Julia Kristeva, 2006 Hannah-Arendt-Preise für politisches Denken

24
Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken e.V. Heinrich-Böll-Stiftung Berlin/Bremen Der Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken ging im Jahr 2006 an die 1941 in Bulgarien geborene französische Psycho- anlytikerin, Philosophin und Schriftstellerin Julia Kristeva. In ihrer Begründung wür- digte die Jury Frau Kristevas Fähigkeit, über die Grenzen der akademischen Disziplinen hin- auszudenken. Julia Kristeva, so die Jury, habe dabei auch die Grenzen zwischen Psycho- analyse und politischem Denken durchlässig gemacht. Damit hat sie ein Verständnis von Politik entwickelt, dass das »dichterische Denken« auch für die politische Vorstellungs- welt unserer Zeit hervorhebt und würdigt. Dabei greift sie den Ansatz Hannah Arendts auf, im Angesicht des Traditions- bruchs der Moderne eine Erneuerung des öffentlichen Denkens zu wagen. Festschrift zur Verleihung des Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken 2006 an Julia Kristeva

Transcript of Julia Kristeva, 2006 Hannah-Arendt-Preise für politisches Denken

Hannah-Arendt-Preis

für politisches Denken e.V.

Heinrich-Böll-Stiftung

Berlin/Bremen

Der Hannah-Arendt-Preis für

politisches Denken ging im Jahr

2006 an die 1941 in Bulgarien

geborene französische Psycho-

anlytikerin, Philosophin und

Schriftstellerin Julia Kristeva.

In ihrer Begründung wür-

digte die Jury Frau Kristevas

Fähigkeit, über die Grenzen der

akademischen Disziplinen hin-

auszudenken. Julia Kristeva,

so die Jury, habe dabei auch

die Grenzen zwischen Psycho-

analyse und politischem Denken

durchlässig gemacht. Damit

hat sie ein Verständnis von

Politik entwickelt, dass das

»dichterische Denken« auch

für die politische Vorstellungs-

welt unserer Zeit hervorhebt

und würdigt. Dabei greift sie

den Ansatz Hannah Arendts

auf, im Angesicht des Traditions-

bruchs der Moderne eine

Erneuerung des öffentlichen

Denkens zu wagen.

Festschrift zur Verleihungdes Hannah-Arendt-Preises für

politisches Denken 2006 an

Julia Kristeva

Kom

mun

e2/

2007

II

Zoltan Szankay

Macht und EreignisDer besondere arendtsche Akzent dieser Preisverleihung

Lassen Sie mich mit einer kleinen Geschichte beginnen. UnsereNamensgeberin erzählt sie in ihrer Schrift Die ungarische

Revolution und der totalitäre Imperialismus vom Jahre 1958. Siekönnte uns, hörten wir ihr gut genug zu, in das Zentrum der Sacheeinstimmen, um die es bei dieser Preisverleihung in einer beson-deren Weise geht.

Ein erster Hinweis auf diese Sache könnte die Frage sein: Wel-che Betonung, welche Herausstellung der arendtschen Zugängezum Sinn des Politischen, zum Offenkundigen und Verborgenenunserer politischen Geschichte wäre, in diesem Arendt-Jahr 2007,die wohl dringlichste? Die dringlichste in Hinblick auf jene, unsalle betreffende Konstellation unserer Zeit, in der die Krise desPolitischen, nicht nur in diesem Lande und nicht nur auf unseremKontinent, sowohl offenkundig ist als auch – in den verschiedens-ten parteipolitischen, politikwissenschaftlichen, globalisierendenund antiglobalisierenden Diskursen – verdeckt wird. Und verdecktauch, muss man leider sagen, von vielen Diskursen und Vorspiege-lungen im Namen der moralisch vorgetragenen »Menschenrechte«.

In der fraglichen, von Arendt erzählten Geschichte geht es umein fast unscheinbares und doch weithin leuchtendes Ereignis. Esmag vor vielen Jahren und in einer anderen politischen Welt vor-gefallen sein, doch sein Sinn ist gegenwärtig und geht uns heutenoch genauso an. Es geschieht bei einer Dichterlesung in Moskauder Fünfzigerjahre, in denen sich erste Haarrisse in der noch in-takten stalinistischen Macht zu zeigen begannen. Boris Paster-nak sollte aus seinen Gedichten vorlesen. Jener Boris Pasternak,den die meisten außerhalb Russlands nur als den Romanautorvon Doktor Schiwago kennen, wobei er vor allen Dingen jenerDichter war, der den poetischen Einbruch in die russische Weltdes 20. Jahrhunderts, der von den tragischen und schon fast my-thischen Gestalten von Anna Achmatova und Marina Zwetajewaangeführt wurde, auch weiterhin erfahrbar machte.

»Pasternak«, erzählt Arendt – ich zitiere –, »hatte da einenVorleseabend angekündigt, zu dem sich eine ungeheure Men-schenmenge eingefunden hatte, wiewohl doch sein Name nachall den Jahren des Schweigens nur noch als Übersetzer vonShakespeare und Goethe bekannt war. Er las aus seinen Gedich-ten und es geschah, dass ihm beim Lesen eines alten Gedichtsdas Blatt aus der Hand glitt. … Da begann eine Stimme im Saalaus dem Gedächtnis weiterzusprechen. Von mehreren Ecken desSaales stiegen andere Stimmen auf, und im Chor endete die Rezi-tation des unterbrochenen Gedichts.«

Wir kommen nun dem weiterwirkenden Sinn dieser »Moskau-er Geschichte« Arendts näher, wenn wir versuchen, den Kontext

zu verorten, in dem sie sie erzählt. Wie schon erwähnt erzähltuns Arendt dieses Ereignis im Rahmen ihrer Schrift über ein an-deres politisch und geschichtlich gewiss gewichtigeres Ereignis:das jener Ungarischen Revolution von 1956, in der, in einer unge-planten und davor unvorstellbaren Weise, die Furcht erregendeMacht eines totalitären Staatsapparates, seine Befehls- und Waf-fengewalt, in wenigen Tagen oder gar Stunden zusammenbrach.Weniger durch die Aktionen gar nicht sehr zahlreicher aktiverKämpfer, als durch eine Veränderung des »Aggregatszustandes«des sich versammelnden und sich plötzlich artikulierenden Vol-kes. Für Arendt war dies ein Schlüsselereignis innerhalb unserer,von der Macht des Totalitären und von den Einbrüchen des Politi-schen überschatteten neueren Geschichte.

Gerade in Bezug auf den bei dieser Preisverleihung an JuliaKristeva besonders hervorzuhebenden arendtschen Zugang

zu unserer politischen Geschichtlichkeit sollten wir an diesemPunkt wahrnehmen: Viel zu oft – und fatal einseitig – wird dasarendtsche Œuvre im Wesentlichen mit Beschreibungen undAnalysen der »voranschreitenden«, »erfolgreichen« und ständig»drohenden« totalitären Prozesse und Mächte verbunden.

In dieser – wohl symptomatischen – Fokussierung verschwin-det genau das, was dem arendtschen Werk seine epochale Be-deutsamkeit verleiht. Das nämlich, was weit über die – generellliberal inspirierten – Totalitarismustheorien hinausgeht und auchnicht mit den – oft mit arendtschen Hinweisen vorgetragenen –Diskursen aufgeht, für die die »Zivilgesellschaft« eine in die ra-tionale und moralische Moderne endlich »angekommene« Gesell-schaft ist. Was in ihr verschwindet, ist die arendtsche Aufmerk-samkeit für die plötzlich eintretende Ohnmacht dieser und wohlaller wesentlich gewaltgestützten Machtformen unserer Ge-schichtlichkeit, wenn jene – öffentliche – Wir-Weise in Erschei-nung tritt, in der das, was im luziden arendtschen Verständnis diewahrhafte Macht – und keine »Gegenmacht« der gleichenMachtsorte – ausmacht. Mögen diese öffentlichen Wir-Weisen –an unsere latenten Freiheitsübertragungen anknüpfend – noch sovergänglich innerhalb unserer neutralisierten Zeitabläufe sein:Ohne sie könnten wir nicht einmal, wie Arendt es in ihrem Vom

Leben des Geistes schreibt, jene »Sphären des Handelns« erfah-ren, durch die »Gemeinwesen, in denen das ›Wir‹ seine angemes-sene Gestalt für die Reise in die historische Zeit gefunden hat«,in die Welt kommen, und die in das determinierte, voll säkulari-sierte Kontinuum, in die »Abfolge der chronologischen Zeit ein-brechen«.

Foto

:Ste

fan

Bar

gst

edt

Kom

mune

2/2007 III

Denn wie Paul Ricœur einmal schrieb, »die Auflösung derMacht« (das heißt der, die sich an die Gewalt assimiliert hat),»ist ein instruktiveres Phänomen hinsichtlich der Natur derMacht als die Ohnmacht, die aus der Ausübung der Machtresultiert.«

In diesem Kontext ist Arendts »Moskauer Erzählung« eine ArtOuvertüre zum zentralen Thema des Essays, in dem Arendt die

Ereignisse des »Ungarischen Oktobers« als ein Wiederhervor-treten einer Freiheits-, ja einer Revolutionslatenz unserer west-lichen Geschichtlichkeit wahrnimmt. Gegenüber dem zutiefstwiderständigen, aber nicht bloß »oppositionellen« Chor desMoskauer Theaters, der wohl auch in einem dankenden und hoff-nungsbestätigenden Ton das Pasternak-Gedicht – öffentlich –rezitierte, wurde die sonst allgegenwärtige totalitäre Macht radi-kal machtlos.

Die Wahrheit – oder besser: das Wahrheitsgeschehen – in die-ser Erzählung liegt offenbar nicht innerhalb der realpolitischen,moralpolitischen oder kulturpolischen Kategorien durch die wir,alltäglich, unsere politische Wirklichkeit theoretisch einordnen.Es fällt uns schwer, es in einer Weise wahrzunehmen, in der esauch unsere – wirklichkeitsgarantierenden – Kategorien affiziert,so dass wir im Geschehen der Erzählung nicht nur eine wohl an-rührende, doch nicht wirklich relevante Einzelepisode erblicken.Es ist aber zu befürchten, dass unsere Bemühungen, an dasarendtsche Denken anzuknüpfen – auch im Kontext dieser Preis-verleihung –, ohne diese Schwierigkeit auf uns zu nehmen, hilf-los oder idealistisch-utopisch bleiben.

Die Frage nach der Art der Freiheitslatenz und seiner differie-renden Zeitlichkeiten zeichnet auch die Nähe des arendtschenzum benjaminschen Denken aus. In ihrem großen Essay zu Wal-ter Benjamin, wo die emblematische Gestalt des »Perlentau-chers« den benjaminschen Umgang mit der Geschichte verkör-pert, ist der »Schatz« (auch der »verlorene Schatz der Revolu-tion«) nicht aus der Welt, er ist »nur versunken«. Wir könnenaber, um bei der Metapher zu bleiben, im Meer – das übrigensselber eine Metapher des Mütterlichen ist – nach ihm »tauchen«,ohne Gewissheit, doch mit dem Zutrauen, dass er uns eigentlichgeschenkt und versprochen wurde. Es ist nicht schwer, in dieserPassage des Benjamin-Aufsatzes eine Metapher des jüdisch-christlichen »Versprechens« innerhalb einer gewandelten, nichtmehr zwingend-offensichtlichen Konstellation wahrzunehmen.Wir können in diesen Zeilen auch eine andere Metapher heraus-lesen. Sie ist die des »eintauchenden« freudschen (und nach-freudschen) analytischen Erfahrungszugangs. Dieser liegt aller-dings – wie auch die zur übertragungsoffenen politischen Erfah-rung – nicht auf dem Trockenen der psychologischen oder poli-tologischen Reflexionen.

Es ist aber auch nicht so, dass das Bedeutsame dieser arendt-schen Erzählung nur von der zentralen Thematik des Essays herbeleuchtbar wäre. Umgekehrt ist auch die Hauptthematik desEssays von dieser »Ouvertüre« her gestimmt. Das heißt: Voneinem, durch eine »Unterbrechung« zur Stimme gekommenen,politisch-poetischen und doch eigentümlich mächtigen »Wir«her, das keine »Oppositionsgruppe«, keine »Masse«, aber auchkeine Gruppe eines »kulturellen Ausdrucks« ist. Das »Poetische«dabei ist keine im herkömmlichen Sinn »ästhetische« Kategorie.Vergessen wir nicht, dass im erweiterten politischen VerständnisArendts das hellenische »Volk der Griechen« – in dem dann derereignishafte Sprach- und Handlungsraum der Polis aufkommt –im Hören und Sagen der homerischen Dichtung entspringt, eben-so wie das jüdische Volk im »Höre Israel« und der Zusammen-hang des Christentums in der »Frohen Botschaft« entspringt. Esist so, als ob darin eine nicht-selbstreferentielle Art der Solidari-tätsmacht gestiftet wäre, die mit unseren gewohnten – die diffe-

Verleihung desHannah-Arendt-Preises 2006 anProf. Julia Kristeva (Paris)15. 12. 2006, 18 Uhr, Obere Rathaushalle, Bremen

Nur von den Dichtern erwarten wir Wahrheiten(nicht von den Philosophen, von denen wir Gedachteserwarten). Hannah Arendt, Denktagebuch

Julia Kristeva wurde 1941 in Bulgarien geboren, studierteRomanistik und kam 1965 im Rahmen eines französisch-bulgarischen Austauschprogramms nach Paris. Sie bliebdort und beendete ihre akademische Ausbildung mit einerHabilitation (»Die Revolution der poetischen Sprache«).1978 schloss Sie ihre psychoanalytische Ausbildung abund praktiziert seitdem als Therapeutin. Ihr Werk umfasstArbeiten zur heutigen Psychoanalyse, zur Kultur- und Reli-gionsphilosophie und zum Zeitgeschehen. Seit Anfang der1990er Jahre steht Hannah Arendt im Mittelpunkt ihrespolitischen Denkens.

Auf Deutsch sind u.a. erschienen: Die Revolution derpoetischen Sprache (1978), Die neuen Leiden der Seele(1989), Fremde sind wir uns selbst (2001), Hannah Arendt– Das weibliche Genie (2002).

■ BegrüßungZoltan Szankay (Hannah-Arendt-Preis für politischesDenken e.V.)

■ FestvortragJulia Kristeva »Hannah Arendt oder: Wiedergründenals Überleben«

■ LaudationesDaniel Cohn-Bendit (Mitglied des Europa-Parlamentsund Hannah-Arendt-Preisträger 2001)Prof. Dr. Mihaly Vajda (Philosoph, Universität Debrecen/Ungarn)■ Für die Preisgeber:

Ralf Fücks (Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung)Ronald M. Neumeyer (Senator für Umwelt, Bau undVerkehr)

Tagung16. 12. 2006, 10 – 13 Uhr, Institut Français,Contrescarpe 19, Bremen

Gibt es Berührungspunkte zwischen dem Denken vonHannah Arendt und der Psychoanalyse?Oder: Arendtian and analytical spaces of acting:potential spaces of re-newal?

■ Interventionen vonProf. Lorenz Böllinger (Universität Bremen)Dr. Bettina Schmitz (Universität Würzburg)Ute Vorkoeper (Hamburg)Adrienne Göhler (Berlin)■ ModerationProf. Dr. Antonia Grunenberg (Hannah-Arendt-Preis e.V.)

Zu den Fotos:

Diese Beilage ist geprägt von den Aufnahmen aus einem Foto-essay »CityLights« von Beate Moser, die mit technischenVerfremdungstechniken experimentiert hat. – Die anderen Fotos(auf den Seiten 4, 9, 13, 17 und 23) sind von Ilja C. Hendel.

IV Kom

mun

e2/

2007

rierenden Zeitlichkeiten einebnenden – Begriffen der »Interes-sens- oder Wertegemeinschaft« nicht zu fassen ist. Wohl auchdeshalb, weil in der Natur der Letzteren nichts Angesprochenesund nichts Ansprechendes gedacht werden kann.

Damit kommen wir dem besonderen arendtschen Akzent die-ser Preisverleihung näher. Wir haben für sie nicht von unge-

fähr als Motto einen Satz aus Arendts Denktagebüchern gewählt.Er heißt: »Nur von den Dichtern erwarten wir Wahrheit, nicht vonden Philosophen, von denen wir Gedachtes erwarten.« – »Wahr-heit« zielt hier, wie bei Arendt auch anderswo, auf ein Wahrheits-geschehen, sei es der entbergenden oder der vertrauensbezeu-genden Art. In der Sprache wohnt Dichtendes, können wir wohl

im Sinne Arendts sagen, und nicht bloß Informationskommuni-zierendes, mag dies auch für viele Philosophen und Sozialwis-senschaftler schwerer nachvollziehbar sein als für gewöhnlicheSterbliche.

Dieser Akzent der diesjährigen Preisverleihung ist innig mitdem Werk unserer Preisträgerin verbunden. Dieses Werk ist vonjener genuin arendtschen Wiedereröffnung jener konstitutivenBezügen gekennzeichnet, die, mal in ereignishaften, mal in latentenWeisen, zwischen unserem Sprachwesen und der Macht des Ver-zeihen- und Versprechenkönnens walten. Es ist diese Macht, diefür Arendt die Zeiträume des Politischen eröffnet.

In Julia Kristevas Denken bekommen nun diese Bezüge –durch die unsere singulären Daseinsweisen mit unseren ge-schichtlichen Wir-Weisen verbunden sind – einen aktuellen poli-tischen Sinn. Oder auch: einen widerständigen Sinn in der an-fangs erwähnten, das Politische bedrohenden Konstellation. Eruntergräbt die fast selbstverständlich gewordene funktionalis-tisch rationalisierende Festlegung, Identifizierung des politi-schen Sprechens und Handelns. Er untergräbt somit auch diedunkle, verdrängte »andere Seite« derselben Ausprägung. Diesekommt uns dann als die – mal offenere, mal untergründigere –paranoide Identifizierung des Politischen mit dem »letzten Ent-scheidungskampf« gegen die je aktuelle Verkörperung desAn-Sich-Bösen vor. Durch beide Seiten werden die erwähntenBezüge zwischen unseren Selbst- und Wir-Weisen und ihre –nicht bloß intellektuelle – Bearbeitbarkeit verdeckt und verleug-net. Nichtsdestoweniger gehören die an sie direkt anknüpfendenund weithin wirkenden Diskurse zu unserer politischen, intellek-tuellen und auch akademischen Wirklichkeit.

In welchem Maße die geschichtliche Bedeutung des arendt-schen Denkens von der Widerständigkeit gegenüber diesenDiskursen und ihren Praktiken gekennzeichnet ist, wird in derArendt gewidmeten Literatur nur recht puktuell wahrgenommen.Desto wichtiger ist somit die Weise, in der sie in Kristevas Werkhervortritt. Sie tritt hervor, auch weil Julia Kristeva einen nochseltenen Beitrag dazu geleistet hat, die »Verwandtschaft« zwi-schen dem arendtschen Zugang zu unseren freiheits- und über-tragungsoffenen politischen Zwischenräumen und den freud-schen-nachfreudschen Zugängen zu dem, was – wie Kristevasagt, eher »selten« – in der analytischen Situationen geschieht,denkbar zu machen. Beide Zugänge liegen sozusagen »diesseits«unserer gewohnten politikwissenschaftlichen und psycholo-gischen Objektivierungen. Verschwindet die »Verwandtschaft«,werden sie erneut in die besagten Objektivierungen zurückge-drängt.

