Jules Verne Meilen - bilder.buecher.de · Von Jules Verne sind im Deutschen Taschenbuch Verlag...

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  • Jules Verne

    20 000Meilenunter den Meeren

    Roman

    Aus dem Französischen neu übersetzt

    und herausgegeben von Volker Dehs

    Mit sämtlichen Illustrationen

    der französischen Originalausgabe

    Deutscher Taschenbuch Verlag

  • Von Jules Vernesind im Deutschen Taschenbuch Verlag erschienen:

    In 80 Tagen um die Welt (13545)Reise zum Mittelpunkt der Erde (13575 und 13882)

    Von der Erde zum Mond (13643)Reise um den Mond (14140)

    Titel der französischen Originalausgabe:›Vingt Mille Lieues sous les mers‹

    (Paris 1869/71)Der Übersetzung wurde die 1871

    erschienene illustrierte Ausgabe des VerlagsJ. Hetzel & Cie. zugrunde gelegt.

    Ausführliche Informationen über

    unsere Autoren und Bücher

    Wnden Sie auf unserer Website

    www.dtv.de

    Vollständige Ausgabe 20093. Auflage 2013

    Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG,München

    © 2011 Bibliographisches Institut GmbH,Artemis & Winkler Verlag, MannheimUmschlagkonzept: Balk & Brumshagen

    Umschlagbild: ›20 000 Meilen unter dem Meer‹ (1996)von Jonathan Barry (bridgemanart.com)Satz: Günter Jürgensmeier, München

    Druck und Bindung: Druckerei C.H. Beck, NördlingenGedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier

    Printed in Germany · isbn 978-3-423-13795-9

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    ERSTER TEIL

    . KAPITEL

    Eine umherschweifende Klippe

    Das Jahr 1866 stand im Zeichen eines seltsamen Ereignisses,eines unerklärten und unerklärbaren Phänomens, das sicherniemand vergessen haben wird. Sieht man einmal von denGerüchten ab, die die Bewohner der Hafenstädte in Atemhielten und die Ö�entlichkeit bis ins Landesinnere hineinin Unruhe versetzten, waren besonders die Seeleute in hellerAufregung. Kaufleute, Reeder, Schi�skapitäne, Skipper undMaster in Europa und Amerika, O�ziere der Kriegsmarine

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    aller Länder und schließlich die Regierungen der verschie-denen Staaten beider Kontinente nahmen die Vorfälle außer-ordentlich ernst.

    Seit einiger Zeit schon waren mehrere Schi�e auf hoher See»einem gigantischen Etwas« begegnet, einem langen, spindel-förmigen Gegenstand, der bisweilen phosphoreszierte undweitaus größer und schneller war als ein Wal.

    Die Einzelheiten, die im Zusammenhang mit dieser Er-scheinung in den verschiedenen Logbüchern verzeichnetworden waren, stimmten alle recht genau überein hinsicht-lich des Äußeren des betre�enden Gegenstands oder Lebe-wesens, der unerhörten Wendigkeit seiner Bewegungen, dererstaunlichen Geschwindigkeit und der eigentümlichen Artseiner Lebensäußerungen. Wenn es sich um einen Wal han-delte, dann übertraf er an Größe alle Arten, die von der Wis-senscha� bislang klassi�ziert worden waren. Weder Cuviernoch Lacépède, weder Monsieur Dumeril noch Monsieur deQuatrefages* hätten die Existenz eines derartigen Ungeheu-ers anerkannt, – zumindest nicht, ohne es vorher gesehen zuhaben, und zwar mit ihren eigenen Expertenaugen.

    Wenn man die durchschnittliche Größe, die bei den ver-schiedenen Beobachtungen festgestellt worden war, berück-sichtigte – und dabei sowohl allzu behutsame Schätzungenzurückwies, die dem fraglichen Gegenstand eine Länge vonzweihundert Fuß zuschrieben, als auch die Übertreibungen,die ihn für eine Meile breit und drei lang erklärten –, konnteman doch behaupten, dass dieses außerordentliche Lebe-wesen alle von Ichthyologen* bis heute für möglich gehal-tenen Ausmaße bei Weitem übertraf – immer vorausgesetzt,dass es wirklich existierte.

