später eingegan-gen wird.

Die Distraktion war der erste Kor-rekturmechanismus, der bei der Instru-mentation von Skoliosen zur Anwen-dung kam in Form der Haken-Stab-In-strumentation von Harrington [10]. DieDistraktion der Wirbelsäule ist mit einerDistraktion des Myelons vergesellschaf-tet, somit mit einem erhöhten neurolo-gischen Risiko. Je geringer das Ausmaßder Krümmung, desto weniger effizientist das Korrekturprinzip der Distrakti-on. Bei größeren Krümmungen nimmtdie Effizienz deutlich zu.Das Prinzip der

Distraktion wird auch bei Abstützspä-nen (Abb. 10) verwendet, wenngleichmeist mit dem Ziel, im Sinne der Risiko-verminderung nur so stark zu distrahie-ren, dass der Abstützspan sicher veran-kert bleibt.

Bei der dorsalen Instrumentationvon Skoliosen sollte die Distraktion we-gen des höheren neurologischen Risikosnicht zur Anwendung kommen. Als zu-sätzliches Korrekturprinzip ist die Dis-traktion jedoch weit verbreitet undsinnvoll.

Die Derotation wurde als Korrek-turprinzip von Cotrel u. Dubousset aus-schließlich für Skoliosen eingeführt [6].Die Idee beruht auf der Beobachtung,dass bei idiopathischen Skoliosen derBrustwirbelsäule regelmäßig im Apex-bereich eine Region mit verminderterKyphose oder sogar Lordose (Hypoky-phose) zu beobachten ist. Es bestandnun die Vorstellung, die Deformität inder Frontalebene, die skoliotische Seit-neigung, in die Sagittalebene zu rotierenund somit eine erwünsche Kyphose zuschaffen (Abb. 11). Der Korrekturmecha-nismus ist genauso effizient wie jenerder Translation. Krümmungen überCobb 70° können schlecht versorgt wer-den, weil diese Krümmungen einerseitszu rigide sind, andererseits die an dieWirbelsäulenkrümmung angeglicheneBiegung des Stabes zu stark ist, umsie in eine Kyphose der Brust- oderLordose der Lendenwirbelsäule umzu-wandeln.

Werden CT-Bilder prä- und post-operativ genau analysiert, so zeigt sich,dass keine echte Derotation eintritt indem Sinn, dass der apikale Wirbel gegendie Endwirbel korrigierend verdrehtwird, wohl aber eine komplexe Transla-

Abb. 9 � Über ein Hypomochlionwird von ventral komprimiert unddadurch die Skoliose korrigiert.Voraussetzung ist ein biegsamerStab, der zunächst entsprechendder Skoliose gebogen ist, sich aberim Laufe der zunehmenden Kom-pression begradigt

Abb.10a,b � Korrektureiner Skoliose durch

Distraktion, unter Ver-wendung von 2 distra-

hierenden Stäben,wobei allerdings

durch die Annäherungder beiden Distrak-

tionsstäbe auch dasPrinzip der Translation

zur Anwendung kam

Zum Thema: Krummer Rücken

| Der Orthopäde 1•200232

tion der Wirbelsäule in das Körperzen-trum und nach dorsal im Sinne einerKyphosierung ([14]; Abb. 11). So wirdauch ein Rippenbuckel durchaus kosme-tisch verbessert, da eine thorakale Hy-pokyphose diesen besonders betont,und diese korrigiert werden kann. Inden nicht rigiden Abschnitten der Wir-belsäule werden die angewandten Rota-tionskräfte eher wirken. Dies führt ins-besondere bei rechtskonvexen thoraka-len Skoliosen mit lumbaler Gegenkrüm-mung zum Phänomen der Dekompen-sation.Dabei wird die Lendenwirbelsäu-le ungenügend korrigiert, und es ent-steht meist eine Verlagerung des C7-Lotsnach rechts [4].

Bei Korrekturen vom vorderen Zu-gang wird ebenfalls das Korrekturprin-zip der Derotation verwendet [11]. Da esauf einem relativ starrem Stab beruht,entstehen häufig Probleme mit der Rota-tion eines stark vorgebogenen Stabes.Das Verfahren hat aber den Vorteil, dassim Gegensatz zur Kompression vomventralen Zugang belastungsfähige Stä-be verwendet werden können, welche ei-ne korsettfreie Nachbehandlung erlau-ben, so wie dies auch für dorsale Instru-mentationen der Fall ist. Auch kommtdieses Prinzip bei den ersten Versuchender thorakoskopischen Instrumentationvon Skoliosen zur Anwendung.

Der Korrekturmechanismus derTranslation kann auf unterschiedlicheWeise erfolgen. Wirbelsäulenabschnittekönnen in Richtung eines Stabes gezogenwerden, der an Endwirbeln der Krüm-mung befestigt ist und entsprechend dergewünschten Form der Wirbelsäule vor-gebogen ist.Oder ein Stab wird an einemWirbelsäulenabschnitt befestigt und

dann an einen anderen angenähert(Abb. 12). Da die Translation zu keinerwesentlichen Dehnung des Myelonsführt, ist sie relativ risikoarm.Da auch beiFixation beider Endwirbel weniger Kräf-te auf nicht fusionierte Anteile der Wir-belsäule wirken, scheint die Dekompen-sation seltener vorzukommen. Somit er-scheint die Derotation als ideales Korrek-turprinzip in der dorsalen Instrumentati-on von idiopathischen Skoliosen.

Bei juvenilen Kyphosen wird eben-falls meist von dorsal das Korrekturprin-zip der Translation angewandt. Meistwerden die kranialen Abschnitte der Wir-belsäule mit einem Stab verbunden, derdie zu erzielende sagittale Krümmungder Wirbelsäule vorgibt.Dieser Stab wirddann an die kaudalen Krümmungsab-schnitte der Wirbelsäule angenähert undmit ihnen verbunden (Abb. 13).

Fixation eines Stabes an derWirbelsäule

Fast alle vorderen und hinteren Implan-tate zur Korrektur von juvenilen Kypho-

sen und idiopathischen Skoliosen beste-hen aus einem oder zwei Stäben. Diesewerden mit unterschiedlichen Implan-taten mit der Wirbelsäule verbunden.Dorsal sind folgende Fixationen häufig:

◗ Sublaminäre Drahtcerclagen,◗ Pedikelschrauben,◗ Haken von oben: am Proc. transver-

sus, an der Lamina,◗ Haken von unten: an der Lamina, im

Gelenk, den Pedikel fassend,◗ Hakenklammern: monosegmental,

bisegmental.

Jedes dieser Implantate kann für be-stimmte Zugrichtungen und Konditio-nen ideal sein, für andere wieder nicht.Haken sind leicht zu fixieren und relativrisikoarm, sie können aber zum Beispielbei einem Derotationsmanöver Rich-tung Myelon gedreht werden oder beider translatorischen Annäherung einesStabes an die Wirbelsäule bei juvenilenKyphosen Richtung Myelon gedrücktwerden.

Pedikelschrauben sind fast univer-sell einsetzbar. Kräfte können besser alsmit Haken übertragen werden, was zubesserer Korrektur führt [2]. Seit kur-zem erscheinen auch Berichte, die zei-gen, dass diese selbst bei Kindern wäh-rend des Wachstums ohne Problem ver-wendet werden können und kein Fehl-wachstum des Wirbels induzieren. We-gen des gerade in der Brustwirbelsäuleoft sehr geringen Pedikeldurchmesserswerden sie jedoch häufiger in der Len-denwirbelsäule verwendet. Fehlplatzier-te Pedikelschrauben verursachen häufigneurologische Ausfälle.

Bei vorderen Instrumentationenstehen nur Wirbelkörperschrauben zurVerfügung. Sollen die maximal anwend-baren Korrekturkräfte erhöht werden,

Abb. 11 � Derotationsmanöver nach Cotrel und Dubousset. Der konkave Stab wirdan die Wirbelsäulenkrümmung angeglichen. Die Krümmung wird aus der Frontal-ebene in die Sagittalebene gedreht. Aus der skoliotischen Seitneigung entsteht eine erwünschte Kyphose

Abb. 12 � VerschiedeneMöglichkeiten der Korrek-

tur durch Translation.Die Ringe symbolisieren

fixierende Implantatewie Haken, Schrauben oder

Cerclagen

Der Orthopäde 1•2002 | 33

so kann eine Doppelschraubenkon-struktion gewählt werden, welche dieAusreiß- und Scherkräfte um ca. 1/3 an-heben lässt [22].

Fazit für die Praxis

Der Behandler idiopathischer Skoliosenund juveniler Kyphosen muss sich bewusstsein,dass er großteils kosmetische Problemebehandelt, manchmal vergesellschaftetmit Schmerz. Das Operationsverfahrenmuss mit Augenmaß gewählt werden, umdas Risiko in einer günstigen Relation zumOperationsziel zu halten. Andererseits darfdas Operationsziel des besseren kosmeti-schen Resultats nicht aus den Augen ver-loren werden.

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Abb. 13 � Der Stab wird proximaldurch Hakenklammern befestigt.Seine Biegung gibt die antizipierteWirbelsäulenform vor. Der Stab wirdan Pedikelschrauben angenähert

Zum Thema: Krummer Rücken

| Der Orthopäde 1•200234

Zusammenfassung

Angeborene Fehlbildungen der Wirbelsäule

entstehen in der Regel als (toxische) Schädi-

gung während der Schwangerschaft, es gibt

aber auch einzelne hereditäte Formen. Das

Vorhandensein von multiplen Anomalien

weist auf diese Ätiologie hin. Assoziierte

Anomalien sind häufig, wobei vor allem an

die spinale Dysraphie zu denken ist, welche

in ca. 20–30% vorkommt. Auch Synostosen

der Rippen sind von Bedeutung. Daneben

sind Herzfehler, Sprengelsche Deformität,

Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten, Längsdefek-

te der Extremitäten, Klumpfüße oder Talus

verticalis oft mit kongenitalen Skoliosen

assoziiert.Wir unterscheiden Anlagestörun-

gen, Segmentationsstörungen und kom-

binierte Formen. Die Art der Fehlbildung

bestimmt den Spontanverlauf: Bei einem

Halbwirbel ist mit einer Zunahme der Sko-

liose um 0–2° pro Jahr zu rechnen, bei zwei

gleichseitigen Halbwirbeln mit 2–3° pro

Jahr, bei einer einseitigen unsegmentierten

Spange mit ca. 5° pro Jahr und bei der Kom-

bination einer einseitigen unsegmentierten

Spange mit einem gegenseitigen Halbwirbel

mit 10° pro Jahr. Bezüglich der Therapie sind

konservative Maßnahmen in der Regel

unwirksam. Ein Grundprinzip der Behand-

lung von kongenitalen Anomalien ist, dass

die chirurgische Therapie möglichst erfolgen

sollte, bevor die Deformität nicht mehr

akzeptabel ist, da Korrekturen schwierig und

risikoreich sind. Folgende Operationsverfah-

ren können angewendet werden: Dorsale

und/oder ventrale Fusion mit oder ohne

Instrumentierung, Epiphyseodesen,Verte-

brektomie von ventral und/oder dorsal, Dis-

traktion mit Halo-Extension, Osteotomien

Angeborene Missbildung des Achsen-skeletts kommen auf einer oder mehre-ren Etagen vor, sie können zu Achsenab-weichungen in der Sagittal- (kongenita-le Kyphosen) wie auch in der Frontal-ebene (kongenitale Skoliosen) führen,sowie mit Rotation verbunden seinkann.

Ätiologie

Die meisten angeborenen Fehlbildun-gen der Wirbelsäule sind während derSchwangerschaft erworben. Nur bei et-wa 1% der Fälle besteht eine Heredität

resp. ein familiäres Auftreten [6, 37]. Beiden hereditären Formen handelt es sichmeist um multiple Anomalien.

Bei multiplen kongenitalen Anoma-lien der Wirbelkörper besteht für späte-re Geschwister ein Risiko von 5–10%. Ei-ne hereditäre Form ist die spondylotho-rakale Dysplasie nach Jarcho-Levin [12,33]. Hier bestehen multiple Segmentati-onsfehler, Rippenverschmelzungen undauch Segmentaplasien. Diese Krankheitist autosomal-dominant vererbbar.BeimVATER-Syndrom treten ebenfalls here-ditär multiple Missbildungen auf: NebstWirbelmissbildungen sind Analatresie,tracheoösophageale Fistel, Ösophagus-atresie, Nierenmissbildungen und Dys-plasie des Radius vorhanden [13].

Bei der überwiegenden Zahl vonangeborenen Fehlbildungen ist als Ursa-che eine toxische Schädigung währendder Schwangerschaft anzunehmen. DieSchädigung muss dabei vor dem Stadi-um der Verknöcherung, d. h. im frühe-sten Stadium der Verknorpelung odervorher erfolgen [29]. Dies bedeutet, dassdie Schädigung vor der 10. Schwanger-schaftswoche stattgefunden habenmuss. Je ausgedehnter die Fehlbildung,desto früher hat die Noxe eingewirkt.Die meisten Anomalien entstehen wohlwährend der 5.und 6.Schwangerschafts-woche [19].

Zum Thema: Krummer RückenOrthopäde2002 · 31:34-43 © Springer-Verlag 2002

F. Hefti · Kinderorthopädische Universitätsklinik, Universitätskinderspital beider Basel (UKBB)

Kongenitale Fehlbildungen an der Wirbelsäule

Prof. Dr. Fritz HeftiKinderorthopädische Universitätsklinik,

Universitätskinderspital beider Basel (UKBB),

Römergasse 8, 4005 Basel/Schweiz

sowie die Durchtrennung der fusionierten

Rippen und stufenweise Dehnung mit Dis-

traktionsinstrumentarium (Verfahren nach

Campbell). Die Operationen sind risikoreich,

Indikationsstellung und Durchführung benö-

tigen viel Erfahrung. Heutzutage sollten die

Eingriffe unter Überwachung von sensiblen

und motorischen evozierten Potentialen

durchgeführt werden. In unserem eigenen

Krankengut überblicken wir 498 Patienten

mit kongenitalen Anomalien der Wirbelsäu-

le. Bei 143 Patienten wurden Operationen

durchgeführt. Die häufigste Operation war

die Hemivertebrektomie, welche insgesamt

56-mal vorgenommen wurde.

Schlüsselwörter

Wirbelsäule · Kongenitale Anomalien ·

Skoliose · Kyphose · Evozierte Potentiale

Der Orthopäde 1•2002 | 35

F. Hefti

Congenital anomalies of the spine

Abstract

Congenital anomalies of the spine usually

originate in (toxic) disturbances during preg-

nancy.There are occasional hereditary types.

These are characterized by the presence of

multiple anomalies. Congenital scolioses are

often associated with other anomalies like

spinal dysraphy (20–30%) and fusion of the

ribs. Furthermore heart defects, Sprengel's

deformity, cleft palates, hemimelias, clubfeet

or congenital vertical talus are frequently

associated with congenital scoliosis.We clas-

sify in failures of formation, segmentation

and combined types.The type of malforma-

tion determines the prognosis. One hemiver-

tebra is associated with a risk of progression

of 0–2°/year, 2 ipsilateral hemivertebra with

2–3°/year, a unilateral unsegmented bar

with 5°/year and a combination of a unilate-

ral unsegmented bar with a contralateral

hemivertebra with approximately 10°/year.

Conservative treatment is usually ineffective.

The indication for operative treatment

should be made before the deformity

becomes inacceptable, as a correction is

difficult and dangerous.The following opera-

tions can be carried out: Anterior and/or

posterior fusion with or without instrumen-

tation, epiphyseodesis, (hemi)vertebrecto-

mies (with anterior and/or posterior ap-

proach), distraction with a halo, osteotomies,

separation of the fused ribs and gradual dis-

traction (Campbell's expansion thoracoplas-

ty).The operations carry significant risks and

the indication to the various treatment mo-

dalities is difficult. Operations should be

made under monitoring of sensory and mo-

tor evoked potentials. From 498 patients

with congenital anomalies of the spine in

our observation we have operated on 143.

Hemivertebrectomies were the most fre-

quent interventions (56).

Keywords

Spine · Congenital · Scoliosis · Kyphosis ·

Somato-sensory evoked potentials ·

Spinal cord

Assoziierte Missbildungen

Eine Reihe von Fehlbildungen treten ge-häuft zusammen mit Missbildungen derWirbelsäule auf:

Fusion der Rippen

Die Rippen sind in der Nähe der Miss-bildung häufig miteinander verbundenund bilden eine knöcherne Masse. Be-sonders typisch ist dies auf der Seite ei-nes unsegmentierten Balkens (s. unten).Die dadurch gebildete Skoliose hat einestarke Tendenz zur Progression, auchmassive Lordosierungen im thorakalenBereich können dadurch bedingt sein,insbesondere wenn die Fusion beidsei-tig vorhanden ist.

Spinale Dysraphie

Etwa 20% [18] bis 30% [28] der Patien-ten mit kongenitalen Fehlbildungen wei-sen intraspinale Anomalien auf. Amhäufigsten sind intraspinale Fehlbildun-gen bei einem einseitigen unsegmen-tierten Balken mit gegenseitigem Halb-wirbel im thorakolumbalen Übergangs-bereich (52% Diastematomyelien). Alsintraspinale Missbildungen kommenvor:

● Diastematomyelie, d. h. intraspinaleSpangenbildung,

● Zysten,● Teratome,● Lipome,

Die Diagnosestellung der intraspinalenMissbildungen ist vor operativen Maß-nahmen sehr wichtig. Bei Vorliegen sol-cher Anomalien ist die Gefahr des Auf-tretens von neurologischen Läsionenwährend der Operation größer als üb-lich.

Weitere verknüpfte Missbildungen

Bei etwa einem Drittel der Patienten mitFehlbildungen der Wirbelsäule beste-hen auch weitere assoziierte Missbil-dungen [37]. Herzfehler wurden bei 7%,eine Sprengel’sche Deformität bei 6%,Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten bei 4%,Extremitätenverkürzung bei 4%,Klumpfüße bei 13% und ein Talus verti-calis bei 1% gefunden. Daneben kom-men Hypoplasie der Mandibula, Nie-renaplasie, Hufeisenniere, Uterusagene-

sie etc. vor. Besonders Anomalien desUrogenitaltraktes scheinen häufig zusein (in gewissen Berichten bis zu 40%;[9]). Eine ultrasonographische Abklä-rung des Abdomens und der Nieren istdeshalb bei jeder kongenitalen Skoliosenotwendig.

Anomalien an der Wirbelsäule (ins-besondere an der Halswirbelsäule) kom-men bei folgenden Syndromen gehäuftvor: Neurofibromatose [39],Larsen-Syn-drom [15], diastrophischer Zwergwuchs[27], Mukopolysaccharidose [36], spon-dyloepiphysäre Dysplasie [1, 2].

Definitionsgemäß ist die Myelome-ningozele stets auch mit einer kongeni-talen Fehlbildung der Wirbelsäule ver-bunden. Dabei betrifft die Anomaliemeist nicht nur die offenen Bögen, son-dern es bestehen in der Regel auch mehroder weniger ausgeprägte Segmentati-ons- und Anlagestörungen im Sinne vonHalb- oder Keilwirbeln. Hier handelt essich um eine Kombination einer neuro-genen Skoliose aufgrund einer vorwie-gend schlaffen Lähmung mit Elementeneiner kongenitalen Skoliose, zudemkann durch die anatomische Verlage-rung der dorsalen Muskulatur nach ven-tral eine starke (muskulär bedingte odergeförderte) Kyphose entstehen.

Vorkommen

Angaben über die Epidemiologie derkongenitalen Fehlbildungen der Wirbel-säule sind kaum vorhanden. Dies liegtvorwiegend daran, dass die Anomalienin den seltensten Fälle vererblich sindund meist bei der Geburt auch nochnicht entdeckt werden können. In einerStudie über Schuluntersuchungen bei1800 Kindern in England wurden 2 kon-genitale Skoliosen entdeckt [8]. Hierauswürde sich eine Prävalenz von knapp1‰ errechnen. Auch wenn dies wahr-scheinlich zu hoch ist, so sind Fehlbil-dungen der Wirbelsäule doch recht häu-fig.Viele von ihnen sind harmlos, verur-sachen keine Symptome und werden alsZufallsbefunde entdeckt.

Bei Patienten mit Myelomeningo-zelen wurde eine Prävalenz der Skoliosein Schweden mit 69% errechnet [26].Das Vorkommen ist nicht altersabhän-gig, sondern sie steht im Zusammen-hang mit der Höhe der Lähmung (beithorakalem Niveau haben 94% eine Sko-liose). Kyphosen sind wesentlich selte-ner und werden nur in einer Minderheit

Orthopäde2002 · 31:34-43 © Springer-Verlag 2002

Zum Thema: Krummer Rücken

| Der Orthopäde 1•200236

der Patienten beobachtet. Schwere Lor-dosen sind noch seltener und könnenvor allem iatrogen bei Verwendung ei-nes thekoperitonealen Shunts auftreten[20].

Klassifikation

Wir können einerseits nach der Gesamt-form klassifizieren:

● Kongenitale Skoliosen,● kongenitale Kyphosen,● kombinierte Missbildungen.

Spezialformen:

● Arnold-Chiari-Missbildung,● Meningomyelozele,● kongenitale Spondylolisthesis.

Andererseits können wir nach Art derMissbildung einteilen:

● Anlagestörung,● Segmentationsstörung,● kombinierte Missbildungen.

Die Bezeichnung „Klippel-Feil-Syn-drom“ sagt nichts aus über die Art derMissbildung, sondern sie bezeichnet le-diglich die Lokalisation, nämlich dieHalswirbelsäule. Der Begriff ist sehr un-spezifisch und beinhaltet sämtlicheossären Fehlformen im Bereiche derHalswirbelsäule. Diese sind oft auch miteiner Sprengelschen Deformität kombi-niert. Die Beschreibung betraf ur-sprünglich die klinische Manifestationmit kurzem Hals, eingeschränkter Be-weglichkeit und tiefem hinterem Haar-ansatz [34].

Klassifikation nach Lokalisation der Läsion

● Okzipitozervikal (Okziput bis C1),● zervikal (C2 bis C6),● zervikothorakal (C7 bis Th1),● thorakal (Th2 bis Th11),● thorakolumbal (Th12 bis L1),● lumbal (L2 bis L4),● lumbosakral (L5 und S1),● sakral.

Die wichtigste Unterscheidung bestehtzwischen Formationsfehlern (Anlage-fehlern) und Segmentationsstörungen.

Formations- (Anlage)fehler

Die Abb. 1 zeigt die verschiedenen Mög-lichkeiten von Anlagestörungen.Dabei istein Wirbelkörper jeweils unvollständigausgebildet.Ist ein Wirbelkörper einseitigdysplastisch,spricht man von einem Keil-wirbel, fehlt die eine Seite ganz, sprichtman von einem Halbwirbel. Der Fehler

am Wirbelkörper kann seitlich, dorsaloder ventral liegen. Je nachdem sprichtman von einem seitlichen,ventralen oderdorsalen Halbwirbel resp. Keilwirbel.Fehlt der mittlere Abschnitt des Wirbel-körpers,entsteht ein sogenannter Schmet-terlingswirbel. Der verbleibende Teil desWirbelkörpers kann normale Wachs-tumsfugen aufweisen, er kann aber auchmit dem benachbarten Segment fusio-niert sein. Man spricht dann von eineminkarzerierten Halb- bzw. Keilwirbel.

Segmentationsstörungen

Bei Segmentationsstörungen wird derBandscheibenzwischenraum nicht an-gelegt, und es fehlen dann auch an derentsprechenden Stelle die Wachstums-fugen. Fehlt der Bandscheibenzwischen-raum, spricht man von einem Blockwir-bel (Abb. 2). Fehlt die Segmentation nurin einem bestimmten Bereich der Wir-belkörper, so spricht man von einer un-segmentierten Spange („unsegmentedbar“). Diese Spange kann seitlich, ven-tral oder dorsal liegen. Meist liegt sie an-terolateral. Die durch den „unsegmentedbar“ verursachte Wachstumsstörungführt deshalb meist auch zu einer Rota-tion der betroffenen Wirbelkörper.

