Jurt Joseph Bourdieu 2008

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Pierre Bourdieu (1930-2002), Soziologe und engagierter Intellektueller, entwickelte seinen eigenen Ansatz auf der Basis seiner ethnosoziologischen Studien in Algerien. Er setzte sich dabei ebenso von der existenzialistischen Subjektphilosophie sartrescher Prägung ab wie von einem Strukturalis- mus, der die Akteure zu Epiphänomenen erklärte. Wenn er die relationelle Betrachtungsweise beibehält, so sieht er doch im Strukturalismus die Gefahr des Objektivismus durch die Verabsolutierung der Beobachterperspektive. Demgegenüber versucht er nach dem notwendigen Objektivierungsschritt eine praxeologische Erkenntnisweise zu entwickeln, die der Logik des HandeIns gerecht wird. Joseph Jurt stellt in dieser Einführung die zentralen theoretischen Kategorien Bourdieus - Feld, Habitus und Kapital - vor, die Resultate empirischer Frage- stellungen sind. Joseph Jurt, geboren 1940, war von 1981 bis 2005 Professor für französische Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg i. Br. Buchpublikationen u. a.: (Hg.) Pierre Bourdieu: Forschen und Handeln, 2004; (Hg.) Die Literatur und die Erinnerung an die Shoah, 2005; (Hg.) Champ litteraire et nation, 2007. Grundw 5 5 e n P h 050 P h e Bourdieu von Joseph Jurt Philipp Reclam Jun. Stuttgart

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Pierre Bourdieu (1930-2002), Soziologe und engagierter Intellektueller, entwickelte seinen eigenen Ansatz auf der Basis seiner ethnosoziologischen Studien in Algerien. Er setzte sich dabei ebenso von der existenzialistischen Subjektphilosophie sartrescher Prägung ab wie von einem Strukturalis­mus, der die Akteure zu Epiphänomenen erklärte. Wenn er die relationelle Betrachtungsweise beibehält, so sieht er doch im Strukturalismus die Gefahr des Objektivismus durch die Verabsolutierung der Beobachterperspektive. Demgegenüber versucht er nach dem notwendigen Objektivierungsschritt eine praxeologische Erkenntnisweise zu entwickeln, die der Logik des HandeIns gerecht wird. Joseph Jurt stellt in dieser Einführung die zentralen theoretischen Kategorien Bourdieus - Feld, Habitus und Kapital - vor, die Resultate empirischer Frage­stellungen sind.

Joseph Jurt, geboren 1940, war von 1981 bis 2005 Professor für französische Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg i. Br. Buchpublikationen u. a.: (Hg.) Pierre Bourdieu: Forschen und Handeln, 2004; (Hg.) Die Literatur und die Erinnerung an die Shoah, 2005; (Hg.) Champ litteraire et nation, 2007.

Grundw 5 5 e n P h 050 P h e

Bourdieu von

Joseph Jurt

Philipp Reclam Jun. Stuttgart

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Wissenschaftlicher Beirat der Reihe Grundwissen Philosophie:

Prof. Dr. Hartmut Böhme Prof. Dr. Simone Dietz

Prof. Dr. Detlef Horster Prof. Dr. Geert Keil

Prof. Dr. Ekkehard Martens Prof. Dr. Barbara Naumann

Prof. Dr. Thomas Schmidt Prof. Dr. Herbert Schnädelbach Prof. Dr. Ralf Schnell

RECLAM TASCHENBUCH NT. 20319 Alle Rechte vorbehalten © 2008 Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart Reihengestaltung Grundwissen Philosophie: Gabriele Burde Umschlagabbildung vorn: © Bernard Lambert, Journal Forum, Universite de Montreal, 1996 Umschlagabbildung hinten: © privat Satz: Steffi Glauche, Leipzig Druck und Bindung: Reclam, Ditzingen Printed in Germany RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co., Stuttgart ISBN: 978-3-15-020319-4

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Inhalt

Pierre Bourdieu - auch ein Philosoph? 7

Das französische philosophische Feld der 1950er Jahre 10

Sartres Subjektphilosophie 10

Die schöpferische Weiterführung der Phänomenologie 12

Epistemologie und Wissenschaftsgeschichte 14

Die Humanwissenschaften und der Strukturalismus 15

Bourdieus Ausgangspunkt 20

Auseinandersetzung mit Sartres Subjektphilosophie 20

Die Anregungen der Phänomenologie: die Dimension der Zeitlichkeit 22

Wissenschaftsphilosophische Grundlagen: epistemologische Wachsamkeit 27

Das strukturale Verfahren: die Bedeutung des Systems der Relationen 32

Die Grundpositionen Bourdieus 36

Überwindung des Strukturalismus 36

Die Kritik der theoretischen Vernunft 44

Eine Theorie der Praxis 53

Die zentralen Kategorien Bourdieus 58

Der Habitusbegriff: Freiheit oder Determination? 58

Eine andere Ökonomie: die vier Kapitalarten 70

Der soziale Raum: eine Ausgliederung von Feldern 90

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Autonomie, Wissenschaft und Engagement 102

Legitimierung und Autonomie 102

Der universelle und der spezifische Intellektuelle 105

Wissenschaft und Autonomie 106

Wissenschaftliche Kompetenz und Engagement 109

Anmerkungen 114

Kommentierte Bibliografie 115

Schlüsselbegriffe 122

Zeittafel 127

Dank 129

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Pierre Bourdieu - auch ein Philosoph?

Die Pariser Tageszeitung Le Monde erschien am 25. Januar 2002 mit der Schlagzeile: »Pierre Bourdieu ist tot. Der Philo­soph ist am Mittwoch gestorben. Seine kritische Soziologie, die weltweite Anerkennung fand, ging einher mit seinem Engagement für die sozialen Bewegungen.« Dass Bourdieu hier als Philosoph bezeichnet wird, mag manchen über­raschen, ist er doch eher als Soziologe auf weltweite Re­sonanz gestoßen. Die Qualifikation als Philosoph war aber nicht falsch. Der 1930 in einem kleinen Pyrenäendorf ge­borene Pierre Bourdieu hatte nach seiner Aufnahme an die Pariser Eliteschule Ecole Normale Superieure wie seine Studienkollegen Michel Foucault (1926-1984) und Jacques Derrida (1930-2004) Philosophie studiert und das Studium mit dem hochangesehenen Agregation-Diplom abgeschlos­sen. Seine unter der Leitung von Henri Gouhier (1898-1994), einem Spezialisten für Descartes, Pascal, Rousseau und Auguste Comte, erstellte Diplomarbeit widmete sich Leibniz; es handelte sich um eine kommentierte Übersetzung des Leibniz-Werkes Animadversiones. Bourdieu erläuterte später selbst mit leicht ironischem Un­terton seine Option für das Fach Philosophie: Mit der Auf­nahme in die Eliteschule hatte man den Gipfel der Hierarchie des Bildungswesens erreicht, und das zog logischerweise die Entscheidung für das Fach Philosophie nach sich, das als Königsdisziplin galt. »Man wurde >Philosoph<, weil man aus­gezeichnet worden war, und man zeichnete sich aus, indem· man sich die prestigereiche Bezeichnung >Philosoph< si­cherte.« (Meditationen, 48) Das soziale Prestige des Fachs trug nach Bourdieu zu einem elitären Korpsgeist unter den Philosophen bei, die sich darum vorzugsweise mit »erhabe-

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nen« Gegenständen beschäftigten und konkrete Fragen des sozialen Lebens eher vernachlässigten. Diese spezifische gesellschaftliche Position der Philosophie in Frankreich, die sich aus ihrem Rang in der Disziplinen­hierarchie erklärt, führte nun Bourdieu gerade dazu, sich der Ethnologie und später der Soziologie zuzuwenden. Mit den Fragen, die die Philosophie stellte, setzte er sich dabei weiter­hin auseinander. Ein Leben lang suchte er nach Antworten, aber nicht spekulativ, sondern mit sozialwissenschaftlichen Methoden. In einem Nachruf hielt sein Kollege Jacques Bouveresse, Vertreter des Philosophie-Lehrstuhls am College de France, fest, Bourdieu habe über eine breitere philoso­phische Bildung verfügt als viele Berufsphilosophen. Er ver­wechselte eben nicht das, was die Philosophie tatsächlich beitragen kann und was unersetzlich ist, mit den fragwür­digen und oft absurden Ansprüchen, die sie vorgibt. Alle Werke Bourdieus seien auch philosophische Werke, außer für diejenigen Leser, die an der Idee einer »reinen« Philoso­phie festhielten. Ähnlich wie Ludwig Wittgenstein misstraute Bourdieu den großen, umfassenden Theorien. In einem Ge­spräch mit dem jungen Berkeley-Soziologen Lok Wacquant erklärte er, dass er seinen intellektuellen Weg rückblickend als das Vorhaben erkenne, das ihm erlaubt habe, die Idee, die er sich von der Aufgabe der Philosophie gemacht hatte, in die Tat umzusetzen. Es vergehe kein Tag, ohne dass er philo­sophische Werke lese und wiederlese, vor allem englische und deutsche Autoren. Der Unterschied bestehe für ihn bloß darin, dass philosophische Konzepte für ihn denselben Stel­lenwert hätten wie mathematische Begriffe. Diese Auffas­sung teilte Bourdieu zweifelsohne mit einer ganzen Reihe von Philosophen seiner Generation. Um Bourdieus Ansatz zu verstehen, ist es notwendig, das philosophische Feld zu rekonstruieren, in das er in den 1950er Jahren eintrat. Dabei folgen wir seinem eigenen An­satz. In seinem Artikel »Die biographische Illusion« warnte er ausdrücklich vor der Gefahr, einen Lebensweg als eine ge-

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rade Linie aufzufassen. Das sei etwa ebenso absurd wie der Versuch, eine Fahrt in der U-Bahn zu beschreiben, ohne die Struktur des Netzes zu kennen. (Praktische Vernunft, 82) Ein Lebensweg ist nicht das, was die Metapher des Weges zu suggerieren scheint, eine vertikale Linie, die ihre Konstanz allein dem Individuum verdankt; ein Werk ist immer auch eingebunden in die horizontalen Beziehungen zu seiner Umwelt, zu dem, was Bourdieu das jeweilige Feld nennt: »Verstehen heißt zunächst, das Feld verstehen, mit dem und gegen das man sich entwickelt.« (Selbstversuch, 11)

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Das französische philosophische Feld der 1950er Jahre

Sartres Subjektphilosophie

Das intellektuelle Feld Frankreichs wurde in den ersten fünf­zehn Jahren nach Kriegsende zweifellos durch Jean-Paul Sartre (1905-1980) und seine Subjektphilosophie bestimmt. Bourdieu selbst räumte ein, dass Sartre auf ihn wie auf alle anderen, die in irgendeiner Beziehung zur Philosophie stan­den, in intellektueller wie in politischer Sicht eine große Faszination ausübte - eine ambivalente Faszination aller­dings. Sein Werk Das Sein und das Nichts (1943) sei für viele junge Philosophen zu einer Art Fetisch geworden, ein Buch, über das alle Welt sprach, obwohl es tatsächlich nur wenige gelesen hatten. Bourdieu freilich hatte das Werk schon in der Vorbereitungsklasse im Gymnasium Louis-Ie-Grand gelesen. »Man glaubte, den Meister einer Philosophie des Lebens zu hören, einer Philosophie über die Dinge des alltäglichen Le­bens, in einer Sprache wie aus einem Roman.«l Sartre ver­körperte den »totalen Intellektuellen«: Er vereinte in sich die Figur des Philosophen a la Henri Bergson und die des großen Schriftstellers nach dem Beispiel von Andre Gide. Die Werke von Sartre, in denen dieser zur Kriegsdienstverwei­gerung Stellung bezieht, sich über die Kunst von Nathalie Sarraute, die Malerei von Lapoujade, die Theaterstücke von Genet äußert, sind Bourdieu zufolge die perfekte Illustration einer Politik, die an allen Außenposten des intellektuellen Lebens präsent sein und an allen Avantgardebewegungen teilhaben will, um so gemäß dem Programm der ersten Num­mer seiner Zeitschrift Les Temps Modernes »nichts auszu­lassen«. Ein solches Hin und Her von Gedanken und Themen belegt nach Bourdieu die starke gesellschaftliche Integration des intellektuellen Feldes in Paris, das trotz offensichtlicher

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Grabenkämpfe auf der Grundlage einer unerkannten Kom­plizenschaft funktionierte: in der Ablehnung dessen, was man Materialismus, Positivismus, analytische Atomisierung nannte. Bourdieu hielt dem existenzialistischen Ansatz immerhin zugute, dass er sich von den kanonischen Gegen­ständen der Univer~itätsphilosophie verabschiedet hatte und die allergewöhnlichsten Gegenstände des Alltagslebens - so den berühmten Kaffeehauskellner - einer phänomenologi­schen Analyse für würdig hielt. Das belegte die Nähe zur Literatur und öffnete auch den Weg für die Sozialwissen­schaften, die bestrebt waren, aus jedem Gegenstand einen Gegenstand der Wissenschaft zu machen. Mit dem Konzept der »litterature engagee«, das Sartre in seiner Zeitschrift Les Temps Modernes formuliert hat - eine der wichtigsten Platt­formen der Nachkriegszeit -, hat er in geschickter Weise eine literarische Autonomie gegenüber heteronomen Forderun­gen des politischen Feldes (etwa der damals sehr mächtigen Kommunistischen Partei) behauptet. Im Mittelpunkt des Konzepts von Sartre steht, wie gesag~, die Subjektphilosophie, die im »Projekt« des Individuums ein wichtiges Erklärungsmuster sieht. Aber gerade diese volun­taristische Philosophie des Subjekts, der Freiheit, des Be­wusstseins, die die Phänomene fast ausschließlich aus den Qualitäten des Individuums erklärt, vermag die Dominanz von Sartre selbst nicht zu erklären. Hier setzt auch die Kritik von Bourdieu an. Viele Themen und auch Gemeinplätze in der französischen Philosophie und Literatur nach 1945 erklären sich aus der Krise, die Frankreich während des Zweiten Weltkrieges durchgemacht hat. Gewisse stoizistische Nachklänge im Denken von Sartre, insbesondere die Vorstellung, dass un­sere Freiheit auch dann noch intakt ist, wenn man uns zu' Sklaven gemacht hat, beziehen sich nach dem Philosophen Jean Wahl (1888-1974), den Bourdieu zitiert, auf die spezi­fische Problematik, die sich der Resistance während der Besatzungszeit stellte.

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Die Aversion Bourdieus richtete sich später gegen einen Exis­tenzialismus, der zu einer Modebewegung geworden war, zu einer Frage des Lebensstils. Für Roland Barthes (1915-1980) bestand eines der Merkmale des Existenzialismus immerhin darin, dass er viele Zeitgenossen ansprach, die keineswegs über eine spezifische philosophische Bildung verfügten. Eine ähnliche Entwicklung stellte Michel Foucault in einem Ge­spräch fest: Früher gab es, so Foucault, in Frankreich zwei »Kreisläufe des Denkens«, die selten miteinander kommuni­zierten - eine akademische Philosophie, die kaum über den Kreis der Universität hinaus Einfluss ausübte, und eine »of­fene«, nicht fachspezifische Reflexion. Doch seit dem Krieg erreichte mit dem Existenzialismus von Sartre und Maurice Merleau-Ponty (1908-1961) ein Denken, das zunächst auch universitären Ursprungs war, eine Öffentlichkeit, die weit über das traditionelle Hochschulpublikum hinausging. Fou­cault sah darin eine Folge der allgemeinen Demokratisierung der Kultur, die er durchaus begrüßte; er bedauerte allerdings, dass diese Breitenwirkung dazu führte, dass anspruchsvolle philosophische Fragen auf Slogans reduziert wurden; gleich­zeitig existierten kaum mehr fachspezifische Zeitschriften für eigentliche philosophische Debatten.

Die schöpferische Weiterführung der Phänomenologie

Neben dem Existenzialismus existierte im Nachkriegs-Frank­reich weiterhin eine strenge phänomenologische Tradition, aus der ja auch Sartre kam. Ausgehend von Edmund Husserl (1859-1938) und Martin Heidegger (1889-1976) versuchte man, über den akademischen Rationalismus hinauszugehen, um zu den »Sachen selbst« vorzustoßen. Die Phänomenolo­gie namentlich Husserls ging von der Erfahrung aus, dass alles raum-zeitliche Sein nur in Beziehung zu einem Be­wusstseinsakt Sinn und Bedeutung erhält. Analysiert wird die Konstituierung von Gegenständen in den Prozessen der

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Wahrnehmung, der Vorstellung, der Erinnerung, der Refle­xion. Im Nachkriegs-Frankreich hatte vor allem Merleau­Ponty, der zunächst mit Sartre zusammengearbeitet hatte, sich dann aber wegen dessen Totalitarismus-Interpretation von ihm trennte, den phänomenologischen Ansatz schöpfe­risch weitergeführt. Merleau-Ponty stützte sich auch auf die Ergebnisse der Humanwissenschaften, insbesondere der Biologie und der Psychologie, und versuchte einseitige Wahr­nehmungsthesen zu überwinden, die ausschließlich vom Geist oder ausschließlich vom biologischen Substrat aus­gingen. Er setzte sich aber auch mit der unmittelbaren Gegenwart auseinander - in seinen Arbeiten über die Ge­schichtlichkeit, über die Kommunistische Partei und die Moskauer Prozesse. Die Phänomenologie wurde auch von anderen Philosophen der Nachkriegszeit aufgegriffen, etwa von Emmanuel Levi­nas (1905-1995), der bei Husserl die Möglichkeit schätzte, »konkret« zu philosophieren, ohne sich einem System zu ver­pflichten. Seine Vorlesungen von 1946/47 hoben sich i1).des entschieden von der existenzialistischen Zeitströmung im Nachkriegs-Paris ab, weil sie nicht Angst und Einsamkeit thematisierten, sondern den Weg aufzuzeigen suchten, der aus der Vereinzelung der Existenz herausführte. Jacques Derrida hat Ende der 1950er Jahre seine Diplom­arbeit Husserl gewidmet. Husserl sei innerhalb der Univer­sität im damaligen Frankreich noch fast unbekannt gewesen, so erinnerte er sich später; in gewissen Kreisen (sogar in marxistischen) begann man jedoch, ein lebhaftes Interesse für den deutschen Philosophen zu entwickeln, das sich von der existenzialistischen Lesart abgrenzte. Derrida gab dann 1962 einen von ihm übersetzten Text von Husserl zum Ur­sprung der Geometrie mit einer eigenen Einleitung heraus.' 1967 erschien seine Arbeit über das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls (dt. Die Stimme und das Phänomen).

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Epistemologie und Wissenschaftsgeschichte

Neben der Existenzphilosophie und der schöpferischen Weiterführung der Phänomenologie existierte noch eine mi­noritäre Position im philosophischen Feld des Nachkriegs­Frankreich, die weniger beachtet wurde, die aber langfristig eine nicht zu unterschätzende Wirkung zeitigte: die Episte­mologie und die Wissenschaftsgeschichte, die in Opposition zur dominanten existenzialistisch-phänomenologischen Sub­jektphilosophie, welche sich mehr an der Kategorie der Er­fahrung orientierte, eine Philosophie des Wissens, der Ratio-. nalität und des Konzepts entwickelten. Vertreten wurde diese Posi~ion durch Gaston Bachelard (1884-1962), Jean Cavailles (1903-1944), Alexandre Koyre (1892-1964) und vor allem durch Georges Canguilhem (1904-1995), den Nachfolger von Cavailles auf dem Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte an der Sorbonne. Bachelard kritisierte an der traditionellen Philosophie, dass sie von zu schlichten Konzepten ausgehe und die Einsichten der modernen Naturwissenschaften verkenne. In seinen Augen waren die Konzepte historische Erkennt­nisinstrumente und nicht zeitlose Wesenheiten. Der Er­kenntnisakt erschien für ihn als eine unabgeschlossene, dialektische Beziehung zwischen Theorie und Erfahrung, zwischen Hypothese und Verifikation. Bachelard unter­strich, ähnlich wie Jean Cavailles, den grundlegend histo­rischen Charakter der wissenschaftlichen Gegenstände. Das Verfahren der Dekonstruktion ist schon bei Bachelard vor­geformt, wenn er betont, dass man die vorwissenschaftlichen Begriffe zuerst destruieren muss, um einen wissenschaft­lichen Gegenstandsbereich zu konstruieren. Georges Can­guilhem, der· Wissenschaftsphilosoph, der Bachelards Erbe antrat, vereinte die Reflexion über die großen philoso­phischen Fragen mit einer Vertrautheit mit der wissenschaft­lichen Praxis, namentlich der Biologie - fußte sein Wissen doch zunächst auf einer Medizinausbildung. Das Organische

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(das Lebendige) wurde für ihn gleichzeitig zu einem (objek­tiven) Erkenntnisgegenstand und zu einer Erkenntnisbe­dingung.

Die Humanwissenschaften und der Strukturalismus

Die Wissenschaftsphilosophie markierte allerdings nur eine Minderheitsposition in der französischen Nachkriegsphilo­sophie. Dominant war, wie beschrieben, die Subjekt- und Bewusstseinsphilosophie des Existenzialismus. Gegen diese Vorherrschaft artikulierten sich Ende der 1950er Jahre Stim­men, die zu einem echten Dominantenwechsel führten. Die Humanwissenschaften erlebten nun eine weltweite Breiten­wirkung, die über die Fachgrenzen hinausging: die Ethno­logie mit Claude Levi-Strauss (geb.1908; 1958 erschien seine Anthropologie structurale), die Psychoanalyse mit Jacques Lacan (1901-1981), die Wissenschaftsgeschichte mit Michel Foucault (seine Histoire de la folie erschien 1961), die Semio­logie mit Roland Barthes (Mythologies, 1957). Es war d'ies mehr als eine Verschiebung innerhalb der Disziplinenhier­archie; es war ein entscheidender epistemologischer Um­schwung. Die Autoren nach Sartre lassen sich nicht mehr einer Philosophie im traditionellen Sinne zurechnen. Ihnen ging es weniger darum, kohärente Gedankensysteme, die mit dem Anspruch letztverbindlicher Gültigkeit auftreten, zu entwickeln, als vielmehr um ein Postulat, das Jean-Pierre Faye in einer persönlichen Nachzeichnung seines eigenen Denkweges formuliert hat: Das philosophische Denken muss in den Bereich der »sozialen Themen« eintauchen, um zur wahren »Wissenschaft vom Menschen« zu werden. So stehen die meisten dieser Denker in Kontakt mit unterschiedlichen. anderen Wissenschaftszweigen. Und trotzdem handelt es sich nie bloß um eine fachinterne Sicht, sondern um eine dezidiert philosophische Betrachtungsweise, die zu einem »Kern« jenseits der Erscheinungen vordringen wilL Paul

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Virilios »Frage nach der Technik«, die den Horizont einer bloß instrumentellen Bestimmung des Technischen über­steigt, ähnelt mithin der gleichlautenden Frage Martin Hei­deggers und Jacques Derridas. Michel Foucault hat 1966 in einem Gespräch selbst den Um­bruch rekonstruiert: Die Generation von Sartre war von der Leidenschaft für das Leben, die Politik, die Existenz erfüllt; die neue Generation hegte eine analoge Leidenschaft für das Konzept und das System. Für Sartre war Sinnhaftigkeit gleichzeitig eine deskriptive und eine präskriptive Kategorie. Der Bruch wurde an dem Tag offensichtlich - so Foucault -, als Levi-Strauss für die Gesellschaften und Lacan für das Un­bewusste zeigte, dass »der Sinn wahrscheinlich nur eine Art Oberflächen effekt ist, ein Schillern, ein Schaum und dass das, was uns zutiefst durchzieht, was uns vorausgeht, was uns in Raum und Zeit trägt, das System ist«2. Foucault hat das neue Denken aus den Aporien der Phänomenologie abge­leitet. In einem Rückblick datierte er den Übergang von der Phänomenologie zu dem, was er noch »Strukturalismus« nannte, auf den Augenblick, als selbst ein Merleau-Ponty be­gann, sich für die Probleme der Sprache zu interessieren, und vom Linguisten Ferdinand de Saussure (1857-1913) sprach, der sogar bei einem gebildeten Publikum in Frankreich noch weitgehend unbekannt war. Es habe sich gezeigt, dass die Phänomenologie nicht wie die strukturale Analyse fähig ist, die Sinneffekte zu erklären, die von einer sprachlichen Struk­tur hervorgebracht werden, wo das Subjekt im phänomeno­logischen Verständnis nicht als Spender des Sinns auftrete. Die Kategorie des Unbewussten, die die psychoanalyse mit Lacan in den Vordergrund gestellt hat, steht für Foucault in einem analogen Zusammenhang zur Sprache; auch das Un­bewusste war innerhalb des phänomenologischen Ansatzes nicht »denkbar«. Der beste Beweis dafür sei, dass Sartre und Merleau-Ponty das Unbewusste auf ein Symptom der posi­tivistischen, mechanistischen Betrachtungsweise bei Freud reduzierten. Wenn Lacan sagte, das Unbewusste sei wie die

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Sprache strukturiert, dann sprach er eine Problematik an, die sich für die Linguistik wie für die Psychoanalyse in derselben Weise stellte. Die Linguistik wurde so für die neuen Denker zu einer neuen Leitwissenschaft. Sie ist es schon lange bei Levi-Strauss gewesen, der nach seiner Begegnung mit Ro­man Jakobson (1896-1982) das Verfahren der strukturalen Sprachwissenschaft auf die anthropologische Analyse über­tragen hatte. Für ihn waren Verwandtschaftsbeziehungen analog zu den Phonemen in der Linguistik Bedeutungsele­mente, die ihre Bedeutung nur unter der Bedingung bekom­men, dass sie sich in ein System eingliedern. Die verwandt­schaftliche Organisation gehorcht Systemzwängen, die von den einzelnen Subjekten nicht kalkuliert werden. Foucault hat schon in seinen Gesprächen nach der Veröffent­lichung von Les mots et les choses (1966) die Bedeutung des Systems unterstrichen als eine Gesamtheit von Beziehungen, die sich unabhängig von den Inhalten, die sie verbinden, er­halten oder verändern. Er führte für seine These Belege der Mythenanalyse, der Ur- und Frühgeschichte, der Biologie und wieder der Psychoanalyse an. '

Die Infragestellung des Subjektbegriffs

Die entscheidende Herausforderung des neuen Denkens lag darin, dass das Konzept eines souveränen Subjekts infrage gestellt wurde. Das Subjekt war eine Kategorie - so Foucault im Gespräch mit M. Watanabe -, die man von Descartes bis Sartre als etwas Grundlegendes betrachtet und nicht ange­zweifelt hatte. Die Idee, dass das Subjekt keine ursprüngliche Form ist, dass es sich vielmehr im Gefolge einer Anzahl von Prozessen konstituiert, die nicht der Ordnung der Subjek­tivität zuzurechnen sind, die aber grundlegender und ur--· sprünglicher sind als das Subjekt selbst, diese Idee war noch nicht aufgetaucht. Die Kategorie des Subjekts hat dabei frei­lich ihre eigene Geschichte. Die Vorstellung von einem nicht­ursprünglichen Charakter des Subjekts teilten, so Foucault,

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all diejenigen, die man »Strukturalisten« nannte. Das gelte für die Psychoanalyse von Lacan, für den Strukturalismus von Levi-Strauss, die Analysen von Barthes und Louis Althusser (1918-1990). »Es ist richtig, daß [ ... ] wir alle in dem Punkt übereinstimmten, daß man nicht vom Subjekt ausgehen sollte, vom Subjekt im Sinn Descartes' als einem Ursprungs­ort, von dem aus alles erzeugt werden sollte, sondern daß das Subjekt selbst eine Genese hat.«3

Die Ablehnung einer linearen Geschichtsvorstellung

Den neuen Denkern, die die Bedeutung des Systems in den Vordergrund gestellt hatten, warf man vor, die Geschichte ausklammern zu wollen. Es ging indes bloß darum, den Konstruktcharakter einer linearen Geschichtsvorstellung auf­zuzeigen, die eine andere Art des wilden Denkens darstellte und keinen Wahrheitsprimat beanspruchen könne. Levi­Strauss lehne Geschichte nicht ganz und gar ab, schreibt Lacan; was er ablehnt, ist die Dialektik der Geschichte: »Man konstruiert einen erheblichen Gegensatz von Struktur, die man als synchronisch, d. h. außerhalb der Geschichte an­nimmt, und Dialektik, die man als diachronisch, d. h. in die Zeit einbezogen setzt. Das ist aber ungenau. Nehmen Sie in meinem Buch einen Text, den man die Rede von Rom nennt, und Sie werden die Wichtigkeit ermessen, die ich der Ge­schichte zubillige, soweit sie dem Register des Unbewußten koextensiv ist. Das Unbewußte ist Geschichte.«4 Durch das neue Denken werde, so Foucault 1967, die Ge­wohnheit infrage gestellt, die Geschichte als eine lange line­are Geschichte zu begreifen, die bisweilen von Krisen er­schüttert werde, also die Vorstellung, Kontinuität sei das Nonplusultra der historischen Analyse. In einem Gespräch, das unter dem Titel »Über verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben« veröffentlicht wurde, hebt Foucault hervor, dass die traditionelle Opposition zwischen den Humanwissen­schaften, die das Synchronische und Nicht-Evolutive unter-

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suchen, und der Geschichte, die die Dimension des unmittel­baren Wandels analysiere, im Schwinden begriffen sei. Der Wandel könne auch mit dem Konzept der Struktur gedacht werden; die heutige Geschichtswissenschaft greife immer mehr auf die Analysen der Ethnologie, der Soziologie, der Humanwissenschaften zurück. Foucault erwähnt hier neben der Schule von Cambridge vor allem die Arbeiten von Fer­nand Braudei (1902-1985). 1958 war dessen berühmte Studie über die »longue duree« erschienen, mit der er auf den Vor­wurf von Levi-Strauss reagierte, die Geschichtswissenschaft sei unfähig, die Tiefenstrukturen zu erfassen, die eine Gesell­schaft letztlich bestimmten. Der Historiker sah aber keines­wegs eine solche Kluft zwischen Geschichts- und Sozial­wissenschaften, sofern man die Erstere nicht bloß auf die Dimension der reinen Ereignisgeschichte reduziere. Daneben existieren für ihn die Zeit der langsamen ökonomischen und sozialen Zyklen und schließlich die Zeit der Strukturen. Die Geschichte der langen Dauer ist eine Geschichte, in der Veränderungen sich äußerst langsam vollziehen, eine Ge­schichte ständiger Wiederholungen und wiederkehren:der Zyklen. Braudei hatte keine Hemmungen, den Begriff der Struktur als fruchtbare Kategorie in die Geschichte der »lan­gen Dauer« einzuführen.

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Bourdieus Ausgangspunkt

Bourdieu trat in den 1950er Jahren in das philosophische Feld ein, dessen wichtigste Positionen soeben umrissen wurden. Hier musste er seinen eigenen Platz finden und defi­nieren. Die Position, die er nun einnahm, ließe sich grosso modo so bestimmen: Er stand in Opposition zu einem mon­dän gewordenen Existenzialismus, griff aber die von der Phänomenologie aufgeworfenen Fragen auf, orientierte sich an der Wissenschaftsphilosophie, ging von den Thesen der sogenannten Strukturalisten aus und suchte diese durch die Einführung der Konzepte des »Akteurs« und der »Geschicht­lichkeit« zu modifizier~n.

