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DIE WELT KOMPAKT MONTAG, 1. OKTOBER 2018 SEITE 8 KULTUR O bwohl er seit Jahren in Genf lebt, hat der Bestsellerautor Paulo Coelho („Der Alchi- mist“) nach wie vor eine enge Bin- dung zu seiner brasilianischen Heimat. Frühere linke Präsidenten wie Luiz Lula da Silva und Dilma Rousseff hatte er anfangs unter- stützt und später umso energi- scher deren Missmanagement kri- tisiert. VON MARTIN SCHOLZ Die Regierung Rousseff etwa ha- be das Blaue vom Himmel verspro- chen und nichts davon gehalten, zürnte er vor fünf Jahren in einem Interview mit WELT AM SONN- TAG. Als wir ihn in seiner Genfer Wohnung treffen, fällt sein Kom- mentar zur aktuellen Lage in sei- ner Heimat noch drastischer aus. WELT: Senhor Coelho, als Brasi- lien vor fünf Jahren Gastland der Frankfurter Buchmesse war, gin- gen Sie aus Protest gegen den bra- silianischen Kultusminister nicht hin. Die damalige brasilianische Regierung unter Dilma Rousseff nannten Sie ein „Desaster“. Über- all im Land springe einen der „Teufel der Korruption“ an. Am 7. Oktober wird dort gewählt. Wie sehen Sie Ihr Land heute? PAULO COELHO: Die Situation heute ist noch viel schlimmer als damals. Ex-Präsident Lula da Silva wur- de wegen Korruption zu zwölf Jahren Haft verurteilt – und von der Arbeiterpartei PT dennoch als Präsidentschaftskandidat nominiert. Bis das Oberste Wahlgericht seine Zulassung kippte. Es ist nicht das Einzige, was im aktuellen Wahlkampf kompliziert ist. Sie konnten es ihm nicht erlauben, als Kandidat ins Rennen um die Präsidentschaft einzusteigen. Das hat nicht unbedingt damit zu tun, dass es kompliziert ist, sondern mit Manipulation. Die herrschen- de Klasse will eben für immer die herrschende Klasse sein. Sie wer- den Lula da Silva im Gefängnis be- halten. Aber dann werden die Wahlen keine Wertigkeit haben. Umfragen hatten Lula da Silva schließlich lange auf Platz eins ge- sehen und vorausgesagt, dass er 37 Prozent der Stimmen bekommen würde. Derzeit liegt in Umfragen der rechtsextreme Kandidat Jair Bolsonaro vorn, der bei einer Messerattacke schwer verletzt wurde, sich aber auf dem Weg der Besserung befindet. Er hat- te gegen Homosexuelle und Minderheiten gehetzt und un- ter anderem die brasilianische Militärdiktatur verherrlicht. Macht Ihnen das Angst? Wir wissen zurzeit nicht, wohin all das führen wird. Ich habe große Angst um mein Land. Ich habe Angst, dass es zu einem Staats- streich kommen könnte oder dass Brasilien auf eine ähnliche Situati- on zusteuert, in der jetzt unser Nachbarland Venezuela steckt. Vor der schweren Wirtschafts- krise und großen Not daheim sind Zehntausende Venezolaner in Nachbarländer geflohen – auch nach Brasilien. Dort wur- den unlängst zwei Flüchtlings- lager im Norden von Einheimi- schen angegriffen und zerstört. Ja. Es war das erste Mal, dass et- was Derartiges in Brasilien pas- siert ist. Es sieht so aus, als befän- de sich Venezuela derzeit in einer sehr komplizierten Lage. Und Bra- silien könnte, wenn sich die politi- sche Krise in unserem Land ver- schärft, ein weiteres, gigantisches Venezuela werden – mit sehr vie- len verarmten Menschen und stark wachsenden Arbeitslosen- zahlen. Obwohl Sie die meiste Zeit in Genf leben, sind Sie Ihrer Hei- mat über Ihre Stiftung, mit der Sie mittellose Kinder in den Fa- velas unterstützen, den Elends- vierteln von Rio de Janeiro, nach wie vor verbunden. Sie äu- ßerten mal Ihren Unmut darü- ber, dass sich auch der von Ih- nen unterstützte Präsident Lula