Dies hilft uns wesentlich beim – wie die Arendt-Literatur eszeigt: gar nicht leichten – Nachvollzug des Arendtschen Ver-ständnisses von unterbrochenen Handlungskontexten und Neu-gründungen. Die epochal angestoßene freudsche Erweiterungder denkerisch zugänglichen Erfahrung und Erfahrungszeitlich-keit hat ja auch ihre Parallelen in den phänomenologischenDurchbrüchen, die den direkten denkerischen Hintergrund Arendtsbilden. Die analytische Erfahrungserweiterung »geschieht« inder übertragungsoffen werdenden ereignishaften Wiederverflüs-sigung der Fixierungen, die uns, alltäglich, sowohl vom Ängsti-genden wie vom Zusprechenden abschirmen. Dadurch kommt dieMacht ihrer Neubearbeitung zustande.

Die »Moskauer Erzählung« Arendts zeigt uns, wie die Anknüpf-barkeit an das, was die Freiheitsdimension des Politischen trägt,mit dem Wirksamwerden des poetischen Wortes und seiner Wir-Weisen zu tun hat. Darin liegt der besondere arendtsche Akzentdieser Preisverleihung.

➜ Zoltán Szankay ist emeritierter Soziologe der UniversitätBremen und Mitglied der Jury des Hannah-Arendt-Preises e.V.

V

Kom

mune

2/2007

Hannah Arendt oder:Wiedergründen als ÜberlebenFestvortrag der Hannah-Arendt-Preisträgerin 2006

Zunächst möchte ich der Jury des Hannah-Arendt-Preises, demSenat des Landes Bremen und der Heinrich-Böll-Stiftung sehr

herzlich für die Ehre danken, mir den diesjährigen Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken zu verleihen – in diesem Jahr, in demsich der Geburtstag der Philosophin zum hundertsten Male jährt.

Ich möchte gern glauben, dass Sie durch mich hindurch jenerätselhafte Kraft des arendtschen Werkes willkommen heißen,die ein so genanntes breites Publikum zu berühren in der Lageist; ein Publikum, das ich – im Sinne Arendts – ein »Publikum derMeinungen« nennen würde. Können wir heute als Mittler wirkenzwischen der Existenz dieser Frau, die sich auf eine Weise als»exponiert« wahrnahm, dass sie, wie sie es ausdrückte, zu einem»Treffpunkt und einer konkreten Objektivierung des Lebens« wer-den konnte; und eben dieser »Meinungswelt« die, heute, am Be-ginn des dritten Jahrtausends, mehr denn je darauf bedacht ist,die Fäden des Politikvertrages, der die Männer und Frauen re-giert, in Schwingung zu versetzen. Um die Autorität dessen, wasuns (ver-)bindet mit der Unberechenbarkeit jedes Einzelnen vonuns ebenso zu versöhnen wie die Pluralität der Welt mit dem aufdas Urteilen hin ausgelegten Leben des Geistes.

Diese Gedanken stehen hinter meinen heutigen Dankesworten.

Möchte ich dies gern glauben, weil ich auf meine Weise auch»ein Mädchen aus der Fremde« bin (so wie sich Arendt, das

Gedicht Schillers aufnehmend, selbst bezeichnete)? Dass mirvon meinen Ursprüngen auf dem Balkan her eine Mischung ausJuden- und Christentum übertragen wurde, die auch am arendt-schen Denkhorizont erscheint? Dass »ich mich selbst bereise«in der europäischen Kultur, wie es die Heldin meines letztenRomans Meurtre à Byzance (»Mord in Byzanz«) ausdrückt? Dassich, auf meine Weise, die Fremdheit und die Melancholie derglobalisierten Welt, aber auch die von ihr hervorgerufene Freudeerlebe?

Möchte ich dies gern glauben, weil ich, Sprach- und Literatur-theoretikerin, die zugleich Psychoanalytikerin ist, versuche, dieecceitas (die Diesheit) des quid (des konkreten Dieses) auszulo-ten? Diese personale Eigenheit im Denken, ohne die uns, soArendt, nur die »Banalität des Bösen« und der »Terror« bliebe.Aber auch das arendtsche »Versprechen« und »Verzeihen«, derenmoderne Version nichts anderes ist als die psychoanalytischeDeutung, wenn sie uns gestattet, wiedergeboren zu werden? Wo-bei die Psychoanalyse Hannah Arendt stets opak blieb, obschondas Leben und das Werk der Philosophin jene in vielfältigen undungewohnten Weisen herausfordern.

Möchte ich dies gern glauben, weil sich meine Kindheit undJugend in einem totalitären Land abspielten, und ich sehr raschdas größte Misstrauen gegenüber totalitären Latenzen gewisserBefreiungsbewegungen selbst innerhalb unserer Demokratien,bis hin zum Feminismus, empfunden habe? Und dass ich die Be-fürchtung nicht loswerde, dass irgendein neuer Totalitarismushinter der Maske der monotheistischen Fundamentalismen auf-keimt?

Aus all diesen Gründen hat sich mir der Name Hannah Arendtsunmittelbar aufgedrängt, als ich mich mit meiner Trilogie Das

weibliche Genie1 vom Massenfeminismus absetzen wollte undbegann, eine Eloge auf die weibliche Schöpfungskraft anzustim-men.

Dies ist nicht der Ort, um im Detail auf meine Begegnung mitArendt einzugehen oder auf die Reflexionsgänge, die sie mireröffnet hat. Dies habe ich in dem Band getan, den ich ihr gewid-met habe. Diese Gänge erweitern sich immer mehr. Wenn ichaber ein einzelnes Charakteristikum hervorheben sollte, um denEinschlag zu beschreiben, den ihr Werk bei mir verursacht hat –und um ihn anlässlich der Verleihung dieses Preises, der ihrenNamen trägt, an diejenigen weiterzugeben, die sie entdeckenoder wiederentdecken – dann würde ich ihn folgendermaßenbenennen: eine unwiderstehliche Fähigkeit zum Überleben.

Das französische Wort »survie« meint das, was dem Tode ent-kommt und legt gleichzeitig ein Vermögen nahe, über und jen-seits des Todes zu leben; aber auch über und jenseits des biolo-gischen Lebensprozesses (zoe) selbst. Denn für Arendt ist dieses»Über-leben« in dem Glück, so ihr Wort dafür, zu denken und zuurteilen verwurzelt. Dies scheint mir tatsächlich der rote Fadenzu sein, der sich durch das Leben und das Werk dieser Frau hin-durchzieht. Dieser Frau, die während einer der tragischsten Pha-sen der Menschheitsgeschichte, jene der Shoah, lebte. Sie hieltsich davon fern, eine Doktrin oder gar ein System des Wissens zuverkünden (eine »Verfehlung«, die ihr pflichtschuldig vorgewor-fen wurde!). Vielmehr erfand sie ein Denken in Bewegung, dasseine Wurzeln in der Erfahrung hat. Es schöpft aus einer sensi-blen, dem Narrativen ähnelnden Einbildungskraft, zögert nicht zuurteilen, und vor allen Dingen erreicht es sein Ziel: nämlich zuüberraschen. Ist dies nicht die beste, wenn nicht die einzige Artund Weise, den philosophischen Gestus selbst zu rehabilitieren –ihn, der seit den Griechen ein Überraschtsein, ein »thaumazein«,ein Erstaunen war? Diesen Gestus am offenen Herzen der Ver-zweiflung unserer modernen Welt zu rehabilitieren, die, soArendt, den »Faden der Tradition zerschnitten« hat? Aber auch:

Julia Kristeva

VI Kom

mun

e2/

2007

durch die Erneuerung der Spannung, der Aufmerksamkeit undder Debatte ein politisches Interesse und ein unmittelbares Han-deln hic et nunc zu provozieren?

Tatsächlich durchzieht eine ständige Spannung, wie wieder-holt festgestellt wurde, alle Vorstöße Arendts innerhalb diesesvon Heidegger ererbten Abbaues der Metaphysik, den sie aufihre Weise weitertreibt. Zunächst überraschen uns ihre Vorstößemit ihren Ambiguitäten, und später dann mit der Eröffnung dieservon mir hervorgehobenen Erfahrung des Erstaunens: Des Erstau-nens der Autorin selber, die ihre Freude am Denken nicht ver-hehlt, und das gleichfalls zum Erstaunen des Lesers wird. Und –es gelingt ihm, die Klemmen sowohl der Subjektivität als auchder Politik zu lockern. Und das effektiver, als es die politiktheo-retische Metasprache der Philosophen und professionellen Poli-tologen vermag. Ich für meinen Teil bin überzeugt, dass es keineanderen Mittel gibt, um jenen Kräften des Todes entgegenzu-treten, die heutzutage unter den Masken des religiösen Extremis-mus oder der Automatisierung der Gattung im Vormarsch sind,als eben diese Fähigkeit des Überlebens, welche aus dem Glückzu denken und zu urteilen herrührt. Um Sie davon zu überzeugen,will ich vier aktuelle Themen anführen, auf die Hannah ArendtsWerk ein erhellendes Licht wirft:

Weil das Erscheinen in der Welt zugleich das Denken und dasUrteilen strukturiert, wird nur die Meinung die Gewalt besiegenkönnen.

Aber die Politik der Meinungen kann nur dann ein (mögliches)Gegenmittel gegen die kalkülhafte Politik sein, wenn sie die ur-teilende Scharfsichtigkeit (phronesis) der das, »was geschieht«,teilenden und erzählenden Zuschauer versammelt. Indem ich mitmeiner Meinung »meine Offenbarung riskiere«, durch mein Er-scheinen in der Einzigartigkeit meiner Meinung, mache ich ausdem politischen Raum einen Ort der Selbstanalyse, einen Ort sichfortsetzender Wiedergeburt – einer jeden Subjektivität. Durch er-fundene Geschichten stoße ich wahre Geschichten an, und wirschaffen zusammen die Zeit des Politischen am Schnittpunkt desVergangenen und des Zukünftigen.

Wenn die Noblesse des Politischen in dieser Fähigkeit beruht,erneuernde Besonderheiten zu offenbaren, uns jeden von unszu offenbaren, so könnte es doch nicht existieren ohne jene Refe-renzpunkte und Grundlegungen, die ihm die Triade Autorität –Religion – Tradition in früheren Zeiten verschaffte und die imZuge der Säkularisierung geschwächt worden sind. Nichtsdesto-trotz: Wir, die wir weder Traditionsnostalgiker noch angesichtsder Risiken einer »irreparablen« Säkularisierung in Schreckstarreverfallene Zensoren sind, sind wir fähig zu einer Wiedergrün-dung? Dies ist die metaphysische Frage, die unterhalb der Ent-politisierung unserer Zeit verspannt ist. Diese Wiedergründungist nicht zu vollbringen in Form einer Wiederbelebung der glei-chen Autorität, der gleichen Religionen und der gleichen Tradi-tionen aus der Vergangenheit. Sondern durch deren »ewigeWiederkehr« im urteilenden Denken, das in der Pflicht steht, dasin ihnen Ungedachte ans Licht zu bringen. Und während es unsSchutz in der alten Gründung bietet, modifiziert es diese durchdie neuen Entdeckungen, die unseren pluralen Leben Sinn wie-dergeben können, und durch die die Gründung eine Erhöhungerfährt.

Schließlich macht Arendt auf eine ganz ungewöhnliche Weisedie Frage der Verantwortung der Aufklärung für die neuen Formendes Antisemitismus auf. Diese Kühnheit führt sie zu einem weite-ren Spannungsverhältnis: ihre Schreckensanalyse der europäi-schen Genealogie der Shoah entwickelt sie eben mit Hilfe deskontinuierlich aufklärerischen europäischen Erbes selbst. Undsie lädt uns ein anzuerkennen, dass die »Kämpfe für die Freiheit«in Europa und Israel »identisch«2 sind. Heute vielleicht mehrdenn je, angesichts der neuen Formen des Totalitarismus.

I. In der Welt erscheinenInspiriert durch Heidegger – jedoch ihr eigenes Denken behaup-tend – wagt Arendt, überlebend, im Angesicht der Geschichtedes Nihilisimus eine Rekonstruktion, die die Niederlage der Ver-nunft transformiert: Dabei sucht sie weder Zuflucht bei einem»Denken, das die Wahrheit des Seins denkt« (Heidegger), nochgibt sie sich zufrieden mit dem bloßen Wissen um die Bedeutun-gen (Merleau-Ponty). Vielmehr geht es darum, ein anderes Den-ken vorzubringen, das ein Denken der Welt ist: von der Welt her-kommend, auf die Welt bezogen, die Welt konstituierend.

»Es scheint mir« (»dokei moi«, nimmt Arendt das griechischeWort auf), sage ich mit meinem Erscheinen, mit meinem Hinein-geborenwerden in die plurale Welt. Am Anfang stünde also ein:»Es scheint mir«? Am Anfang wäre also die Einbildungskraft? Manginge fehl, hielte man dieses »Scheinen«, diese »Einbildung« füreinen inkonsistenten und leicht manipulierbaren Impressionis-mus. Ich erzeuge die Welt mit, wenn ich, mich ihr präsentierend,»es scheint mir« sage. Das heißt nicht, dass ich nur für die Blickeder anderen oder auf sie hin existiere. Die Blicke der anderensind lediglich die phänomenale Bedingung meines Erscheinens,wie die Bühne, auf der ich gesehen werde. Die Geborenwer-dend-Erscheinende, die ich bin, ist nur in dieser Wechselbezie-hung der Verschiedenen, die die Welt bevölkern, ein Zuschauer.»Es gibt in dieser Welt nichts und niemanden, dessen bloßesSein nicht einen Zuschauer voraussetzte.«3

Arendt erlaubt uns, den Sinn dieses modernen Phänomensder »Politik der Meinungen« besser zu verstehen. Gehen wir ih-ren Erörterungen noch etwas weiter nach. Die Welt bietet sich de-nen, die sie bevölkern, an, um sie zu Handelnden und Benennba-ren zu machen. Und die Meinung, so wie Arendt sie denkt, ist ge-wissermaßen der »Unterbau« dieser Weltlichkeit, dieser Öffent-lichkeit, dieser Morgendämmerung des Politischen.

Konkret: Mit dieser für die Welt und jeden Einzelnen in ihrkonstitutiven Pluralität greift Hannah Arendt auf zentrale politi-sche Probleme unserer Tage vor, auf die klimatische und allge-mein ökologische Interdependenz wie auch auf die sich ökono-misch wie informationell diversifizierende Globalisierung. Dochmeine eigene Arbeit führt mich zu den Konsequenzen ihrer Refle-xion über die Politik der Meinung unter heutigen Bedingungen.Nicht dass Arendt nicht mit großer Sorgfalt die Simulation, denbloßen Anschein, das Inauthentische und ganz besonders dieHochstapelei der Authentizität zurückgewiesen hätte. Doch warn-te sie uns vor: Die Fähigkeit, mit den Erscheinungen zu spielen,ist integraler Bestandteil politischer Virtuosität – Spielregeln,wohlgemerkt, immer vorausgesetzt ...

In der von Arendt vorgeschlagenen Entmystifizierung der poli-tischen Tradition und der vorgeblich »wahren« Politik gibt es Seinkonsequenterweise nur bei dem, der sich in die Epiphanie des in-

ter homini esse begibt. Und diese Behauptung einer Realität, dierein phänomenaler Natur ist, hat nichts Zynisches oder Demago-gisches an sich. Arendt beruft sich auf sie, um den politischenRaum von den Inhabern der »Wahrheit« und anderer »Werte« zubefreien, welche den Interaktionen von uns – uns verschiedenenHandelnden und Zuschauern – ansonsten zugrunde liegen. Ichsehe darin eine Einladung, den Wahrheitsanspruch einer gewis-sen politischen Klasse, wenn nicht gar der politischen Traditionselbst zurückzuweisen. Jenen Anspruch, vorgebracht von denProfessionals einer ideologischen Tugendhaftigkeit, käme sie vonder Rechten oder der Linken, vom Religiösen oder dem Atheisti-schen. Und nichts weiter als den elementaren politischen Mut da-gegenzuhalten – welcher darin liegt, die Angst zu bezähmen, mitund vor all denen, die den öffentlichen Raum »bevölkern«, zusprechen und zu handeln, und der so die »Öffentlichkeit« konsti-tuiert. Und mithin die Erneuerung und Öffnung (wie es das deut-sche Wort »Öffentlichkeit« nahe legt) dieser immer schon politi-

VII

Kom

mune

2/2007

schen Welt. Ihr »Held« par excellence ist der Citoyen, und zwar indem Maße, in dem er »sich entschlossen hat, keine Furcht zu zei-gen«.4 Eben keine Furcht zu haben, mit den anderen zu erscheinen.Aber diese Meinungen der Erscheinenden – wenn der Zuschauerzum Handelnden wird – können in der heutigen Welt des Spekta-kels nur dann einen Sinn haben, wenn wir es schaffen, als unver-wechselbare menschliche »Jemande« oder »Wers« hervorzutreten.

II. Arendts »Wer« und die Psychoanalyse»Wer sind wir?« in Opposition zum »Was sind wir?«: Dies ist dieUnruhe, die wie ein Bindestrich zwischen der politischen und derphilosophischen Inspiration Arendts arbeitet; zwischen ihrerKonfrontation mit der Metaphysik und ihrer Wette, gegen die po-litische Tradition anzudenken. Eine Unruhe, die darüber hinausnach der zeitgenössischen Psychoanalyse verlangt. »Wer sindwir?« Anders gesagt: Die »Politik der Meinung« – in dem innova-tiven Sinn, dem Arendt diesen Wörtern gibt – kann nur ein Ge-genmittel gegen die Politik des Spektakels (die uns heutzutageals eine Politik der Meinung verkauft wird), wie auch gegen dienostalgischen Anrufungen eines »Erwachens der Völker« sein,wenn sie ein inter-esse schöpferischer Singularitäten ist, eineWiederbelebung der »Wers«.

Weil es von Anfang an und immer »politisch« im arendtschenWortsinne ist, zeigt sich das »Wer« zuvörderst der Menge der an-deren und ihrer Gedächtnisse, weniger dem Protagonisten sel-ber. Oder vielmehr: Das »Wer«, meine Einzigartigkeit und Eigen-heit, mein Wesen, offenbart sich nur der Verschiedenartigkeit derGedächtnisse, ihrer Zeitlichkeit.

