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BuchSelbstverliebter Egoist, Familientyrann, Frauenheld mit kin-dischen Ausbrüchen – an keiner Person in der Geschichte dermodernen Seelenkunde scheiden sich die Geister derart wiean dem Schweizer C. G. Jung. Unbestritten ist jedoch, dass ermit seinen Forschungen und Entdeckungen unser Bild vomSeelenleben der Menschen wesentlich geprägt hat.In ihrer großen Biographie verbindet Bair die faszinierendeEntwicklung des Therapeuten mit seinem privaten Leben: derMenage à trois mit Ehefrau Emma und der Geliebten Toni Wolff,der schwierigen Beziehung zu seinen fünf Kindern, seinem gebro-chenen Verhältnis zu gesellschaftlichen Konventionen. Neugier,Vitalität, politische Blindheit, Selbstüberschätzung und Eitelkeitsowie nicht zuletzt seine eigene Psychose erscheinen als gerade-zu archaische Kraftquelle und ständige Gefährdung für den Men-schen und Wissenschaftler. Deirdre Bair schöpft aus vielfältigerFachliteratur sowie zahlreichen unveröffentlichten Quellen: ausunbekannten Schriften und Briefwechseln Jungs, Gesprächen mitNachkommen, Mitarbeitern und Patienten. Entstanden ist dasfein nuancierte Bild einer widersprüchlichen Persönlichkeit, einesMenschen, der seiner Intuition mehr vertraute als einem wissen-schaftlichen Kanon, der mutig Grenzen überschritt und dafürHohn und Ablehnung genauso in Kauf nahm, wie er die bedin-gungslose Bewunderung seiner Anhänger genoss.

AutorinDeirdre Bair hat sich als Verfasserin von Biographien (unteranderem über Anaïs Nin und Simone de Beauvoir) internationaleinen Namen gemacht. Für ihren sachkundigen und sensiblenUmgang bei der Beschreibung komplexer Persönlichkeiten wurdesie mit mehreren Preisen bedacht, unter anderem mit dem Pulit-zer Preis. An ihrem Buch über C. G. Jung hat sie über siebenJahre gearbeitet.

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Deirdre Bair

C. G. JungEine Biographie

Aus dem Amerikanischenvon Michael Müller

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Die Originalausgabe erschien 2003 unter dem TitelJung. A Biography bei Little, Brown and Company, New York.

Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte PapierMünchen Super liefert Mochenwangen.

1. AuflageGenehmigte Taschenbuchausgabe November 2007,btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenCopyright © der Originalausgabe 2003 by Deidre BairCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2005by Knaus Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: Design Team MünchenUmschlagfoto: Frances Bode, Courtesy of Kristine Mann Library/C. G. Jung Center of New YorkSatz: Filmsatz Schröter, MünchenDruck und Einband: GGP Media GmbH, PößneckMM · Herstellung: BBPrinted in GermanyISBN 978-3-442-73670-6

www.btb-verlag.de

SGS-COC-1940

Jung 001-004_grForm 28.08.2007 19:31 Uhr Seite 4

Für Isabel Anna Courtelis

Inhalt

Einleitung: Schwache Hinweise und Andeutungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1 Wie die Jungs Schweizer wurden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

2 «Pastors Carl». . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32

3 Unkonventionelle Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

4 Uneingestandener Zweifel, uneingestandene Sorge . . . . . . . . . . . . . . 83

5 «Frauen gegenüber richtiggehend schüchtern» . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

6 «Irgendetwas unbewusst Schicksalhaftes …

musste zwangsläufig geschehen.» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

7 «Wer ist eigentlich der Chef in dieser Klinik?» . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140

8 Scheiden / Meiden – Wahl / Qual. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158

9 Vocatus atque non vocatus, Deus aderit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180

10 «… wie mein Zwillingsbruder». . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195

11 Poesie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209

12 Amerika. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230

13 Der Sonnenphallus-Mann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

14 «Die Familienphilosophin». . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273

15 «Für die Stellung ungeeignet» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287

16 Die Geste von Kreuzlingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309

17 «Mein Selbst / Ich selbst». . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344

18 «Psychologisch interessierte» Personen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364

19 «Das Werk eines Snobs und Mystikers» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391

20 Ein Vorspiel und mehrere Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413

21 Die zweite Lebenshälfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 424

22 Bollingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449

23 «Dieses analytische Pulverfass». . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469

24 Die psychologische Expedition Bugishu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 484

25 «Professor» Jung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508

26 Unkonventionelle Analysestunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533

27 «Gefährlich berühmt» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 568

28 Eine «ziemlich aufreibende Zeit» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 582

29 «Arg mit der Zeitgeschichte zusammengestoßen» . . . . . . . . . . . . . . . 611

30 In unserm Boden verwurzelt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 658

31 Agent 488 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 682

32 Die Visionen von 1944. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 704

33 «Carl Jung, betrifft: subversive Aktivitäten» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 714

34 Die Jungianische Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 744

35 «Warum Männer Streit anfangen und weggehen mussten» . . . . . . 760

36 «Die Erinnerung an eine dahinschwindende Welt» . . . . . . . . . . . . . . 791

37 Jung für die Zukunft sammeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 816

38 «Ich bin, wie ich bin, nämlich ein undankbarer Autobiograph!» 830

39 «… was bleibt, ist eisige Totenstille» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 878

Epilog: Die «Sogenannte Autobiographie» . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889

Appendix: Die Honegger-Manuskripte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 911

ANHANG

Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 921

Zur Entstehung dieses Buches. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 925

Zur deutschen Ausgabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 930

Anmerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 931

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1153

Bildnachweis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1156

Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1157

einleitung

Schwache Hinweise und Andeutungen

And so will some one when I am dead and gonewrite my life?(As if any man really knew aught of my life,Why even I myself I often think know little ornothing of my real life,Only a few hints, a few diffused faint clews and in-directions.I seek for my own use to trace out here.)