da Silva nicht groß für die Ar- men oder Ihre Hilfsprojekte in- teressiert hatte. Das haben sie nie gemacht, kein Politiker hat sich für solche Pro- jekte interessiert, ganz gleich, wer gerade Präsident war. Dass ich für die Arbeit meiner Stiftung irgendeine Unterstützung von- seiten der Regierung bekomme, wäre so ziemlich das Letzte, was ich erwarten würde. Ist mir auch egal. Die Politiker werden sich selbst zerstören. Dieses Monster, zu dem sich die brasilianische Politik ausgewachsen hat, wird sich irgendwann selbst fressen. Man muss sich die Politik in Bra- silien wie das Uroboros-Symbol vorstellen, das die Schlange zeigt, die den eigenen Schwanz frisst. Ich spreche meine Kritik laut und deutlich aus, sage, was ich von der Situation in Brasilien halte. Und dafür verabscheuen sie mich, sie hassen mich deshalb. Wie dem auch sei, in Rio de Janeiro kümmere ich mich wei- terhin um 500 Kinder, unterstüt- ze ein Krankenhaus in Bahia. Und ich finanziere Stipendien. All das ist nur ein Tropfen auf den hei- ßen Stein – das weiß ich auch. Ich werde dennoch weitermachen, den Tropfen weiterhin auf den heißen Stein träufeln. Aber ich mache mir auch keine Illusionen: Ich kann damit nicht wirklich et- was verändern. Nein, er schwebt nicht: Paulo Coelho in seiner Hippie-Zeit NEW YORK Massenpanik bei Musikfestival Das Global Citizen Festival in New York ist von einer Mas- senpanik überschattet worden. Hunderte Menschen stürmten zu den Ausgängen des Konzert- geländes im Central Park, nachdem Zuschauer wegen vermeintlicher Schüsse Alarm geschlagen hatten. KANYE WEST Heißt der nächste US-Präsident Ye? Der Rapper Kanye West nennt sich ab sofort Ye. „Der Mensch, der früher als Kanye West bekannt war – ich bin Ye“, schrieb er auf Twitter. Der Rapper gab dies kurz vor ei- nem Auftritt in der TV-Show „Saturday Night Live“ bekannt. Dabei wurde deutlich, dass er seine politische Einstellung nicht geändert hat. Ye trug eine Kappe mit Trumps Motto „Make America great again“. Er wiederholte auch sein Interes- se, 2020 selbst als Präsident- schaftskandidat anzutreten. KOMPAKT V erkehrsminister Scheuer ist sich noch nicht ganz sicher, wie er der Auto- industrie zu neuen Profiten verhelfen wird, aber die Autoin- dustrie weiß zumindest, dass sie sich auf ihren Mann in Ber- lin verlassen kann. Bald, sehr bald soll eine Entscheidung ver- kündet werden, und sie wird sehr gut sein. Im Gespräch ist eine Umtauschprämie in Höhe von 10.000 Euro. Die bekommt jeder, der seinen alten Betrugs- diesel gegen einen neuen Be- trugsdiesel eintauscht. Das ist gut für das Klima. Vor allem für das Klima in den Vorstandseta- gen der Autobauer. Aber Vor- sicht, in den nächsten Wochen besteht dort Lebensgefahr we- gen tief fliegender Champa- gnerkorken. Ganz kurz hatte die Autoindustrie Angst, sie müsse vielleicht Verantwor- tung übernehmen. Doch nun ist klar, dass der Scheuer-Andi ihr helfen wird, die Lagerbestände von neuen Betrugsdieseln ab- zubauen. Die kann man dann schon in fünf Jahren gegen ei- nen Elektrodiesel oder etwas anderes eintauschen. Vielleicht ein Hybridfahrzeug, bei dem der Kunde für ein paar Minuten vom Betrugs- in den Ehrlich- keitsmodus wechseln kann. Zippert zappt „Ich habe große Angst um mein Land“ Der brasilianische Bestsellerautor Paulo Coelho über die bevorstehenden Wahlen in seiner Heimat und darüber, wie er in den 70er-Jahren die Folter der Militärdiktatur überlebte PAULO COELHO Die Welt + Die Welt Kompakt, Berlin, verk. Gesamtaufl.: 169’529, Reichweite: 710’000