Auseinandersetzung mit Sartres Subjektphilosophie

Schon früh widersetzte sich Bourdieu dem Existenzialismus. Sartre war gemäß seiner Analyse zur Projektionsfläche für viele Jungintellektuelle geworden, und zwar gerade weil er den Eindruck vermittelte, alles zu können und alles zu ken­nen. Er wurde zum Prototyp des »totalen Intellektuellen« -dem Endprodukt, auf das schon die Absolventen der Vorbe­reitungsklassen der Eliteschulen hinarbeiteten. Hier werde gelehrt, wie man Aufsätze über jeden möglichen Gegenstand (de omni re scibili) verfassen könne. Sartre wurde für Bour­dieu zur Verkörperung all dessen, gegen das er sich selbst zu entwerfen hatte: den »intellektuellen Philosophen der Ecole Normale«. Er setzte sich kritisch mit Sartres Subjekt- und Freiheitsphilosophie auseinander. Sartre hatte den Intel­lektuellen in seinen Augen ihre »Berufsideologie« geliefert, den Gründungsmythos vom »ungeschaffenen Schöpfer«. Sar­tre postuliert den Primat des Bewusstseins und lehnt darum

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die freudsche Erklärung einer Bestimmung durch das Un­bewusste ab, er bezeichnet eine solche Haltung als Unauf­richtigkeit (>mauvaise foi<) und damit als Freiheitsverleug­nung. Bourdieu sieht diese Sicht vor allem in Sartres Flaubert-Inter­pretation Der Idiot der Familie zum Ausdruck gebracht. Aus der Perspektive seiner Subjektphilosophie versuche Sartre, den Lebensweg Flauberts von einem ursprünglichen Aus­gangspunkt, einem Gründungsmythos her .zu erklären. Flau­berts Weg erscheine dann als das Ergebnis einer bewussten, freien Entscheidung. In seinem großen Werk über die litera­tur, Die Regeln der Kunst (1992), räumt Bourdieu Flaubert sehr viel Raum ein und antwortet damit auch auf Sartres Interpretation:

»Die retrospektive Illusion, die spätere Ereignisse zum Zweck ur­sprünglicher Erfahrungen oder Verhaltensweisen erhebt, und die Ideologie von der Begabung oder Prädestination, die sich ganz be­sonders bei den gern prophetischer Fähigkeiten verdächtigten Ausnahmegestalten aufzudrängen scheint, begünstigen die still­schweigende Annahme, daß das wie eine Geschichte aufgebaute Leben sich von einem als Ausgangspunkt, aber zugleich auch als

erste Ursache - oder besser: als generisches Prinzip - aufgefaßten Ursprung her bis zu einem Ende abrollt, das zugleich ein Ziel ist.« (Regeln der Kunst, 300)

Bourdieu teilt Sartres voluntaristische Deutung nicht; nach ihm kann nicht das Subjekt alleiniger Erklärungsgrund sein; es gilt vielmehr, das ganze soziale Universum zu objekti­vieren, das sich im Schriftsteller äußert und das ihn auch bestimmt. Wenn Bourdieu die These einer Subjekt- und Freiheitsphilo-" sophie nicht teilt, sondern sein Augenmerk auf die (oft nicht hinterfragten) sozialen Bedingungen richtet, die ein Subjekt bestimmen, so schätzte er doch Sartres Engagement als Intellektueller, namentlich während des Algerienkrieges. In

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einem Anfang der 1980er Jahre veröffentlichten Aufsatz über den »totalen Intellektuellen« äußert Bourdieu trotz aller Re­serve seinen großen Respekt gegenüber Sartre als einem der bedeutendsten Intellektuellen - im französischen Sinn - des 20. Jahrhunderts. Zu einer Zeit, schreibt er, wo der Druck der Staatsbürokratie, die Lockungen der Presse und des Kultur­marktes sich zusammentun, um die Autonomie des intellek­tuellen Feldes einzuschränken, verkörperte Sartre etwas sehr Wertvolles, das den »bürgerlichen« Neigungen ganz zuwider­lief: die Ablehnung weltlicher Macht und weltlicher Privi­legien (und wäre es der Nobelpreis) sowie die Behauptung eines spezifisch intellektuellen Privilegs, allen zeitlichen Mächten Nein sagen zu können.

Die Anregungen der Phänomenologie: die Dimension der Zeitlichkeit

Wenn Bourdieu gegenüber der existenzialistischen Subjekt­philosophie seine Vorbehalte äußerte, so war er doch offen für die Fragestellungen der Phänomenologie. So erklärte er in einem Gespräch mit dem deutschen Soziologen Axel Hon­neth, er habe, wie alle Welt, viel Heidegger gelesen, sogar mit einer gewissen Faszination, insbesondere die Analysen aus Sein und Zeit zur öffentlichen Zeit, zur Geschichte. Zusam­men mit Husserls Ideen zu einer reinen Phänomenologie seien die Ausführungen Heideggers ihm bei seinen For­schungen zur Alltagserfahrung des Sozialen sehr hilfreich gewesen. Ganz gründlich las er Husserls Erfahrung und Ur­teil, das er zum Teil selbst übersetzte und aus dem er in der Ecole Normale Superieure gemeinsam mit einem Studien­kollegen jeden Tag mehrere Seiten las. Als er sein wohl philo­sophischstes Buch, Meditations pascaliennes (1997, dt. Medi­tationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft), verfasste, griff er auf seine damaligen Aufzeichnungen zurück. Dar­über hinaus zollte er dem Phänomenologen Merleau-Ponty

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großen Respekt, vor allem weil er sich für die Humanwissen­schaften, namentlich die Biologie, interessierte. An der Sor­bonne galt eine seiner Vorlesungen der Kinderpsychologie und 1951 widmete er seine Lehrveranstaltung der Beziehung zwischen den Humanwissenschaften und der Phänomenolo­gie und erwähnte hier neben Max Weber auch Saussure und Levi-Strauss. Nach Abschluss des Studiums plante Bourdieu eine größere Arbeit, die von einer phänomenologischen Fragestellung aus­gehen sollte: eine Phänomenologie des Gefühlslebens, oder genauer: eine Untersuchung zu den Zeitstrukturen der affek­tiven Erfahrung. Und als er dann als Philosophielehrer an einem Gymnasium in der französischen Provinz, in Moulins, tätig war (1954-1955), behandelte er im Unterricht Husserl insbesondere die Frage der Zeit in der Erinnerung, der Ima: gination und der Wahrnehmung. In der Absicht, philoso­phisches Forschen mit der Gründlichkeit und Strenge der Na­turwissenschaften in Einklang zu bringen, hatte er gleich­zeitig vor, Biologie zu studieren. Es ist erstaunlich, dass er sich nun Fragen der Zeitlichkeit zuwandte, zu einer Zeit~ als sich schon das Paradigma des Strukturalismus abzeichnete der sich vornehmlich der Kategorie des Raumes, der syn: chronen Systeme zuwandte. Wenngleich Bourdieu die eben erwähnte.these über die Phänomenologie des Gefühlslebens nie schrieb, so verfolgte er doch die phänomenologische Frage nach den Zeitstrukturen: auf der Basis von ethnolo­gischen Feldstudien, die er in Algerien durchführte, wo er seinen Militärdienst absolvieren musste und dann noch zwei Jahre als Assistent für Philosophie arbeitete (1956-1960).

Zeitstrukturen in einer präkapitalistischen Gesellschaft

Eine seiner frühesten Studien galt 1963 der traditionellen Gesellschaft in Algerien, und zwar ihrem Verhältnis zur Zeit im Kontext ökonomischer Verhaltensweisen. Bourdieu machte durchaus deutlich, dass die Vorstellung eines un-

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mittelbaren Zugangs zu präreflexiven Erfahrungen, die die Phänomenologie hegt, eine Illusion ist. Die phänomenologi­sche Frage nach der Zeitlichkeit ließ ihn aber nicht los. In seinem Entwurf einer Theorie der Praxis (1972) widmete er einen langen Abschnitt dem Thema »Ökonomische Praxis und Zeitdispositionen«. Ein ganzes Kapitel der Studie Sozia­ler Sinn (1980) gilt der »Wirkung der Zeit« und in den schon genannten Meditationen (1997) kommt er wieder auf diese Frage zurück. Bourdieu unterscheidet in der zuerst genannten Studie zwi­schen zwei unterschiedlichen Verhältnissen zur Zukunft: in traditionellen und in kapitalistischen Gesellschaften. Es ging ihm zunächst darum, die These des Ethnologen Andre Leroi­Gourhan (1911-1986) zu überprüfen, nach der die archai­schen Zivilisationen keine Zukunftsvorstellung kennen wür­den und bloß in der Gegenwart lebten. In Algerien konnte er jedoch feststellen, dass die Bauern der Kabylei durchaus Vor­räte anlegten, manchmal für eine Periode von bis zu fünf Jahren. In der agrarischen Gesellschaft konstatierte er das Prinzip der Vorsorge, das eigentlich eine Vorwegnahme einer vergangenen Erfahrung ist und sich an der Zeit des Ernte­rhythmus orientiert. Die bäuerlichen Gesellschaften leben aus der Vergangenheit heraus und halten das Vergangene durch bestimmte, zyklisch wiederkehrende Arbeitsformen und ritualisierte soziale Handlungen gegenwärtig. Eine auf Geldwirtschaft beruhende Gesellschaft entwickelt indes eine Voraussicht, eine langfristige Zukunftsvorstellung, die auf rationalem Kalkül beruht. Die Vergangenheit ist das, was zu überwinden ist, die Gegenwart ist allein als Ausgangspunkt für die Zukunft von Interesse. Aus diesem Unterschied leitet Bourdieu die Feststellung ab, dass die Ökonomen die voraus­schauende und kalkulierende Haltung gegenüber der Welt und gegenüber der Zeit zu Unrecht als einen »natürlichen« Tatbestand oder eine universelle Disposition der mensch­lichen Natur betrachten statt als das Produkt einer spezifi­schen kollektiven und individuellen Geschichte. Er entdeckte

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hier die spezifische Rhythmik des Sozialen, die Bedeutung der unterschiedlichen Zeitordnungen des wirtschaftlichen HandeIns.

Die Zeit des Akteurs und die Zeit des Beobachters

In den Meditationen kommt Bourdieu wieder auf die zwei unterschiedlichen Zeiterfahrungen zurück. Hier schreibt er aber die Zeiterfahrung, die er als charakteristisch für eine vorkapitalistische Ordnung bezeichnet hatte, ganz allgemein dem Akteur zu, der in ein Handlungskontinuum eingebun­den ist, während die »abstrakte« Zeit als ein Konstrukt des Beobachters erscheint, der außerhalb dieses Kontinuums steht. Die reflexive Sicht ist in seinen Augen nicht identisch mit der praktischen Sicht. Für diese Unterscheidung greift er auf die Kategorien von Husserl zurück. Die praktische Sicht entspricht dem, was Husserl Protention nennt: eine vorrefle­xive Erwartung von etwas Kommendem, das wie die verbor­gene Seite des Gegenwärtigen ist und dem derselbe Sta~us zukommt wie dem unmittelbar Wahrgenommenen. Diese Zeitlogik darf nicht verwechselt werden mit der Idee eines Vorsatzes als bewusste Ausrichtung auf die Zukunft. Der Vorsatz kann nur nachträglich durch eine intellektualistische Rekonstruktion als solcher wahrgenpmmen werden. Um in der Lage zu sein, so schreibt Bourdieu in den Meditationen, »die Alltagserfahrung sorgenvoller Fixiertheit auf das Kom­mende, einen Zustand, in dem die Zeit unbemerkt vergeht, in ihrer Wahrheit wiederherzustellen, muß auch die intellek­tualistische Sicht der Zeiterfahrung in Frage gestellt werden, die dazu verleitet, keinen anderen Bezug zur Zukunft anzu­erkennen als den bewußten Vorsatz, der als solcher voraus­gesetzte Ziele oder Möglichkeiten anvisiert« (Meditationen, 266). Für den Akteur - Bourdieu vergleicht ihn mit dem Ten­nisspieler - ist das Kommende nicht ein Mögliches, das ge­schehen oder nicht geschehen kann, sondern etwas, was schon da ist. Der Tennisspieler »sieht« den Aufschlag des

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Balls schon aus der Stellung des Gegenspielers. Das unmittel­bar in die Gegenwart eingeschriebene Kommende wird in der und durch die Praxis antizipiert. Die Zeit wird vom Handeln­den als solche gar nicht wahrgenommen. Erst wenn die Entsprechung zwischen den subjektiven Hoff­nungen und den objektiven Chancen, zwischen den Erwar­tungen und der Welt nicht mehr stimmt, wird Zeit wirklich erfahren. Bourdieu illustriert dies an einem konkreten Bei­spiel: Für den Arbeitslosen tendieren die (objektiven) Chan­cen im Hinblick auf seine (subjektiven) Erwartungen gegen null. Die Beziehung zwischen Gegenwart und Zukunft scheint unterbrochen zu sein und die »freie« Zeit wird zur »toten« Zeit. Am Beispiel dieses Grenzfalls wird für Bourdieu offensichtlich, dass die Zeiterfahrung auch durch die jewei­ligen ökonomischen und sozialen Bedingungen der Möglich­keit bestimmt wird. Die Zeit des reinen Beobachtens, über die man frei im Hinblick auf Ziele verfügen kann und die nicht externen Zwängen (der Dringlichkeit der Termine und der Arbeitszeit) unterliegt, ist nicht universalisierbar. Die voraussehbare Entsprechung von Hoffnungen und Chancen ist in den Augen von Bourdieu gleichzeitig einer der mäch­tigsten Faktoren, die zur Zementierung der bestehenden Ordnung beitragen. Klaffen die Erwartungen und die rea­len Chancen hingegen immer mehr auseinander, lassen sich also subjektive Hoffnungen kaum mehr realisieren, tue sich eine Bresche auf für die politische Aktion, die den Raum der Möglichkeiten zu öffnen versuche durch Utopien, Projekte und Programme. Bourdieu geht so von der spezifisch phänomenologischen Frage nach der Zeitlichkeit aus, versucht dann auf der Basis sozialwissenschaftlicher Forschung zwischen unterschied­lichen Zeitlogiken zu differenzieren, die durch die jeweiligen sozioökonomischen Situationen oder durch die jeweiligen Positionen der (involvierten) Praxis oder der externen Beob­achtung bestimmt sind.

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Wissenschaftsph i losoph ische Grundlagen: epistemologische Wachsamkeit

Als Bourdieu seine these der Frage nach der Zeitlichkeit af­fektiver Erfahrungen widmen wollte, ging er von einer phä­nomenologischen Fragestellung aus. Diese Arbeit sollte unter der Leitung von Georges Canguilhem stehen, der an der Sorbonne einen Lehrstuhl für Wissenschafts geschichte in­nehatte. In der Tat schrieb sich Bourdieu dauerhaft in die Schule der französischen Wissenschaftsphilosophie ein. Jene, die wie Bourdieu, Foucault oder Althusser mit einem modischen Existenzialismus brechen wollten, fanden bei Canguilhem Zuflucht. Nur wenigen bekannt, schien die Wis­sensehaftsphilosophie, so Bourdieu, neue Wege zu weisen, wie das intellektuelle Leben zu gestalten, die Rolle des Phi­losophen zu verwirklichen sei - abseits der eingefahrenen Topoi über sogenannte allgemeine Menschheitsfragen. Zeit­lebens zollte Bourdieu der wissenschaftlichen Strenge von Canguilhem großen Respekt. »Er spielte nie den PhiloSQ­phen«, überschrieb er den Nachruf, den er 1995 seinem Leh­rer widmete. Die Wissenschaftsphilosophie gewann in den 1960er Jahren an Bedeutung, als die Humanwissenschaften im intellek­tuellen Feld dominant wurden. Sie konnte vor allem dazu beitragen, die philosophischen Voraussetzungen der Human­wissenschaften zu erhellen. Bourdieu verwies in einem Überblick neben Bachelard auf Jean Piaget (1896 -1980), den Vater einer genetischen Erkenntnistheorie, der dem Ur­sprung der Prozesse logischen Denkens nachging, auf Martial Gueroult (1891-1976), der die Geschichtsphilosophie als eine strenge Wissenschaft konzipierte, und auf Jules Vuillemin (1920-2001), der aus der Philosophie eine Re­flexion moderner Wissenschaft und aus der Philosophie­geschichte eine Geschichte der Reflexion über Wissenschaft machen wollte. Vuillemin widmete Bourdieu im Übrigen seine letzte Vorlesung am College de France (2000/2001)

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über die Wissenschaft der Wissenschaft. Vuillemin sei für ihn ein Vorbild gewesen, das ihm erlaubt habe, weiterhin an eine strenge Philosophie zu glauben zu einer Zeit, als er al­len Grund hatte, daran zu zweifeln, allein schon wegen des Philosophieunterrichts, so wie er praktiziert wurde. Bourdieu nennt Vuillemin in einem Zug mit den anderen Vertretern der Wissenschaftsphilosophie, namentlich Can­guilhem, der in der Wissenschaftsgeschichte nach einer grundlegenden Wissenschaftstheorie suchte. Das Verdienst dieser Wissenschaftsphilosophie besteht nach Bourdieu darin, dass sie die alle Disziplinen betreffende Frage nach den historischen Bedingungen stellt, die jegliche wissenschaftliche Praxis voraussetzt. In ihrer Ablehnung einer Trennung der wissenschaftlichen und philosophischen Wahrheit von den historischen Bedingungen, die ein jedes Stadium in der Wissenschaftsentwicklung möglich machen, stimmte sie auch mit dem Strukturalismus und den So­zialwissenschaften überein, die es für falsch hielten, von der Idee eines Subjekts als einer nicht hinterfragbaren Letzt­begründung auszugehen. Durch ihre epistemologische Re­flexion trägt die Wissenschaftsphilosophie zu einer wis­senschaftlichen Erkenntnistheorie bei, die sich mit den theoretischen Bedingungen befasst, die ein strenges wissen­schaftliches Vorgehen verlangt. Bourdieu zufolge ist diese philosophische Reflexion für die sozialwissenschaftliche Praxis wichtig, weil sie die Notwendigkeit einer theoreti­schen Prüfung des jeweiligen Vorgehens unterstreicht. In ei­nem intellektuellen Feld, das Soziologie und Philosophie miteinander verknüpft, ist es Aufgabe der Letzteren, zur epis­temologischen Wachsamkeit aufzurufen, um so der Gefahr einer intuitiven »Spontansoziologie« zu entgehen. Dieser Aufruf zu epistemologischer Wachsamkeit, den Bour­dieu der Wissenschaftsphilosophie verdankt, ist in seinem ganzen Werk spürbar. Seine Soziologie ist darum immer auch theoretisch, aber nicht im Sinne einer allgemeinen The­orie des sozialen Systems, sondern verstanden als Reflexion

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über die wirksame Handhabung soziologischer Verfahren, als das, was die wissenschaftstheoretische Tradition als »Epistemologie« bezeichnet, was aber nicht auf eine bloße »Methodologie« zurückgeführt werden kann. Dieser Aspekt zeigt sich vor allem in dem 1968 von ihm zu­sammen mit Jean-Claude Chamboredon und Jean-Claude Passeron herausgegebenen Buch Le Metier de sociologue (dt. Soziologie als Beruf). Der deutsche Untertitel »Wissen­schaftstheoretische Voraussetzungen soziologischer Er­kenntnis« verweist klar auf die wissenschaftsphilosophische Ausrichtung des Buchs. Das Werk entstand in einem Kon­text, der durch die Vorherrschaft des Neopositivismus ge­prägt war, der sich am amerikanischen Modell von Paul Lazarsfeld (1901-1976) orientierte. Diese empiristische Ten­denz, der jede theoretische Fantasie abging, entwickelte sich vor dem Hintergrund der Dominanz der existenzialistischen Philosophie und ihrer Privilegierung der Erfahrung. Anderer­seits bildete sich als Gegenpol zum Empirismus ein Theo­retizismus aus, der empirische Verfahren ablehnte und den Bourdieu in Frankreich durch den strukturalistische~ Marxisten Althusser und in Deutschland durch Theodor W. Adorno verkörpert sah. Nur der Rekurs auf eine Wissen­schaftsphilosophie konnte aus dieser Aporie hinaus- und hin zu einer theoretisch begründeten empirischen Soziologie führen. Nur eine Wissenschaftsphilosophie konnte die all­gemeinen Prinzipien von Wissenschaftlichkeit formulieren. Bourdieu bringt darum im Buch viele Textbeispiele, die sich neben Marx, Weber und Durkheim vor allem Bachelard und Canguilhem verdanken.

Bruch mit der Alltagswahrnehmung

Der wissenschaftstheoretische Rekurs ist für die Gegen­stände der Soziologie besonders wichtig, denn jeder ist mit der sozialen Welt konfrontiert und verfügt über Begriffe, um diese Welt zu beschreiben. So werden spontan in der Alltags-

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welt wahrgenommene soziale Probleme zu soziologischen Gegenständen gemacht und Teilbereichssoziologien konsti­tuiert (wie etwa Jugendsoziologie oder Sportsoziologie). Die im politischen Bereich formulierten Problemlagen münden dergestalt in eine Betroffenheitssoziologie. Ein solches Vor­gehen ist in den Augen von Bourdieu vorwissenschaftlich. Die sozialen Begriffe der Alltagssprache enthalten unaus­gesprochene, unbewusste Präkonstruktionen. Deswegen drängt sich das, was Bachelard »epistemologischen Bruch« nannte, auf: Die Vertrautheit mit der sozialen Welt, das un­mittelbare Wissen, die scheinbaren Evidenzen stellen ein Erkenntnishindernis dar. Die (vagen) Begriffe der Alltags­sprache müssen durch wissenschaftliche Begriffe ersetzt, un­bewusste Vorannahmen aufgedeckt, die falschen Gewiss­heiten statistisch überprüft, der äußere Schein infrage gestellt werden. Für Bourdieu sind Begriffe wie »Individuum« oder »Gesellschaft« vorwissenschaftliche Begriffe, die pole­mische Vorannahmen transportieren (wie Individualismus/ Kollektivismus). Zwischen der praktischen Erkenntnis und der wissenschaftlichen Erkenntnis gibt es keine Kontinuität. Fakten sprechen nicht als solche, sondern werden durch eine theoretische Fragestellung zum Sprechen gebracht. Die Wis­senschaft kann nicht von den bestehenden Gegenständen ausgehen, sondern muss mit dem naiven Realismus brechen. Die Gegenstände müssen konstruiert werden. Die Konstruktion des Objekts ist nach Bourdieu der grund­legende wissenschaftliche Akt. Es gilt darum, die Objekte der Forschung genau zu definieren und dabei im Auge zu be­halten, dass das Reale stets relational ist und sich immer in Bezug zu etwas anderem definiert (man kann zum Beispiel eine Pariser Eliteschule nur verstehen, wenn man sie in Be­zug zu anderen Eliteschulen setzt). Die gewählten Unter­suchungsverfahren enthalten ihrerseits eine implizite Philo­sophie des Sozialen. Die Gegenstände sind überdies immer räumlich und zeitlich zu situieren. Bei einem gut konstruier­ten Objekt lassen sich dann auch Schlüsse ziehen, die über

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den Einzelfall hinausgehen. Bourdieu verweist hier auf Hus­serl, man müsse sich in den besonderen Fall versenken, um das Invariante in ihm zu entdecken. Wie Alexandre Koyre zeigte, musste Galilei das Experiment mit der schiefen Ebene nicht erst tausendmal wiederholen, um das Fallgesetz zu ver­stehen. Die epistemologische Wachsamkeit manifestiert sich dann auch im Stil von Bourdieu, der sich durch lange Passagen mit vielen Einschüben und Nuancierungen auszeichnet, die ver­hindern sollen, dass das Gesagte auf bloße Evidenzen der Alltagserfahrung reduziert wird. Als er in einem Gespräch gefragt wurde, warum er oft einen besonderen und be­sonders schwierigen Jargon verwende, antwortete er:

»Die Sozialwissenschaften [ ... ] müssen alle ihre Aussagen den von der Umgangssprache transportierten gängigen Vorstellungen ab­trotzen und ihre so gewonnenen Einsichten in einer Sprache zum Ausdruck bringen, die geradezu prädestiniert ist, etwas ganz ande­res zu sagen. Die sprachlichen Automatismen zu zerschlagen heißt, nicht, künstlich eine distinguierte Differenz zu schaffen, die den Laien auf Distanz hält; es heißt, mit der Sozialphilosophie zu bre­chen, die dem spontanen, unreflektierten Diskurs eingeschrieben ist. Ein Wort durch ein anderes zu ersetzen: häufig wird damit ein entscheidender epistemologischer Wechsel vollzogen.« (Soziologi­sche Fragen, 36)

Eine soziologische Sprache könne weder »neutral« noch »klar« sein, denn es gehe nicht um die Evidenzen des »ge­sunden Menschenverstands«. Die Schwierigkeiten des Stils rührten häufig aus »all den Nuancierungen, Berichtigungen, Mahnungen, ganz zu schweigen von den Hinweisen auf Definitionen und Prinzipien, die notwendig sind, damit der Diskurs in sich selbst die Mittel zur Abwehr gegen Sinnent­stellungen und absichtliches Falschverhalten enthält« (So­ziologische Fragen, 37). Es ging Bourdieu nie um einen Stil um des Stils willen, sondern darum, der Komplexität der

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Realität durch eine komplexe Ausdrucksweise gerecht zu werden. Was das wissenschaftliche Schaffen Bourdieus von Anfang an prägte, war das stete Bemühen um Reflexivität, um eine ständige Überprüfung des Vorgehens, eine Vergewisserung der Präzision der verwendeten Konzepte - eine grundlegend philosophische Verfahrensweise. So ist es auch kein Zufall, wenn sein theorieorientiertes Buch Reponses, das er zusam­men mit LOle Wacquant herausgab, den Untertitel Pour une anthropologie reflexive trägt. Die deutsche Übersetzung er­schien 1996 schlicht unter dem Titel Reflexive Anthropologie. Im Abschnitt »Für eine wissenschaftstheoretische Refle­xivität« betont er wiederum die Wichtigkeit des relationalen Denkens und der Konstruktion des wissenschaftlichen Ob­jekts, was einen Bruch mit dem Common Sense bedeutet, mit den Vorstellungen, die alle teilen, seien es simple Gemein­plätze des Alltagslebens oder offizielle Vorstellungen, die sich zu Institutionen verfestigen.

Das strukturale Verfahren: die Bedeutung des Systems der Relationen

Wenn Bourdieu sein Schaffen als reflexive Anthropologie verstanden wissen wollte, dann wies diese Bezeichnung auch eine Distanz zur traditionellen Philosophie aus, von der er sich während seines Algerien-Aufenthaltes ab gewandt hatte, um sich über die Ethnologie Analyseinstrumente zu ver­schaffen, die es ihm ermöglichen sollten, die algerische Gesellschaft zu verstehen. Zwar unterrichtete er in Algier noch zwei Jahre Philosophie an der dortigen Universität, und ehemalige Studenten haben später mit Begeisterung von seinen Vorlesungen gesprochen, die sich nicht in abstrak­ten Spekulationen verloren, sondern Philosophie als ein Mittel unmittelbarer Welterkenntnis verstanden. Gleichzei­tig betrieb er ethnologische Feldforschung (über Verwandt-

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schaft, Ritual, vor kapitalistische Wirtschaft), die auch in soziologische Fragestellungen mündete. Damit knüpfte er an einen der Gründerväter der französischen Soziologie, Emile Durkheim (1858-1917), an, der das Fach auch in einem breiten Sinne verstand, sodass es Ethnologie ebenso um­fasste wie Geschichte und Geografie. Bei den Nachfolgern von Durkheim hatte sich jedoch ein Neopositivismus ent­wickelt, der die Sozialwissenschaften von der philosophi­schen Tradition abschnitt. Levi-Strauss, dessen Vorlesungen Bourdieu nach seiner Rückkehr aus Algerien besuchte, hatte durch die Übernahme der amerikanischen Fachbezeich­nung »Anthropologie« die philosophische Dimension wie­der in die Sozial- und Humanwissenschaften eingeführt. Er hatte ja ähnlich wie Bourdieu und viele Soziologen seiner Generation ebenfalls mit dem Philosophie studium begon­nen. »Anthropologie« meinte dann - wie bei Norbert Elias -die »eine Wissenschaft vom Menschen«. Dass sich nun zahlreiche Philosophen um das philosophische Substrat der strukturalistischen Anthropologie von Levi-Strauss bemüh-, ten, war in den Augen von Bourdieu Indiz eines Paradigmen­wechsels, dass »die nun unwiderruflich etablierte Wissen­schaft vom Menschen das Problem ihrer Philosophie den Philosophen aufgedrängt hat und nicht mehr eine Philo­sophie übernehmen muß, um diese wiederum den Philo­sophen aufzuzwingen« 5 . Levi-Strauss hat durch den Bruch mit den neopositivistischen Tendenzen die Disziplinen aus ihrem empirischen Schlummer geweckt. Sein großes Verdienst bestand nach Bourdieu darin, dass er exempla­risch vorführte, wie Empirie mit Theorie zu verbinden ist. Diesem Grundsatz blieb Bourdieu in seinem gesamten Schaffen treu. Er hat, wie bereits erwähnt, nach der Rückkehr aus Algerien bei Levi-Strauss Seminare besucht. Die von Levi-Strauss gegründete und geleitete Zeitschrift L'Romme fand bei ihm wie bei anderen Intellektuellen, die sich leu orientieren wollten, große Resonanz. Levi-Strauss hat seinem Fach nicht nur durch eine philosophische Fun-

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dierung, sondern vor allem durch die Bezugnahme auf die neue Leitdisziplin, die Linguistik, zu deutlich mehr Prestige verholfen.

Der Primat der Relationen

Die anfänglich starke Prägung durch den Strukturalismus spürt man bei Bourdieu etwa in dem 1968 veröffentlichten Aufsatz »Strukturalismus und soziologische Wissenschafts­theorie« (Symbolische Formen, 7-41). Er schreibt der struk­turalen Anthropologie vor allem das Verdienst zu, bestimmte Prinzipien, die letztlich für jede Wissenschaft gelten, revita­lisiert zu haben, vor allem den Primat der Relationen vor den Substanzen. Er illustriert dieses Prinzip am Beispiel der Geo­metrie: Geometrische Figuren sind keine realiter existieren­den Figuren, sie sind vielmehr Elemente, die sich durch die Beziehungen untereinander zu einem System verbinden. Geometrie ist ein Relationssystem wie auch Sprache, Mythos oder Ritual. Diese Systeme werden nicht durch einen sub­stanziellen »Gehalt« bestimmt, sondern ausschließlich durch die Kombinationsgesetze ihrer Konstitution. Bourdieu plä­diert dafür, das strukturelle Verfahren auch auf die Gegen­stände der Geistes- und Sozialwissenschaften anzuwenden. Der wahre Sinn von Handlungen und Gegenständen ergebe sich aus deren Position im System der Handlungen oder Gegenstände. Der Sinn der persönlichen Handlungen »ge­höre« nicht den Subjekten, er erschließe sich aus dem System der objektiven Beziehungen, in das sich die Individuen ein­gelassen finden. Aufgabe des Wissenschaftlers ist es darum, Strukturanalogien zwischen unterschiedlichen Bereichen herauszuarbeiten. Im Unterschied zu mimetischen Modellen, die nur die phänomenalen Eigenschaften reproduzieren und nicht die Funktionsweise erfassen, machen analoge oder strukturale Modelle, die durch den methodischen Vergleich konstruiert werden, eine Relation zwischen konstruierten Beziehungen sichtbar.

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Wenn Bourdieu hier sehr stark auf den Begriff des Systems abhebt und auf die »objektiven« Relationen, die aus der par­tiellen Sicht der Subjekte nicht ermittelt werden können, so scheint er ganz am Schluss auch eine leise Kritik am Objek­tivismus des strukturalen Ansatzes zu formulieren. Man müsse auch die »Wahrheit des Systems der objektiven Ver­hältnisse und die subjektive Gewissheit derer, die es erleben, miteinander in Einklang bringen« (Symbolische Formen, 38).