Walt Whitman, Leaves of Grass 1

Ich bedaure, dass meine Biographie […] in vielenHinsichten anderen Biographien unähnlich ist. […]Für mich war das Leben etwas, das gelebt und nichtgesprochen werden musste. […] Ich bin wie ich bin,nämlich ein undankbarer Autobiograph!

C. G. Jung an Kurt Wolff, 17. Juni 1958 2

Carl Gustav Jung bezeichnete sich selbst als eine «etwas komplizierte Er-scheinung»3; als jemanden, dessen Erinnerungen ein solcher «Dschungel»

waren, dass es ihm fraglich schien, ob der «durchschnittliche Leser» wohlbereit sein würde, sich hindurchzukämpfen. Was die faktischen Ereignisse inseinem Lebens betraf, so hatten sie eine solche Kontroverse ausgelöst, dassihm «recht bang davor war, die Wahrheit zu erzählen»4 – so wie sie sich ihmdarstellte. Wie könnte er ein solches wirres Durcheinander dem Papier an-vertrauen?

Drei Jahrzehnte voll biographischer Versuche und Fehlschläge waren nötig,bis Jung bei Erinnerungen, Träume, Gedanken anlangte, seiner zu Recht be-rühmten Autobiographie. Von allen Schriften Jungs – die heute zwanzig Bän-de füllen – ist diese Geschichte seines eigenen Lebens das Werk, das den größ-ten Widerhall gefunden hat. Vom ersten bis zum letzten Satz rührt dieses

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merkwürdige Zwitterwesen aus Erinnerung und Reflexion eine Saite in unsan, und die Reaktion ist immer höchst individuell.

«Mein Leben ist die Geschichte der Selbstverwirklichung des Unbewuß-ten», lautet der berühmte erste Satz, den Jung schrieb, als er über achtzigwar, wenige Jahre vor seinem Tod. Er hatte vor, den «Mythus [s]eines Le-bens» zu erzählen, so wie er ihn in Erinnerung hatte. Ob seine «Geschich-ten» in einem objektiven Sinn der «Wahrheit» entsprachen, hielt er allenfallsfür ein «Problem» des Lesers, nicht für seines. Denn: «Die Frage ist nur, ist esmein Märchen, meine Wahrheit.»5 Jung begann mit einigen seiner frühestentaktilen Eindrücke, mit dem Geruch von Milch, den Farben des Sonnen-untergangs und der enormen Ausdehnung, die ein See für ein kleines Kindhat, das vom Ufer darauf schaut. Als er auf den Schlussseiten ankam, hatteer einen bemerkenswerten Überblick über sein ungewöhnliches Leben gege-ben. Der «Dämon» und «das Schöpferische» hätten sich, schrieb er, bei ihm«rücksichtslos durchgesetzt»6. Dieser Dämon war es, der sein Berufslebenmit Konflikten erfüllte und sein privates Verhalten mit moralischer Ambi-guität (durch die sehr öffentliche Dreierbeziehung, in der er mit seiner Frauund seiner Geliebten lebte), und er brachte ihm gleichermaßen rühmendeAnerkennung wie Schmähungen in der ganzen Welt ein (für seine psycholo-gische Theorie wie auch für seine politische Aktivität). Im Rückblick, undvon der Warte des hohen Alters aus, war er mit den vielen «nicht zu erwar-te[nden] Dingen», die er erlebt hatte, größtenteils zufrieden. Er zeigte sichüber sein Leben, über sich selbst «erstaunt, enttäuscht, erfreut» und gleich-zeitig «betrübt, niedergeschlagen, enthusiastisch».

Eine der Freuden, die damit einhergingen, sein Leben noch einmal zudurchleben, indem er darüber schrieb, war die sich unerwartet einstellendeneue Vertrautheit mit allen jenen Personen, die er gewesen war: der Einsame,der bitterarme Sohn eines Schweizer Landpfarrers; der junge Arzt, dessenKarriere anfangs mehr im Zeichen der Suche nach finanzieller Sicherheit alsdes Strebens nach beruflichem Erfolg stand – und der junge Ehemann, derdurch seine Liebesheirat mit der zweitreichsten Erbin, die es im ganzen Landgab, beides fand –; der gut aussehende charismatische Dreißigjährige, dervor seiner Ehe keine Erfahrung mit Frauen hatte, obwohl er sie vielfachanlockte, und der junge Psychoanalytiker, der genügend Selbstbewusstseinbesaß, um seine Theorie von der Sigmund Freuds abzuspalten, obwohl erwusste, dass er dafür in Schimpf und Schande davongejagt und verbanntwerden würde. Jung spricht in diesem Zusammenhang von der «Entfrem-dung», zu der diese Entscheidung führte, und schildert, wie sich alles gegenihn verschwor, um ihn in seine eigene «innere Welt» hineinzustürzen.