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DIE WELT KOMPAKT MONTAG, 1. OKTOBER 2018 SEITE 8KULTUR

Obwohl er seit Jahren inGenf lebt, hat derBestsellerautor PauloCoelho („Der Alchi-

mist“) nach wie vor eine enge Bin-dung zu seiner brasilianischenHeimat. Frühere linke Präsidentenwie Luiz Lula da Silva und DilmaRousseff hatte er anfangs unter-stützt und später umso energi-scher deren Missmanagement kri-tisiert.

VON MARTIN SCHOLZ

Die Regierung Rousseff etwa ha-be das Blaue vom Himmel verspro-chen und nichts davon gehalten,zürnte er vor fünf Jahren in einemInterview mit WELT AM SONN-TAG. Als wir ihn in seiner GenferWohnung treffen, fällt sein Kom-mentar zur aktuellen Lage in sei-ner Heimat noch drastischer aus.

WELT: Senhor Coelho, als Brasi-lien vor fünf Jahren Gastland derFrankfurter Buchmesse war, gin-gen Sie aus Protest gegen den bra-silianischen Kultusminister nichthin. Die damalige brasilianischeRegierung unter Dilma Rousseffnannten Sie ein „Desaster“. Über-all im Land springe einen der„Teufel der Korruption“ an. Am 7.Oktober wird dort gewählt. Wiesehen Sie Ihr Land heute?PAULO COELHO: Die Situationheute ist noch viel schlimmer alsdamals.

Ex-Präsident Lula da Silva wur-de wegen Korruption zu zwölfJahren Haft verurteilt – und vonder Arbeiterpartei PT dennochals Präsidentschaftskandidatnominiert. Bis das ObersteWahlgericht seine Zulassungkippte. Es ist nicht das Einzige,

was im aktuellen Wahlkampfkompliziert ist.Sie konnten es ihm nicht erlauben,als Kandidat ins Rennen um diePräsidentschaft einzusteigen. Dashat nicht unbedingt damit zu tun,dass es kompliziert ist, sondernmit Manipulation. Die herrschen-de Klasse will eben für immer dieherrschende Klasse sein. Sie wer-den Lula da Silva im Gefängnis be-halten. Aber dann werden dieWahlen keine Wertigkeit haben.Umfragen hatten Lula da Silvaschließlich lange auf Platz eins ge-sehen und vorausgesagt, dass er 37Prozent der Stimmen bekommenwürde.

Derzeit liegt in Umfragen derrechtsextreme Kandidat JairBolsonaro vorn, der bei einerMesserattacke schwer verletztwurde, sich aber auf dem Weg

der Besserung befindet. Er hat-te gegen Homosexuelle undMinderheiten gehetzt und un-ter anderem die brasilianischeMilitärdiktatur verherrlicht.Macht Ihnen das Angst?Wir wissen zurzeit nicht, wohin alldas führen wird. Ich habe großeAngst um mein Land. Ich habeAngst, dass es zu einem Staats-streich kommen könnte oder dassBrasilien auf eine ähnliche Situati-on zusteuert, in der jetzt unserNachbarland Venezuela steckt.

Vor der schweren Wirtschafts-krise und großen Not daheimsind Zehntausende Venezolanerin Nachbarländer geflohen –auch nach Brasilien. Dort wur-den unlängst zwei Flüchtlings-lager im Norden von Einheimi-schen angegriffen und zerstört.Ja. Es war das erste Mal, dass et-was Derartiges in Brasilien pas-siert ist. Es sieht so aus, als befän-de sich Venezuela derzeit in einersehr komplizierten Lage. Und Bra-silien könnte, wenn sich die politi-sche Krise in unserem Land ver-schärft, ein weiteres, gigantischesVenezuela werden – mit sehr vie-len verarmten Menschen undstark wachsenden Arbeitslosen-zahlen.