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Die Grundpositionen Bourdieus

In Opposition zur existenzialistischen Subjektphilosophie, ausgehend von phänomenologischen Fragestellungen, auf den Prinzipien der wissenschaftsphilosophischen Erkennt­nistheorie fußend und mit Rekurs auf das strukturale Ver­fahren der Anthropologie, entwickelte Pierre Bourdieu sei­nen eigenen Ansatz. Entscheidend war dabei, dass er das strukturale Verfahren der Objektivierung durch Einbettung in ein System als richtig betrachtete, darin aber die Gefahr eines Objektivismus sah und deshalb den Strukturalismus zu transzendieren versuchte, indem er nach dem Objektivie­rungsschritt wieder die Situation der Akteure ins Visier nahm.

Überwindung des Strukturalismus

Bei seinen Recherchen in Algerien ging es Bourdieu um die Lösung genuin anthropologischer Probleme, die sich gerade aus der Sicht des strukturalistischen Ansatzes stellten. Bei der Überprüfung der Thesen der strukturalen Anthropologie musste er feststellen, dass der angeblich vorherrschende Heiratstyp in den arabisch-berberischen Gesellschaften, nämlich die Heirat mit der Parallelcousine, nur etwa drei bis vier Prozent der Fälle ausmachte. Das führte ihn dazu, typisch strukturalistische Begriffe wie »Verwandtschaftsre­gel« oder »Regel« generell zu überprüfen. Für Levi-Strauss' Modell des Rituals kam er zu einem analogen Befund: Ob­wohl es in einem gewissen Sinne kohärent und logisch war, konnte man über das System der konstitutiven Gegensätze der rituellen Logik nicht alle empirischen Daten integrieren. Er habe dann aber eine gewisse Zeit gebraucht, so Bourdieu,

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um mit den Grundannahmen des Strukturalismus zu bre­chen. Selbst in seinen ersten soziologischen Arbeiten begriff er die Gesellschaft noch als »einen Raum objektiver, die Akteure transzendierender und auf Interaktion zwischen den Individuen nicht zurückführbarer Bedingungen« (Rede und Antwort, 27).

Abschied vom strukturalistischen Objektivismus

Erst bei der Untersuchung der Agrargesellschaften im hei­matlichen Bearn oder bei der Analyse der universitären Welt, in Bereichen also, die ihm vertrauter waren, wurde ihm die objektivistische Tendenz des Strukturalismus bewusst, der aus der privilegierten Sicht des Beobachters die Akteure zwangsläufig im Unbewussten befangen sieht. War es zu­nächst notwendig, mit der unhinterfragten Sicht des Com­mon Sense zu brechen, um mit überprüften Begriffen Re­lationen aufzudecken, so ist es doch im Anschluss daran ebenso wichtig, die Beobachterposition zu überdenken, um sich wiederum in die Position der Handelnden zu versetzen. Wenn Bourdieu sich vom strukturalistischen Paradigma trennt, dann nimmt er vor allem Abschied vom Prinzip der »Regel«, die das Handeln völlig bestimmt, um dieses Konzept durch das der »Strategie« zu ersetzen, die den Handelnden wieder ins Spiel bringt; der Begriff der »Struktur« wird er­setzt durch den des »Habitus« der Akteure; das Konzept des Systems weicht dem des durch die sozialen Beziehungen bestimmten Akteurs. Diese Umkehrung der Blickrichtung ergab sich, als Bourdieu in seinen ethnologischen Arbeiten hinter den Verwandtschaftsregeln die Heiratsstrategien ent­deckte ul!.d damit auch das praktische Verhältnis zur Welt wieder in Sichtweite brachte. Die Regelmäßigkeiten des Heiratsverhaltens im heimatlichen Bearn, die er nach seiner Rückkehr aus Algerien untersuchte, erschienen ihm nicht bloß als Vollzug einer Regel, die den ältesten Sohn zum Erben des Hofes machte, sondern als eine Strategie, die dem

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Ziel diente, die Integrität des Anwesens ungeteilt zu erhalten. Dieses Ziel konnte mit unterschiedlichen Strategien verfolgt werden, etwa auch durch Übergabe des Hofes an eine Toch­ter, wenn der Sohn fehlte. Bourdi~u ersetzte so die mecha­nische Vorstellung der Regel durch einen Finalismus, der aber nicht wie bei Sartre ultrasubjektiv, sondern intersub­jektiv bestimmt ist. Durch die doppelte Distanz gegenüber dem Subjektivismus der existenzialistischen Philosophie und dem strukturalistischen Objektivismus hatte Bourdieu seine eigene, unverwechselbare Position gefunden. Es ging hier allerdings nicht bloß um Positionen. Die Auseinandersetzung mit dem Strukturalismus war ein Prozess, der sich in meh­reren Werken vollzog, in denen Bourdieu auf der Basis sei­ner empirischen sozioethnologischen Untersuchungen argu­mentierte. Gleichzeitig hatte er versucht, den Siegeszug des Struktura­lismus zu erklären. Ausgangspunkt war hier zweifellos die strukturalistische Linguistik, namentlich das Paradigma Saussures - schon 1959 hatte Bourdieu in einer Vorlesung in Algier Saussure und Durkheim verglichen. Der Genie­streich Saussures bestand nach ihm darin, »äußere« und »in­nere« Sprachwissenschaft zu trennen und nur die interne Betrachtung als Wissenschaft gelten zu lassen. Der ethnolo­gische Kontext, das politische Umfeld der Sprecher, die geo­grafische Reichweite der Sprache galten aus dieser Sicht für das Verständnis des Sprachsystems als unerheblich. Die strukturale Sprachwissenschaft abstrahierte so von den ge­sellschaftlichen Bedingungen der Produktion, der Reproduk­tion und des Gebrauchs der Sprache. Als neue Leitwissenschaft blieb die Linguistik nicht ohne Einfluss auf die Sozialwissenschaften. Das phonologische Modell der Linguistik, das von den gesellschaftlichen Be­dingungen des Sprachgebrauchs absieht, lässt die Sprach­wissenschaft als die »naturwissenschaftlichste aller Sozial­wissenschaften« (Sprechen, 8) erscheinen; das Modell wurde auf die symbolischen Produkte insgesamt - Verwandtschafts-

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klassen, Mythensysteme, Kunstwerke - angewandt. Nach Bourdieu waren aber nicht alle Wissenschaften im gleichen Maße anfällig für die Aufnahme dieses »trojanischen Pfer­des«. Am bereitwilligsten nahmen die Ethnologen das Modell auf - aufgrund ihrer besonderen Beziehung zu ihrem For­schungsgegenstand, ihres Selbstverständnisses als »unpar­teiische Zuschauer« in einer »fremden« Welt. Die strukturale Analysemethode hielt aber auch Einzug in die Kunst- und Literaturgeschichte, wo die Disposition, die Werke rein im­manent, ohne jeden Bezug auf das dem Kunstwerk »Äußer­liche«, zu lesen, schon vorhanden war.

Das Modell des Gabentausches: Strategie statt Regel

Bourdieu setzte sich also intensiv mit dem dominanten Modell des Strukturalismus auseinander. So widmete er 1972 in seinem Buch Esquisse d'une theorie de lapratique (dt. Ent­wurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grund­lage der kabylischen Gesellschaft) ein ganzes Kapitel der »Illu- . sion der Regel«. Seine abschließende Position formulierte er dann 1980 im Buch Le sens pratique (dt. Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft). Hier kam er auf ein in den fran­zösischen Sozialwissenschaften berühmt gewordenes Bei­spiel des Gabentausches zurück, dessen Elemente schon im Buch Soziologie als Beruf aufgeführt worden waren. Der Sozioethnologe Marcel Mauss (1872-1950) hatte den Mechanismus des Gabentausches in den archaischen neu­seeländischen Gesellschaften von der Selbstinterpretation der Eingeborenen her zu erklären versucht. Levi-Strauss kri­tisierte dieses Verf~ren: Man dürfe sich nicht nur auf die bewusste Eigendeutung stützen, sondern müsse zu den un­bewussten mentalen Strukturen vorstoßen, die sich durch die Institutionen hindurch und besser noch in der Sprache fassen ließen. Für Levi-Strauss ist der Tausch das Primäre, eine »unbewusste Notwendigkeit«, eine »Regel«. Diese Regel ist die Grundlage der Verpflichtung zum Schenken, der Ver-

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pflichtung zum Gegengeschenk und der Verpflichtung zur Annahme. In den Augen von Bourdieu reduziert jedoch das »objektive« Modell des Wissenschaftlers »die Handelnden auf den Status von Automaten oder trägen Körpern, die von obskuren Mechanismen auf Ziele hinbewegt werden, von denen sie selber nichts wissen« (Sozialer Sinn, 180 f.). Und genau diesem Modell folgt ein Wissenschaftler, der die Vor­gänge von außen betrachtet und nur ein Auge für deren Regelhaftigkeit hat. Bourdieu hatte aber gerade in Algerien feststellen können, dass es verschiedene Nuancen des Ga­bentausches gibt: das Geschenk ohne Gegengeschenk (das in Algerien mit der Muttermilch verglichen wird), die Pflicht­geschenke, die man unbedingt erwidern muss, und dann die kleinen Geschenke als Überraschungen. Für den Handelnden gibt es im Augenblick des Schenkens immer eine Ungewiss­heit und nicht einen totalen Zwang: Das Geschenk kann ohne Gegengeschenk bleiben, wenn man einen Undank­baren beschenkt, es kann auch als Beleidigung zurückge­wiesen werden. Die bloße Wahrscheinlichkeit kann nicht mit der absoluten Gewissheit gleichgesetzt werden; die Un­gewissheit kann Strategien fördern, die den wahrschein­lichen Ausgang vermeiden sollen: »Die Ungewissheit wie­der einführen bedeutet die Wiedereinführung der Zeit mit ihrem Rhythmus, ihrer Gerichtetheit, ihrer Unumkehrbar­keit, wobei die Mechanik des Modells ersetzt wird durch die Dialektik von Strategien [ ... ].« (Sozialer Sinn, 183)

Für eine Analyse der Ilobjektivierten Subjektivitätrr

Die doppelte Überwindung des »Objektivismus« und des »Subjektivismus« hat Bourdieu im konzisen Vorwort zu dem Sammelwerk Un art moyen. Essai sur les usages sociaux de la photographie (dt. Eine illegitime Kunst. Die sozialen Ge­brauchsweisen der Photographie) zum Ausdruck gebracht. In seinen Augen dient der subjektivistische Intuitionismus, der den Sinn in der Unmittelbarkeit des Erlebten zu finden hofft,

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dem Objektivismus als Alibi, der sich damit begnügt, regel­hafte Beziehungen festzustellen, ohne deren Bedeutung zu erschließen. Aufgab~ einer Soziologie als einer objektiven Wissenschaft ist es, die vom individuellen Willen unabhän­gigen Beziehungen, die unbewusst sind, durch objektive Be­obachtung und durch das Experiment zu erfassen; denn die Subjekte verfügen auf der Ebene des Bewusstseins nicht über die ganze Bedeutung ihres Verhaltens. Dieses umfasst mehr Sinn, als sie wissen. Dem Soziologen geht es um die Wieder­gewinnung eines objektivierten Sinns, der das Produkt einer Objektivierung der Subjektivität ist, der sich weder dem Han­delnden noch dem Beobachter unmittelbar erschließt. Im Unterschied zu den Naturwissenschaften kann sich eine allgemeine Anthropologie nicht mit der bloßen Rekonstruk­tion objektiver Beziehungen zufriedengeben, denn die Er­fahrung der Bedeutung dieser Beziehungen gehört zum vollständigen Sinn dieser Erfahrung dazu. Der Anthropologie kommt so die Aufgabe zu, »jenes System von Beziehungen zu konstruieren, das sowohl den objektiven Sinn der nach feststellbaren Regelmäßigkeiten organisierten Verhaltensfor­men als auch die einzelnen Beziehungen umschließt, welche die Subjekte zu ihren objektiven Existenzbedingungen und dem objektiven Sinn ihres Handeins unterhalten« (Illegitime Kunst, 13 f.) . Eine wissenschaftliche Analyse, die die »objektivierte Sub­jektivität« erfassen will, muss darum in drei Schritten er­folgen: Zuerst gilt es, die unmittelbare Erfahrung zu ermit­teln, und zwar über Äußerungs~rmen, die den objektiven Sinn ebenso verschleiern, wie sie ihn enthüllen; dann gilt es, die objektiven Bedingungen der Möglichkeit dieser Be­deutungen zu analysieren, eine Analyse, die schließlich die Konstruktion der Beziehungen zwischen den Handlungs­subjekten und dem objektiven Sinn ihrer Verhaltensformen erfordert.

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Bildungssysteme und Denksysteme

Der Begriff eines »Individuums«, das einer »Gesellschaft« gegenüberstände, macht für Bourdieu keinen Sinn. Den;n die Subjekte haben immer schon die objektiven Strukturen ver­innerlicht. Subjekte sind immer soziale Subjekte. Um das Konzept des sozialen Subjekts zu denken, entwickelt Bour­dieu Durkheims Idee weiter, dass die soziale Ordnung unser Denken und Handeln bestimmt, weil sie unsere Klassifi­kationssysteme modelliert. Diesen durkheimschen Ansatz führte Bourdieu in einem 1967 veröffentlichten Artikel unter dem sprechenden Titel »Unterrichtssysteme und Denksys­teme« weiter. Denkschulen gehen nach ihm vom Denken der Schule aus; denn in Schriftkulturen werden die menta­len Strukturen, die grundlegenden Klassifikationsschemata durch das Schulsystem vermittelt und fungieren dann als kollektives Unbewusstes. Bourdieu rief darum immer wie­der zur Bewusstmachung dieser Kategorien auf, die unsere Wahrnehmung bestimmen, ohne dass wir es merken. Durch das kulturelle Unbewusste, das sich beim Einzelnen in seiner intellektuellen Lernzeit und besonders durch seine Schul­bildung entwickelt, hat ein Denken immer auch Anteil an seiner Gesellschaft und seiner Zeit. Das Bildungssystem ist einer der Orte, an denen in diffe­renzierten Gesellschaften die Denksysteme produziert und reproduziert werden, unterstrich Bourdieu noch einmal 1989 in seinem Vortrag bei der Eröffnung des Freiburger Frank­reich-Zentrums. Diese Denksysteme sind in seinen Augen das scheinbar verfeinerte Äquivalent der »primitiven Formen der Klassifizierung«, deren Inventar Durkheim und Mauss für die Gesellschaften ohne Schrift erstellten. Den struktu­rierenden Oppositionen zwischen trocken und feucht, Osten und Westen, gekocht und roh, die in der Liste des archai­schen Verständnisses aufgeführt werden, entsprechen in unseren Bildungssystemen die Gegensatzpaare von erklären und verstehen, von Quantität und Qualität usw. Diese Op-

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positionen enthalten nach Bourdieu auch nationale Varia­tionen, oder anders gesagt, die in zwei Nationen - etwa Deutschland und Frankreich - dominanten Gegensatzpaare können die jeweils entgegengesetzten Begriffe beschrei­ben. Bourdieu erwähnte hier all die Oppositionen, die zu­mindest bis zum Zweiten Weltkrieg innerhalb des deutschen akademischen Diskurses so wichtig waren, etwa »die zwi­schen Kultur und Zivilisation, und die dazu dienen, die vor­nehme und authentische deutsche Tradition von der unech­ten, oberflächlichen französischen Tradition abzugrenzen: genau die Opposition zwischen tief (oder ernsthaft) und brillant (oder oberflächlich) oder die Opposition zwischen Inhalt und Form, zwischen Denken (oder Gefühl) und Stil (oder Esprit), zwischen Philosophie (oder Philologie) und Literatur usw. Oppositionen, die die dominante Tradition Frankreichs [ ... ] ihrerseits aufgriff, ihre Zeichen aber um­polte: Tiefe wurde Schwerfälligkeit, das Ernsthafte Schul­fuchserei und das Oberflächliche französische Klarheit.« (Forschen, 47) Das hier aufgeführte Beispiel zeigt, inwiefern unbewusste kollektive Vorstellungen das Denken der einzelnen Subjekte im Rahmen ihrer gesellschaftlichen Umwelt prägen; im so­zialisierten Subjekt kommerkmmer Vorstellungen zum Aus­druck, die es seiner Sozialisation verdankt. Andererseits gibt es für Bourdieu keinen mechanischen Zwang zum Rückgriff auf dieses oder jenes Denk- oder Handlungsmuster. Diese Vorstellung, die eine subjektivistische Sicht ebenso über­winden will wie eine objektivistische, vertiefte Bourdieu im doppelten Sinn in seiner Kritik der theoretischen Vernunft und dem Entwurf einer Theorie der Praxis.

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Die Kritik der theoretischen Vernunft

Auf der Basis seiner empirischen Untersuchungen erkannte Bourdieu die Grenzen der theoretischen Vernunft, sowohl in ihrer subjektivistischen wie in ihrer objektivistischen Aus­prägung. Diese Kritik betraf die pragmatische und die er­kenntnistheoretische Dimension der theoretischen Vernunft gleichermaßen.

Kritik der subjektivistischen theoretischen Vernunft

Bei der subjektivistischen Variante bezog sich Bourdieu vor allem auf Sartre, den er der Tradition des cartesianischen Rationalismus zurechnet. Rene Descartes (1596-1650) sei der Einzige in Frankreich gewesen, so Sartre, der ihn tief ge­prägt habe. Bourdieu teilte dessen optimistische Sicht einer totalen Transparenz des Bewusstseins nicht. Diese mani­festierte sich bei Sartre beispielsweise in der berühmten Kaffeehauskellner-Szene aus seiner philosophischen Schrift Das Sein und das Nichts, die wir hier noch einmal in extenso zitieren wollen, weil sie so schön ist:

»Es nützt mir nichts, die Funktionen eines Kaffeehauskellners aus­zuüben. Kellner kann ich nur in einer gleichsam neutralisierten Weise sein, so wie der Schauspieler Hamlet ist, indem ich die typi­

schen Gesten meines Standes mechanisch ausführe und indem ich mich durch diese Gesten hindurch als der imaginäre Kaffeehaus­kellner beobachte, den ich als >Analogon< benutze. Was ich zu rea­lisieren trachte, ist ein An-sieh-sein des Kaffeehauskellners, so als ob es nicht in meiner Macht stünde, meinen Standespflichten und -rech­ten ihren Wert und ihre Gewichtigkeit zu verleihen, als ob es nicht in meiner freien Wahl stünde, jeden Morgen um fünf Uhr aufzustehen oder im Bett zu bleiben, auf die Gefahr hin, mich dafür rauswerfen zu lassen. Als ob ich nicht gerade dadurch, daß ich diese Rolle im Dasein erhalte, sie nach allen Richtungen hin transzendierte, mich nicht als ein Jenseits meiner Stellung konstituierte. Indessen besteht kein

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Zweifel darüber, daß ich in gewissem Sinn Kaffeehauskellner bin -könnte ich mich andernfalls nicht ebensogut Diplomat oder Journa­list nennen?«6

Nach Sartre kann der Körper frei eingesetzt werden, je nach der imaginären Vorstellung einer Rolle, die er zu spielen hat oder die er jetzt gerade spielen will, wobei er dann die an­deren Möglichkeiten verwirft. Für Bourdieu ist es bezeich­nend, dass Sartre sich hier der Form eines phänomenologi­schen Ichs bedient; denn im Grunde handle es sich um die Projektion des Bewusstseins eines Intellektuellen auf die Praxis eines Kaffeehauskellners; es entstehe so »eine Art so­ziale Schimäre, ein Monster mit dem Körper eines Kaffee­hauskellners und dem Kopf eines Intellektuellen« (Der Tote, 37). Man musse nun gerade die Freiheit eines Intellektuellen haben, im Bett zu bleiben, ohne entlassen zu werden, um festzustellen, dass derjenige, der um fünf Uhr aufsteht, sich von seiner Freiheit befreit. Diese Rollendistanz ist in den Augen von Bourdieu für den Kellner, der sich mit seiner Funktion identifiziert, völlig unwahrscheinlich. Der Körper ist nicht einfach ein Automat, der vöjg durch das Bewusst­sein gesteuert wird:

»Der Kaffeehauskellner spielt nicht Kellnersein, wie Sartre behauptet. Indem er seine Arbeltsjacke anzieht, die entsprechende Haltung ein­nimmt, die ganz dazu angetan ist, einer demokratisierten und büro­kratisierten Form der ergebenen Würde des herrschaftlichen Dieners Ausdruck zu geben, und das Zeremoniell der Aufmerksamkeit und Beflissenheit vollzieht, was eine Strategie zum Überspielen einer Verspätung, eines Vergessens oder einer minderen Qualität eines Produkts sein mag, macht er sich nicht z!-lm Ding (oder >An-sich<). Sein Körper, in den eine Geschichte eingeschrieben ist, paßt sich sei­ner Funktion an, d. h. einer Geschichte, einer Tradition, die er nur in Körpern oder, besser, in jenen von einem bestimmten Habitus >be­

wohnten< Habits inkarniert gesehen hat, die man Kaffeehauskellner

nennt.« (Der Tote, 35).

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Bourdieu konstatiert hier einen Intellektualismus bei dem Vertreter der Subjektphilosophie, der seine eigene intellek­tuelle Sicht, seine Bedingung der relativen Freiheit univer­salisiert und sie als Logik des Handeins generell ausgibt. In seinem Entwurf einer Theorie der Praxis definiert Bour­dieu den subjektivistisch-phänomenologischen Erkenntnis­modus, den man vor allem in der Bewusstseinsphilosophie Sartres findet; er sieht diesen Ansatz auch bei Alain Touraine (geb.I925), dessen Handlungssoziologie sich auf Sartres Subjekt- und Freiheitskonzept stützt. Diese phänomenolo­gische Erkenntnisweise expliziert »die Wahrheit der primä­ren Erfahrung mit der sozialen Welt, d. h. das Vertrautheits­Verhältnis zur vertrauten Umgebung. Sie begreift die soziale Welt als eine natürliche und selbstverständlich vorgegebene Welt, sie reflektiert ihre Definition nicht auf sich selbst und schließt im weiteren die Frage nach den Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit aus.« (Entwurf, 147). Das Problem einer rein »theoretischen«, intellektualistischen Sicht der Realität hat Bourdieu auch während des Algerien­krieges festgestellt. Die Pariser Intellektuellen hegten aus der Distanz - und sicher gut gemeint - eine utopische Sicht der algerischen Realität, die keineswegs mit dem überein­stimmte, was man als Beobachter vor Ort sehen konnte. Bourdieu erwähnt in diesem Kontext die Bücher von Frantz Fanon (1925-1961), insbesondere Die Verdammten dieser Erde, die damals auf große Resonanz stießen und die er für falsch und verhängnisvoll hielt, weil sie bei den algerischen Intellektuellen einen unheilvollen Utopismus hinsichtlich der eigenen Zukunft weckten. Die konkreten Untersuchun­gen, die Bourdieu über die algerischen Arbeiter, Arbeits­losen, Subproletarier und Bauern durchführte, brachten ihn später auch dazu, »mit dem Diskurs zu brechen - wie er [ . .'.] mit Althusser und seinen Normaliens [seinen Schülern an der Ecole Normale Superieure] auftauchen sollte -, dem Dis­kurs über >die Arbeiter<, >das Proletariat< oder >die Partei«<. (Interventionen I, 50)

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Gleichzeitig ergab sich für ihn angesichts des Algerienkrieges die Frage nach der Position des Wissenschaftlers; in diesem Kontext war es unmöglich, bemerkt LOlc Wacquant, »sich nicht ständig vor die Frage nach dem besonderen Privileg des Akademikers gestellt zu sehen, der sich aus der Welt zu­rückzieht, um sie zu beobachten, und einen Abstand von den von ihm untersuchten Objekten für sich beansprucht. Denn selbst die normalerweise harmlose Lehrtätigkeit mußte in diesem Kontext eine hochbrisante politische Dimension bekommen, die zur analytischen Rückbesinnung auf den Wissenschaftler und seine Praxis geradezu herausforderte.« (Reflexive Anthropologie, 75)

Kritik der objektivistischen theoretischen Vernunft

Der Intellektualismus, das Verkennen der Grenzen der theo­retischen Vernunft war nicht bloß für die Bewusstseinsphilo­sophie charakteristisch, sondern auch für die objektivistische Sichtweise. Wenn Bourdieu auch immer wieder für eine Real~ politik der Vernunft plädierte, so s!f1lte er sein grundlegen­des Werk Meditationen nicht unter das Zeichen Descartes', sondern Pascals. Blaise Pascal (1623-1662) zeichnet sich nach ihm durch einen phänomenologischen Blick aus, der sich auch auf die Bedeutung alltäglicher Erfahrungen richtet, die nicht in die Systeme der Philosophen passen. Bourdieu war vor allem für die anticartesianische Dimension Pascals offen, der den Primat der Vernunft negiert, ohne deren (relative)

f Erkenntnisfunktion zu bestreiten/Pascal warnte vor »zwei Übertreibungen: Die Vernunft ausschließen, nur die Vernunft anerkennen« (zitiert in: Meditationen, 93). Und Bourdieu zitiert gleich noch ein anderes Wort von Pascal: »Wir sind ebenso sehr automatisch handelnde Körper wie Geist.« (Me­ditationen, 21) Damit hatte Pascal gegen Descartes die Exklu­sivität des Bewusstseins, des Intellekts als Erkenntnisquelle infrage gestellt und auf die Macht der - durch die Sozialisie­rungsinstanzen vermittelten - Gewohnheiten verwiesen.

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Während der Intellektualismus der Bewusstseinsphilosophie darin besteht, die eigene relativ freie und privilegierte Situa­tion auf den Handelnden schlechthin zu projizieren, handelt es sich beim objektivistischen Ansatz nicht um einen Projek­tionsprozess, der von der subjektiven Erfahrung ausgeht, sondern um einen »Theorieeffekt«. Hier wird ein Modell konstruiert, das die konkreten Handlungen als mechani­schen Vollzug einer Regel sieht und nicht eine spezifische Logik des Handeins in Betracht zieht. Die objektivistische Erkenntnisweise, von der Bourdieu in seinem Entwurf einer Theorie der Praxis spricht, schließt die Primärerfahrungen der sozialen Akteure zugunsten von objektiven, vom Be­wusstsein der Subjekte unabhängigen Beziehungen aus. Diese Erkenntnisweise (bei der nach Bourdieu die struktu­ralistische Hermeneutik von Saus sure, Levi-Strauss oder Althusser nur einen Sonderfall bildet) »erstellt die - gewöhn­lich ökonomischen oder linguistischen - objektiven Bezie­hungen, die die verschiedenen Praxisformen und deren Repräsentationen, d. h. im besonderen die praktische und stillschweigende primäre Erfahrung der vertrauten Welt, strukturieren - freilich um den Preis des Bruchs mit dieser primären Erfahrung, folglich mit den stillschweigend über­nommenen Voraussetzungen, die der sozialen Welt ihren evidenten und natürlichen Charakter verleihen« (Entwurf, 147). Der Primat kommt hier den vom Wissenschaftler er­fassten objektiven Strukturen und Gesetzmäßigkeiten zu. Die kritische Reflexion über die Grenzen des wissenschaft­lichen Verstehens hat indes nicht zum Ziel, so Bourdieu,

»[ ... ) die wissenschaftliche Erkenntnis in ihrer einen oder anderen

Form zu diskreditieren, um ihr wie üblich eine mehr oder weniger

idealisierte praktische Erkenntnis entgegenzustellen oder sie durch

diese zu ersetzen. Ihr Ziel ist vielmehr, die wissenschaftliche Erkenntnis durch Befreiung von Verzerrungen, die ihr von den epis­temologischen und sozialen Bedingungen ihrer Hervorbringung aufgezwungen werden, vollständig zu begründen. Fern jeder Reha-

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bilitierungsabsicht, wie sie die meisten Diskurse über die Praxis

irregeleitet hat, zielt diese kritische Reflexion lediglich darauf ab, die

von wissenschaftlicher Erkenntnis implizit angewandte Theorie der

Praxis ans Licht zu ziehen und auf diese Weise eine wahrhaft wissen­schaftliche Erkenntnis der Praxis und der praktischen Erkenntnis

möglich zu machen.« (Sozialer Sinn, 53)

Es geht also darum, die spezifischen epistemologischen und sozialen Bedingungen des theoretischen Erkennens zu er­mitteln, um zu überprüfen, inwieweit diese Bedingungen die Sicht auf das Handeln und Erkennen der Akteure beein­flussen.

Die Bedingungen der ))scholt~((

Zwei Merkmale kennzeichnen das theoretische Erkennen des Beobachters: Er ist nicht in die Irreversibilität der fort­schreitenden Zeit eingebunden, und er ist nicht gezwungen zu handeln, das heißt, unmittelbar-Entscheidungen zu tref­fen, deren Folgen er nicht voraussehen kann. Zu den Bedin­gungen des Beobachtenkönnens und des Entwerfens einer Theorie gehört so die Situation der schale, der Muße, die Bourdieu auch scholastische BediI~gung nennt (nicht ver-

! standen als Schule, sondern eben als handlungsenthobene Muße). Um Gedankensysteme entwerfen zu können, muss man sich aus dem unmittelbaren Handlungskontext lösen. Das theoretische Konstrukt kann damit als ein »ernstes Spiel« ohne unmittelbare Folgen betrachtet werden, denn es muss nicht als Lösung konkreter dringender Fragen entworfen werden. Bourdieu unterstreicht die Ambivalenz dieses »scho­lastischen Universums«, dieser - notwendigen - Situation der handlungsenthobenen Muße: Die Trennung von der Welt der Praxis ist eine Befreiung von äußeren Zwängen, sie macht frei für die Arbeit an der Theorie, aber sie macht gleichzeitig auch blind hinsichtlich der spezifischen Bedingungen der Praxis.

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In der Situation des wissenschaftlichen Beobachtens ist man nicht nur einem unmittelbaren Handlungskontext enthoben, man steht auch nicht in einem irreversiblen Zeitkontinuum. Der Wissenschaftler hat Zeit und kann sich seine Gegen­stände immer wieder vornehmen und auch zu früheren Stufen zurückkehren. Er untersucht die Fakten post festum, wenn sie schon abgeschlossen sind; seine Gegenstände situ­ieren sich nicht in einer noch ungewissen Zukunft.

»Es gibt eine Zeit der Wissenschaft, die nicht die der Praxis ist. Für

den Analytiker ist die Zeit aufgehoben: nicht nur, wie seit Max Weber

häufig wiederholt, weil er immer erst analysiert, wenn alles schon

vorbei ist, und daher nicht im ungewissen über das mögliche Gesche­

hen sein kann, sondern auch, weil er die Zeit hat zu totalisieren, d. h. Zeiteffekte zu überwinden. Die wissenschaftliche Praxis ist derart

entzeitlicht, daß sie gern sogar den bloßen Gedanken an das von ihr

Verdrängte verdrängt: weil sie nur in einem Verhältnis zur Zeit möglich ist, das dem der Praxis diametral entgegengesetzt ist, trachtet

sie, die Zeit zu ignorieren und damit die Praxis zu entzeitlichen.«

(Sozialer Sinn, 149)

Mit dem Begriff der Totalisierung ist die synoptische Sicht von Praktiken gemeint, die sich in der Realität sukzessive abspielen, die aber synchron in Modellen dargestellt werden. »Das Privileg, totalisieren zu dürfen«, so schreibt Bourdieu, »setzt einerseits die praktische (also implizite) Neutralisie­rung der praktischen Funktionen voraus - d. h. im Einzelfall die Ausklammerung der praktischen Verwendung der zeit­lichen Bezugspunkte [ ... ]. Andererseits setzt dieses Privileg auch die zeitaufwendige Nutzung dieser im Laufe der Ge­schichte akkumulierten und mit Zeitaufwand erkauften Verewigungsinstrumente der Schrift und der sonstigen Auf­zeichnung und Analyseverfahren wie Theorien, Methoden, Schemata usw. voraus.« (Sozialer Sinn, 152) Die Zeit- und Handlungsenthobenheit des wissenschaft­lichen Beobachters bringt zweifellos Erkenntnisgewinn. Das

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Problem liegt aber darin, diese (privilegierte) Sicht auf den unmittelbar Handelnden zu projizieren. »Wir wissen sehr gut, daß, wie Bachelard sagte, >die Welt, in der man denkt, nicht die Welt ist, in der man lebt<. Man muß jedoch be­ständig diesen Unterschied im Kopf haben, wenn man ver­meiden will, die Welt so, wie man sie denkt, für die Welt zu halten, wie sie allen erscheint, die nicht die Muße haben, sie zu denken«, erklärte Bourdieu im Gespräch mit dem deut­schen Historiker Lutz Raphael. 7 Der Intellektualismus oder »Intellektualozentrismus« - so die Bezeichnung Bourdieus für diese Haltung - besteht darin, die weitgehend implizit bleibende Erkenntnisweise der sozialen Akteure in ihrer Praxis gleichzusetzen mit der unter der Bedingung der Zeit­und Handlungsentlastetheit stehenden theoretischen Er­kenntnisweise der Wissenschaftler und Intellektuellen. Der Fehler des Intellektualismus besteht darin, »den Standpunkt des Schauspielers mit dem des Zuschauers zu verwechseln« (Sozialer Sinn, 151).