Nur wenige Einzelheiten teilt er dagegen über sein tägliches Leben oderseine Erfahrungen bei seiner Arbeit mit, denn «äußere Ereignisse» waren für

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ihn «leer und wesenlos».7 Die äußeren Fakten seines Lebens wurden in einerrekapitulierenden Zusammenfassung seiner inneren Erlebnisse subsumiert;denn diese waren es, die ihn definierten und auf die es letztlich am meistenankam:

Ich bedaure, daß meine Biographie, oder was mir als solche vorkommt, invielen Hinsichten anderen Biographien unähnlich ist. Ohne Werturteileaussprechen zu wollen, ist es mir völlig unmöglich, mich an die Millionenpersönlicher Details zu erinnern und sie nachträglich so zu überschätzen,dass man sie allen Ernstes sogar noch einmal erzählt. Ich weiß, es gibtLeute, die schon zu Lebzeiten in ihrer eigenen Biographie leben und sichso benehmen, wie wenn sie schon in einem Buch stünden. Für mich wardas Leben etwas, das gelebt und nicht gesprochen werden mußte. Zudemwar mein Interesse immer gefesselt von wenigen aber bedeutenden Din-gen, von denen ich sowieso nicht sprechen konnte resp. erst lange mit mirherumtragen mußte, bis sie spruchreif waren. Ich wurde zudem so konse-quent nicht verstanden …, daß mir die Lust verging, «bedeutende Gesprä-che» zu erinnern. […]

«Gott helfe mir […]», so schloss Jung den Brief, in dem er dieses Bekenntnisablegte: «Ich bin, wie ich bin, nämlich ein undankbarer Autobiograph!»8

Jung war ein Psychoanalytiker, der sich selbst nie einer formellen Analyseunterzog, sondern stattdessen seinen «persönlichen Mythus» als Ausgangs-punkt benutzte, um das zu formulieren, was seiner Meinung nach gültigeobjektive Wahrheiten waren. Er stellte seinen persönlichen «Mythus» denMythen vieler unterschiedlicher Kulturen gegenüber, fügte im Lauf der Zeitdem allgemein gebräuchlichen Vokabular neue Ausdrücke hinzu und ent-wickelte auch neue Methoden, um über Ideen nachzudenken. Jung war derUrheber vieler Ausdrücke, die mittlerweile in den allgemeinen Sprach-gebrauch übergegangen sind, wie «Archetypus», das «Unbewusste» unddas «kollektive Unbewusste» – alles wichtige Komponenten der «Individu-ation», also jenes Prozesses, der dahin führt, dass man sich selbst und seinLeben akzeptiert.9 Aufgrund der von Jung durchgeführten Forschungensprechen wir heute wie selbstverständlich vom «introvertierten» und «extra-vertierten» Menschen, wie er die beiden von ihm unterschiedenen grund-legenden «Persönlichkeitstypen» nannte. Und genauso selbstverständlichgehen wir heute mit den Termini «Animus» und «Anima» um, wie Jung dasmännliche und das weibliche Prinzip bezeichnete, die seiner Überzeugungnach beide in jedem Menschen, gleichgültig, ob Mann oder Frau, vorhandensind. Auch seine Auffassung von einem «Komplex» wird heute immer nochneu interpretiert und definiert, während «Synchronizität» das Schlagwort

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geworden ist, mit dem man so viele unserer zeitgenössischen Seinsweisen zuerklären versucht.

Auf einer ernsthafteren Ebene schenkt man seiner Botschaft, dass es not-wendig sei, durch die Psychoanalyse die Verbindung mit dem eigenen Unbe-wussten herzustellen, neue Aufmerksamkeit. Jung hat dieses Betätigungsfeldschon in den Vierzigerjahren als wichtiges zukünftiges Forschungsgebietausgemacht. Heute entdecken Wissenschaftler, dass vieles von dem, wasJung über die Art und Weise vermutete, in der das Unbewusste operiert,durch tatsächliche Veränderungen in der Physiologie des Gehirns bestätigtwird. Ebenso wird einiges von dem, was er in seinen esoterischeren Theorienfür möglich hielt, inzwischen von modernen medizinischen Geräten «objek-tiv» aufgezeichnet.

Jung begann seine Laufbahn als wissenschaftlich arbeitender Arzt; ihmschien ein Leben im Laboratorium vorherbestimmt zu sein. Der von ihm ineine vollkommene Form gebrachte Assoziationstest galt Anfang des zwan-zigsten Jahrhunderts als der maßgebliche. Man lobte Jung für sein genaues,mathematisches Vorgehen bei der Erforschung der noch nicht kartogra-phierten Gebiete des menschlichen Geistes. An die Stelle des Respekts trataber Verblüffung, als seine Schriften sich vom Klinisch-Präzisen zum aus-geprägt Ephemeren hin bewegten, was sich auch in einer Ausdrucksweiseniederschlug, die so weitschweifig und vage war, dass man in seinen Textenimmer wieder auf mehrdeutige Formulierungen stößt und jeden einzelnenvon ihnen auf ganz unterschiedliche, manchmal sogar gegensätzliche Weiseinterpretieren kann. In Jungs mittleren Jahren machte der Arzt dem Profes-sor Platz, der Mediziner dem Philosophen, obwohl er selbst – oft sehr un-wirsch – darauf beharrte, ein empirischer Wissenschaftler zu sein.

Was eine von Jung selbst autorisierte Biographie anging, so scheiterte dasVorhaben, weil er darauf beharrte, dass eine einzelne Person sein Leben nichterschöpfend darstellen könne, da jene «spezifische psychologische Synthesejemanden erfordern würde, der gleichermaßen in der primitiven Psycholo-gie, der Mythologie, der Geschichte, der Parapsychologie und der Natur-wissenschaft – und sogar auf dem Gebiet des künstlerischen Ausdrucks – zuHause ist.»10 Jung hing deshalb der «subjektiven Phantasievorstellung» an,dass ein Komitee von Experten sich bereit fände, seine Biographie zu schrei-ben, und sich dabei genau an seine eigene Darstellung davon halten würde,wie er sein Leben gelebt hatte. Als sich dies nicht realisieren ließ und Jungversuchte, seine Lebensgeschichte selbst zu Papier zu bringen, stieß er auf«eine höchst merkwürdige […] und unerwartete Tatsache», nämlich dass ervon «dem subjektiven Material», das seine Erinnerungen an die früheste Zeitfärbte, «ständig behindert» wurde.11

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Jung versuchte eine Lösung für dieses Dilemma zu finden, indem er seinerAutobiographie zuerst den Titel Improvisierte Erinnerungen12 gab und sichbewusst dafür entschied, nicht jeden einzelnen Moment von der Warte desalten und weisen Mannes aus zu betrachten, sondern vielmehr vom Stand-punkt des Menschen aus, der er gewesen war, als sich das betreffende Er-eignis zugetragen hatte. Er glaubte, dass er seinen Lesern gegenüber dazu ver-pflichtet war, alle Gefühlsregungen einzufangen und festzuhalten, die er injenen Augenblicken seines Lebens empfand – gleichgültig, ob diese nun an-genehm oder eher unerfreulich waren.