Im Werk von Duns Scotus findet die Autorin der Elemente undUrsprünge totalitärer Herrschaft das Geschick der innovativenSingularität wieder und vertieft ihre Neubewertung der Onto-theologie: Sie bringt eine christliche Archäologie der modernensubjektiven Freiheit zum Vorschein mit dem, was sie an Gnadeund an Risiko in sich birgt. Entscheidend ist der Nachdruck, dender »Doctor subtilis« auf die singuläre »Diesheit« (ecceitas) legt.Aber auch seine Zurückweisung des Primats des Intellekts überden Willen und die unerhörte Freiheit, die er jeder einzelnen Per-son beimisst. Und weil die Wurzeln des Intellekts tief in die Intui-tion reichen, verwandelt sich der Wille am Ende in die Liebe. Undletzthin schafft die »Glückseligkeit« des schottischen Mönchs die

Verbindung zwischen Denken und sinnlich mitgetragenem Han-deln, nach der Arendt schon im griechischen Heroismus suchte.Dies sind nur einige der Elemente christlicher Subjektivität, wel-che nach Arendt den Weg zur politischen Freiheit eröffneten.

Die junge Arendt, Studentin von Karl Jaspers, verlautbart in ih-rer Doktorarbeit über den »Liebesbegriff bei Augustinus«, vertei-digt am 28. November 1928, dass das Subjekt des Politischen einliebendes Subjekt ist. Die Psychoanalyse würde dies unterstrei-chen und auf die »wahre Konstellation der Liebe«, wie Arendt esnennt, bei Augustinus abheben: Liebe, Begehren (mit den beidenVarianten appetitus und libido), Nächstenliebe und Lüsternheit.Arendt bringt vor, dass die tragende Welle dieser Multiplizitätdas Begehren ist. Und an dieser Stelle, so Arendt, entsteht dieMöglichkeit für das menschliche Dasein, sein eigenes Sein in Fra-ge zu stellen: zwischen dem »noch nicht« und dem »nicht mehr«werde »Ich« mir selber zur Frage (Quaestio mihi factus sum).

Es gibt daher keine verborgene Wahrheit, auch nicht des Un-bewussten, die – ad infinitum betrieben – der »freien Assoziati-on« (in der Sprache der Analytikerin) oder die den Vielen im poli-tischen Raum (wie es Arendt ausdrücken würde) nicht zugänglichwäre. Und formulierte die Psychoanalyse Freuds nicht ein neu-artiges Transzendenzverhältnis? Eines, das das Dasein des be-gehrenden Subjekts in die Ereignisse einschreibt und das Handelnund das Gedächtnis in die Erzählungen des inter-esse der lie-bend-leidenden Übertragungen und Gegenübertragungen hinein-legt? So verstanden ist die analytische Erfahrung eminent poli-tisch im arendtschen Sinne eines Offenbarwerdens dieses Sprach-wesens, das in eins fällt mit dem Erscheinen seines Diskurses.Für Arendt geschieht dies in der Pluralität der öffentlichen Bezü-ge, für die Analytikerin bereits in dem dualen Bezug mit seinerÜbertragung und Gegenübertragung. Und rührt der tiefere Grundfür die Feindseligkeit, welche die Psychoanalyse hervorruft –neben und mehr noch als die Widerstände gegen und die Abwehrdes Sexuellen – nicht von dieser Wiederaneignung und Wieder-(be)gründung der Ontotheologie her, die ihrer Theorie wie ihrerPraxis innewohnen? Und formuliert wiederum Hannah Arendtnicht eine im Grunde psychoanalytische Konzeption des spre-chenden Subjekts, das sich konstituiert als ein »Ereignis« in derZeit (Vergangenheit, Gedächtnis), und mitnichten eine psycholo-gische Diagnose der Dispositionen, Gaben und Temperamente?

Zur AktualitätHannah Arendts

Wir liegen mit dieser Veranstaltungnahe am 100. Geburtstag Hannah

Arendts, die am 14. Oktober 1906 gebo-ren wurde. In ihrem Lebensweg durch-maß sie entscheidende Stationen ihresJahrhunderts: Sie war ihrer Herkunftnach eine deutsche Jüdin, wurde als Stu-dentin geprägt durch die Existenzphilo-sophie Heideggers und Jaspers, wurdevon der Gestapo verhaftet, musste vorden Nazis fliehen und erfuhr, was es be-deutet, staatenlos zu sein. Im amerikani-schen Exil wurde sie als Publizistin undTheoretikerin weltweit bekannt.Deutschland besuchte sie nach demKrieg als amerikanische Staatsbürgerinwieder.

Es waren vor allem zwei Schriften, dieihr zu Weltruhm verholfen haben: ihreumfassende Analyse des Totalitarismus(Ursprünge totalitärer Herrschaft) sowieihre gleichermaßen berühmte und um-strittene Schrift Eichmann in Jerusalem –

Bericht über die Banalität des Bösen, die1963 aus ihren Prozessberichten für denNew Yorker hervorging. Lange Zeit warsie wegen dieser beiden Analysen wederin Israel noch bei der europäischen Lin-ken wohl gelitten.

Hannah Arendt und Israel verbindetein hoch kompliziertes Verhältnis. Für siewar Israel der Garant für die jüdische po-litische Existenz; zugleich kritisierte sienationalistische Tendenzen, die sie imzionistischen Projekt angelegt sah. AmFall Eichmann beschrieb sie den bürokra-tischen Mechanismus des Holocausts,ohne emotionale Regungen zu zeigen, ja»ohne ausreichende Liebe zum jüdischenVolk«, wie ihr der Historiker GershomScholem aus Jerusalem vorwarf, als erihr die Freundschaft aufkündigte. Heute,da in Israel selbst unterschiedliche Les-arten zur Gründungsgeschichte des Staa-tes im Konflikt liegen und das Konzeptdes Zionismus kontrovers verhandeltwird, ist auch eine gelassenere Rezepti-on von Hannah Arendt möglich – ein-schließlich einer kritischen Sicht auf ihrEichmann-Buch, das die ideologischeÜberzeugungstäterschaft Eichmanns unddie Rolle des Terrors hinter dem banalen

Funktionieren einer Ver-nichtungsbürokratie ver-blassen lässt.

Einem Großteil der eu-ropäischen Linken wieder-um war ihre Totalitaris-mus-Theorie suspekt. Dasging bis zum Vorwurf, sie liefere mit ihrerFundamentalkritik des sowjetischen Sys-tems geistige Munition für den KaltenKrieg. Die Fellow Traveller der Sowjet-union führten gern Thomas Manns ver-ballhorntes Zitat vom »Antikommunis-mus als Grundtorheit unseres Jahrhun-derts« gegen Hannah Arendt ins Feld,und mit dem Schreckwort Antikommunis-mus ließen sich auch viele Liberale insBockshorn jagen. Bis zum Zusammen-bruch der Sowjetwelt brauchte es durch-aus intellektuellen Mut, darauf zu insis-tieren, dass das 20. Jahrhundert vomKampf zwischen liberaler Demokratieund totalitären Bewegungen geprägtwar. Dieser Konflikt ist historisch keines-wegs erledigt, und wer Arendts Analysedes Nationalsozialismus und Bolsche-wismus als radikal antibürgerliche Bewe-gungen heute liest, kommt kaum umhin,mit Julia Kristeva beunruhigende Paralle-len zum radikalen Islamismus zu ziehen– auch wenn man sich davor hüten muss,zum Gefangenen historischer Analogienzu werden.

Ich bin Julia Kristeva dankbar, dasssie daran erinnerte, dass Israel heute derGefahr eines religiös-politischen Fanatis-mus ausgesetzt ist, der die Existenzbe-rechtigung des jüdischen Staates offenin Frage stellt. Bei aller notwendigen Kri-tik an der israelischen Besatzungspolitikgilt auch heute der Satz Hannah Arendts,dass Israels Freiheit auch unsere Freiheitist. Dabei geht es nicht um einen »clashof civilisations« zwischen der islami-schen Welt und dem Westen. Die Kon-fliktlinie mit dem radikalen Islamismuszieht sich mitten durch die islamisch ge-prägten Gesellschaften, und es sind vorallem Muslime, die der Gewalt der Extre-misten zum Opfer fallen.

Es ist nicht nur die fortwährende Aus-sagekraft ihrer Untersuchungen zum To-talitarismus, auf der die Aktualität Han-nah Arendts gründet. Was heute an ihrfasziniert, ist vor allem ihr »Republika-nismus«, ihr spezifisches Verständnisvon Politik als einer Sphäre der Freiheit

und ihr Plädoyer für das, waswir heute als »aktive Bürger-gesellschaft« bezeichnen. Esgeht in der Tradition von Han-nah Arendt um den Dissensals Ausgangspunkt des Politi-schen und um den streitbaren

öffentlichen Diskurs als sein Lebenseli-xier. Wer Begründungen gegen ein Ver-ständnis von Politik als Exekution von»Sachzwängen« sucht, wird bei ihr fün-dig. Das von allen Regierungen weidlichstrapazierte »TINA-Prinzip« – There Is NoAlternative – markiert im arendtschenSinn das Ende der Politik.

Für Hannah Arendt beginnt Politikdamit, dass jemand aufsteht und öffent-lich seine Meinung vertritt – im Wissen,dass er (oder sie) auch irren kann. Dieöffentliche Rede ist, wie Julia Kristevasagt, der erste und grundlegende Akt derZivilcourage. In der Politik geht es umbegründete Meinungen, nicht um abso-lute Wahrheiten. Und es geht um dasgemeinsame Handeln, in dem das politi-sche Gemeinwesen – die Republik – erstentsteht. Arendt sah politische Institu-tionen nur als demokratisch an, wenn siesich auf die kommunikative Macht derÖffentlichkeit stützen. Diese Öffentlich-keit zu hintergehen und zu manipulieren,wie es bei der Begründung des Irak-Kriegs durch das Weiße Haus geschah,legt deshalb die Axt an die Wurzel derDemokratie.

Dass Frau Kristeva das Preisgeld einerInitiative spendet, die sich der medizini-schen und sozialen Betreuung afghani-scher Frauen widmet, die keinen anderenAusweg als die Selbstverbrennung mehrsehen, ist nicht nur eine großzügige hu-manitäre Geste. Sie erinnert uns zugleichdaran, worum es in Afghanistan geht: umein Mindestmaß an Selbstbestimmungund Rechtssicherheit vor allem für Mäd-chen und Frauen. Und sie erinnert unsdaran, dass in vielen Ländern der WeltFrauen die grundlegenden Menschen-rechte vorenthalten werden. Für HannahArendt war das »Recht, Rechte zu haben«fundamental als Schutz vor Willkür undGewalt. Dieses Recht für alle Menschenzu gewährleisten, ist immer noch eineungelöste Aufgabe.

➜ Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin

VIII Kom

mun

e2/

2007

Foto

:Un

iOld

enb

urg

Ralf Fücks

IX

Kom

mune

2/2007

III. Wiedergründung als WiederkehrEntschiedenermaßen ist Hannah Arendt die Aufständigste undAufstehendste von allen. Unermüdlich verkehrt sie ihre Melancho-lie und die Sackgassen der Moderne in eine Bleibe, eine Öffnung,eine Wiedergeburt, in eine andauernde, durch ihre Nietzsche-und Heideggerlektüre neubesehene und modulierte augustini-sche Gebürtlichkeit. Es gibt bei ihr keine Gebrauchsanleitung fürdiese neue Welt und die neue Politik: nur die Atembewegung derVerbindungen, geschaffen aus überraschenden »Wers« – unddas ist enorm.

Denn dieses Wiederbeginnen ist nur möglich, wenn es dieAutorität selbst wiedergründet, was nur geschehen kann übereine Reinterpretation, eine Wiedererfindung. Eine Wiederkehrund eine Wiederaneignung der Autorität-Religion-Tradition –nicht um sie wiederherzustellen (Machiavelli und Robespierreverwechselten das »Gründen« mit einem »Machen« und endetenin der Tyrannei), sondern um in ihrem eigentlichen Nucleus, derAutorität nämlich, ihren Sinn zu reinitialisieren, und dies im ge-genwärtigen Raum der neuen »Öffentlichkeit der Meinungen«. Soist meine Lesart der testamentartigen Zeilen Hannah Arendts aus»Vom Leben des Geistes«: »Historisch gesehen ist eigentlich dieTausende von Jahren alte römische Dreieinigkeit von Religion,Amtsmacht [Autorität, d. Ü.] und Tradition zusammengebrochen.Der Verlust dieser Dreieinigkeit zerstört nicht die Vergangenheit,und die Demontage selber ist nicht destruktiv; sie zieht nur dieKonsequenzen aus einem Verlust, der eine Tatsache ist und alssolche nicht mehr Bestandteil der ›Ideengeschichte‹, sondern un-serer politischen Geschichte, der Geschichte unserer Welt.«5

In der Welt der Psychoanalyse liefe dieses »die Konsequen-zen ziehen« aus dem Verlust dieser Triade Autorität-Religion-Tra-dition auf ein Neudenken des vorpolitischen und vorkulturellenSinnes des Bedürfnisses zu glauben hinaus, das wir uns vor-schnell ausgetrieben haben. Ein Bedürfnis zu glauben, welchesunabdingbar ist bei der Herausbildung einer psychischen Iden-tität, die über die primäre Identifikation mit dem liebenden»Vater der persönlichen Vorzeit«6 als eines idealen, meine Idea-lität stützenden Anderen abläuft. Wir können diesen Verlust ander Krise in unseren Vorstädten ablesen, an der Krise der Heran-wachsenden: Sie haben dieses Bedürfnis, an eine Idealität zuglauben, doch wir sind eine Zivilisation, die es versäumt, ihnendies zu ermöglichen.

IV. Aufgeklärt gegen die AufklärungIm Lichte dieser paradoxen Konvergenz von Freud und Arendt –beide schreiben, wenn auch auf unterschiedliche Weisen, dasVerborgene in das Erscheinende, das Verdrängte in das Verbote-ne ein (bei Arendt: das Individuum und die Autorität in das Poli-tische oder das inter-esse) – möchte ich nun zum Abschluss eineletzte arendtsche Spannung ansprechen: Ihre Kritik der Säkula-risierung, die bei ihr aber einhergeht mit der Verweigerung einesTranszendentalismus.

Arendts Stigmatisierung der Säkularisierung zielt auf die Re-duzierung menschlicher Differenzen in der Allgemeinheit des»zoon politikon« ab, welches zum gattungsmäßigen »Menschen«im, wie ich sagen muss, reduktiven Verständnis der »Menschen-rechte« geworden ist. Denn diese Reduzierung »vergisst« mehroder minder absichtlich den Reichtum an Körpern, Begehren undSprachen, der insbesondere in der französischen Aufklärung auf-geblüht ist. Und auch wenn darüber hinaus für Arendt ein be-stimmter moderner Atheismus zum Niedergang des Ethischenbeigetragen hat, so verwirft sie nicht einfach die Aufklärung imGanzen. Das totalitäre Phänomen ist einzigartig und keines sei-ner älteren Elemente – stamme es aus dem Mittelalter oder dem18. Jahrhundert – könne als »totalitär« bezeichnet werden. Undebenso grenzt sie ihre politische Untersuchung sorgfältig von

jedweder religiösen Positionierung ab, indem sie die politischeInanspruchnahme eines »Göttlichen« eben dem von ihr bekämpf-ten, bösartigen Nihilismus zuordnet: »Diejenigen, die aus denschrecklichen Ereignissen unserer Zeit schließen, dass wir auspolitischen Gründen zu Religion und Glauben zurückzukehrenhaben, scheinen mir zu zeigen, dass ihnen genauso viel Gottes-glauben fehlt wie ihren Gegnern.«7

Dreißig Jahre nach ihrem Tode kommen zu den Gefahren, denenHannah Arendt sich gegenübersah – die, indem sie zugenommenhaben, diese Wiedergründung der politischen Autorität fraglichererscheinen lassen – neue Tragödien hinzu: Ich denke an die Tra-gödie des 11. Septembers, an das inzwischen eingestandeneScheitern der unilateralen militärischen Erwiderung, die vorgab,sich an die Stelle einer – möglichen oder unmöglichen – konzer-tierten, pluralen Antwort der weltweiten »Meinungen« zu setzen.Und an die infolgedessen entstandene neue Bedrohung, die schwerauf Israel und der Welt lastet.

Arendt hat sie vorausgeahnt in ihren Warnungen, die arabischeWelt nicht zu unterschätzen. Und während sie den Staat Israel alseinziges Heilmittel gegen die Weltlosigkeit des jüdischen Volkes,als Rückkehr in die »Welt« und in die »Politik« – von der die Ge-schichte es beraubt hatte – bedingungslos unterstützte, spartesie nicht mit Kritik an diesem Staat: »Sie flüchteten sich nach Pa-lästina, so wie jemand wünschen mag, sich auf den Mond zu flüch-ten, wo ihm die böse Welt nichts mehr anhaben kann.«8 Obwohlviele ihrer Analysen und Vorstöße uns heute prophetischer dennje erscheinen, konnte Arendt doch nicht die Verhärtung des isla-mischen Fundamentalismus und die Ohnmacht der Politik, daraufzu antworten, vorhersehen. Und auch nicht die Ohnmacht gegen-über der apolitia, das heißt, der Indifferenz, welche die Schein-welt des Spektakels, wie auch die des puritanischen Sekuritaris-mus, diese neuen Opiate der Völker, hervorbringt.