Die szientistische Illusion

Bourdieu bringt eine ganze Reihe von Beispielen eines sol­chen scholastischen Fehlschlusses, unter anderem auch für die »reine« Sprachanalyse der strukturalen Sprachwissen­schaft, die Sprache als ein kohärentes System von Oppositio­nen und Identitäten auffasst, was aber so vom Sprecher nie wahrgenommen wird.

»Saussures Standpunkt ist der des >unparteiischen Betrachters<, der

das Verstehen um des Verstehens willen sucht, was schließlich

dazu führt, daß er diese >hermeneutische Intention< in die sozialen

Akteure verlegt und zum Prinzip ihrer Praktiken erklärt. Das ist die

Haltung des Grammatikers, der die Absicht hat, die Sprache zu stu­

dieren und zu kodifizieren, im Gegensatz zu der des Redners, der

mit Hilfe der performativen Wirksamkeit des Wortes in der Welt

und auf die Welt wirken möchte. Wer die Sprache als ein Objekt der

SI

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Analyse behandelt, statt sie zum Denken und Sprechen zu benutzen,

läßt sich dazu verleiten, sie als logos im Gegensatz zur praxis zu konstituieren, als toten Buchstaben ohne praktischen Nutzen oder

ohne anderen Zweck als den, interpretiert zu werden, wie man ein

Kunstwerk interpretiert [ ... ]. Die Grammatikalität ist keine notwen­

dige und zureichende Bedingung der Sinnproduktion, und die Spra­

che ist nicht für die sprachwissenschaftliche Analyse gemacht, son­

dern um gesprochen und umständegerecht gesprochen zu werden.« (Reflexive Anthropologie, 175 f.)

Für Bourdieu liegt schon der Unterscheidung zwischen langue und parole - parole als bloße Realisierung im ge­sprochenen Wort - eine intellektualistische Philosophie zu­grunde. Er versucht mit der Infragestellung dieser Setzung die Antinomie zwischen einer rein internen und einer rein ökonomischen Sprachbetrachtung zu überwinden. Beide Ansätze verkannten, dass »sprachliche Verhältnisse immer Verhältnisse der symbolischen Macht sind, durch die die Machtverhältnisse zwischen den Sprechern und ihren jewei­ligen sozialen Gruppen in verwandelter Gestalt aktualisiert werden. Infolgedessen ist es gar nicht möglich, einen Kom­munikationsakt in den Grenzen einer rein sprachlichen Ana­lyse zu interpretieren.« (Reflexive Anthropologie, 177) In den Augen von Bourdieu erklärt sich die intellektualisti­sche Sichtweise auch aus der Verbundenheit der Wissen­schaftler mit der Wissenschaft und ihrem sozialen Prestige, was sie anfällig mache für die Vorstellung, ihr oft unter gro­ßen Anstrengungen erworbenes Wissen sei dem Alltags­verstand überlegen, anstatt über die Grenzen zu reflektieren, welche der wissenschaftlichen Erkenntnis gerade dadurch gezogen werden, dass sie auf einem Privileg beruht. Wenn Bourdieu im Gespräch mit Beate Krais vor der »Illusion einer unmittelbaren Erkenntnis« - so die subjektivistische Vision - warnt, so warnt er gleichzeitig vor dem Gegenteil, der szientistischen Illusion, der »Illusion des absoluten Wis­sens«. (Soziologie als Beruf, 273) Bourdieu rekonstruiert

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dann leicht ironisch den Gestus dieses Ansatzes: »Die Ak­teure befinden sich im Irrtum, in einem Irrtum aus Man­gel: Die Erkenntnis des Ganzen bleibt ihnen versagt, also ist ihre Erkenntnis primär, gänzlich naiv. Dann kommt der Wis­senschaftler daher, der das Ganze erfaßt und der überhaupt im Vergleich zu den normalen Sterblichen, die nichts ver­stehen, eine Art Gott ist.« (Soziologie als Beruf, 273) Diewis­senschaftliche Objektivierung könne auch eine Möglichkeit sein, sich gegenüber den Konkurrenten als eine Art Gottva­ter aufzuspielen. Es gibt indes Dinge, die man nicht ver­steht, wenn man den wissenschaftlichen Blick nicht selbst zum Objekt der Untersuchung macht. Um den subjektivisti­schen und den objektivistischen Intellektualismus zu über­winden, ist es unabdingbar, »eine wissen~chaftliche Erkennt­nis der praktischen Erkenntnisweise« (Sozialer Sinn, 55) zu konzipieren.

Eine Theorie der Praxis

»Es ist nicht leicht, über Praxis anders als negativ zu reden« (Sozialer Sinn, 147); die Praxis wird von Bourdieu vor allem durch das bestimmt, was sie nicht ist; er wird nicht müde, die intellektualistischen Projektionen abzuwehren. Vor allem kann der in die Handlung involvierte Akteur nicht bestimmt werden durch eine Distanz zwischen Subjekt und Objekt, Ich und Welt, wie das beim außenstehenden Beobachter in einem gewissen Sinn der Fall ist. Bourdieu erklärt das auch wieder durch ein Pascal-Zitat: »Le monde me comprend, mais je le comprends - also etwa: Ich bin in der Welt enthal­ten, aber die Welt ist auch in mir enthalten [ ... ]. Der Akteur (der weder ein Subjekt oder Bewußtsein ist noch ein bloßer Träger einer Rolle oder eine bloße Aktualisierung einer Struktur oder Funktion) und die soziale Welt [ ... ] sind [ ... ] in einem regelrechten ontologischen Einverständnis vereint.« (Reflexive Anthropologie, 161) So lässt diese »Koinzidenz

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von Dispositionen und Position, vom Sinn für das Spiel und dem Spiel selbst, den Akteur tun, was er zu tun hat, ohne daß dies explizit als Ziel formuliert werden müßte, also jenseits von Kalkül und selbst Bewußtsein, jenseits von Diskurs und Darstellung« (Reflexive Anthropologie, 162). Die Logik der Praxis ist also keine Realisierung eines bewusst formulierten Ziels. Als eine schöpferische Spontaneität, die sich in der unvorhergesehenen Konfrontation mit unaufhörlich neuen Situationen auseinandersetzen muss, gehorcht die Praxis ei­ner »Logik des Unscharfen, Ungefähren, die das normale Verhältnis zur Welt bestimmt« (Rede und Antwort, 101). Das Moment der Unbestimmtheit ist also relativ groß; und das Handeln kann durch Improvisation bestimmt sein, aber auch durch einen hohen Grad an Formalisierung, vor allem wenn die Situationen risiko reich sind. Gibt es Spielregeln, dann heißt das immer auch, dass man mit den Regeln spielen kann: »Die Logik der Praktik besteht darin, nicht weiter als bis zu jenem Punkt logisch zu sein, ab dem die Logik nicht mehr praktisch wäre.« (Rede und Antwort, 103).

Die praxeologische Erkenntnisweise

Wegen der (reziproken) Eingebundenheit des Subjekts in der Welt und der Welt im Subjekt entwickelt das Subjekt im Laufe seiner Erfahrungen ein praktisches Verständnis der Welt, die ihm vertraut wird. Dieses praktische Verstehen ist etwas anderes als das hermeneutische Verstehen eines Tex­tes. Das Subjekt versteht aus der Situation heraus, was für es wichtig ist, und kann darauf angemessen reagieren. Die Fähigkeit, spontan die konkrete Situation zu verstehen und angemessen zu reagieren, nennt Bourdieu den »praktischen Sinn« (die deutsche Übersetzung von »sens pratique« als »sozialer Sinn« ist nicht angemessen). Die vermittelnde Instanz zwischen Welt und Subjekt ist da­bei der Körper; er ist der Träger einer kreativen Verstehens­fähigkeit. Es ist darum kein Zufall, dass Bourdieu immer

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wieder auf den Sport, namentlich den Fußball, rekurriert, wenn er seine Praxis-Theorie illustrieren will (obwohl er, aus dem französischen Südwesten stammend, Rugby bevorzugte und sogar ein Vorwort zu einem Fotoband über den Rugby­sport schrieb). Gerade am Beispiel des Fußballs zeigt er den besonderen Charakter der Zeitlichkeit der Praxis auf: Zeit als irreversibles Kontinuum und Zeit als Dringlichkeit. Der Spie­ler kann sich nicht auf die Gegenwart beschränken oder sei­nen Blick kontemplativ auf die Vergangenheit richten. Sein Handeln ist immer eine Antizipatioo.Xler Zukunft, die in sei­ner Gegenwart präsent ist. Der Spieler muss noch im hit­zigsten Kampf die Spielzüge seiner Gegner oder Mitspieler intuitiv erfassen und adäquat reagieren. Er spielt den Ball nicht dorthin, wo der Mittelstürmer gerade steht, sondern an den Punkt, den dieser - vor dem ihn deckenden Vertei­diger - sogleich erreichen wird. Er identifiziert sich mit dem Künftigen und postuliert dadurch, dass die Zeit kontinuier­lich ist. Die zweite wesentliche Eigenschaft der Praxis ist ihre Dring­lichkeit. Als Spieler muss ich die erwarteten Spielzüge durchziehen, die in der Logik des in die Zukunft gerichteten Spiels vorgegeben sind. Nur derjenige, der sich aus dem Spiel zurückzieht und damit auf das verzichtet, worum es beim Spiel geht, das Setzen auf die Zukunft, kann die zeitliche Abfolge als diskontinuierlich empfinden. Um die Logik der Praxis jenseits der subjektivistischen »Il­lusion einer unmittelbaren Erkenntnis« und der objektivisti­schen »Illusion absoluten Wissens« zu erfassen, plädiert Bourdieu auf der forschungspraktischen Ebene für das, was er eine »praxeologische« Erkenntnisweise (Entwurf, 147) nennt. Diese Erkenntnisweise annulliert die Ergebnisse des objektiven Wissens nicht, sondern überschreitet sie, um all das zu integrieren, was man ausschließen musste, um die Beobachtersicht einnehmen zu können. Die praxeologische Erkenntnis definiert sich zunächst negativ durch die Einsicht in die Grenzen der theoretischen Erkenntnis, sei sie nun

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objektivistisch oder subjektivistisch. Bourdieu spricht hier von einem doppelten Bruch: Die Sozialwissenschaft muss zunächst - wie der Objektivismus - mit der »eingeborenen« Erfahrung und der »eingeborenen« Darstellung dieser Erfah­rung brechen und dann in einem zweiten Bruch die mit der Position des objektiven Beobachters verbundenen Vorausset­zungen infrage stellen. Ein wichtiges Element, um die naive scholastische Projektion zu vermeiden, ist für Bourdieu die Reflexivität, die epistemo­logische Wachsamkeit, die stets die besonderen Bedingun­gen der kontemplativen Sichtweise mit bedenkt und sie nicht unbesehen auf die Handelnden überträgt. Ein weiteres wichtiges Element ist der Verzicht auf eine ge­schlossene Großtheorie, die immer in Gefahr gerät, die em­pirischen Tatbestände bloß als Belege der Theorie einzustu­fen. Bourdieu unterstreicht so, dass die Denkwerkzeuge bei ihm nur in den Resultaten sichtbar sind, die sie produzieren, und nicht als solche konstruiert sind. »Die Systematisierung kommt notwendig ex post, nämlich in dem Maße, wie frucht­bare Analogien auftauchen, wie die nützlichen Eigenschaf­ten des Begriffs formuliert und erprobt werden.« (Reflexive Anthropologie, 198) Kant paraphrasierend, meint Bourdieu, dass »Forschung ohne Theorie blind und Theorie ohne For­schung leer ist« (Reflexive Anthropologie, 198). Er illustriert seine Position durch ein literarisches Beispiel, die Chartreuse de Parme von Stendhal. Napoleon steht bei der Schlacht auf dem Hügel; er hat den Überblick, er denkt sich Schlachten aus, aber taucht nicht in Waterloo auf - das ist die Position des Groß theoretikers, des Sozialphilosophen. Die Perspek­tive des Empirikers, mit dem sich Bourdieu identifiziert, ist die der Romanfigur Fabrice, der zunächst nichts versteht und sieht und dem die Kugeln nur so um die Ohren fliegen. »In der Tat genügt es, sich einmal an die vordersten Linien zu begeben, damit der Blick auf die gesellschaftliche Welt ein grundlegend anderer wird. Natürlich ist die Sicht der Gene­räle nützlich; ideal wäre es, könnte man beides verbinden:

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den Überblick des Generals und die einzelne Wahrnehmung des gemeinen Soldaten im Getümmel. Theorie und Empirie ist nichts anderes!« (Verborgene Mechanismen, 43f.) Diese praxeologische Erkenntnisweise, die eIfe Aporien einer sub­jektivistischen oder objektivistischen theoretischen Vernunft zu überwinden trachtet, ist nicht die Frucht eines abstrakten Gedankensystems, sondern entwickelte sich - gewisserma­ßen auf dem Schlachtfeld - in und durch die empirischen ethnologischen und soziologischen Untersuchungen der al­gerischen Gesellschaft, des ländlichen Milieus der Pyrenäen und des Bildungssystems Frankreichs. Auf der Basis dieser erkenntnistheoretischen Position bilde­ten sich dann drei zentrale Kategorien aus, die den Ansatz von Bourdieu unverwechselbar prägen: der Begriff des Ha­bitus als Vermittlungsinstanz zwischen Struktur und Sub­jekt, als die Eigenschaft, die die sozialen Prägungen der Sub­jekte und ihren (relativen) Freiraum gleichzeitig erfasst, dann die Kategorie des Kapitals, das aber nicht bloß als öko­nomische Größe gedacht wird, sondern als spezifische Aus­stattung, die in unterschiedlichen Bereichen unterschied­liche Wirkungen hervorruft. Der Begriff der Gesellschaft wird schließlich ersetzt durch den des sozialen Raums, der sich ausdifferenziert in unterschiedliche Felder, die nicht nur Kraft-, sondern auch Kampffelder sind, die sich durch ihre permanente Dynamik auszeichnen. Mit diesen drei zentralen Kategorien brachte Bourdieu die Akteure wieder ins Spiel und auch die Geschichtlichkeit, die durch den Strukturalismus ausgeblendet worden waren, ohne jedoch in eine Subjektphilosophie zurückzufallen.

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Die zentralen Kategorien Bourdieus

Der Habitusbegriff: Freiheit oder Determination?

Bourdieu sah sich vor die Aufgabe gestellt, die Vorstellung einer totalen Freiheit des Individuums, die ihm als eine Pro­jektion der privilegierten Situation der Intellektuellen er­schien, zu überwinden, ohne ins Gegenteil zu verfallen, in die Vorstellung einer völligen Determination des Menschen, die freilich nicht mehr biologisch bestimmt wurde wie zu Zeiten des Positivismus im 19. Jahrhundert, sondern eher kulturell als Determination durch Diskurssysteme, ökono­misch durch wirtschaftliche Strukturen, sozial durch Klassen­strukturen. Es ging ihm darum, die Erfahrungen der Akteure in ein Erklärungsmodell ihres HandeIns zu integrieren. »Ich wollte, wenn Sie so wollen«, erklärt er im Rückblick, »die leibhaftigen Akteure wieder ins Spiel bringen, die durch Levi­Strauss und die Strukturalisten, zumal Althusser, dadurch eskamotiert worden waren, daß man sie zu Epiphänomenen der Struktur erklärt hatte.« (Rede und Antwort, 28) Bourdieu gelangte zu der Erkenntnis, dass Handeln nicht bloß Vollzug einer Regel ist. Auf der Basis seiner Dispositio­nen kann ein Akteur »Spielzüge« durchziehen, die nicht vor­hergesagt werden können. Es galt, das Paradox zu beschrei­ben, dass ein Verhalten auf Ziele gerichtet sein kann, ohne bewusst durch sie geleitet zu sein. Der Rekurs auf das Be­wusstsein des Akteurs kann hier nicht weiterhelfen, das Prin­zip der Regel ebenso wenig. In seinen frühen Arbeiten griff Bourdieu auf Max Weber (1864-1920) zurück, der auch die Beziehung zwischen den objektiven Chancen und den sub­jektiven Erwartungen thematisierte. Er bezog sich zunächst auf den weberschen Begriff des Ethos, um die Verinnerli­chung objektiver Beziehungen zu bezeichnen.

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Dann aber wird der Begriff des Habitus für ihn zu einer zen­tralen Kategorie. Zunächst verwendete Bourdieu den Begriff des Habitus im Rückgriff auf Marcel Mauss, um bestimmte Körperhaltungen zu beschreiben. Der Körper ist für ihn nicht bloß eine Sache, ein »An-sich« wie bei)artre, die durch das Bewusstsein beherrscht werden muss, sondern eine Aus­drucksweise, die auf kollektive Gewohnheiten verweist, die von einer Gesellschaft zur anderen variieren. Bourdieu stellte das fest, als er die Gangart der Bauern im Bearn beobachtete. Nach Mauss entstehen die Körperhaltungen nicht durch Nachahmung, sondern werden anerzogen. Der »wilde« Kör­per wird »kulturiert«, zeitlich strukturiert durch die päda­gogische Arbeit, die den Aufschub der unmittelbaren Trieb­befriedigung verlangt. Die pädagogische Autorität prägt »jene zeitlichen Strukturen ein, die den Habitus in die Logik des Aufschubs und des Umwegs, folglich des Kalküls, einfüh­ren« (Entwurf, 199). Indern er die »Kultivierung« des Kör­pers unterstreicht, hebt sich Bourdieu von einer behavioris­tischen Sichtweise ab, die die Verhaltensweisen nur auf physiologische Reflexe reduziert. »Der Körper denkt immer.« (Entwurf, 199)

Kollektive Denkformen einer Epoche

Bezog Bourdieu den Begriff des Habitus zuerst im Gefolge von Mauss auf Körpertechniken, so weitete er dieses Konzept später auch auf intellektuelle Wahrnehmungsweisen (in ih­rer kollektiven Form) aus, vor allem nach der Lektüre von Erwin Panofskys Buch Gothic Architecture and Scholasticism, das Bourdieu 1967 in seiner Reihe »Le sens commun« (Edi­tions de Minuit) herausgab. Im Unterschied zu einer Konzep­tion, die den Menschen als passives Wesen versteht, das die Eindrücke der Welt aufnimmt, stand Bourdieu der neukan­tianischen Tradition nahe, die den aktiven Charakter der Er­kenntniskategorien betont, ihre strukturierende Funktion als symbolische Form einer historischen Epoche, ein Gedanke,

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der auch bei Panofskys Analyse der Perspektive als einer his­torischen Form zugrunde liegt. Für Bourdieu sind aber ähn­lich wie bei Durkheim und Mauss die strukturierenden Er­kenntnis kategorien nicht universell, sondern spezifisch für bestimmte soziale Gruppen in einer bestimmten historischen Situation. Er übernahm den Habitusbegriff von Panofsky, um ihn gleichzeitig zu re interpretieren. Mit Panofsky hatte der alte Habitusbegriff, der schon bei Aristoteles und dann in der Rhetorik Ciceros eine bedeutende Rolle gespielt hatte, wieder einen neuen theoretischen Status erlangt. Panofsky hat in dem genannten Werk über gotische Architektur und Scho­lastik, das 1951 auf Englisch erschien, die kunstgeschichtli­che These aufgestellt, dass gewisse Stilelernente, etwa der go­tischen Architektur, sich aus »mental habits« erklären lassen , die zeitgleich auch in anderen Disziplinen aufzufinden sind und durch Schulbildung verbreitet werden. Dieser Habitus­begriff reaktiviert die geistige Dimension des Sinnpotenzials. Dann geht es um die kollektive Dimension, um die mental habits einer Epoche, und nicht um den spezifischen Habitus etwa eines Redners. Und schließlich handelt es sich auch um ein totalisierendes Konzept, das eine Reihe von Kulturphä­nomenen ursächlich erklären soll. Es ist ganz offensichtlich, dass es sich bei den mental habits um erworbene Disposi­tionen handelt, die gleichzeitig historisch verortet sind. Bourdieu hat nicht bloß Panofskys Werk ediert, sondern dazu auch ein umfangreiches Nachwort geschrieben, das 1970 in deutscher Version unter dem Titel »Der Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis« in dem Sammel­band Zur Soziologie der symbolischen Formen erschien. Schon der Titel macht ersichtlich, dass es nicht nur um eine Rekapitulation der Thesen von Panofsky geht. Bourdieu weist zunächst darauf hin, dass die Suche nach ei­nem Brennpunkt aller symbolischen Ausdrucksformen sich zumeist eher dem Intuitionismus »einer transzendenten oder mystischen Sinngebung« als einem wissenschaftlichen Impuls verdanke, der sich oft in einem Zirkelschluss zu ver-

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/ stricken drohe. Man finde eben das, was man schon in der Ausgangshypothese postuliert habe. Das heißt aber keines­wegs, dass auf den Vergleich verschiedener Bereiche der so­zialen Wirklichkeit im Namen eines engen Positivismus verzichtet werden muss. Der Vergleich - hier zwischen den scholastischen Denkgewohnheiten und gotischer Architek­tur - ist aber nur dann heuristisch fruchtbar, wenn man sich nicht an den Inhalten orientiert, sondern an den Formen, am Modus Operandi. Nach Panofsky darf man sich nicht auf den Phänomen sinn der Kunstwerke beschränken, sondern muss zum Bedeu­tungssinn vorstoßen. Der immanente Sinn kann nur dann er­fasst werden, wenn man ikonografische Bedeutungen oder Kompositionsverfahren als »kulturelle Symbole«, als Aus­druck der Kultur einer Nation oder einer Epoche deutet. Die ästhetischen und formalen Verfahren gewinnen erst im Lichte der höheren Schicht, die sie umgreift, ihre volle Be­deutung. Dieses Konzept, künstlerische Produkte als Ausdruck einer kollektiven Denkgewohnheit zu sehen, bedeutet zunächst einen Bruch mit der vorwissenschaftlichen künstlerischen Selbststilisierung des »schöpferischen Individuums« - als Ausdruck des künstlerischen Selbstverständnisses im Übri­gen erst seit der Romantik dominant -, das sich zum allei­nigen Ursprungsprinzip des Werkes erklärt. »Wer Individua­lität und Kollektivität zu Gegensätzen macht, bloß um den Rechtsanspruch des schöpferischen Individuums und das Mysterium des Einzelwerkes wahren zu können«, schreibt Bourdieu, »begibt sich der Möglichkeit, im Zentrum des In­dividuellen selber Kollektives zu entdecken; Kollektives in Form von Kultur - im subjektiven Sinn des Wortes cultivation oder Bildung oder, nach Erwin Panofskys Sprachgebrauch, im Sinne des Habitus, der den Künstler mit der Kollektivität und seinem Zeitalter verbindet und, ohne daß dieser es merkte, seinen anscheinend noch so einzigartigen Projekten Richtung und Ziel weist.« (Symbolische Formen, 132)

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Wenn hier das Habituskonzept zuerst an der künstlerischen Produktion erprobt wurde, die der Common Sense und die Produzenten selbst dem schöpferischen Genie, dem genia­len Individuum, und keineswegs kollektiven Denkgewohn­heiten zuweisen, dann wurde in dieser Testreihe gleich die extremste Position auf der Skala ausgewählt. Lässt sich beim künstlerischen Schaffen der Beweis der sozialen Be­dingtheit erbringen, so ist es umso leichter, die These auch für andere Formen des sozialen Handeins vorzulegen, die weniger exklusiv dem reinen individuellen Willen zuge­schrieben werden. Da aber diese Bedingtheit dem Bewusst­sein des Künstlers und meist auch dem Bewusstsein all derer entgeht, die derselben Kultur verhaftet sind, ist der Beweis der Bedingtheit in einem positivistischen Sinn nicht leicht zu erbringen. Das Gestaltungsprinzip, das das Schaffen im Bereich der Philosophie und der Kunst erklärt, geht indes auf eine Ins­titution zurück, die diesen Habitus formte, auf die Schule als verhaltensnormierende Instanz. (Symbolische Formen, 138) Panofsky gibt sich nicht mit vagen mystifizierenden Erklä­rungen wie »Zeitgeist« oder »einheitliche Weltanschauung« zufrieden, sondern identifiziert konkret eine Institution, die einheitliche Denk- und Handlungsweisen produziert.

»In einer Gesellschaft, in der eine Schule das Monopol der Vermitt­lung von Bildung innehat, finden die geheimen Verwandtschaften, das einigende Band der menschlichen Werte (und zugleich der Le­

bensführung und des Denkens) ihren prinzipiellen Nexus in der Institution der Schule, fällt dieser doch die Funktion zu, bewußt

(oder zum Teil auch unbewußt) Unbewußtes zu übermitteln oder, genauer gesagt, Individuen hervorzubringen, die mit diesem System

der unbewußten (oder tief vergrabenen) Schemata ausgerüstet sind, in dem ihre Bildung bzw. ihr Habitus wurzelt. Kurz, die ausdrück­liche Funktion der Schule besteht darin, das kollektive Erbe in ein sowohl individuell als auch kollektiv Unbewußtes zu verwandeln.« (Symbolische Formen, 139)

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Damit wird eine sehr alte Bedeutungsschicht des Habitus­begriffes reaktiviert, die ihn als dauernde Beschaffenheit ei­ner Person definiert, die nicht ursprünglich, sondern erwor­ben ist und so zu einer zweiten Natur wird. Die erworbenen Dispositionen werden zu einer zweiten Natur, weil der Ein­zelne sich dieser Inkorporation nicht mehr bewusst ist. Die zentrale Rolle der Schule ist nun gerade für die Scho­lastik - nomen est omen - evident, deren Gedankengebäude sich am Prinzip der schulischen Vermittlung, eines rein pä­dagogischen Imperativs orientierte, und zwar nicht bloß am Kommentar kanonischer Texte wie in den traditionellen Klosterschulen, sondern der disputatio und der Dialektik im Rahmen rivalisierender Denkschulen der Pariser Universität. Dieser historische Spezialfall des durch die Institution Schule im Zeitalter der Scholastik geformten Habitus ist indes nach Bourdieu auf andere Gesellschaften übertragbar, die die Institution Schule nicht kennen, in denen nach der Termi­nologie von Durkheim und Mauss den schon mehrmals er­wähnten »primitiven Formen der Klassifikation« dieselbe Funktion zukommt.

JJEine generative Grammatik der Handlungsmustefll

Wenn der Bildungsbestand bei Panofsky als Habitus bezeich­net werde, dann bedeute dies nicht, dass es sich um ein all­gemeines Repertoire von festen Antworten handle, sondern um eine Disposition, die eine Unzahl einzelner Schemata hervorzubringen vermöge. »In der Terminologie der genera­tiven Grammatik Noam Chomskys ließe sich der Habitus als ein System verinnerlichter Muster definieren«, schreibt Bour­dieu, »die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrneh­mungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen - und nur diese.« (Symbolische Formen, 143) Im selben Text spricht Bourdieu vom Habitus als einer »generativen Grammatik der Handlungsmuster«. Der Habitusbegriff wird so von Bourdieu über Chomskys generative Idee re interpretiert, um dergestalt

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die aktive, schöpferische Seite zu unterstreichen. Bourdieu betont in den späteren Gesprächen sehr stark den generati­ven, ja kreativen Aspekt seines Habitusbegriffs; viele Kritiker hätten sich indes eine mechanistische Vorstellung von einem »gegen den Mechanismus konstruierten Begriff« (Reflexive Anthropologie, 155) gemacht. In den ersten Definitionen des Habitusbegriffs, etwa im Ent­wurf einer Theorie der Praxis, ist aber eine gewisse Nähe zu einer deterministischen Sichtweise nicht abzustreiten. Das erklärt sich wohl auch aus der damaligen Dominanz des strukturalistischen Modells. Bourdieu konnte sich der Ein­sicht nicht verstellen, dass sich zahllose Handlungsvollzüge ähneln (vor allem innerhalb einer Gruppe) und dass sie trotz­dem nicht als bloßer Vollzug eines Befehls oder Anwendung einer Regel verstanden werden können. Der Habitusbegriff sollte aus dieser Aporie herausführen. Die leibhaftigen Ak­teure wollte Bourdieu eben durch die Einführung des Habi­tusbegriffs wieder ins Spiel bringen, den er im Entwurf einer Theorie der Praxis folgendermaßen bestimmte:

»Die für einen spezifischen Typus von Umgebung konstitutiven

Strukturen (etwa die eine Klasse charakterisierenden materiellen

Existenzbedingungen) , die empirisch unter der Form von mit einer

sozial strukturierten Umgebung verbundenen Regelmäßigkeiten

gefaßt werden können, erzeugen Habitusformen, d. h. Systeme dau­

erhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind,

als strukturierende Strukturen zu wirken, mit anderen Worten: als

Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxis formen und Repräsentationen, die objektiv >geregelt< und >regelmäßig< sein kön­

nen, ohne im geringsten das Resultat einer gehorsamen Erfüllung von Regeln zu sein.« (Entwurf, 164 f.)

Wichtig ist der Hinweis, dass es sich beim Habitus um struk­turierte Strukturen handelt, die so schon ein Produkt der Ver­gangenheit sind, die aber Vorstellungen und Handlungs­formen der Gegenwart prägen; diese Dispositionen wirken

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dauerhaft, was den Eindruck von Regelhaftigkeit erweckt, obwohl keine Regel als Ursprung auszumachen ist. Man fin­det eine fast identische Definition im acht Jahre später pub­lizierten Werk Sozialer Sinn (89f.). Für diese Regelmäßigkei­ten der Vorstellungs- und Handlungsmuster gebraucht Bourdieu oft auch das Bild eines Orchesters ohne Dirigenten oder ein Bild, das er Leibniz entlehnt: das von zwei Uhren, die vollkommen miteinander übereinstimmen, ohne dass sie von einer Person in jedem Augenblick gleich eingestellt wer­den. So können Praxisformen einer Gruppe oder Klasse ohne explizite Abstimmung im Einklang stehen, wobei die Handelnden selbst dies gar nicht wissen oder zumindest nicht mit Absicht so ausführen. Der Habitus bedeutet, dass sich frühere Erfahrungen in der Form von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata niederschlagen, die dann bei neuen Problemen in analoger Form übertragen oder modifi­ziert werden, was die Konstanz der Praktiken viel eher garan­tiert als formale Regeln oder Normen. Beim Habitus handelt es sich um ein erworbenes und nicht um ein angeborenes (»natürliches«) Erzeugungsschema; darum können alle Ge­danken, Wahrnehmungen und Handlungen frei hervorge­bracht werden, die innerhalb der Grenzen dieses Habitus (als der Hervorbringungsbedingung) liegen. »Da der Habitus eine unbegrenzte Fähigkeit ist, in völliger (kontrollierter) Freiheit Hervorbringungen - Gedanken, Wahrnehmungen, Äußerun­gen, Handlungen - zu erzeugen, die stets in den historischen und sozialen Grenzen seiner eigenen Erzeugung liegen, steht die konditionierte und bedingte Freiheit, die er bietet, der unvorhergesehenen Neuschöpfung ebenso fern wie der sim­plen mechanischen Reproduktion ursprünglicher Konditio­nierungen.« (Sozialer Sinn, 103) Das Konzept des Habitus er­laubt es, Freiheit zu denken, die aber nie eine absolute, sondern eine bedingte ist, was dann gleichzeitig den unbe­dingten Determinismus ausschließt.