Jung machte sich also an die Ausführung seines Plans, wählte dabei abernur jene Augenblicke aus, die er als «Momente der Erleuchtung»13 ansah –nicht nur für ihn selbst, sondern auch für alle diejenigen, die über ihn lesenwürden. Jung wollte nicht, dass diese Momente durch die Weisheit und dasWissen seiner mehr als achtzig Jahre gefiltert, dass seine Erinnerungen ge-brochen wurden. Rückschau und ehrliche Reflexion wurden die beidenMittel, die er bevorzugte, um seine Vergangenheit auf der Suche nach Augen-blicken, die einen universellen Widerhall hatten, durchzugehen. Wenngleichviele Erinnerungen schmerzlich waren, wollte er bei seinen eigenen Anfän-gen beginnen, bei seiner Geburt als das vierte – aber das erste überlebende –Kind eines armen Landpfarrers und seiner unglücklichen und von Sorgenheimgesuchten Ehefrau. Genau hier sollte deshalb auch jede Biographie vonCarl Gustav Jung ansetzen.

kapitel 1

Wie die Jungs Schweizer wurden

Der Knabe, aus dem einmal der weltbekannte Psychologe C. G. Jungwerden sollte, wurde auf den Namen Karl Gustav Jung getauft. Die bei-

den Vornamen erinnerten an seinen berühmten Großvater.Karl Gustav Jung erblickte am 26. Juli 1875 in Kesswil das Licht der Welt.

Er war bereits das vierte Kind, das seine Mutter gebar, aber das erste, dasnicht tot zur Welt kam oder bereits wenige Tage nach der Geburt starb. SeineEltern waren Johann Paul Achilles Jung, ein armer Landpfarrer der Schwei-zer Reformierten Kirche, und Emilie Preiswerk, Paul Achilles’ unglücklicheund psychisch labile Ehefrau.

Vater wie Mutter entstammten kinderreichen Familien, beide hatten zwölfGeschwister. Die Verbindung eines Preiswerk-Sprosses mit einem Jung-Nach-kommen wurde in der Schweizer Gesellschaft, in der man sich der Herkunftund Abstammung eines Menschen sehr bewusst war, als überaus Glück ver-heißend angesehen. In beiden Familien gab es viele prominente Geistlicheund Ärzte, und falls man davon sprechen kann, dass Familien bestimmte Be-rufe gepachtet haben, könnte man sagen, dass die Jungs und die Preiswerksdie Bereiche von Religion und Medizin für sich beanspruchten. Doch obwohlbeide Familien in Basel einen hohen gesellschaftlichen Status innehatten,wurde in der Stadt mehr über die persönlichen Exzentrizitäten einzelner Mit-glieder geredet als über ihre beruflichen Erfolge.

Karl Gustav Jungs Mutter, Emilie Preiswerk, war einundzwanzig, als sieam 8. April 1869 heiratete, und damit nach den Maßstäben der damaligenZeit bereits ein etwas in die Jahre gekommenes Fräulein, das schon an derSchwelle zu einem Leben als alte Jungfer stand. Die Hochzeitszeremoniefand im altehrwürdigen Basler Münster statt, weil der Vater der Braut,Samuel Preiswerk, der Antistes von Basel war, das Oberhaupt aller Pasto-ren der Reformierten Kirche in der Stadt.1 Emilies Bräutigam, Johann PaulAchilles Jung, war siebenundzwanzig, was im letzten Viertel des neunzehn-ten Jahrhunderts als angemessenes Lebensalter für einen Mann galt, um eineEhe einzugehen. Sein Vater, Dr. med. Carl Gustav Jung,2 war Arzt und De-kan der Medizinischen Fakultät der Universität Basel. Obwohl beide Väterangesehene Stellungen bekleideten, gab es, was ihren sozialen Status betraf,feine Unterschiede, die durch ihre – allerdings in beiden Fällen – knapp bemes-

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senen finanziellen Mittel weiter verschärft wurden. Sie besaßen wenig, wassie ihren jüngsten Kindern hätten mitgeben können, als diese die Ehe schlos-sen. Die Teilnehmer an der Hochzeitsfeier waren schlicht gekleidet, und dasEssen, zu dem man im Anschluss an die Zeremonie lud, fiel bescheiden aus.

Charakterliche Unterschiede zwischen den frisch Verheirateten machtensich schon von Beginn der Ehe an bemerkbar und sollten auch in ZukunftProbleme bereiten. Sie hatten auch bleibende Auswirkungen auf Paul undEmilie Jungs Sohn und prägten das Leben und Werk des Mannes, der späterals C. G. Jung berühmt werden sollte.