Nichtsdestoweniger führt uns diese neue Form des totalitärenFundamentalismus – mit der Verwüstung des Denkens, die ihn

X Kom

mun

e2/

2007

charakterisiert und die er aufzwingen will, und mit seiner Verach-tung für das menschliche Leben, das er mit kühlem Vorsatz aufetwas zu Eliminierendes, Überflüssiges reduziert – zurück aufessenzielle Ängste und lädt uns ein, Arendts hellsichtige Diagnosewieder aufzunehmen. In diesem Zusammenhang konfrontiert unsdramatischer als je zuvor der aktuelle Zustand der Welt in einerbeispiellosen Schwere mit der schwarzen Sonne des Skeptizismus,deren Schatten unsere Philosophin der politischen Natalität nichtverschont hat. Wiederholt hat sie sich gefragt, ob die Politik »über-haupt noch einen Sinn hat?«9

Dennoch habe ich anfangs Arendts »Vitalität des Urteilens«begrüßt als eine des »Über-Lebens«. Ich verstehe darunter kei-nesfalls ein humanistisches Verarzten der modernen Verwundun-gen: der Isolation, der Verzweiflung, der persönlichen und/oderpolitischen Zerstörung. Ich glaube, Arendt ist nicht lediglich eineDenkerin des Abbaus oder der Dekonstruktion. Ich nehme ihreFreude wahr, zu denken, dass die Wiedergründung möglich ist:eine Wiedergründung seiner/meiner selbst, die eines Volkes, diedes politischen Zeitraumes. Dies verlangt eine Liebe für das Ver-gangene und das Zukünftige. Und eine außergewöhnliche Fähig-keit zur Wiedergeburt, von der ein anderes weibliches Genie,Colette, sagte: »Wiedergeboren zu werden hat meine Kräfte nie-mals überstiegen.« Genau diese Haltung nimmt Arendt an, wennsie sich den Satz Tocquevilles zu eigen macht: »Eine neue Weltbraucht eine neue Politik.« Wenn Arendt die Tradition des Politi-schen abbaut, dann nicht aus Leichtfertigkeit, sondern nur umsie besser wiederbegründen zu können auf der Partizipationjeder Subjektivität in der pluralen Welt. Ich zitiere: »Die Politikhandelt von dem Zusammen- und Miteinandersein der Verschie-denen.« Können wir aus dem politischen Raum ein Zusammen-und Miteinandersein der verschiedenen Eigenheiten und Einzig-artigkeiten machen? Oder: »Der Ruin der Politik ... entsteht ausder Entwicklung der politischen Körper aus der Familie.« Das heißt,wenn er nicht aus dem Respekt vor den verschiedenen Familienentwickelt wird. Oder: »Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen, also durchaus außerhalb des Menschen. Es gibt daherkeine eigentlich politische Substanz.« Denn es gibt nur ein politi-sches Denken in dieser Pluralität der freudigen einzelnen Denken.Oder schließlich: »Freiheit gibt es nur in dem eigentümlichenZwischenbereich der Politik.«10

Bedeutet dies, dass für unsere politische Denkerin diese soverstandene Politik – als das Glück zwischen Einzelnen denken,innerhalb eines wieder zu erfindenden gemeinschaftlichen Ban-des – den Platz des Göttlichen einnimmt? Oder, wie ich denke,mäandern das Göttliche wie das heideggersche Sein (und dies istdie Revolution Heideggers) in der beunruhigenden Meinungs-haftigkeit des »Wer«, der ich bin? Das Göttliche ebenso wie dasSein partizipieren immanent an der Öffentlichkeit der singulärenDaseine – oder besser gesagt: sie inkarnieren sich in dieser grund-sätzlich liebend-leidenden Erzählung, die verschiedene Männerund Frauen um den pluralen Sinn ihres Handelns weben. Wäredie arendtsche Politik also die erste Politik der Inkarnation? Siezitierte gern Jesus von Nazareth, den sie immer für politischer alsPaulus hielt, da es für Jesus von Beginn an eine Pluralität gibt:so, wenn er sich auf den Schöpfungsbericht bezieht in dem esheißt: »Und er schuf sie als Mann und Weib.« (Gen.1,27)

Im Lichte der neuen Bedrohungen in Gestalt der Automatisie-rung der Gattung und der religiösen Fundamentalismen eröffnen

sich von unserer Neulektüre Arendts her zweierlei Möglichkeiten:Erstens, entweder wird das Wuchern der Entpolitisierung die

Rückkehr des Religiösen beschleunigen und den politischenRaum auf unabsehbar lange Zeit in Ohnmacht verfallen lassen –

oder, zweitens, die im Gange befindliche Programmierung desÜberflüssigmachens des menschlichen Lebens und die Instru-

mentalisierung des Todestriebes durch die Integrismen wird einkraftvolles Aufleben des inter-esses und eine Reinitiierung derinnovativen Subjektivität, des Erscheinens der Einzelnen in derWelt, hervorrufen.

Rein logisch gesprochen benötigt diese zweite Möglichkeitkeine Rückkehr zu, sondern ein Wiedergründen der Autorität desPolitischen, das wir vom Greco-Judeo-Christentum ererbt haben,und welche der Welt das Verlangen nach einer »gemeinsamenWelt«, die sich aus einer Vielzahl von »Wer’s« konstituiert unddie Arendt das »Zentrum der Politik« nennt, vermacht hat.

Es liegt an uns, diese Erbschaft zu reinterpretieren.Nur eine »neue«, in diesem Sinne erhellte Politik wird den Ruin

der Welt vermeiden können.

Unmittelbar: In Anbetracht der Tatsache,■ dass eine vielfältige Überflüssigmachung des menschlichenLebens weiterhin ein radikales Übel darstellt, das praktiziert undtoleriert wird;■ dass das Recht jeder Person, in der Pluralität der politischenBindungen in Erscheinung zu treten, heute noch an zahlreichenOrten unserer globalisierten Erde bedroht ist;■ dass es meistens Frauen sind, die zum Opfer dieser Zerstörungdes politischen Raumes und der Negation des Menschenwesenswerden, bis hin zu ihrem Recht zu leben;

in Anbetracht dessen denke ich, dass die Wiedergründung derpolitischen Welt, wie Hannah Arendts Werk sie vorschlägt, uns dazueinlädt, die Sorge um das einzelne Schicksal eines Mannes odereiner Frau, fern jeder Hierarchie, bis ans Herz der Demokratie derMeinungen – deren Schema sich heute abzeichnet – vorzulassen.

Daher bin ich darauf bedacht, diejenigen zu würdigen, die sichum das einzelne menschliche Schicksal und sein Recht, in derpluralen Welt zu erscheinen, sorgen. Um erträgliche, bewohnbarepolitische Räume mitzuerrichten.

Folglich leite ich das Preisgeld des Hannah-Arendt-Preises2006 an die NGO Humani-Terra (www.humani-terra.org) mit Sitzin Marseille weiter, um sie in ihrer vorbildlichen Arbeit im Kran-kenhaus von Herat in Afghanistan zu unterstützen. Sie arbeitendort insbesondere mit afghanischen Frauen, die kein anderesMittel finden, ihren Protest gegen die mannigfaltigen Ungerech-tigkeiten und Gewaltsamkeiten auszudrücken, als die Selbst-verbrennung. Dieser Preis möge zur medizinischen und psycho-logischen Hilfe und der Begleitung der Versehrten beitragen.

In der Hoffnung auf eine Fortsetzung dieses Zusammenwirkenswünsche ich mir, dass es durch den »Hannah-Arendt-Preis für poli-tisches Denken« möglich ist, ein Mehr an Aufmerksamkeit auf dasLos dieser Frauen zu lenken, um die internationale politische Soli-darität zu fördern: mit ihnen wie auch mit anderen Opfern von Poli-tiken, Ideologien oder Glaubenslehren, die das »Überflüssigma-chen menschlichen Lebens« zum Programm haben oder tolerieren.

Übersetzung von Martin Bannert

1 Julia Kristeva: Das weibliche Genie. Bd. 1: Hannah Arendt, Berlin 2001, Bd. 2: MelanieKlein, Berlin 2005, Bd. 3: Colette, Sacramento, 2006 (engl.).

2 Hannah Arendt: Aktive Geduld, in: Vor Antisemitismus ist man nur noch auf dem Mon-de sicher. Hrsg. v. Marie Luise Knott, München 2000, S. 28.

3 Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes, Bd. 1, München 1989, S. 29.4 Ebenda, S. 45.5 Ebenda, S. 207.6 Sigmund Freud: Das Ich und das Es, in: GW XIII, Frankfurt am Main 1999, S. 259.7 Hannah Arendt: Brief an E. Voeglin, in: Über den Totalitarismus, Texte Hannah Arendts

aus den Jahren 1951 und 1953, Berichte und Studien Nr. 17, hrsg. v. Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e. V. an der TU Dresden 1998, S. 49.

8 Hannah Arendt: Der Zionismus aus heutiger Sicht, in: Die verborgene Tradition, Frank-furt am Main 1976, S. 135.

9 Hannah Arendt: Was ist Politik?, München 1993, S. 28.10 Ebenda, S. 9–12.

➜ Julia Kristeva ist Romanistin, Psychoanalytikerin undSchriftstellerin in Frankreich

XI

Kom

mune

2/2007

Daniel Cohn-Bendit

Zum Fremden in uns offen bleibenRede zur Verleihung des Hannah-Arendt-Preisesan Julia Kristeva

Guten Abend, bonsoir, Julia. Julia Kristeva wird es verstehen,wie schwierig es ist für einen Frankfurter, eine Woche nach

der Niederlage nach Bremen zu kommen, aber ich tue es gern,weil es für dich, Julia, ist. Es gibt einen wunderschönen Begriff,den hat sie vorhin zitiert, »je me voyage«, das ist so die Defini-tion praktisch dessen, was sie ist. Das ist zwar eine Heldin einesihrer Romane, aber das ist sie selbst. »Ich bereise mich« – undich nehme sie mal mit auf Reise. Julia Kristeva ist ja in Bulgariengeboren, 1941, und die Frage ist ja dann, wenn Sie sich vorstel-len wollen, Julia Kristeva, ja, was sagen Sie denn? Bulgarin? Fran-zösin? Ich könnte sagen, willkommen, sie ist Europäerin, dennBulgarien ist gerade beigetreten, das macht es mir einfacher zusagen, sie ist Europäerin.

Aber so einfach ist es nicht. Um das mal herauszubekommen,möchte ich einen Gedanken von Amin Maalouf, das ist ein …und schon fängt es wieder schwer an … Amin Maalouf, ja, was ister? Ein in Libanon geborener Schriftsteller, das ist noch einfach,ist Franzose oder Libanese? Genau diese Frage, sagt er, AminMaalouf, stelle man ihm immer: Ja, was bist du eigentlich? Bistdu Libanese oder bist du Franzose? Und er sagt: sowohl als auch.Ja klar, du bist sowohl als auch, aber in der Tiefe deines Herzens– was bist du? Wenn du Schwierigkeiten hast oder wenn du dichidentifizieren musst, was bist du? Und er sagt, ich bin wedernoch. Ja, zur Hälfte bist du Franzose und zur Hälfte bist du Liba-nese. Nein, es gibt keine halbe Identität, es gibt keine Teiliden-tität so und eine Teilidentität so, ich bin ein Ganzes, und als Gan-zes bin ich, und dann sagt er, ich zitiere ihn jetzt, ich zitiere aufFranzösisch und übersetze ihn gleich mit – also: »Ich werde im-mer unter Druck gesetzt, ich muss mich jetzt entscheiden, abernicht nur unter Druck gesetzt von Fanatikern oder Xenophoben,sondern von Menschen wie Sie und ich, die immer die gleicheFrage stellen. Weil es eben diese Gewohnheit gibt, dass manimmer wieder versucht, die Identität, und zwar diese bigottenVersuche, die Identität immer auf einen Kern zu reduzieren. Alsgäbe es einen Kern der Identität – dagegen muss man protestie-ren, und ich sage mit Wut, ich habe keinen einen, eindeutigenKern, sondern meine Identität ist multipel, ist mehrdeutig.«

S ie werden sagen, das ist eine Banalität, eigentlich könntedas jeder sagen, jeder Intellektuelle, jeder gut meinende

Mensch, und am Stammtisch der Intellektuellen habe ich einengefunden, einen absolut brillanten Menschen, der hat den Blitz-ableiter erfunden, gar nicht schlecht, der zählte zu den Erstunter-zeichnern der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, also

jemand, der Tocqueville sehr beeindruckt hat. Der hieß BenjaminFranklin und hat 1751 ein Pamphlet geschrieben über die pfälzi-schen Bauern, es ging um Identität, um das Sein. Und ich schwö-re, ich bin zwar absolut laizistisch, aber ich schwöre bei allem,was ihr wollt, dass das, was ich jetzt vorlesen will, kein Scherzist, sondern Realität, es wurde so geschrieben.

Es ging um einen Streit, um die pfälzischen Bauern als deut-sche Einwanderer in Amerika. Diese deutschen Einwanderer wa-ren meistens Katholiken. Sie kamen aus der Pfalz, und sie warenanders als die anderen Einwanderer, die Anglikaner. Und zwaranders in einem ganz einfachen Sinn. Die Anglikaner arbeitensieben Tage die Woche, oder sechs Tage die Woche, am sieben-ten Tag gehen sie zur Kirche, morgens, und dann bleiben siepraktisch zu Hause. Sie kennen das, es war lange Zeit zum Bei-spiel unmöglich, ein Fußballspiel oder Tennisspiel in Wimbledonam Sonntag durchzuführen.

Die Katholiken, die pfälzischen Bauern, hatten eine andereTradition. Sie arbeiteten sechs Tage die Woche und am siebentenTag gingen sie auch in die Kirche, aber danach ging es ins Bier-oder Weinzelt und dann ließ man die Sau raus. Und das hat dieAnglikaner furchtbar gestört, die haben diese Zelte angezündet,das war ein richtiger Kulturkampf. Und daraufhin schrieb alsodieser Benjamin Franklin über die ethnische Reinheit Amerikas,ich erfinde nichts: »Die Zahl ganz weißer Menschen in der Weltist verhältnismäßig sehr klein. Ganz Afrika ist schwarz oder dun-kel, und ganz Amerika, außer den Neuankömmlingen. Und inEuropa haben die Spanier und Italiener, Franzosen, Russen undSchweden das, was wir gewöhnlich eine dunkle Hautfarbe nen-nen. So sind die Deutschen dunkel, mit Ausnahme alleine derSachsen, die mit den Engländern die Hauptmasse der weißen Be-völkerung auf der Erdoberfläche ausmachen. Ich wollte, es wärenihrer mehr.« [Lachen im Publikum.] Ja, manchmal ist es nicht zumLachen.

Daraufhin antwortet Julia Kristeva in Fremde sind wir uns

selbst: »Da ein neues gemeinschaftsstiftendes Band fehlt – eineHeilsreligion, die die Masse der Umherirrenden und Differentenin einen neuen Konsensus einbinden würde, einen anderen alsden von mehr Geld und Gütern für alle –, sind wir das erste Malin der Geschichte dazu gezwungen, mit anderen, von uns gänz-lich verschiedenen zu leben und dabei auf unsere persönlichenMoralgesetze zu setzen, ohne dass irgendein unsere Besonder-heiten umschließendes Ganzes diese transzendieren könnte.Eine paradoxe Gemeinschaft ist im Entstehen, eine Gemeinschaftvon Fremden, die einander in dem Maße akzeptieren, wie sie sich

XII Kom

mun

e2/

2007

selbst als Fremde erkennen. Die multinationale Gesellschaft wäresomit das Resultat eines extremen Individualismus, der sich aberseiner Schwierigkeiten und Grenzen bewusst ist – der nur Irredu-zible kennt, die bereit sind, sich wechselseitig in ihrer Schwächezu helfen, einer Schwäche, deren anderer Name unsere radikaleFremdheit ist.« Dies ist die Herausforderung, der sich Julia Kristevagestellt hat.

Nun gibt es aber einen Lackmus-Test, um zu wissen, ob diesstimmt und worin die Schwierigkeiten liegen. Es ist ein Momentder Hölle, es ist ein Moment, in dem man nicht mehr weiß, woman ist und wie man ist. Sie werden es nie erraten, was dieserLackmus-Test ist. Vielleicht errät sie es, wenn ich ein Datumsage: 17. November 1993. Le 17. novembre 1993. Ich bin zuvordurch diese Hölle gegangen am 8. Juli 1982. Sie wissen immernoch nicht, was dieser Lackmus-Test ist. Am 8. Juli 1982 spielteFrankreich gegen Deutschland und wurde im Halbfinale der Welt-meisterschaft ungerechterweise dann von Deutschland nachHause geschickt nach dem Elfmeterschießen, in Sevilla. Es warfurchtbar. An diesem Tag, und das muss man sehen, warum warich Franzose? Vielleicht weil an dem Tag der Fußball, den ich alsKind gelebt habe, also das, was man als Kind hat, die Identitätdoch mehr prägt. Und das ist jetzt meine Frage an Julia Kristeva,der 17. November 1993. Sie hat sich herumgetrieben als kleinesKind mit ihrem Vater auf Fußballplätzen in Bulgarien. Und am17. November 1993 hat Bulgarien Frankreich in die Wüste ge-schickt in der Weltmeisterschaftsqualifikation. Ich weiß nicht, obsie da zugeschaut hat. Hat sie zugeschaut, weil sie sehr oft Fuß-ball schaut, würde ich gern wissen, ob sie traurig oder glücklichwar an diesem Tag. Es war ihre Kindheit und es war ihre Realität,denn seit 1965 lebt sie ja, wie wir wissen, in Frankreich.

Lassen wir die Reise von Julia Kristeva einfach mal Revue pas-sieren. Sie ist eine Intellektuelle, sie hat politische Theorien

besetzt, sie hat die Freiheit versucht auf allen Ebenen, ging nachChina, schrieb ein Buch nachher, Die Chinesin, gehörte einerGruppe an, »telle quelle« in Frankreich, in der sie versucht hat, inder man etwas Verrücktes versucht hat, nämlich: Gibt es im Mao-ismus, gibt es in dem, was in China entsteht, doch so etwas wieeine Transzendierung der Freiheit, die wir uns wünschen? Nachder Reise in China war sie, muss man sagen, ein bisschen ent-täuscht. So schien es doch nicht zu sein mit der Kulturrevolution.Aber dieser Wunsch, politisch immer weiter zu denken, sich zuentwickeln, das hat sie oder war sie dann, hat die verschiedens-ten politischen Theorien, und sie hat keine Angst gehabt, wennder Präsident Jacques Chirac sie gefragt hat, ob sie einen Berichtmachen könnte über Behinderung, weil sie meint, behinderteMenschen sind in unserer Demokratie nicht …, dann hat sie esgemacht. Sie hat keine Angst im Laufe der Zeit gehabt, sich mitallen zu konfrontieren, sie hat einen Frauenstandpunkt gehabt,hat aber keine Angst gehabt – also Angst in dem Sinn von intel-lektueller Herausforderung – sich mit den Feministinnen aus-einander zu setzen. Sie hat Stellung bezogen zum Migrations-prozess, zur politischen Theorie, hat zur Psychoanalyse gefunden,das heißt den Weg zu sich selbst, sich mit sich selbst auseinan-der zu setzen. Die Psychoanalyse hat sie dazu gebracht, nichtnur Psychoanalytikerin zu werden, sondern wirklich die Psycho-analyse in der Bedeutung des Gesellschaftlichen auch mit zu be-nutzen. Und sie suchte immer in ihrer Interpretation der Literaturund der Menschen, ob sie Simone de Beauvoir oder Paul Celanbeschrieben hat, in diesem Moment der Literatur Sexualität,Emotion, Poesie zu finden.