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Der Habitus - ein Ergebnis der Sozialisation

Eine Art primärer Habitus wird im Laufe der Sozialisation in der Familie ausgebildet. Ein wichtiges Instrument der päda­gogischen Arbeit ist die Anerkennung durch den anderen, wodurch das Kind schon früh das Soziale verinnerlicht. Da­bei ist die Position, die die Familie im sozialen Raum ein­nimmt, entscheidend. Deren Dispositionen werden über­nommen und im Denken, Reden und Handeln reproduziert. Das Äußere wird verinnerlicht. Wir verinnerlichen Denk- und Handlungsweisen, die mit dem sozialen Status der Eltern in Zusammenhang stehen. Spätere Entscheidungen werden nicht auf der Basis einer rationalen Berechnung der Erfolgs­chancen getroffen, wie es die Theorien des Homo oecono­micus oder die Spieltheorie suggerieren. Der Habitus weckt Hoffnungen, die den objektiven Bedingungen entsprechen, die als Handlungs- und Denkschemata verinnerlicht werden. Diese Verinnerlichung vollzieht sich über ein ganzes Corpus halb formalisierter Weisheiten wie sprichwörtliche Redewen­dungen, Gemeinplätze und ethische Vorschriften (»Das ist nichts für uns«) sowie unbewusster Prinzipien, die über eine von Regelmäßigkeiten bestimmte Lehrzeit vermittelt werden, in der zwischen »vernünftigen« und »unvernünftigen« (»Ver­rücktheiten«) Verhaltensweisen unterschieden wird. Ein sekundärer Habitus wird durch die Sozialisation im Schulwesen ausgebildet, wo der primäre Habitus verstärkt oder auch modifiziert werden kann. Wenn im Habitus immer auch die Erfahrungen der Vergangenheit aufgehoben sind, so ist dieser doch nicht starr, sondern anpassungsfähig, selbst wenn die frühen Spuren stets prägend wirken. Dass Bourdieu selbst, der aus einer einfachen Postbeamtenfamilie bäuer­lichen Ursprungs stammte, mit der Professur am College de France die höchste akademische Stufe erklomm, wider­spricht nicht seiner Habitustheorie, die nun gerade nicht eine mechanische Determination durch das Milieu annimmt, son­derneine flexible Wirkung der frühen Prägung. Bourdieu

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stellte - wegen seiner Herkunft aus »bescheidenen« sozialen Verhältnissen, allerdings verknüpft mit einer ausgezeichne­ten Ausbildung - bei sich selbst einen »gespaltenen« Habitus fest, der ihn die Berufung ans College de France, die gleich­zeitig mit der Nachricht vom Tod seines Vaters eintraf, als eine »Mischung von Anmaßung und Verrat« wahrnehmen ließ. (Selbstversuch, 123)

Der Habitus als Generator von Lebensstilen

Der Habitus ist freilich nicht ausschließlich ein Klassenhabi­tus; eine solche These würde ja auch dem Anliegen wider­sprechen, die Akteure wieder ins Spiel zu bringen, die von den Strukturalisten als bloße Epiphänomene der Strukturen betrachtet wurden. Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken. Der indivi­duelle Habitus, der sich der Wahrnehmung unmittelbar dar­bietet und in der Form der Eigennamen gesellschaftlich iden­tifiziert wird, ist für Bourdieu eine Variante des Klassen- und Gruppenhabitus: »Jedes System individueller Dispositionen ist eine strukturale Variante der anderen Systeme, in der die Einzigartigkeit der Stellung innerhalb der Klasse und des Lebenslaufs zum Ausdruck kommt. Der >eigene< Stil, d. h. je­nes besondere Markenzeichen, das alle Hervorbringungen desselben Habitus tragen, seien es nun Praktiken oder Werke, ist im Vergleich zum Stil einer Epoche oder Klasse immer nur eine Abwandlung, weswegen der Habitus nicht nur durch Einhaltung des Stils [ ... ] auf den gemeinsamen Stil verweist, sondern auch durch den Unterschied, aus dem die >Machart< besteht.« (Sozialer Sinn, 113) Bourdieu hat Ende der 1970er und Anfang der 1980er Jahre die Ausprägungen des Habitus in der Form unterschiedlicher Lebensstile der sozialen Gruppen in Frankreich namentlich in seinem Buch Die feinen Unterschiede analysiert. Der Ha­bitus erscheint hier als Prinzip der Generierung von unter­schiedlichen und der Unterscheidung dienenden Praktiken:

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»Was der Arbeiter ißt und vor allem, wie er ißt, welchen Sport er treibt, welche politischen Meinungen er hat und wie er sie zum Ausdruck bringt, unterscheidet sich systematisch von den entsprechenden Konsum- und Verhaltens gewohnheiten der Unternehmer in der Industrie.« (Praktische Vernunft, 21) Der Habitus bringt aber nicht bloß unterschiedliche Hand­lungs- und Denkschemata hervor, sondern auch unterschied­liche Klassifikationsschemata der Handlungen der anderen. In den Feinen Unterschieden ging es Bourdieu nicht darum, aufzuzeigen, der Antrieb allen menschlichen Handeins sei die Suche nach dem Unterschied: »[ ... ] ein Unterschied, ein Unterscheidungsmerkmal, weiße Hautfarbe oder schwarze Hautfarbe, Taille oder Bauch, Volvo oder 2CV, Rotwein oder Champagner, Pernod oder Whisky, Golf oder Fußball, Klavier oder Akkordeon, Bridge oder Skat [ ... ], wird nur dann zum sichtbaren, wahrnehmbaren, nicht indifferenten, sozial rele­vanten Unterschied, wenn er von jemandem wahrgenommen wird, der in der Lage ist, einen Unterschied zu machen - weil er selber in den betreffenden Raum gehört und daher nicht indifferent ist [ ... ].« (Praktische Vernunft, 22)

Der Habitus als Produkt der Geschichte

Bourdieu betont auch beim Habitus stark die Dimension der Geschichtlichkeit; wenn die Strukturen oder Institutionen in Dingen objektivierte Geschichte sind, so ist der Habitus eine im Körper inkarnierte Geschichte - allerdings eine »zu Natur gewordene Geschichte, die als solche negiert, weil als zweite Natur realisiert wird« (Entwurf, 171). Bourdieu illustriert darum seine Habitustheorie auch durch Beispiele aus der Geschichte, indem er etwa auf die Analysen des Soziologen Norbert Elias (1897-1990) zur höfischen Gesellschaft in Frankreich verweist. Die Monarchie nimmt den Monarchen in Beschlag, der damit nicht mehr ein rein privates Leben führen kann gemäß einem Wort, das aus dem Privatrecht stammte: »Le mort saisit le vif« - »Der Tote packt den Leben-

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den« - ein Ausdruck aus dem französischen Erbrecht, der besagt, dass der Erbe unverzüglich mit Gütern und Würde ausgestattet werden muss, sodass in einem gewissen Sinn das Erbe vom Erben Besitz ergreift. Dementsprechend war ein Ludwig XIV. mit seiner Position im staatlichen Gravi­tationsfeld so eins, dass er spontan die Handlungen aus­führte, die seinem Erbe entsprachen. Der König ist die Mo­narchie. Wer aber neu ins Feld eintritt, verfügt nicht spontan über die erforderlichen Dispositionen, er ist nicht der »vom Erbe ge­erbte Erbe«; er muss seine Präsenz durch das entsprechende Verhalten legitimieren. Im 17. Jahrhundert gab es in Frank­reich eine ganze Reihe von Benimmbüchern, die dieses Ver­halten vermittelten, was auch belegt, dass das ideale Ver­halten als erlernbar angesehen wurde. Die »Eindringlinge« jedoch, die sich durch ihre Hyperkorrektheit als solche bloßstellten, werden in den klassischen Komödien (wie in Molieres Bürger als Edelmann) der Lächerlichkeit preisge­geben. Der Erbe zeichnet sich dagegen eher durch seine Lässigkeit, seine Unangestrengtheit aus. Wenn Bourdieu in den Feinen Unterschieden die Benimmbücher des 17. Jahr­hunderts zitiert, dann auch, weil er sich bewusst ist, dass die Form, die unangestrengte, scheinbar natürliche Verhaltens­weise bis heute in der französischen Gesellschaft das ist, was die soziale Distanz schafft. Der Begriff des Habitus vermag so die Tatsache zu überset­zen, dass ins individuelle Handeln das Soziale, die Soziali­sation, die Geschichte eingehen, dass diese Dispositionen nicht angeboren, sondern erworben sind, dass sie dem Ein­zelnen einen Spielraum innerhalb der Grenzen dieser Dispo­sitionen lassen, die aber gleichzeitig die Tendenz haben, sich zu reproduzieren:

»Der Habitus ist nicht das Schicksal, als das er manchmal hingestellt

wurde. Als ein Produkt der Geschichte ist er ein offenes Dispositio­nensystem, das ständig mit neuen Erfahrungen konfrontiert und da-

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'. ,

I I' i ,

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mit unentwegt von ihnen beeinflußt wird. Er ist dauerhaft, aber nicht unveränderlich. Dem ist allerdings sofort hinzuzufügen, daß es schon rein statistisch den meisten Menschen bestimmt ist, auf

Umstände zu treffen, die in Einklang mit denjenigen Umständen stehen, die ihren Habitus ursprünglich geformt haben, also Erfahrun­gen zu machen, die dann wieder ihre Dispositionen verstärken.« (Reflexive Anthropologie, 167f.)

Eine andere Ökonomie: die vier Kapitalarten

Unter dem Begriff des Habitus werden verkörperte Eigen­schaften des Sozialen verstanden, Dispositionen, die sich der Sozialisation verdanken und die bestimmte Handlungs- und Wahrnehmungsschemata generieren. Im Handeln werden aber auch Handlungsobjekte geschaffen. Um diese zu be­zeichnen, führt Bourdieu den Begriff »Kapital« ein, den er Marx entlehnt, aber nicht in einem marxistischen Sinn in­terpretiert. Bourdieu war mit den Thesen von Marx vertraut, war jedoch nie Marxist, vielmehr entlehnte er einzelne Konzepte bei Marx, wenn es ihm sinnvoll und nützlich er­schien. Der Kapitalbegriff wird von Bourdieu nicht in einem marxis­tischen Sinne verwendet, weil er ihn nicht ökonomisch im engeren Sinn definiert, oder anders gesagt: das ökonomische Kapital ist nur eine der möglichen Kapitalarten. Wenn er den Begriff »Kapital« übernimmt, dann vor allem wegen dessen formaler (und nicht inhaltlicher) Eigenschaften: Immer geht es um Akkumulationsstrategien, um die Transmission eines Erbes, um Gewinnschöpfung. Der Kapitalbegriff ist für Bourdieu ähnlich wie der Habitus­begriff mit Geschichtlichkeit verbunden. Die gesellschaftli­che Welt stellt nicht bloß einen statischen Gleichgewichtszu­stand dar, sondern ist akkumulierte Geschichte. Der Begriff der Kapitalakkumulation führt so die geschichtliche Tiefe in die Analyse ein. Die Kapitalaneignung ist gleichzeitig eine

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Aneignung von sozialer Energie in Form verdinglichter oder lebendiger Arbeit. Im Kapital ist aber auch eine gewisse Ge­setzmäßigkeit angelegt; darum verläuft das gesellschaftliche Leben, insbesondere das Wirtschaftsleben, nicht wie ein Glücksspiel, also nicht rein zufällig. Beim Glücksspiel gibt es keine Kontinuität, keine sukzessive Akkumulation oder Ver­erbung von erworbenen Besitztümern oder Eigenschaften. »Das Kapital ist eine der Objektivität der Dinge innewoh­nende Kraft, die dafür sorgt, daß nicht alles gleich möglich oder gleich unmöglich ist. Die zu einem bestimmten Zeit­punkt gegebene Verteilungsstruktur verschiedener Arten und Unterarten von Kapital entspricht der immanenten Struktur der gesellschaftlichen Welt, d. h. der Gesamtheit der ihr innewohnenden Zwänge, durch die das dauerhafte Funk­tionieren der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestimmt und über die Erfolgschancen der Praxis entschieden wird.« (Ver­borgene Mechanismen, 50)

Die Kapitaltheorie als Teil einer allgemeinen Ökonomie des HandeIns

Man muss den Begriff des Kapitals in allen seinen Erschei­nungsformen betrachten. Die Wirtschaftstheorie habe sich ihren (engen) Kapitalbegriff von einer ökonomischen Praxis aufzwingen lassen, die eine historische Erfindung des Kapi­talismus sei. Dieser Kapitalbegriff reduziere die gesellschaft­lichen Austauschverhältnisse auf den bloßen Warenaus­tausch, der vom ökonomischen Eigennutz geleitet ist. Alle anderen Formen des sozialen Austauschs erscheinen dann als uneigennützige Beziehungen, die keiner Ökono~ie ge­horchen. Bourdieu geht es nun gerade darum, eine Okono­mie des Handeins zu entwerfen, was aber nie im engen wirt­schaftlichen Sinn gemeint ist. Für ihn gibt es auch im Bereich der sozialen oder kirchlichen Arbeit keine selbstlosen, inter­essefreien Akte; ein bestimmter Habitus entfaltet sich hier in einem Feld, in dem Selbstlosigkeit geachtet und somit auch

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belohnt wird - und sei es bloß durch eine symbolische Be­lohnung oder durch »Gottes Lohn«. Eine wirklich allgemeine Wissenschaft der Praxis muss in der Lage sein, alle die Praxis formen mit einzubeziehen, die einer Ökonomie ge­horchen, aber als solche im gesellschaftlichen Leben nicht erkannt werden oder das Ökonomische im engeren Sinne gerade verneinen. Es ist darum völlig falsch, Bourdieu Ökonomismus zu unter­stellen, wie das besonders bei deutschen Kommentatoren der Fall ist, etwa bei Axel Honneth, der Bourdieus Ansatz von reinen Utilitarismen bestimmt sieht8; es geht Bourdieu ge­rade darum, die Vielzahl der Handlungen nicht auf eine wirt­schaftliche Logik zu reduzieren. Die Rationalität einer all­gemeinen Ökonomie des Handeins wird bestimmt durch die formalen Charakteristika, die eine abstrakte Kapitaltheorie herausgearbeitet hat. Diese universelle Dynamik ist in den vier Kapitalarten am Werk, die Bourdieu unterscheidet: 1. das ökonomische Ka­pital, das unmittelbar in Geld konvertierbar ist (Erbschaft, materielle Güter, Produktionsmittel) und das sich besonders gut für die Institutionalisierung in der Form des Eigentums­rechts eignet; 2. das kulturelle Kapital, also die intellektuelle Qualifikation, die man durch das familiäre Milieu »mit­bekommen« hat und die durch schulische Titel institutiona­lisiert wird; 3. das soziale Kapital, das heißt das Kapital an sozialen Verpflichtungen und Beziehungen; 4. das symboli­sche Kapital, mithin das Ansehen, das mit dem Besitz dieser oder jener Kapitalsorte einhergeht.

Das kulturelle Kapital

In zahlreichen Untersuchungen hat sich Bourdieu der im­mensen Bedeutung des kulturellen Kapitals gewidmet. Er griff bei der Konstruktion des kulturellen Kapitals auf Max Webers Unterscheidung von »Klassenlage« (der »Marktlage« entsprechende Chancen auf dem Güter- und Arbeitsmarkt)

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und »Klassenstand« (der »Stellung« in der Hierarchie von Ehre und Prestige) zurück. Neben den ökonomischen Un­terschieden spielen auch symbolische Unterscheidungen eine Rolle, bei denen es nicht mehr bloß um den Besitz von Gütern geht, sondern um die Art, sie zu verwenden und als Mittel der Distinktion einzusetzen. Die Manier, die Form einer Handlung oder der Umgang mit einem Gegenstand, tritt an die Stelle der Funktion: »Daher besitzen von allen Unterscheidungen diejenigen das größte Prestige, die am deutlichsten die Stellung in der Sozialstruktur symbolisieren, wie etwa Kleidung, Sprache oder Akzent und vor allem die >Manieren<, Geschmack und Bildung. Denn sie geben sich den Anschein, als handelte es sich um Wesenseigenschaften einer Person, ein aus dem Haben nicht ableitbares Sein, eine Natur, die paradoxerweise zu Bildung, eine Bildung, die zu Natur, zu einer Begnadung und einer Gabe geworden seien.« (Symbolische Formen, 60) Nicht so sehr der Besitz ökonomischen Kapitals, sondern mehr noch der des kulturellen Kapitals macht den entschei­denden Unterschied in der Ansehenshierarchie aus. Bour­dieu unterscheidet dabei zwischen drei Formen des kultu­rellen Kapitals; es kann existieren: a) im verinnerlichten, inkorporierten Zustand, in Form von dauerhaften Disposi­tionen, b) im objektivierten Zustand, in Form von kulturellen Gütern wie Bildern oder Büchern, in denen bestimmte Theo­rien und Gegentheorien Spuren hinterlassen haben, und schließlich c) im institutionalisierten Zustand in der Form von Stellen und Titeln, die einen besonderen Besitz von kul­turellem Kapital offiziell bestätigen. a) Inkorporiertes kulturelles Kapital: Auch hier trennt Bour­dieu nicht zwischen Bewusstsein und Körperlichkeit. In sei­nen Augen ist das kulturelle Kapital auch körpergebunden (»inkorporiert«); es ist das Produkt einer Verinnerlichung. Der Erwerb von Bildung ist ein Prozess, der Zeit kostet. Diese Zeit muss der Einzelne persönlich investieren, er kann diese Aufgabe nicht delegieren. Der Faktor der Zeit spielt hier eine

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nicht unwichtige Rolle: Die schon in der Primärerziehung erworbene Bildung stellt gewonnene Zeit dar; die in diesem Alter nicht erworbene Bildung ist in doppeltem Sinne ver­lorene Zeit, weil das Verlorene überdies später nachgeholt werden muss. An der Gesamtdauer des Bildungserwerbs lässt sich so das Volumen des Bildungskapitals in etwa mes­sen. Die in der familiären Primärerziehung und der an­schließenden schulischen Sekundärerziehung erworbene Bildung wird zu einem Bestandteil der Person, »den man ihr nicht wegnehmen kann«; dieser verinnerlichte Besitz kann darum im Unterschied zum Geld oder zu Adelstiteln nicht durch Geschenk, Vererbung oder Tausch unmittelbar weiter­gegeben werden. Indirekt wirkt sich der Besitz von kulturel­lem Kapital schon innerhalb einer Familie aus; Bourdieu spricht hier von einer unsichtbaren »sozialen Vererbung«. (Kultur, 114) Entscheidend ist auch der Seltenheitswert des jeweiligen kulturellen Kapitals (Hochschulabschluss in einem Land mit niedriger Abiturientenquote, Lesekompetenz in einer wenig alphabetisierten Region), aus dem sich Extraprofit ziehen lässt. Dieser Seltenheitswert wird erhalten, weil nicht alle Familien über die Mittel verfügen, um ihre Kinder über die Schulpflicht hinaus ausbilden zu lassen. So wird auch durch diese Kapitalform Ungleichheit geschaffen beziehungsweise verstärkt. Die Übertragung von Kulturkapital ist nach Bour­dieu die am besten verschleierte Übertragung von Kapital. Wenn die sichtbaren Formen der Übertragung des (ökono­mischen) Kapitals sozial missbilligt werden, gewinnen große Investitionen in die individuelle Bildung und Ausbil­dung an Gewicht, um die bestehenden Verhältnisse auf­rechtzuerhalten. Die Verbindung zwischen dem ökonomi­schen und dem kulturellen Kapital stellt die Zeit dar (»Zeit ist Geld«). Man muss über ökonomisches Kapital verfügen, um den Bildungsprozess möglichst früh einsetzen zu las­sen und bis zu einem optimalen »Abschluss« ausdehnen zu können.

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b) Objektiviertes kulturelles Kapital: Objektiviertes kultu­relles Kapital - Bücher, Bilder - ist materiell übertragbar wie ökonomisches Kapital. Man kann das materielle Substrat ver­kaufen; es handelt sich aber um sogenannte symbolische Güter, deren Wert sich nicht auf den materiellen Wert des Substrats reduzieren lässt; diese Güter sind gleichzeitig Bedeutung. Um diese Bedeutung erfassen oder entziffern zu können, muss man über Bildungskapital, das heißt inkor­poriertes kulturelles Kapital verfügen. Der Eigentümer muss selbst das für die Aneignung und »Nutzung« der symbo­lischen Güter erforderliche inkorporierte Kulturkapital er­werben oder sich auf die Dienste von Inhabern eines solchen Kapitals stützen. Diese Aufgabe kommt heute oft Intellek­tuellen zu, die nicht über den ökonomischen Besitz, wohl aber über eine Deutungskompetenz verfügen. Diese sind so gleichzeitig Beherrschte und Herrschende. Nach Bourdieu scheint alles darauf hinzudeuten, dass »die kollektive Macht der Inhaber von Kulturkapital - und damit auch die für seine Beherrschung erforderliche Qualifikationszeit - zunimmt. Dem steht allerdings entgegen, daß die Inhaber von öko­nomischem Kapital (als der dominierenden Kapitalform) die Inhaber von kulturellem Kapital in eine Konkurrenzsituation bringen können.« (Kultur, 117 f.) Nach Bourdieu darf man aber nicht vergessep, dass das ob­jektivierte Kulturkapital nur dann symbolisch aktiv ist, wenn es von Handelnden angeeignet und genutzt, das heißt inter­pretiert oder instrumentalisiert wird. Die Partitur wird erst dann zu einem »Wert«, wenn sie vom Orchester interpretiert, die Skulptur dann, wenn sie ausgestellt oder gedeutet, das Buch dann, wenn es gelesen wird. Die Gewinne richten sich dabei nach der Beherrschung dieses-objektivierten Kapitals, folglich nach dem Grad des inkorporierten Kapitals. Weil die Aneignung der Kulturgüter Anlagen und Kompetenzen vor­aussetzt, die ungleich verteilt sind (obwohl scheinbar ange­boren), bilden diese Werke nach Bourdieu »den Gegenstand einer exklusiven (materiellen oder symbolischen) Aneig-

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nung, und weil ihnen die Funktion von (objektiviertem oder inkorporiertem) kulturellen Kapital zukommt, sichern sie einen Gewinn an Distinktion - im Verhältnis zum Selten­heitsgrad der zu ihrer Aneignung notwendigen Instrumente -und einen Gewinn an Legitimität, den Gewinn überhaupt, der darin besteht, sich so, wie man ist, im Recht, im Rahmen der Norm zu fühlen« (Unterschiede, 359). Die anerkannte »legitime« Kultur wirkt so aufgrund ihrer Distinktionsqualität in Klassengesellschaften als Herrschaftsinstrument, während in klassenindifferenten Gesellschaften Kultur allen zugäng­lich ist und deshalb nicht diese Funktion ausübt. e) Institutionalisiertes kulturelles Kapital: Das institutiona­lisierte kulturelle Kapital existiert in Form von Titeln und Stellen, beispielsweise Schul- oder Universitätsabschlüssen. Diese von offiziellen Institutionen verliehenen Ausweise er­worbener Bildung geben dieser einen juristisch garantierten Wert. Der Titel oder das Examen schafft eine scharfe Grenze zwischen dem, der »bestanden« hat und dessen kulturelle Kompetenz ein für alle Mal garantiert scheint, und dem, der nicht ausgezeichnet (mit anderen Worten: stigmatisiert) wurde oder als Autodidakt seine Kompetenz ständig unter Beweis stellen muss. Der Erwerb von schulischen Titeln setzt die Investition von Zeit voraus und damit auch von ökono­mischem Kapital, das in kulturelles verwandelt wird, in der Hoffnung, dass sich dieser Prozess wieder umkehrt und der schulische Titel auf dem Arbeitsmarkt materielle und sym­bolische Gewinne abwirft. Bourdieu hat die Hypothese des kulturellen Kapitals entwi­ckelt, um die Ungleichheit der schulischen Leistungen von Kindern aus unterschiedlichen sozialen Klassen aus einem sozialen Kontext (unterschiedliche Ausstattung mit kultu­rellem Kapital) und nicht bloß über die individualistische naturalistische These der Begabung zu erklären. Gleichzeitig richtet er sich gegen den Begriff des Humankapitals, den Ökonomen wie Gary Becker entwickelt haben. Bourdieu kri­tisiert die ökonomistische Ausrichtung des Humankapital-

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begriffs, den im Übrigen die Gesellschaft für deutsche Spra­che zum Unwort des Jahres 2004 erklärte, weil die Menschen dadurch nur mehr als »ökonomisch interessante Größen« verstanden würden. Bourdieu stellt seinerseits fest, die Hu­mankapitaltheorie messe die schulischen Investitionen nur an den Profiten, die sich in Geld ausdrücken lassen. Die Humankapitaltheoretikerwürden vor allem die am besten verborgene und sozial wirksamste Bildungsinvestition un­berücksichtigt lassen: die »Transmission kulturellen Kapitals in der Familie« (Kultur, 113).

Das soziale Kapital

Mit dem Begriff »soziales Kapital« bezeichnet Bourdieu »die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netze,s von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens und Anerkennens verbunden sind [ ... ] es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen.« (Verborgene Mechanismen, 63) Es geht hier um ein Prinzip von sozialen Wirkungen, die sich auf der Ebene der individuell Handelnden feststellen lassen, die aber mehr sind als die Summe der individuellen Eigenschaften der Handelnden. Diese Wirkungen werden dann sichtbar, wenn Akteure mit gleichwertiger ökonomischer oder kultureller Kapitalausstattung unterschiedliche Profite erzielen, weil sie in unterschiedlichem Maße das Kapital einer Gruppe (Fami­lie, Ehemaligen-Vereinigungen, Klubs) mobilisieren können. Diese Sozialkapitalbeziehungen existieren nur auf der Grundlage von Tauschbeziehungen, die sich stets erneuern. Aus der Zugehörigkeit zur Gruppe ergeben sich sowohl ma­terielle wie symbolische Profite; aus dieser Zugehörigkeit können sich freilich auch dauerhafte Verpflichtungen er­geben, die auf subjektiven Gefühlen oder auf Rechtsansprü­chen beruhen. Das soziale Kapital der Gruppe äußert sich nicht nur in der Förderungs- und Solidaritätsverpflichtung,

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sondern auch im abgestimmten Ausschluss Gruppenfrem­der. Das soziale Kapital kann so die Wirkung der beiden anderen Kapitalarten verstärken. Bourdieu geht es immer darum zu ermitteln, über welche - oft verborgenen - Mechanismen die bestehenden Ungleich­heiten erhalten oder verstärkt werden. Exemplarisch zeigt er das in seinen Untersuchungen der Eliten in Frankreich auf, die wie kaum anderswo über fest etablierte Assoziationen verfügen, mit einem ausgeprägten Korpsgeist, der über die stark selegierenden Ausbildungswege der Eliteschulen und eine ähnliche soziale Herkunft geschaffen wird. Auch Be­nehmen und Sprechweise lassen sich in einem gewissen Sinn dem Sozialkapital zurechnen, da sie auf unbestimmte Weise auch die Zugehörigkeit zu einer mehr oder weniger angese­henen Gruppe anzeigen.

Die Bedeutung des Kultur- und Sozialkapitals für den Bildungserfolg

Die entscheidende Bedeutung des (familiären) Kultur- und Sozialkapitals hat Bourdieu vor allem in seinen Untersuchun­gen zum Bildungswesen oder besser gesagt zum ungleichen Zugang zur Bildung analysiert. Er wendet sich dagegen, schu­lischen Erfolg allein aus der Begabung der Schüler zu erklä­ren; darin sieht er vor allem eine NaturaliSierung des Sozia­len, denn alle Statistiken belegten einen Zusammenhang zwischen schulischem Erfolg und sozialem Ursprung. Wenn (1966) 96,6 Prozent der Arbeiterkinder kein Hochschulstu­dium aufnahmen, indes 41,3 Prozent der Kinder von Freibe­ruflern an einer Hochschule studierten, dann ist der Beruf des Vaters wohl nicht der Grund dafür, wohl aber ein Indikator der sozialen Bedingtheit des Zugangs zum (höheren) Bil­dungswesen. Mit seinen bildungssoziologischen Analysen, die er zusam­men mit Jean-Claude Passeron veröffentlichte (Les Heritiers, 1964; La Reproduction, 1971), zerstörte Bourdieu den jakobi-

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nischen Mythos der per se emanzipatorischen Funktion des Bildungswesens. Frankreich hatte sich mit dem anonymen Aufnahmeverfahren (concours) und der Einführung der all­gemeinen Schulpflicht schon relativ früh für ein meritokra­tisches Prinzip der sozialen Reproduktion entschieden, wäh­rend in anderen Ländern viel länger eine aristokratische Form der sozialen Reproduktion erhalten blieb. Das französische Bildungssystem hat aber de facto nicht zu einer größeren so­zialen Gleichheit geführt, denn das schulische Selektionssys­tem funktioniert entlang der bestehenden sozialen Hierar­chien. Die Aufnahmeprüfungen stehen wohl allen offen, sind aber so aufgebaut, dass die Jugendlichen aus einem kulturell und ökonomisch begünstigten Milieu leichter Erfolg haben. In seinen Studien ermittelt Bourdieu die entscheidende Be­deutung von familiärer Sozialisation und sozialem Hinter­grund. Das scheinbar gerechte Aufnahmeverfahren ignoriert die kulturellen Ungleichheiten, die Kinder unterschiedlicher Klassen voneinander trennen. Die schulische Demokratie setzt eine ökonomische und soziale Demokratie voraus, die, de facto nicht existiert. Die Analysen Bourdieus haben den Beweis für die Abhän­gigkeit des Schulerfolgs vom Bildungsniveau der Eltern ge­liefert. Das kulturelle Erbe werde innerhalb der gebildeten Schichten quasi osmotisch übertragen, sodass den Angehö­rigen dieser Schichten die Kenntnisse, Fähigkeiten und Ein­stellungen nicht als das Resultat von Lernprozessen erschie­nen, sondern als eine Sache der Begabung. Wie wenig »neutral« die Bildungsinstitution ist, konnte Bour­dieu den Ausleseschemata der französischen Elitehoch­schulen entnehmen. Dort gehe es nicht bloß um die Beherr­schung von Inhalten, sondern auch um einen Stil, der letztlich auf das Ideal des Honnete Homme aus dem absolu­tistischen Frankreich zurückgeht. In Deutschland wurden Kapitel aus den beiden bildungs­soziologischen Untersuchungen unter dem Titel Die Illusion der Chancengleichheit (1971) veröffentlicht, was irreführend

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war, weil Bourdieu nicht die Idee der Chancengleichheit per se als Illusion betrachtet. Er hat lediglich aus den empiri­schen Untersuchungen geschlossen, dass Schule und Hoch­schule in ihrer bestehenden Form den selbst gesetzten An­spruch auf Chancengleichheit nicht einlösen. Der Vorwurf der Resignation und des Fatalismus, den er sich damit ein­handelte, war fehl am Platze. Und das umso mehr, da Bour­dieu und seine Equipe konkrete Vorschläge entwickelten, um Kindern schon in der Vorschule die kulturellen Erfahrungen zu vermitteln, die Kinder aus begünstigten Klassen von zu Hause mitbringen.