Im letzten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts war Basel, die Geburts-stadt C. G. Jungs, die konservativste aller Städte der aus fünfundzwanzigKantonen bestehenden Schweiz. Die Basler Gesellschaft war rigide in ver-schiedene Schichten unterteilt, und wenn auch der Antistes Preiswerk überdie Heirat seiner Tochter erfreut war, so hatte Emilie nach allgemeiner Ein-schätzung doch unter ihrem Stand geheiratet. Paul Jung mochte eine gute Er-ziehung erhalten haben, er war und blieb aber ein armer Landpfarrer, derseine Ehefrau kaum zu ernähren vermochte. Für Emilie war der vergleichs-weise niedrige soziale Status jedoch nicht so wichtig gewesen, als sie in dieEhe eingewilligt hatte: Es hatte nämlich keine anderen Bewerber um ihreHand gegeben.

Die Preiswerks waren seit Generationen Schweizer Staatsbürger von un-tadelig konservativer Gesinnung und – wie man in Basel sagte – «vom Teig»,das heißt, sie gehörten zu den ältesten Patrizierfamilien der Stadt. Die Jungswaren erst vor wenigen Jahrzehnten in diese Kreise aufgestiegen und quasizufällig zu Schweizern geworden, als der in Deutschland geborene Patriarchder Sippe, der Arzt Carl Gustav Jung, wegen politischer Agitation außerLandes verbannt worden war und ins Exil hatte gehen müssen. Dr. med.Jung wurde bei den biederen Basler Bürgern bald zu einer berüchtigten Er-scheinung, nicht nur wegen seiner liberalen politischen Ansichten, sondernauch aufgrund eines Gerüchtes, das er selbst in die Welt setzte, dass er näm-lich ein illegitimer Sprössling Johann Wolfgang von Goethes sei.3 Im protes-tantischen Basel erlitt sein Ruf weiteren Schaden, als neugierige Einwohnerder Stadt der Geschichte seiner Familie nachgingen und herausfanden, dassdie Jungs in Deutschland Katholiken gewesen waren. In Basel war das da-mals der Reputation eines Menschen beinahe so abträglich wie der Makel,das uneheliche Kind eines Dichters zu sein.

Paul und Emilie Jung wählten für den ersten Vornamen ihres Sohnes diemodernere Schreibweise «Karl», er selbst änderte das später wieder undkehrte am Ende seiner Studienzeit zu der Namensform zurück, wie sie frü-her in seiner Familie üblich gewesen war. Soweit man die Geschichte der Fa-milie Jung zurückverfolgen kann – bis ungefähr ins Jahr 1650 und in die

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Stadt Mainz –, war Carl ein bei ihren Mitgliedern beliebter Name. DemMainzer Stadtarchiv zufolge lebte in der Stadt in der Zeit vor dem Jahr 1654ein wohl angesehener Bürger «Dr. med. et Dr. jur.» Carl Jung, von Konfes-sion ein Katholik, der Arzt, Anwalt und zeitweise Rektor der Universitätwar.4 Der Enkel dieses Mannes, Franz Ignaz Jung (1759–1831), war der Ur-großvater C. G. Jungs. Er war verantwortlich dafür, dass die Familie nachMannheim zog, wo Franz Ignaz wie sein Vorfahr als Arzt tätig war und wäh-rend der Napoleonischen Kriege ein Feldlazarett leitete. Seine Frau, SophieJung-Ziegler,5 soll angeblich eine Liaison mit Goethe unterhalten haben, auf-grund derer dann später die Gerüchte aufkeimten, der Dichterfürst sei derVater Carl Gustavs (1794–1864), des Großvaters von C. G. Jung.6

Carl Gustav war eine Erscheinung, um die sich zahllose Legenden rank-ten.7 Er besuchte von 1813 bis 1816 die Universität Heidelberg, wo er fürseine Dissertation mit dem Titel «De evolutione corporis humani» die Notesumma cum laude erhielt und zum Doktor der Medizin und der Natur-wissenschaften promoviert wurde. Er war ein Mann von «hohem, starkenWuchs mit schönen, beinahe mädchenhaft weichen Gesichtszügen»8, zeich-nete sich durch zahlreiche Fähigkeiten aus, war aber nicht selten ein Spiel-ball seiner unterschiedlichen, rasch wechselnden Stimmungen. Als Studenthielt er sich ein Ferkel von ungewöhnlich intensiver rosa Farbe als Haustierund schockierte die biederen Einwohner von Heidelberg damit, dass er mitdem Tierchen liebevoll sprach, während er es wie einen Hund an der Leinespazieren führte.9 Er war ein begabter Verfasser von Gedichten und Liedern,von denen einige Aufnahme ins Teutsche Liederbuch fanden. Führende Li-teraten der Zeit drängten ihn, die Medizin aufzugeben und sich ganz auf dasDichten zu konzentrieren; er folgte diesen Ratschlägen zwar nicht, doch pub-lizierte er, anonym, weiter Werke aus seiner Feder. Kaum jemand wusste,dass er – wie später sein Enkelsohn und Namensvetter – ganz besonders dieKriminalliteratur schätzte; Carl Gustav verfasste unter dem PseudonymNusser sogar ein komisches Volksstück, das diesem Genre angehörte. Er ver-barg sich auch hinter dem Namen Demius, unter dem er ein Drama veröf-fentlichte, das den aufrührerischen Titel Die Revolution trug.10

Carl Gustavs Karriere als Mediziner nahm einen steilen Anfang. Mit nurvierundzwanzig Jahren wurde er nach Berlin gerufen, um dem legendärenOphthalmologen der Charité, Johann Nepomuk Rust, als Assistenzchirurgzu dienen und gleichzeitig einen Lehrauftrag für Chemie an der königlich-preußischen Militärakademie zu erfüllen.