Problematisch ist die Kombinationmit Fusion der Rippen (Abb. 3). SolcheSegmentationsstörungen können, auchwenn sie weitgehend symmetrisch sind,zu schweren Beeinträchtigungen führenwegen der Verkleinerung des Thoraxvo-lumens und der thorakalen Lordose.

Kombinierte Missbildungen

Nicht selten sind Segmentations- undAnlagestörungen kombiniert vorhan-

Abb. 1a–e � Formations- bzw. Anlagestörungen. a Keilwirbel; b Halbwirbel; c dorsaler Halbwirbel;d inkarzerierter Halbwirbel; e Schmetterlingswirbel

Abb. 2a–d � Segmentationsstörungen. a Ventrale Spange; b dorsale Spange; c laterale Spange („unilateral unsegmented bar“); d Blockwirbel

Der Orthopäde 1•2002 | 37

den.Besonders häufig findet sich ein an-terolateraler „unsegmented bar“ kombi-niert mit einem gegenseitigen Halbwir-bel. Diese Kombination ist prognostischungünstig.Auch an der Halswirbelsäulefinden sich im Rahmen des sog. Klippel-Feil-Syndroms häufig kombinierte Miss-bildungen mit dorsalen Spangenbildun-gen und ventralen Anlagestörungen. DieMissbildungen können aber auch dieganze Wirbelsäule betreffen.

Kongenitale Kyphosen

Die kongenitale Kyphosen werden ein-geteilt in [23]:

● Typ I. Fehlende ventrale Anlage vonWirbelkörpern.

● Typ II.Ventrale Segmentationsstö-rung.

● Typ III. Kombinationsanomalie.

Meningomyelozelen

Die Entwicklung einer Wirbelsäulende-formität bei der Myelomeningozele wirdnormalerweise durch 3 Elemente beein-flusst:

● Asymmetrische Lähmung derMuskulatur.

● Veränderter anatomischer Verlaufder Muskulatur.

● Missbildungen und Segmentations-störungen der Wirbelsäule.

Durch die schlaffe Lähmung können derasymmetrische Muskelzug und die In-stabilität eine typische Lähmungsskolio-se verursachen. Entscheidend für dasAusmaß der Skoliose ist vor allem dasLähmungsniveau. Patienten mit tieflum-balen Myelomeningozelen entwickelnselten eine schwere Skoliose, hingegenist es bei Patienten mit thorakalem Läh-mungsniveau die Regel. Es ist zu beach-ten, dass sich das Lähmungsniveau ver-ändern kann, insbesondere wenn ein„tethered-cord-syndrome“ vorliegt.Dies kann zu einer Verschlimmerungder Parese führen. Dieses Problem mussfrühzeitig operativ angegangen werden.Eine Veränderung des Lähmungsni-veaus kann auch bei schlecht funktio-nierendem Ventil durch erhöhten Druckim Ventrikelsystem auftreten. SolcheLähmungen sind dann oft mit einer spa-stischen Komponente verbunden.

Die Veränderung der Anatomie derMuskulatur kommt durch das nach vor-ne Biegen der hinten offenen Wirbelbö-gen zustande. Dadurch wird die norma-lerweise dorsal liegende Muskulaturventralisiert und wirkt zusätzlich zurvorhandenen ventralen Muskulatur ky-phosierend statt lordosierend. Der Wir-belsäule fehlt also die normale dorsaleZuggurtung. Solche Patienten könnenschwerste Kyphosen entwickeln. Meistist die Kyphose bereits bei der Geburtvorhanden, sie ist dann während desWachstums weiter progredient. In der

Regel lässt sich die Haut über der Ky-phose beim Verschluss der Myelomenin-gozele schlecht schließen. Die narbigeHaut liegt direkt auf dem kyphotischvorstehenden Knochen, sodass die Pati-enten beim Liegen auf dem Rückenschnell wund liegen. Dies kann dann zu-sätzliche Probleme verursachen.

Die kongenitalen Missbildungenund Segmentationsstörungen sind beiallen Myelomeningozelen vorhanden.Beim offenen Bogen handelt es sich jadefinitionsgemäß bereits um eine Miss-bildung. Fast immer sind auch Segmen-tationsstörungen vorhanden. Häufigsind diese symmetrisch und nicht allzuproblematisch, außer dass das Wachs-tum in diesem Bereich gestört ist.Manchmal ist die Segmentationsstörungaber einseitig. In solchen Fällen kannsich eine sehr progrediente und äußerstrigide Skoliose entwickeln. Gelegentlichsieht man auch Halb- und Keilwirbel.Die Progredienz von Skoliosen aufgrundvon solchen Missbildungen ist meistnicht allzu groß, dennoch können auchdiese zusätzliche Probleme verursachen.

Tabelle 1 zeigt die Art der Fehlbil-dung bei 498 von uns seit 1978 beobach-teten Fällen.

Spontanverlauf

Auf Grund einer Verlaufskontrolle bei242 Patienten mit kongenitalen Skolio-sen wurde folgende durchschnittlichejährliche Progression festgestellt [18,22]:

● Keilwirbel: Zunahme 2,5° pro Jahr,● 1 Halbwirbel: Zunahme 1,9° pro Jahr,● 2 Halbwirbel: Zunahme 2–3 ° pro

Jahr (im unteren BWS-Bereich etwasmehr),

● „unilateral unsegmented bar“: biszum 10. Lebensjahr 2° pro Jahr, spä-ter 4° pro Jahr, im mittleren BWS-Bereich 5° pro Jahr, im thorakolum-balen Übergangsbereich 6° pro Jahr,

● „unilateral unsegmented bar“ undkontralateraler Halbwirbel: Zunah-me 10° pro Jahr,

● Blockwirbel: keine progredienteDeformität.

Tabelle 2 fasst die Prognose der einzel-nen Zustände zusammen. Die Abb. 4und Abb. 5 zeigen Beispiele, wie unter-schiedlich die Progression der Skolioseje nach zu Grunde liegender Missbil-dung sein kann.

Abb. 3 � Computertomogramme der unteren BWS mit 3-dimensionalerRekonstruktion von hinten bei einem4 1/2-jährigen Knaben mit Synostosender Rippen auf beiden Seiten nebst Segmentationsstörung der Wirbelsäule

Zum Thema: Krummer Rücken

| Der Orthopäde 1•200238

Diagnostik

Die Diagnose wird primär im Säuglings-alter häufig als Zufallsdiagnose anhandeiner Thorax- oder Abdomenröntgen-kontrolle gestellt. Eine äußerlich sicht-bare Deformität ist erst vorhanden,wenn eine Rotation vorliegt. Rotationensind vor allem bei einem anterolateralen„unsegmented bar“ zu erwarten. BeiVorliegen einer thorakalen oder lumba-len Anomalie ist stets auch eine Röntge-nabklärung der Halswirbelsäule durch-zuführen. In einer Untersuchung bei 1215kongenitalen Skoliosen wurde in298 Fällen (25%) auch ein Klippel-Feil-Syndrom, d. h. Missbildungen im Berei-che der Halswirbelsäule, gefunden [38].

Wichtig sind im Kleinkindesalterrelativ engmaschige Röntgenverlaufs-kontrollen. Bis die Progredienz einiger-maßen klar ist, sollte jährlich ein Rönt-genbild angefertigt werden.

Unentbehrlich ist auch eine sorgfäl-tige neurologische Untersuchung. Be-steht ein Verdacht auf eine neurologi-sche Läsion, so muss eine MRT-Untersu-chung durchgeführt werden. Diese hatmeistens in Narkose zu erfolgen. Liegteine Diastematomyelie oder ein „tethe-red cord syndrome“ vor, so ist die Beob-achtung der Neurologie von besondererWichtigkeit. Sobald eine zunehmendeneurologische Läsion festgestellt wird,muss der Patient im Hinblick auf eineallfällige operative Entfernung der spi-nalen Anomalie abgeklärt werden.

Wird eine Operationsindikation ge-stellt, so muss stets eine MRT-Untersu-chung durchgeführt werden.Im HWS-Be-reich gehört ein (MR-)Angiogramm derA. vertebralis zur präoperativen Abklä-rung. Im unteren BWS-Bereich muss derVerlauf der Adamkiewiczschen Arteriebekannt sein (präoperativ ist deshalb voreiner kombinierten ventralen und dorsa-

len Operation stets ein Angiogramm aus-zuführen). Die Verletzung dieses Gefäßeskann zu einer vaskulär bedingten Para-plegie oder Paraparese führen.Allerdingskommen vaskulär bedingte neurologischeStörungen auch außerhalb des Endstrom-gebietes der Adamkiewiczschen Arterievor. Für die räumliche Beurteilung vonkomplexen Missbildungen sind CT-Auf-nahmen mit optischer 3-dimensionalerRekonstruktion hilfreich (Abb. 3).

Therapie

Werden kongenitale Kyphosen und Sko-liosen behandlungsbedürftig, so stehtals wirksame Therapie einzig die Ope-ration zur Verfügung. Die Korsettbe-handlung hat keinerlei Einfluss auf dieProgredienz der Skoliose.Sie kann allen-falls zur Beeinflussung einer Gegen-krümmung indiziert sein. Als operativeMaßnahmen kommen in Frage:

● Einfache dorsale Fusion ohne Instru-mentierung,

● kombinierte dorsale und ventraleSpondylodese ohne Instrumentierung,

● Epiphyseodesen ventral und/oderdorsal,

● Hemivertebrektomie oder Resektionganzer Wirbelkörper von ventral unddorsal,

● „anterior release“, d. h. ventraleBandscheibenresektion, evtl. auchOsteotomie einer Spange,

● Distraktion mit Halo-Extension (einHalo ist ein am Schädel transkutanfest montierter Ring),

● ventrale Aufrichtung mit Kompres-sionsinstrumentarium,

Tabelle 1Art der Fehlbildungen (eigene Patienten seit 1978)

Art der Fehlbildung(en) Patienten [%]

Einzelne Keil-/Halbwirbel 165 33,1Mehrere Keil-/Halbwirbel 51 10,2Block-/Schmetterlingswirbel 69 13,9Unsegmentierte Spange 52 10,4Unsegmentierte Spange + gegenseitiger Halbwirbel 27 5,4Multiple Anomalien 31 6,2Kongenitale Spondylolisthesis bzw. -ptose 4 0,8Sakralagenesie 7 1,4Anomalien bei Myelomeningozele 92 18,5Total 498

Tabelle 2Risiko der Progredienz der verschiedenen Formen von Missbildungen an der Wirbelsäule. (Mod. nach [18])

Lokalisation Blockwirbel Keilwirbel Halbwirbel Halbwirbel Einseitige Einseitige Spange einfach doppelt Spange + Halbwirbel auf

Gegenseite

Progression in Grad pro Jahr

Obere BWS <1° 0°–2° 0°–2°a Bis 2,5°b Bis 4,5°b 5°–6°b

Untere BWS <1° 0°–2°a 0°–2,5°a Bis 3°b 5°–6,5°b 6°–7°b

Thorakolumbal <1° 0°–2° 0°–2°a Bis 2,5°b 6°–9°b >10°b

Lumbal <1° <1° <1° Bis 2°a >5°b >10°b

Lumbosakral <1° 0°–2°a 0°–1,5°a Bis 2°b >5°b >10°b

a Operative Therapie gelegentlich notwendig, b operative Therapie fast immer notwendig

Der Orthopäde 1•2002 | 39

● dorsale Aufrichtung mit verschiede-nen Instrumentarien (mit Kompres-sion, Distraktion, Kyphosierung,Lordosierung, Derotation),

● Osteotomie bei in starker Fehlstel-lung fusionierten Wirbelkörpern,

● Durchtrennung der fusioniertenRippen und stufenweise Dehnung

mit Distraktionsinstrumentarium(Verfahren nach Campbell),

● neurochirurgische Behandlung in-traspinaler Anomalien.

Ein Grundprinzip der Behandlung vonkongenitalen Anomalien ist, dass diechirurgische Therapie möglichst erfol-

gen sollte,bevor die Deformität inakzep-tabel wird, da Korrekturen schwierigund risikoreich sind. Insbesondere sindBehandlungen mit einem Disktrakti-onsinstrumentarium gefährlich. Auchdiskrete intraspinale Anomalien könnenzu neurologischen Läsionen führen. Al-lerdings sind Operationsindikationenlange nicht in allen Fällen zu stellen.Von498 Patienten in unserer Beobachtung(seit 1978) haben wir bisher 143 operiert(28,7%; Tabelle 1 und 3).

Bei einer Anomalie mit mäßigerProgredienz reicht oft eine dorsale oderkombiniert dorsale und ventrale Fusionohne Instrumentierung oder allenfallsunter Anwendung eines Kompressions-instrumentariums. Im lumbosakralenÜbergangsbereich, bei dorsalen Halb-wirbeln sowie bei Vorliegen eines „uni-lateral unsegmented bar“ mit kontrala-teralem Halbwirbel ist die Hemiverte-brektomie indiziert.Diese kann gleichzei-tig von ventral und dorsal oder nur vondorsal erfolgen. Die Korrektur kann an-schließend von dorsal mit einem Kom-pressionsinstrumentarium durchgeführtwerden, wobei zu beachten ist, dass dieNervenwurzeln auf der zu komprimie-renden Seite nicht eingeengt werden(Abb. 6). Bei sehr kleinen Kindern ver-wenden wir im thorakalen und lumbalenBereich zur Fixation das sog.Cervifix-In-

Abb. 4 � Röntgenbilder eines lumbalen Halbwirbels ohne Progression: Links im Alter von 1 Jahr,in der Mitte mit 7 Jahren, rechts mit 10 Jahren

Abb. 5 � Röntgenbilder eines thorakalen „unilateral unsegmented bar“ mit starker Progression:Links im Alter von 10 Monaten, in der Mitte mit 3 Jahren, rechts mit 5 Jahren

Zum Thema: Krummer Rücken

| Der Orthopäde 1•200240

strumentarium, welches ursprünglichzur Verwendung an der Halswirbelsäulevon Erwachsenen entwickelt wurde. Be-sonders gefährlich ist die Hemiverte-brektomie im Bereiche der Halswirbel-säule, da hier die A. vertebralis die Ope-ration zusätzlich erschwert (Abb. 7).

Die Aufrichtung einer Sekundär-krümmung kann unter Umständen miteinem distrahierenden Instrumentari-um erfolgen, allerdings muss mit genü-gender Sicherheit eine intraspinale An-omalie ausgeschlossen werden, und essollte auch der fehlgebildete Bereich be-reits solide fusioniert sein.

Die Behandlung der kongenitalenKyphosen und Skoliosen erfordert einegroße Erfahrung. Einzelne Halbwirbelhaben grundsätzlich eine recht gute Pro-gnose. Einzig die dorsalen Halbwirbelsind ungünstig, da sie mit zunehmenderKyphosierung zu einer neurologischenLäsion führen können. Dies ist die ein-zige Anomalie, welche auch ohne intra-spinale Missbildung zu neurologischenStörungen führen kann. Im lumbalenBereich haben sie zudem einen un-günstigen Einfluss auf das sagittaleProfil. Einzelne dorsale Halbwirbelmüssen deshalb allenfalls durch eine

Hemivertebrektomie entfernt werden(Abb. 8).

Das von Campbell entwickelte Ver-fahren [4] wird bei Segmentationsstö-rungen mit fusionierten Rippen einge-setzt. Dabei werden die zusammenge-wachsenen Rippen durchtrennt und eswird ein Distraktionsinstrumentariumeingebracht. Mit diesem Implantat wirdin mehreren Schritten der Abstand zwi-schen den Rippen vergrößert. Wie einemeiner Mitarbeiterinnen während ihrerTätigkeit bei R.M. Campbell feststellenkonnte, wird dabei auch die Länge derWirbelsäule im Bereiche der Spangen-bildung vergrößert resp. trotz Segmen-tationsstörung zum Wachstum angeregt[11].Wir haben an unserer Klinik bereitseine (limitierte) Erfahrung mit diesemausgezeichneten Verfahren.

Besonderheiten der Behand-lung bei Myelomeningozelen

Konservative Therapie

Skoliosen aufgrund der schlaffen Läh-mung können – sofern sie nicht allzuausgeprägt sind – mit Korsetten behan-delt werden. Die Korsettbehandlung istvor allem zwischen 20° und 40° Cobb-Winkel wirksam. Die Indikation sollteaber nur gestellt werden, wenn eine ein-deutige Progredienz vorhanden ist. Für

Tabelle 3Art der Operationen bei eigenen Patienten seit 1978

Art der Operation Patienten

Vertebrektomie/Hemivertebrektomie 56Ventral + dorsal 13Nur von dorsal 43

Spondylodesen ohne Instrumentierung 20

Spondylodesen mit Instrumentierung 39

Osteotomien + Spondylodese mit Instrumentierung 15

Distraktion mit Halo 7

Progressive Distraktion mit internen Implantaten 6

Total 143

Abb. 6 � a 8 Monate alter Knabe mit linksseitigem Halbwirbel auf Höhe Th12 und gegenseitigem„unilateral unsegmented bar“. b Im Alter von 3 Jahren. c Mit 5 Jahren und 9 Monaten. d 1 Jahr nach Hemivertebrektomie von ventral und dorsal und Einsetzen eines Kompressionsstabes auf derKonvexseite

Der Orthopäde 1•2002 | 41

die Behandlung der Kyphose sowie derdurch die kongenitalen Missbildungenbedingten Skoliose ist die Korsettbe-handlung unwirksam.

Operative Therapie

Auch für die Indikation zur operativenBehandlung müssen die drei Elementeder Wirbelsäulendeformitäten bei derMyelomeningozele separat betrachtetwerden.

Therapie der lähmungsbedingtenSkoliose

Für die durch die schlaffe Lähmung be-dingte Skoliose gelten bezüglich desSchweregrades und des Zeitpunktes zurOperationsindikation grundsätzlichähnliche Grundsätze wie bei anderenneurogenen Skoliosen.Problematisch istallerdings die Tatsache, dass die Skolio-sen bei Myelomeningozelen meist bistieflumbal hinabreichen, anderseits dieBeweglichkeit der Wirbelsäule für denAktionsradius im Rollstuhl dieser men-tal meist wenig beeinträchtigten Patien-ten sehr wichtig ist. Ohne lumbale Be-weglichkeit ist es nicht möglich,vom Bo-den alleine wieder in den Rollstuhl zugelangen oder Gegenstände aufzuheben.Die beweglichen Segmente der LWSwerden bei diesen Patienten auch stär-ker beansprucht als normalerweise.Schwere Skoliosen müssen wegen der

Beeinträchtigung der Lungenfunktion[5] trotz des Verlustes der Beweglichkeitoperiert werden. Wir befürworten je-doch die Frühoperation nicht, zumalheutzutage mit ventralem (oder kombi-niert ventralem und dorsalem) Vorge-hen (evtl. verbunden mit Osteotomien)auch sehr schwere Skoliosen noch lotge-recht korrigiert werden können.

Ist es wegen der tiefen Lokalisationder Skoliose nicht möglich,mindestens 3

bewegliche Segmente zu erhalten, sowarten wir mit der Operationsindikati-on, bis entweder die Sitzbalance verlo-ren geht, Schmerzen auftreten (meistdurch Aufliegen der Rippen am Becken-kamm) oder die Lungenfunktion beein-trächtigt ist.Dieser Grundsatz gilt natür-lich auch für gehfähige Patienten, da ei-ne Fusion bis zum Sakrum bei neurolo-gisch beeinträchtigten Patienten mit ho-her Wahrscheinlichkeit zum Verlust derGehfähigkeit führt.

In der Regel sollte ein kombiniertesVorgehen von ventral und von dorsalvorgesehen werden. Bei der ventralenAusräumung der Bandscheiben ist zubeachten, dass hier oft Segmentations-störungen vorliegen, welche eventuellosteotomiert werden müssen. Die dor-sale Instrumentierung ist technisch sehranspruchsvoll. Da die Wirbelbögen feh-len, ist eine segmentale Verdrahtungnicht möglich. Auch Haken könnennicht verankert werden. Oft sind auchdie Pedikel fehlgebildet, sodass auch dieVerankerung von Schrauben sehrschwierig ist. Dennoch kann mit derVerwendung von Schrauben die besteFixation erreicht werden.

Therapie der Kyphose

Die operative Behandlung der durch denveränderten Muskelzug bedingten Ky-phose ist ebenso als äußerst schwierig

Abb. 7 � a Konventionelle Tomogramme der Halswirbelsäule eines 10-jährigen Mädchens mit Klippel-Feil-Syndrom mit multiplen Missbildungen und massivem Schiefstand des Kopfes;b 2 Jahre nach Hemivertebrektomie von ventral und dorsal und Einsetzen einer ventralen Titanplatte

Abb. 8 � a SeitlichesRöntgenbild der BWS

eines 15-jährigen Knaben mit dorsalemHalbwirbel auf Höhe

Th6 und kyphotischemKnick. b 1 Jahr nach

teilweiser Vertebrek-tomie von dorsal und dorsaler Aufrichtung

mit dem UniversalSpinal System (USS)

Instrumentarium

Zum Thema: Krummer Rücken

| Der Orthopäde 1•200242

einzuschätzen. Eine Korrektur gelingtnur durch Kyphektomie mit keilförmi-ger Resektion mehrerer Wirbelkörper.Dabei muss das Rückenmark ausge-schält und von der kyphotischen Wir-belsäule abgehoben werden.Auch wennkeine neurologische Restfunktion nach-weisbar ist, so sollte man dennoch dasRückenmark nicht einfach ligieren, dader Duralsack meist noch eine gewisseDrainagefunktion aufweist und die Ge-fahr besteht, dass es zur Druckerhöhungkommt. Zusammen mit der häufig vor-handenen Arnold-Chiari-Missbildungkann es zu schweren Komplikationenkommen.

Mit der Keilresektion kann die Ky-phose aufgerichtet werden [14, 16, 21, 31,32]. Die Fixation erfolgt am besten mitSchrauben und Platten, da dorsal kaumPlatz ist für größere Implantate. EineKorrektur der Kyphose um 50% bis 60%ist durchaus möglich. Da allerdings der

Muskelzug nicht verändert werdenkann, ist ein späterer Korrekturverlustnicht ganz auszuschließen. Für denHautverschluss kann eine plastischeDeckung nötig werden, z. B. durch einenGlutaeus-medius-Lappen.

Therapie der kongenitalen Anomalien

Skoliosen und Kyphosen aufgrund derkongenitalen Missbildungen werdennach den bereits beschriebenen Grund-sätzen behandelt. Am dringendsten istdie Operationsindikation bei der einsei-tigen Spangenbildung, d. h. Segmentati-onsstörung („unilateral unsegmentedbar“) zu stellen. Eine solche Fehlbildungführt zu einer sehr stark progredientenSkoliose mit massiver Rotation. Diesmuss frühzeitig angegangen werden.Füreine Korrektur müssen die unsegmen-tierten Elemente osteotomiert werden.Es muss stets von ventral und von dorsal

zugegangen werden, wobei in der Regelnur von dorsal instrumentiert werdenmuss. Halb- und Keilwirbel sind bezüg-lich der Progredienz weniger maligne.Gelegentlich muss aber die Indikationzu einer Hemivertebrektomie gestelltwerden.

Komplikationsmöglichkeiten

Die gefürchtetste Komplikation der ope-rativen Behandlung ist die Paraplegie.Diese schwere Komplikation tritt kaumje durch direkte Verletzung des Myelonsauf. Am gefährlichsten ist die Distrak-tion [37]. Besteht eine intraspinale An-omalie (was in ca. 16% der Fälle vor-kommt; [3]), so kann ein Zug auf dasRückenmark entstehen, was zu einer Pa-rese oder Plegie führen kann. Auch beiuns sind in der Anfangszeit der operati-ven Behandlung Ende der 1960er Jahre2 vollständige Paraplegien nach Opera-tion mit dem Harrington-Distraktions-stab aufgetreten. Inzwischen über-blicken wir ca. 143 operativ behandeltekongenitale Skoliosen und Kyphosen(Erfassung seit 1978). Dabei ist es zu kei-ner weiteren irreversiblen Schädigunggekommen, jedoch zu 2 Läsionen, diesich nur teilweise erholt haben.Eine wei-tere passagere Paraparese trat auf infol-ge Kompression der AdamkiewiczschenArterie. Das intraoperative Monitoringwies auf diese Läsion hin. Nach Entfer-nung des Kompressionsstabes kam esbereits intraoperativ wieder zur Teiler-holung, nach der Operation kam es zurvollen Remission.