    Und es existierte wirklich, an der Tatsache selbst gab esnichts zu rütteln; bedenkt man die Neigung des mensch-lichen Geistes zum Wunderbaren, wird man sich leichtausmalen können, welche Aufregung diese übernatürlicheErscheinung in aller Welt auslöste. Ins Reich der Fabel ver-weisen ließ sie sich allerdings nicht mehr.

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    So war der Steamer Governor Higginson von der Calcuttaand Burnach Steam Navigation Company dieser sich bewe-genden Masse am 20. Juli 1866 fünf Meilen östlich der austra-lischen Küste begegnet. Zunächst hatte Kapitän Baker ange-nommen, ein unbekanntes Ri� vor sich zu haben; er machtesich schon daran, die genaue Lage zu bestimmen, als das rät-selhafte Objekt zischend zwei Wassersäulen* hundertfünfzigFuß hoch in die Lu� schleuderte. Wenn sich auf dieser KlippenichtdieregelmäßigauftretendeAktivitäteinesGeysirsentlud,hatte es die Governor Higginson tatsächlich mit irgendeinembis dahin unbekannten Meeressäuger zu tun, der aus seinenNüstern Fontänen aus Wasser, Lu� und Dampf ausstieß.

    Ähnliches wurde auch am 23. Juli desselben Jahres im Pa-zi�k beobachtet, und zwar durch die Cristobal Colon vonder West India and Paci�c Steam Navigation Company. Die-ser außergewöhnliche Wal musste sich also mit erstaunlicherGeschwindigkeit von einem Ort zum andern bewegen kön-nen, da ihn die Governor Higginson und die Cristobal Colonin einem Zeitraum von drei Tagen an zwei Orten beobachtethatten, die über siebenhundert See-Lieues voneinander ent-fernt sind.

    Zwei Wochen später meldeten in zweitausend Lieues Ent-fernung voneinander sowohl die Helvetia von der CompagnieNationale als auch die Shannon von der Royal Mail, die denAtlantik zwischen den Vereinigten Staaten und Europa inentgegengesetzter Richtung überquerten, das Ungeheuerauf 42° 15ʹ nördlicher Breite und 60° 35ʹ westlicher Längevom Greenwich-Nullmeridian. Bei dieser fast gleichzeitigerfolgten Beobachtung meinte man die Mindestlänge desSäugetiers auf mehr als dreihundertfünfzig englische Fuß1schätzen zu können, da die Shannon und die Helvetia vongeringerer Größe waren, obwohl sie vom Vorder- bis zumAchtersteven immerhin hundert Meter maßen. Die größtenWale, die in den Gewässern der Aleuten vorkommen, Ku-

    Ungefähr m. Der englische Fuß misst nur , cm.

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    lammak und Umgullick*, haben jedoch niemals eine Längevon sechsundfünfzig Meter übertro�en – sofern sie sie über-haupt erreichten.

    Diese Schlag auf Schlag eintre�enden Berichte, neuerlicheBeobachtungen an Bord des Transatlantikschi�s Pereire, einZusammenstoß der Etna von der Inman-Linie mit dem Un-geheuer, ein Protokoll, das von den O�zieren der franzö-sischen Fregatte La Normandie angefertigt wurde, und dersehr sorgfältige Bericht über eine Sichtung durch die O�-ziere des Kommodore Fitz-James an Bord der Lord Clyde er-regten in der Ö�entlichkeit großes Aufsehen. In den Ländernvon leichter Lebensart machte man sich über die Erschei-nung lustig, aber die ernst und praktisch veranlagten Natio-nen wie England, Amerika und Deutschland setzten sich ein-gehend mit ihr auseinander.

    In allen Metropolen wurde das Ungeheuer zum Tagesge-spräch; man besang es in den Ka�eehäusern, verspottete es inden Zeitungen und brachte es in den Theatern auf die Bühne.Zeitungsenten bekamen eine vortre�liche Gelegenheit, Eierjeglicher Couleur zu legen. In den Tageszeitungen sah manaus Mangel an Beiträgen alle riesigen Fabelwesen wieder zumVorschein kommen, vom weißen Wal, dem fürchterlichen»Moby Dick«* aus dem Nordmeer, bis zum gigantischenKraken, dessen Tentakeln ein Schi� von fünfhundert Ton-nen umschlingen und in den Abgrund des Ozeans hinabzie-hen können. Man druckte sogar die Aufzeichnungen aus derAntike nach, die Ansichten von Aristoteles und Plinius*, diesich für die Existenz solcher Ungeheuer ausgesprochen hat-ten, sodann die norwegischen Berichte von Bischof Pontop-pidan und die Beschreibungen Paul Heggedes*, schließlichdie Beobachtungen von Herrn Harrington, dessen Glaub-würdigkeit außer Frage stand, wenn er behauptete, 1857 vonBord der Castillan aus jene Riesenschlange gesehen zu ha-ben, die sich bis dahin allenfalls in den Buchstabenmeerendes alten Constitutionnel* herumgetrieben hatte.