In Berlin fand Carl Gustav im Haus des Verlegers Georg Andreas ReimerAufnahme. Reimer und seine Frau behandelten ihn beide wie einen Sohn.Durch die Reimers fand er Anschluss an eine Gruppe von Intellektuellen, zuder die Romantiker Ludwig Tieck, August Wilhelm Schlegel und dessen Bru-

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der Friedrich gehörten. Von größerem Einfluss auf ihn war jedoch FriedrichSchleiermacher, der bedeutendste protestantische Theologe unter den deut-schen Romantikern, der entscheidend an der Gründung der Berliner Uni-versität mitwirkte und dort den ersten Lehrstuhl für Theologie innehatte.11

Schleiermacher war auch Pastor an der Berliner Dreifaltigkeitskirche, unddie Menge strömte zu seinen Predigten, die berühmt waren wegen ihrer Auf-richtigkeit, ihrer religiösen Inbrunst und auch wegen ihres Patriotismus zujener «Zeit nationalen Niedergedrücktseins».12

Die Beziehungen zwischen den Familien Jung und Schleiermacher inten-sivierten und festigten sich, als die Schwester des Philosophen Carl Gustavsälteren Bruder Sigismund heiratete und zum katholischen Glauben der Jungskonvertierte.13

Carl Gustavs zutiefst religiöse Eltern waren bestürzt und betrübt, als ihrSohn zum ungestümen Protestantismus Schleiermachers übertrat, der sicham besten als auf den demokratischen Ideen der deutschen Romantik basie-render politischer Aktivismus charakterisieren lässt.

Am 18. Oktober 1817 feierte Jung mit einer großen Schar von Studentenan der Universität Jena den dreihundertsten Jahrestag der Reformation. AlsMitglied des nationalistisch gesinnten Turnvereins, der von Friedrich Lud-wig Jahn (1778–1852) geleitet wurde,14 trat er die Pilgerfahrt zum Wart-burgfest an, das in der gleichnamigen Feste in der Nähe von Eisenach abge-halten wurde, wo Martin Luther zeitweise Unterschlupf gefunden hatte. Wiedie Mehrzahl der anwesenden Studenten wollte er aber weniger ein religions-geschichtliches Ereignis würdigen als vielmehr den vierten Jahrestag der Völ-kerschlacht von Leipzig begehen, mit der Napoleons Herrschaft in Deutsch-land ein Ende gesetzt worden war. Das Wartburgfest löste in weiten Teilendes Landes studentische Proteste über das despotische Verhalten der Regie-rungen aus, was aber nur zu weiteren starken Beschneidungen der allgemei-nen bürgerlichen Freiheiten führte. Als Jungs Freund Karl Ludwig Sand am23. März 1819 den reaktionären Schriftsteller und Dramatiker August vonKotzebue ermordete,15 wurden alle studentischen Vereinigungen und Bur-schenschaften verboten, und viele Professoren, die liberale Ansichten ver-treten hatten, wurden verhaftet. Unter diesen war auch Carl Gustav Jung,dessen «Verbrechen» im Besitz eines Hammers von der Art, wie ihn Mine-ralogen bei ihrer Arbeit benutzen, bestand. Dieser Hammer war ihm vonKarl Ludwig Sand geschenkt worden,16 und dies reichte aus, Jung der «De-magogie» zu bezichtigen und zu dreizehn Monaten Haft im Gefängnis Haus-vogtei zu verurteilen. Nach seiner Entlassung aus der Haft fand er in Deutsch-land nirgendwo mehr eine Anstellung.

Er ging nach Paris, um dort Karriere in der medizinischen Forschung zumachen, und von diesem Punkt an verliert sich seine Lebensgeschichte in

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einer Mischung aus Fiktion und Wahrheit.17 Die einzige Konstante in denzahlreichen Legenden darüber, wie Carl Gustav Jung Schweizer und Bürgervon Basel wurde, bildet die Person des herausragenden Naturwissenschaft-lers Alexander von Humboldt (1769–1859).18 Die Mitglieder der heutigenFamilie Jung erzählen über die Pariser Zeit ihres Vorfahren dieselbe Ge-schichte, die auch ihr Vater und Großvater Carl Gustav bevorzugte, sietun dies aber mit einer gesunden Skepsis, während C. G. Jung, wie es heißt,die Geschichte für wahr hielt.19 Dieser Darstellung der Ereignisse zufolgewar Carl Gustav ein Hunger leidender,20 heruntergekommener politischerFlüchtling aus Deutschland, der frierend auf einer Pariser Parkbank hockte,als ein Fremder – von Humboldt, wie sich später herausstellen sollte – ihn inein Gespräch verwickelte. Von Humboldt war über die verzweifelten Um-stände, in denen der Mann, mit dem er zufällig bekannt geworden war, lebte,betrübt. Gleichzeitig war er so beeindruckt über dessen wissenschaftlicheKenntnisse, dass er ihn für eine niedere Stelle an der Medizinischen Fakultätder Berner Akademie nominierte, für die man ihn gebeten hatte, einen ge-eigneten Kandidaten ausfindig zu machen. Die Berner Akademie stellte Jungaber nicht ein. Humboldt, der sich zwischenzeitlich mit Carl Gustav ange-freundet hatte, schlug ihn daher bei einer anderen Medizinischen Fakultätfür eine Anstellung vor, und zwar bei der viel angeseheneren der Basler Uni-versität. Diesmal hatte er mit seiner Intervention Erfolg.21

Eine andere Version der Geschichte ist viel grandioser. Ihr zufolge suchteCarl Gustav Jung, mit einem Empfehlungsschreiben von Dr. Rust von derBerliner Charité an den französischen Chirurgen Guillaume Dupuytren aus-gestattet, in Paris eine Anstellung. Dupuytren soll den jungen Deutschen zueinem ihm zu Ehren veranstalteten Bankett eingeladen haben und ihm einenPlatz neben einem distinguiert aussehenden Herrn mittleren Alters angewie-sen haben, den Jung anschließend im Gespräch so beeindruckte, dass er ihmden Lehrstuhl für Anatomie, Chirurgie und Geburtshilfe an der UniversitätBasel anbot. Erst nachdem Jung das Angebot angenommen hatte, soll er er-fahren haben, dass sein Gönner niemand anderes als Alexander von Hum-boldt war.