Besonders gefährlich sind kyphoti-sche Deformitäten. Das Rückenmarkweist am Apex der Kyphose oft eine ver-minderte Durchblutung auf. Durch dasdurch das operative Trauma bedingteÖdem kann die Gefäßversorgung diekritische Schwelle unterschreiten. Heut-zutage sollten die Eingriffe unter Über-wachung von sensiblen und motorischenevozierten Potentialen durchgeführtwerden. Bei kleinen Kindern ist dies be-sonders schwierig, da wenig Erfah-rungswerte existieren.

Gefährlich sind auch Vertebrekto-mien an der Halswirbelsäule, da hiernicht nur die Verletzung des Rücken-marks, sondern auch diejenige derA. vertebralis vermieden werden muss.

Gefäßkomplikationen sind aber injedem Abschnitt der Wirbelsäule zu be-fürchten. Bei Segmentationsstörungen

Tabelle 4Zusammenfassende Empfehlungen für die operative Behandlung von kongenitalen Skoliosen

Anomalie Therapie

Keilwirbel, Blockwirbel, In der Regel keine BehandlungSchmetterlingswirbel

Einfacher seitlicher Halbwirbel In der Regel keine Behandlung; lokale vordere und hintere mittlere, untere BWS oder LWS Spondylodese nur, wenn eindeutige Progredienz vorhanden;

bei fortgeschrittener Progredienz (Skoliosewinkel >50°) evtl.auch Hemivertebrektomie

Einfacher dorsaler oder Hemivertebrektomie von (ventral und) dorsaldorsolateraler Halbwirbel mittlere, untere BWS oder LWS

Einfacher Halbwirbel HWS, Hemivertebrektomie von ventral und dorsalobere BWS oder lumbosakral

Doppelte gegenseitige In der Regel keine BehandlungHalbwirbel, ganze Wirbelsäule

Doppelte gleichseitige Hemivertebrektomie von ventral und dorsalHalbwirbel, ganze Wirbelsäule

Einseitige Spange Osteotomie von ventral, evtl. Keilosteotomie, dorsale Instrumentierung mit evtl. Korrektur

Einseitige Spange und Hemivertebrektomie und Osteotomie von ventral, dorsale gegenseitige Halbwirbel Instrumentierung mit evtl. Korrektur. Die Korrektur erfolgt evtl.

mit dem Halo. Dieser wird nach dem „anterior release“ angelegt,es wird über mehrere Wochen distrahiert, anschließend erfolgt Fixation in korrigierter Stellung mit dorsaler Instrumentierung

Spangenbildung mit Synostose Durchtrennung der Synostosen, stufenweise Dehnung mit der Rippen Distraktionsinstrumentarium (Campbellsches Verfahren)

Intraspinale Missbildung Neurochirurgische Resektion

Der Orthopäde 1•2002 | 43

fehlt die Beweglichkeit in den entspre-chenden Segmenten. Dies führt zur Ver-klebung der epiduralen Gefäße mit demKnochen. Auch ventral können Gefäßean den Wirbelkörpern adhärent sein.Die Präparation und Resektion des Kno-chens kann äußerst schwierig sein, dasich die Gefäße nicht ablösen lassen unddie Blutungen durch die aufgerissenenGefäße kaum stillbar sind. In einzelnenFällen haben wir kreislaufbedrohendeBlutungen erlebt, einmal kam es garzum Tod durch Kreislaufkollaps.

Eine weitere Komplikation ist nachDurchführung von dorsalen Spondylo-desen bei sehr jungen Patienten das sog.Crankshaft-Phänomen [35]. Darunterversteht man die Progression der Skolio-se inkl. Rotation wegen des Weiterwach-sens der Wirbelkörper ventral. Bei jun-gen Patienten sollte deshalb nicht einealleinige dorsale Spondylodese vorge-nommen werden, sondern die Fusionmuss stets kombiniert von ventral unddorsal erfolgen, auch wenn nur ein Seg-ment spondylodesiert wird.

Bei Meningomyelozelen ist das ge-häufte Vorkommen der Latexallergie be-kannt [7, 10, 24, 25]. Deshalb sollten la-texfreie Handschuhe und Instrumenteverwendet werden. Zu beachten sindauch stets die Hautkomplikationen we-gen der narbig veränderten Haut nachVerschluss der Myelomeningozele undder fehlenden Sensibilität. BesondereBeachtung verdient auch das „tethered-cord-syndrome“. Wird eine Distrak-tionswirkung während der Operationbei vorhandenem „tethered-cord-syn-drome“ ausgeübt, so kann es zur neuro-logischen Verschlechterung kommen[17]. Auch andere intraspinale Anoma-lien wie die Syringomyelie und dieChiari-Malformation sind bei Myelome-ningozelen häufig [30].

Zusammenfassende Empfehlungenfür die operative Behandlung von kon-genitalen Skoliosen sind in Tabelle 4 zu-sammengestellt. Diese Prinzipien sindsehr stark vereinfacht. Im Einzelfall sindviele Faktoren wie Ausmaß der Ver-krümmung, Progredienz, sagittales Pro-fil, Rotation, Ausprägung der Gegen-krümmung,Kompensationsmöglichkei-ten, Lot etc. zu berücksichtigen. Die In-dikation zur richtigen Therapie und dieWahl des besten Zeitpunktes erfordertviel Erfahrung.

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Zum Thema: Krummer Rücken

| Der Orthopäde 1•200244

Zusammenfassung

Die intraspinalen Missbildungen und das

damit verbundene „tethered cord“ (Anhef-

tung des Rückenmarkes) haben gerade in

den letzten Jahren durch die verbesserte

Bildgebung mittels Kernspintomographie

(MRT) an Bedeutung gewonnen. Orthopä-

dische Deformitäten wie z. B. Klumpfüße,

Pes equinus, Skoliose, Kyphose, Lordose,

Hüftdislokation oder Beinlängendifferenzen,

die früher rein orthopädisch behandelt wur-

den, werden nun zunehmend zunächst auf

kongenitale Anomalien untersucht. Je nach

Ergebnis erfolgt zuerst ein neurochirurgi-

scher Eingriff in Form eines Untetherings

oder Myelolyse.

Ziel dieser Arbeit ist es, die intraspina-

len Missbildungen und deren Bedeutung im

Hinblick auf die Orthopädie genauer zu defi-

nieren. Ferner werden die Indikationen zur

Operation, operative Ziele, Diagnostik und

Therapie und Follow-up diskutiert. Anhand

von Beispielen werden unsere Ergebnisse

gezeigt und die Bedeutung interdisziplinärer

Zusammenarbeit herausgestellt.

Schlüsselwörter

Intraspinale Missbildung ·

Tethered Spinal Cord · Skoliose · Untethering

Intraspinale Missbildungen wurdenfrüher als rein neurochirurgisches Pro-blem angesehen. Die Diagnostik mittelsMyelographie war sehr invasiv und wur-de zudem bei Kindern nur ungern ange-wendet. Die sich entwickelnden neuro-logischen Störungen wurden als unver-meidlich hingenommen. Äußerlichsichtbare Defekte wurden aus kosmeti-schen Gründen oberflächlich verschlos-sen, was z. T. auch leider heute noch derFall ist, orthopädische Deformitätenkorrigiert und Blasenstörungen ope-riert. Jede Disziplin betrachtete nur ihreigenes Krankheitsbild. Mit verbesser-ter Bildgebung mittels Computer- undKernspintomographie haben sich nunvöllig neue Horizonte erschlossen undwurden Verbindungen zu vorher ge-trennt betrachteten Krankheitsbilderngezogen. Einzelne Steine eines Mosaiksformten sich plötzlich zu einem gesam-ten Bild.

Intraspinale Missbildungen

Definitionsgemäß handelt es sich umangeborene Missbildungen.

Hierzu gehören:

◗ Meningozele◗ Myelomeningozele (MMC)◗ Spina bifida occulta:

– Lipomyelomeningozele (LMMC)– Diastematomyelie– Anteriore Meningozele– Kongenitaler Dermalsinus– Hypertrophes (pathologisch

verdicktes) Filum terminale

◗ Anorektale und urogenitale Anoma-lien

◗ Kongenitale Zysten: neurenterisch,arachnoidal, Dermoid

◗ Syringo- und Hydromyelie

Tethered Spinal Cord (TSC)

Der Begriff des angehefteten Rücken-markes, sog. „tethered spinal cord“(TSC) wurde erstmals in den Jahren 1891verwendet. In den folgenden Jahren fandman heraus, dass das TSC zu einer me-chanischen Streckung des Rücken-marks, Distorsion und Ischämie bei täg-lichen Aktivitäten, Wachstum und Ent-wicklung führt. Je nach Dauer undSchweregrad der Schädigung sind dieentstehenden Defizite bzw. Störungenreversibel oder irreversibel. Beim TSCwerden häufig 2 Begriffe gleichgesetzt,das „Tight filum terminale“ und das Tight-filum-terminale-Syndrom. DieseBegriffe sind jedoch nur eine möglicheUrsache der Anheftung.

Das „Tight filum terminale“ kann inzwei Gruppen unterteilt werden. Die er-ste Gruppe wird nur klinisch auffälligdurch Inkontinenz, die Bildgebung zeigtkeinen pathologischen Befund. Diezweite Gruppe, auch als Tight-filum-ter-minale-Syndrom bezeichnet, beinhalteteinen tief stehenden Konus (86% unter-halb LW2), ein pathologisch verdicktes

Zum Thema: Krummer RückenOrthopäde2002 · 31:44-50 © Springer-Verlag 2002

H. Bächli1 · M.Wasner1 · F. Hefti2

1 Neurochirurgische Universitätsklinik Basel2 Kinderorthopädische Universitätsklinik, Universitätskinderspital beider Basel

Intraspinale Missbildungen –Tethered Cord Syndrom

Dr. H. BächliNeurochirurgische Universitätsklinik und

Universitätskinderspital beider Basel,

Spitalstr. 21, 4031 Basel, Schweiz

Der Orthopäde 1•2002 | 45

H. Bächli · M.Wasner · F. Hefti

Intraspinal malformations,Tethered Cord Syndrome

Abstract

The importance of intraspinal malformations

associated with “tethered cord”(attachment

of the spinal cord) has increased in recent

years, because of better imaging methods

using nuclear magnet resonance (MRI).

Orthopedic malformations such as club feet,

equinus deformity, lordosis, hip dislocation,

kyphosis, and differences of leg lengths,

which up till now have been mostly treated

by orthopedic surgeons, are usually first

examined for congenital anomalies.

According to the results of this examination,

a neurosurgical operation for untethering is

performed.The aim of our study is to define

spinal malformations more exactly and to

elucidate their importance for orthopedics.

In addition, indications for operating, opera-

tive aims, diagnosis, therapy and follow-up

are discussed. Examples of our results are

shown, and the significance for interdiscipli-

nary cooperation is emphasized.

Keywords

Intraspinal Malformation ·

Tethered Spinal Cord · Scoliosis · Untethering

Filum terminale (>2 mm; 29% Fibroli-pome) und keinen anderen Grund fürein Tethering. Bei dem TSC unterschei-det man zwischen primären und sekun-dären Ursachen (Tabelle 1).

Klinische Erscheinungen

Kutane Veränderungen

Diese können in Form einer atypischenBehaarung (Hypertrichose; Abb. 1),Hautgrübchen, Dermalsinus (Abb. 2)auftreten. Aber auch Hämangiome(Abb. 3), Naevi, Meningozelen, Lipome(Abb. 4) unterschiedlichen Ausprä-gungsgrades gehören hierzu.Ausnahmebildet der Pilonidalsinus, der nur ober-flächig vorkommt ohne intraspinalenBezug sowie präsakrale Teratome. Vorallem lumbale Hautveränderungen inder Mittellinie sollten bezüglich intra-spinaler Pathologien abgeklärt werden.

Neuroorthopädische Deformitäten

Hierzu gehören Gangstörungen, Hypo-Hyperreflexie, Paresen, sensible Defizi-te, Beinlängendifferenz, Klumpfüße, Pesequinus, Skoliose, Skoliolordose, Kypho-se, Lordose oder Hüftdislokationen, umnur einige zu nennen.

Urologische Dysfunktionen

Fehlende Blasenkontrolle, Enuresis, re-zidivierende Harnwegsinfekte, Stressin-kontinenz können verdächtig sein aufein TSC.

Skoliose und TSC

Besonders von orthopädischem Interes-se ist die Rolle des TSC in der Entste-hung der Skoliose [3]. Mc Lone [9] hatan operierten MMC-Kindern festge-

stellt, dass 60% sich nach einem Un-tethering verbesserten oder stabilisier-ten, 40% waren jedoch weiterhin pro-gredient. Pierz et al. [10] konnte aufzei-gen, je größer der Skoliosewinkel(>40°), desto geringer die Verbesse-rungschance. Die Frage inwieweit die

Orthopäde2002 · 31:44-50 © Springer-Verlag 2002

Tabelle 1Primäre und sekundäre Ursachen des Tethered Spinal Cord

Primäre Ursachen Sekundäre Ursachen

Myelomeningozele (MMC) ArachnoiditisSpinale Lipome DermoideDiastematomyelie Vernarbung bei MMC-VerschlussAnteriore Meningozele TraumaDermalsinusTight filum terminale

Abb. 1 � Atypische Behaarung bei Spina bifida occulta (Hypertrichose)

Abb. 2 � Kutane Veränderungen mit einer Kombination aus Lipom, Naevus, Dermalsinus

Zum Thema: Krummer Rücken

| Der Orthopäde 1•200246

Skolioseprogredienz im Zusammen-hang steht mit einer irreversiblen Ko-nus- bzw. Rückenmarksschädigungdurch verspätetes Untethering kannzum heutigen Zeitpunkt nicht sicher be-antwortet werden.Es ist jedoch bekannt,dass die Skolioseentwicklung bei gleich-zeitigen Segmentationsanomalien oderHemivertebrae meist unbeeinflussbarist. Nicht abzustreiten ist die Tatsache,dass vor Aufrichtung einer Skoliose ei-ne kernspintomographische Abklärungzum Ausschluss intraspinaler Anomali-en stattfinden soll [4, 14].

Diagnostik TSC

Konventionelles Röntgen

Kongenitale spinale knöcherne Defor-mitäten sind bei der konventionellenRöntgenbildgebung in der Regel gut zuerkennen. Prahinski et al. [12] stellte bei9 von 30 Patienten Anomalien im Spi-nalkanal fest und nur 3 davon waren imkonventionellen Röntgen und klinischerUntersuchung auffällig.

Ultraschall

Dient als Screeningverfahren zur Erfas-sung spinaler Missbildungen speziell beiNeugeborenen.Vorteil: wenig invasiv [1,2, 13]. Bei Bestätigung weitere Evaluationmittels MRT.

MRT

Genaue Darstellung anatomischerStrukturen mit intra- und extraduraler

Komponente sowie Lage, Höhe undAusdehnung der Läsion und Beziehungzu funktionellem Gewebe. Hat die tra-ditionelle Myelographie inkl. Myelo-CTbis auf wenige Ausnahmen vollständigabgelöst.Vorteil: wenig invasiv, geringeStrahlenbelastung. Gebräuchlich sindT1- und T2-gewichtete Aufnahmenaxial und sagittal sowie koronareSchichtung zur Beurteilung der Wirbel-säule.

SSEP

Funktionelle Prüfung des Rückenmarksdurch Analyse spinaler und kortikalersomatosensorisch evozierter Potenziale.Dient zur Bestimmung prä-, oder post-operativer Ausfälle und Verlaufskontrol-len [6].Wertigkeit intraoperativ abgelei-teter SSEP noch nicht vollständig ge-klärt.

Urodynamik

Messverfahren zur Beurteilung der Bla-sen- und Mastdarmfunktion mit Hilfevon Harnflussmessung (Uroflowme-trie), Zystomanometrie (Messung in-travesikaler und intraabdominellerDrücke während der Speicher- undEntleerungsphase), Urethradruckprofil(Sphinkterotomie), Beckenboden- undSpinkter-EMG.Die Urodynamik wird zuDiagnostik und Follow-up beim TSCeingesetzt, sodass Störungen frühzeitigidentifiziert werden können bevor eineklinische Manifestation eingetreten ist[5, 11, 15].

Operationsindikation und TSC

Asymptomatisch

Bei Säuglingen und Kindern, die völligsymptomfrei sind, wird ein operativerEingriff kontrovers diskutiert. Für einprophylaktisches Vorgehen spricht dieTatsache, dass einmal aufgetretene Defi-zite unter Umständen irreversibel seinkönnen [7, 9].Auf der anderen Seite sinddie Fallzahlen in der Literatur zu kleinund die Gruppen zu heterogen, um defi-nitiv eine Antwort geben zu können.

Symptomatisch

Die Indikation zur Operation ist, insbe-sondere bei progredienten Ausfällen,klar gegeben. Es gilt urologische und/

Abb. 3 � Typische mittellinige, lumbale Hämangiome als Zeichen der geschlossenenspinalen Malformation

Abb. 4 � Lipomyelomeningozele mit monströsem subkutanem Lipom

Abb. 5 � Rechts konvexe Skoliose imAlter von einem Jahr mit Halbwirbellinks auf Höhe BW3 und LW4, rechts

auf Höhe BW8 und LW3 sowie Spangen-bildung zwischen LW1 und LW2

Der Orthopäde 1•2002 | 47

oder neuroorthopädische Dysfunktio-nen zu verhindern,zum anderen die Sta-bilisierung und/oder Regredienz vonDefiziten herzustellen. Kontroversen be-stehen über den genauen Operations-zeitpunkt [8].

Operative Ziele

1. Verhinderung urologischer bzw. neu-roorthopädischer Dysfunktionen.

2. Stabilisierung und/oder Regredienzvon Defiziten.

Therapie des TSC

Als Untethering bezeichnet man die Lö-sung des angehefteten Rückenmarks.Im einfachsten Fall ist dies die Durch-schneidung des Filum terminale, wel-ches intraoperativ wie ein unter Zugstehendes Gummiband nach kranial zu-rückschnellt. Schwieriger hingegen istz. B. die Myelolyse bei einer Lipomyelo-meningozele (LMMC). Bei den intra-spianlen Lipomen liegen die Nerven ty-pischerweise im Lipom. Eine vollstän-dige Entfernung der Fettgeschwulst istsomit nicht möglich. Eine Größenre-duktion wird in der Regel durch denCO2-Laser erreicht unter Schonung

neuronaler Strukturen. Mit Hilfe intra-operativ abgeleiteter evozierter Poten-ziale wird versucht, möglichst schonendvorzugehen.

Bei der Diastematomyelie Typ I, beider ein knöcherner Sporn das Rücke-mark in zwei Hemicords teilt, wird eineMyelolyse durch Spornentfernung undFormung eines gemeinsamen Dural-schlauches durchgeführt.

Wichtigstes chirurgisches Prinzip:Identifizierung normaler Strukturenund Präparation vom Gesunden insPathologische.

Follow-up

Postoperativ werden in unserer Klinikinitial 3-monatige Kontrollen (3, 6 und12 Monate) durchgeführt, gefolgt von 1-jährlichen Kontrollen inkl. MRT, SSEPund Urodynamik.

Beispiele aus der klinischen Praxis

R.H., w, 5 J.

Anamnese

Im Alter von 1 Jahr Zufallsdiagnose ei-ner kongenitalen Skoliose mit 4 Halb-wirbeln (Abb. 5), welche im Alter von5 Jahren eine Progredienz aufweist(Abb. 6). Zudem fällt der Mutter auf,dass das Einbeinhüpfen rechts schlech-ter als links und neu ein nächtliches Ein-nässen aufgetreten ist.

Klinischer Befund

Thorakale rechts konvexe Skoliose, Ein-beinhüpfen rechts weniger links.

Abklärungen

Rö-LWS, MRT-Wirbelsäule (Abb. 7, 8),SSEP beidseits verlängerte Latenzenüber CZ, abnorme Potenziale bei Rei-zung des rechten Fußes.

Diagnose

Tight filum terminale.

Abb. 6 � Progredienz rechts konvexer Skolioseim Alter von 5 Jahren mit einem Cobb-Winkelvon 35°

Abb. 7 � Die sagittale MRT der Wirbelsäule (T2-gewichtet) zeigt einen grenzwertig stehenden Konus auf Höhe LW2. Keine intra-spinale Raumforderung

Abb. 8 � Axiale MRT der Wirbelsäule(T2-gewichtet) zeigt einen normales

Filum terminale

Zum Thema: Krummer Rücken

| Der Orthopäde 1•200248

Operation

Untethering mittels Filumdurchtren-nung.

Verlauf

Einnässen verschwunden,VerbesserungEinbeinhüpfen rechts. Der Effekt auf dieSkolioseentwicklung ist jedoch eherfraglich, aufgrund zusätzlicher ossärerDeformitäten.

F.B., m, 15 J.

Anamnese

Kongenitaler Klumpfuss links, welcherim Alter von 2 Wochen gegipst wurde. Imweiteren Verlauf bildete sich eine Fußne-krose, operative Revision mit 2,5 Jahren.Laufen im Alter von 3 Jahren mit Verkür-zungshinken linkes Bein. Deutliche tro-phische Störungen am linken lateralenFußrand,Analgesie Fußrücken. Im Altervon 13 Jahren traten neu zunehmendeKnieschmerzen links auf, bei radiolo-gisch nachgewiesener Kondylendyspla-sie links lateral.

Klinischer Befund

Größe 1,39 m, Verkürzungshinken links(Beinverkürzung um 4 cm), Kniekondy-

len links deutlich verbreitert, trophischeStörungen linker Fuß mit Nekrose,Anal-gesie li Fußrücken. ASR und PSR linksfehlend, kein Babinski. Reithose frei.

Abklärungen

Rö-LWS mit verbreitertem Interpediku-larabstand ab LW1, unvollständiger Bo-genschluss auf allen Höhen.MRT-Wirbel-säule (Abb. 9). SSEP normal bei Reizungdes N.tibialis rechts, links keine Potenzia-le erhältlich, Urodynamik unauffällig.

Diagnose

Tethered Cord Syndrom mit Diastema-tomyelie Typ I mit verdicktem Filum ter-minale. Neurogener Pes equinovarusadductus supinatus links.

Operation

Spanresektion LW1/2, Myelolyse, Dura-erweiterungsplastik, Filumdurchtren-nung sakral (Abb. 10).

Verlauf

Beschwerden im linken Knie deutlich re-gredient, Hypalgesie linker Fuß diskretrückläufig, ansonsten stationäre Ver-hältnisse.

Abb. 9a–c � Präoperative MRT der Wirbelsäule. a Sagittal, T1-gewichtet: Diastematomyelie Typ I mit knöchernem Sporn auf Höhe LW1/2. b Axiale MRT, T2-gewichtet: sichtbarer Sporn und Teilung des Myelons in 2 Hemicords, wobei der linke schmächtiger ist als der rechte. c Axiale MRT sakral,T2-gewichtet: pathologisch verdicktes Filum terminale

Abb. 10a,b � Postoperative MRT der Wirbelsäule. a Sagittal (T2-gewichtet) mit Spornresektionauf Höhe LW1/2 und freier Passage. Kein Tethering mehr sichtbar. b Axiale MRT (T2-gewichtet)auf Höhe LW1/2 mit gemeinsamen Duralschlauch und zwei unfixierten Hemicords

Der Orthopäde 1•2002 | 49

L.B., w, 13 J.

Anamnese

Skolioseprogredienz zwischen dem 6.und 9. Lebensjahr mit zunehmendenRückenschmerzen, welche im weiterenVerlauf unerträglich wurden.

Klinischer Befund

Größe 1,40 m, Beckenschiefstand nachrechts mit Beinverkürzung um 3 cm,Versteifung im LWS-Bereich, rechtesBein hypotrophiert und deutlich schwä-cher als links, Hypalgesie rechter ventra-ler Unterschenkel, PSR rechts fehlend,Babinski rechts positiv.

Abklärungen

Rö-LWS (Abb. 11) und MRT-Wirbelsäule(Abb. 12, 13).

Diagnose

Tethered Cord Syndrom mit Diastema-tomyelie Typ II mit pathologisch ver-dicktem Filum terminale.