Dann hat sie am Ende eine Trilogie geschrieben, Genie des

Wahnsinns, drei Frauen – Hannah Arendt, Melanie Klein und Co-lette. Und ich glaube, Hannah Arendt steht für die politische Phi-losophie, Melanie Klein steht für die Psychoanalyse und Colette

für die Lust, für den Spaß, für Sexualität im weitesten Sinne. Undin dieser Auseinandersetzung kommt dann, dass wir uns fragensollen: Ja aber, wo steht sie, und ist es nicht vermessen undgrandios zugleich? Dieses feminine Genie, das sie beschreibt, indrei Werken und drei Frauen. Dass sie eigentlich uns sagt undwir es akzeptieren und wir staunen, dass jemand die Kraft, dieChuzpe und die Stärke hat zu sagen, ich bin das, diese drei Frau-en bin ich auch, oder ich will es sein, ich will diesen Weg gehen.Und das finde ich eine der, wenn Sie wollen, tollsten intellektuel-len Herausforderungen, mit denen wir uns konfrontiert sehen,und das ist für mich Julia Kristeva. Und wenn man sie dann fragt,oder wenn sie selbst beschreiben soll, was ihr Denken ist, ich zi-tiere: »Je ne me sens pas d’humeur conclusive, pas encore: lesépreuves m’ont appris à vivre dans l’ouvert. – Ich verspüre nichtdas Bedürfnis, zu beenden, zu beschließen, noch nicht: DieHerausforderungen haben mich gelehrt, dass ich offen bleibenmuss.« Und dann kommentiert sie weiter: »Celui qui n’a pasd’épreuves ou, plutôt, qui les dénie se contente en réalité d’uneidentité jalousement gardée. – Der, der nicht mit Herausforde-rungen konfrontiert war oder sie verneint, der hat eine ver-schlossene Identität.« – »Il conserve ainsi ses limites, ses prin-cipes, ses protections qui lui servent d’antidépresseurs. – Erbehält das, was er verschließt, ein Antidepressivum, aber erkann sich der Welt nicht öffnen.« – »Au contraire, l’épreuve peutnous offrir l’occasion de ›faire nos preuves‹, – die Prüfung kannuns die Gelegenheit geben, uns zu beweisen, zu beweisen, waswir können und was wir wollen«. Die Prüfung, l’épreuve, »metà mal les frontières et nos défenses et ne nous laisse pas beau-coup de choix ; soit on se déprime, soit on met en questionvaleurs et certitudes. J’essaie, dans ma vie et dans ma pensée,de me tenir dans ce questionnement. – Diese Prüfung geht andie Grenzen unserer Möglichkeiten. Entweder können wir dieseHerausforderung nicht meistern, oder wir sind in der Lage, unse-re Sicherheiten, unsere Werte zu hinterfragen.«

Und dann resümiert sie ihr Denken: »Un projet sans program-me, un état de surprise permanente face aux phénomènes, auxdiscours, au sens et au non-sens, qui me libèrent de ce qui a eulieu ainsi que de mes jugements antérieurs, et qui m’incitent àune sorte de dépassement. Je vis avec ce désir de sortir de moi.«Das heißt, sie sagt ganz einfach: »Ich habe ein Projekt ohne Pro-gramm, das mich einschließen, beschließen wird. Ich will – siehat ja Hannah Arendt vorhin zitiert – un état de surprise, dieÜberraschung, in der Lage zu sein, die Überraschung des Seinsauch aufzugreifen, und diese Überraschung, das Akzeptieren derÜberraschung, ist ein Moment der Befreiung, der Befreiung desDenkens.« Und sie endet, indem sie sagt, »ich lebe mit diesemWunsch, mit diesem Bedürfnis, aus mir herauszukommen, ausmir herauszugehen«.

Das ist, glaube ich, das, was Hannah Arendt – sehen Sie, ichwusste es, irgendwann würde dieses auch passieren – was JuliaKristeva uns sagt. Und dann, politisch steht sie dazu – und dasist selten für Leute unserer Generation, dass man immer nochdazu steht – ja, sagt sie, man hat das Recht zu revoltieren. Ja,sagt sie, Revolten gehören dazu, und sie, ich zitiere sie auchhier wieder, weil ich sehe, es sind auch viele Eltern hier, und das,was ich hier zitiere, bereitet uns allen Schwierigkeiten, wenn wirJa zu dem sagen, und das sagen wir meistens, weil wir ja von derrichtigen Generation sind, ja, aber das ist doch nicht so einfach,also: »Oui, on a raison de se révolter. – Ja, man hat das Recht,es ist richtig zu revoltieren.« „Et ce n’est pas simplement un bonmot de flatter. – Es ist nicht nur so gesagt, um zu gefallen.« »Larévolte constitue notre intégrité psychique. – Die Revolte struk-turiert unsere psychische Integrität.« Unsere psychische, »la viepsychique, le psychisme comme vie«. Es ist im Innern unsererPsyche.

XIII

Kom

mune

2/2007

Und jetzt kommt es, Eltern aufpassen: »Si l’enfant ne se ré-volte pas contre le père ou la mère, si l’adolescent ne crée pasune réalité rebelle contre ses parents, contre l’école et contrel’État, il est tout simplement mort. – Wenn das Kind sich nicht ge-gen den Vater oder die Mutter auflehnt, wenn der Jugendlichekeine aufsässige Wirklichkeit gegen seine Familienmitgliederschafft, gegen die Schule und gegen den Staat, ist er ganz ein-fach gestorben.« Jaa!? Wie viele adoleszente Kinder haben wir,und leiden wir oder leiden wir nicht unter dieser Revolte, undsind wir in der Lage, diese Revolte auszuhalten? Dies ist eine,meiner Meinung nach, wichtige Frage. »Il se prive l’enfant de lapossibilité d’innovation et de création, il devient un robot. – EinKind, das nicht gegen seine Eltern revoltiert, ein Kind, das nichtgegen die Schule revoltiert, ein Kind, das nicht gegen den Staatrevoltiert, wird zum Roboter.« Wollen wir das? »Cette grandequestion générale … brulant. – Diese große Frage ist von einerbrennenden Aktualität«, für uns Eltern auf alle Fälle.

Was ich damit zeigen will, wenn sie dann über Sartre in ihrenVorlesungen spricht, über Simone de Beauvoir, ist sie nichtblind, und wenn sie zum Beispiel den Prozess beschreibt, alsSartre seinen Nobelpreis abgelehnt hat, mit welcher antibürger-lichen Haltung, dass er gleichzeitig aber den Kommunismusakzeptiert hat, den Totalitarismus akzeptiert hat – also dass die-se antibürgerliche Attitüde einherging mit einer bürgerlichenBlindheit und so weiter. Sie entzaubert den ganzen Zauber desLebens, und trotzdem ist man immer wieder verzaubert vondieser Suche nach einem Nicht-, nicht nur nach einem nicht-kor-rekten Denken, sondern von der Suche nach einem Denken,das auch aufsteht und Nein zu dem, was in der Welt geschieht,sagen kann.

Zum Schluss möchte ich wiederum sie zitieren, und zwar ausdem Buch über Hannah Arendt, das sie geschrieben hat. Und

zwar, weil es ja ganz spannend ist, sie versucht aus dem Feminis-mus diese Antimütterlichkeit zu entreißen. Sie sagt, eine Frau,das, was eine Frau auch schafft, definiert, ist eben Leben zuschaffen. Und sie analysiert, und das ist sehr interessant, was beiHannah Arendt, obwohl Hannah Arendt selbst nicht Mutter war,trotzdem sehr früh diese auch als menschliche Gabe definierthat. Und so endet ihr Buch über Hannah Arendt: »Eine volleerfahrene Natalität umfasst notwendigerweise geboren werden,Leben geben, die Singularität einer jeden Geburt bejahen, stän-dig im Leben des Geistes wiedergeboren werden. Ein Geist, derist, weil er in der Pluralität der anderen neu beginnt und nur unterdieser Bedingung als ein lebendiges Denken wirkt, das jede an-dere Tätigkeit überschreibt. Doch das Wunder« – nicht von Bern –»verwirklicht sich sogar in einem einzigen Ausschnitt dieser vol-len Erfahrung, die es durch das Versprechen rechtfertigt, das sieöffnet, und durch das Verzeihen, das sie markiert. Arendt hat dasgeteilt, denn sie war unbestritten eine der seltenen Personenunserer Zeit, die jene Glückseligkeit verwirklichte, in der LebenDenken heißt. Schrieb sie doch, obwohl ihr die Wonnen des Den-kens unaussprechlich waren, die einzige denkbare Metapher fürdas Leben des Geistes ist die Empfindung des Lebendigseins.Hannah Arendt lädt uns ein, ohne allzu große Illusionen, unterdem Zeichen eines sich überkreuzenden Verzeihens und Verspre-chens, ein politisches Handeln, das einer Geburt gleicht undSchutz vor Fremdheit bietet, zu denken und in der Gegenwart zuleben.« Das ist auch Julia Kristeva.

➜ Daniel Cohn-Bendit ist Mitglied des Europa-Parlamentes undHannah-Arendt-Preisträger 2001

XIV Kom

mun

e2/

2007

Die Geburt des Neuen durchdas HandelnLaudatio für Julia Kristeva

Ein Mädchen aus der Fremde. Julia Kristeva zitiert in ihremBuch über Hannah Arendt einen Brief ihrer Heldin, des ersten

unter ihren drei weiblichen Genies, an Martin Heidegger. »Ichhabe mich nie als deutsche Frau gefühlt und seit langem aufge-hört, mich als jüdische Frau zu fühlen. Ich fühle mich als das, wasich nun eben einmal bin, das Mädchen aus der Fremde.« Kristevabemerkt gleich, dass es hier um ein Gedicht von Schiller geht,und in der Fußnote zitiert sie auch zwei Strophen des Gedichtes:

Sie war nicht in dem Tal geboren,/ Man wusste nicht, woher sie

kam;/ Und schnell war ihre Spur verloren,/ Sobald das Mädchen

Abschied nahm.// Seligend war ihre Nähe,/ Und alle Herzen

wurden weit;/ Doch eine Würde, eine Höhe/ Entfernte die Ver-

traulichkeit.

Kristeva erwähnt noch, dass Heinrich Blücher gern seine Frau sobezeichnete, und dass Heidegger selbst ein Gedicht über diesesThema für Hannah geschrieben hat. Danach erwähnt sie das Ge-dicht nicht mehr. Hat sie diese Strophen wegen der letzten zweiVerse zitiert, die in ihrer eigenen Prosaübersetzung – sa dignité

majestueuse éloignait toute familiarité – noch härter klingen?Mag sein. Über Kristevas Leben weiß ich nicht viel mehr, als dasssie in Sliwen, Bulgarien, geboren ist und seit ihrem 24. Lebens-jahr in Paris lebt und tätig ist. Eine Fremde unter den Franzosen.»Nirgendwo ist man fremder als in Frankreich« – schreibt sie; siefügt aber fast gleich hinzu: »… dennoch, nirgendwo ist man bes-

ser Fremder als in Frankreich.« Das reicht aber. Sie selbst mussauch ein Mädchen aus der Fremde sein, dessen Würde und Höhedie Vertraulichkeit ebenso entfernen muss wie bei Arendt. EinFremder zu sein ist eine Last, eine Fremde zu sein ist bestimmtnoch mehr eine Last, aber eben diese Last, wenn eine sie nichtloswerden kann und will, wird ihr zur Würde und Höhe des bios

theoreticos verhelfen. Kristeva schreibt: Arendt erinnere uns da-ran, dass bios theoreticos grundsätzlich ein bios xenicos sei. Einbios xenicos ist freilich nicht notwendig auch ein bios theoreticos.Ist aber eine »Fremdlingin« (Heidegger nennt Hannah im erwähn-ten Gedicht so) eine Theoretikerin, dann ist sie in dreifacher Weiseein xenos. Erstens eine Jüdin unter Deutschen, eine deutscheJüdin in Amerika oder eben eine Bulgarin unter Franzosen. Zwei-tens: eine Frau unter Männern, ist erst recht fremd, wenn sie,heiße das wie auch immer, darauf beharrt, als Frau zu denken,sich an die Denkweise der Männer nicht anzupassen. Und drittens:als Denker unter Forschern; da bios theoreticos zu sein, heißtdenken im heidegger-arendtschen Sinne, und nicht das Seiendeerforschen, erkennen, damit der Mensch – nicht wir, die Menschen

– maître et posesseur de la natur, das heißt reich und mächtigwird und in Sicherheit leben kann. Darum geht es eben. Um einLeben, das eine ständige Neugeburt ist, sei es durch Liebe, oderdurch Politik. Diese zwei Wörter, Liebe und Politik als Quellender Neugeburt, verbinden miteinander Julia Kristeva und HannahArendt, diese außergewöhnlichen Mädchen aus der Ferne.

Denn jemand kann vielleicht darüber staunen, dass hier dies-mal Julia Kristeva den »Hannah Arendt Preis für politisches

Denken« übernimmt. Man könnte ja darüber staunen, sogar auszweierlei Gründen. Man könnte einerseits sagen, dass Kristevaalles andere sei, nur keine ausgesprochene politische Denkerin.Andrerseits ist Kristeva nicht nur eine sehr bekannte Psychoana-lytikerin von Beruf, sondern auch jemand, der zur Deutung derPsychoanalyse sehr viel Wichtiges beigetragen hat; und die Psy-choanalyse bildet ihr den Ausgangspunkt bei der theoretisch-philosophischen Analyse fast aller Erscheinungen, die sie inter-essieren, und ihr Interessenfeld ist wirklich vielschichtig und ver-zweigt; sie ist ein Mensch, und nichts Menschliches ist ihr fremd,auch das Fremdeste nicht. Arendt aber hat – und jetzt werde ichKristeva zitieren – »die Psychoanalyse zeit ihres Lebens verach-tet«. Dennoch hat Kristeva den ersten Teil ihrer Trilogie über»le génie féminin« Arendt gewidmet, und – auch unabhängig da-von – das Staunen ist ganz und gar unbegründet. Einerseits istKristeva im Sinne Arendts doch eine echte politische Denkerin.Wie oft sie sich über die politischen Ereignisse unserer Zeit aus-gesprochen hat, weiß ich nicht. Arendt scheint mir in dieser Hin-sicht sicher aktiver gewesen zu sein. Hannah Arendt war abernicht deshalb eine politische Denkerin, vielleicht die größte poli-tische Denkerin des letzten Jahrhunderts, weil sie als politischeJournalistin zeitweise ziemlich aktiv war. Sie war eine politischeDenkerin, weil im Zentrum ihrer Erläuterung des Menschenlebensetwas stand, was sie Politik nannte; Politik nicht im Sinne, wiesie uns in unserer Zeit erscheint und meist aufgefasst wird, näm-lich als Schlachtfeld der voreingenommenen, aneinander stoßen-den Interessen, bei dem nichts anderes zählt als die Wohlfahrtund der Gewinn, der Fanatismus und die Herrschsucht, wo die öf-fentlichen Angelegenheiten vom Interesse und von der Macht ge-steuert werden, sondern im Sinne der griechischen polis, in derdie Menschen in der Gesellschaft von Gleichgesinnten auftraten,diese Gesellschaft genossen, zusammen handelten und vor derÖffentlichkeit erschienen, mit ihren Worten und Taten zum Gangder Welt beitrugen, und auf diese Weise ihre persönliche Identitäterwarben und bezeugten und etwas vollständig Neues begannen.

Mihaly Vajda

XV

Kom

mune

2/2007

Gemeinsames Handeln und Denken gleich gesinnter Individuen,wobei ein jeder seine Individualität zustandebringen und auf-zeigen will, wodurch auch etwas vollständig Neues in der Welterscheint, die Geburt des Neuen, die ständige Erneuerung unse-rer Welten, das ist, was Arendt Politik, den wahren Gehalt derPolitik nannte, und was im Zentrum ihres Interesses und ihrerAnalysen stand. Die Geburt des Neuen durch das Handeln derIndividuen, die während dieses Handelns außergewöhnlich wer-den, das bildet aber auch das Zentrum des Interesses von JuliaKristeva. Die zwei Fremden sprechen über dasselbe, was, wieHeidegger so oft betont, nicht das Gleiche ist, nämlich über denBeginn, über die Geburt des ständig Neuen, was in ihren Augendas Spezifikum der Menschen ist. Initium ergo ut esset, creatus

est homo, zitiert Arendt 1929 Augustin in ihrer Dissertation überden Liebesbegriff bei Augustin. Bei Augustin ist das Neue in derLiebe geboren. Im Jahre 1929 wusste Arendt noch, dass auch dieLiebe der Neubeginn des Individuums ist, nach 1933 steht imZentrum ihres Interesses – aus wohl begreifbaren Gründen – aus-schließlich der politische Raum als der Geburtsort des Neuen.Sei es aber wie auch immer, das Interesse für die Geburt desNeuen und die Überzeugung, dass ohne permanente Neugeburtenkein echtes, das würdiges Menschenleben möglich ist, ist dasGemeinsame bei Arendt und Kristeva. Deshalb konnte Julia Kris-teva trotz Arendts Verachtung der Psychoanalyse und, was nochwichtiger ist, trotz der Enge der arendtschen Sicht, nämlich dasssie sich die Geburt des Neuen ausschließlich in einem politischenRaum vorstellen konnte, für dessen Neuschaffung die Chancen inunserer Zeit nicht allzu groß sind, die Größe, die Genialität derpolitischen Denkerin verstehen und darstellen.

Übrigens meint Kristeva, dass hinter Arendts Verachtung derPsychoanalyse ein falsches Bild der psychoanalytischen Einstel-lung stecke. In der Psychoanalyse sah sie nämlich »eine szien-tistische Reduktion des ›Lebens des Geistes‹ auf Gemeinplätze«.Hat Arendt vielleicht zu viel Freud und zu wenig Melanie Klein(das zweite weibliche Genie) und Lacan gelesen? Kristeva zeigtuns, dass Arendts Analysen von persönlichen Lebensgeschichtenoft ganz nah zur Psychoanalyse standen. Als zum Beispiel Arendtüber die Gefasstheit von Rahel Varnhagen spricht, bemerkt Kris-teva: »Während dieser Begriff an Heideggers Entscheidung oderEntschlossenheit erinnert, stellt der psychologische Kontext, indem Arendt mit ihrem ›Beispiel‹ Rahels steht, ihre Überlegungeher in die Nähe der Psychoanalyse als der Ontologie. RahelsBiografin führt eine eindringliche Analyse der Spaltung der hyste-rischen Persönlichkeit durch, so wie Analytikerinnen sie zur glei-chen Zeit zu beschreiben beginnen – als ›Maskerade‹ nach JoanRiviere oder als ›Persönlichkeiten als ob‹ nach Helene Deutsch.«

Immer wieder wird also die Wiedergeburt in der Liebe und inder Politik, in der ständigen Befragung unseres Lebens betont.