Obwohl Sie die meiste Zeit inGenf leben, sind Sie Ihrer Hei-mat über Ihre Stiftung, mit derSie mittellose Kinder in den Fa-velas unterstützen, den Elends-vierteln von Rio de Janeiro,nach wie vor verbunden. Sie äu-ßerten mal Ihren Unmut darü-ber, dass sich auch der von Ih-nen unterstützte Präsident Lulada Silva nicht groß für die Ar-men oder Ihre Hilfsprojekte in-teressiert hatte.Das haben sie nie gemacht, keinPolitiker hat sich für solche Pro-jekte interessiert, ganz gleich,wer gerade Präsident war. Dassich für die Arbeit meiner Stiftungirgendeine Unterstützung von-seiten der Regierung bekomme,wäre so ziemlich das Letzte, wasich erwarten würde. Ist mir auchegal. Die Politiker werden sichselbst zerstören. Dieses Monster,zu dem sich die brasilianischePolitik ausgewachsen hat, wirdsich irgendwann selbst fressen.Man muss sich die Politik in Bra-silien wie das Uroboros-Symbolvorstellen, das die Schlange zeigt,die den eigenen Schwanz frisst.Ich spreche meine Kritik laut unddeutlich aus, sage, was ich vonder Situation in Brasilien halte.Und dafür verabscheuen siemich, sie hassen mich deshalb.Wie dem auch sei, in Rio deJaneiro kümmere ich mich wei-terhin um 500 Kinder, unterstüt-ze ein Krankenhaus in Bahia. Undich finanziere Stipendien. All dasist nur ein Tropfen auf den hei-ßen Stein – das weiß ich auch. Ichwerde dennoch weitermachen,den Tropfen weiterhin auf denheißen Stein träufeln. Aber ichmache mir auch keine Illusionen:Ich kann damit nicht wirklich et-was verändern.

Nein, er schwebt nicht: Paulo Coelho in seiner Hippie-Zeit

NEW YORKMassenpanik beiMusikfestivalDas Global Citizen Festival inNew York ist von einer Mas-senpanik überschattet worden.Hunderte Menschen stürmtenzu den Ausgängen des Konzert-geländes im Central Park,nachdem Zuschauer wegenvermeintlicher Schüsse Alarmgeschlagen hatten.

KANYE WESTHeißt der nächsteUS-Präsident Ye?Der Rapper Kanye West nenntsich ab sofort Ye. „Der Mensch,der früher als Kanye Westbekannt war – ich bin Ye“,schrieb er auf Twitter. DerRapper gab dies kurz vor ei-nem Auftritt in der TV-Show„Saturday Night Live“ bekannt.Dabei wurde deutlich, dass erseine politische Einstellungnicht geändert hat. Ye trugeine Kappe mit Trumps Motto„Make America great again“. Erwiederholte auch sein Interes-se, 2020 selbst als Präsident-schaftskandidat anzutreten.

KOMPAKT

V erkehrsminister Scheuerist sich noch nicht ganzsicher, wie er der Auto-

industrie zu neuen Profitenverhelfen wird, aber die Autoin-dustrie weiß zumindest, dasssie sich auf ihren Mann in Ber-lin verlassen kann. Bald, sehrbald soll eine Entscheidung ver-kündet werden, und sie wirdsehr gut sein. Im Gespräch isteine Umtauschprämie in Höhevon 10.000 Euro. Die bekommtjeder, der seinen alten Betrugs-diesel gegen einen neuen Be-trugsdiesel eintauscht. Das istgut für das Klima. Vor allem fürdas Klima in den Vorstandseta-gen der Autobauer. Aber Vor-sicht, in den nächsten Wochenbesteht dort Lebensgefahr we-gen tief fliegender Champa-gnerkorken. Ganz kurz hattedie Autoindustrie Angst, siemüsse vielleicht Verantwor-tung übernehmen. Doch nun istklar, dass der Scheuer-Andi ihrhelfen wird, die Lagerbeständevon neuen Betrugsdieseln ab-zubauen. Die kann man dannschon in fünf Jahren gegen ei-nen Elektrodiesel oder etwasanderes eintauschen. Vielleichtein Hybridfahrzeug, bei demder Kunde für ein paar Minutenvom Betrugs- in den Ehrlich-keitsmodus wechseln kann.

Zippertzappt

„Ich habe große Angstum mein Land“Der brasilianische Bestsellerautor Paulo Coelho über diebevorstehenden Wahlen in seiner Heimat und darüber, wie er in den 70er-Jahren die Folter der Militärdiktatur überlebte

PAUL

O COE

LHO

Die Welt + Die Welt Kompakt, Berlin, verk. Gesamtaufl . : 169’529, Reichweite: 710’000

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Klingt resigniert. Kein Kandidatin Sicht, den Sie unterstützenwürden?Nein, nein, nein. Und das geht janicht nur mir so. Die jüngsten Um-fragen zeigen, dass 60 Prozent derBefragten in Brasilien nicht zurWahl gehen wollen. Mehr als dieHälfte der Bevölkerung denkt so!Was für ein trauriges Land.