Operation

Aufgrund der Skolioseprogredienz wareindeutig die Indikation zur orthopädi-schen Aufrichtung gegeben, vorgängigwar jedoch eine Durchtrennung des Fi-lum terminale notwendig, um eine zu-sätzliche Traktion des Rückenmarksdurch die Skolioseaufrichtung zu ver-hindern. Demzufolge wurde interdiszi-plinär schrittweise operiert:

1. Untethering mit DurchtrennungFilum terminale sakral.

2. Skolioseaufrichtung von ventral(4 Monate später).

3. Skolioseaufrichtung von dorsal(2 Monate später).

Verlauf

Rückenschmerzen verschwunden, keinezusätzlichen neurologische Ausfälle,Schwäche im rechten Bein regredient.

Abb. 11 � Links konvexe thorako-lumbale Skoliose, Winkel zwischenBW8 und LW4 100°. UnsegmentierteSpange zwischen BW12 und LW3

Abb. 12 � Axiale MRT (T2-gewichtet)der Wirbelsäule, DiastematomyelieTyp II mit 2 asymmetrischen Hemicords (links größer rechts) und offenem Bogenschluss

Abb. 13 � Axiale sakrale MRT (T2-gewichtet) mit pathologisch verdicktem Filumterminale und offenem Bogenschluss

| Der Orthopäde 1•200250

Fazit für die Praxis

Eine kernspintomographische Abklärunggehört heute zum goldenen Standard zurEvaluation von Anomalien im Spinalkanalspeziell bei kongenitalen Skoliosen. Kon-ventionelles Röntgen oder klinische Unter-suchung allein sind unzureichend. Beiallen Neugeborenen oder Säuglingen mitmittellinigen lumbalen Abnormitäten sollein TSC ausgeschlossen werden, wobeiprimär ein spinaler Ultraschall als Screen-ing ausreicht. Bei sekundär auftretendenFußanomalien, welche bei der Geburtnicht vorhanden waren, insbesondereSpitzfüße und/oder Hohlfüße, sollte stetsan die Möglichkeit einer intraspinalenMissbildung gedacht werden. Auch Gang-störungen und verzögerte Kontinenzent-wicklung können auf das Vorliegen einerderartigen Läsion hinweisen.

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Leitlinien-Recherche-System von ÄZQ und DIMDI

Die Ärztliche Zentralstelle Qualitätssicherung, ei-

ne gemeinsame Einrichtung der Bundesärzte-

kammer und der Kassenärztlichen Bundesvereini-

gung (ÄZQ) entwickelt in Kooperation mit dem

DIMDI ein deutschsprachiges Online-Recherche-

System für Leitlinien in der Medizin. Dieses soge-

nannte „Leitlinien-RE-SYS“ greift auf Inhalte von

Leitlinien-IN-FO (www.leitlinien.de), dem Online-

Informations- und Fortbildungsangebot der ÄZQ,

zurück und wird u. a. Ergebnisse der Clearingver-

fahren der Leitlinien-Clearingstelle der ÄZQ re-

cherchierbar machen. Es wird in Anlehnung an

das Recherche-System der US-Agency For Health-

care Research and Quality (www.guidelines.gov)

erstellt. Der Zugriff erfolgt über das grips-Such-

system, über das die Literaturdatenbanken beim

DIMDI, z.B. Medline, zugänglich sind.

Leitlinien-Re-Sys schafft die Vorausetzun-

gen für eine Berücksichtigung von guten Leitlini-

en in der ärztlichen Alltagsroutine und ermöglicht

den direkten Vergleich von Leitlinien zu ähnlichen

oder gleichen Indikationen.

Zugänge zum System sind möglich

◗ direkt über das DIMDI/kostenfreie Datenbanken/

Qualitätssicherung AQS-ÄZQ/Leitlinien-

Recherche-System

oder

◗ über http://www.leitlinien.de(im Frame Leitlinien-Re-Sys anklicken).

Quelle: Informationsvermittlungsstelle

Ärztliche Zentralstelle Qualitätssicherung, Köln

Email: [email protected]

Homepage: http://www.leitlinien.de

Fachnachricht

Der Orthopäde 1•2002 | 51

Zusammenfassung

Neurogene Wirbelsäulendeformitäten

entstehen in erster Linie durch mangelhafte

dynamische Stabilisierung gegen die

Schwerkraft. Mit geringer Häufigkeit treten

sie auf grund übermäßiger einseitiger

Muskelaktivität auf. Rumpfstabilität ist

ebenso wie die Verhinderung und Korrektur

einer Deformität das wesentliche Behand-

lungsziel.

In leichten Fällen ist die Korsettbehand-

lung die Methode der Wahl, da sich die Sta-

bilität mit Zulassen einer Restbeweglichkeit

und ausreichender Formkorrektur kombinie-

ren lässt. Sitzschalen sind für diesen Zweck

weniger geeignet, werden aber generell

besser akzeptiert. In schweren Fällen bringt

die operative Korrektur – trotz großem

Aufwand und hoher Komplikationsrate –

gute Ergebnisse, die den Aufwand lohnen.

Schlüsselwörter

Wirbelsäule · Neurogene Deformitäten ·

Skoliose · Korsett · Sitzschalen ·

Operative Korrektur · Pflegebedarf ·

Alltagstätigkeiten · Komplikationen

Der Begriff „neurogen“ bedeutet, dasseine Funktionsstörung oder Deformitätihre Ursache in einem neurologischenLeiden hat. Das Spektrum der neurolo-gischen Leiden reicht von Erkrankun-gen des Muskels selbst bis zu zentralenHirnläsionen. Entsprechend unter-schiedlich sind Symptome und Auswir-kungen auf die Funktion des Bewe-gungsapparats, die Entwicklung von De-formitäten ist multifaktoriell [1, 4]. Rei-ne Myopathien (z. B. Dychenne-Dystro-phie) führen zu einer reinen Muskel-schwäche ohne wesentliche Beeinträch-tigung der sensorischen Funktion, wäh-rend bei peripheren Neuropathien(HSMN) immer eine Kombination bei-der Störungen vorliegt. Auch sensori-sche Störungen können zu Wirbelsäu-lendeformitäten führen [8].

Bei zentralen Läsionen (Schädel-Hirn-Trauma, Zerebralparese) liegt einnoch komplexeres Bild vor.Als vorherr-schendes Symptom fällt Spastizität insAuge, aber daneben bestehen meistebenfalls Muskelschwäche und sensori-sche Störungen. Computertomographi-sche Bilder von Hirnen nach Asphyxieoder kongenitaler Infektion (Abb. 1) zei-gen eindrücklich, wie nicht nur einzelneHirnteile, sondern diffuse Zerstörungenvorliegen. In diesen Fällen wird klar,dass alle Hirnfunktionen, nicht nur dieoffensichtliche Motorik, beeinträchtigtsein müssen. Besonders bei zentralenStörungen, die schon früh während derEntwicklung des Hirns vorhanden sind,kommt zu den eigentlichen Funktions-störungen noch die Störung des Aufbausder Funktionen wie Gleichgewicht, Ste-

hen und Gehen etc. hinzu. Verschlim-mernd kann zudem eine Störung desSehsinnes wirken, da dadurch eine mög-liche Kompensation wegfällt. Damit lie-gen bei Kindern nie nur motorische Pro-bleme vor, wenn sie auch vordergründigins Auge springen. Es muss auch immerdie Beeinträchtigung von Sensorik, Ent-wicklung und der übrigen Sinnesorga-ne mitberücksichtigt werden.

Fehlt einem Patienten z. B. von Be-ginn an die Kraft und Kontrolle seinenOberkörper senkrecht zu halten, soschwankt der Kopf mit den Augen im-mer von einer Schieflage in eine andere.Der Patient wird Mühe haben zu lernen,was für seine Augen „horizontal“ bedeu-ten soll. Er wird deshalb nicht nur sei-nen Körper sensorisch nicht kontrollie-ren können, sondern er wird auch keineMöglichkeit entwickeln, diesen Mangelüber den Seh- und Lagesinn zu kompen-sieren (wie ein Tetraplegiker im Sitzen,dem ja auch die Sensorik am Rumpffehlt).

Auch die Muskelspannung darfnicht als gegeben angenommen werden.Wird Muskulatur dauernd oder häufigin einer großen Länge belastet, passtsich die Länge der Muskulatur an. Die-ses Phänomen wird beim Dehnen vonMuskulatur ja regelmäßig ausgenutzt.Hängt nun ein Patient oft schief in sei-nen Rückenmuskeln, so adaptiert sichauch hier die Muskellänge: Die Muskula-

Zum Thema: Krummer RückenOrthopäde2002 · 31:51-57 © Springer-Verlag 2002

R. Brunner · F. Gebhard · Kinderorthopädische Universitäts-Klinik Basel

Neurogene Wirbelsäulen-deformitätenTeil 1: Konservative und operative Behandlungvon Deformitäten an der Wirbelsäule

Dr. R. BrunnerKinderorthopädische Universitäts-Klinik,

Römerstraße 8, CH-4005 Basel, Schweiz

Zum Thema: Krummer Rücken

R. Brunner · F. Gebhard

Neurogenic spinal deformities: part I

Abstract

Neurogenic spinal deformities develop

primarily due to insufficient dynamic stabi-

lization against gravity. Unilateral muscle

overactivity is another but rare cause.The

aim of treatment is to provide stability as

well as to prevent deformity.

In mild cases, the treatment of choice is

a spinal brace because stabilization can be

combined with residual mobility and ade-

quate correction of shape. Seating shells are

more readily accepted but less appropriate

for this purpose. In severe cases, surgery is a

good option despite the considerable effort

involved and high rate of complications.

Keywords

Spine · Neurogenic deformity · Scoliosis ·

Spinal brace · Seating shell · Spinal surgery ·

Need for care · Daily activities ·

Complications

tur auf der Konvexseite wird überlang,jene auf der Gegenseite wird dagegenkurz. Der spontane Haltetonus wirddann den Körper nicht mehr gerade hal-ten, sondern die Schiefhaltung tolerie-ren. Natürlich kann der Patient sichnoch aufrichten, so wie man sich nor-malerweise auch reklinieren oder zurSeite neigen kann. Diese willkürlicheStellung entspricht nicht seiner Haltung,die sich aus der Position, die oft einge-nommen wird, ergibt.

Natürlich kommt die unterschiedli-che Muskelkraft, gegeben durch dasneurologische Leiden, noch hinzu: Pati-enten mit Myopathien können auch will-kürlich keine Haltekraft leisten, wäh-rend bei zentralen Störungen spastischeKräfte zusätzlich deformierend wirkenkönnen.

Die Tonusstörungen bei Patientenmit infantilen Zerebralparesen auf ein-fache Reflexmuster zu reduzieren, istnicht korrekt: Auch das gestörte Hirnlernt, die Reflexe zu modulieren. Die kli-nische Erfahrung zeigt, dass die typi-schen Reflexe zwar kurz nach einerHirnverletzung vorhanden sind, sichaber im Verlaufe der Jahre verlieren. BeiKindern scheinen diese Adaptationsvor-gänge schneller als bei Erwachsenen ab-zulaufen, sodass schon im Schulalterkein „Reflexwesen“ mehr vorliegt unddie Reflexe sich nicht mehr nachweisenlassen [1].

Zusammenfassend besteht bei neu-rogenen Wirbelsäulendeformitäten eineganze Reihe pathogener Faktoren:

● muskuläre Insuffizienz,● Muskelhypertonus,● permanente Fehlhaltung,● Veränderung der Muskelruhelänge,● mangelnde Körperkontrolle,● fehlende Gleichgewichtsreaktion,● gestörte Sensorik („Gefühl im

Raum“),● fehlende Kompensationsmechanis-

men zur Gleichgewichtskontrolle(Störung der anderen Sinne),

● falsches/fehlendes Feedback„Körperposition – Korrektur“,

● Reflexaktivität.

Bei prophylaktischen wie therapeuti-schen Maßnahmen, konservativ wieoperativ, müssen alle diese Faktoren be-rücksichtigt werden.

Konservative Behandlung

Die Behandlungsziele müssen neben ei-ner Korrektur der Deformität oder Fehl-haltung auch die funktionelle Stabilisie-rung des Rumpfes beinhalten. Da es sichbei den neurogenen Deformitäten nichtum eigentliche Wachstumsstörungen,sondern um funktionell bedingte, zu-nächst flexible und erst später steifeFehlformen handelt, muss die Behand-lung vielmehr in der Funktion und nichtals Lagerungsmaßnahme (z. B. nachts)erfolgen. Die konservative Behandlungumfasst Physiotherapie, Rumpforthesen(Korsette) und – im weiteren Sinne –Sitzschalen, wie sie am Ende dieses Arti-kels besprochen werden.

Physiotherapie

Mit der physiotherapeutischen Behand-lung soll die Wirbelsäule beweglich ge-halten werden. Zudem werden die Pati-enten angeleitet, wie sie ihren Rumpfaktiv stabilisieren sollen. Dabei wirdviel Gewicht auf eine ausgeglichene, sei-tengleiche Muskelaktivität gelegt. ImRahmen der Gesamtbehandlung dieseroft schwerbehinderten Patienten bleibtaber insgesamt nur wenig Zeit, wirklicham Problem Rumpfkontrolle und Wir-belsäule zu arbeiten. Der Alltag über-wiegt leider bei weitem, wo die Patien-ten in ihrer Fehlhaltung und dynami-schen Instabilität bleiben. Damit über-wiegen die deformierenden Faktoren.Physiotherapie alleine genügt nicht, umDeformitäten zu verhindern oder zukorrigieren.

| Der Orthopäde 1•200252

Orthopäde2002 · 31:51-57 © Springer-Verlag 2002

Abb. 1 � CT-Schnitt eines Hirns mit globalerSchädigung durch Asphyxie

Rumpforthesen

Rumpforthesen (Korsette) werden oftzur Behandlung neurogener Wirbelsäu-lendeformitäten eingesetzt. Dabei ist be-kannt,dass Korsette im besten Fall ledig-lich eine Progredienz aufhalten, eine be-stehende Deformität aber nicht mehrkorrigieren können [3, 11, 12]. Je bessersich eine Deformität noch aufrichtenlässt, umso geringer ist die Progredienzunter der Korsettbehandlung [14]. Die-se Kenntnis muss eigentlich dazu füh-ren, möglichst früh mit einer Korsettbe-handlung zu beginnen, wenn spätereversteifende Operationen umgangenwerden sollen. Oft wird die Behandlungder neurogenen Deformitäten in Analo-gie zu den viel häufiger auftretendenWachstumsstörungen vorgenommen.Für die Wirbelsäule bedeutet dies, dassSkoliosen ab 25°–30° Cobb-Winkel oderKyphosen ab ca. 60° behandelt werden.Oftmals wird zudem eine nachgewiese-ne Progredienz gefordert. Leider kommtjeweils eine Entscheidungsphase für dieEltern und Betreuer hinzu, während derdie Wirbelsäulendeformität weiter fort-schreitet. Die eigentliche Behandlungsetzt deshalb häufig bei schwereren De-formitäten – und damit eigentlich zuspät – ein.

Die Entscheidung über die Notwen-digkeit einer Korsettbehandlung auf derBasis von Röntgenbildern muss deshalbin Frage gestellt werden. Röntgenbildersind Momentanaufnahmen, die Hal-tungsprobleme schlecht repräsentieren,da leicht andere, weniger typische Stel-lungen eingenommen werden können.Da gerade neurogene Wirbelsäulende-formitäten mit Fehlhaltungen beginnenund keine primäre Wachstumsstörungzugrunde liegt, muss die Behandlungsich viel stärker nach der vorherrschen-

den Klinik richten. Wegen ihres neuro-muskulären Leidens können die Patien-ten sich nicht aufrecht halten, wasgleichzeitig verhindert,dass sie diese Fä-higkeit überhaupt erlernen. In solchenFällen werden oft Sitzschalen angepasst(s. Teil 3). Diese Sitzschalen – als eine ArtHalbkorsette – stellen einen Kompro-miss dar, den Rumpf und damit die Wir-belsäule in korrekter Stellung zu haltenund gleichzeitig die Patienten möglichstwenig einzuschränken.

Korsette bieten im Gegensatz zuSitzschalen eine bessere Kontrolle überRumpf und Wirbelsäule. Die stabilisie-rende Wirkung ist optimal. Durch diestabiliserte Rumpfposition durch Sitz-oder Rumpforthesen verbessern sich dieKopfhaltung sowie der Einsatz der Arme[10].Die Steifigkeit der Korsette schränktjedoch die motorischen Fähigkeiten derPatienten ein und verhindert, dass siemotorische Erfahrungen und Fortschrit-te machen können. Die Akzeptanz füreinschränkende Korsette ist deshalb ofterst bei erheblichen Deformitäten gege-ben, wenn eine Behandlung schonschwierig oder kaum mehr möglich ist.

Als weiterer Nachteil von Korsettenwird oft angeführt, der Patient werde„faul“, hänge sich in sein Korsett und dieMuskulatur würde atrophieren. Es ist je-doch bekannt, dass Belastung wie z. B.im Gehgips einer Muskelatrophie deut-lich entgegen wirkt [15]. Umgekehrtpasst sich die Muskulatur an ihre neueSpannung in Überlänge an [6, 13] undwird funktionell insuffizient, wenn oftoder dauernd eine Fehlhaltung einge-nommen wird.

Da Sitzschalen auf der anderen Sei-te den Patienten zwar weniger ein-schränken und mehr Beweglichkeit las-sen, andererseits aber die Kontrolle undStabilisierung des Rumpfes oft nicht

ausreicht oder nur in fixen Positionengegeben ist, sind wir in Basel dazu über-gegangen, in solchen Fällen flexible Kor-sette abzugeben (Abb. 2). Diese Korsettestabilisieren die Bewegungen in derjeni-gen Richtung,die der Patient selbst nichtgenügend kontrolliert.Das Korsett über-nimmt die fehlende dynamische musku-läre Stabilisation. Damit bleibt dem Pa-tienten die Beweglichkeit, die er selbstkontrolliert, erhalten.Die Akzeptanz sol-cher Korsette ist wesentlich höher, dennsie schränken kaum mehr ein. Wir pas-sen sie an,wenn offensichtlich wird,dassein Patient eine Haltung nicht (mehr)kontrollieren kann, unabhängig vomRöntgenbild. Es bleibt zu untersuchen,inwieweit sich mit dieser früh einsetzen-den Maßnahme langfristig schwere De-formitäten und letztendlich operativeKorrekturen vermeiden lassen.

Im Gegensatz zu skoliotischen Hal-tungen lassen sich Fehlhaltungen in derSagittalebene viel schlechter behandeln,da hier die funktionellen Maßnahmenschneller eingeschränkt sind. Auf einekonsequente Lordosierung der Lumbal-wirbelsäule verzichten wir, da sich dieLordose ohne intermittierende Kypho-sierung fixieren kann und fixierte Hy-perlordosen schmerzhaft werden kön-nen.Wenn im Sitzen dieser Abschnitt derWirbelsäule kyphosiert wird, so wirddoch im Stehen und v. a. auch im Liegenpraktisch immer eine Lordosehaltungeingenommen,da oft auch die Streckungder Hüftgelenke eingeschränkt ist.Damitwird eine Wechsellagerung erreicht unddie Deformierung in die eine oder ande-re Richtung verhindert. Schwere Hyper-kyphosen schränken aber meist derartstark funktionell ein (indem der Patientseinen Kopf nicht mehr genügend anhe-ben kann), dass in diesen Fällen Korset-te meist gut toleriert werden, auch wennsie unbeweglich als starre Rahmen ange-fertigt wurden.Problematisch bleiben le-diglich die hoch thorakalen Hyperky-phosen, die es unmöglich machen, dassder Blick geradeaus gerichtet werdenkann. Hier sind aber weder Sitzschalennoch Korsette irgend einer Art suffizien-te Behandlungsmittel.

Ergebnisse nach operativer Korrektur

Bei schweren Deformitäten von neuro-genen Wirbelsäulendeformitäten wer-den in aufrechter Haltung des Rumpfes

Der Orthopäde 1•2002 | 53

Abb. 2 � Flexibles Korsett zur Seitstabilisierung

Zum Thema: Krummer Rücken

die Kräfte im Korsett durch Verformungder Wirbelsäule auf die Ränder desKorsettes übertragen. Dies führt zuDruckstellen.Wird an diesen Stellen dasKorsett nachgebessert, d. h. geweitet, sosinken die Wirbelsäule und der Rumpfweiter ein. Neue Druckstellen entstehenund eine weitere Dekompensation ist dieFolge. Der Prozess kommt zum Still-stand, sobald der Thorax mit seinenRippen am Becken aufliegt (s. Abb. 3).Dies führt zu Schmerzen, die Sitzfähig-keit geht verloren und die Pflege wirdwesentlich erschwert. Spätestens in die-ser Situation sind die Grenzen der kon-servativen Therapie erreicht. Derartschwere Krümmungen führen auch zueiner Beeinträchtigung der pulmonalenwie kardialen Funktion. Das gilt in glei-chem Maße für die neurogenen Wirbel-säulendeformitäten in der Sagittalebe-ne. Zusätzlich können Patienten mit Ky-phosen den Kopf nicht mehr aufrechthalten und nicht mehr mit ihrem Um-feld kommunizieren. Die Nahrungsauf-nahme wird erschwert.

Grundsätzlich wird zwischen geh-fähigen und nichtgehfähigen Patientenunterschieden, wenn die Indikation zuroperativen Korrektur gestellt und ihrAusmaß festgelegt wird. Beim gehfähi-gen Patienten werden folgende Ziele an-gestrebt:

● Korrektur der Verkrümmung,● Verhinderung der Progredienz,● Verhinderung der Dekompensation.

Für den nichtgehfähigen Patienten gehtes um folgende Ziele:

● Erhaltung der Sitzfähigkeit,● Verbesserung der Dekompensation,● Verbeserung der Pflegefähigkeit,● Vermeidung von Schmerzen,● Stabilisation der Wirbelsäule,● Korsettfreiheit.

Da Skoliosen in erster Linie bei Patien-ten mit schweren neurologischen Leidenvorkommen [1, 9], werden in Studienhauptsächlich nicht gehfähige Patientenerfasst. Ziel dieser Untersuchung war esherauszufinden, inwieweit der Patientsowie das pflegerische und das sozialeUmfeld von einem operativen Eingriffprofitieren.

Material und Methode

Patienten

Von 1992–1998 wurden am Universitäts-kinderspital beider Basel 66 Patientenwegen neurogener Skoliosen operiert; 42Fragebögen erhielten wir zur Auswertungzurück (Rücklaufquoe 63,6%): 33 Patien-ten litten an einer infantilen Zerebralpa-rese (Abb. 3).Weiterhin wurden 3 Patien-ten mit Myelomeningocele (Spina bifida,MMC) untersucht, 2 mit einer Duschen-ne-Muskeldystrophie, weitere 2 mit ei-nem Rett-Syndrom, 1 Patientin mit einerPoliomyelitis und 1 Patient mit einer spi-nalen Muskelatrophie Typ II (Tabelle 1).Das Durchnittsalter lag zum Zeitpunktdes Eingriffs bei 16,35 (11–24) Jahren. BeiPatienten mit infantiler Zerebralparesebetrug der Cobb-Winkel der Haupt-krümmung präoperativ durchschnittlich89,76° (42°–140°), postoperativ lag er bei56,88° (im Durchschnitt 30°–98°).

Die Krümmungen waren 4-malthorakal, 20-mal thorakolumbal und 16-mal lumbal, 28-mal rechts konvex und12-mal links konvex; 2-mal bestand zu-sätzlich eine kyphotische Deformität;27-mal erfolgte lediglich eine dorsale, 14-mal eine zweizeitige ventrodorsale undeinmal eine ventrale Korrektur. 30-malwurde die Wirbelsäule mit dem Spine-fix-Instrumentarium mit Luque-Dräh-ten korrigiert; 8-mal kamen das Spine-fix-Instrumentationen allein und 3-maldie Galveston-Technik zur Anwendung.Bei 14 Patienten fand ein zweizeitigesVorgehen statt. 6 Patienten erhielten vorder definitiven dorsalen Spondylodese

ein ventrales Release; 5 Patienten wur-den in erster Sitzung mit dem Zielke-In-strumentarium von ventral aufgerichtetund 5 Patienten erhielten eine ventraleSpondylodese ohne ventrale Instrumen-tation. In 1 Fall wurde lediglich ventralkorrigiert und die Dwyer-Instrumenta-tionstechnik angewandt (Abb. 4, 5).