»Nicht mehr ewiges Glück noch Wiedererinnerung an das SeinGottes in der Glückseligkeit des Liebenden, ist das Leben nuneine Frage. … Das Leben, das sich nicht befragt, das Leben in derGewohnheit erscheint nunmehr nach biblischem Denken als›wahre Sünde‹, mehr als irgendein Begehren. … Arendt beharrtauf dem Leben als Konflikt …« Der »psychische Raum des Fragensist genussbringend, er garantiert das Überleben des Lebendendurch die Fähigkeit, sich etwas vorzustellen, aber nur insoferndas Subjekt fähig ist, sich der Autorität oder auch einfach nur derGrenze des Anderen entgegenzustellen. Genuss der Liebe, ge-wiss, aber der Liebe als Konflikt: in einem Zustimmung und Ver-weigerung, Freude und Leid.« Kristeva schreibt diese Zeilen überHannah Arendts Augustin-Interpretation. Könnte hier nicht imText statt Liebe Auftritt des Individuums im öffentlichen Raumstehen: Auch die arendtsche Politik garantiert das Überleben desLebenden durch die Fähigkeit, sich etwas vorzustellen innerhalb

eines Konflikts, der in einem Zustimmung und Verweigerung,Freude und Leid ist. Erinnert das, was Kristeva am Anfang ihresBuches Geschichten von der Liebe, im »Lob der Liebe« schreibt –»… was ist die Psychoanalyse anderes als eine endlose Suchenach Wiedergeburten vermittels der Liebeserfahrung, die immerwieder gemacht wird, um verschoben, wieder aufgenommen und,wenn schon nicht abreagiert, so doch gesammelt und eingesenktzu werden in das künftige Leben des Analysanden als verhei-ßungsvolle Voraussetzung für seine ständige Erneuerung, seinenNicht-Tod?« –, erinnert das nicht an Hannahs Lob der polis, desRaumes, der alleine fähig war zu erreichen, dass es sich lohntedie Last des Lebens zu ertragen und auch im Schatten des per-sönlichen Todes zu leben? Die Liebe und die Politik sind so auf-gefasst, wie Kristeva sagt: »Versöhnung mit der Erfahrung unse-res eigenen Verlustes«. (»Der Skandal des Zeitlosen«) KeineErlösung, keine Auferstehung, daran können die modernen Men-schen nicht mehr glauben, sondern endlose Suche nach Wieder-geburten. Jeder Abschluss, das Erreichen des Zieles, ist, wie be-kannt, der Tod selbst.

Damit hängt aber auch Kristevas Kritik an der Enge der Einstel-lung der späten Arendt zusammen. Gewiss hat Arendt die Politikerotisiert, und Kristeva stellte die Liebe im arendtschen Sinnepolitisch dar. Kristeva weiß aber genau, dass die Ethik der Mo-derne die lästige und unvermeidliche Problematik des Gesetzesnicht umgehen kann, was Arendt im Zusammenhang ihrer eroti-sierten Politik zu vergessen schien; deshalb stand sie ganz ver-zweifelt in einer Welt, in die die Politik, so, wie sie in der polis

und dann in der Moderne alleine in der amerikanischen Revolutionwar (vielleicht noch in der ungarischen von 1956), nicht mehrzurückkommen kann. Sie hat nicht den Versuch gemacht, derProblematik des siegreichen Gesetzes »dem Körper Sprache undLust zu verleihen« – was Kristevas Meinung nach nur Frauen mitihrem Wunsch nach Reproduktion neu formulieren könnten. »Da-mit das Denken des Todes erträglich wird: Die Häretik ist Nicht-Tod, Liebe …« Kristeva kritisiert auch Arendts starre Gegenüber-stellung von Privatem und Öffentlichem. Sie sagt einerseits:»Man kann die Kühnheit, mit der sie die der Ökonomie unterwor-fene ›Gesellschaft‹ kritisiert, nur begrüßen, nachdem das Gesell-

schaftliche in der Tat zum Gemeinplatz jeder Politik, von rechtswie von links, geworden ist. Außerdem ist die Versuchung groß,Hannah Arendts Plädoyer gegen das Gesellschaftliche in dieNähe der psychoanalytischen Unterscheidung zu rücken, die zwi-schen dem Bedürfnis einerseits, das das Subjekt an das Archai-sche und die mütterliche Abhängigkeit bindet (was Arendt ›Haus-halt‹, ›Ökonomie‹ und vitalistische ›Gesellschaft‹ nennt), unddem Begehren andererseits, das die gefahrvolle Freiheit derBeziehungen zu anderen öffnet (was sie den ›Raum des Erschei-nens‹ und der ›politischen Aktion‹ nennt), differenziert.« Sie willaber andererseits dennoch »die Grenze des arendtschen Plädoy-ers gegen eine von der Ökonomie überflutete und dadurch dieFreiheit der polis verschlingende Gesellschaft hervorheben«. Siekritisiert die zu enge Auffassung des Ökonomischen, des WeiterenArendts Behandlung des Körpers und des psychischen Lebensund der Intimität, die sie alle notwendig unpolitisch und zum All-gemeinen angehörig sieht. Will Kristeva etwa sagen, dass es sichlohnt, auch in einer Welt zu leben, in der der polisartige politi-sche Raum die Gesellschaft nicht in den Privathaushalt zurück-drängen kann, und die Chancen, dass einzig und allein die polis-artige Politik die Welt gestaltet und sie permanent neu gebärt,sehr gering zu sein scheinen? Ich meine wohl. Auf dieser Weisehat sie sich aber Arendt nicht gegenübergestellt, sondern mitHilfe der Psychoanalyse ihre ganz originelle Sicht erweitert.

➜ Mihaly Vajda lehrt Philosophie an der Universität Debrecen/Ungarn

Kom

mun

e2/

2007

XVI

Diskussionsforum

Berührungspunkte zwischen dem Denkenvon Hannah Arendt und der Psychoanalyse?Aus dem Diskussionsforum zum Festvortrag von Julia Kristeva

An der Diskussion beteiligten sich außer Lorenz Böllinger nochBettina Schmitz, Ute Vorkoeper und Adrienne Goehler mit

vorbereiteten Beiträgen. Ausschließlich Platzgründe waren fürdie Festschrift-Redaktion des Hannah-Arendt-Preises für politi-sches Denken maßgeblich für die Kürzung auf den Abdruck einesBeitrages. Die gesamte Diskussion ist dokumentiert auf der Web-site der Heinrich-Böll-Stiftung Bremen: www.boell-bremen.de

Lorenz BöllingerHallo, Frau Kristeva, ich freue mich sehr, Sie heute hier zu treffen.Es tut mir sehr leid, dass ich gestern aufgrund eines familiärenProblems nicht anwesend sein konnte. Ich habe aber Ihren Artikelgelesen und beziehe mich nun darauf. Er hat geradezu eine Flutvon Eindrücken, Gedanken und Reflektionen, sozusagen von frei-en Assoziationen in mir hervorgerufen. Doch zunächsteinige Worte zu meiner Person: In erster Linie bin ich Jurist, ichlehre Strafrecht und Kriminologie an der Universität Bremen. InZweitqualifikation bin ich Psychologe und Psychoanalytiker, auchMitglied der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung.Und so wie Sie Brücken bauen möchten, wenn ich das richtig ver-stehe, zwischen der Psychoanalyse, Philosophie und Politikwis-senschaft, versuche ich Brücken zu bauen zwischen der Rechts-wissenschaft, Kriminologie und der Psychoanalyse. Soweit zumeiner Person.

Ich habe meinen Beitrag nicht sehr genau strukturiert, essind, wie gesagt, eher freie Assoziationen mit einigen eingebau-ten Fragen.

EinführungJulia Kristeva zufolge gründet sich Hannah Arendts »Denken inBewegung« in Ereignissen und in der Erfahrung. Es gelingt ihm,die Sackgassen der Subjektivität wie auch der Politik zu öffnen –und das effektiver als es die politiktheoretische Metasprache derPhilosophen und professionellen Politologen vermag – indem esauf überraschende Weise die Aufmerksamkeit, die Spannungenund die Debatte wiedererweckt, um so den »Kräften des Todes«entgegentreten zu können. Auf eine frappierend moderne Artvertrat Arendt eine grundlegende Theorie der sozialen und indi-viduellen Realität, in der diese sich über einen dynamischen, inder Erfahrung der Interaktionen zwischen Individuen, Gruppen,Ethnien, Nationen et cetera gegründeten Prozess herstellt.

Hierauf baut Kristeva in den vier Themen ihres Vortrages auf.Zunächst arbeitet sie Arendts Position heraus, der zufolge »Den-ken und Urteilen, die Meinung allein die Gewalt besiegen« könne

und dass die Meinungen der Zuschauer und nicht die Wahrheitdie unverzichtbare Basis der Macht sind. Ich glaube, dies wird imKontext von Kristevas erweitertem Blickfeld auf die menschlicheEntwicklung verständlicher. Mit ihrem »semiotischen« Zugangwerden Zeichen und Bilder, körperliche und affektuale Kommuni-kation zu Vorläufern der Symbole und der Sprache. Es scheintevident, dass diese Entwicklung nur in einem kontinuierlichenInteraktionsprozess stattfinden kann, in dem nicht nur die Mutter-Kind-Dyade, sondern ebenso der familiäre Kontext und insbeson-dere der Vater eine wichtige vorödipale Rolle spielen. Wenn dieIntersubjektivität in diesem erweiterten Umfang gesehen wird,dann erst sind wir in der Lage, der Pluralität, die für unsere Weltund uns Individuen konstitutiv ist, Rechnung zu tragen. Und diesbesser, als es bei anderen zeitgenössischen psychoanalytischenZugängen der Fall ist.

Mit ihrem zweiten Punkt will Kristeva, so denke ich, uns überden Bedarf an diesem oben erwähnten »Denken in Bewegung«bei Individuen und Gesellschaften aufklären. Es ist die Voraus-setzung einer »kontinuierlichen Wieder-geburt« und einer »Wie-der-gründung«, die wesentlich sind, so Kristeva, um die im Zugeder Säkularisierung entstandene Leere kompensieren, und umStagnation, Fundamentalismus und Totalitarismus vermeiden zukönnen. Wie auch immer, dies scheint mir etwas abstrakt undidealistisch zu sein, und sollte substanziell gefüllt werden mitHilfe psychoanalytischer Modelle des Selbst und der zwischen-menschlichen Bezüge, ebenso wie mit Hilfe eines psychosozialenBlickwinkels auf die Bedingungen der jeweiligen individuellenund gesellschaftlichen Reflexionsmöglichkeiten.

Im theoretischen Zentrum ihres dritten Teils steht die arendt-sche Triade aus Autorität, Religion und Tradition, welche nachihrer Schwächung durch die Säkularisierung nunmehr »neu-ge-macht« werden soll. Mit dieser Position liefe sie allerdings Ge-fahr, so Kristeva, als eine repressive Konservative missverstan-den zu werden, also ganz im Gegensatz zu dem, was sie eigent-lich eröffnen möchte.

Auf diese drei Thematiken möchte ich meinen Kommentarfokussieren.

Psychoanalyse und KonstruktivismusKristevas Plädoyer für eine »Entmystifizierung der politischenTradition« und die Befreiung des politischen Feldes von denWächtern der »Wahrheit« scheint mir deckungsgleich zu sein mitdem zeitgenössischen epistemologischen Ansatz des Konstrukti-vismus. Das Konzept der Relativität und Konstruiertheit der Wahr-

Kom

mune

2/2007 XVII

nehmung, des Urteilens, der »Wahrheit« und der »sozialen Reali-tät« auf Grundlage der Sozialstruktur und der Interessen sind ge-wiss ein weiterer Schritt, ein weiteres Niveau der Aufklärung. Indiesem Zusammenhang macht Arendts Frage »Wer sind wir?« imGegensatz zu der Frage »Was sind wir?« absolut Sinn. Neben Be-griffen wie Ereignis, Erfahrung, Beziehung und Interaktion impli-ziert diese auch das »liebende Prinzip, das die Welt regiert«, wieKristeva Arendt interpretiert. Oder, in psychoanalytischer Termi-nologie: libidinöse Kathexis und Sexualisierung. Wie auch immer,klingt die Annahme eines »Lebens als Liebe« nicht etwas idealis-tisch, utopisch oder sogar religiös? Meint Kristeva damit etwasÄhnliches wie Freud mit seinem »Lebenstrieb«? Was ist dann mitdem »Todestrieb«? Wo werden Aggression und Destruktivität indieser Vorstellung angesiedelt?

Eine andere Frage: Fasst man, mit Arendt, das individuelle»Subjekt als ein Ereignis und mitnichten als eine psychologischeDiagnose der Dispositionen«, so deckt sich das sicherlich mit derPsychoanalyse, die Subjektivität und Identität als ein vorläufigesErgebnis eines dynamischen Interaktions- und Sedimentations-prozesses zwischen ego und alter, zwischen Subjekt und Objekt,zwischen Individuum und Gesellschaft, begreift – strukturiertdurch bestimmte typische Lebensverläufe, Lebensereignisse, Zu-fälligkeiten, durch soziale Strukturen und Bereiche. Aber ist diesnicht eine ziemlich abstrakte und idealistische Aussage ange-sichts der höchst substanziellen sozialen Interessen und Kräfte,die die Ereignisse, Lebensverläufe und Interaktionen überwölben?

Wenn Kristeva sagt, Arendt verkehre »unermüdlich ihre Me-lancholie und die Sackgassen der Moderne in eine Öffnung, eineWieder-Geburt« – heißt das nicht, dass eine Zerstörung externerund interner Strukturen stattfinden muss? Meint sie dies, wennsie von der »Erotisierung des Mörders der Mutter« spricht? Ande-rerseits sagt sie, Arendt befürworte eine Erneuerung der »gre-co-judeo-christlichen Trinität aus Autorität, Religion und Traditi-on« – zwar nicht in dem Sinne, sie wieder herzustellen, sondernvielmehr um ihren Sinn zu re-initialisieren in ihrem eigentlichennucleus, der Autorität nämlich. Meint sie dies metaphorisch imSinne klarer, stabiler Räume – Räume für Intersubjektivität, fürSpiel und für Ereignisse – oder meint sie das eher im Sinne festerund idealisierbarer Mutter- und Vaterfiguren? Mir hat sie nichtrecht plausibel machen können, warum es so etwas geben solltewie ein absolutes »Bedürfnis zu glauben, welches unabdingbarist bei der Herausbildung einer psychischen Identität, die überdie primäre Identifikation mit dem liebenden Vater der persönli-chen Vorzeit abläuft«. Birgt das nicht die Gefahr, die Übertra-gung, Idealisierung, Personalisierung und die Regression zu per-petuieren?

Und hat Arendt nicht einen viel moderneren, sagen wir haber-masschen »Verfassungspatriotismus« im Sinn, der die genannteTrinität beinhaltet und umfasst? Er verbindet grundlegende indi-viduelle, (nicht externalisierte und personalisierte) menschlicheWerte (wie z. B. aus dem Christentum), mit Methoden und Pro-cederes der Koexistenz und der Konfliktlösung, mit kritischemAbwägen und Selbstreflexion im Sinne des Konstruktivismus.Wäre damit nicht dem Aufklärungszweck besser gedient, denKristeva zu Beginn ihrer Rede anführt: »... die Fäden des Politik-vertrages, der die Männer und Frauen regiert, in Schwingung zuversetzen?« »Um die Autorität dessen, was uns (ver)bindet mitder Unberechenbarkeit jedes Einzelnen von uns ebenso zu versöh-nen wie die Pluralität der Welt mit dem auf das Urteilen hin aus-gelegte Leben des Geistes«? Vielleicht meint sie eben dies, wennsie formuliert: »Die Fähigkeit, mit den Erscheinungen zu spielen,ist integraler Bestandteil politischer Virtuosität – Spielregeln,wohlgemerkt, immer vorausgesetzt.«

Für mich bleibt es unklar, ob Kristeva sich Arendts Sicht an-schließt, wenn diese sagt, »der Totalitarismus ist eher ein Pro-

dukt des modernen Atheismus denn ein sozio-historischer Pro-zess«. Ihn als einen zu bekämpfenden »bösartigen Nihilismus«zu etikettieren, könnte sich als eine gefährliche Aussage heraus-stellen, angesichts des heutigen wie auch des früheren religiösenTotalitarismus. Auch steht diese Aussage im Widerspruch zu ihrerberechtigten Warnung vor dem »hinter der Maske des Fundamen-talismus aufkeimenden Totalitarismus«. Ist eine aufgeklärte,selbstreflexive Philosophie mit der Möglichkeit des endlosen,sophistischen Fragens, ist die Aufklärung nicht weniger gefähr-lich als ein religiöser Glauben, und diesem deswegen vorzuzie-hen? Dabei könnte die Psychoanalyse eine unverzichtbare Rollebei der Aufdeckung der unbewussten Übertragungen bei der Kon-struktion der »Wahrheit« und der sozialen Realität spielen. Mei-ner Meinung nach brauchen wir den Prozess der Selbst- und In-teraktionsreflexion, diese Dekonstruktion der Prozesse der Wahr-nehmung, des Theoretisierens und Wahrheitfindens mit Hilfe derpsychoanalytischen Begrifflichkeit (v. a.: Übertragung, Spaltung,Verleugnung, Projektion, projektive Identifizierung). LibidinöseKathexis kann es geben – einen Glauben, sich selbst, den Ande-ren, den Fremden, ethnische Subkulturen oder die gesellschaft-lichen Interaktionsmechanismen wirklich zu verstehen.

Obschon Hannah Arendt der Psychoanalyse offensichtlichskeptisch gegenüberstand, denke ich, dass wir genau dort ihreMethode und Inhalte wiederfinden können. Die Interaktion des»Wer«, der nur deshalb die Macht usurpieren und destruktiveGewalt ausüben kann, weil er unbewusst ermächtigt wird durchjene, die ihn, im Zuge eines dialektischen gegenseitigen Prozes-ses der Projektion, Externalisierung, Spaltung und Verleugnungunterdrücken – ein Prozess, den wir einen pathologischen kollek-tiven Borderline-Zustand nennen könnten.

XVIII Kom

mun

e2/

2007

Julia KristevaVielen Dank, Professor Böllinger. Ich begrüße Ihren Beitrag sehr,der zum Teil meinen Ansichten sehr nahe, aber teilweise auchkritisch ist. Ich bin sehr froh, auf diese Kritik eingehen zu kön-nen, denn ich nehme an, dass sie von einigen anderen Leuten ge-teilt wird. Sie haben am Anfang gesagt, zumindest habe ich Sieso verstanden, dass Sie bei mir einen Versuch ausfindig gemachthaben, Hannah Arendt in eine psychoanalytische Begrifflichkeitzu übersetzen. Ich werde niemals versuchen, das zu tun, dennich denke, dass es unmöglich ist. Doch ich habe versucht zu zei-gen, dass es einige Entsprechungen zwischen ihrem Denken und

dem Reich der Psychoanalyse gibt. Arendts Denkweise ist, wennauch kein System, doch ziemlich autonom und in sich geschlos-sen, und meiner Meinung nach ist es nicht ratsam, etwas zu tun,was bei amerikanischen Wissenschaftlern sehr verbreitet ist,nämlich zu behaupten, dies ist äquivalent zu jenem. Es gibt kei-ne Äquivalenzen. Man kann sagen, dass es einige Ähnlichkeitengibt, einige Resonanzen, doch niemals Äquivalenzen, ganz be-sonders nicht mit der Psychoanalyse. Wie Sie wissen, hassteArendt die Psychoanalyse. Sie betrachtete sie als eine scheuß-liche Doktrin – ich denke, das war ein Missverständnis, abernichtsdestotrotz war das ihre Meinung...

In andereErfahrungsweltenhineindenken

Frau Professor Kristeva, meine Damenund Herren, ich bin nicht der Bürger-

meister der freien Hansestadt Bremen,ich bin Senator für Bau, Umwelt und Ver-kehr und vertrete den Bürgermeister hier,der sehr gerne heute Abend persönlichhier gewesen wäre, aber er versuchtauch, unsere Freiheit ein Stück weit heu-te zu vertreten – die FöderalismusreformTeil zwei hat ihren Auftakt heute im Bun-desrat gestartet, und das ist im besonde-ren bremischen Interesse, dass wir unsauch deutlich artikulieren, positionierenund Meinung und Stimmung machen.