    So entbrannte in den wissenscha�lichen Gesellschaften

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    und Fachzeitschriften eine nicht enden wollende Polemikzwischen den Leichtgläubigen und den Skeptikern. Die»Monsterfrage« erhitzte die Gemüter. Die Journalisten, diefür wissenscha�lich gelten wollten und im Wettstreit mit je-nen lagen, die vor allem geistreich zu sein suchten, ließenwährend dieses denkwürdigen Feldzugs wahre Tinten�uten�ießen; einige unter ihnen sogar den einen oder anderenTropfen Blut, denn in puncto große Seeschlange wurde manschnell auf beleidigendste Art persönlich.

    Sechs Monate lang wurde dieser Krieg mit wechseln-dem Erfolg geführt. Auf die gründlichen Artikel des Geo-gra�schen Instituts von Brasilien, der Königlichen Akade-mie der Wissenschaften zu Berlin, der British Association,der Smithsonian Institution in Washington, auf die Erör-terungen von The Indian Archipelago, im Cosmos des AbbéMoigno und in Petermanns Mittheilungen*, auf die wissen-scha�lichen Berichte in den großen französischen und aus-ländischen Tageszeitungen antworteten die kleineren Blättermit nicht versiegen wollendem Witz. Ihre geistreichen Auto-ren parodierten einen Ausspruch Linnés, der von den Geg-nern des Ungeheuers zitiert worden war, versicherten, »dassdie Natur keine Fehltritte macht«*, und beschworen ihre Zeit-genossen, die Natur nur ja nicht Lügen zu strafen, indem siedie Existenz all der Kraken, Seeschlangen, »Moby Dicks« undanderer Ausgeburten halluzinierender Seemannshirne aner-kannten. Schließlich setzte der populärste Redakteur einerweithin gefürchteten Satirezeitung in einem Artikel gleichHippolyt* zum Todesstoß an und erledigte das Ungeheuerunter allgemeinem Gelächter. Der Witz hatte über die Wis-senscha� triumphiert.

    In den ersten Monaten des Jahres 1867 schien die Debattebeigelegt und kaum mehr neu entfacht werden zu können,als plötzlich neue Informationen an die Ö�entlichkeit ge-langten. Nun handelte es sich nicht mehr um ein wissen-scha�liches Rätsel, das seiner Lösung harrte, sondern umeine ganz handfeste Bedrohung, der es aus dem Weg zu ge-

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    hen galt. Die Angelegenheit nahm eine neue Wendung. DasUngeheuer wurde wieder zu einem Inselchen, einer Klippe,einem Ri�, aber zu einem umherschweifenden, unberechen-baren, nicht greifbaren Ri�.

    In der Nacht des 5. März 1867 befand sich die Moravianvon der Montreal Ocean Company auf 27° 30ʹ nördlicherBreite und 72° 15ʹ westlicher Länge und stieß mit ihrer Steu-erbordseite auf einen Felsen, der in diesen Gewässern aufkeiner Karte verzeichnet war. Mit der kombinierten Kra� desWindes und ihrer vierhundert Pferdestärken fuhr sie mit ei-ner Geschwindigkeit von dreizehn Knoten. Es konnte keinZweifel daran bestehen, dass die Moravian ohne die über-legene Bescha�enheit ihres Rumpfs durch den Aufprall auf-gerissen und mitsamt allen zweihundertsiebenunddreißigPassagieren, die sie nach Kanada beförderte, in die Tiefe ge-rissen worden wäre.

    Der Vorfall hatte sich bei Tagesanbruch gegen fünf Uhrmorgens ereignet. Die diensthabenden O�ziere stürztenzum Heck des Schi�es und beobachteten den Ozean mitpeinlicher Sorgfalt. Sie sahen jedoch nichts als das aufge-wühlte Kielwasser, das auf einer Länge von drei Kabellängenschäumte, als ob die Wassermassen durch irgendetwas kräf-tig aufgewühlt worden wären. Der Ort des Vorfalls wurde ge-nauestens bestimmt, und die Moravian setzte ihre Reise ohneerkennbare Schäden fort. Hatte sie einen unterseeischen Fel-sen oder ein riesiges Wrack gerammt? Das war nicht zu klä-ren; aber eine später vorgenommene Untersuchung ihresRumpfs im Trockendock ergab, dass der Kiel an einer Stellegebrochen war.