Fragebogen

Die „funktionelle Unabhängigkeitsska-la“ FIM (functional independence me-asures) ist eine der meist benutzten In-strumente, um das Ausmaß einer Behin-derung und die daraus resultierende Ab-hängigkeit quantitativ und qualitativfestzustellen. Die FIM-Skala entstand1986 nach mehreren Forschungsarbei-ten, die vom Amerikanischen Kongressder Rehabilitationsmedizin und derAmerikanischen Akademie der Physika-lischen Medizin und Rehabilitation inAuftrag gegeben wurde. Diese Skalakann das Ausmaß einer Behinderungsowie Rehabilitationsziele erfassen. Inihrer Originalform besteht sie aus18 Punkten mit einer 7-stufigen Skala.Zum Ausfüllen werden ca. 20–30 minbenötigt. Später hinzugekommen ist dieFAM-Skala (functional assessment me-asures), welche die sozialen Interaktio-nen bewertet. Wir haben anhand derFIM- und FAM-Skala einen Fragebogenmit 15 Punkten erarbeitet:

1. Musste nach der ersten Operationnochmals operiert werden?

2. Sind Schmerzen vor der Operationvorhanden gewesen und diese nachder Wirbelsäulenopertion bessergeworden?

3. Wie viele Physiotherapiekonsulta-tionen bestanden vor und nach derOperation?

| Der Orthopäde 1•200254

Abb. 3 � Patient mit Zerebralparese, Thoraxliegt auf dem Becken auf

Tabelle 1Operiertes Patientengut am Universitäts-Kinderspital (n=66)

Operiertes Patientengut n

CP und Skoliose 33MMC 3Duchenne 2Rett-Syndrom 2Polio 1Spinale Muskelatrophie II 1

4. Hat sich die Operation auf denSchlafrhythmus ausgewirkt?

5. Wie hat sich die Mobilität verän-dert? Im Einzelnen; freies Gehen,Mobilität innerhalb der Wohnung,Transfer und keine Fortbewegung.Hier sollten die Hilfsmittel angebenwerden – prä- und postoperativ.

6. Wie haben sich folgende Funktio-nen postoperativ verändert: Trep-pensteigen, Stehen, Sitzen, Liegen,Waschen, Essen, Toilettengang sowiedie allgemeine Beweglichkeit?

7. Hat sich die Pflege vereinfacht?8. Wie viele Pflegepersonen wurden prä-

und werden postoperativ benötig?9. Kann der Patient nach der Opera-

tion aktiver bei seiner Versorgungmithelfen?

10.Welche Funktionen haben am mei-sten von der Operation profitiert?

11. Welche Funktionen haben durch dieOperation am meisten gelitten?

12. Ist das subjektive, allgemeine Befin-den durch die Operation verbessertworden?

13. Hat sich die Häufigkeit von Korsett-anpassungen seit der Operation ver-ändert?

14.Konnte eine Reduktion von Lungen-entzündungen erreicht werden?

15. Würden sich die Patienten, Elternoder Pflegekräfte in gleicher Situa-tion nochmals für die Operationentscheiden?

Aus den Akten der Patienten wurdeneventuelle Komplikationen und Reope-rationen entnommen und mit den An-gaben der Patienten aus den Fragebögenverglichen.

Resultate

Eine Revisionsoperation erfolgte in13 Fällen; 4 Eingriffe ergaben sich auf-

grund von Stabbruch und Dekompesa-tion; 3 Revisionen erfolgten durch einDruckulkus aufgrund eines prominen-ten Stabendes proximal. Eine ventraleSpondylodese musste wegen progre-dienter Krümmung kranial der Spon-dylodese erfolgen. Insgesamt erfolgten 2Infekte mit Metallentfernungen. Eineweitere Instrumentation und ein proxi-maler Hakenausriss mussten mit einerzweiseitigen Revisionsoperation thera-piert werden.

Reduziert man die Rate der Kompli-kationen auf jene in unserem Fragebo-gen und durch unsere Akten bestätigteRevisionsoperationen, kann eine allge-meine Reoperationsrate von 30% (13 von42) angegeben werden.

Nach unserem Aktenstudiumdecken sich die Angaben größtenteils.Eine der Revisionsoperationen erfolgteerst nach Eintreffen der Fragebögen imFebruar 2001. Ein oberflächiger Frühin-fekt konnte mit einer Antibiotikathera-pie erfolgreich therapiert werden.Damitliegt die allgemeine Komplikationsratebei 35% (15 von 42).

Auswertung des Fragebogens

Die Tabelle 2 gibt einen Überblick derResultate des Fragebogens in Bezug aufdie prä- wie postoperativen Schmerz-angaben, die Veränderung der Physio-therpiekonsultationen, des Schlaf-

Der Orthopäde 1•2002 | 55

Abb. 4 � Lumbal linkskonvexeSkoliose mit 67° nach Cobb beieinem Patienten mit Zerebralparese

Abb. 5 � Postoperatives Bild,Zielke- und Spinefix-Instrumen-

tarium kombiniert mit dem Luque-Verfahren

Zum Thema: Krummer Rücken

rhythmus, der Mobilität, der Pflege, desallgemeinen Befindens nach der Ope-ration, des Auftretens von Pneumonienund der Veränderung in der Korsettbe-dürftigkeit.

Keine bis fast keine Änderungenzeigten sich am Mobilitätszustand derPatienten; 52% (22 von 42) wurden auf-grund der Operation korsettfrei odermussten weniger Anpassungen vorneh-men lassen.

Tabelle 3 zeigt im Einzelnen die Ver-änderung für Treppensteigen, Stehen,Sitzen, Liegen, Waschen, Hygiene unddie allgemeine Beweglichkeit. Dabei er-gab sich beim Sitzen eine Veränderung,die mit „besser“ beschrieben und von36% der Patienten sogar „deutlich bes-ser“ beschrieben wurde. Das Liegenwurde von 42% (18 von 42) der Patien-ten mit „besser“ (Kategorie 1–3) einge-stuft.

Anzahl der Pflegepersonen prae- und postoperativ

In einem einzigen Fall verringerte sichdie Anzahl der Pflegekräfte. Durch-schnittlich werden 1–2 Pflegekräfte be-nötigt.

Funktionen,die am meisten profitiert haben

Hier waren seitens der PatientenMehrfachnennungen möglich: 15-malkonnten die Patienten besser sitzen,5-mal erleichterte sich die Pflege,5 Patienten gaben „besser essen“ an,4-mal profitierte die Atmung des Pa-tienten, 2-mal konnten die Patien-ten besser stehen und 4-mal erfolg-ten keine Angaben; 7 Patienten ga-ben keine Verbesserung von Funktio-nen an.

Funktionen,die am meisten gelitten haben

22-mal trat postoperativ keine Ein-schränkung der Funktionen auf; 8-malwurde die Aufrichtung und insbesonde-re die Versteifung als schlechtere Beweg-lichkeit angesehen. Die Nahrungsauf-nahme (Essen und Trinken) verschlech-terte sich einmal nach dem Eingriff.10 Patienten machten hierzu keine An-gaben.

In gleicher Situation nochmals für die Operation entschieden

88% (37 von 42) aller operierten und be-fragten Patienten würden sich untergleichen Umständen erneut für dieDurchführung der Operation entschei-den; 4 der Patienten bzw. der Betreuerwürden sich für den durchgeführtenEingriff nicht noch einmal entscheiden;2 Patienten machten hierzu keine An-gabe.

Fazit für die Praxis

Durch eine operative Skolioseaufrichtung(Abb. 4, 5) können in Bezug auf den Auf-wand von Pflege und Physiotherapie keinenennenswerten Veränderungen erreichtwerden. Die Anzahl der Pflegekräfte undorthopädischen Rehabilitationsmittelbleibt nach einem Wirbelsäuleneingriffgleich. Eine Verbesserung der Mobilität derPatienten kann nicht erwartet werden.Auch Cassidy et al. [2] fanden objektiv imVergleich zwischen operierten und nicht-operierten Patienten keine Unterschiede.Die präoperativ angestrebten Ziele wieKorsettfreiheit, balanciertes Sitzen und

| Der Orthopäde 1•200256

Tabelle 2Resultate des Fragebogens

Schmerzen Ja Nein Keine Angabe

Präoperativ 19 21 2Postoperativ 17 10 15

Keine Änderung Verbesserung Verschlechterung Keine Angabe

Physiotherapie 32 9 1Schlafrhythmus 27 11 2 2Mobilität 40 1 1Pflege 23 14 5Mithilfe des Patienten 34 5 3Allgemeines Befinden 7 30 4 1Pneumonien 26 5 2 9

Keine Änderung Kein Korsett Weniger Anpassungen Keine Angabe

Korsettversorgung 9 18 4 11

Tabelle 3Veränderungen des Mobilitätszustands

Mobilitätszustand Treppen- Stehen Sitzen Liegen Waschen Essen Toilette Allgemeine steigen Beweglichkeit

1 deutlich besser 1 1 14 6 3 5 2 22 besser 1 8 8 6 2 4 43 etwas besser 4 4 2 2 2 54 keine Veränderung 28 23 10 20 26 25 27 115 etwas schlechter 2 2 1 1 116 deutlich schlechter 1 1 1 1 1 3 40 keine Angabe 11 9 3 3 7 5 8 5

Stehen sowie eine gewisse Verbesserungder pulmonalen Funktion werden durchdiese Arbeit bestätigt.Bei 61% (26 von 42) der ausgewertetenBögen konnte eine Verbesserung des Sit-zens der Patienten und bei 38% (16 von42) eine Verbesserung des Liegens nachder Operation festgestellt werden; 43%(18 von 42) der antwortenden Personenerreichten Korsettfreiheit, wodurch sichdie Pflege vereinfachte. Ebenso führteSchmerzfreiheit zu einer pflegerischen Er-leichterung. Nur bei 4 der Personen zeigtesich eine angebliche Verschlechterung derPflege. Der Körper sei „steif“,„unbewegli-cher“ und „nicht mehr so biegsam“. Zweidieser Patienten profitierten jedoch durchein besseres Sitzen und die beiden weite-ren durch ein besseres Sitzen und Stehen.Für 11 von 42 der Patienten konnte eineVerbesserung bis hin zu einem Ausbleibenvon Pneumonien gesehen werden. In>88% (37 von 42) der Fälle hätten sich diePatienten bzw. Eltern oder das Pflegeper-sonal in gleicher Situation nochmals fürdie Operation entschieden.Diese Ergebnisse sprechen – trotz einerKomplikationsrate von 35% – zumindestin schweren Fällen für eine operative Sko-lioseaufrichtung. Der hohen Komplikati-onsrate liegen die schwere neurologischeGrundkrankheit, das Ausmaß der Wirbel-säulendeformität sowie internistische Pro-bleme zu Grunde [7], weshalb Raten bis62% beschrieben werden [5].

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Der Orthopäde 1•2002 | 57

Springer-Verlagsdatenbank bei DIMDI

DIMDI bietet in Kooperation mit der Deutschen

Zentralbibliothek für Medizin (ZBMed) in Köln die

englischsprachige Springer-Verlagsdatenbank so-

wie die zugehörigen Volltexte im Portable Docu-

ment Format (PDF) an. Die Datenbank wächst

jährlich um ca. 20.000 Dokumente.

Über grips-WebSearch sind damit elektroni-

sche Volltexte aus ca. 200 internationalen medizi-

nischen Fachzeitschriften des Springer-Verlages –

beginnend 1997 – zugänglich. Die Datenbank ist

auch im freien Angebot verfügbar (bibliographi-

sche Angaben, Stichworte, englische und/oder z.T.

originalsprachige Kurzzusammenfassungen). Der

Zugriff auf die Volltexte steht nur im kostenpflich-

tigen Angebot zu Verfügung.

Die Springer-Volltexte werden bei der Re-

cherche zusätzlich mit Publikationshinweisen aus

anderen Literaturdatenbanken verknüpft.Weitere

Information: http://www.dimdi.de

Quelle: Pressemitteilung DIMDI, Köln

Fachnachricht

Zum Thema: Krummer Rücken

| Der Orthopäde 1•200258

Zusammenfassung

Der dynamische Vorgang des Sitzens ist bei

Patienten mit neurogenen Störungen der

Sitzfunktion und Wirbelsäulendeformitäten

dadurch gestört, dass eine unbewusste kon-

tinuierliche Adaptierung der Sitzposition an

exogene und endogene Einflüsse nicht aus-

reichend möglich ist.Sitzversorgungssysteme

können in diesem Fall zu einer wesentlichen

Verbesserung der Lebensqualität beitragen.

Voraussetzung für eine menschlich-

medizinisch qualitativ hochwertige und

auch kostengünstige Versorgung sind Richt-

linien für die Planung und Anpassung von

Sitzbehelfen, die pathomorphologische

Mechanismen ebenso berücksichtigen wie

die Gesamtpersönlichkeit des Kindes oder

Erwachsenen. Um funktionelle Probleme

oder Schmerzen aufgrund einer unzurei-

chenden Sitzhilfe zu vermeiden, muss der

richtigen Indikation, dem Zeitpunkt der

Versorgung und der optimalen Kombination

orthopädietechnischer Möglichkeiten

ausreichende Bedeutung zugemessen

werden.

Die Planung der Sitzversorgung ist

Teamarbeit. Nach der Definition des indivi-

duellen Therapiezieles, das dem Funktions-

defizit, der Alltagsaktivität und dem psycho-

sozialen Umfeld des Patienten entspricht,

erfolgt die Anpassung der Behelfe im

Rahmen eines klaren Behandlungskonzeptes.

Die Untersuchung des senso- und

statomotorischen Systems ermöglicht eine

Klassifikation der Sitzfähigkeit des Patienten:

die Unterscheidung von je 3 Gruppen aktiver

und passiver Sitzfähigkeit mit dem Kriterium

der Fähigkeit zur aktiven Positionierung des

Beckens erleichtert die Indikation einzelner

Versorgungsmaßnahmen.

Zahlreiche Sitzversorgungssysteme er-möglichen heute eine signifikante Ver-besserung der Lebensqualität sowohlder betroffenen als auch der betreuen-den Personen.

Trotzdem führt eine Fehlplanung inHinblick auf Indikationsstellung, Zeit-punkt und Kombination der orthopä-dietechnischen Möglichkeiten häufig zuunnötigen funktionellen Problemenoder Schmerzen im Alltag der Patienten.Oft entsteht erst dadurch eine „Behinde-rung“ des Betroffenen (Abb. 1).

Da für jeden Betroffenen je nachArt und Schweregrad des vorhandenenFunktionsdefizits individuell unterschied-liche Therapieziele definiert werdenmüssen, können uns Standardrezeptefür eine „gute Sitzversorgung“ im indivi-duellen Fall kaum behilflich sein. KlareRichtlinien für die Planung und Anpas-sung von Sitzbehelfen, die pathomor-phologische Mechanismen ebenso be-rücksichtigen wie die Gesamtpersön-lichkeit des Kindes oder Erwachsenen,sind jedoch Voraussetzung für einemenschlich-medizinisch qualitativ hoch-wertige und damit längerfristig auchkostengünstigere Versorgung.

Physiologie und Pathologiedes Sitzens

Sitzen ist ein dynamischer Vorgang. Esist Ausdruck einer während der Homi-nidenevolution gemeinsam mit demaufrechten Stehen und Gehen entwickel-ten Höchstleistung des neuromuskulo-skelettären Bewegungssystems des Men-schen. Die Ausbildung des Pyramiden-bahnsystems und die überproportiona-le Entwicklung des Neokortex währendder Phylogenese stellen eine wesentlicheVoraussetzung für die propriozeptiveSteuerung der aufrechten Haltung desRumpfes dar. Die durch den aufrechtenGang erfolgte Beckenkippung und Ver-stärkung der Hüftstrecker führten zurstarken Ausprägung der Gesäßmuskula-tur und Gesäßform des Menschen. Da-mit entwickelte sich die biologische Vor-aussetzung für die kulturelle Evolutiondes menschlichen Sitzens.

Für Menschen ohne Störung ihresneuromuskuloskelettären Bewegungs-systems stellt die kontinuierliche Adap-tierung der Sitzposition an exogene undendogene Einflüsse kein Problem dar, sieerfolgt unbewusst.

Patienten mit Störungen der Rumpf-Becken-Kontrolle bei pathologischerStatomotorik sind nicht immer in derLage eine aktive Sitzhaltung über einen,

Zum Thema: Krummer RückenOrthopäde2002 · 31:58-64 © Springer-Verlag 2002

W. StroblForschungsinstitut für Bewegungsentwicklung,

Zentrum für Neuroorthopädie im Orthopädischen Spital Wien-Speising

Neurogene Wirbelsäulen-deformitätenTeil 2: Sitzen und Sitzhilfen – Prinzipien der Anpassung

Dr.Walter Michael StroblForschungsinstitut für Bewegungsentwicklung,

Zentrum für Neuroorthopädie im

Orthopädischen Spital Wien-Speising,

Breitenfelder Gasse 18–20,

1080 Wien/Österreich

Schlüsselwörter

Neurogene Wirbelsäulendeformität ·

Sitzfähigkeit · Sitzhilfen · Rollstuhl · Sitzschale

Der Orthopäde 1•2002 | 59

W. Strobl

Sitting and seating devices –Principles of indication

Abstract

Sitting is a dynamic process regulated by

motor reactions due to endogenic and exo-

genic influences. Patients with neuromuscu-

lar disorders may not continuously adapt

their sitting posture but seating devices may

improve their quality of life.

Prerequisites for the indication of high

quality and cost effective seating devices are

guidelines for planning and fitting which

consider both pathomorphologic mechanisms

and the patient’s personality. In order to

avoid functional problems and pain caused

by an insufficient seating device it is necessary

to pay attention to the exact indication, time,

and combination of technical options.

Planning within a seating clinic needs

teamwork. First the goal of treatment is de-

fined; it depends on the functional deficit, on

the daily living activities of the patient, and

on the social environmental factors. Second

fitting of the devices follows defined treat-

ment guidelines.

By examination of the sensoric and

statomotoric system it is possible to classify

the patient’s sitting or seating ability for

simplifying indication: three groups of active

sitters who are able to change position of

trunk and pelvis actively are differentiated

from three groups of passive sitters who

have to be seated.

Keywords

Neurogenic spine deformities · Sitting ·

Seating · Seating devices · Wheel chair

z. B. für die ungestörte Handfunktion,ausreichenden Zeitraum einzunehmen.Eine kontinuierliche Anpassung ihrerSitzposition ist in diesem Fall nur durcheine Unterstützung ihrer Muskelfunk-tionen möglich.

Bei einer schweren neuromuskulä-ren Störung der Rumpf-Becken-Kon-trolle ist eine aktive Anpassung oder Än-derung der Sitzposition nicht erreich-bar, da eine ausreichende selektive Mus-kelsteuerung fehlt. So fehlt bei Patientenmit Tetraparese, oder besser: Total BodyInvolvement (TBI),definitionsgemäß ei-ne ausreichende aktive Steuerung desBeckens, der Rumpfmuskulatur undbei schwereren Formen auch der Kopf-kontrolle.

Die Anpassung von Sitzhilfen

Planung

Die Planung der Sitzversorgung istTeamarbeit. Eine Reihe von Berufsgrup-pen sind als Spezialisten in der Behin-dertenbetreuung tätig und da eine Viel-zahl von Therapieansätzen verwendetwird, ist ein klares Behandlungskonzept,das alle Teammitglieder vertreten kön-nen, wünschenswert.

Zur Neuversorgung ist die Anwesen-heit folgender Teammitglieder günstig:

◗ Patient mit betreuender Person,◗ verordnender Arzt/Ärztin,◗ Orthopädietechniker,◗ Rollstuhltechniker,◗ Ergotherapeutin/Physiotherapeutin,◗ evtl. Sozialarbeiterin/Lehrerin/

Kindergärtnerin.

Dokumentationssystem

Ein von allen gemeinsam verwendetesDokumentationssystem für Sitzversor-gungen kann entscheidend zu einemsolchen Konzept beitragen. Diagnose,Funktionsstatus, Therapieziele, Unter-suchungsergebnisse, Kriterien der Sitz-fähigkeit und eine detaillierte Aufli-stung der Adaptierungsmaßnahmenwerden in ein Sitzversorgungsblatteingetragen, das allen Teammitglie-dern in Kopie zur Verfügung steht undauch eine wertvolle Entscheidungshilfefür Kostenträger darstellen kann(Abb. 2).

Therapieziel

Zunächst muss das individuelle Thera-pieziel der neuen Sitzhilfe definiert wer-den. Es ist abhängig vom Schweregradder Funktionsdefizite; im Vordergrundsteht das Erreichen einer akzeptablenLebensqualität:

◗ Schmerzfreiheit und Verbesserungder Vitalfunktionen,

◗ eine Erleichterung der Nahrungs-aufnahme,

◗ einen optimalen Zugriff auf dieUmwelt durch Verbesserung derWahrnehmungs- und Kommuni-kationsmöglichkeiten und der Hand-funktion,

◗ Selbständigkeit im Alltag durch Ver-minderung der Betreuer- und Pflege-abhängigkeit und Vergrößerung desUmweltradius und

Orthopäde2002 · 31:58-64 © Springer-Verlag 2002

Abb. 1 � Patient mitDuchenne-Muskeldystro-phie und Druckläsion: miteiner inadäquaten ortho-pädischen und sitztechni-schen Versorgung ist eineakzeptable Lebensqualitätfür Patienten mit neuro-muskulären Erkrankungennicht erreichbar

Abb. 2 � Dokumentationssystem für Sitzversorgung (Vorderseite)

Zum Thema: Krummer Rücken

| Der Orthopäde 1•200260

◗ Mobilität im Alltag durch Verbesse-rung der Aufrichte- und Transfer-möglichkeiten.

Da zum Erreichen des im Team definier-ten Zieles in erster Linie die Restaktivi-täten des Patienten, z. B. eine spastischaktive Muskelgruppe für eine günstigeKörperpositionierung, ausgenützt wer-den sollen,müssen zunächst im Rahmeneiner ausführlichen neuroorthopädi-schen Untersuchung seine vorhandenenFähigkeiten und Restfunktionen festge-stellt werden. Dadurch ist es möglich,den Aufwand für Versorgungsmaßnah-men soweit wie möglich zu minimierenund eine Überversorgung zu vermeiden.

Die neuroorthopädischeUntersuchung

Diese besteht zunächst in einer „Etagen-diagnostik“. Die Einordnung der primä-ren Störung auf den Ebenen

1) ossär,2) arthrogen,3) muskulär,4) peripher neurogen,5) spinal,6) pyramidal,7) zerebellär-koordinativ,8) assoziativ kortikal und9) subkortikal-psychogen

erlaubt die bessere Beurteilung vonKompensationen und sekundären Stö-rungen sowie Hinweise auf die exakteDiagnose und Prognose der zugrunde-liegenden Erkrankung.

Der Funktionsstatus des Patientenwird durch die neuroorthopädischeAnamnese und Untersuchung erhoben.Ziele der Untersuchung sind die Bestim-mung

◗ der Restmuskelfunktionen mit Kraftund selektiver Steuerung,

◗ der Quantität und Qualität desMuskeltonus,

◗ der pathologischen Reflexmuster,◗ des Grades der Muskelkontrakturen

und Deformitäten der großenGelenke,

◗ von ossären Achsenfehlern undFußdeformitäten,

◗ von Körpergleichgewicht undHaltung.

Wesentliche Bereiche sind weiterhinKommunikation,Verhaltensauffälligkei-ten und Fehlstereotypien, Schweregradetwaiger zerebraler Anfälle, sensorischeSysteme wie Seh- und Hörstörungen,Propriozeption, Sensibilität und Haut-druckstellen, vegetative Funktionen undInkontinenz.

Die Erhebung der psychosozialenSituation des Patienten, seine Motiva-tion, Ziele, Wünsche und Ängste, seine

Familie, Freunde, Schule, Therapie- undArbeitsplatz ermöglicht die Einschät-zung der Erwartungshaltung.

Bildgebende Verfahren werden zurBeurteilung der Wirbelsäule und derHüften eingesetzt. Im Bedarfsfall wirddie Analyse komplexer Bewegungsstö-rungen mittels Videoaufzeichnung, dieBestimmung der Druckverteilung an ge-fährdeten Körperstellen mittels Druck-messmatten durchgeführt.