Nun ist sehr viel heute von Bildern dieRede gewesen, und ich habe die Redenmit großem Respekt und großer Anerken-nung gehört, und ich muss sagen, es warein Vergnügen, so viel Intellektualitätund so viel Wissen kompakt in unsererschönen oberen Rathaushalle genießenzu dürfen. Wenn man vom politischenDenken redet, redet man zumindest inDeutschland relativ selten von Politikern.Wenn Politiker mit Denken in Verbindunggebracht werden, sind das häufig Quer-Denker, komisch eigentlich, so dass dieFrage sich für mich zumindest stellt, auchnach dem heutigen Abend, wie kommtdas eigentlich, was macht politischesDenken aus? Politisches Denken hat ganzoffensichtlich etwas mit Orientierung zutun, oder Orientierung in Frage zu stellen,und sowohl Hannah Arendt als auch Sie,Frau Professor Kristeva, haben beidesjeweils in ihrer Zeit und mit ihrer Sprache

sehr deutlich auch artiku-liert. In Frage stellen heißtauch, Positionen und sichverändernde gesellschaft-liche Realitäten aufneh-men und verarbeiten undeinbringen, und Politiker,die, so wie ich, aktuell po-litisch zu handeln haben, wandeln imWesentlichen auf den Pfaden derer, diemal politisch irgendwelche Orientierunggegeben haben. Möglicherweise ist daseine Begründung. Wir brauchen politi-sches Denken, wir brauchen auch poli-tisch queres Denken, und das hat ins-besondere dann einen Reiz, eine Heraus-forderung und gibt extrem viele Impulse,wenn das auch ein Denken ist, das invielfacher Hinsicht übergreifend ist.

Es ist die Rede davon gewesen, vonIhrem Weg von Bulgarien nach Paris,aus dem Totalitarismus hinaus hinein inein Land mit viel Freiheit und Lebensbeja-hung, aber trotzdem mit viel Fremdheit.Fremdheit empfindet man möglicherwei-se auch, wenn man im eigenen Land sichbewegt, es muss nicht immer nur etwasmit unterschiedlichen Erinnerungen, Kul-turen und gesellschaftlichen Werten, dieman vermittelt bekommen hat, zu tunhaben, es kann einfach auch etwas mitdem Raum zu tun haben, mit der Umge-bung, in der Mann oder Frau sich be-wegt. Fremd kann man auch sein, das istdas nächste Stichwort, das heute Abendauch schon gefallen ist, durchaus auchim Diskurs zu eigenen Kindern, also überGenerationen hinweg, weil scheinbar amgleichen Standort, am gleichen Ort, mantrotzdem eine komplett andere Erfahrungmit sich bringt, einen komplett anderenHintergrund mit sich bringt und eineandere Lebensrealität wahrnimmt. Wenndie Kinder, die heute geboren werden,

sich in zwanzig Jahren dieeuropäische Landkarte an-schauen, haben diese einenkomplett anderen Blick aufBulgarien als wir alle, die hierim Raum sind – das ist einLand in der Mitte Europas,und es ist nicht ein Land, das

irgendwo hinter irgendeinem EisernenVorhang eigentlich völlig unbekannt undfremd ist. Auch das ist ein Bild, das sichneu vermittelt.

Ralf Fücks hat eben die besondere Si-tuation des Staates Israel angesprochen.Da haben wir in Zentraleuropa allabend-lich um 20 Uhr, wenn wir die Tagesschauanschauen, eben einen anderen Blickauf Fremdheit, auf Bedrohung, auf dastägliche Leben im Umgang mit Gewaltund Bedrohung, die man erfahren kann,und deswegen auch naturgemäß eineandere Übersetzung und eine andereVorstellung, wie man damit umzugehenhat. Und da braucht es Menschen, diedenken, die nachdenken, die quer den-ken, die Erfahrungen haben, die auchspringen, die sich auch auseinander set-zen mit anderen Biografien, Lebensbio-grafien, mit anderen Frauen, versuchen,sich in diese Erfahrungswelten hineinzu-denken, und auch in deren Zeitabläufe,in deren zeitliche Restriktionen undWirklichkeiten hineinzudenken, und dashaben Sie in vorbildlicher Weise getan,und insoweit ist es mir eine besondereFreude, heute bei so vielen guten Lauda-toren, gemeinsam mit Ralf Fücks, Ihnennun auch den Preis überreichen zu dür-fen. Vielen Dank.

➜ Ronald-Mike Neumeyer ist BremerSenator für Bau, Umwelt und Verkehr;hier in Vertretung des Oberbürgermeistersder Freien Hansestadt Bremen

Ronald-Mike Neumeyer

Foto

:???

??

Kom

mune

2/2007 XIX

Lorenz BöllingerOder möglicherweise war es ein Widerstand …

Julia KristevaJa, vor allem Widerstand! In meinem Buch habe ich einige per-sönliche Gründe für diesen Widerstand zitiert, die mit ihrer Kind-heit zusammenhängen, ihrem Verhältnis zum Vater und Großva-ter, zur Mutter et cetera. Doch wir können hier nicht ihre Analysemachen, denn sie hat uns nicht darum gebeten, und es wäre sehrübergriffig. Aber vor allem denke ich, dass, mehr als es Wider-stand war, ihr vielleicht einige Informationen gefehlt haben; inAnbetracht der amerikanischen Psychoanalyse sah sie in derAnalyse eine Generalisierung von Symptomen am Werk, so wiebeispielsweise die Medizin Organe generalisiert oder für einenArzt jeder dasselbe Herz hat, so hat jeder denselben Ödipus-Komplex – daher ist sie nicht in der Lage, die Besonderheit desEinzelnen zu erklären. Ich stimme aber mit Ihnen in einem grund-sätzlichen Punkt bezüglich einiger Verbindungen zwischen Han-nah Arendt und der psychoanalytischen Forschung überein, derdamit zusammen hängt, dass das Individuum für sie immer ineiner Interaktion ist, im inter-esse ist, und diese Interaktion istein Feld der Ereignisse. Es gibt also psychische Realitäten undkollektive Realitäten, und diese logische Tatsache der Konstruk-tion des Individuums hat einige Konsequenzen für die histori-sche Zeit, die eine Zeit der Ereignisse ist, mit Zäsuren, Revolutio-nen, Krisen et cetera. Ich stimme Ihnen mit Nachdruck zu, dassdie heutige psychoanalytische Bewegung nicht die Chance er-greift zu zeigen, wie sehr unser Verständnis des »Menschen iminter-esse« sich im Sozialen auswirken könnte. Obschon es auchein schwieriges Unternehmen wäre, in unserer Gesellschaft derShow und des Spektakels. Die Psychoanalytiker haben sich sehrstark von der politischen Bühne zurückgezogen, und wenn siesich einmischen, dann in einer unverständlichen Sprache, die zutechnisch ist, zu subjektiv und die gesellschaftliche Problememeidet. Da zeichnen sie lieber ein lustiges Porträt dieser und je-ner politischen Figur. Und das ist in gewisser Weise etwas sehrKriminelles für künftige Psychoanalytiker, die sich in diese Sze-nerie werden einmischen müssen.

Was ich mache – quasi vis-à-vis mit dem, was Sie mit Kriminel-len tun – ist zu versuchen, einige psychoanalytische Ansichtenin ein anderes Feld der Ausgrenzung zu übertragen, der Ausgren-

zung von Behinderten. Als Präsidentin des Conseil national handi-

cap (Nationaler Rat der Behinderten, d. Ü.) ist das eine sehr schwie-rige Aufgabe, denn in der Öffentlichkeit, im Fernsehen oder Ra-dio, können wir nicht in einer psychoanalytischen Sprache spre-chen. Wir müssen sozialer und pragmatischer sein und in einerpsychologischeren Art mit Familien oder Sozialarbeitern spre-chen, und auch auf ihre Bedürfnisse nach materieller oder finan-zieller Unterstützung et cetera eingehen, auch um Gewalt gegenBehinderte und deren Ausgrenzung zu verhindern. In diesem Sin-ne kommt es hin und wieder vor, dass ich nicht psychoanalytischspreche – denn die psychoanalytische Sprache würde in Bezugauf behinderte Menschen von verletztem Narzissmus, von Kas-tration oder von ihrer Todesangst sprechen. Das lässt sich sehrschwer auf die öffentliche Bühne bringen. Wir müssen also eineUmgestaltung vornehmen, eine sehr feinfühlige Strategie entwi-ckeln, um uns in der Öffentlichkeit zu äußern.

Doch nun noch einmal zum Politischen. Sie haben über meinInteresse an Hannah Arendts Begriff der Meinung gesprochen –mit seiner Meinung auf der politischen Bühne in Erscheinung zutreten. Und Sie haben gesagt, und Sie haben Recht damit, dasses etwas mit dem Teilen von Affekten zu tun hat, von Empfindungen,Angst, Freude et cetera. Das ist etwas sehr Wichtiges für mich:Es reicht bis hin zu dem, was wir vorhin über das Semiotischegesagt haben und über die Aspekte der Persönlichkeit, die nichtexplizit auf der Ebene der Sprache ausgedrückt werden, sonderndem Verhalten inhärent sind.

Lassen Sie mich eine Sache ansprechen, die mir in den Sinnkam, während ich Ihnen zugehört habe. In der modernen Politikhaben wir ein neues Phänomen; Sie haben es hier in Deutsch-land, wir in Frankreich haben es – weibliche Führungspersonen inder Politik, Präsidentin, Premierministerin et cetera. Jenseits po-sitiver Aspekte dieser weiblichen Figuren in der politischen Land-schaft, wie ihrer Kompetenz und der Tatsache, dass sie die Ge-schäfte auf eine pragmatischere Weise leiten, gibt es eine zusätz-liche Eigenschaft, die mir auffällt. Ich denke hier an SégolèneRoyal, an die Tatsache, dass sie durch ihr Verhalten, ihre Ansprache,ihr Lächeln und ihre Gestik, durch die Art, wie sie ihre Botschaftzum Ausdruck bringt, zwei Arten von Subtexten transportiert. Siehaben das angesprochen. Der eine ist mit der Nation verknüpft,denn es gibt Körper und Sprachen, die zu einer nationalen Ge-meinschaftlichkeit gehören, die hier nicht derart unterdrückt wird

Kom

mun

e2/

2007

XX

wie im technokratisch-männlichen Diskurs von Politikern. Undobwohl es kein nationalistischer Diskurs ist, gibt es eine auf dieNation bezogene, unterbewusste Botschaft, die beim Publikumein Wohlsein auslöst. Die Leute sehen ihre nationale Identität ge-spiegelt in diesen Frauen, die sich, sagen wir, mütterlich verhal-ten – nicht direkt mütterlich im Sinne von »sich kümmern um«,sondern indem sie auf ihre Weise ein Spiegel dessen sind, wasder gemeinschaftliche Körper, was die Tradition, was das Imageist. Ebenso ist da ein Subtext, der mit der religiösen Tradition zu-sammenhängt, und der Begeisterung und Glaubwürdigkeit ver-heißt – ich glaube daran, dass in diesem Land etwas Gutes pas-sieren wird, und ich lasse dich darauf vertrauen, dass du daranteilhaben wirst. Das ist auch eine Art von sub-lingualer Botschaft,die eine populäre, aber nicht populistische Einigung hervor-bringt. Und das könnte gefährlich sein.

Lorenz BöllingerDas ist im habermasschen Konzept nicht enthalten …

Julia KristevaNein. Zu Habermas werde ich noch kommen, denn als guteFreunde teilen wir uns ein Appartement in den Vereinigten Staa-ten, aber das ist alles, was wir teilen. Abgesehen von Freund-schaft. Nun komme ich zu den Punkten, an denen größere Un-stimmigkeiten zwischen Ihnen und mir bestehen und die einerKlärung meinerseits bedürfen. Wenn ich sage, dass HannahArendt eine Wiedergründung der Triade aus Autorität, Traditionund Religion versucht, so ist das eine Kurzformel von mir. Sie hatdas nirgendwo explizit so gesagt, aber ich denke, es zieht sichdurch ihr gesamtes Werk, von Vita activa bis hin zu ihrer Trilo-gie1. Doch für mich ist das auch eine Diskussion mit Philosophenwie Ricoeur, der die Bedeutung von Hannah Arendts Interesse anAutorität, Religion und Tradition erkannt hat und dachte, dass eszwei Einstellungen dazu gibt: Entweder die, die primär die Positi-on von Claude Lefort ist, dessen anti-kirchlicher Einstellung zurTradition Sie nahe stehen, wenn ich Sie richtig verstanden habe,und die auch – dialektischer vielleicht als bei ihm – die meine ist.Claude Lefort sagt im Wesentlichen, dass wir uns wegen der Auf-lösung, der Verbindungen zu Tradition, Autorität und Religion miteiner Leere konfrontiert sehen. Auf welcher Basis können wir na-tionale oder politische Gemeinschaften bilden? Wir haben keineBasis, denn früher war die Basis das Christentum, der Judaismusoder der Islam et cetera. Für viele Leute, wie für uns, existierteine solche Basis nicht; andererseits führt uns die multikulturelleGesellschaft vor Augen, dass es zwar etliche Religionen gibt,jedoch keinen gemeinsamen Hintergrund. Es gibt also eine Leere.Leforts Antwort darauf ist, dass wir auch keine solche Grundlage

brauchen. Auf unbestimmte Zeit können wir uns mit vorüberge-henden Übereinkünften behelfen. Heute haben wir ein Gesetz,diskutieren dieses Gesetz, und übermorgen werden wir ein ande-res Gesetz haben und dieses diskutieren und eine andere Über-einkunft treffen und so weiter. Es gibt also vorübergehende de-mokratische Übereinkünfte in einer Debatte. Das ist die eine An-sicht. Ricoeur hingegen sagt, das ist unmöglich, zu riskant undzu schwierig – die Leute folgen uns nicht, sie glauben nicht andie Politik. Sie sagen, diese Übereinkünfte sind plump und unbe-friedigend, und in diesem Fall werden die Übereinkünfte auchnicht wirklich befolgt. Wir müssen also die Tradition erneuern.Und hier komme ich und sage, man kann die Tradition, die Auto-rität und die Religion nicht als solche wieder aufnehmen. Das istes nicht, was Hannah Arendt sagt. Sie nimmt diese Triade ernst,doch sie interpretiert sie, sie ist unterwegs, sie schlägt keineneue Art von Religion vor, keine neue Art von Tradition oder Au-torität; sie sagt hingegen, in einer Art foucaultschen Herange-hensweise, dass wir als Einziges die Archäologie dieser Traditionernst nehmen und sie Tag für Tag, Schritt für Schritt neu interpre-tieren müssen. Vom jeweiligen Standpunkt aus, von der Rechts-wissenschaft oder der Philosophie, der Anthropologie oder derPsychoanalyse müssen wir versuchen herauszufinden, was siebedeutet und wie wir sie an diese oder jene konkrete Situationanpassen können. Ich denke, das ist die einzige Position, die wirakzeptieren können, und ich will erklären, warum ich das denke:Anders können wir nicht weitergehen in der modernen Welt desdritten Jahrtausends, denn wir haben heute eine neue Situation,die sich von der Zeit vom Ende der Französischen Revolution biszum 11. September 2001 unterscheidet. Heute leben wir in eineranderen Zeit, und wir müssen dieser neuen Situation Rechnungtragen, die zum einen durch den Aufstieg der Fundamentalismencharakterisiert ist, zum anderen durch die Entwicklung neuerKommunikationsmittel, durch die Gesellschaft des Spektakelsund so weiter. In diesem Zusammenhang ist meine Haltung, dieauch die Ihre ist, zu sagen, dass, nachdem wir die Verbindungenzu Tradition, Autorität und Religion gelöst haben, nun die Men-schenrechte der einzige Ersatz sind, was aber nicht ausreichendist. Ich bin eine Anhängerin der Menschenrechte, vollkommen.Deshalb war auch gestern die Menschenrechtsorganisation an-wesend, denn ich denke, sie leisten die einzige praktische Hilfe.Aber wir sind Philosophen, wir sind Denker, und auch wir müssendiesen Menschen helfen. Wir können uns nicht darauf zurückzie-hen zu sagen, wir sind Philosophen und denken in der Universität,und bitte, NGOs, geht ihr doch nach Afghanistan, das ist eureSache. Es ist an uns, eine Art neues Denken zu entwickeln, dasdiesen Menschen hilft, die sich in ihrem Handeln einer neuenMenschlichkeit stellen.

1995: Agnes Heller, ungarischePhilosophin; lebt in USA und Ungarn

1996: François Furet, französischerHistoriker; lebte in Paris

1997: Freimut Duve, Publizist,Herausgeber und Politiker; lebt inHamburg und Joachim Gauck, Vikar undPastor der Evangelisch-LutherischenLandeskirche Mecklenburg; lebt in Berlin

1998: Antje Vollmer, Publizistin undPolitikerin; lebt in Berlin und

Claude Lefort, Publizist und Professorfür politische Philosophie, lebt in Paris

1999: Massimo Cacciari, italieni-scher Philosoph und Politiker; lebt inMailand

2000: Jelena Bonner, Studium derLiteratur und Medizin; lebt in den USA

2001: Ernst Vollrath, Professor fürPolitische Philosophie; lebte in Köln und

Daniel Cohn-Bendit, Publizist undPolitiker; lebt in Frankfurt am Main

2002: Gianni Vattimo, italienischerPhilosoph und Politiker; lebt in Turin

2003: Michael Ignatieff, Publizist,Schriftsteller, Professor für Menschen-rechtspraxis; lebt in Boston

2004: Ernst Wolfgang Böckenförde,Rechtsphilosoph; lebt im Breisgau

2005: Vaira Vike-Freiberga, Psycho-login und von 1999 –2007 lettischeStaatspräsidentin.

Preisträger seit 1995

XXI

Kom

mune

2/2007

Wir haben, von den Griechen und dem Christentum bis zurheutigen Philosophie und den Humanwissenschaften, eine langeTradition der Interpretation. Diese Intelligibilität müssen wirsowohl auf die Erfahrungen in unserer eigenen Kultur wie, diesein ihrer Andersheit ernstnehmend, auf die fremden Mentalitätenrichten. Es geht darum, in dieser Konfrontation und Interaktionden Sinn unserer Universalität zu erweitern und komplexer zumachen, ohne den Anspruch auf individuelle Freiheit und denRespekt vor dem einzelnen Menschenleben, hier insbesondereder afghanischen Frauen, preiszugeben.

Eine neue Menschlichkeit also, die schon einmal da war undderen uralte Bedeutungen – vom Standpunkt der Aufklärungs-philosophie aus gesehen, der wir alle angehören – nun wiederauf die vorderste Bühne kommen. Welche sind diese uraltenBedeutungen?