    Dieser eigentlich ausgesprochen schwerwiegende Vorfallwäre wahrscheinlich wie so viele andere in Vergessenheitgeraten, wenn er sich nicht drei Wochen später unter ganzähnlichen Umständen wiederholt hätte. Aufgrund der Natio-nalität des Schi�es, das Opfer dieses neuerlichen Zusammen-stoßes wurde, und des Ansehens der Reederei, der es gehörte,erregte das Ereignis allerdings enormes Aufsehen.

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    Jedermann ist wohl der Name des berühmten englischenReeders Cunard* ein Begri�. Dieser weitblickende Unter-nehmer hatte 1840 den Postverkehr zwischen Liverpool undHalifax mit drei hölzernen Schaufelraddampfern begründet,die über eine Leistung von vierhundert Pferdestärken undeine Tonnage von elfhundertzweiundsechzig Tonnen ver-fügten. Acht Jahre später war die Flotte der Gesellscha� umvier Schi�e von sechshundertfünfzig Pferdestärken und acht-zehnhundertzwanzig Tonnen angewachsen, zwei Jahre dar-auf um zwei weitere Schi�e mit noch höherer Leistung undTonnage. 1853, kurz nach der Erneuerung der Konzessionzur Beförderung von Depeschen, fügte die Cunard-Linie ih-rem Bestand nacheinander die Arabia, Persia, China, Scotia,Java und die Russia hinzu – allesamt die leistungsstärkstenund größten Schi�e, die nach der Great Eastern* jemals dasMeer durchp�ügt haben. 1867 besaß die Gesellscha� also ins-gesamt zwölf Schi�e, darunter acht mit Schaufelrädern undvier Schraubendampfer.

    Wenn ich hier gedrängt all diese Einzelheiten aufführe,dann nur um für jeden nachvollziehbar zu machen, um welcheine bedeutende Seeverkehrsgesellscha� es sich handelt, diein der ganzen Welt für ihre umsichtige Geschä�sführung be-kannt ist. Kein transatlantisches Schi�fahrtsunternehmenwurde geschickter geleitet, keines von vergleichbarem Erfolggekrönt. In sechsundzwanzig Jahren hatten die Schi�e derCunard-Linie den Atlantik zweitausendmal überquert undniemals war eine Reise gescheitert, niemals war es zu einerVerspätung gekommen, niemals war der Verlust eines Briefs,Menschen oder Schi�s zu beklagen gewesen. Deshalb gebendie Passagiere trotz starker französischer Konkurrenz derCunard-Linie vor allen anderen den Vorzug, wie aus einerauf amtliche Dokumente gestützten Statistik für die letztenJahre hervorgeht. Und aus diesem Grund wird sich niemandüber das große Aufsehen wundern, das der Unfall hervorrief,der einem ihrer schönsten Steamer zustieß.

    Am 13. April 1867 befand sich die Scotia bei ruhiger See

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    und günstigem Wind auf 15° 12ʹ westlicher Länge und 45° 37ʹnördlicher Breite. Unter dem Schub ihrer eintausend Pferde-stärken kam sie mit 13,43 Knoten voran und ihre Schaufel-räder durchp�ügten mit vollkommener Regelmäßigkeit dasMeer. Ihr Tiefgang betrug sechs Meter siebzig, die Wasser-verdrängung sechstausendsechshundertvierundzwanzig Ku-bikmeter.

    Nachmittags um vier Uhr siebzehn, als die Passagiere zumLunch im großen Salon versammelt waren, kam es zu einemkaum wahrnehmbaren Stoß am Schi�srumpf – an der Flankeund ein wenig hinter dem Backbordrad.