Der Orthopäde 1•2002 | 61

Klassifikation der Sitzfähigkeit

Nach der Untersuchung ist eine Klassifi-kation der Sitzfähigkeit des Patientenmöglich. Die Unterscheidung in aktiveund passive Sitzfähigkeit mit dem Krite-rium der Fähigkeit zur aktiven Positio-nierung des Beckens erscheint uns alsein wesentliches Kriterium für die rich-tige Indikation von Sitzhilfen. Diese, diezugrundeliegende Pathophysiologie be-

rücksichtigende, systematische Klassifi-kation soll die Indikationsstellung er-leichtern und häufige Fehler von Sitzver-sorgungen vermeiden helfen.

Aktive Sitzfähigkeit

Aktive Sitzfähigkeit heißt, dass die Sitz-position durch eine funktionierendewillkürliche Rumpf-Becken-Motorikaktiv oder ersatzweise durch aktives

Heben des Rumpfes mit ausreichenderMuskelkraft der oberen Extremitätenverändert werden kann (Abb. 3).

Freies Sitzen

Eine aktive Änderung der Sitzposition istden äußeren Bedingungen adäquat,zwischen aufmerksamer vorderer („rea-diness position“), hinterer Sitzhaltung(„resting posture“) und Ruhehaltungmit gekipptem Becken („weightshiftposition“) wird aktiv gewechselt. EineFehlhaltung ist auch bei längerem Sitzennoch aktiv gut korrigierbar. Im Rahmenvon Sitzversorgungsmaßnahmen kanndie Versorgung mit einem Standardses-sel oder Standardrollstuhl ohne spezifi-sche Adaptierungen ausreichend sein.Sehr weiche textile Sitz- und Rückenflä-chen sollen in Hinblick auf die Provoka-tion asymmetrischer Sitzhaltungen (Tu-ber ossis ischii gewohnheitsmäßig aufunterschiedlicher Höhe) überprüft undgegebenenfalls durch eine feste, gepol-sterte Sitz-/Rückenfläche ersetzt wer-den. Eine dorsale Beckenkammstützewird für längeres Sitzen empfohlen.

Fehlhaltung des Rumpfes

Die Fehlhaltung ist aktiv selbständigkorrigierbar, es besteht eine gute neu-romuskuläre Koordination bei leichtermuskulärer Insuffizienz, Überlastungoder beginnender progredienter Mus-kelerkrankung. Längeres Sitzen führtüber eine ausgeprägte Fehlhaltung zueiner Beeinträchtigung der sensori-schen und/oder oberen Extremitäten-funktionen. Eine Adaptierung der Sitz-fläche ist erforderlich, um eine aktiveorthograde Einstellung des Beckens zuerleichtern. Günstig ist die zusätzlicheAnbringung einer dorsalen Becken-kammstütze. Einer stärkeren Asymme-trie kann mit einer anatomisch geform-ten Oberschenkelauflage und Anfor-mung des Tuber ossis ischii vorgebeugtwerden. Für kurze therapeutische Effek-te bewirkt ein Sitzkeil mit positivemSitzwinkel (Oberschenkel nach ventralabfallend) eine bessere Aufrichtungdurch Aktivierung der Rückenstreck-muskulatur.

Abb. 2 � Dokumentationssystem für Sitzversorgung (Rückseite)

Zum Thema: Krummer Rücken

| Der Orthopäde 1•200262

Fehlform des Rumpfes ohne dieMöglichkeit einer aktiven Aufrichtungdurch die Rückenstrecker

Ursächlich besteht entweder eine struk-turelle Deformität der Wirbelsäule imRahmen einer idiopathischen oder kon-genitalen Skoliose oder Kyphose odereine hochgradige flexible Fehlhaltungdurch eine ausgeprägte Muskelschwächeim Rahmen einer spinalen Muskelatro-phie oder progredienten Mukeldystro-phie. Eine neuromuskuläre Koordina-tionsstörung mit asymmetrischem To-nus und pathologischem Reflexmusterder Rumpf-Becken-Muskulatur konnteausgeschlossen werden. Die aktive Sitz-fähigkeit ist entweder durch die Aktivi-tät der Becken-Bein-Muskulatur oderdurch eine ausreichend kräftige Schul-tergürtelmuskulatur gewährleistet.

Die Adaptierung des Rollstuhles miteiner anatomisch geformten Sitzflächewird kombiniert mit einer rumpfstabili-sierenden Stützkorsettversorgung. Da-durch bleibt die aktive Änderung derSitzposition bei ausreichender Stabilisie-rung des Rumpfes erhalten. Die Rumpf-stabilisierung ist auch für das Stehen imund außerhalb des Rollstuhles gut wirk-sam. Die Art der Korsettversorgung ori-entiert sich an der Grunderkrankung,der Mobilität des Patienten, der Senso-motorik des Rumpfes und etwaigenHautproblemen. In vielen Fällen, insbe-sondere bei Muskelerkrankungen, ist diewirbelsäulenstabilisierende Operationeiner Korsettversorgung vorzuziehen.

Passive Sitzfähigkeit

Passive Sitzfähigkeit heißt, dass auf-grund einer neuromotorischen Bewe-gungsstörung keine Fähigkeit zur akti-ven Positionierung des Beckens besteht.Kompensationsmöglichkeiten von Sei-ten der Schultergürtelmuskulatur sindaufgrund der TBI-Symptomatik oderschweren Muskelschwäche nicht mög-lich.Drei Formen der passiven Sitzfähig-keit sollen in Hinblick auf geplante Sitz-versorgungsmaßnahmen unterschiedenwerden.

Leichte Fehlhaltung durchneuromotorische Dyskoordinationder Rumpfmuskulatur mit guterRückenstreckerrestfunktion

Dieses Bild besteht meist bei Cerebralpa-resen und Enzephalopathien vom Typ ei-ner schweren hypoton-spastischen Dipa-rese, leichteren TBI oder dystonen Misch-formen. Wird bei der Untersuchung desPatienten das Becken stabilisiert,ermög-licht die Restaktivität der Rückenstreckereine gute Aufrichtung des Rumpfes auchfür längere Sitzphasen.

Therapeutisch steht aufgrund dermangelnden aktiven Beckenstabilisie-rung neben der obligaten anatomischgeformten Sitzfläche die Stabilisierungdes Beckens in einer aufgerichteten Mit-telstellung im Vordergrund. (Ein vomPatienten selbst gesteuerter Wechselzwischen den oben genannten physiolo-gischen aktiven Sitzpositionen und einetrotzdem weiterbestehende Stabilitätdes Beckens ist unseres Wissens derzeitnoch nicht mit vertretbarem techni-schem und finanziellem Aufwand fürden Alltag gelöst worden). Die Becken-stabilisierung ist mittels einer vor denSitzbeinen angebrachten Stufe in der ad-aptierten Sitzfläche in Kombination miteiner dorsalen Beckenkammabstützungund verschiedener Rückhaltemechanis-men, die an beiden Spinae iliacae ante-riores mit hochverdichtetem Schaum-stoff angreifen, in den meisten Fällen guterreichbar. Sitzhosen werden aufgrundder die Hüftluxation begünstigendenKräfte im Allgemeinen ebenso wenigempfohlen wie Rückhaltemechanismenüber die Tuberositas tibiae.

Schwere Fehlhaltung durch neuro-motorische Dyskoordination derRumpfmuskulatur mit unzureichenderRückenstreckerrestfunktion

Dieses Bild besteht meist bei Zerebral-paresen und Enzephalopathien vom Typeiner mittelgradig bis schweren hypo-ton-spastischen TBI. Auffallende struk-turelle muskuläre oder Skelettverände-rungen sind bei diesem Bild nicht zu fin-den.Wird bei der Untersuchung des Pa-tienten das Becken stabilisiert, ermög-licht die Restaktivität der Rücken-strecker keine ausreichende Aufrichtungdes Rumpfes.

Im Rahmen der Sitzversorgung istes erforderlich zusätzlich zu der anato-

misch geformten Sitzfläche und denbeckenstabilisierenden Maßnahmenrumpfstabilisierende Pelotten anzubrin-gen. Seitliche Pelotten bieten Halt in derFrontalebene, unter der Klavikula stüt-zende Brustpelotten sichern bei Bedarfden Oberkörper gegen Rotationsbewe-gungen z. B. bei spastisch bedingten Ro-tationsskoliosen. Zusätzliche Adaptie-rungen sind Nacken- und oder Kopf-stützen, die nach Möglichkeit die Ohr-muschel aussparen sollten,Armauflagenoder Schutz gegen Hyperextension imSchultergelenk. Vor allem bei generali-siertem Beugemuster sind steckbare Ti-sche oder Haltegriffe bei OE-Restfunkti-on therapeutisch hilfreich. Bei generali-siertem Streckmuster ohne strukturellemuskuläre Verkürzungen kann ein ne-gativer Sitzwinkel von 80° in der Regeleine reflexhemmende komfortable Sitz-position bewirken, nach Eintritt stru-kureller Muskel-Skelett-Veränderungenist eine medikamentöse oder chirurgi-sche Vorgangsweise meist notwendig,um eine für den Patienten akzeptableSitzposition zu erreichen.

Alle notwendigen Adaptierungensind im Rahmen einer aufwendigerenRollstuhladaptierung oder mittels einereinfachen Leichtbausitzschale möglich.Die Sitzschale bietet den Vorteil der Fle-xibilität durch Verwendung auch mit ei-nem Zimmeruntergestell oder anderenTransportmitteln.Weiterhin ist die Mög-

Abb. 3 � Mädchen mit spastischer Diparese:aktive Sitzfähigkeit

Der Orthopäde 1•2002 | 63

lichkeit der Kippbarkeit auf einem kipp-barem Untergestell zur intermittieren-den Druckentlastung der aufgerichtetenWirbelsäule ein entscheidender Vorteilin der Pflege des Patienten.Da es sich beider Untersuchung der Sitzposition indieser Patientengruppe um eine Mo-mentaufnahme handelt, erfolgt die An-passung der Sitzschale nach Maß, aberohne Gipsabdruck. Nach Fertigstellungdes Rohmodells ist eine Probe erforder-lich, um die Auswirkungen der Adaptie-

rungen auf das pathologische Bewe-gungsmuster und die erzielten funktio-nellen Verbesserungen beurteilen zukönnen. Erst dann erfolgt die definitiveFertigstellung (Abb. 4).

Fehlform des Rumpfes mitschwerer fixierter spastisch-rigiderWirbelsäulen-Thorax-Deformität

Da eine passive Korrektur der asymme-trischen Rumpffehlstellung nicht mög-lich ist, muss eine breitflächige Vertei-lung des Druckes des Körpergewichtesauf große, gut durchblutete Hautarealeangestrebt werden. Meist ist einseitigder Trochanter und der Tuber ossisischii besonders druckstellengefährdetund soll durch unterschiedliche Maß-nahmen wie spezielle Schaumstoffmate-rialien, Hohllegung und gezielte Stufen-bildungen oder Pelottierungen entlastetwerden. Nach langjährigen Erfahrungenmit gipsgeformten Sitzschalen hat sichin den vergangenen Jahren auch ein Va-kuumsitzschalensystem bewährt, dasauch bei Wachstum und anatomischenVeränderungen innerhalb eines kurzenZeitraumes, z. B. nach palliativen medi-kamentösen oder chirurgischen Eingrif-fen eine rasche und gute Adaptierbarkeitermöglicht.

In dieser Patientengruppe ist es be-sonders wichtig, strukturelle Verände-rungen des Muskel- und Skelettsystemsmit Auswirkungen auf benachbarte Re-gionen richtig zu erkennen und im Rah-men der Versorgung zu berücksichtigen.So soll bei einer fixierten Windschlagde-formität (z. B. Abduktionskontrakturrechts,Adduktionskontraktur links) dasBecken als Basis der Wirbelsäule neutraleingestellt werden, um die Wirbelsäulebesser versorgen zu können. Die Ober-schenkelführung erfolgt entsprechendasymmetrisch. Eine asymmetrischeBeinführung ist auch bei fixierten ein-seitigen Hüftstreckkontrakturen zurEntlastung der skoliosierenden Wirbel-säule anzustreben.

Weitere therapeutischeMöglichkeiten

In vielen Fällen ist durch unterstützendemedikamentöse und orthopädisch-chir-urgische Maßnahmen das Therapiezielder Sitzversorgung wesentlich leichtererreichbar:

Die lokale intramuskuläre Botuli-numtoxininjektion zur Erzielung einerneuromuskulären Blockade einzelnerMuskeln soll hier erwähnt werden. Beihochgradiger Spastizität kann eine per-orale systemische Verabreichung vonBaclofen oder die intrathekale Gabe vonwesentlich geringeren Mengen an Bacl-ofen über einen implantierten Katheterzum Erreichen der Sitzfähigkeit in einerSitzschale führen.

Operative Eingriffe zur Verbesse-rung der Sitzfähigkeit können nachsorgfältiger Indikationsstellung im Teaman allen Etagen des Bewegungssystemsvorgenommen werden: an peripherenNerven, Muskeln, Faszien und Sehnen,wobei prophylaktische, funktionsver-bessernde und palliative Indikationenunterschieden werden können:

Eine oft unbemerkte strukturelleVerkürzung der ischiokruralen Musku-latur führt häufig zu einer langsam pro-gredienten Verschlechterung der Sitzfä-higkeit mit zunehmender Kyphosierungder Wirbelsäule. Eine Mehretagen-Weichteilrelease-Operation kann in die-sem Fall eine deutliche Verbesserung derSitzqualität bewirken.

Bei Patienten mit TBI steht die Be-handlung einer progredienten Hüftluxa-tion im Vordergrund, da bei mehr alsder Hälfte ab dem Jugendalter Schmer-zen zu einer massiven Einschränkungder Sitzfähigkeit und Pflegefähigkeitführen. Weichteil-Releases im Klein-kindalter oder kombiniert mit pfannen-bildenden Eingriffen im (Vor)Schulalterverhindern so meist die spätere Notwen-digkeit einer auch aufgrund des Alterswesentlich aufwendigeren zusätzlichenoffenen Reposition und verbessern ne-ben der Sitzfähigkeit auch die Transfer-steh- und Transfergehfähigkeit.

In Fällen in denen trotz ausgedehn-ter struktureller Veränderungen anMuskulatur und Skelettsystem ein ope-ratives Vorgehen nicht möglich ist undeine sitzende Körperposition nicht mehrerreicht werden kann, ist an die Mög-lichkeit der Versorgung mittels einerGanzkörper-Lagerungsorthese zu den-ken. Dieses in Körperform ausgefrästeSchaumstoffbett stellt für schwerstbe-hinderte Patienten mitunter die einzigeMöglichkeit dar, ihr Bett zu verlassenund ins Freie zu gelangen.

Abb. 4 � Passive Sitzfähigkeit: kleiner Patientmit hypoton-spastischer Tetraparese: mit einerLeichtbausitzschale kann das Therapiezielverbesserte Wahrnehmung und Handmotorikgut erreicht werden

Zum Thema: Krummer Rücken

| Der Orthopäde 1•200264

Fazit für die Praxis

Das Ziel einer Versorgung mit einem Sitz-versorgungssystem ist die Verbesserungder Lebensqualität sowohl der betroffenenals auch der betreuenden Personen.Eine exakte Untersuchung im Team undeine die zugrundeliegende Pathophysio-logie berücksichtigende systematischeKlassifikation kann die Indikationsstellungfür die Art des Behelfes, die richtige Wahldes Zeitpunktes und Überlegungen zurKombination der orthopädietechnischenMöglichkeiten erleichtern und häufigeFehler in der Adaptierung von Sitzhilfenvermeiden helfen.

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Pathophysiologie, Indikationen und Fehler.

Orthop Tech 51: 1042–1051

25. Deutscher Krebskongress,10.–14. März 2002, Berliner ICC

Struktur und Inhalt

Der Kongress verfolgt gleichermaßen die Ziele,Wis-

senschaft und Fortbildung in allen Disziplinen der

Onkologie,die Programmatik der Deutschen Krebs-

gesellschaft und die vielfältigen Kooperationen

darzustellen.Erstmals handelt es sich um einen ge-

meinsamen Kongress der beiden wichtigsten Insti-

tutionen zur Krebsbekämpfung und Versorgung

von Krebskranken in Deutschland,der Deutschen

Krebsgesellschaft und der Deutschen Krebshilfe.

Als Schwerpunktthemen wurden die Er-

krankungen mit den höchsten Inzidenzen aus-

gewählt: das Mammakarzinom, das Bronchialkar-

zinom, das kolorektale Karzinom und das Prosta-

takarzinom. Diese Themen werden ganztägig ab-

gehandelt. Zunächst erfolgt die Beschreibung des

„state of the art“ aus Sicht des Operateurs, des

Strahlentherapeuten und des Internistischen On-

kologen. Danach folgt eine Sitzung, die aus-

gewählte freie Vorträge mit einem Grundsatzrefe-

rat zu den Zukunftsperspektiven der Erkrankung

verbindet. Abgeschlossen wird der Tag durch ein

interdisziplinäres Forum, auf dem alle Referenten

und Vorsitzenden unter Leitung eines Moderators

mit dem Auditorium diskutieren. Anschließend

wird über eine TED-Befragung der Informations-

gewinn bemessen.

An den Mittagen werden täglich Themen

der Zeit in „key lectures“ behandelt. Als Themen

wurden gewählt: Genomforschung; Bioethik; Ge-

sundheit als Wert und Ware; Sterbehilfe.

Ebenfalls an den Mittagen finden die Präsi-dentensymposien statt: Hierin werden zertifi-

zierte Studien präsentiert, das Kommunique der

Europäischen Krebsgesellschaften vorgestellt und

es tragen die Preisträger des Deutschen Krebs-

preises und des Wissenschaftspreises der AIO vor.

Als weitere Themenstränge (ganztägige Ver-

anstaltungen) sind geplant: ein Tag der Euro-päischen Krebsgesellschaften, an dem über In-

halte und Ziele ihrer Arbeit berichtet wird; ein Tag

der Interdisziplinarität; ein Tag der Qualitäts-sicherung; ein Tag der Arbeitsgemeinschaftender DKG. Zwei Tage sind speziell den gemeinsa-

men Symposien der Deutschen Krebshilfe und

der Deutschen Krebsgesellschaft vorbehalten. Das

Programm wird ausgefüllt durch eine Vielzahl von

wissenschaftlichen Symposien und „educa-tionals“.

Besonderes Augenmerk wird den freienVorträgen und der Präsentation wissenschaftli-

cher Poster gewidmet. Die Partner der forschen-

den Pharmaindustrie veranstalten parallel asso-ziierte Symposien. Parallel findet der Kongressfür onkologische Pflegekräfte statt.

Der Programmatik der Deutschen Krebsge-

sellschaft zur Verbesserung des Dialogs mit der

Gesellschaft folgend, soll an allen Tagen eine

mehrstündige Veranstaltung mit der Bevölke-rung (Gesunde wie Betroffene) stattfinden. Diese

wird von einem „Botschafter“ und einem bekann-

ten Moderator geleitet und wird die Themen „Le-

ben ohne Krebs (Prävention)“, Leben mit Krebs“

und „Leben nach Krebs“ behandeln.

Erstmals findet eine Mitgliederversamm-lung der Mitglieder der Deutschen Krebsgesell-

schaft statt. Ferner wird ein Gesellschaftsabendund ein Kongresslauf zur Indentifikationsstei-

gerung der Mitglieder und Noch-Nicht-Mitglieder

mit unserer Fachgesellschaft beitragen.

Jena, im Juli 2001

Prof. Dr. Klaus Höffken

Kongresspräsident

Weitere Informationen:www.krebskongress2002.de

Fachnachricht

Der Orthopäde 1•2002 | 65

Zusammenfassung

Wirbelsäulenverletzungen im Wachstumsal-

ter sind selten, gehen jedoch häufiger als

beim Erwachsenen mit neurologischen Stö-

rungen einher. Diese können auch ohne kon-

ventionell radiologisch fassbare Verletzun-

gen vorkommen. Die Problematik der Rönt-

gendiagnostik liegt v. a. in der Abgrenzung

von Synchondrosen und Apophysen gegen-

über Frakturlinien. Bei neurologischen Aus-

fällen ohne radiologisch fassbare Läsionen

ist die Abklärung mittels Magnetresonanzto-

mographie indiziert. Die Verletzungstypen

entsprechen im Prinzip denjenigen der Er-

wachsenen, zusätzlich sehen wir Verletzun-

gen der Endplatten (Wachstumsfuge) und

der Ringapophysen. Stabile Kompressions-

frakturen werden konservativ behandelt. Die

Fähigkeit zur spontanen Korrektur einer

posttraumatischen Fehlstellung nimmt mit

dem Alter ab: Bei den unter 10-jährigen Kin-

dern ist die Wiederaufrichtungspotenz der

posttraumatischen Kyphose ausgezeichnet,

während Fehlstellungen in der Frontalebene

nur zögerlich oder gar nicht remodellieren.

Instabile Verletzungen sowie Verletzungen

mit Kompression von neuralen Strukturen

werden im Prinzip operativ behandelt.

Schlüsselwörter

Wirbelsäule · Kindesalter ·

Wirbelsäulenverletzung · Spontankorrektur ·

Fraktur

Im Gegensatz zu den gut bekanntenVerletzungen des Erwachsenen sind dieVerletzungen der kindlichen Wirbelsäu-le sehr viel seltener und deshalb auchweniger bekannt. Während die Verlet-zungen des Adoleszenten denjenigendes Erwachsenen gleichen, weisen dieVerletzungen der Kleinkinder Beson-derheiten in Bezug auf Erscheinungs-bild, Therapie und Prognose auf, die indiesem Artikel beschrieben werden. DieKenntnis der Klassifikation der Fraktu-ren der Erwachsenen Wirbelsäule wirdvorausgesetzt [11, 19].

Häufigkeit

Verletzungen der kindlichen Wirbel-säule sind selten. Sie stellen nur 1,5% al-ler kindlichen Verletzungen bzw. 2–5%aller Wirbelsäulentraumata dar [31].Dies liegt daran, dass Kinder nicht demRisiko von Arbeitsunfällen ausgesetztsind und Traumen wie sie bei Erwach-senen im Rahmen von Arbeit,Verkehrs-unfällen oder beim Sport vorkommen,selten sind. Wahrscheinlich sind dieseZahlen aber etwas zu tief, weil nicht sel-ten bei einfachen Traumen auf eine ra-diologische Abklärung verzichtet wirdund zudem die Interpretation der Rönt-genanatomie der kindlichen Wirbelsäu-le Schwierigkeiten bereiten kann. Erfah-rungsgemäß werden deshalb nicht sel-ten Kompressionsfrakturen verpasstund erst aufgrund einer sich ent-wickelnden Keilform retrospektiv dia-gnostiziert.

Altersverteilung

Das durchschnittliche Alter der Kindermit Wirbelsäulenverletzungen liegt bei11 Jahren, wobei 2 Altersgipfel imponie-ren: die 3- bis 4-Jährigen und die Ado-leszenten. Die Altersgruppe der 3- bis 4-Jährigen ist vor allem als Autoinsasse beiVerkehrsunfällen und bei Stürzen aus ei-ner gewissen Höhe gefährdet, währenddie meist männlichen Adoleszenten auf-grund ihrer erhöhten Risikobereitschaftbesonders beim Sport und als aktiveVerkehrsteilnehmer gefährdet sind [21,24, 37].

Verletzungshöhe

Das Alter der Kinder bestimmt die prä-dominante Verletzungshöhe: Währendbei den Adoleszenten die Verletzungenam thorakolumbalen Übergang domi-nieren und das Verletzungsmuster dem-jenigen der Erwachsenen entspricht, istbei Kleinkindern besonders häufig dieobere Halswirbelsäule und die mittlereBrustwirbelsäule betroffen [30, 31].