S ie haben gesagt, dass Sie an die Menschenrechte glauben –mir ist aufgefallen, dass Sie das Wort »glauben« sehr häufig

verwenden. Was heißt das – glauben? Sie haben dieses Wort be-nutzt, das Wort gehört zur religiösen Tradition. Es bedeutet, wirhaben einen Glauben. Und hier war Ihnen Habermas, entschuldi-gen Sie, einen Schritt voraus, als er einen Pfad eingeschlagenhat, der uns nach wie vor offen steht. Ich bin jedoch mit seinemSchritt auch nicht einverstanden. Er hat Ratzinger getroffen, be-vor dieser Papst wurde; im Wesentlichen sagte Habermas, dasswir, weil wir keine universelle moralische Grundlage haben, Glau-be und Vernunft miteinander aussöhnen müssen. Wenn ich Ha-bermas richtig verstanden habe – Ratzinger jedenfalls war mitihm sehr einverstanden – so müssen seiner Ansicht nach die-jenigen, die sich zur Vernunft bekennen, mit denen, die sich zumGlauben bekennen, eine Art Gentleman’s Agreement treffen, dieSpaltung als solche aber aufrechterhalten. Das ist nicht meineMeinung. Ich sage, dass im Laufe des 20. Jahrhunderts und viel-leicht auch schon davor, Menschen wie Hannah Arendt, Heidegger,Freud und einige andere, versucht haben, diese Spaltung zwischenGlauben und Vernunft neu zu denken. Freud ist weder Glaubennoch einfach Vernunft im Sinne des Rationalismus. Nehmen wirdie Angst, den Glauben, Enthusiasmus, Borderline-Persönlichkei-ten, Gewalt: All diese Dinge, die nicht auf eine simple Art rationa-lisiert werden können. Man muss andere Vorstellungen einfüh-ren, was wir mit dem Erweitern psychoanalytischer Konzepte ver-suchen, wobei wir bis an die Irrationalität heranreichen, und siein eine Rationalität, die einen größeren Spielraum bietet, inte-grieren. Bitte, sagen wir zur öffentlichen Meinung, bitte nehmtdieses Öffnen der menschlichen Vernunft seitens der Traditiondes 18. und 19. Jahrhunderts ernst. Das geschieht auch in derkreativen modernen Kunst: In ihren Installationen und abstraktenGemälden präsentiert sie keinen Glauben an einen Gottvateroder etwas Jenseitiges, sondern es gibt den Versuch, eine andereArt zu denken, zu leben und so weiter aufzubauen, mit Leidenund mit Enthusiasmus. Dass da etwas Anderes unterwegs ist, dashaben wir zu interpretieren und der Öffentlichkeit zu überbringen.

Ich will das an dieser Stelle nicht lange ausführen, denn eswäre sehr kompliziert, und ich habe schon ganze Bücher darübergeschrieben. Doch auf zwei Dinge möchte ich hinweisen, dennSie haben etwas gesagt, das ich zwar verstehe, aber nicht teile.Sie haben gesagt, dass es gefährlich sein könnte, sich auf Traditi-on, Autorität oder Religion zu beziehen. Ich denke, wir müssendieses Risiko eingehen, ohne ihm zu erliegen. Ich versuche, denunbewussten Nutzen zu deuten, den wir aus der Autorität oderdem Glauben ziehen können, um nur von diesen beiden zu spre-chen. Als es vor einiger Zeit die Aufstände in den französischenVorstädten gab, habe ich in einem Magazin namens Marianne

einen Artikel darüber und über die Krise der Adoleszenz geschrie-ben. Sie haben etwas bemerkt, was in Übersee und vielleicht

auch in Europa nicht verstanden wurde: Dass die so genanntenbeurres, die arabischen Jugendlichen der zweiten Generation, diefranzösische Gesellschaft nicht vom Standpunkt irgendeiner Reli-gion aus zurückweisen. Das sind keine religiösen Unruhen. Es istauch kein Aufstand einer Gemeinschaft; es geht nicht um arabi-sche Community gegen schwarze Community oder so etwas. Siewollten anerkannt werden. Sie wollten die Werte der Republikteilen. Sie sagten, dass sie nicht als vollwertige Bürger anerkanntwerden. Sie haben Symbole der Republik angegriffen – Schulen,öffentliche Verkehrsmittel, die Polizei. Einige von ihnen, weil siegewalttätig sind, aber andere, weil sie denken, dass sie nichtanerkannt werden. Meiner Meinung nach ist das etwas sehrSymptomatisches nicht nur für diese Jugendlichen in den Voror-ten, sondern für alle Jugendlichen – sogar für die wohlhabends-ten unter ihnen, die nicht an den Krawallen beteiligt sein werden,aber magersüchtig oder zu borderline-Persönlichkeiten werdenoder psychosomatische Probleme bekommen. Warum? Weil dieAdoleszenz die Phase ist, die ein Ideal braucht. Die die Anerken-nung durch eine ideale Instanz braucht, die ich, mit Freud, denidealen Vater der persönlichen Vorzeit nenne. Das ist aus einemsehr kurzen Absatz seiner Schrift »Das Ich und das Es«. Es hatmich sehr überrascht, dass in der Psychoanalyse bis dahin keineNotiz davon genommen wurde. In meinem Buch Geschichten von

der Liebe,2 das ich in den Achtzigerjahren geschrieben habe, binich ausführlich darauf eingegangen, und mittlerweile diskutierenwir in der Psychoanalytischen Gesellschaft sehr viel darüber –mit André Green zum Beispiel und anderen. Freud hat diese Figurdes idealen Vaters entdeckt, und er hat sie noch vor dem ödipa-

XXII Kom

mun

e2/

2007

len Vater eingesetzt. Der ödipale Vater ist der Vater des Verbots,er macht die Gesetze. Er sagt, bitte rühre deine Mutter nicht an,das ist verboten, ich sage, was gut und was schlecht ist, und duwirst mir Folge leisten. Nun gut, wunderbar, wir brauchen diesenVater, doch Freud sagte noch mehr: Vor diesem Vater ist noch einanderer Vater, eben der ideale »Vater der persönlichen Vorzeit«.Dieser ist ein liebender Vater, und mit ihm identifizierst du –männliches oder weibliches Subjekt – dich imaginär, symbolisch,denn er erkennt dich an, er sagt: Gut, mein Sohn, meine Tochter.Und diese veränderte symbolische Verbindung ermöglicht es dir,dich von deiner Mutter zu distanzieren und dich aus der Abhän-gigkeit vom Uterus, vom Körper, vom Mütterlichen, heraus zu be-geben. Das ist der Beginn der Autonomisierung. Und diesen idea-len, liebenden Vater haben einige Religionen oder Älteres imagi-niert und verehrt. Religionen tun einiges, tun viele falsche Dinge,wie zum Beispiel die Inquisition, aber es funktioniert, denn sieantworten damit auf gewisse innerpsychische Bedürfnisse. Undich denke, dass dieses Bedürfnis essentiell für die Errichtungeines lebendigen psychischen Apparates ist: Kinder zeigen die-ses Bedürfnis, an die Rede der Eltern zu glauben; um dann spä-ter, natürlich, gegen sie zu protestieren.

Die Kinder in unserer Gesellschaft brauchen diesen liebendenVater, jedoch haben Väter nicht viel Zeit, zu Hause zu sein; siemeinen aber, die Rolle des Vaters des Verbots und des Gesetzesbekleiden zu müssen et cetera. Obschon, wie wir wissen, die vä-terliche Funktion heutzutage eine Veränderung erfährt, da neueFormen der Väterlichkeit aufkommen und junge Väter andereVorstellungen über Väterlichkeit haben, ist es doch wichtig, die-sem Bedürfnis nach dem liebenden Vater Beachtung zu schenken,auch in unserem Bildungssystem. Gerät zum Beispiel ein Jugend-licher in eine Krise und fühlt sich wie in einem leeren Raum, weilniemand sein Bedürfnis nach einem Ideal erkennt, dann können

wir uns fragen: Gibt es da einen Sozialarbeiter oder einen Lehrer,der ein solches Ideal dem Kind anbieten kann, der ihm sagt: »Ichglaube an dich, du kannst das schaffen«? Wie Sie sehen, bestehtmeine Herangehensweise in einer Archäologie der Autorität undder Religion: nicht um diese zu wiederholen, sondern um dempsychologischen Bedürfnis, das ich entdeckt habe, in neuen For-men, in neuen Einstellungen Rechnung tragen zu können. Ich wer-de nie fordern: gebt dieser Jugend eine neue Religion; sondern,dass wir die Menschenrechte zu etwas machen müssen, an dasman glauben kann. Und dazu müssen sie von jemandem vermit-telt werden, der respektvoll mit den Leuten spricht, so wie es derideale Vater macht. Wer von uns ist dazu in der Lage? Das ist vongrößter Bedeutsamkeit im sozialen Bereich, denn oft verhaltenwir uns wie Technokraten und schreiben anderen vor, was zu tunist; wir handeln nicht im inter-esse, um mit Hannah Arendt zusprechen. Soweit zu diesem Aspekt des Glaubens.

Ich schreibe gerade ein Buch über die Heilige Theresia von Avila,und ich denke, ich werde eine Menge Leute, Leute wie Sie zum

Beispiel, damit schockieren, die sagen werden, Kristeva ist bigottgeworden, eine Erzkatholikin, was absolut nicht der Fall ist. Ichhabe versucht, einige Aspekte dieser Kultur, deren Erben wirsind, zu verstehen, um herauszubekommen, wie man Menschendazu bringen kann, der Versuchung des Fundamentalismus zuwiderstehen. Dazu müssen wir den Nutzen und die Fallen unsererTradition verstehen. Ich habe darüber in Italien gesprochen, undmein Herausgeber sagte, das sei sehr interessant, damit solltenwir uns mal genauer befassen. Das Ergebnis ist ein Buch, das vorein paar Tagen in Italien erschienen ist. Es enthält einige Artikelvon mir und ein Interview mit dem Titel Bisogno di credere,3

»Das Bedürfnis zu glauben«. Um deutlich zu machen, warum ichdas erwähne, möchte ich einen kleinen Exkurs in die Religions-geschichte machen: Im Allgemeinen gehen wir, die wir an Reli-gionsgeschichte, Judaismus und Christentum interessiert sind,davon aus, dass Glauben und Christentum zusammenhängen,heißt es doch: credo quia absurdum. Man kann glauben, dass esdie Auferstehung gibt, dass die Jungfrau Maria jungfräulich warund so weiter. Man muss es sogar glauben. Im Judaismus dage-gen gibt es keinen solchen Glauben, er ist rationaler, denn esgeht um die Geschichte des Volkes Israel. Das ist in gewissemSinne wahr, aber es ist nicht vollkommen wahr. Wenn man sagt,Schm’a Jisrael,4 hör’ mir zu – man kann niemandem zuhören,wenn man ihm nicht glaubt. Wenn man zuhört, muss man glauben.Wenn Kinder ihrem Lehrer nicht zuhören, so gilt das als Verhal-tensauffälligkeit; sie können sich nicht konzentrieren und nichtden Sinn dessen erfassen, was gesagt wird, sie hören nicht zu.Aber das ist deswegen so, weil sie nicht an das Wort, den Satz,an die Botschaft glauben, die ihnen übermittelt werden soll. Sievertrauen nicht. Glaube und Vertrauen gehen Hand in Hand. Mitdiesem Beispiel möchte ich verdeutlichen, dass es ein anthropolo-gisches Bedürfnis gibt zu glauben, das vorreligiös ist. Und vorpoli-tisch. An diese Phänomene müssen wir mithilfe der Anthropologie,mithilfe der Religionswissenschaft herankommen. Und damit dieMenschenrechte erweitern, ohne sie zu verwerfen. Wir müssen indie Menschenrechte etwas wie ein Vermächtnis der Tradition ein-fügen, dass, ich wiederhole, neu interpretiert werden muss.

Sie haben sich auf ein Zitat von Hannah Arendt bezogen, dassich vorgetragen habe, in dem es um Atheismus und Nihilismusgeht. Wie Sie wissen werden, gab es in den USA, genauer gesagtan der Universität von Notre Dame, die politikgeschichtlich-trans-zendentale Schule, die von Waldemar Gurian und Eric Voegelingeleitet wurde. Die beiden waren amerikanische Juden russischerHerkunft und sind zum Christentum konvertiert. Als HannahArendt ihr Buch über Imperialismus und Antisemitismus veröf-fentlicht hatte, luden sie sie an die Universität von Notre Dame

XXIII

Kom

mune

2/2007

zu einer Diskussionsveranstaltung ein. Sie meinten dabei fest-zustellen, dass Arendts Kritik an der Säkularisierung in dieselbeRichtung ging wie ihre eigenen Ansichten – mit der explizitenAussage nämlich, dass die Shoah, der Holocaust, weniger dieFolge eines sozio-politischen Prozesses seien, als vielmehr Pro-dukte der Aufklärung. Zwar hat Arendt in der Tat nie geleugnet,dass ein bestimmter Atheismus zum Niedergang der Ethik bei-getragen hat. Aber sie insistiert darauf, dass das totalitäre Phä-nomen einzigartig ist, und dass kein vorhergehendes Ereignis,sei es aus dem Mittelalter oder dem 18. Jahrhundert, als »totali-tär« bezeichnet werden könne. Und ebenso grenzt sie ihre philo-sophische Untersuchung sorgfältig von jedweder religiösen Posi-tionierung ab, indem sie die politische Inanspruchnahme eines»Göttlichen« eben dem von ihr bekämpften, bösartigen Nihilis-mus zuordnet. In diesem Sinne sind Sie, wenn Sie die Religionals Antwort auf ein politisches Problem nutzen wollen, ein Nihi-list. Einfach weil die Religion eine andere Bedeutung hat, undkeine politische. Gestern habe ich zitiert, was sie gesagt hat, undich zitiere es noch einmal: »Diejenigen, die aus den schrecklichenEreignissen unserer Zeit schließen, dass wir aus politischenGründen zu Religion und Glauben zurückzukehren haben, schei-nen mir zu zeigen, dass ihnen genauso viel Gottesglauben fehltwie ihren Gegnern.«5 Religion kann also kein Ersatz für politischenSinn sein.

Nun noch eine Antwort auf das, was Sie über das Individuumgesagt haben und über die Gefahren, die in einer Überschät-

zung des Individuums liegen könnten. In der Perspektive Arendtsist das quid, das »Wer«, dem Individuum selbst niemals verfüg-bar. Sichtbar und offenkundig ist es für die Anderen. Das heißt,Individuum ist man nicht für sich selbst. Anders bei Heidegger,bei dem gerade das Eigene für sich virtuos sein kann, währenddas Mitsein zum Banalen gewendet wird. Bei Arendt wissen dieAnderen, wer du bist. Das quid, die ecceitas, ist eine Botschaft,die sich in der Meinung der Anderen materialisiert. Der Andere istder Besitzer deiner Identität im Sinne von Übertragung und Ge-genübertragung; der Patient weiß nicht, wer er selber ist – derAnalytiker weiß es in der Interaktion. Es gibt also weder in Han-nah Arendts Szenario noch im psychoanalytischen Denken einenEgozentrismus. Wenn Sie sagen, die multiple Realität müsse kon-struiert werden durch die Affekte, Interpretationen und so weiter,denke ich, dass sie in Arendts Verständnis des inter-esse schonenthalten ist, und das ist auch die psychoanalytische Auffassung.Als Psychoanalytiker wissen wir zudem, wie konflikthaft das in-

ter-esse ist, was auch Arendt immer sehr betont hat. Sie beziehtsich auf Augustinus, um das quid als ein liebendes Individuum

einzuführen, was wiederum der Freudschen Vorstellung ent-spricht – das Individuum ist von Beginn an ein liebendes. Ist esdas nicht, heißt das, dass es ihm nicht gelungen ist, in der Drei-ecksbeziehung von Vater–Mutter–Kind zu sein.

Die jüdische Bibel schildert mit Nachdruck diese Konfliktivitätin der Abfolge der Generationen, mit der ganzen Bedeutung, dieder Zeugung, den Familien und Clans beigemessen wird. Augus-tinus reflektiert diese konflikthafte generationelle Abfolge in derWelt zwischen Geburt und Tod – was Arendt aufgreift: In dieserWelt, zwischen der Geburt und dem Tode, und nicht nur für dieLiebe Gottes, der nicht auf dieser Erde weilt.

Auch Freud nimmt diese »jüdische Abfolge« ernst und ver-sucht diese, neben seinen Erkenntnissen über das Seelenlebenaus den Analysen, in die Kultur der Aufklärung, der er sich ver-pflichtet fühlt, einzufügen.

Von Hegels Herr-Knecht-Dialektik hat Freud – mehr im- als ex-plizit – das gewaltsame Grundmuster dieser Konflikte aus Liebeund Hass ererbt. Auf der Ebene der Hysterie bekommen wir esdamit zu tun: mit dem dialektischen quid zwischen dem sadisti-schen und dem masochistischen Begehren. Doch Sie haben sehrdeutlich und richtigerweise darauf hingewiesen, dass die moder-ne Psychoanalyse nun auch die Borderline-Symptome, die Ent-symbolisierung, die Selbstzerstörung und darüber hinaus einigepsychosomatische Erkrankungen, die nicht symbolisiert werdenkönnen, eingeführt hat. Wir müssen diese neuen Erscheinungs-formen der Gewalt deuten und diese Deutungen der öffentlichenSphäre wieder zur Verfügung stellen. Denn das soziale Bandfunktioniert nicht automatisch. Das müssen wir verständlich ma-chen. Die Marginalisierten, seien es behinderte Menschen, seienes bestimmte sexuelle Vorlieben, die nicht so genannt konven-tionell oder modern sind, oder seien es Kriminelle – sie gehörenzur Menschheit, sie sind Teil des menschlichen Prozesses, oderdes Liebesprozesses. Und ohne ihn zu banalisieren, muss er ge-deutet werden.

Übersetzung von Ute Szczepanski und Martin Bannert

1 Gemeint sind die zwei Bände über Das Leben des Geistes (Bd.1 »Das Denken«, Bd.2»Das Wollen«), die von einem dritten Teil mit dem Titel »Das Urteilen« komplettiertwerden sollten. Arendt verstarb jedoch vorher. Erhältlich ist ein Rekonstruktionsversuchdurch Ronald Beiner, der dafür vornehmlich Vorlesungsmanuskripte editierte. [d. Ü.]

2 Julia Kristeva: Geschichten von der Liebe, Frankfurt a. Main 19893 Julia Kristeva: Bisogno di credere, Rom 20064 Schm’a Jisrael (Höre Israel): Die Anredeformel Mose’ an das Volk Israel im Alten Testa-

ment5 Hannah Arendt: Brief an E. Voegelin, in: Über den Totalitarismus, Texte Hannah Arendts

aus den Jahren 1951 und 1953, Berichte und Studien Nr. 17, , Hrsg. vom HannahArendt Institut für Totalitarismusforschung e.V. an der TU Dresden 1998, S. 49

➜ Lorenz Böllinger lehrt Strafrecht und Kriminologie an derUniversität Bremen