    Die Scotia war nicht aufgelaufen, sie war gerammt wor-den, und zwar von einem Objekt, das eher schneidend undbohrend als stumpf gewesen war. Die Kollision schien aberso leicht gewesen zu sein, dass sich niemand an Bord des-wegen Sorgen gemacht hätte, wären nicht die Schi�sraum-arbeiter* mit lautem Geschrei aufs Deck hochgestürmt undhätten gerufen:

    »Wir sinken! Wir sinken!«Zunächst waren die Passagiere aufs Äußerste entsetzt, aber

    Kapitän Anderson* beeilte sich, sie zu beruhigen. Tatsächlichbestand keine unmittelbare Gefahr. Da die Scotia durch was-serdichte Schotte in sieben Kammern unterteilt war, konntesie einen Wassereinbruch ungefährdet überstehen.

    Auf der Stelle begab sich Kapitän Anderson in den Schi�s-raum. Er stellte fest, dass Wasser in die fünfte Kammer ein-gedrungen war, und die Geschwindigkeit, mit der dies ge-schehen war, zeigte, dass das Leck beträchtlich sein musste.Glücklicherweise befanden sich in dieser Kammer nicht dieDampfkessel, sonst wären die Feuer darunter sofort erlo-schen.

    Kapitän Anderson ließ sogleich die Maschine stoppen,und ein Matrose tauchte ins Wasser hinab, um den Schadenzu untersuchen. Kurz darauf stellte er fest, dass ein zwei Me-ter breites Loch im Rumpf des Steamers kla�te. Ein so großesLeck konnte nicht ausgebessert werden, und so musste die

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    Scotia ihre Fahrt mit bis zur Hälfte ins Wasser getauchtenSchaufelrädern fortsetzen. Zu dem Zeitpunkt befand sie sichdreihundert Meilen von Kap Clear entfernt, und mit drei-tägiger Verspätung, die in Liverpool Anlass zu großer Be-sorgnis gab, legte sie am Kai der Reederei ein.

    Ingenieure machten sich nun sofort an die Inspektion deraufs Trockendock gelegten Scotia. Sie wollten ihren Augennicht trauen: Zweieinhalb Meter unterhalb der Wasserlinieentdeckten sie einen scharf umrissenen Einschnitt in Formeines gleichschenkligen Dreiecks. Die Schnitt�ächen im Stahlwaren so glatt, dass sie selbst mit einer Lochstanze nicht sau-berer hätten ausgeführt werden können. Das Werkzeug, mitdem das Loch hineingebohrt worden war, musste demnachvon außerordentlicher Härte gewesen sein – und nachdem esmit ungeheurer Kra� herangeschossen und durch den vierZentimeter dicken Stahl gedrungen war, hatte es sich darü-ber hinaus auf ganz unerklärbare Weise auch wieder selbstherausziehen müssen.

    Dies war also das neueste Ereignis, das die Ö�entlichkeitsogleich wieder in helle Aufrgegung versetzte. Von diesemZeitpunkt an wurden alle Schi�sunglücke ohne eindeutiggeklärte Ursache dem Ungeheuer in die Schuhe geschoben.Dem sagenhaften Geschöpf kreidete man alle Schi�brüchean, und deren Zahl ist ja bedauerlicherweise beträchtlich;denn bei dreitausend Schi�en, deren Verlust Jahr für Jahrvom Bureau Véritas* verzeichnet wird, beläu� sich die Zahlder Dampf- oder Segelschi�e, die mit Mann und Maus alsverschollen gelten, weil man nie wieder etwas von ihnen ge-hört hat, auf nicht weniger als zweihundert!

    Ob zu Recht oder zu Unrecht, für ihr Verschwinden wurdedas »Monstrum« verantwortlich gemacht und da seinetwegender Verkehr zwischen den Kontinenten immer gefährlichergeworden war, meldete sich die Ö�entlichkeit zu Wort undverlangte nachdrücklich, die Meere um jeden Preis von die-sem furchtbaren Wal zu befreien.

  • Ingenieure machten sich sofort an die Inspektion der Scotia

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    . KAPITEL

    Das Für und Wider

    Zu der Zeit, als sich diese Ereignisse zutrugen, kam ich ge-rade von einer Forschungsreise in den Vereinigten Staatendurch die Badlands von Nebraska* zurück. In meiner Eigen-scha� als Assistenzprofessor am Pariser Museum für Natur-geschichte war ich dieser Expedition von der französischerRegierung zugeteilt worden. Nach sechs Monaten in Ne-braska erreichte ich mit wertvollen Funden im Gepäck ge-gen Ende März New York. Meine Abreise nach Frankreichwar auf die ersten Maitage festgelegt worden, und bis dahinbrachte ich die Zeit damit zu, meine mineralogischen, bota-nischen und zoologischen Schätze zu klassi�zieren, als sichder Zwischenfall mit der Scotia ereignete.