Die dritte Version der Geschichte ist die am wenigsten spektakuläre,kommt aber vermutlich der historischen Wahrheit am nächsten. Georg An-dreas Reimer, der Verleger, bei dem Jung in Berlin wohnte, war ein engerFreund Humboldts und korrespondierte häufig mit ihm.22 Jung siedelte ver-mutlich mit den Empfehlungen von Reimer und möglicherweise auch vonSchleiermacher, der Humboldt ebenfalls persönlich kannte, in der Taschenach Paris über. Er wurde von seinem Vater finanziell so weit unterstützt,dass es ihm möglich war, in der französischen Hauptstadt ein ganz behaglichesLeben zu führen. Er vermochte sogar mit Virginie de Lassaulx (1804–1830)

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die erste seiner insgesamt drei Ehen einzugehen.23 Ohne den Beistand seinesVaters hätte er mit dem kleinen Gehalt, das er aus der schlecht bezahlten Stel-lung bezog, die er bis zu seinem Weggang nach Basel in Paris innehatte, kaumsich selbst, geschweige denn eine Ehefrau ernähren können.

Die einzige Tatsache, die in allen drei Versionen der Geschichte vorkommtund die sich verifizieren lässt, ist, dass einer von mehreren an den BaslerOberbürgermeister gerichteten Briefen, in denen Carl Gustav Jung für dieProfessur empfohlen wurde, tatsächlich von Humboldt stammte.24

Jung traf am 18. März 1822 in seiner neuen Heimat ein,25 und das fol-gende Jahrzehnt seines Lebens wurde ganz und gar von seinen intensiven Be-mühungen beherrscht, die Medizinische Fakultät neu zu organisieren.

Als Carl Gustav Jung und seine Frau Virginie sich in der Stadt nieder-ließen, war Basel ein Gemeinwesen von weniger als 25 000 Menschen, ein«lebensfähiger Anachronismus» mit einer «patrizisch dominierten gesell-schaftlichen Struktur»26, bestimmt von der Verehrung des Handels und einemrigiden, restriktiven und konventionellen Protestantismus. Das geistige Klimawar auf den meisten Gebieten so unfruchtbar, dass sogar die Kantonalsbe-amten erkannten, dass an dem bedauernswerten Zustand der Universität, ander damals weniger als achtundzwanzig Studenten eingeschrieben waren, et-was geändert werden müsste.27 Bereits 1818 waren umfassende Gesetze ver-abschiedet worden, die die völlige Neuorganisation der Hochschule in allenEinzelheiten festlegten, doch als Carl Gustav Jung vier Jahre später ernanntwurde, waren die meisten der vorgesehenen Maßnahmen noch nicht durch-geführt worden. Er nutzte diese Stagnation zu seinem eigenen Vorteil aus.Für die Medizinische Fakultät waren vier ordentliche Professorenstellen vor-gesehen, von denen aber nur drei besetzt waren. Nach einem Semester alsaußerplanmäßiger Professor vermochte Jung seine Kollegen dazu zu be-wegen, ihm den vakanten Lehrstuhl zu überlassen. Sie willigten ein, weil esam bequemsten für sie war und am wenigsten Aufwand von ihnen verlangte;er aber ergriff sofort die Initiative, um in ihrem Kreis der primus inter pareszu werden. In einer Stadt, die für ihre Rückständigkeit bekannt war, holteer andere radikale Professoren an die Universität, die wie er selbst aus ih-rer Heimat hatten flüchten müssen und die seine Vision einer «nationalenWiederbelebung durch das Studium der klassischen Sprachen und der klas-sischen Kultur» teilten. Sie sollten ihm helfen, den Lehrplan zu restrukturie-ren.28

Während überall auf der Welt die Ausbildung von Medizinern, sowohldie praktische wie auch die theoretische, tief gehende Wandlungen erfahrenhatte, hatte sich in Basel seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts nichtsan ihr verändert. Ein einziger Professor, der große Johann Jacob Burckhardt,unterrichtete einen einzigen ordentlich immatrikulierten Studenten und eine

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Hand voll Badergehilfen. Die anderen Dozenten waren nicht in der Lehre tä-tig, sondern einzig und allein mit ihren privaten Praxen beschäftigt. Es ver-wundert daher nicht, dass zwischen 1806 und 1814 nicht ein einziger Dok-tortitel in Medizin verliehen wurde. Das war auch noch die Situation, mitder sich Carl Gustav Jung im Jahr 1823 konfrontiert sah, als er mangelseines anderen Kandidaten Vorsitzender der Fakultät wurde.29 Er setzte dieganze Kraft seiner ungestümen, draufgängerischen Persönlichkeit ein, um fürdas Medizinstudium den rigorosesten Lehrplan aufzustellen, den es an derUniversität überhaupt gab. Er führte neue Kurse in Anatomie und Patholo-gie ein und ersann einen ähnlichen Studienplan für das Fach «Therapie», eineDisziplin, in der die neuesten medizinischen Techniken im Verein mit Philo-sophie gelehrt wurden. Das in diesem Studienfach erworbene Wissen wurdebei der Behandlung mentaler Störungen eingesetzt.30 Jung ernannte sichselbst zum Oberarzt des der Universität angeschlossenen Krankenhauses, desBürgerspitals, wo er dafür sorgte, dass die wichtigsten Einrichtungen ausge-baut wurden und die Qualität der Krankenpflege sich erhöhte. Sechs Jahrespäter, 1828, wurde er zum Rektor der gesamten Universität ernannt. Jung,ein Mann, der sein ganzes Leben lang auf dem Gebiet der Medizin Bahn-brechendes leistete, rief 1857 ein Heim für geistig behinderte Kinder ins Le-ben, die «Anstalt zur Hoffnung», die zu einem Modell für andere Instituti-onen dieser Art wurde und deren Gründung er später als seine bedeutendsteLeistung bezeichnete.