Ein neuer Staatsadel

Bourdieu hat sich auch später noch bildungssoziologischen Themen gewidmet, so etwa der Struktur des französischen universitären Feldes, dessen spezifische Morphologie gerade in der Zeit der Krise von 1968 sichtbar wurde. In Homo Aca­demicus (1984) und in der sehr umfangreichen Untersu­chung La Noblesse d'Etat (1989) analysiert er die Elitehoch­schulen (Grandes Ecoles). Die Führungselite, die aus diesen Schulen hervorgeht, stellt eine Art Oligarchie a la franr;aise dar, die Abschlussexamina sind quasi eine offizielle Legiti­mierung des Führungsanspruchs des Pariser Großbürger­tums. Pierre Bourdieu spricht in diesem Zusammenhang vom neuen Staatsadel. Er ist nicht davon überzeugt, dass die höhere Anzahl von Universitätsabsolventen zu einer wirk­lichen Demokratisierung der Eliten führt. Das Bildungssys­tem trennt mithilfe einer ganzen Reihe von Auslesevorgän­gen die Besitzer von ererbtem kulturellem Kapital von den Nichtbesitzern. Indem ein Bildungssystem wie in Frankreich eine scharfe Trennung zwischen den Schülern der Grandes Ecoles und den Universitätsstudenten vornimmt, errichtet es soziale Grenzen, die sich nicht sehr unterscheiden von den Grenzen, die einst den Hochadel vom niederen Adel und die­sen von den Nichtadligen trennten.

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Die sozialen Bedingungen kultureller Praktiken

Die in der Schule vermittelte Kultur ist keineswegs etwas Neutrales. Sie steht der Kultur der Herrschenden nahe und erhält eben durch die schulische Vermittlung Legitimität. Kultur ist nicht bloß im Hinblick auf den Zugang zum Bil­dungs system sozial bestimmt, dies gilt vielmehr. auch ~n Bezug auf die kulturellen Praktiken generell. HIer greIft Bourdieu auf den Begriff der Legitimität von Max Weber zu­rück. »Legitimität« meint nicht ein objektives Werturteil, sondern den mehr oder weniger hohen Status, den man einer kulturellen Praxis innerhalb einer sozial hierarchisierten Ge­sellschaft zuschreibt. Das hat Bourdieu zusammen mit sei­nen Mitarbeitern in seiner frühen Arbeit über die Fotografie aufgezeigt, die unter dem bezeichnenden Titel ~ine illegiti~e Kunst erschien. In dieser Schrift wird deuthch, dass dIe Fotografie eine sozial bedingte kulturelle Praxis ist. Für die Angehörigen der Unterschicht gehorcht sie nicht einer kantischen Ästhetik des »interesselosen Wohlgefallens«, sie' folgt einem Interesse: Sie soll eine Funktion erfüllen, sie soll gefallen und die Kohärenz der eigenen ~ruppe ~e.legen -darum werden bei Festen oder in den Fenen FamIhenfotos gemacht. Die Vertreter der Mittelschicht be.dienen .~ich gleichfalls dieser kulturellen Praktiken, wollen sIch aber uber formale Kriterien vom rein inhaltlichen Fotoverständnis des »einfachen Volks« abheben, während Angehörige der Ober­schicht sich eher durch den Verzicht auf eine kulturelle Praxis »auszeichnen«, die allen offensteht und vor allem in-

haltlich bestimmt ist. Gerade umgekehrt verhält es sich beim Museumsbesuch, dem Bourdieu und sein Team 1966 ebenfalls eine Untersu­chung widmeten (Lamour de ['art). Hier geht es um den un­gleichen Zugang zur »legitimen« Kultur, die ~ederum .. auf eine ungleiche Verteilung des kulturellen KapItals zuruck­zuführen ist. Bourdieu wendet sich auch hier gegen die Ideo­logie eines angeborenen Kunstsinns. Die Werke der Kunst

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müssen gedeutet und entziffert, die Schlüssel zur Deutung vermittelt und erlernt werden; dies geschieht bei denjenigen, die mit großem (objektiviertem) kulturellem Kapital ausge­stattet sind, schon zu Hause, in der Primärsozialisation, was ihnen zumindest einen zeitlichen Vorsprung verschafft. Die Ideologie der angeborenen intellektuellen Begabung oder des angeborenen Kunstsinns stützt die bestehende so­ziale Ordnung, das heißt die Ungleichheit, die dann als etwas Natürliches erscheint. Das kulturelle Kapital ist aber immer relational; die einzelnen kulturellen Praktiken oder Objekte haben keine objektiven Bedeutungen, sondern spezifische je nach Maßgabe ihrer sozialen Gebrauchsweise. Jazz kann so durchaus als Distinktionsinstrument und klassische Musik wie die »Vier Jahreszeiten« von Vivaldi als Hintergrundsound im Warenhaus verwendet werden. Auf der Basis seiner relationistischen Vorstellung der unter­schiedlichen Kapitalarten vermochte dann Bourdieu 1979 eine umfassende Sozialstrukturanalyse der französischen Gegenwartsgesellschaft vorzulegen, die auf Deutsch unter dem Titel Die feinen Unterschiede erschien. Das bedeutete einen Bruch mit der marxistischen Sichtweise, die die Ge­samtgesellschaft über die letztinstanzliche Determination durch das Ökonomische und die Klassenzugehörigkeit aus­schließlich durch den Platz der Akteure im Produktionspro­zess bestimmte.

Die soziale Welt wird von Bourdieu als multidimensionaler Raum verstanden, innerhalb dessen Positionen durch Nähe und Entfernungen bestimmt werden. Die Akteure verteilen sich auf der ersten Raumdimension je nach Umfang ihres Kapitals, auf der zweiten je nach der Struktur des Kapitals und auf der dritten Ebene je nach dem Alter des Kapitals (alt­reich, neureich). Auf einer vertikalen Koordinate lässt sich so das Volumen des Gesamtkapitals anzeigen. Auf einer hori­zontalen Koordinate kann man die Struktur des Kapitals an­z~igen (vorwiegend kulturelles oder ökonomisches Kapital). Eme dritte, räumliche Dimension muss sowohl für die Struk-

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tur wie für den Umfang des Kapitals anzeigen, ob es sich um ein Erbe handelt, das weit zurückreicht, oder ob es in jüngster Zeit erworben wurde. Gemäß der ersten Dimension stehen die Besitzer eines um­fangreichen Gesamtkapitals - etwa Unternehmer, Angehö­rige freier Berufe, Hochschullehrer - im Gegensatz zu den mit geringem ökonomischem und kulturellem Kapital aus­gestatteten Gruppen. Unter dem Gesichtspunkt der Struktur des Kapitals stehen beispielsweise Hochschullehrer (die rei­cher an kulturellem als an ökonomischem Kapital sind) im Gegensatz zu den Unternehmern. Die Intellektuellen gehö­ren nach Bourdieu wegen ihres umfangreichen kulturellen Kapitals zum Feld der Macht, aber nicht zu den Herrschen­den, weil sie nicht über das entscheidende ökonomische Ka­pital verfügen; sie sind die »Beherrschten der herrschenden Klasse«, was ihre oft ambivalente Haltung erkläre. Der Raum der sozialen Positionen, der durch das Volumen, die Struktur und das Alter der verschiedenen Kapitalsorten bestimmt wird, manifestiert sich im Raum der Lebensstile, . die sich in den spezifischen kulturellen Praktiken äußern. Denn die Symbolsysteme bringen auch Herrschaftsbezie­hungen zum Ausdruck. Die kulturellen Ausdruckssysteme strukturieren sich in einer Hierarchie, die die kulturelle Legi­timität in ihren Abstufungen definiert. Der Sphäre der Legiti­mität mit universellem Anspruch werden klassische Musik, Malerei, Skulptur, Literatur und Theater zugerechnet, die durch Instanzen der Legitimation wie Universitäten oder Akademien sanktioniert werden. Am anderen Pol situieren sich die Sphären, die dem individuellen Belieben anheimge­stellt sind, wie die Inneneinrichtung einer Wohnung, die Kosmetik, die Kleider und die Küche. Hier gibt es bloß »ille­gitime« Legitimierungsinstanzen (Werbung, Haute Couture ). Zwischen diesen beiden Polen findet sich die Sphäre der kon­kurrierenden Legitimationsinstanzen, Praktiken, die weder strengen Regeln noch rein individuellem Geschmack gehor­chen: Film, Fotografie, Tanz, Chanson.

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Über die Positionen im sozialen Raum (bestimmt über Vo­lumen, Struktur und Alter der Kapitalarten) , über die durch die Sozialisation bestimmten Dispositionen (Habitusformen) und schließlich über die konkreten Äußerungen durch die unterschiedlichen Lebensstile (bestimmt durch mehr oder weniger legitime Kulturpraktiken) lassen sich die groben Klassenvorstellungen erheblich nuancieren, da in jeder Klassenfraktion ganz unterschiedliche Kapitalkombinatio­nen möglich sind. Über die genannten Unterscheidungskri­terien lassen sich bestimmte Klassen konstruieren, die aber für Bourdieu theoretische Klassen bleiben, Produkte eines Klassifizierungsvorgangs. Hier liegt eine Bruchstelle zur marxistischen Tradition, die die konstruierte Klasse mit der realen Klasse gleichsetzt oder die, um den Vorwurf von Marx gegenüber Hegel aufzugrei­fen, die Sache der Logik mit der Logik der Sache identifiziert. Gerade in Gesellschaften, in denen sich achtzig Prozent der Mittelklasse zurechnen, wird die Abgrenzung durch unter­schiedliche Lebensstile unabdingbar. Es entstehen neue the­oretische Klassen, die mit dem alten substanzialistischen Klassenschema nichts zu tun haben. Auch in den sowjeti­schen Ländern, die dem Mythos der klassenlosen Gesell­schaft huldigten, bildeten sich, wie Bourdieu noch anlässlich eines Vortrags in Ostberlin im Jahre 1989 ausführte, »feine Unterschiede« - durch die Partizipation am »politischen Ka­pital«, das eine private Nutzung öffentlicher Güter und pri­vilegierten Zugang zur Bildung ermöglichte.

Das symbolische Kapital

Das symbolische Kapital ist keine weitere Kapitalsorte, ge­meint ist vielmehr das Ansehen, das Prestige, die Ehre, die der Besitz dieser oder jener Kapitalsorte in einem spezifi­schen Bereich einbringt; es ist die »wahrgenommene und als legitim anerkannte Form der drei [ ... ] Kapitalien« (Raum, 11). Das symbolische Kapital ist besonders wichtig, weil es

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die Bedeutung der jeweils anderen Kapitalsorten verstärkt, weil es die Anerkennung durch die Gemeinschaft betont. Das institutionalisierte kulturelle Kapital, das durch ein Diplom, einen Studienabschluss belegt wird, kann eine symbolische Macht ausüben, die man nicht allein auf das inkorporierte Kapital des Diplomierten zurückführen kann. Die Hierarchie der Kapitalsorten variiert jedoch von einem Bereich zum anderen. Das symbolische Kapital wahrt seine Wirkkraft nur innerhalb eines spezifischen Feldes und ist darum kaum in ein anderes Feld transferierbar. Das Ansehen etwa, das ein Individuum im politischen Feld genießt, verhilft ihm nicht zu einem analogen Ansehen im literarischen Feld. Das symbolische Kapital lässt die realen Unterschiede über einen Prozess der symbolischen Transfiguration als natür­lich als selbstverständlich erscheinen. Das Renommee, das pre~tige, die Ehre verleihen der Macht eine Art Evidenz. Die Akteure setzen dabei ihr symbolisches Kapital ein, um ihre Sicht der sozialen Welt durchzusetzen. Sie besitzen Macht proportional zum Umfang ihres symbolischen Kapi­tals, das heißt proportional zum Maß ihrer Anerkennung durch die Gruppe. Das symbolische Kapital verleiht vor allem eine Benennungsmacht. Die Logik der offiziellen Nomina­tion manifestiert sich sehr anschaulich über den Adels-, Bil­dungs- oder Berufstitel, der als ein institutionalisiertes kul­turelles Kapital nicht nur legitim ist, sondern als juristisch abgesicherte Bezeichnung auch legal ist, mithin ein symbo­lisches Kapital darstellt. Die Bedeutung dieser Nomination erklärt auch, dass soziale Akteure für eine Position optieren können, die großes Prestige bringt, zuungunsten einer Posi­tion, die ökonomisch rentabler, aber weniger prestigereich

wäre.

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Symbolische Gewalt

Das symbolische Kapital ist auch die Basis für das, was Bour­dieu »symbolische Gewalt« nennt. Auf der Basis der Auto­rität, des Prestiges des Mandatsträgers kann eine Ordnung als legitim, normal und natürlich empfunden werden, wo­durch kaschiert wird, dass sie auf Machtverhältnissen be­ruht. Die symbolische Gewalt ist im Unterschied zur phy­sischen unsichtbar; sie führt dazu, dass sie von den Be­herrschten akzeptiert wird, ohne dass sie sich dessen bewusst sind. Denn im Prozess der Sozialisierung wird diese Ordnung internalisiert. Bourdieu zitiert in diesem Zusam­menhang David Hume (1711-1776): »Nichts ist für diejenigen erstaunlicher, die die menschlichen Dinge mit einem philo­sophischen Auge betrachten, als die Leichtigkeit zu sehen, mit der die Mehrheit (the many) von der Minderheit (the few) regiert wird, und die Unterwürfigkeit zu beobachten, mit der die Menschen ihre eigenen Gefühle und Leidenschaften zugunsten ihrer Führer verleugnen.« (Meditationen, 228) Im Unterschied zu Foucault sieht Bourdieu Herrschaft nicht so sehr als Produkt von Disziplinierung oder Dressur, son­dern als Folge der symbolischen Gewalt, die darum so wirk­sam ist, weil sie nicht wahrgenommen wird; es wird nicht wahrgenommen, wie sich die subjektiven Strukturen unbe­wusst an die objektiven Strukturen anpassen. Für Bourdieu gibt es zwei Formen der Herrschaft: die eine, die auf nackter Gewalt - der Waffen oder des Geldes - beruht , und die symbolische Gewalt, die viel subtiler und weniger sichtbar ist. Beide Formen der Herrschaft schaffen ein Ver­hältnis der Abhängigkeit, der Unterwerfung, für das es keine Rekursinstanz gibt. Die verkannte symbolische Gewalt äu­ßert sich als Verpflichtung, als Erkenntlichkeit, als Schuldig­keit, der man sich nicht entziehen kann. Nach Bourdieu ist die sanfte Gewalt ein wirkungsvolles Mittel bei der Erziehung der Kinder. Diese werden folgsam wegen der Anerkennung, die man ihnen zollt. Die Suche nach Anerkennung werde

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dann später zu einem sehr starken Antrieb jedes Handeins. Der Soziologe sieht darin die eigentliche Wurzel des mensch­lichen Drangs nach symbolischem Kapital: nach Ruhm, nach Ehre, nach Ansehen; man suche danach gleichzeitig aus Selbstsucht und wegen der Anerkennung, die man von den anderen erhoffe. Die symbolische Macht setze sich nur darum durch, weil diejenigen, die ihr unterworfen sind, an ihrer Aufrechterhaltung mitwirken. Die Machtverhältnisse sind in unserem Körper eingeschrie­ben und äußern sich in spontanen Gesten, etwa der Ehrer­bietung gegenüber demjenigen, den wir als Höherstehenden einschätzen, oder im Ausdruck der Schüchternheit oder der Angst, im Erröten, in Ungeschicklichkeit - körperliche Reak­tionen, die aufgrund eines Gefühls der Unterlegenheit aus­gelöst werden, das wir über unseren Verstand allein nicht meistern können. Für Bourdieu ist auch die männliche Herrschaft, der er eines seiner letzten Werke widmete, Manifestation einer symbo­lischen Gewalt. Wenn die meisten französischen (und wohl auch die meisten nichtfranzösischen) Frauen sich einen Le­bensgefährten wünschten, der größer und älter sei als sie, dann weil sie den Eindruck vermeiden möchten, sie seien innerhalb des Paares dominant, was sie sozial abwerten würde. Sie würden so unbewusst die äußeren Zeichen einer dominierten Position akzeptieren.

Gibt es eine Aufhebung der Machtverhöltnisse?

Sind nun alle unsere Beziehungen Machtbeziehungen, sind wir notwendigerweise Herrschende oder Beherrschte? Pierre Bourdieu sieht Möglichkeiten, aus diesem Machtverhältnis auszubrechen, etwa im Bereich der Familie, die als Institu­tion versucht, jedem der Mitglieder auf Dauer Gefühle zu ver­mitteln, die die Integration aller garantieren. Der Ritus der Übernahme des Familiennamens schaffe ein Zusammen­gehörigkeitsgefühl, und das, was zuerst nur eine Fiktion sei,

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die auf dem gemeinsamen Familiennamen beruhe, könne zu einer realen Gruppe werden, die durch affektive Bindungen geeint sei.

Ist aber Liebe zwischen den Partnern möglich ohne symbo­lische Gewalt? Beruht sie nicht stets auf akzeptierter Beherr­schung oder Unterwerfung, die verkannt und damit aner­kannt wird? Die Mythen der Verkörperung der Frau oder des Mannes zeigen von Eva bis Cleopatra Frauen, die durch ihre Liebe eine geheimnisvolle Macht ausüben, oder Männer a la Don Juan, die sich als Jäger oder Eroberer darstellen. Und doch, so betont Pierre Bourdieu, bedeutet eine Liebes­beziehung oder eine Freundschaft, dass Macht und Macht­verhältnisse aufgebrochen werden, dass die Beherrschung beherrscht, die symbolische Gewalt ausgeschlossen werden kann. Dieser Bruch mit der alltäglichen Machtordnung voll­zieht sich aber nicht auf einen Schlag. Durch ein stetes Be­mühen, ohne jede Berechnung, kann ein Raum der Liebe entstehen, ein Bereich ohne Gewalt, der Beziehungen er­möglicht, die auf reiner Gegenseitigkeit beruhen, die eine Art gegenseitiger Anerkennung ermöglichen, sodass ein je­der sich in seiner Existenz gerechtfertigt fühlt, und zwar in seinen noch so zufälligen eigenen Zügen. Die Zufälligkeit einer zufälligen Begegnung wird damit zu etwas Absolutem. Der französische Schriftsteller Montaigne brachte das in einer einmaligen Formel auf den Punkt. »Wenn man mich fragte, warum er mein Freund war«, sagte er über seinen besten Freund La Boetie, »dann würde ich bloß sagen: >weil er es war, weil ich es war<.« Diese Welt der Uneigennützigkeit macht Beziehungen mög­lich, die nicht instrumentalisiert sind, die auf dem Glück beruhen, Glück zu schenken und im Staunen des anderen unerschöpfliche Gründe zu finden, selbst zu staunen. Die Liebe gehorcht mithin einer Ökonomie des Austausches, deren höchste Form die Hingabe ist, die jeder Form des Marktes widerspricht, auch der des Arbeitsmarktes, dessen Akteure austauschbar und nicht einmalig sind. Die reine

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Liebe ist nach Pierre Bourdieu eine historisch noch relativ junge Erscheinung, ähnlich wie die reine Kunst - l'art pour l'art -, die in ihrer Absolutheit durchaus etwas mit der reinen Liebe zu tun hat. Auf den Schluss seiten der Meditationen findet sich eine intensive und sehr persönliche Reflexion über das symbo­lische Kapital. Bourdieu knüpft auch hier wieder an Blaise Pascal an. Die einzige Gewissheit des Lebens ist nach Pascal die Kontingenz. Die Menschen täten alles, um die Endlich­keit zu vergessen, stürzten sich ins Vergnügen oder in die »Gesellschaft«. Doch jeder stirbt allein. Der Mensch erscheint als ein Wesen ohne Seins grund, das vom tiefen Bedürfnis nach Rechtfertigung erfüllt ist: »das Elend des Menschen ohne Gott«. Bourdieu reinterpretiert dieses Pascal-Wort. Ne­ben Gott erscheine die Gesellschaft als einzige Instanz, die die menschliche Existenz zu rechtfertigen vermöge. Die so­ziale Welt verfüge über die sozusagen göttliche Macht, den Menschen der Kontingenz und der Unverbindlichkeit zu ent­reißen. Eine gesellschaftliche Aufgabe zu haben, erwartet, gefragt zu werden, für die anderen zu zählen, stellt eine fortwährende Rechtfertigung der Existenz dar. Der Soziologe belegt dies ex negativo aus der frühen Untersuchung Durk­heims über die Motive des Selbstmords. »Die soziale Welt vergibt das seltenste Gut überhaupt: Anerkennung, das heißt ganz einfach Daseinsberechtigung.« (Meditationen, 309) Diese Anerkennung ist für Bourdieu das symbolische Kapi­tal, dessen Verteilung durchaus ungleich ist; die Hierarchie der Anerkennung ist keineswegs gleichbedeutend mit der­jenigen, die durch Macht und Reichtum konstituiert wird. Jede Kapitalart (ökonomisches, soziales, kulturelles Kapital) kann zum symbolischen Kapital werden oder eine symboli­sche Wirkung erzielen, wenn sie explizite oder implizite An­erkennung verschafft. Indem es Machtbeziehungen in Sinn­beziehungen verwandelt, vermag das symbolische Kapital den Einzelnen aus der Bedeutungslosigkeit zu entreißen. Bekannt und anerkannt zu sein bedeutet auch, selbst aner-

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kennen zu können. Die gesellschaftlichen Institutionsriten, die über ein Diplom oder einen Ausweis eine Kompetenz, eine öffentliche Rolle oder schlicht die bloße Identität offi­ziell bestätigen, erkennen an, dass der Einzelne das ist, was er zu sein vorgibt. Durch diese Zeichen wird er zum vollgül­tigen Mitglied der Gruppe, der Gemeinschaft und hat Anteil an der »Ewigkeit« der Gruppe, welche die Existenz der Ein­zelnen überdauert. »Die Einsetzungsriten geben ein vergrö­bertes, besonders deutliches Bild vom Wirken der Institu­tion, dieses willkürlichen Wesens, das die Macht hat, von Will­kür zu befreien und die Daseinsberechtigung schlechthin zu verleihen, die Bestätigung nämlich, daß ein kontingentes, von Krankheit, Gebrechen und Tod angreifbares Wesen der transzendenten, unsterblichen Würde so würdig ist wie die soziale Ordnung, der es angehört.« (Meditationen, 315) Nach Bourdieu legitimiert so die Gesellschaft über ihre Instanzen, die offiziell nennen, ernennen und auszeichnen, den Ein­zelnen, und die Soziologie wird dergestalt zu einer Art Theo­logie der letzten Rechtfertigung.

Der soziale Raum: eine Ausgliederung von Feldern

Die einzelnen Kapitalarten und dauerhaften Dispositionen entfalten ihre Wirkkraft nicht in einem luftleeren Raum oder in dem, was man undifferenziert »Gesellschaft« nennt. Bour­dieu verwendet dafür den Begriff des sozialen Raumes, was zunächst auch noch sehr allgemein klingt. Aber gerade bei der Analyse von symbolischen Praktiken wie der Kunst, der Wissenschaft, der Religion konnte der Soziologe feststellen, wie sich hier Bereiche ausgebildet hatten, die einen Eigen­gesetzlichkeitsanspruch behaupteten. Traditionellerweise stand hier der Erklärungsansatz über die Singularität des -genialen - Individuums - des literarischen oder künstleri­schen Schöpfers - im Vordergrund. Andererseits erschienen Deutungen über gesamtgesellschaftliche Strukturen als zu

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grob. Um diese Antinomie zwischen individualistischer und objektivistischer Interpretation zu überwinden, rekurriert Bourdieu auf den Begriff des Feldes und betrachtet das Han­deln der Akteure als Teil eines dynamischen, in sich relativ geschlossenen Bereiches. Zentral sind hier wieder die Rela­tionen: »In Feldbegriffen denken heißt relational denken.« (Reflexive Anthropologie, 126) Ein Feld stellt eine Konfigura­tion von objektiven Relationen zwischen Positionen dar, die die Akteure einnehmen.

Die Geschichte der Autonomisierung der Felder

Entwickelt hat Bourdieu das Feldkonzept erst Anfang der 1970er Jahre, als er sich mit der Religionssoziologie Max Webers auseinandersetzte. Er konstatierte den Prozess der Ausbildung von spezifischen Instanzen zur Produktion, Re­produktion oder Verbreitung religiöser Güter, der von der ökonomischen Entwicklung relativ unabhängig ist und den er ein »relativ autonomes religiöses Feld« (Religiöses Feld, 53) nannte. Die Ausbildung dieses Feldes ging einher mit einer Rationalisierung der Religion durch eine Theologie, einer Monopolisierung der Heilsgüter durch ein Korps von re­ligiösen Spezialisten und einer gewissen Enteignung der­jenigen, die man als »Laien« oder »Profane« bezeichnet. Die Struktur des religiösen Feldes wird durch die Relation der professionellen Verwalter der Heilsgüter bestimmt: durch die Opposition der Priester und Propheten, die sich auf einen systematischen Diskurs beziehen, gegen den Zauberer, der nur durch die Geste wirkt, oder durch die Opposition der Priester, die ihre Autorität von der Institution herleiten, ge­gen die Propheten und Zauberer, die sich auf ein persön­liches Charisma oder eine persönliche Berufung beziehen. Es ist also eine bestimmte Struktur, die dieses Feld prägt, die aber nicht als statisch gesehen wird, sondern als ein Ergebnis einer permanenten Auseinandersetzung. Dadurch wird in das Element der Struktur auch die Dimension der Geschichte

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eingeführt. Diese Geschichte ist im einzelnen Feld präsent als interne Dynamik. Der soziale Raum wird aber auch als die Geschichte der sukzessiven Ausbildung unterschiedlicher Felder verstanden. In seinem Buch Meditationen zeichnet Bourdieu diesen Pro­zess der Autonomisierung detailgetreu nach. Zunächst bil­dete sich nach dieser Rekonstruktion im 5. vorchristlichen Jahrhundert in Griechenland das philosophische Feld aus, das sich gegenüber dem politischen und dem religiösen Feld verselbstständigte. Die Konfrontation in diesem Feld vollzog sich in einer Suche nach Regeln der Logik, die von einer Suche nach den Regeln der Kommunikation und der inter­subjektiven Übereinkunft nicht zu trennen ist. Im Italien der Renaissance wurde dieser Prozess der Differenzierung wie­der aufgegriffen, und die wissenschaftlichen, literarischen und künstlerischen Felder emanzipierten sich vom philo­sophischen Feld. Ein eigenes ökonomisches Feld bildete sich Bourdieu zufolge erst am Ende einer langen Entwicklung, in deren Verlauf die symbolische Dimension der Produktions­beziehungen vernachlässigt und das Feld als ein geschlos­senes Universum betrachtet wurde, das nur mehr durch die Gesetze des Interessenkalküls, der Konkurrenz und der Ausbeutung bestimmt wird. Die Felder der symbolischen Produktion konnten erst ent­stehen, indem sie die ökonomische Dimension der sym­bolischen Produktion einer »niedrigen« Welt der reinen Ökonomie zuwiesen. So entwickelten sich zwei unterschied­liche Typen der symbolischen oder ökonomischen Produk­tion, die sich radikal voneinander abgrenzen: »Der Prozeß der Autonomisierung und >Reinigung< der unterschiedlichen Universen ist bei weitem nicht beendet, auf Seiten der Öko­nomie, die den symbolischen Fakten und Effekten noch immer einen beachtlichen Platz einräumt, ebensowenig wie auf den Seiten der symbolischen Tätigkeiten, denen noch im­mer eine verleugnete ökonomische Dimension anhaftet.« (Meditationen, 30)

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Die Invarianten der Felder

Bourdieu listet dann die Invarianten seines Feldbegriffes auf. Im Unterschied zu Max Weber handelt es sich hier nicht um einen interaktionistisch-realistischen, sondern um einen konstruktivistischen Feldbegriff. Es geht nicht um die bio­logischen Individuen, sondern um Akteure, insofern· ihnen im Feld eine Funktion zukommt. Der Feldbegriff ist ein Mo­dell, das (unsichtbare) Strukturen und Relationen erkenn­bar macht. Beim Feldkonzept geht es nicht um Über- und Unterbau; die symbolische un'ii die materielle Dimension stehen nicht in einem gegenseitigen Beherrschungsverhält­nis. Bourdieu lehnt so die marxistische These einer »letzt­instanzlichen« ökonomischen Determinierung der kulturel­len Produktion in ihrer Allgemeinheit ab; es gibt in seinen Augen kein transhistorisches Gesetz, das die Verhältnisse zwischen den einzelnen Feldern regeln würde, selbst wenn man durchaus davon ausgehen kann, dass in den Industrie­gesellschaften die Wirkungen des ökonomischen Feldes be­sonders stark sind. Aber das muss durch empirische Analy­sen belegt werden. Die Verhältnisse zwischen den Feldern - etwa zwischen dem künstlerischen und dem ökonomischen Feld - stehen nie ein für alle Mal fest. Der Vorteil des Feldbegriffs liegt darin, dass er den Wissenschaftler dazu zwingt, sich bei jedem Feld nach dessen Grenzen und seinem Zusammenhang mit den anderen Feldern zu fragen. Der Feldbegriff erlaubt vor allem, phänomenologisch unterschiedliche Bereiche als in ihrer Struktur und Funktionsweise ähnliche zu begreifen. Es gibt so formale Merkmale, die die Felder teilen. Es handelt sich immer um Kraft-und Machtfelder. Die Struktur wird bestimmt durch die beiden Pole des Feldes, den Pol der Herr­schenden und den der Beherrschten. Es sind die Herrschen­den, die die Legitimität innerhalb des Feldes festlegen; diese Legitimität ist aber umstritten und kann immer wieder in­frage gestellt werden. Die jeweilige Position bestimmt dann

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auch die beiden möglichen Handlungs strategien: die Strate­gie der Erhaltung der Feldstruktur, die eher von den Domi­nanten vertreten wird, und die Strategie der Dominierten, die an einer Veränderung oder an einem Umsturz interessiert sind. Bourdieu möchte das allerdings nicht mechanisch se­hen; es gibt auch Beherrschte, die eine konservative Position einnehmen. Die Vertreter beider Positionen teilen das (unausgespro­chene) Interesse daran, dass das Feld existiert und dass sich der Einsatz lohnt. »Es gibt nichts Konservativeres als eine Revolution«, pflegte Bourdieu zu sagen. Die »Revolutionäre« wollen wohl die Legitimität innerhalb des Feldes neu defi­nieren, nicht aber das Feld als solches abschaffen. Bourdieu vergleicht das Funktionieren des Feldes oft mit einem Spiel (obwohl es nicht Produkt einer bewussten Schöpfung mit expliziten Spielregeln ist): »So gibt es Einsätze bei diesem Spiet Interessenobjekte, die im wesentlichen das Produkt der Konkurrenz der Spieler untereinander sind; eine Inves­tition in das Spiel, eine Besetzung (im psychoanalytischen Sinn) des Spiels, die illusio (von ludus, Spiel): Die Spieler sind im Spiel befangen, sie spielen, wie brutal auch immer, nur deshalb gegeneinander, weil sie alle den Glauben (doxa) an das Spiel und den entsprechenden Einsatz, die nicht wei­ter zu hinterfragende Anerkennung teilen [ ... ] und dieses heimliche Einverständnis ist der Ursprung ihrer Konkurrenz und ihrer Konflikte.« (Reflexive Anthropologie, 127f.) Wer sich am Kampf beteiligt, trägt zur Reproduktion des Spiels bei, indem er dazu beiträgt, den Glauben an den Wert des­sen, was auf dem Spiel steht, zu reproduzieren. Den Neu­lingen wird als Eintrittspreis abverlangt den Wert des Spiels, das sie mitspielen wollen, anzuerkennen. Das Feld ist auch ein Kampffeld. Es ist nicht durch ein stati­sches Gleichgewicht gekennzeichnet, sondern durch die per­manente Auseinandersetzung, durch eine interne Dynamik. Mit der Unterstreichung des agonistischen Charakters des Feldes weist der Begriff eine gewisse Nähe zu Foucaults

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Machtkonzept oder zu Lyotards Widerstreit auf, unterschei­det sich aber klar von der Idee einer herrschaftsfreien Kom-

munikation a la Habermas.