    Über die große Frage, die das Tagesgespräch beherrschte,war ich voll und ganz auf dem Laufenden – und wie hätte esauch anders sein können? Ich hatte alle amerikanischen undeuropäischen Zeitungen immer und immer wieder gelesen,ohne mir jedoch einen Reim darauf machen zu können. DasGeheimnisvolle ließ mir keine Ruhe. Unfähig, mir eine ein-deutige Meinung zu bilden, �el ich von einem Extrem ins an-dere. Dass irgendetwas an der Sache war, daran bestand keinZweifel, und die Ungläubigen waren aufgerufen, ihren Fingerin die Wunde der Scotia zu legen.

    Bei meiner Ankun� in New York schlugen die Wellen derAufregung hoch. Die Hypothese von einer schwimmendenInsel, einem driftenden Ri�, die von einigen nur wenig sach-kundigen Geistern vertreten wurde, war inzwischen voll-ständig verworfen worden. In der Tat, keine Klippe hätte sichmit derart außergewöhnlicher Geschwindigkeit fortbewe-gen können, außer sie hätte in ihrem Innern irgendeine Ma-schine gehabt.*

    Desgleichen wurde die Annahme eines treibenden Schi�s-rumpfs, eines riesigen Wracks aufgegeben, und zwar eben-falls wegen der Schnelligkeit seiner Fortbewegung.

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    Blieben nur noch zwei mögliche Lösungen übrig, die ihreAnhänger in zwei unversöhnliche Lager aufspalteten: Aufder einen Seite diejenigen, die an ein Ungeheuer von außer-ordentlicher Kra� glaubten; auf der anderen die Befürwortereines »Unterseeboots«, das von einem äußerst leistungsfähi-gen Motor angetrieben wurde.

    Diese letzte Hypothese, die an sich ja durchaus zulässigsein mochte, konnte allerdings durch die Nachforschungen,die in beiden Weltteilen angestellt wurden, nicht bestätigtwerden. Dass ein einfacher Privatmann über eine solche Ma-schine verfügte, war wenig wahrscheinlich. Wo und wannhätte sie erbaut werden sollen, und wie hätte man ihre Kon-struktion geheim halten können?

    Einzig eine Regierung hätte sich im Besitz eines solchenZerstörungsapparats be�nden können, und in unserer unse-ligen Zeit, in der der Mensch alle Mühe darauf verwendet,immer leistungsfähigere Kriegsmaschinen zu entwickeln,war es durchaus möglich, dass ein Staat ohne Wissen der an-deren einen so fürchterlichen Apparat erprobte. Nach denChassepots die Torpedos, nach den Torpedos die Unterwas-serrammen*, daraufhin – ein neues Gegenmittel. So ho�e ichzumindest.

    Aber auch die Hypothese einer Kriegsmaschine musstenach den Erklärungen der Regierungen fallen gelassen wer-den. Da es hier um das Gemeinwohl ging und der Übersee-verkehr in Mitleidenscha� gezogen wurde, konnte man ander Aufrichtigkeit der Regierungen nicht zweifeln. Und wiehätte man auch annehmen können, dass der Bau eines derar-tigen Unterseeboots den Augen der Ö�entlichkeit entgangenwäre? Unter diesen Umständen ein Geheimnis zu wahren,wäre schon für einen Einzelnen äußerst schwierig gewesen,ganz unmöglich jedoch für einen Staat, dessen gesamte Ak-tivitäten unter der beständigen Überwachung der rivali-sierenden Mächte stehen.

    Nachdem man also eingehende Erkundigungen in Eng-land, Frankreich, Russland, Preußen, Spanien, Italien, Ame-

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    rika und sogar in der Türkei eingeholt hatte, wurde dieHypothese von einem unterseeischen Monitor* endgültig ver-worfen.

    Somit gewann das Seeungeheuer wieder Oberwasser, trotzdes unaufhörlichen Spotts, mit dem es von der Klatschpressebedacht wurde, und bald schon gab man sich auf ichthyolo-gischem Gebiet den absurdesten Fantastereien hin.