Carl Gustav Jung schuf sich im Kreis der einflussreichsten Basler Bürger,die es einzig und allein mit Stolz erfüllte, «sechs Nullen hinter ihren Namensetzen zu können»31, nur wenige Freunde. Man begegnete ihm mit Respekt,mochte ihn aber nicht sonderlich, weil er in aller Öffentlichkeit gegen zweiDinge agitierte: gegen die deutsche Politik (die braven Basler waren natür-lich der Meinung, dass er sich gefälligst nur um Schweizer Angelegenheitenkümmern sollte) und gegen die in Basel geltenden äußerst restriktiven Bür-gerrechte, die sporadisch kriegerische Auseinandersetzungen zwischen denBewohnern der Stadt und denen der umgebenden ländlichen Gebiete zur Fol-ge hatten.32 Obwohl er 1824 – nach einer erstaunlich kurzen Zeitspanne33 –die Schweizer Staatsbürgerschaft erlangte, wurde er immer noch als der«deutsche Demokrat und Liberale» bezeichnet, und das war natürlich ab-wertend gemeint. Erst 1830 34 verschonte man ihn – vorübergehend – mitKritik und brachte ihm ein wenig Sympathie entgegen, aber nur weil seineGattin Virginie, nachdem sie mehrere Töchter zur Welt gebracht hatte, mitMitte zwanzig starb und ihn alleine mit dem einzig überlebenden Mädchenzurückließ.35

Kurze Zeit später begann Jung Sophie Frey zu umwerben, die einer derführenden Familien der Stadt entstammte. Ihr Vater war der Bürgermeister

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von Basel, Johann Rudolf Frey. Obwohl Jung immer mehr an Prestige ge-wonnen hatte, war Bürgermeister Frey über das Interesse des Professors anseiner Tochter nicht erfreut. Für Jacob Burckhardt, der ja ein Zeitgenossewar, war Basel eine Stadt, die ihm «ewig unleidlich bleiben» werde, dennkein einziges «Wort wird jemals verziehen, eine Zwischenträgerei ohne Glei-chen vergiftet Alles».36 Die weit reichenden Veränderungen, die Carl GustavJung an der Medizinischen Fakultät in Gang gesetzt hatte, verstärkten nochdas Stigma, das ihm aufgrund seiner umstürzlerischen Aktivitäten als Stu-dent und der Gefängnisstrafe, die er abgebüßt hatte, anhaftete. Bürgermeis-ter Frey hegte auch ganz persönliche Sorgen: Der Verehrer war achtzehnJahre älter als seine Sophie und hatte bereits ein Kind von einer anderen Frau.Der Bürgermeister war entschlossen, ihm die Hand seiner Tochter zu ver-weigern, falls er um sie anhielt; wie sich herausstellte, sollte das aber garnicht nötig sein, denn Sophie lehnte von sich aus Jungs Antrag ab.37

Der Familienlegende zufolge stürmte der Abgewiesene in die nächstgele-gene Studentenkneipe und machte der ersten Frau, die er dort sah, einen Hei-ratsantrag. Das war die Kellnerin Elisabeth Catherine Reyenthaler, eine reiz-lose, abgekämpft wirkende Frau, die der Arbeiterklasse entstammte undmehrere Jahre älter war als er.38 Zur Erheiterung der heutigen Generationder Jungs, jedoch zum Leidwesen ihres Vorfahrs, nahm sie seinen Antrag an.C. G. Jung meinte, sein Großvater habe sich glücklich schätzen können, dasssie «bald an Tuberkulose [starb] und ebenso ihre Kinder».39 Das entsprichtjedoch nicht ganz der historischen Wahrheit; Elisabeth Catherine verschiedzwar drei Jahre nach ihrer Hochzeit, aber nur eines ihrer drei Kinder starb.Carl Gustav war jetzt der verwitwete Vater von drei kleinen Kindern, die ihmzwei verschiedene Ehefrauen geboren hatten. Endlich wurde er in der BaslerÖffentlichkeit zu einer Gestalt, der man, wenn auch nur widerwillig, Respektentgegenbrachte. Er galt jetzt als «Mann von unwiderstehlichem Charme»und als «gutherzig, taktvoll und humorvoll».40 Günstig wirkte sich für ihnauch aus, dass er aufgrund seiner mittlerweile florierenden Privatpraxis überwesentlich mehr Geld verfügte als zuvor. Seine zahlreichen Publikationen zuThemen aus den Fachgebieten der Anatomie und der Physiologie steigertenseinen Ruf noch weiter, und als sich herumsprach, dass durch ihn ein neuerStudienplan eingeführt worden war, lockte das auch Studenten und Beob-achter aus dem Ausland nach Basel. 1838 wurde er Mitglied des Stadtrates,und 1841 ernannte man ihn zum Vorsitzenden der akademischen Gilde.1850 war er in der ganzen Schweiz so berühmt, dass er zum Großmeister derVereinigten Freimaurerlogen des Landes gewählt wurde.41

Carl Gustav Jung schrieb und veröffentlichte in jenen Jahren sehr viel, da-runter auch – anonym – einen Vortrag, in dem er merkwürdigerweise schondieselbe Leidenschaft an den Tag legte, die seinen Enkel zeit seines Lebens

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