Die Entsprechung von Stellungen und Stellungnahmen

Michel Foucault übernimmt den wesentlichen Zug der saus­sureschen Theorie, nämlich den Primat der Relationen. In dem Bewusstsein, dass kein Werk aus sich selbst besteht, außerhalb der Interdependenzbeziehungen, die es mit ande­ren Werken verbindet, schlägt Foucault vor, das geregelte System von Unterschieden und Streuungen, innerhalb des­sen jedes einzelne Werk bestimmt wird, das »Feld strate­gischer Möglichkeiten« zu nennen. Er lehnt es aber ab, das Erklärungsprinzip für jeden in dieses Feld eingeführten Dis­kurs anderswo als im Feld der Diskurse selbst zu suchen. Foucault verlegt die Gegensätze und Widersprüche sozu­sagen in den Ideenhimmel. Im Unterschied dazu geht Bour­dieu von einer Korrespondenz von mentalen und sozialen Diskursstrukturen und -positionen aus. Er postuliert etwa für das literarische Feld eine Homologie zwischen dem Feld der Stellungnahmen - hier den einzelnen literarischen Werken -und den Stellungen im Feld - der Zugehörigkeit zur etablier­ten Literatur oder zur Avantgarde. Forschungspraktisch heißt das für eine soziologische Ana­lyse der Literatur, dass man die zeitgenössische Feldstruktur rekonstruieren muss und sich nicht an die Resultate halten darf, die sich aus dem historischen Kanonisierungsprozess ergeben haben. Konkret hat Bourdieu dies in seinen Regeln der Kunst am Beispiel von Baudelaire und Flaubert aufge­zeigt, als er versuchte zu ermitteln, gegen welche literari­schen Gruppen und Konzepte die beiden ankämpfen oder besser gesagt anschreiben mussten, um sich einen eigenen -unverwechselbaren - Platz im Feld zu schaffen. Das Feld als Kampffeld unterscheidet sich von dem Begriff des Apparates, wie ihn der marxistische Philosoph Louis

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Althusser verwendete. Denn der Apparat wird als ein voll­kommenes Zwangs system verstanden, das so nicht existiert oder nicht die erhoffte Wirkung erzielen kann. In den Fel­dern kämpfen vielmehr Akteure und Institutionen mit un­terschiedlicher Machtausstattung und Erfolgsaussicht um die Erlangung spezifischer Profite. Das Feld entspricht auch nicht dem von Niklas Luhmann (1927-1998) entwickelten Konzept des Systems; innerhalb der Systemtheorie stellt das statische Gleichgewicht den Normalzustand dar und der Konflikt ist dann eine Störung dieser Statik, bei Bourdieu hingegen stellt er das Grundprin­zip dar. Diejenigen, die in einem gegebenen Feld herrschen, müssen immer auch mit dem Widerstand, dem Protest der Beherrschten rechnen. Der Widerstand ist das Prinzip des Wande~s und damit der Geschichte. »Geschichte gibt es nur, solange Menschen aufbegehren, Widerstand leisten, reagie­ren. Totalitäre Institutionen - Anstalten, Gefängnisse, Kon­zentrationslager - oder Diktaturen sind Versuche, das Ende der Geschichte herbeizuführen.« (Reflexive Anthropologie, 133)

Die Geschichtlichkeit der Felder

Bourdieu arbeitete seine Feldtheorie vor allem in seinen Untersuchungen zum literarischen und künstlerischen Be­reich aus, die 1992 ihre Vollendung in dem Werk Die Regeln der Kunst fanden. Er stellte sich die Frage, ob die Theorie des literarischen Feldes bloß die Funktionsweise des literari­schen Systems zu erklären vermag oder ob sie auch seiner historischen Dimension gewachsen ist. Das Feld ist ja zu­nächst ein Konstrukt, um die Macht- und Positionskämpfe von kopräsenten Kräften sichtbar zu machen. Der Untertitel der Regeln der Kunst lautet indes: Genese und Struktur des literarischen Feldes. Es geht also nicht nur um die Struktur, sondern auch um ihre Entstehung. In dem Bemühen, Genese und Struktur gleichzeitig zu erfassen, äußert sich wiederum der Universalitätsanspruch, eine vereinigte Sozialwissen-

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schaft zu begründen, wie Bourdieu dies mehrfach unter­strich, »wobei Geschichte eine historische Soziologie der Vergangenheit und die Soziologie eine Sozialgeschichte der Gegenwart wäre« 9.

Geschichte ist für Bourdieu im literarischen Feld im doppel­ten Sinne präsent: in den einzelnen Werken und im Feld selbst, eingebettet in einen historischen Prozess wachsender Autonomisierung. Das künstlerische Feld ist der Ort eines kumulativen Prozesses, in dessen Verlauf sich immer elabo­riertere, verfeinerte, subtilere Werke ausbilden, die sich von denen unterscheiden, die nicht das Ergebnis eines solchen Prozesses sind. Avantgardistische Werke sind beispielsweise erst dann zugänglich, wenn man die Geschichte der vor­gängigen künstlerischen Produktion kennt, das heißt jene endlose Reihe der Steigerung und Überwindung, die zum heutigen Stand der Kunst führt. Der Sinn der »Antipoesie« wird dann verständlich, wenn man mit der Geschichte der Poesie vertraut ist. Bourdieu schwebt eine Strukturgeschichte vor, die die Struk-' tur eines Feldes zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt als Produkt vorgängiger Spannungen und ihre Dynamik als Motor für spätere Transformationen beschreibt. In seinen Augen vermag der Begriff des Feldes die Antithese zwischen interner und externer Literaturbetrachtung zu überwinden, ohne dass dabei die Ergebnisse des einen oder des anderen Ansatzes aufgegeben werden müssen. Die Antinomie zwi­schen einer Struktur, die als synchron erfasst wird, und der Geschichte wird transzendiert, wenn man den Motor der Ver­änderung nicht in den Werken selbst sucht, sondern in der Grundopposition zwischen den dominanten Positionen, die auf Bewahrung der symbolischen Ordnung aus sind, und denjenigen, die einen häretischen Bruch mit dieser Ordnung vollziehen.

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Die Frage der (relativen) Autonomie der Felder

Wenn es zahlreiche (strukturelle) Invarianten zwischen den einzelnen Feldern gibt, so grenzen sich die Felder inhaltlich doch scharf voneinander ab. Das Prinzip der Ausdifferen­zierung der einzelnen Felder ist die Gewinnung einer im­mer größeren Autonomie, einer Eigengesetzlichkeit, als Orte einer spezifischen Logik und Notwendigkeit, die sich nicht auf die für andere Felder geltende Logik zurückführen las­sen. Das künstlerische, das ökonomische oder das religiöse Feld unterliegen jeweils einer anderen Logik. Im ökono­mischen Feld etwa dominiert die Geschäftslogik, bei der Freundschafts- oder Liebesbeziehungen nicht relevant sind; im künstlerischen Feld herrscht hingegen eine Logik, die sich der des rein materiellen Profits widersetzt. Für jedes Feld existieren spezifische Interessen und Interessensobjekte. Man wird, schreibt Bourdieu, einen Philosophen nicht mit den Interessensobjekten eines Geografen auf Trab bringen. Damit stellt sich die Frage nach den Grenzen der Felder. Nach Bourdieu kann man dann von einern Feldeffekt sprechen, wenn die Wirkweise eines Objektes oder eines Akteurs nicht anders als von der Logik dieses oder jenes Feldes her er­klärbar ist. Ein Feldeffekt ist es nach ihm auch, »wenn man ein Werk (und den Wert, das heißt den Glauben, den man ihm beimißt) nicht mehr verstehen kann, ohne die Ge­schichte des Produktionsfeldes dieses Werkes zu kennen -was dann die Existenz von Exegeten, Kommentatoren, Inter­preten, Historikern, Semiologen und sonstigen Philologen insofern rechtfertigt, als sie als einzige imstande sind, das Werk und den Wert, der ihm zugeschrieben wird, zu er­klären.« (Soziologische Fragen, Ill) Die Autonomie der Felder ist nie total und ein für alle Mal erreicht; es gibt hier unterschiedliche Grade. Der Autonomi­sierungsprozess verläuft nicht linear. So erwähnt Bourdieu das Beispiel des künstlerischen Feldes, das seit dem Quattro­cento versuchte, sich von externen Instanzen (der Kirche, den

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Höfen) zu emanzipieren, und dann am Ende des 19.Jahr­hunderts in Frankreich mit dem Ende des staatlich organi­sierten jährlichen Salons eine große Autonomie erreichte, die aber später wieder in eine neue Abhängigkeit von - staat­lichen oder privaten - Mäzenen führte. In den letzten Werken Bourdieus erscheint Autonomie nicht bloß als eine deskriptive Kategorie, sondern gleichzeitig als ein hoher Wert, den es zu verteidigen gilt. Das Grundprinzip (etwa des wissenschaftlichen oder des künstlerischen Fel­des) ist, wie Bourdieu in den Meditationen ausführt, immer eine Setzung. Diese Grundprinzipien sind zwischen den ein­zelnen Feldern nicht austauschbar. In durchaus origineller Weise vergleicht er die Felder mit den pascalschen »Ordnun­gen«. Die Größe im Bereich des »Geistes« bleibt - so Pascal -den Vertretern der Ordnung des »Körpers« - den Königen, den Reichen, den Feldherrn - verborgen. Von der These der Diskontinuität der Ordnungen ausgehend, bestimmt Pascal den Begriff der Tyrannei im Fragment 54: »Die Tyrannei be­steht im allumfassenden Verlangen nach der Herrschaft außerhalb ihrer eigenen Ordnung.« (Meditationen, 131) Der Konflikt entsteht, wenn jemand über seinen eigenen Bereich hinaus Geltung beansprucht. Obgleich Bourdieu nicht die pascalsche Hierarchie in drei Ordnungen übernimmt, hält er doch am Autonomieanspruch der einzelnen Felder fest und spricht auch von Tyrannei, wenn etwa die politische Macht im Feld der Wissenschaft interveniert. Das wissenschaftliche Feld erscheint als relativ autonom, weil die Eintrittshürden hoch sind und derjenige, der nicht mit spezifischen Waffen kämpft, sich dort diskreditiert. Aufgabe der Sozialwissen­schaften ist es, die (historische) Genealogie des scholasti­schen Feldes zu verfolgen, entgegen der These einer Selbst­begründung der Vernunft.

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Feld, Kapital und Habitus

Das Konzept des Feldes steht für Bourdieu in engem Zu­sammenhang mit den Konzepten des Kapitals und des Ha­bitus. Die Struktur des Feldes gibt den Stand der Machtver­hältnisse zwischen den am Spiel beteiligten Akteuren und Institutionen wieder, das heißt auch den Stand des spezifi­schen Kapitals, das im Verlauf der Zeit akkumuliert wurde. Das Kapital ist darum spezifisch, weil es innerhalb der Gren­zen des jeweiligen Feldes seinen Wert hat und nur schwer konvertierbar ist. Forschungspraktisch steht man hier in ei­nem gewissen Sinne vor einer Art hermeneutischem Zirkel: »Um das Feld zu konstruieren, muß man die Formen des spezifischen Kapitals bestimmen, die in ihm wirksam sind, und um diese Formen des spezifischen Kapitals zu konstru­ieren, muß man die spezifische Logik des Feldes kennen.« (Reflexive Anthropologie, 139) Je nach Volumen und Struk­tur des Kapitalbesitzes entwickeln die Akteure die Neigung, aktiv entweder am Erhalt oder am Umsturz der Kapitaldis­tribution zu arbeiten. Ein enges (unbewusstes) Verhältnis besteht aber auch zwi­schen dem Habitus und dem Feld. Der Habitus als Instru­ment der praktischen Erkenntnis ermöglicht es, sich un­mittelbar und gleichsam unbewusst dem im Wandel begriffenen Kontext anzupassen. Die spezifische Beziehung zwischen Habitus und Feld - Bourdieu spricht von einer »Abgestimmtheit« - ist eine zentrale Konfiguration in der sozialen Welt; Handlungen werden auf diese Weise nicht monokausal auf bestimmte »Ereignisse« zurückgeführt. Er­eignisse können Anstöße sein, weil ein bestimmter Habitus ihnen eine Wirkkraft verleiht; Dispositionen können aber auch virtuell bleiben, wenn sie nicht mit einer bestimmten Situation konfrontiert werden. Handeln ist für Bourdieu we­der die Konfrontation eines Subjekts mit der Welt noch die mechanische Determinierung eines Aktes durch ein Milieu. Handeln ist vielmehr die Begegnung von zwei Realisierun-

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gen der Geschichte: der in den Dingen objektivierten Ge­schichte in der Form der Strukturen oder Mechanismen ei­nes Feldes und der im Körper inkarnierten Geschichte in der Form des Habitus. Die Adaptation der Dispositionen an die Forderungen der sozialen Welt kann vollkommen gelin­gen, etwa wenn ein Beamter sich völlig mit seinem Amt identifiziert; die Anpassung kann aber auch misslingen: Bourdieu erwähnt das Beispiel der· algerischen Arbeiter, bei denen die Dispositionen einer präkapitalistischen Welt dem Kontext der westlich-kolonisierten Welt nicht ent­sprachen. »Die Beziehung zwischen Habitus und Feld ist eine Bezie­hung der Bedingtheit: Das Feld strukturiert den Habitus, der das Produkt der Verinnerlichung, der Inkorporation der im­manenten Notwendigkeit dieses Feldes ist.« (Reflexive An­thropologie, 102) Dasselbe Verhalten hat in den einzelnen Feldern einen unterschiedlichen Stellenwert. Ostentatives Konsumverhalten kann im ökonomischen Feld valorisierend, im intellektuellen Feld diskriminierend sein. Der Habitus bringt so je nach Feld unterschiedliche Klassifizierungs­schemata hervor. »Mit ihrer Hilfe werden Unterschiede zwi­schen gut und schlecht, gut und böse, distinguiert und vulgär usw. gemacht, aber eben nicht die gleichen Unterschiede. So kann zum Beispiel das gleiche Verhalten oder das gleiche Gut dem einen distinguiert erscheinen, dem anderen aufge­setzt oder angeberisch, einem dritten vulgär.« (Praktische Vernunft, 21) Der Habitus ist die Verinnerlichung objektiver Strukturen des einzelnen Feldes; er wird damit zu einer zweiten Natur.

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Autonomie, Wissenschaft und Engagement

In seinen Arbeiten über die Ausdifferenzierung der einzel­nen Felder erkannte Bourdieu die Autonomie als das eigent­liehe Entwicklungsprinzip. Autonomie ist aber nicht ein für alle Mal gegeben; sie begründet eine Dynamik und damit auch einen permanenten Kampf gegen feldexterne (hetero­nome) Kräfte, namentlich aus dem Feld der politischen und ökonomischen Macht, die einzugreifen versuchen und so die Autonomie gefährden.

legitimierung und Autonomie

In nuancierter Form beschreibt Bourdieu in den 1997 er­schienenen Meditationen den Mechanismus dieses »Spiels« zwischen dem autonomen und dem heteronomen Prinzip, diesmal aus der Außenperspektive. Die politische Macht muss sich legitimieren, um ihre Macht ausüben zu können; sie kann sich aber nicht selbst legitimieren, sonst wäre sie Partei und Richterin zugleich. Sie ist darum auf andere Instanzen angewiesen, auf Schriftsteller, Künstler, politische Denker, Juristen. Deren Urteil hat jedoch kein Gewicht, wenn es ein Produkt des Zwanges ist. Die politische Macht ist darum gezwungen, den Instanzen eine gewisse Autonomie zu gewähren, die die Aufgabe haben, die Macht zu legitimie­ren - ein Vorgang, der zum Prozess einer zunehmenden Autonomisierung führen kann. »Der Fürst kann von seinen Dichtern, Malern oder Juristen einen wirklich effizienten symbolischen Dienst nur dann erlangen, wenn er ihnen die (relative) Autonomie einräumt, die die Bedingung eines un­abhängigen Urteils darstellt, aber auch die Möglichkeit kri­tischer Infragestellung zuläßt [ ... ]. Die symbolische Wirk-

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samkeit, die eine gewisse Unabhängigkeit der legitimieren­den Instanz gegenüber der legitimierten Instanz voraussetzt, bringt fast unvermeidlicherweise ein entsprechendes Risiko mit sich: das Risiko, daß jene Instanz die ihr verliehene Le­gitimationsmacht für eigene Zwecke verwendet.« (Meditatio­nen, 133) Wenn der Fürst gezwungen ist, den Intellektuellen einen Freiraum zu gewähren, damit ihre Legitimationsarbeit nicht als Folge eines Diktates erscheint und mithin wertlos wäre, so eröffnet sich dadurch auch eine Bresche für eine Erweite­rung des Freiheitsraumes. Bourdieu lobt dann die französi­schen Schriftsteller des 19.Jahrhunderts,weil sie es verstan­den, diesen Freiheitsraum auszuweiten, und zwar nicht nur auf der institutionellen Ebene, durch größere Unabhängig­keit gegenüber den externen Instanzen wie das staatliche und private Mäzenat. Er begrüßt durchaus auch den Einsatz von Autoren wie Baudelaire und Flaubert für eine inhaltliche Autonomie. Bourdieu enthält sich jeder ethischen Empathie mit der so­genannten sozialen Kunst, deren Forderungen ihm vielleicht sympathisch erscheinen mögen, die aber trotzdem Ausdruck eines heteronomen (weil politischen) Prinzips sind. Politi­sches Engagement rechtfertigt sich nicht einfach als solches; es ist nur legitim, wenn es auf der Basis der Autonomie des eigenen Feldes und im Namen feldinterner Normen artiku­liert wird. Bourdieu zufolge hatte das literarische Feld in Frankreich in den 1880er Jahren einen sehr großen Grad an Autonomie er­reicht, und auf der Basis dieser Autonomie war die Interven­tion von Emile Zola für Alfred Dreyfus möglich. Sie bedeutete keine Rücknahme des Autonomiestatus der Literatur. Im Gegenteil: Zola gelang es, in das politische Feld ein Problem hineinzutragen, das nach den für das intellektuelle Feld cha­rakteristischen Unterscheidungsprinzipien konstruiert war, und so dem sozialen Universum die Gesetze des intellektuel­len Feldes aufzuzwingen, die sich immer auf das Universelle

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beziehen. »Das >J'accuse<, >Ich klage an<, ist Abschluß und Vollendung des kollektiven Emanzipationsprozesses, der sich nach und nach im Feld der Kulturproduktion vollzog: Als prophetischer Bruch mit der etablierten Ordnung be­kräftigt er erneut wider alle Staatsräson den irreduziblen Charakter der Werte Wahrheit und Gerechtigkeit und im gleichen Zug die Unabhängigkeit der Hüter dieser Werte gegenüber den Normen der Politik (der des Patriotismus zum Beispiel) und den Zwängen des Wirtschaftslebens.« (Regeln der Kunst, 210) Das Engagement von Zola setzte also nicht nur die Autono­misierung des intellektuellen Feldes voraus, es war auch die Vollendung eines parallelen Prozesses der Feindseligkeit der Schriftsteller in Frankreich gegenüber der Politik, namentlich nach der Revolution von 1848, und gegenüber denjenigen, die politische Argumentationen in das literarische Feld ein­führen wollten, so etwa die Verfechter der bereits erwähnten sozialen Kunst. Indem er sich auf die Autorität stützte, die die »reinen« Schriftsteller und Künstler gegen die Politik er­obert hatten, war es Zola zusammen mit den Wissenschaft­lern möglich, mit der politischen Indifferenz seiner Vorgän­ger zu brechen und anlässlich der Dreyfus-Affäre in das politische Feld selbst einzugreifen, mit Waffen freilich, die keine politischen waren. Bourdieu schreibt der Intervention von Zola eine archety­pische Funktion zu. Er unterstreicht, dass Zola aufgrund der spezifischen Kompetenz, die er im literarischen Feld erwor­ben hatte, über eine Autorität verfügte, die über sein eigenes Feld hinaus wirksam war.

»Auf Grundlage eben dieser eroberten Autonomie kann nun der

Gelehrte oder Schriftsteller aufstehen und sich ins politische Feld begeben, um mit der ganzen Autorität seines spezifischen Kapitals zu sagen, daß eine solche Entscheidung nicht annehmbar ist, daß sie den Werten seines Feldes entgegenläuft, im Falle des Schriftstellers den Werten der Wahrheit. Je autonomer man ist, je mehr man über

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spezifische Autorität verfügen kann, wissenschaftliche oder litera­rische, gewinnt man auch außerhalb des eigenen Feldes die Autorität,

mit einer gewissen symbolischen Wirksamkeit zu sprechen. Das Prinzip aller Realpolitik der Vernunft, wie ich sie predige, besteht also

darin, möglichst viel spezifische Autorität anzuhäufen, um daraus gegebenenfalls eine politische Kraft zu machen, wohlgemerkt ohne dabei zum Politiker zu werden.« (Gebrauch der Wissenschaft, 61)

Der universelle und der spezifische Intellektuelle

Bourdieu bezieht sich in seinen Ausführungen über die Inter­ventionen der Intellektuellen immer wieder auf das Modell von Zola, nennt aber meist in einem Zug die Intervention Sartres zur Zeit des Algerienkrieges, die auf derselben Grundlage beruhte (spezifische Autorität und Universalität des Anliegens). Gegen Sartres Konzept des »univen;ellen Intellektuellen«, der als Repräsentant einer universellen Wahrheit zu allen politischen Fragen Stellung bezieht, hat Foucault sein Konzept des »spezifischen Intellektuellen« ent­wickelt, das nicht mehr mit einer universalistischen Zielrich­tung verbunden war. Politische Intervention begrenzte er auf Problemfelder, in denen er eine spezifische Kompetenz ein­bringen konnte. So intervenierte Foucault beispielsweise in den Bereichen, über die er selbst geforscht hatte (Strafvoll­zug, Justiz- und Polizeiapparat, Psychiatrie). Pierre Bourdieu versucht die Universalität ethisch-politischer Ansprüche mit spezifischer Kompetenz zu vereinigen und betont gleichzeitig die kollektive und internationale Dimen­sion des Engagements. Er wirft den Intellektuellen der alten Schule wie Sartre vor, in Bezug auf die beiden zentralen Aspekte des Engagements, Autonomie und Kompetenz einer­seits Wirksamkeit andererseits, nicht anspruchsvoll genug , ,

gewesen zu sein. Er ist überzeugt, dass man in einer immer komplexer werdenden Welt mit der bescheidenen Ausrüs­tung eines Philosophielehrers nicht glaubwürdig Stellung

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beziehen kann. Gleichzeitig beruft er sich auch auf univer­selle Werte, so etwa in seinen bewusst normativen Ausfüh­rungen am Ende seines Buches Die Regeln der Kunst. Hier bringt er das »Manifest der 121«, den Protest der Intellektuel­len gegen den Algerienkrieg, zur Sprache, in dem man die heiligsten patriotischen Werte infrage gestellt habe im Namen eines spezifischen »ethischen und wissenschaftlichen Uni­versalismus« (Regeln der Kunst, 527). Für Bourdieu sind die universellen Werte Zolas Werte des intellektuellen Feldes; das Prinzip der Wahrheit bildet die ethische Grundlage des Wis­senschaftlers. Der Bezug auf Universalität und der Bezug auf wissenschaftliche Kompetenz schließen sich nicht aus:

»Obschon ich die Ablehnung des Prophetentums des Intellektuellen alter Art völlig teile, denke ich, daß man nicht die Wahl hat zwischen dem totalen Intellektuellen, wie Sartre ihn geprägt und verkörpert hat, der sich berechtigt und verpflichtet fühlte, einzig mit der Kraft seines Verstandes zu allen Problemen seiner Zeit Stellung zu be­ziehen, und dem spezialisierten Intellektuellen, wie Foucault ihn verstand, der seine Intervention auf ein besonderes Gebiet des Wis­

sens und der Erfahrung beschränkt. Heute müssen Organisations­formen entwickelt werden, die es gestatten, das Wort eines großen kollektiven Intellektuellen vernehmbar zu machen, der die Kompe­tenzen und die Talente der Gesamtheit der spezialisierten Intel­lektuellen vereint. Dafür gibt es große Vorbilder in der Vergangenheit (ich denke etwa an die >Philosophen< der Enzyklopädie).« (Die In­tellektuellen, 61)

Wissenschaft und Autonomie

Für die Wissenschaft stellt die Autonomie eine unabdingbare Voraussetzung dar. Die Suche nach Wahrheit verdankt sich nicht bloß der Tugend der Akteure, sondern der Logik der internen Konkurrenz: »Ein sehr autonomes Feld, das der Mathematik zum Beispiel, ist ein Feld, in dem die Pro duzen-

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ten nur ihre Konkurrenten zu Kunden haben, Leute, die an ihrer Stelle die Entdeckung hätten machen können [ ... ]. Um Autonomie zu erlangen, muß man jene Art Elfenbeinturm er­richten, innerhalb dessen man einander beurteilt, kritisiert, auch bekämpft, aber in Kenntnis der Sache; man rivalisiert, aber mit wissenschaftlichen Waffen, mit Instrumenten, Tech­niken, Methoden.« (Fernsehen, 88) Die Logik der (internen) Geschlossenheit des wissenschaft­lichen Feldes toleriert so im Unterschied zum politischen Feld keine Kompromisse und führt zu einer stetig wach­senden Rationalität. In den Meditationen stellt Bourdieu das wissenschaftliche Feld als ein Modell der Autonomie vor: bestimmt durch »einen geregelten Wettbewerb, der sich selbst kontrolliert [ ... ] einzig durch die ihm immanente, die Akteure durch soziale Mechanismen zu >vernünftigem< Ver­halten und zur Sublimierung ihrer Triebe zwingende Logik« (Meditationen, 162). Eine solche Realpolitik der Vernunft könne auch ein Vorbild für das politische Feld sein und dort Mechanismen einführen, die per se demokratisch wären. Die Gegenstände des wissenschaftlichen Feldes sind aber keine zeitlosen, platonischen Wesenheiten; sie entspringen der Arbeit der Akteure, die spezifische Dispositionen auf­weisen: »Das Zwingende an mathematischen Operationen [oder an den Symbolen, in denen sie sich ausdrücken] [be­ruht] [ ... ] zumindest teilweise darauf, daß dauerhafte, kol­lektive Dispositionen zu ihrem Rezipieren, Erwerben und Anwenden erheblich beitrugen: Denn nur denen, die in ei­nern langen Lernprozeß die zu ihrer >An eignung< erfor­derlichen Fähigkeiten erworben haben, erscheint die Not­wendigkeit und Evidenz dieser transzendentalen >Wesen< zwingend.« (Meditationen, 145) Bourdieu verkennt aber keineswegs, dass Autonomie auch bloß vorgegeben sein kann. Ihm scheint das vor allem bei Heidegger der Fall zu sein. Heidegger erscheine als das Pa­radigma des »reinen«, ahistorischen Philosophen, der es ab­lehne, sein Denken mit den ökonomischen und sozialen

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Verhältnissen seiner Zeit in Verbindung zu bringen, und der darum auch enthistorisiert gelesen wurde. Die meisten In­terpreten würden indes seinem philosophischen Diskurs ent­weder zu viel oder zu wenig Autonomie zusprechen. Für die Ersteren sei Heidegger zeitenthoben; gerade die Philosophen würden gemäß ihrem Verständnis einer philosophia perennis die kanonischen Texte enthistorisieren, die Letzteren hin­gegen würden sein Werk direkt auf die ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zurückführen. Eine adäquate Analyse setze darum eine doppelte Absage voraus: »Absage an den Anspruch des philosophischen Textes auf seine absolute Autonomie und seine Verweigerung des ex­ternen Bezugs; Absage an die direkte Rückführung des Tex­tes auf den ganz allgemeinen Kontext seiner Produktion und Zirkulation« (Reflexive Anthropologie, 186). Heidegger gehorcht nach Bourdieu zuallererst der spezifi­schen Logik des philosophischen Feldes. Er verfügte über ein außerordentliches philosophisches Kapital, kannte bestens alle Positionen des Feldes und vermochte es so, eine eigene originelle Position zu definieren. Er war aber gleichzeitig ein Meister der »doppelten Sprache« oder anders gesagt des »polyphonen Diskurses« (Reflexive Anthropologie, 185). Seine philosophischen Texte transportierten einen politi­schen Diskurs, der jedoch euphemisiert, das heißt ontolo­gisiert wurde. So enthalte etwa die Theorie der Zeitlichkeit eine verborgene Ablehnung des Wohlfahrtsstaates, ablesbar am scheinbar »reinen« Begriff der Fürsorge, der aber auf so­ziale Fürsorge und den politischen Kontext einer Verurtei­lung des Wohlfahrtsstaates verweise. Heidegger habe sich damit eine »bislang unmögliche philosophische Position« ge­schaffen, »die sich gegen Marxismus und Neukantianismus ähnlich absetzt, wie im politisch-ideologischen Bereich die >konservativen Revolutionäre< sich von den Sozialisten und Liberalen absetzen« (Heidegger, 94).