    Bei meiner Ankun� in New York hatten mir mehrere Per-sonen die Ehre erwiesen, mich wegen dieser Erscheinungum meine Meinung zu bitten. In Frankreich hatte ich einzweibändiges Werk im Quartformat mit dem Titel Die Ge-heimnisse der Tiefsee verö�entlicht, und dieses Werk, das vorallem von der Fachwelt sehr geschätzt wurde, hatte mir denRuf eines Spezialisten für dieses noch ziemlich unbekannteGebiet der Naturkunde eingetragen. Ich wurde um Stellung-nahme gebeten. Solange ich die Realität des Faktums in Ab-rede stellen konnte, verschanzte ich mich dahinter, es gänz-lich in Frage zu stellen. Aber als ich schon bald mit demRücken zur Wand stand, war ich genötigt, Farbe zu beken-nen. Schließlich wurde »der ehrenwerte Pierre Aronnax*,Professor am Pariser Museum« sogar ö�entlich vom NewYork Herald aufgefordert, irgendeine Auffassung zu äußern.

    So schickte ich mich darein. Da ich nicht mehr weiterschweigen konnte, äußerte ich mich also. Ich erörterte dieFrage unter allen Gesichtspunkten, sowohl politischer alsauch wissenscha�licher Art, und im Folgenden gebe ich ei-nen Auszug aus dem ausführlichen Artikel wieder, den ich inder Ausgabe vom 30. April verö�entlichte:

    »Nachdem ich also«, schrieb ich, »die verschiedenen Hy-pothesen eine nach der anderen erörtert habe, muss ich nachAusschluss aller anderen notwendigerweise jener den Vor-rang einräumen, die die Existenz eines Meerestieres von au-ßerordentlicher Kra� annimmt.

    Die Tiefen der Ozeane sind uns völlig unbekannt. KeineSonde hat sie bisher erreichen können. Was geht in den ent-legenen Abgründen vor sich? Welche Wesen leben in zwölf

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    oder fünfzehn Meilen unter dem Meeresspiegel* und wiekönnen sie dort überhaupt überleben? Wie sind diese Lebe-wesen bescha�en? Man vermag kaum Mutmaßungen darü-ber anzustellen.

    Die Lösung der Frage, die man mir unterbreitet hat, läu�also auf ein Dilemma hinaus.

    Entweder sind uns alle Lebensformen, die unseren Pla-neten bevölkern, bekannt – oder nicht.

    Wenn wir nicht alle kennen, wenn die Natur in der Ich-thyologie noch Geheimnisse bereithält, dann scheint nichtsnäher zu liegen, als die Existenz von Fischen oder Walen ei-ner neuen Art oder sogar Gattung in Betracht zu ziehen, dievon einer jenen Tiefen, die keine Sonde erreichen kann, voll-kommen angepassten Bescha�enheit sind und die irgendeinAnlass, eine Laune, eine plötzliche Anwandlung, wenn manso will, in großen Zeitabständen in die oberen Schichten desOzeans treibt.

    Sollten wir dagegen alle lebenden Arten kennen, dannmüssen wir das besagte Geschöpf zwangsläu�g unter den be-reits erfassten Meereslebewesen suchen, und in diesem Fallwäre ich geneigt, von der Existenz eines Riesennarwals aus-zugehen.

    Der gemeine Narwal, auch See-Einhorn genannt, erreichto� eine Länge von sechzig Fuß. Verfünffachen, ja, verzehnfa-chen Sie diese Ausmaße, statten Sie den Wal mit einer Kra�aus, die dieser Größe entspricht, und verstärken Sie im sel-ben Maß seine Angri�swa�en, dann erhalten Sie ein ent-sprechend mächtiges Tier. Es hätte die Proportionen, die dieO�ziere der Shannon festgestellt haben, verfügte über dasInstrument, das zum Durchstoßen der Scotia erforderlich ist,und über die notwendige Kra�, um den Rumpf eines Damp-fers zu beschädigen.

    In der Tat ist der Narwal mit einer Art Speer aus Elfenbeinausgestattet, einer Hellebarde, wie ihn einige Naturforschernennen. Dabei handelt es sich um einen Stoßzahn, der dieHärte von Stahl aufweist. Man hat einige dieser Zähne in den

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    Körpern von Walen entdeckt, die der Narwal immer wiedererfolgreich angrei�. Andere wiederum wurden mit großerMühe aus den Rümpfen von Segelschi�en entfernt, die siedurchstoßen hatten wie ein Bohrer eine Fasswand. Das Mu-seum der medizinischen Fakultät von Paris besitzt einen sol-chen Stoßzahn, der zwei Meter und fünfundzwanzig Zenti-meter lang ist und an seiner Basis einen Durchmesser vonachtundvierzig Zentimeter aufweist!