Verletzungsursache

Wie beim Erwachsenen sind die Verlet-zungsursachen mannigfaltig:

Zum Thema: Krummer RückenOrthopäde2002 · 31:65-73 © Springer-Verlag 2002

C. Hasler1 · B. Jeanneret2

1 Kinderorthopädische Universitätsklinik Basel2 Orthopädische Universitätsklinik, Felix Platter-Spital, Basel

Wirbelsäulenverletzungenim Wachstumsalter

Dr. Carol-C. HaslerOrthopädische Abteilung,

Universitäts-Kinderspital beider Basel,

Römergasse 8, 4005 Basel/Schweiz,

E-Mail: [email protected]

Zum Thema: Krummer Rücken

C. Hasler · B. Jeanneret

Pediatric spine injuries

Abstract

Spine injuries during growth are rare, but in

comparison to adults they are more often as-

sociated with neurologic impairment.They

also may occur without visible injuries in X-

rays.The problems of conventional radiolog-

ic diagnostics include before all the differen-

tial diagnosis between synchondrosis,

apophysis and fracture lines. MRI is indicated

in case of neurologic deficits without radio-

logic abnormalities. In principle the fracture

types correspond to those seen in adults. In

addition growth specific injuries of the end-

plates (growth plates) or ring apophysis may

occur. Stable compression fractures are treat-

ed conservatively.The spontaneous remod-

elling capacity for posttraumatic deformities

decreases with age: in children below the

age of ten years the remodelling capacity for

posttraumatic kyphosis is excellent whereas

deformities in the frontal plane show no or

only incomplete remodelling. Unstable frac-

tures and injuries with associated compres-

sion of neural structures should be treated

conservatively.

Keywords

Spine · Injuries · Pediatric · Remodelling ·

Fracture

Verkehrsunfälle. Bei Verkehrsunfällensind Kinder vor allem als Fußgängeroder als Pkw-Mitfahrer betroffen [21].Obwohl die Sicherung in altersgerechtenSitzen oder mit Gurten zu einem Rück-gang der Verletzungen geführt hat,kommt es auch bei modernen Fixie-rungssystemen zu Wirbelsäulenverlet-zungen. Die Halswirbelsäule (HWS) istauch bei diesen Sicherheitssystemen freibeweglich und bei einem Aufprall durchdie einwirkenden Distraktionskräfte ge-fährdet. Zudem kann der schräge Schul-teranteil des Dreipunktegurtes die unte-re HWS oder den Plexus brachialis di-rekt verletzen. Beckengurte sollten nichtmehr verwendet werden. Bei einem Auf-prall führen diese zu Distraktionsverlet-zungen im LWS-Bereich im Sinne vonChance-Frakturen mit horizontalerSpaltung des Wirbelkörpers und zudemauch zu intraabdominellen Verletzun-gen („lap belt syndrome“; [29]). BeiFahrradunfällen sind neben HWS-Lä-sionen zusätzlich Verletzungen der obe-ren Brustwirbelsäule (BWS) typisch.

Sturzverletzungen. Stürze kommen vorallem beim Sport z. B. Snowboard, Ro-deln usw. vor. Solche Stürze sind in derRegel für Kompressionsfrakturen imBWS- und LWS-Bereich verantwortlich.

Geburtsverletzungen. Komplizierte Ge-burten,bei denen innere Wendungen desKindes oder der Gebrauch der Zange not-wendig werden, können mit zervikotho-rakalen oder hochthorakalen Läsionenmit oder ohne Rückenmarksverletzungeinhergehen. Muskelhypotonie, Zwerch-felllähmung,Tetra- oder Paraplegie nachschwierigen Geburten müssen deshalbdifferenzialdiagnostisch an eine entspre-chende Verletzung denken lassen und ei-ne entsprechende Abklärung mittels Ma-gnetresonanztomographie (MRT) nachsich ziehen [12, 22].

Kindsmisshandlungen. Obwohl bei Kinds-misshandlungen die Wirbelsäulenverlet-zungen nur 2–3% aller Frakturen ausma-chen, sollte die Bildgebung der Wirbel-säule Bestandteil der Routineabklärungsein. Meist liegen Begleitverletzungenvor, isolierte Wirbelsäulentraumen kom-men jedoch auch vor. Am häufigstenwerden thorakolumbale und lumbaleKompressionsfrakturen beobachtet.Fäl-le von Luxationsfrakturen, sowie selteneVerletzungen wie z. B. eine gleichzeitige

Lösung der kranialen und der kaudalenWachstumsfuge am gleichen Wirbelwurden beobachtet [4].

Neurologische Komplikationen

Die Häufigkeit von neurologischen Aus-fällen bewegt sich zwischen 14% und57% [21, 24, 31], wobei komplette Quer-schnittssyndrome bei 19–25% der Pati-enten beobachtet werden. Halswirbel-säulenverletzungen haben mit 20–30%neurologischen Komplikationen dashöchste Risiko.

Wie beim Erwachsenen sind Rücken-markskompressionen oder Dehnungenaufgrund von Luxationen oder dislozier-ter Knochenfragmente für die neurologi-schen Ausfälle verantwortlich. Aufgrundder größeren Bandlaxität können jedochbeim Kind Bewegungen stattfinden, diezwar zu einer Läsion des Rückenmarkesführen, jedoch nicht immer mit einer ra-diologisch fassbaren Läsion der Wirbel-säule einhergehen (SCIWORA: „spinalcord injury without radiographic abnor-mality“). Diesem Phänomen liegt diekindsspezifische Bandlaxität und Hyper-mobilität der Wirbelsäule zugrunde: diekindliche Wirbelsäule kann experimentell5 cm ohne Zerreißung von ligamentärenStrukturen gedehnt werden, während dieErwachsenenwirbelsäule schon nach6 mm Läsionen zeigt [16].Bei Kindern mitneurologischer Symptomatik nach einemWirbelsäulentrauma beträgt der SCI-WORA Anteil 20–60% [24, 31]. Die MRTist bei diesen Patienten sehr hilfreich undzeigt in der Regel die Ursache der neuro-logischen Ausfälle: Beschrieben sind Rup-turen des anterioren und/oder posterio-ren Längsbandes,Diskushernien,Rücken-markdurchtrennungen, -blutungen und-ödeme usw. [8].

Die Prognose der neurologischenAusfällen hängt von der Ausprägung desneurologischen Defizits sowie vom Al-ter des Kindes ab, wobei Patienten mitkompletten Querschnittsyndromen undjüngere Kinder eine schlechtere Erho-lungstendenz zeigen.

Bildgebende Diagnostik

Die Schwierigkeit der radiologischenAbklärung beim Kind liegt in der sichmit dem Wachstum ändernden Rönt-genmorphologie [36].Das Ossifikations-muster muss bekannt und berücksich-tigt werden, zusätzlich müssen bei keil-

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Orthopäde2002 · 31:65-73 © Springer-Verlag 2002

förmigen Wirbeln differenzialdiagno-stisch zum Trauma andere Entitäten inBetracht gezogen werden (Tabelle 1).

Primär wird jede Verletzung kon-ventionell radiologisch abgeklärt. ZurAbklärung der gesamten Wirbelsäulesind folgende Projektionen unerlässlich:HWS a.-p./seitlich, BWS a.-p./seitlichund LWS a.-p./seitlich. Zusätzlich solltezur Abklärung der HWS eine transoraleAufnahme vorgenommen werden. Fallsdies nicht möglich ist (Kleinkind, man-gelhafte Kooperation), muss zur Abklä-rung der oberen HWS eine Computer-tomographie (CT) erfolgen. Diese Ab-klärung der oberen HWS mittels CT istzudem bei jedem Schädel-Hirn-Traumaunerlässlich. Eine CT wird auch immerdann vorgenommen, wenn eine Atlas-fraktur oder eine eventuelle Einengungdes Spinalkanals durch eine Berstungs-fraktur abgeklärt werden soll.

Eine MRT wird dagegen zur Abklä-rung des Rückenmarks sowie der disko-ligamentären Strukturen in unklaren Si-tuationen vorgenommen. Sie ist beson-ders dann indiziert, wenn trotz klinischdringendem Verdacht auf eine Wirbel-säulenverletzung konventionell radiolo-gisch die Diagnose nicht bestätigt wer-den kann oder wenn die Ursache einerneurologischen Ausfallsymptomatik un-klar ist und abgeklärt werden soll. Beider Indikationsstellung zur CT oderMRT-Untersuchung sollte bedacht wer-den, dass für CT- und MRT-Untersu-chungen bei jüngeren Kindern eine An-

ästhesie benötigt wird und die CT-Un-tersuchung eine zusätzliche Strahlenbe-lastung beinhaltet.

Funktionsaufnahmen unter Bild-verstärkerkontrolle sind zur Beurteilungvon diskoligamentären Verletzungenunerlässlich. Sie müssen vom Arzt selbstvorgenommen werden und sollten, fallsmöglich, bei wachem Patienten durch-geführt werden.

Die Skelettszintigraphie hat dannihre Berechtigung, wenn bei Verdachtauf eine Kindsmisshandlung frischeoder in Konsolidation begriffene Frak-turen nachgewiesen werden sollen.

Verletzungstypen

Beim Kind können sämtliche Verletzun-gen des Erwachsenen beobachtet wer-den.Wie beim Erwachsenen können dieVerletzungen in Kompressions-,Distrak-tions- und Rotationsverletzungen unter-teilt werden.Im Folgenden werden ledig-lich die Verletzungen näher erläutert,dieBesonderheiten gegenüber der Verlet-zungen des Erwachsenen aufweisen.

Verletzungen der knorpeligenAnlagen

Bandscheibe, knorpelige Endplattenund Ringapophysen bilden im Zwi-schenwirbelbereich eine anatomischeEinheit, wobei die Bandscheibe die me-chanisch höchste Widerstandsfähigkeitaufweist.

Frakturen der knorpeligenWirbelkörperendplatte

Als locus minoris resistentiae bei Ein-wirkung von Kompressionskräften hatsich in experimentellen Kadaver- undTierversuchen die knorpelige Endplatteund damit die Wachstumsfuge der Wir-belkörper erwiesen [2, 13]. Der histolo-gische Aufbau in Schichten entsprichtweitgehend dem einer peripherenWachstumsfuge und ebenso wie diese,stellt auch die Endplatte den Ort desLängenwachstums dar. Im Gegensatz zuden langen Röhrenknochen ist die End-platte jedoch nicht durch eine knöcher-ne Epiphyse geschützt sondern grenztdirekt an den Discus intervertebralis an.

Somit ergeben sich folgende Wir-belverletzungen mit Einbeziehung derEndplatte:

◗ Reine Lösung der Wachstumszonedurch die hypertrophierende Knor-pelzellschicht.

◗ Die Frakturlinie durchquert senk-recht die Wachstumszone. Meistensist diese Fraktur dorsal am Wirbel-körper lokalisiert und mit einem Ab-riss des Anulus fibrosus kombiniert.Teile der Bandscheibe können imFrakturspalt eingeklemmt sein [17].

Prognose. Läsionen der Wachstumsfu-gen führen potenziell zu sekundärenDeformitäten [21].

Verletzungen des Apophysenrings

Der Apophysenring dient nicht dem Wir-belwachstum, sondern vornehmlich derVerankerung des Anulus fibrosus amWirbelkörper.Ferner dient er auch als In-sertion der Pars lumbalis diaphragmae.Die Apophysen ossifizieren ab dem 13.Le-bensjahr und fusionieren ab dem 17. Le-bensjahr mit dem Wirbelkörper, wobeidieser Prozess normalerweise bis zum25. Lebensjahr abgeschlossen ist. In Ein-zelfällen kann der Apophysenring jedochauch im Erwachsenenalter persistieren[6, 32]. Meist werden Apophysenabrisseim Bereich der unteren Lendenwirbel-säule bei männlichen Adoleszenten alsLäsionen der kranialen Apophyse gefun-den, seltener auch an der Brust- undHalswirbelsäule, wobei dann vor allemdie kaudalen Ringe betroffen sind [35].

Pathogenetisch können sowohl eineinzelnes heftiges Trauma als auch repe-

Der Orthopäde 1•2002 | 67

Tabelle 1Differenzialdiagnose des kindlichen Keilwirbels

Fraktur Oft asymmetrische Keilform, flache oder konkave Deckplatte,Spongiosaverdichtung unter knöcherner Deckplatte, flachereund breitere Wirbelkörper, Serienfrakturen, positives Szintigramm

Pathologische Fraktur Eosinophiles Granulom, Leukämie, aneurysmatische Knochenzyste,M. Calvé: aseptische Knochennekrose

Morbus Scheuermann Mehrere Wirbel betroffen, Diskusverschmälerung, a.-p.-Durchmesserhöher, Schmorlsche Knötchen

Spondylitis Eventuell mit pathologischer Fraktur, evtl. Fieber, Krankheitsgefühl,Schmerz, Status nach Infekt, Leukozytenzahl erhöht, erhöhteBlutsenkungsgeschwindigkeit, erhöhtes C-reaktives Protein,positive Blutkulturen, Szinitigramm positiv

Tumor Positives Szintigramm, CT

Stoffwechselstörung Osteogenesis: oft auf mehreren Niveaus. Mukopolysaccharidose v. a.Morquio: alle Wirbel involviert wie bei spondyloepiphysärer Dysplasie

Kongenital Hemivertebrae kein Schmerz, oft Endplatten- und Diskusabnormitäten,normales Szintigramm

Zum Thema: Krummer Rücken

titive Traumen beim Sport (Kunstturnen,Ringen) dieser Verletzung zugrunde lie-gen und zu radiologischen Abnormitätenim Apophysenbereich führen. Entspre-chend der einwirkenden Kräfte kommt esdurch Traktion zur Vergrößerung oderPersistenz der Apophyse oder durchKompression zur Exkavation des Wirbel-körperrandes [35]. Bei akuten Traumenentscheidet das Stadium des Ossifikati-onsprozesses über Zusammensetzungund Größe des abgerissenen hinterenKnorpel- und/oder Knochenfragmentes:

◗ Typ I: Apophyse mit Kortikalisausriss,◗ Typ II: Apophyse mit Kortikalis und

Spongiosa,◗ Typ III: Apophyse mit einem kleinen

lateralen Wirbelkörperfragment,◗ Typ IV: Apophyse mit Ausriss der

ganzen Wirbelkörperhinterwand.

Klinisches Bild. Typischerweise präsen-tieren sich die Patienten mit lumbalenRückenschmerzen, sowie Beinschmer-zen und neurologischen Ausfällen un-terschiedlichen Ausmaßes. Begleitendkann auf Frakturhöhe eine Diskusher-nie vorliegen [6, 32].

Therapie. Exzision des fibrokartilaginä-ren, respektive knöchernen Fragmen-tes bei Persistenz von radikulären Sym-ptomen.

Halswirbelsäule

Atlantookzipitale Dislokation

Diese seltene Verletzung ist doppelt sohäufig bei Kindern wie beim Erwachse-

nen [33]. Sie entsteht in der Regel anläss-lich einer Kollision des Kindes mit ei-nem schnell fahrenden Objekt, z. B. miteinem Auto, seltener mit einem Skifah-rer. Durch den Aufprall wird der Kopfsozusagen weggerissen, das Rücken-mark bzw. die Medulla oblongata ge-dehnt oder zerrissen.

Klinisches Bild. Je nach Ausdehnung derLäsionen des Rückenmarks, des Hirn-stammes sowie der Hirnnerven zeigen diePatienten Atemstörungen von Schnapp-atmung bis zum Atemstillstand und so-fortigem Tod. Herzrhythmusstörungenund asymmetrische Lähmungen werdenebenfalls oft beobachtet. Die Mortalitätder atlantookzipitalen Dislokation beträgt50% und mehr [24].Mit der Verbesserungdes Rettungswesens und sofortiger Intu-bation am Unfallort überleben allerdingsimmer mehr Verunfallte.

Dislokationstypen. Am häufigsten kom-men Dislokationen nach ventral vor(Typ I),zum Teil kombiniert mit Instabi-lität in axialer Richtung. Doch auch dor-sale Luxationen (Typ II) und axiale Dis-lokationen mit globaler Instabilität(Typ III) kommen vor.

Diagnostik. Die bildgebende Diagnostikbasiert auf der Translation des Schädelsgegenüber dem Atlas: Absolute Grenz-werte in Millimetern haben sich nichtbewährt,da der variable Röntgenvergrö-ßerungsfaktor eine Fehlerquelle dar-stellt. Zudem haben Untersuchungen anunverletzten Kindern gezeigt, dass dererrechnete Grenzwert von 10 mm Di-stanz zwischen Basion (vorderer Rand

des Foramen magnum) und dem Densauch in der Normalpopulation in denmeisten Fällen übertroffen wird. Geeig-neter ist das Verhältnis folgender Distan-zen: Abstand Basion zu Vorderrand deshinteren Atlasbogens geteilt durch denAbstand zwischen Opisthion (Hinter-rand des Foramen magnum) und hinte-rer Begrenzung des vorderen Atlasbo-gens.Werte unter 0,9 sind normal,über 1pathologisch [26].Die Messung kann an-hand einer lateralen Röntgenaufnahmeder HWS oder einer sagittalen medianenCT-Rekonstruktion erfolgen. Besser be-währt hat sich allerdings die paramedia-ne sagittale Rekonstruktion von CT oderMRT-Bilder. Hier kann die Relation derOkzipitalkondylen zum Atlas einfacherund sicherer beurteilt werden.

Therapie. Notfallmäßige geschlosseneReposition gefolgt von Halo-Fixationüber ca. 2 Monate. Eine offene Repositi-on mit okzipitozervikaler Spondylodeseist ebenfalls möglich und bei sehr insta-bilen Verletzungen der konservativenBehandlung vorzuziehen.

Prognose. Neurologische Ausfälle beiÜberlebenden kommen bei über 80%vor, davon zu 40% in Form einer Tetra-parese [27].

Atlasfrakturen

Neben der hinteren Atlasbogenfraktu-ren und der Jefferson-Fraktur kommenhier kinderspezifische Verletzungen vor.

Frakturtypen. Die Fraktur verläuft meistdurch die vordere Synchondrose, welcheerst mit ca. 7 Jahren fusioniert. IsolierteFrakturen durch den hinteren Atlasbogensind nur als Einzelfälle beschrieben [1].

Diagnostik. Synchondrosen des Atlas (C1)können als Frakturlinien verkannt wer-

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Abb. 1 � 2-jähriges Mädchen: Densfraktur mit Ventralabkippung und -translation. Unmittelbarnach dem Trauma trat eine Halbseiten-Symptomatik und Horner-Syndrom auf, welche sich nachgeschlossener Reposition innerhalb weniger Tage vollständig erholten. Folgenlose Ausheilungim Minervagips über 2 Monate

den. Am Atlas schließt sich die hintereSynchondrose in der Mitte des hinterenAtlasbogens im 3. Lebensjahr, währenddie Übergänge zwischen Bogen und Kor-pus erst im 7. Jahr fusionieren. Die vor-dere Synchondrose fusioniert erst mitca. 7 Jahren [20, 34]. Der relative Wachs-tumsvorsprung des Atlas gegenüber demAxis in den ersten Lebensjahren kann alsRingsprengung („pseudospread“) miss-gedeutet werden, da dann die Massae la-terales des Atlas über den Rand der Ge-lenkflächen C2 nach lateral ragen [34].Bei Frakturverdacht ist eine Computer-tomographie unerlässlich.

Therapie und Prognose. Die normalerwei-se stabilen Frakturen können konserva-tiv zum Beispiel im Minerva-Gips fol-genlos zur Ausheilung gebracht werden.

Atlantoaxiale Dislokation (AAD)

Klinisches Bild. Nach ligamentärer transla-torischer AAD geben die Patienten un-spezifische Nackenschmerzen an und zei-gen oft erst sekundär neurologische Defi-zite.Bei der rotatorischen AAD imponiertdagegen ein schmerzhafter Schiefhals,bei dem im Gegensatz zum kongenitalenTortikollis die Schultern symmetrischstehen, der Kopf keine Lateraltranslationaufweist und der M. sternocleidomastoi-deus auf der Seite, zu der der Kopf ge-dreht ist, angespannt und verhärtet ist.

Verletzungstypen. Translatorische AADwird die Ventralverschiebung des Atlas ge-genüber dem Axis bei Ruptur desLig.transversum atlantis genannt.Bei dertraumatischen rotatorischen AAD liegtneben der Verdrehung des Atlas über C2oft auch eine deutliche Verkippung des At-las vor, eventuell mit unilateraler Verha-kung der Gelenkfortsätze.Je nachdem,obdas Lig. transversum ebenfalls rupturiertist oder nicht, liegt zusätzlich auch eineVentralverschiebung von C1 über C2 vor.

Diagnostik. Translatorische AAD: Sagitta-ler atlantodentaler Abstand in der Flexi-onsaufnahme der HWS >5 mm. Das ge-rissene Lig. transversum atlantis kannauch in der MRT dargestellt werden. Ro-tatorische AAD: Die konventionelle ra-diologische Abklärung mit transoralerDensaufnahme zeigt eine asymmetrischeDarstellung der atlantoaxialen Gelenke.Besser gezeigt wird die rotatorische Fehl-stellung in der Computertomographie.

Therapie. Bei translatorischer AAD sol-len C1 und C2 mittels dorsaler Spondylo-dese C1/2 z. B. mit der transartikulärenVerschraubung nach Magerl fusioniertwerden, da auch eine länger dauerndekonservative Ruhigstellung keine ausrei-chende Stabilität des Bewegungssegmen-tes C1/2 gewährleistet. Bei rotatorischerAAD genügt im akuten Stadium häufigein Längszug,um die rotatorische Dislo-kation zu reponieren. Ist das Lig. trans-versum intakt,kann die Läsion mit einerRuhigstellung in einem harten Kragenoder in einem Minerva-Gipskorsett zurAusheilung gebracht werden. Liegt zu-sätzlich eine Läsion des Lig. transversumatlantis vor,muss eine Spondylodese C1/2erfolgen.

Densfrakturen

Die seltenen Frakturen des Dens axis er-eignen sich typischerweise bei Kleinkin-dern nach Stürzen auf den Kopf, wenndie Synchondrose zwischen Densbasisund Wirbelkörper C2 noch offen ist.

Klinisches Bild. Schmerzhafter Tortikol-lis, fehlende Kopfkontrolle. Neurologi-sche Ausfälle sind meist nur in Assozia-

tion mit begleitenden Schädelhirntrau-men zu beobachten. Eine Korrelationzwischen Ausmaß der Densdislokationund neurologischer Symptomatik be-steht nicht, da es bei der Lagerung desPatienten, vor allem im Röntgen, zuSpontanrepositionen kommen kann.

Frakturtypen. Die Verletzung entsprichteiner Lösung der Synchondrose mit Ven-tralverlagerung der Dens (Abb. 1) undentspricht damit einem Frakturtyp IIIbeim Erwachsenen.Meist liegt neben ei-ner ventralen Translation auch eine An-gulation des Dens in Kyphose vor.

Diagnostik. Auch beim Axis können Syn-chondrosen als Frakturlinien missdeu-tet werden. Der Axis weist eine komple-xe Röntgenanatomie auf: eine horizon-tale Synchondrose an der Densbasis, so-wie angrenzend 2 vertikale Synchondro-sen am Übergang von Korpus zu Bögenbilden eine H-förmige Synchondrose,welche zwischen dem 3. und 6. Lebens-jahr fusioniert. Gelegentlich ist die Syn-chondrose an der Densbasis jedoch alsfeine Linie bis nach dem 10. Lebensjahrsichtbar. In dieser Periode erscheintauch ein Knochenkern an der Densspit-

Der Orthopäde 1•2002 | 69

Abb. 2 � 10-jähriges Mädchen: Sturz beim Schulturnen auf die Knie mit axialem Trauma.Typische leichte anteriore Kompressionsfraktur der mittleren BWS (Th 8). Folgenlose Ausheilungund Wiederaufrichtung unter 3-monatiger rein funktioneller Nachbehandlung

Zum Thema: Krummer Rücken

ze, welcher mit 12 Jahren fusioniert undbei Persistenz „Ossiculum terminaleBergmann“ genannt wird. Die Ringapo-physe an der Basis des Körpers von C2kann bis 25 Jahre persistieren. Der Densaxis zeigt in ca. 4% als Normvariante ei-ne Angulation nach dorsal.

Therapie. Unter Ruhigstellung in einemMinerva-Gips oder Halo-Ringfixateur isteine knöcherne Fusion innerhalb von3 Monaten die Regel. Indikationen zuroperativen Intervention (dorsale FusionC1/C2 oder direkte Verschraubung) kön-nen sich bei seltenen hochgradig insta-bilen Frakturen ergeben oder wenn eine

anatomische Reposition nur durch eineextreme Kopfhaltung zu erreichen ist [3].