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Wissenschaftliche Kompetenz und Engagement

Autonomie bleibt für Bourdieu ein zentrales Kriterium seiner Analyse der einzelnen Felder. Autonomie bedeutet für ihn Unabhängigkeit, aber nicht Rückzug in den elfenbeinernen Turm. Denn gerade auf der Basis der Unabhängigkeit ist ein engagiertes Intervenieren möglich. Kraft seines Wissens und nicht allein als Bürger hat der Wissenschaftler zu interve­nieren. Wenn Bourdieu über Foucault schrieb, ihm sei es gelungen, scholarship und commitment zu versöhnen, defi­nierte er dabei auch sein eigenes Ideal. Beide waren hin­sichtlich wissenschaftlicher Strenge äußerst anspruchsvoll und beide leiteten aus der Wissenschaft auch die Verpflich­tung zum engagierten Intervenieren ab. Anlässlich einer De­batte in London im März 2001 brachte Bourdieu die Kontinu­ität seiner Haltung auf die Formel: »Keine Wissenschaft ohne Engagement. Kein Engagem~nt ohne Wissenschaft.« Er wusste sich dabei Max Webers Ideal der Wertfreiheit des wissenschaftlichen Tuns durchaus verpflichtet. Die wissen~ schaftliche Analyse darf nicht durch politische Meinungen oder Vorannahmen bestimmt werden, vielmehr herrsche eine Pflicht zur Objektivität. Das gilt freilich nicht für den Bereich des politischen Handeins. Auch Max Weber war sich bewusst, dass schon die Wahl eines Untersuchungsgegen­standes ein (implizites) Werturteil enthält. Anlässlich seines Freiburger Vortrages »Forschen und Handeln« im Mai 2000 erinnerte Bourdieu daran, dass Max Weber nicht nur von Wertfreiheit, sondern auch von Wissenschaft als Beruf sprach. »Es ist wichtig, jene, die wissenschaftliche Objekti­vität mit ethischer oder politischer Neutralität verwechseln, daran zu erinnern, dass sie ihre Hände nicht in Unschuld waschen können angesichts der praktischen, und wenn es um die Sozialwissenschaften. geht, auch der politischen Fol­gen ihrer Arbeit.« Es gilt, so fuhr er dann fort, »eine unwahr­scheinliche, aber unabdingbare Verbindung zu erfinden: eine Wissenschaft, die mit dem Handeln verbunden ist, scho-

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larship with commitment, das heißt eine Politik der Einmi­schung in die politische Welt, die so weit wie möglich den geltenden Regeln des wissenschaftlichen Feldes folgt.« (For­schen, 99-101) Engagiertes Eingreifen und wissenschaftliche Strenge waren für Bourdieu keine Widersprüche. Gerade in den letzten Jahren, als sich seine politischen Interventionen vervielfach­ten, widmete er am College de France eine wichtige Vorle­sung der Wissenschaft von der Wissenschaft, die unter dem Titel Science de la science et re{lexivite als letzte Publikation zu seinen Lebzeiten erschien. Bei seinem berühmten Auftritt zugunsten der streikenden Bahnangestellten in der Gare de Lyon im Dezember 1995 ver­wahrte er sich gegen eine Staatsaristokratie, die das sichere Gefühl ihrer Legitimität aus Diplomen und der Autorität der Wissenschaft bezieht. Für diese neuen »Regenten von Gottes Gnaden« seien Vernunft und Modernität allein auf Seiten der Minister und der Experten, während das Volk, die Gewerk­schafter und die kritischen Intellektuellen archaischen, un­flexiblen Modellen anhingen. Bourdieu intervenierte hier im Sinne von Foucaults spezifischem Intellektuellen, der sich auf seine professionelle Kompetenz stützt. »Ich denke, dass man die nationale und internationale Technokratie nur effi­zient bekämpfen kann, wenn man sie auf ihrem eigenen Ter­rain angreift, der Wissenschaft, vor allem der Wirtschafts­wissenschaft, und ihrem abstrakten und verstümmelten Wissen Erkenntnisse entgegenhält, welche Menschen und Realitäten, mit denen sie konfrontiert sind, besser respek­tieren.«l0 Wenn Bourdieu eine technokratische Elite, die den Kontakt mit dem Volk verloren hat, für die Krise in Frank­reich verantwortlich macht, dann war das keineswegs aus dem hohlen Bauch gesprochen, sondern fußte auf langwie­rigen wissenschaftlichen Untersuchungen, etwa seiner Ana­lyse des französischen »Staatsadels« in La Noblesse d'Etat. Mit einer ähnlichen Begründung unterstützte er im Jahre 1998 die Arbeitslosenbewegung in Frankreich: »Sämtliche

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wissenschaftlichen Arbeiten haben [ ... ] gezeigt, daß Ar­beitslosigkeit die von ihr Betroffenen kaputt macht, daß sie ihre Widerstandskraft und ihre subversiven Neigungen zu­nichte macht [ ... ]. Die wichtigste Errungenschaft dieser Be­wegung ist die Bewegung selbst, ihre Existenz als solche: Sie entreißt die Arbeitslosen und mit ihnen die von Tag zu Tag zunehmende Zahl der prekär Beschäftigten der Unsicherheit, der Isolation, dem Schweigen, kurz: dem Nichts.« (Gegen­feuer, 103 f.) Die massiven Einwände gegen Bourdieus Konzept einer en­gagierten Wissenschaft erklären sich wohl teilweise daher, dass die Soziologie, wie Bourdieu schreibt, »ein Störenfried« ist:

»Sie stört, weil sie enthüllt. Darin unterscheidet sie sich in nichts von anderen Wissenschaften. >Es gibt keine Wissenschaft ohne das Ver­

borgene<, sagte Gaston Bachelard. Doch dieses Verborgene ist beson­

derer Art. Häufig handelt es sich um ein Geheimnis - das man wie manche Familiengeheimnisse gar nicht lüften möchte - oder eher

noch um etwas Verdrängtes [ ... ). Wenn sie tiefgehend und kon­sequent ist, begnügt sich die Soziologie einfach nicht mit bloßer

Feststellung, die deterministisch, pessimistisch oder demoralisierend

genannt werden darf. Sie kann realistische Mittel anbieten, um den

der Gesellschaftsordnung immanenten Tendenzen entgegenzu­

wirken. Und wer das deterministisch nennt, sollte sich eines in

Erinnerung rufen: Das Gesetz der Schwerkraft musste erst kennen,

wer Flugmaschinen baute, die eben dieses Gesetz wirksam über­winden.«1J

In dem Leitartikel, den Le Monde unter dem Titel »Le pouvoir des mots« am 26. Januar 2002 dem gerade verstorbenen So­ziologen widmete, wurde sein Engagement in die alte fran­zösische Tradition der Intellektuellen eingereiht. Bourdieu habe sich im Unterschied zu Zola und Sartre nicht auf eine universelle Moral, sondern auf sein Wissen als Forscher ge­stützt, um politische Forderungen durchzusetzen.

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Ich denke nicht, dass Bourdieu den Bezug auf universelle Werte und wissenschaftliche Legitimität völlig getrennt hielt. Die Untersuchungen über die Eliteausbildung in Frankreich oder jene über die Langzeitfolgen der Arbeitslosigkeit lie­ferten vielmehr rationale Argumente für den Kampf gegen eine neoliberale Flexibilisierungsidee. Im Grunde bewegte er sich auf der Ebene von Durkheim, der das Engagement der Intellektuellen in der Dreyfus-Affäre nicht durch die Zuge­hörigkeit zu einer Elite legitimierte, sondern es als Recht eines jeden Bürgers in einer Demokratie darstellte, die Hell­hörigkeit gegenüber dem lustizverbrechen und dessen Ver­tuschung aber auch aus einern professionellen wissenschaft­lichen Ethos erklärte, alle Autoritätsargumente zuerst auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen.

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Pierre Bourdieu hat mit seinem eindrucksvollen CEuvre auf der Basis einer breiten philosophischen Kultur sowie durch seine unablässigen empirischen Analysen die Sozialwissen­schaften grundlegend erneuert. Er verstand es überdies, kompromisslose wissenschaftliche Strenge mit einern nicht risikolosen Engagement in der Öffentlichkeit zu verbinden. Wer wie der Autor mit ihm persönlich zusammenarbeiten durfte, war fasziniert von seiner kämpferischen, charismati­schen Persönlichkeit, die sich nicht nur durch beeindru­ckende Klarsicht, sondern auch große menschliche Wärme auszeichnete.

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Anmerkungen

1 »Der totale Intellektuelle«. Ein Gespräch über Jean-Paul Sartre, übers. von Stephan Egger, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 89, 15./16. April 2000, S.l.

2 Foucault, Michel: Dits et ecrits, Bd. I: 1954-1969, Paris 1994, S. 514 (übersetzt vom Vf.).

3 Foucault, Michel: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Bd. III: 1976-1979, Frankfurt a. M. 2003, S. 742.

4 Lacan, Jacques: »Subjekt und Geschichte«, in: Alternative 54 (1967), S.124f.

5 Bourdieu, Pierre; Passeron, Jean-Claude: »Soziologie und Philo­sophie in Frankreich seit 1945: Tod und Wiederauferstehung einer Philosophie ohne Subjekt«, in: Lepenies, Wolf (Hg.): Ge­schichte der Soziologie, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1981, S. 527.

6 Sartre, Jean Paul: Das Sein und das Nichts, Hamburg 1976, S.107f.

7 Über die Beziehungen zwischen Geschichte und Soziologie in Frankreich und Deutschland. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Lutz Raphael, in: Geschichte und Gesellschaft, 2, 1996, S. 75.

8 Honneth, Axel: »Die zerrissene Welt der symbolischen Formen. Zum kultursoziologischen Werk Pierre Bourdieus«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 36 (1984), S.145-150.

9 Über die Beziehungen zwischen Geschichte und Soziologie in Frankreich und Deutschland. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Lutz Raphael, a. a. 0., S. 69.

10 Bourdieu, Pierre: » ... bonjour les citoyens«, in: Wochenzeitung (Zürich), 15. Dezember 1995.

11 Bourdieu, Pierre: »Störenfried Soziologie«, in: Die Zeit, Nr. 26, 21. Juni 1996.

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Kommentierte Bibliografie

1. Primärliteratur

a) Werke in deutscher Übersetzung

Die Werke Bourdieus sind in deutscher Übersetzung im Wesent­lichen in drei Verlagen erschienen: Suhrkamp, Universitätsverlag Konstanz, VSA-Verlag. Auf Deutsch sind auch einige Bücher mit Artikelsammlungen erschienen, die auf Französisch nicht in dieser Form publiziert wurden. Eine Bibliografie aller Texte (Aufsätze und Monografien), die in deutscher Übersetzung vorliegen, findet sich im Band: Pierre Bour­dieu: Forschen und Handeln. Recherche et Action, Freiburg 2004, S.125-143.

b) Werkauswahl

Elend Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, übers. von B. Schwibs, J. Ohnacker, B. Bubeck, P. Kändler, D. Böhmler u. a., Konstanz 1997.

Entwurf Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, übers. von C. Pialoux, B. Schwibs, Frankfurt a. M. 1976.

Fernsehen Über das Fernsehen, übers. von A. Russer, Frankfurt a. M. 1998.

Forschen Forschen und Handeln. Recherche et Action. Vorträge am Frankreich­Zentrum der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (1989-2000), übers. von J. Jurt, Freiburg i. Br. 2004.

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Gebrauch der Wissenschaft

Vom Gebrauch der Wissenschaft. Für eine klinische Soziologie des wissenschaftlichen Feldes, übers. von S. Egger, Konstanz 1998.

Gegenfeuer

Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstandes gegen die neoliberale Invasion, übers. von D. Böhmler, J.Ohnacker u. a., Konstanz 1998.

Heidegger

Die politische Ontologie Martin Heideggers, übers. von B. Schwibs, Frankfurt a. M. 1976.

Illegitime Kunst

Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photo­graphie, übers. von U. Rennert, Frankfurt a. M. 1981.

Die Intellektuellen Die Intellektuellen und die Macht, hg. von I. Dölling, übers. von J. Bolder, U. Nordmann, M. Steinrücke, Hamburg 1991.

Interventionen Interventionen 1961-2001. Sozialwissenschaft und politisches Hand­werk, übers. von F. Hector, J. Bolder, Hamburg 2003.

Kultur Wie die Kultur zum Bauern kommt. Über Bildung, Schule und Po­litik, hg. von M. Steinrücke, übers. von J. Bolder, F. Hector, J. Wilke, Hamburg 2001.

Männliche Herrschaft Männliche Herrschaft, übers. von J. Bolder, Frankfurt a. M. 2005.

Meditationen Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, übers. von A. Russer, A. Albagnac, B. Schwibs, Frankfurt a. M. 2001.

Praktische Vernunft Praktische Vernunft. Zur Theorie des HandeIns, übers. von H. Beis­ter, Frankfurt a. M. 1998.

Raum Sozialer Raum und »Klassen«. Leyon sur la leyon. Zwei Vorlesungen, übers. von B. Schwibs, Frankfurt a. M. 1985.

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Rede und Antwort Rede und Antwort;übers. von B. Schwibs, Frankfurt a. M. 1992.

Reflexive Anthropologie Reflexive Anthropologie, übers. von H. Beister, Frankfurt a. M. 1996.

Regeln der Kunst Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, übers. von B. Schwibs, A. Russer, Frankfurt a. M. 1999.

Religiöses Feld Das religiöse Feld. Texte zur Ökonomie des Heilsgeschehens, übers. von A. Pfeuffer, Konstanz 2000.

Selbstversuch Ein soziologischer Selbstversuch, übers. von St. Egger, Frankfurt a. M. 2002.

Sozialer Sinn Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, übers. von G. Seib, Frankfurt a. M. 1987.

Soziologie als Beruf Soziologie als Beruf. Wissenschaftstheoretische Voraussetzungen soziologischer Erkenntnis, hg. von B. Krais, übers. von H. Beister, R. BIomert, B. Schwibs, Berlin 1991.

Soziologische Fragen Soziologische Fragen, übers. von H. Beister, B. Schwibs, Frankfurt a. M. 1993.

Sprechen Was heißt sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, übers. von H. Beister, Wien 1990.

Symbolische Formen . Zur Soziologie der symbolischen Formen, übers. von W. H. Fletkau, Frankfurt a. M. 1970.

Der Tote Der Tote packt den Lebendigen, hg. von M. Steinrücke, übers. von J. Bolder, U. Nordmann, Hamburg 1997.

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Unterschiede Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, übers. von B. Schwibs, A. Russer, Frankfurt a. M. 1982.

Verborgene Mechanismen Die verborgenen Mechanismen der Macht, hg. von M. Steinrücke, übers. von J. Bolder, Hamburg 1992.

2. Sekundärliteratur (in deutscher Sprache)

a) Einführende Darstellungen

Eva Barlösius: Pierre Bourdieu, Frankfurt a. M. / New York 2006. Systematische Darstellung der zentralen Begriffe und Konzepte des Theoriegebäudes von Bourdieu ohne Bezug auf den Entstehungs­kontext. Kritische Auseinandersetzung mit dem engagierten In­tellektuellen und dem Habituskonzept. Guter Überblick über die Rezeption Bourdieus in Deutschland.

Werner Fuchs-Heinritz, Alexandra König: Pierre Bourdieu. Eine Einführung, Konstanz 2005. Überarbeitete Fassung eines Studienkurses der Fernuniversität Hagen. Sehr klare Darstellung der wichtigsten Forschungsarbeiten, der Theoreme und Konzepte, der Grundsätze sowie der Wurzeln und Quellen des bourdieuschen Denkens.

Christian Papilloud: Bourdieu lesen. Einführung in eine Soziologie des Unterschieds, Bielefeld 2003. Im Zentrum stehen die Bedeutungen des Begriffs »Unterschied«, die Vorstellung der Gesellschaft und das Konzept des Feldes sowie die französischen Kontroversen um Bourdieu.

Markus Schwingel: Bourdieu zur Einführung, Hamburg 1995, 1998, 2000,2005. Sehr erfolgreiche Einführung, die den Zusammenhang zwischen ge­sellschaftlichen Positionen, Geschmacksdispositionen und Lebens­stilformen thematisiert. Untersucht wird auch Bourdieus Vorstellung der Soziologie und der Funktion des Intellektuellen.

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b) Gesamtdarstellungen

Rolf-Dieter Hepp: Bourdieu, Sozioanalyse, Soziosemiotik, Wien 2000. ,Systematische Rekonstruktion des bourdieuschen Denkens, das als soziologische Selbstreflexion vorgestellt wird. Besonders unterstri­chen wird der semiotische Charakter des sozialen Erkenntnispro­zesses.

Boike Rehbein: Die Soziologie Pierre Bourdieus, Konstanz 2006. Das Buch zeigt die Entwicklung der Kerngedanken Bourdieus auf, betont den inneren Zusammenhang seines Werkes und legt das Fundament seiner Wissenschaftstheorie und seiner empirischen Forschungen offen.

Franz Schultheis: Bourdieus Wege in die Soziologie. Genese und Dynamik einer reflexiven Sozialwissenschaft, Konstanz 2007. Sehr gut informierte Darstellung der Sozialisation Bourdieus und vor allem der Algerien-Erfahrung als Ausgangspunkt der zentralen Konzepte des Soziologen.

Markus Schwingel: Analytik der Kämpfe. Macht und Herrschaft in der Soziologie Bourdieus, Hamburg 1993. Erste umfassende Darstellung des Werkes von Bourdieu in deutscher Sprache. Vorgestellt werden die zentralen Theoriekonzepte. Im Zentrum steht das kampfanalytische Paradigma, das mit Analysen konfrontiert wird, die der kritischen Theorie in Deutschland ver­pflichtet sind.

c) Vertiefte Darstellung einzelner Aspekte

Uwe Bittlingmayer, Rolf Eickelpasch, Jens Kastner, Claudia Rade­macher (Hg.): Theorie als Kampf? Zur politischen Soziologie Pierre Bourdieus, Opladen 2002. Die Beiträge des Bandes loten die Erklärungskraft der Sozialtheorie Bourdieus für aktuelle soziale und politische Transformationspro­zesse aus. Im Vordergrund steht das Verhältnis der politischen Inter­ventionen Bourdieus zu seiner Theorie.

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Cornelia Bohn: Habitus und Kontext. Ein kritischer Beitrag zur So­zialtheorie Bourdieus, Opladen 1991. Eine frühe, klare Auseinandersetzung mit Bourdieus Habituskon­zeption und ein Vergleich mit Luhmann.

Catherine Colliot-Thelene, Etienne Fran<;ois, Gunter Gebauer (Hg.): Pierre Bourdieu: Deutsch-französische Perspektiven, Frankfurt a. M. 2005. Deutsche und französische Autoren untersuchen den theoretischen Rahmen und die philosophischen Grundlagen des Ansatzes von Bourdieu, analysieren dessen Rezeption in den Sozial- und Ge­schichtswissenschaften und stellen ihn als Wissenschaftler mit poli­tischer Verantwortung vor.

Rainer Diaz-Bone: Kulturwelt, Diskurs und Lebensstil. Eine diskurs­theoretische Erweiterung der bourdieuschen Distinktionstheorie, Opladen 2002. Der Autor versucht, den Ansatz von Bourdieu mit dem von Foucault zu verbinden und für eine Diskursanalyse von Heavy-Metal- und Techno-Zeitschriften fruchtbar zu machen.

Klaus Eder (Hg.): Klassenlage, Lebensstil und kulturelle Praxis, Frankfurt a. M. 1989. Frühe kritische Auseinandersetzung mit dem Klassen- und Lebens­stilkonzept Bourdieus.

Gunter Gebauer, Christoph Wulf (Hg.): Praxis und Ästhetik. Neue Perspektiven im Denken Bourdieus, Frankfurt a. M. 1993. Wichtige, vor allem deutsche Beiträge zur Kultursoziologie Bour­dieus.

Markus Joch, Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis, Tübingen 2005. Der Band versammelt erstmals in deutscher Sprache Aufsätze, die die Anwendungsmöglichkeiten der Feldtheorie für die Literaturwis­senschaft praktisch ausloten.

Joseph Jurt: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis, Darmstadt 1995. Bourdieus Literaturtheorie im deutschen und französischen Kontext sowie eine Synthese der feldorientierten Arbeiten zur französischen Literatur.

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Beate Krais, Gunter Gebauer: Habitus, Bielefeld 2002. Systematische Darstellung von Bourdieus Habituskonzept als einer Kategorie, die neue Dimensionen des sozialen Handeins erschließt.

. Ingo Mörth, Gerhard Fröhlich (Hg.): Das symbolische Kapital der Lebensstile. Zur Kultursoziologie der Moderne nach Pierre Bour­dieu, Frankfurt a. M. / New York 1994. Ausgehend von Bourdieus Untersuchung Die feinen Unterschiede versuchen die Beiträge empirisch zu klären, wie dessen Schluss­folgerungen für andere Kultur- und Zeiträume fruchtbar gemacht werden können.

Boike Rehbein, Gernot Saalmann, Hermann Schwengel (Hg.): Pierre Bourdieus Theorie des Sozialen. Probleme und Perspektiven, Kon­stanz 2003. Die Aufsätze dieses Bandes setzen sich entlang der zentralen Be­griffe »Kultur«, »Geschichte« und »Subjektivität« kritisch mit Bour­dieus Werk auseinander und entwickeln seine Ansätze weiter.

d) Bourdieu und der intellektuelle Kontext Frankreichs

Didier Eribon: Michel Foucault und seine Zeitgenossen, München 1998.

Wolfgang Essbach (Hg.): Welche Modernität? Intellektuelle Diskurse zwischen Deutschland und Frankreich im Spannungs feld nationaler und europäischer Identitätsbilder, Berlin 2000.

Joseph Jurt (Hg.): Zeitgenössische französische Denker: eine Bilanz, Freiburg 1998.

Stephan Moebius, Lothar Peter (Hg.): Französische Soziologie der Gegenwart, Konstanz 2004.

Michel Winock: Das Jahrhundert der Intellektuellen, Konstanz 2003.

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Page 61: Jurt Joseph Bourdieu 2008

Schlüsselbegriffe

Akteur Deutsche Übertragung des Begriffs »agent«, der in Oppo­sition steht zu den Konzepten »Individuum« oder »Subjekt«; der Akteur steht nicht im Gegensatz zur »Gesellschaft«, sondern ist Teil des sozialen Raumes. Das Soziale ist ihm über den Habitus einge­schrieben.

Autobiografie (siehe Sozioanalyse)

Determinismen Für Bourdieu ist menschliches Handeln nicht völlig frei, aber auch nicht in mechanischer Weise determiniert. Über den im Verlauf der Sozialisation erworbenen Habitus hängt das Handeln von den sozialen Bedingungen ab. Für Bourdieu gibt es aber auch ein reflektiertes, intentionelles Handeln. Die Erkenntnis der Determinismen soll dazu beitragen, sich von ihnen zu befreien.

Disposition Dispositionen sind dynamische Schemata, Tendenzen, die im Verlaufe der Sozialisation erworben werden und die sich im Kontakt mit bestimmten Strukturen eines Feldes aktualisieren (können).

Distinktion Die Distinktion ist eine Strategie der Differenzierung, durch Unterschiede, die nur funktionieren, wenn sie wahrgenom­men werden. Diese geschaffenen Unterschiede dienen der sozialen Abgrenzung, vor allem, wenn sie wie etwa beim Geschmack als quasi natürliche Eigenschaften ausgegeben werden.

Doxa Eine Sicht der Herrschenden, die die herrschende Ordnung als evident, selbstverständlich und universell erscheinen lässt. Jedes Feld kennt eine eigene Doxa, nicht hinterfragte Voraussetzungen, die das Feld begründen.

Feld Der soziale Raum differenzierte sich im Laufe der Geschichte in relativ autonome Felder (politisches, religiöses, literarisches Feld usw.) mit spezifischen Gegenständen und Interessen aus. Die Felder weisen strukturelle Ähnlichkeiten auf. Immer handelt es sich um

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Kraft- und Kampffelder: Die Herrschenden innerhalb eines Feldes versuchen die Legitimität zu wahren, die Beherrschten stellen sie infrage. Es existiert ein Hierarchieverhältnis zwischen den Feldern je nach ihrem jeweiligen Grad der Autonomie.

Habitus Unter »Habitus« versteht Bourdieu die dauerhaften, aber nicht unveränderlichen Dispositionen, die sich im Laufe der Sozia­lisation in den Körper einschreiben und die Handeln und Wahr­nehmen der Akteure entsprechend der Logik der einzelnen Felder bestimmen. Der Habitus ist ein Produkt der historischen und sozia­len Bedingungen und erklärt dIe Regelhaftigkeit des Handeins, die allerdings nicht auf eine mechanische Ausführung einer Regel zu­rückgeht, sondern dem Akteur einen gewissen Spielraum offenlässt.

Herrschaft Soziale Beziehungen sind für Bourdieu immer Herr­schafts beziehungen. Die Herrschaft setzt sich nicht in erster Linie durch physische Gewalt durch, sondern durch das, was Bourdieu symbolische Gewalt nennt, die auf dem unbewussten Einverständnis der Beherrschten mit der Herrschaftssituation beruht, das durch den Sozialisierungsprozess geschaffen wird. Die Ausübung der Herr­schaft hängt von der Anerkennung durch die Beherrschten ab. pas Feld der Macht besteht aus den Institutionen und Akteuren, die über so viel Kapital verfügen, um dominierende Positionen in verschie­denen Feldern zu besetzen. Herrschaftsverhältnisse werden bloß in Situationen der Liebe oder der Freundschaft aufgehoben.

Historisierung Die Historisierung ist ein wichtiges Verfahren, um soziale Phänomene, die als »natürlich« erscheinen, als ein Produkt der Geschichte erkennbar zu machen. Die Geschichte, die sich über den Habitus in den Körper und über die Felder in Institutionen ein­schreibt, bildet das soziale Unbewusste, das seine Wirkung auf der Ebene der Wahrnehmungen und der Dispositionen der Akteure ent­faltet.

Homologie »Homologie« oder »strukturelle Homologie« meint strukturelle Identitäten bei inhaltlichem Unterschied, so die Ent­sprechungen der (dominanten oder dominierten) Positionen in verschiedenen Feldern oder die Entsprechung zwischen der Ebene der Stellungen und der der Stellungsnahme innerhalb eines Feldes.

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Page 62: Jurt Joseph Bourdieu 2008

lIIusio »Illusio« meint das Sich-ins-Spiel-Einbringen. Es ist die stillschweigende unbewusste Anerkennung der Einsätze, der Not­wendigkeit der Existenz eines Feldes, die auch durch die feldinter­nen Antagonismen nie infrage gestellt werden.

Individuum/Gesellschaft Alltagssprachliche Unterscheidung, die nach Bourdieu nur politischer Natur ist, um eine polemische Po­sition zu beziehen (Individualismus/Kollektivismus). Die Unter­scheidung ist nicht relevant, weil das Soziale (über den Habitus) auch im Individuum präsent ist und die Gesellschaft sich aus Indi­viduen zusammensetzt.

Kapital Der Begriff »Kapital« bezieht sich bei Bourdieu nicht nur auf ökonomisches Kapital. Er unterscheidet zwischen dem ökono­mischen Kapital, dem kulturellen Kapital (gewisse Dispositionen, Besitz von Kulturgütern, Ausbildungstitel) und dem sozialen Kapital (Beziehungen, Netzwerke). Der jeweilige Kapitalbesitz hat in jedem Feld einen anderen Stellenwert (ökonomisches Kapital hat im lite­rarischen Feld keinen spezifischen Stellenwert). Das symbolische Kapital ist das Ansehen, das der spezifische Kapitalbesitz im je­weiligen Feld einbringt. Bourdieu operiert mit diesem weiten Kapitalbegriff, weil er dessen formale Kriterien (Akkumulation) in allen Feldern am Werk sieht. Er postuliert so eine allgemeine Öko­nomie menschlicher Handlungen, innerhalb der die wirtschaftliche Ökonomie nur einen Einzelfall darstellt.

Körper Die sozialen Strukturen schreiben sich auch in den Körper ein. Das Gefühl sozialer Unterlegenheit äußert sich auch über kör­perliche Reaktionen wie Schüchternheit; Erröten usw.

lebensstil Die Lebensstile sind die Produkte des Habitus, die in ihrer gegenseitigen Beziehung wahrgenommen werden und als so­ziale Werturteile funktionieren (»vornehm«, »vulgär«). Die Lebens­stile der Personen aus derselben sozialen Klasse sind untereinander abgestimmt, ohne dass dies bewusst intendiert würde. Siehe auch Distinktion.

legitimität Der Begriff wird von Bourdieu im Sinne von Max Weber angewandt. Es geht nicht um Sachurteile, sondern um die Wahrnehmung oder Anerkennung einer Praxis oder einer Institution

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als legitim. Meistens handelt es sich um eine dominante Praxis, die als dominante verkannt und als evident akzeptiert wird.

Objektivierung Der Soziologe untersucht die soziale Welt, zu der er selbst gehört; um sie zu analysieren, muss er eine Distanz aufbauen und die sozialen Phänomene wie Dinge behandeln (vgl. Durkheim) und mit dem Alltagswissen brechen. Ein wichtiges Mittel der Objek­tivierung ist die Statistik, die es erlaubt, Regelmäßigkeiten aufzu­decken.

Praktischer Sinn Der »praktische Sinn« meint das Wissen um die jeweilige Position, die den Akteur ohne Kalkül so handeln lässt, »wie es sich gehört«. Der praktische Sinn wird in der Sozialisation er­worben, wird dann aber zu einer »zweiten Natur«.

Praxeologische Erkenntnisweise Der Wissenschaftler muss als Beobachter mit den Alltagserfahrungen brechen, um die Praktiken aus der Gesamtperspektive zu interpretieren. In einem zweiten Schritt muss er versuchen, die spezifischen Bedingungen der Praxis der Akteure zu rekonstruieren (Zwang zum Handeln, Irreversibilität des Zeitflusses) .

Scholastische Erkenntnisweise Die Situation des wissenschaft­lichen Feldes ist die der schole, das heißt der Muße. Als Beobachter ist der Wissenschaftler nicht zum Handeln gezwungen und nicht in die Irreversibilität der Zeit eingebunden. Er hat den Blick aufs Ganze, während der Handelnde an einen bestimmten Standort ge­bunden ist. Der scholastische Irrtum besteht darin, die Logik des Beobachters auf die Logik des Handelnden zu projizieren.

Sozialer Raum Gemeint ist die Gesamtstruktur der modernen »Gesellschaft«, die sich in unterschiedliche Felder ausdifferenziert, in denen die Akteure auf der Basis ihrer Kapitalausstattung unter­schiedliche Positionen einnehmen, die zu Solidaritäten zwischen den Herrschenden oder den Beherrschten unterschiedlicher Felder führen können.

Sozioanalyse Begriff, der nach dem Vorbild der »Psychoanalyse« gebildet ist. Die Sozioanalyse untersucht die gesellschaftlichen Be­dingungen, die einen Akteur in seiner Laufbahn prägen, und setz!

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sich ab von der linearen Konstruktion der Autobiografie, die das Individuum vom Kontext isoliert.

Strategie Mit dem Begriff der Strategie setzt sich Bourdieu ab vom strukturalistischen Begriff der Regel, die bestimmte Handlungs­weisen determiniert. Die Strategie orientiert das Handeln hinsicht­lich eines Ziels je nach der Struktur des jeweiligen Feldes. Es handelt sich dabei nicht um ein intentionales Kalkül, sondern um eine spontane Anpassung an die Situation gemäß dem spezifischen »Spielsinn« des Akteurs.

Zeittafel

1930

1941-1947

1948-1951

1951-1954

1954

1954-1955

1955-1958

1958-1960

Geboren am 1. August in Denguin (Departement Pyre­nees-Atlantiques) Interner Schüler am Lycee Louis Barthou in Pau Vorbereitungsklassen am Lycee Louis-le-Grand in Paris Schüler der Ecole Normale Superieure (Rue d'Ulm), Studium an der Philosophischen Fakultät der Sorbonne Agregations-Examen Philosophielehrer am Lycee in Moulins Einberufung zur Armee in Versailles, dann Wehrdienst in Algerien Assistent für Philosophie an der Philosophischen Fa­kultät in Algier

1960-1961 Assistent von Raymond Aron an der Sorbonne 1961 -1964 MaHre de conferences (Akademischer Rat) an der

Philosophischen Fakultät von Lille 1964-2001 Directeur d'etudes an der Ecole des Hautes Etudes en

sciences sociales (EHESS) in Paris 1964-1984 Lehrauftrag an der Ecole Normale Superieure in Paris 1968 Gründung des Centre de sociologie europeenne (CSE)

an der EHESS 1970-1984 Direktor des Centre de sociologie de l'Mucation et de

la culture (EHESS-CNRS) 1982-2001 Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie am College de

France 2002 Gestorben am 23. Januar in Paris

Hera usgebertätigkeit

1964-1992 Buchreihe »Le sens commun« (Editions de Minuit) 1975-2002 Zeitschrift »Actes de la recherche en sciences sociales« 1989-1998 Bücherzeitschrift »Liber« 1996-2002 Buchreihe »Raisons d'agir« 1997-2002 Buchreihe »Liber« (Editions du Seuil)

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Auszeichnungen

1993 1996 1997 2000

2001

Goldmedaille des CNRS (als erster Soziologe) Erving Goffman Prize der Universität von Berkeley Ernst-BIoch-Preis der Stadt Ludwigshafen Huxley Memorial Medal Korrespondierendes Mitglied der Britischen Akademie

Ehrendoktorate

1985 1996

1996 1998

128

Freie Universität Berlin Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Universität Athen Universität Ioensuu (Finnland)

I ~

Dank

Stephanie Müller, die das Typoskript vorbereitet und kritisch gelesen hat, danke ich sehr herzlich.

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