    Stellen Sie sich nun eine zehnmal größere Wa�e vor, ge-führt von einem zehnmal so starken Tier, das mit einer Ge-schwindigkeit von zwanzig Meilen in der Stunde durch dasWasser schießt, multiplizieren Sie seine Masse mit seinerSchnelligkeit und Sie erhalten einen Stoß, der ausreicht, diebesagte Katastrophe zu verursachen.

    Solange wir also nicht über mehr Informationen verfügen,plädiere ich also für ein riesengroßes See-Einhorn, das nichtmehr nur mit einer Hellebarde bewa�net ist, sondern miteinem wahren Rammsporn wie Panzerfregatten oder Kriegs-rammen, denen es auch an Masse und an Bewegungskra�gleichkommt.

    Auf diese Weise ließe sich also für das unerklärliche Phä-nomen eine Erklärung finden, es sei denn, es handelte sicham Ende doch um nichts – trotz allem, was man gesehen,wahrgenommen und erlitten hat –, was immerhin auch mög-lich wäre!«

    Die letzten Worte waren auf meine Feigheit zurückzufüh-ren; aber bis zu einem gewissen Punkt wollte ich meine Pro-fessorenwürde wahren und mich nicht allzu leichtfertig demSpott der Amerikaner aussetzen, die, wenn sie erst einmal la-chen, dies ausgiebig tun. So hielt ich mir ein Hintertürcheno�en. Im Grunde hatte ich die Existenz des »Ungeheuers« jaeingeräumt.

    Mein Artikel wurde heiß diskutiert, was ihm natürlichgroße Beachtung verscha�te. Er fand eine Menge Befürwor-ter. Die Schlussfolgerung, die er nahe legte, ließ der Einbil-dungskra� ja auch einen großen Spielraum. Die menschliche

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    Fantasie gefällt sich in großartigen Entwürfen übernatür-licher Lebewesen, und das Meer bietet ihr dazu das beste Me-dium, als die einzige Region, in der derartige Riesen gedei-hen und sich entfalten können – Giganten, gegenüber denensich Landtiere wie Elefant und Rhinozeros nur wie Zwergeausnehmen. Im Wasser leben die größten der bekanntenSäugetierarten, und vielleicht bergen sie auch Weichtiere vonunvergleichlicher Körpergröße, entsetzlich anzuschauendeKrustentiere wie hundert Meter lange Hummer oder Krab-ben, die zweihundert Tonnen wiegen! Weshalb auch nicht?Früher, in der Urzeit, erreichten die Landlebewesen, die Vier-beiner, Vierhänder, Reptilien und Vögel gigantische Aus-maße. Der Schöpfer hatte sie mithilfe riesiger Gussformenangefertigt, die erst mit der Zeit immer kleiner wurden.Warum sollten sich in den unerforschten Tiefen des Meeresnicht solche riesigen Exemplare aus einem früheren Zeitaltererhalten haben, in diesem Meer, das ewig unverändert bleibt,während der Erdkern einem fast unablässigen Wandel un-terworfen ist? Weshalb sollte es in seinem Schoß nicht denletzten Angehörigen dieser Riesenarten Schutz gewähren, fürdie Jahrhunderte nur Jahre sind und Jahrtausende Jahrhun-derte?

    Aber ich lasse mich zu Träumereien hinreißen, die zu träu-men mir nicht mehr erlaubt sind! Genug der Hirngespinste,die die Zeit für mich zu schrecklicher Wirklichkeit hat wer-den lassen.* Ich wiederhole, damals stand man im Begri�,sich eine Meinung über die Ursache jener Erscheinung zubilden, und das Publikum erkannte die Existenz eines gewal-tigen Tieres an, das jedoch nichts mit den Seeschlangen derFabelwelt zu tun hatte.

    Während aber die einen darin nur ein wissenscha�lichesProblem sahen, das es zu erforschen galt, ging es den prak-tisch Veranlagten insbesondere in Amerika und Englandvornehmlich darum, die Meere von diesem fürchterlichenUngeheuer zu säubern, um den Überseeverkehr zu sichern.Dies war der Hauptgesichtspunkt, unter dem die Frage von