Prognose. Wachstumsstörungen sindnicht zu erwarten, da die Synchondrosestrukturell und funktionell nicht einerWachstumsfuge entspricht. Heilt dieFraktur nicht, kommt es zur Denspseud-arthrose. Das Os odontoideum wird alsDenspseudarthrose nach einer Frakturbeim Kleinkind interpretiert.

Subaxiale Läsionen

Bei Kindern über 8 Jahren ereignen sichdie meisten Halswirbelsäulenverletzun-

gen im unteren HWS-Bereich, in derGruppe der unter 8-Jährigen sind Verlet-zungen in diesem Bereich dagegen selten.

Frakturtypen. Die häufigste Fraktur ist dieeinfache Kompressionsfraktur, die dia-gnostisch gegenüber normalen Formva-rianten abgetrennt werden muss. Vor al-lem bei jüngeren Kindern können auchLösungen der kaudalen Endplatte als Dis-traktionsverletzung vorkommen.Schließ-lich werden auch diskoligamentäre Verlet-zungen beobachtet.

Diagnostik. Bei C3–C7 schließen sich dieSynchondrosen zwischen dem 2. und

| Der Orthopäde 1•200270

Abb. 3a–c � 7-jährigesMädchen: Sturz vom Pferd.KompressionsfrakturenLWK 2 und 3 mit anteriorerund seitlicher Kompression>10°. Nach 6-monatigerRuhigstellung im aufrich-tenden Gipskorsett zeigtsich im 8-Jahresverlauf inder Sagittalebene einevollständige Restitutio,währenddem die Spontan-korrektur in der Frontal-ebene zufriedenstellend,aber unvollständig blieb

7. Lebensjahr. Die knorpeligen Wirbel-körperendplatten sind als Wachstumsfu-gen nicht erkennbar,da sie direkt an denDiskus angrenzen und hier eine knö-cherne Epiphyse fehlt. Normale Ring-apophysen können mit Abrissfragmen-ten verwechselt werden, ebenso wie se-kundäre Ossifikationszentren an denSpitzen der Processi spinosi.

Die physiologische Hypermobilitätder kindlichen Wirbelsäule verbietet esErwachsenennormwerte bezüglich seg-mentaler Beweglichkeit zu übernehmen.Funktionsaufnahmen der HWS bei Kin-dern unter 8 Jahren mit unauffälligemlateralem Röntgenbild sind von frag-würdigem Nutzen, da auch bei norma-len Wirbelsäulen Pseudosubluxationen

beobachtet werden.Für eine echte disko-ligamentäre Instabilität sprechen eineSubluxation der Intervertebralgelenkeum mehr als 50%, eine unisegmentaleStufenbildung der hinteren Wirbelkör-perlinie, die fehlende Reposition in Ex-tension, Processus-spinosus-Frakturen,Erweiterung des interspinösen Abstan-des, Erweiterung des hinteren Band-

Der Orthopäde 1•2002 | 71

Abb. 4a,b � 3-jähriger Junge: Direk-tes Trauma durch umstürzende Gas-flasche. a Luxationsfraktur Th12/L1

mit Einengung des Spinalkanalsund Paraparese. Therapie: Laminek-

tomie L1, Spinalkanalrevision unddorsale Spondylodese Th12/L1

ohne Instrumentierung. Ruhigstel-lung im Gipskorsett während 3 Mo-

naten. b 4-Jahresverlauf: Beschwer-defreier Patient mit kontinuierli-

cher Spontankorrektur der thorako-lumbalen Kyphose

Zum Thema: Krummer Rücken

scheibenraumes,Verlust der Parallelitätder Gelenkfacetten und im weiteren Ver-lauf Ossifikationen des dorsalen Liga-mentkomplexes [3].

Wirbelkörperform. Vor allem der Wirbel-körper C3,seltener C4,kann oval,keilför-mig oder mit abgerundeter oberer vor-derer Ecke imponieren und so den Ein-druck einer Kyphose im Segment C3/4erwecken. Kompressionsfrakturen aufdiesem Niveau sind extrem selten [36].

Therapie. Kompressionsfrakturen sindmeistens stabile Verletzungen und kön-nen mit einem Kragen behandelt wer-den.Diskoligamentäre Läsionen sind in-stabil und können zu massiven kypho-tischen Fehlstellungen führen. Sie soll-ten primär operativ stabilisiert werden.

Prognose. Das spontane Korrekturpo-tenzial von Kompressionsfrakturen istunklar und deutlich weniger ausgeprägtals an der Brust- und Lendenwirbelsäu-le. Nur der Verlauf zeigt jeweils den Be-darf für spätere Aufrichteeingriffe.

Thorakale und lumbale Verletzungen

Kompressionsfrakturen

Frakturtypen. Verletzungen der Brustwir-belsäule ereignen sich meist als stabileFrakturen auf mittlerem thorakalem Ni-veau und sind viel häufiger als lumbaleFrakturen. Die kraniale Endplatte istdoppelt so häufig involviert wie die kau-dale. An der Brustwirbelsäule ereignensich nicht selten Serienkompressions-frakturen mit durchschnittlich 3 invol-vierten übereinanderstehenden Wirbeln.Berstungsfrakturen sind selten [9,25,30].

Therapie und Prognose. Das Ausmaß derSpontankorrektur von komprimiertenWirbelkörperanteilen hängt im Wesent-lichen vom Wirbelsäulenrestwachstumund der initialen Kompression ab: DieRegenerationskraft zur Korrektur von

posttraumatischen Fehlstellungen istvor allem bei unter 10-Jährigen so aus-geprägt, dass selbst bei über 50% Hö-henminderung mit einer Aufrichtung zurechnen ist [23, 25, 30]. Keilwirbel unter10° können frühfunktionell mit Physio-therapie und 3-monatiger Sportkarenzbehandelt werden (Abb. 2).

Ventrale Keilwirbelbelbildungenvon mehr als 10° sollten mit einem Auf-richtekorsett behandelt werden (Abb. 3):Dieses hat bei Kindern mit einem Ris-serzeichen II oder kleiner nicht die aku-te Wirbelaufrichtung zum Ziel, sonderneine Druckentlastung der Wachstums-zone, um das vordere Wirbelwachstumzu stimulieren. Dementsprechend solltedie Korsettversorgung über ein Jahrfortgeführt werden [25]. Die Kompressi-onsfrakturen im Adoleszentenalter soll-ten wie beim Erwachsenen behandeltwerden. Seitliche Kompressionsfraktu-ren zeigen nur sehr geringe spontaneWiederaufrichtung und führen nichtselten zu eine Skoliose.

Distraktions- undRotationsverletzungen

Diese Verletzungen sind selten und müs-sen wie beim Erwachsenen behandeltwerden.

Therapie. Horizontale Frakturen durchden Wirbelkörper (Chance-Frakturen)können in der Regel mit einem reklinie-renden Gipskorsett reponiert und zurHeilung gebracht werden [5]. Falls dieKyphosierung nicht korrigiert werdenkann und mehr als 20° beträgt, ist mit ei-ner Progression der Fehlstellung zurechnen [7, 28]. Die übrigen Distrakti-onsverletzungen sowie die sehr instabi-len Rotationsverletzungen müssen wiebeim Erwachsenen operativ dekompri-miert und stabilisiert werden (Abb. 4).

Frakturen der Dorn- und Querfortsätze

Isolierte Frakturen von Dorn- oderQuerfortsätzen sind Folge von direktenstumpfen Traumata.Obwohl sie als Frak-turen harmlos sind, können sie mit be-deutenden Begleitverletzungen (Verlet-zungen der Pleura, Nierenläsionen,Beckenfrakturen) einhergehen, welcheausgeschlossen werden müssen [10].

Fazit für die Praxis

Wirbelsäulenverletzungen im Wachstums-alter sind selten, gehen jedoch häufiger alsbeim Erwachsenen mit neurologischenStörungen einher. Diese können ohne kon-ventionell radiologisch fassbare Verletzun-gen vorkommen und müssen mit der MRTabgeklärt werden. Die Problematik derbildgebenden Diagnostik liegt vor allem inder Abgrenzung von Synchondrosen undApophysen gegenüber Frakturlinien. DieVerletzungstypen entsprechen im Prinzipdenjenigen der Erwachsenen, zusätzlichsehen wir Verletzungen der Endplatten(Wachstumsfuge) und der Ringapophysen.Stabile Kompressionsfrakturen werdenkonservativ behandelt. Bei den unter 10-jährigen Kindern ist die Wiederaufrichtungmit dem weiteren Wachstum ausgezeich-net, während Fehlstellungen in der Fron-talebene nur zögerlich oder meist garnicht remodellieren. Instabile Verletzun-gen werden im Prinzip wie beim Erwach-senen operativ behandelt.

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Der Orthopäde 1•2002 | 73

Zum Thema: Krummer Rücken

| Der Orthopäde 1•200274

Zusammenfassung

Die Seltenheit des Krankheitsbildes und oft

uncharakteristische Symptomatik verzögern

vielfach die Diagnostik der Spondylodiszitis

im Kindesalter. Anhand der Verlaufsbeobach-

tungen von 25 mit der Diagnose Spondylo-

diszitis zwischen 1968 und 1988 stationär

behandelten Kindern werden Anamnese,

Klinik, Röntgenbefund und Differentialdia-

gnose dieser Wirbelsäulenerkrankung

dargestellt.

Die Spondylodiszitis tritt als blande

Verlaufsform im Kindesalter auf. Eine tuber-

kulöse Infektion konnte in keinem Fall nach-

gewiesen werden. Die Prognose der Erkran-

kung ist im Kindesalter günstig, sodass ope-

rative Maßnahmen bei den eigenen Patien-

ten nicht erforderlich waren. Die Spondylo-

diszitis heilte jeweils mit einer Ankylose des

betroffenen Segments aus und führte in

keinem Fall zu wesentlichen Funktionsstö-

rungen der Wirbelsäule.

Schlüsselwörter

Spondylodiszitis · Diagnostik · Therapie ·

Spätergebnisse

Im Gegensatz zur Spondylitis im Er-wachsenenalter, deren Häufigkeit in denletzten Jahren zugenommen hat, ist dieSpondylodizitis im Kindesalter eine au-ßerordentlich seltene Erkrankung. Hin-sichtlich Ausprägung und Verlauf unter-scheidet sich die Spondylodiszitis imKindesalter deutlich von der Erkran-kung im Erwachsenenalter. Für beideFormen gleichermaßen zutreffend sindeine oft lange Anamnesedauer und Ver-zögerung in der Diagnostik. Anliegenunserer Untersuchung war es, in einerretrospektiven Studie das klinische Bild,den Verlauf und v. a. die Prognose dieserErkrankung zu erfassen.

Material und Methode

Um eine Aussage über die langfristigenErgebnisse machen zu können, wurdendie zwischen 1968 und 1988 stationär be-handelten Kinder mit einer Spondylo-diszitis nachuntersucht. Es handelte sichdabei um 25 Kinder mit einem Durch-schnittsalter von 6,1 Jahren, darunterwaren 6 Kinder, bei denen die Erkran-kung im 1. Lebensjahr begann. Anhandder Krankenunterlagen wurden Ana-mnesedauer, klinische Symptome, Dia-gnostik und die Therapie ermittelt.20 Patienten konnten klinisch und rönt-genologisch nachuntersucht werden,wobei die Nachuntersuchungzeiträumebis zu 23 (Durchschnitt 10) Jahren reich-ten.

Ergebnisse

Vom Zeitpunkt der ersten Beschwerdenbis zur Diagnosestellung vergingen imDurchschnitt 14 Wochen. Es gab aberauch darunter Verläufe mit extrem lan-ger Anamnese bis zu 60 Wochen.Die Ur-sache der Verzögerung in der Diagno-stik ist v. a. in der uncharakteristischenklinischen Symptomatik und im anfäng-

Zum Thema: Krummer RückenOrthopäde2002 · 31:74-77 © Springer-Verlag 2002

H. Graßhoff · M. Greulich · R. Kayser · K. Mahlfeld · Orthopädische Universitätsklinik Magdeburg

Spondylodiszitis im Kindesalter

Prof. Dr. H. GraßhoffOrthopädische Universitätsklinik,

Leipziger Straße 44, 39120 Magdeburg

Tabelle 1Symptome und klinische Befundebei 25 Patienten mit Spondylo-diszitis

Rückenschmerzen 19 (6 Patienten <1 Jahr alt)

Bauchschmerzen 4

Kopfschmerzen 1 (C2/3 betroffen)

Gangstörung/ 6Gehunfähigkeit

Bewegungs- 22 (3 Patienten einschränkung nur Klopfschmerz)

Abstützbedürfnis 5

Reduzierter 7Allgemeinzustand

Der Orthopäde 1•2002 | 75

H. Graßhoff · M. Greulich · R. KayserK. Mahlfeld

Spondylitis in childhood

Abstract

Spondylitis is a rare disease in childhood and

atypical symptoms frequently retard the

diagnosis. From 1968 to 1988, 25 children

with a diagnosis of spondylitis were treated

in our orthopedic hospital. Anamneses, clini-

cal symptoms, roentgenograms, and differ-

ential diagnoses are described for these

cases. Spondylodiskitis represents a mild

course of the disease in childhood.

Tuberculous spondylitis was not pre-

sent in any of the cases.The prognosis of

childhood spondylitis is favorable, and surgi-

cal interventions were not necessary in our

patients. Spondylitis healed with an anky-

losis of one segment of the spine without

essential disturbance of spinal function.

Keywords

Spondylitis · Diagnosis · Therapy · Results

lich negativen Röntgenbefund zu sehen.Die Symptome und klinischen Befundebei der stationären Aufnahme sind inTabelle 1 zusammengestellt.

Im Vordergrund der Beschwerdenstehen die Rückenschmerzen, die mitAusnahme der Kinder im 1. Lebensjahrbei allen Patienten eruiert werden konn-ten. Häufig treten im Kindesalter auchBauchschmerzen als Leitsymptom auf,sodass die Diagnostik zunächst in einefalsche Richtung gelenkt wird. Beim Be-fall der HWS, wie wir das bei einer Pati-entin beobachten konnten, standen imVordergrund Kopfschmerzen. Sehr häu-fig finden sich bei den Kindern Gangstö-rungen bis hin zur Gehunfähigkeit bzw.bei Säuglingen und Kleinkindern dieSitzunfähigkeit.

Bei der klinischen Untersuchungstand die Bewegungseinschränkung imVordergrund, verbunden mit einemKlopfschmerz. Das klassische Symptom,das Abstützbedürfnis beim Vorbeugenund Wiederaufrichten, konnten wir nurin 5 Fällen feststellen. Bei Kleinkindernwar sehr häufig der stark reduzierte All-gemeinzustand auffällig.

Die Diagnose der Spondylodiszitisim Kindesalter stützt sich neben demklinischen Befund und den Entzün-dungsparametern mit beschleunigterBlutsenkungsreaktion und erhöhtemCRP v. a. auf die radiologische Diagno-stik. In den ersten Jahren standen unsdazu nur Röntgennativaufnahmen und

Orthopäde2002 · 31:74-77 © Springer-Verlag 2002

Tabelle 2Höhenlokalisation der Spondylo-diszitis (Summe n=25; HWS: n=1,BWS: n=9, LWS: n=15)

Lokalisation Anzahl

C2/3 1D3/4 1D7/8 1D8/9 1D10/11 3D11/12 2D12/L1 2L1/2 4L2/3 3L3/4 4L4/5 1L5/S1 2

Tabelle 3Radiologische Befunde bei derNachuntersuchung (n=20)

Befund Anzahl

ZWR-Verschmälerung 12Abschlussplattensklerose 3Defektreste 4Partielle Blockwirbel 4Vollständige Blockwirbel 4Kyphose 4

Abb. 1 � Spondylodiszitis L4/5 bei 2-jährigemMädchen, Verschmälerung des Zwischenwirbel-raums als einziges röntgenologisches Zeichen

die Tomographie zur Verfügung. Erst inden letzten Jahren war dann ein CTmöglich, das in 2 Fällen eingesetzt wur-de. Ein MRT war in diesem Zeitraumnoch nicht verfügbar.

Das typische röntgenologische Zei-chen ist die Verschmälerung des Zwi-schenwirbelraums. Es ist bei kleinenKindern oft sehr diskret ausgebildet undkann auch das einzige radiologische Zei-chen bleiben (Abb. 1). Im Kindesalter istaufgrund der noch vorhandenen Gefäß-versorgung ein isolierter Befall derBandscheibe möglich in Form einer Dis-zitis ohne sekundäres Übergreifen aufdie Wirbelkörper.So haben wir auch nurbei 12 Kindern eine Destruktion der an-grenzenden Wirbelkörper feststellenkönnen. Eine Abszessbildung erscheintaußerordentlich selten, wir haben sienur in einem Fall mittels CT nachweisenkönnen.

Zum Thema: Krummer Rücken

| Der Orthopäde 1•200276

Gerade beim Säugling können dieröntgenologischen Zeichen sehr diskretsein und erfordern eine genaue Analysedes Röntgenbildes. Bei größeren Kin-dern hat uns die Tomographie geholfen,das Ausmaß des Wirbelkörperbefallsfestzustellen.Wesentlich bessere diagno-stische Möglichkeit bietet das MRT, das

eine frühzeitige Erfassung der Spon-dylodiszitis und insbesondere auch dieAusbreitung des Prozesses in den Weich-teilen ermöglicht.

Die von uns behandelten Spondylo-diszitiden waren in allen Abschnittender Wirbelsäule lokalisiert (Tabelle 2).Der Hauptanteil befand sich in der unte-ren Brust- und oberen Lendenwirbel-säule. Es handelte sich ausnahmslos umunspezifische Formen der Spondylodis-zitis, in keinem Fall konnte eine tuber-kulöse oder andere spezifische Genesenachgewiesen werden.

Die Therapie der Spondylodisziti-den im Kindesalter bestand bei allen Pa-tienten in der Verabreichung von Anti-biotika und der Immobilisation. Nur beieinem Kind wurde lediglich eine vor-übergehende Bettruhe durchgeführt.Die Mehrzahl der Kinder wurde imGipsbett gelagert bzw. erhielt primäroder sekundär dann einen Rumpfgips,wobei die Behandlungszeiträume in Ab-hängigkeit vom klinischen und radiolo-gischen Befund sehr unterschiedlich wa-ren. Bei einem Kind mit der zervikalenSpondylodiszitis wurde eine Orthese an-gelegt.

Zum Zeitpunkt der Nachuntersu-chung bestand bei 16 von 20 KindernBeschwerdefreiheit und bei der klini-schen Untersuchung eine freie Beweg-lichkeit der Wirbelsäule; 4 Kinder wie-sen eine Kyphose auf, die mit einer Be-wegungseinschränkung des betroffenenWirbelsäulenabschnittes verbundenwar. Die radiologischen Befunde bei derNachuntersuchung sind der Tabelle 3 zuentnehmen.

In 12 Fällen bestand das Aushei-lungsstadium in einer fibrösen Ankylo-se mit hochgradiger Verschmälerungdes Zwischenwirbelraums, 3 davon hat-ten zusätzlich eine Sklerosierung derAbschlussplatten. Defektreste konntennoch bei 4 Patienten nachgewiesen wer-den. In 4 Fällen kam es zur partiellen(Abb. 2), in weiteren 4 Fällen zur voll-ständigen Blockwirbelbildung (Abb. 3).Bei 4 Patienten ergab sich röntgenolo-gisch eine Ausheilung mit einer leichtenKyphose des betreffenden Wirbelab-schnitts (Abb. 4).

Diskussion

Durch die anfangs uncharakteristischeSymptomatik ist die Diagnostik derSpondylodiszitis im Kindesalter er-

schwert. Die klinische Diagnose stütztsich auf den Rückenschmerz, die Bewe-gungseinschränkung der Wirbelsäuleund den lokalen Klopfschmerz, sowieein reduzierter Allgemeinzustand bishin zur Sitz- bzw. Gehunfähigkeit. Zurradiologischen Früherkennung solltedas MRT herangezogen werden, da esfrühzeitig die Veränderungen der Band-scheibe und das entzündliche Ödem derbenachbarten Wirbelkörper erkennenlässt. In der Röntgennativaufnahme istdie Verschmälerung des Zwischenwir-belraums charakteristisch. Die Destruk-tionen der benachbarten Wirbelkörpersind nur gering ausgeprägt und nicht injedem Fall nachweisbar.

Differentialdiagnostisch müssenbei uncharakteristischem klinischen Be-fund radiologisch v. a. 3 Krankheitsbil-der abgegrenzt werden. Das ist einmalder Morbus Scheuermann, der im lum-balen Bereich als isolierte Form auftre-ten kann und dort ebenfalls mit einerVerschmälerung des Zwischenwirbel-raums und einem Defekt im Bereich derWirbelabschlussplatten einhergeht. DerVerlauf, die fehlenden Entzündungspa-rameter und der typische scharf abge-grenzte Defekt an der Vorderkante desWirbelkörpers mit verlängertem Tiefen-durchmesser des Wirbels erlauben je-

Abb. 2 � Ausheilung einer SpondylodiszitisL2/3 mit partieller Blockwirbelbildung, 5 Jahrenach Erkrankungsbeginn

Abb. 3 � Ausheilung einer SpondylodiszitisL4/5 mit vollständiger Blockwirbelbildung,Patientin von Abb. 1, 23 Jahre nach Erkran-kungsbeginn

Abb. 4 � Ausheilung einer SpondylodiszitisL1/2 mit partieller Blockwirbelbildung undleichter Kyphose, 12 Jahre nach Erkrankungs-beginn

Der Orthopäde 1•2002 | 77

doch die sichere Abgrenzung von einerSpondylodiszitis.

Im Röntgenbild kann in seltenenFällen auch eine fortschreitende ventra-le Verschmelzung der AbschlussplattenAnlass zur Verwechslung mit einerSpondylodiszitis geben. Wir haben dasbei einem Kind beobachtet. Die Ursachedieser Veränderungen ist in einer man-gelnden Differenzierung der Fasern desvorderen Anulusgebiets zu sehen,was zueiner auf mehrere Segmente übergrei-fende partielle Blockwirbelbildung mitzunehmender Kyphose führt (Abb. 5).

Diagnostische Probleme bereitetmanchmal die Abgrenzung einer Lan-gerhans-Granulomatose. Hier findensich im Anfangsstadium auch im Rönt-genbild Veränderungen, die einer Spon-dylodiszitis ähneln, mit Verschmälerungdes Zwischenwirbelraums und keilför-miger Deformierung des Wirbelkörpers.Ein MRT hilft in diesen Fällen weiter, daes die Eingrenzung des Prozesses aufden Wirbelkörper bei intakten Band-

scheiben erkennen lässt (Abb. 6). InZweifelsfällen muss jedoch eine Biopsievorgenommen werden, um die Diagno-se zu sichern, da sich die Therapie beidiesen Erkrankungen grundsätzlich un-terscheidet.

Fazit für die Praxis

Bei der Spondylodiszitis im Kindesalterhandelt es sich in der Regel um unspezifi-sche Formen mit einem blanden Verlauf.Die Behandlung kann daher konservativerfolgen. Nur in Ausnahmefällen ist eineBiopsie zur Diagnosesicherung notwendig.Eine operative Behandlung war bei unse-ren Patienten in keinem Fall indiziert.Die Ausheilung geht mit einer fibrösenoder ossären Ankylose des betroffenenSegments einher. Daraus ergeben sich inder Regel keine funktionellen Einschrän-kungen der Wirbelsäule. Insgesamt unter-streichen die guten klinischen Spätergeb-nisse die günstige Prognose der Spondylo-diszitis im Kindesalter.

Literatur

Literatur beim Verfasser

Abb. 5a,b � Fortschreitende ventrale Verschmelzung der Abschlussplatten mit mehrsegmentalerpartieller Blockwirbelbildung. a Röntgenbild des thorakolumbalen Überganges im Alter von6 Jahren mit ventraler Ossifikation D10–12. b Im Alter von 26 Jahren partielle ventrale Block-wirbelbildung D9–12 mit Kyphosierung

Abb. 6 � MRT eines 4-jährigen Jungen mit Langerhans-Zell-Granulomatose bei L1