Sie haben erlebt, wie Brasilienunter der Militärdiktatur der70er-Jahre ein Land im Ausnah-mezustand war. In Ihrem neuenRoman „Hippie“ schreiben Sieerstmals über Ihre Traumata indieser Zeit. Damals waren Sienoch Musiker und wegen Ihrerprovokativen Texte dreimal vonder Junta inhaftiert und auchgefoltert worden.Ja, das war der Hauptgrund, wa-rum sie mich beim zweiten undbeim dritten Mal eingesperrt hat-ten. Beim ersten Mal war ich ein-fach nur dumm genug gewesen,zum falschen Zeitpunkt am fal-schen Ort gewesen zu sein.

Sie haben in Interviews über Ih-re Foltererlebnisse gesprochen,aber nie darüber geschrieben.Es fällt schwer, diese Passagenzu lesen: Sie waren völlig ausge-

liefert, nackt, verängstigt, ge-trennt von Ihrer Freundin, dieauch verhaftet wurde. Sieschreiben, dass Sie nicht wuss-ten, ob Sie da lebend wieder he-rauskommen würden. VerfolgtSie das bis heute?Ich habe diese Erfahrungen in et-wa drei Tagen aufgeschrieben.Und während ich schrieb, fühlteich mich frei, es kam mir wirklichso vor, als würde ich mich von denFolgen dieser Erlebnisse befreien.Dachte ich jedenfalls. Bis michmeine Frau Christina sah, dienicht wusste, worüber ich schrieb.Sie sagte mir nur: „Du siehst selt-sam, sehr mitgenommen aus.“ Eswar wahrscheinlich doch schmerz-voller, als ich es mir selbst einge-stehen wollte. Ich kenne vieleMenschen, die damals von derJunta verhaftet wurden, und siespüren bis heute diesen Schmerz.Schmerz kann zwar vergehen.Aber dieses Gefühl der Hoffnungs-losigkeit, dass du in so einer Situa-tion verloren bist und niemandenhast, mit dem du reden könntest –das bleibt. Folter verändert einenMenschen für immer.

Sie beschreiben, wie IhreFreundin und Sie freigelassenwerden, Kapuzen überm Kopf,

auf der Rückbank eines Polizei-autos sitzend. Während Sie vorlauter Angst kein Wort heraus-bringen, beschimpft IhreFreundin den Polizisten. Ihreautobiografische Romanfigurfragt sich, ob sie zu feige war.Haben Sie sich das selbst auchvorgeworfen?Sehen Sie, niemand weiß, wie ersich in so einer Situation verhal-ten würde. Niemand. Ich beschrei-be ja nur eine Form der Folter –aber es gibt sehr viele. Die physi-sche habe ich erlebt, als ich nacktin einer Zelle war, geschlagen wur-de und Elektroschocks erhielt.Manchmal können dich diese Leu-te aber auch zerstören, ohne dichanzurühren. Durch psychologi-sche Folter. Ich erinnere michnoch gut an eine bedrohliche Si-tuation: Ich war eingesperrt in ei-ner Zelle, die komplett schwarzwar. Keine Fenster. Gar nichts. Duöffnest deine Augen: Allesschwarz. Du schließt deine Augen:Alles schwarz. Hinzu kam dieseeiskalte Aircondition, die voll auf-gedreht war. Ich kam mir vor, alssäße ich in einem Kühlschrank.Ich dachte in dem Moment an dieMystiker, den spanischen Karme-liter Johannes vom Kreuz, derähnliche Situationen überlebt hat-

te, als er eingekerkert, misshan-delt und gedemütigt worden war.

Das fiel Ihnen in dem Momentein?Ja, ich konnte mich damit ablen-ken, mit Gedanken an ein Buch,das Johannes vom Kreuz geschrie-ben hatte: „Die dunkle Nacht derSeele“. Ich dachte: Gut, wenn erdas schaffte, kann ich das auch. Esdauert nur 15 Minuten, bis ichmerkte: Das schaffst du dochnicht, das hältst du nicht durch.Du drehst durch. Man verliert ein-fach den Verstand.

Sie haben die Klimaanlage IhrerWohnung gerade auch auf eis-kalt gestellt. Bringt das keineschlechten Erinnerungen zu-rück?Nein, nein. Ich muss auch nichtnachts ein Licht anlassen, um ein-schlafen zu können. Mit der Zeitsind diese Erlebnisse verblasst.Aber viele meiner Freunde wurdenals Folge dessen verbittert. Abernicht nur ich habe in diesen Situa-tionen damals gelitten, auch mei-ne Eltern, die nicht wussten, woich war. Ich war verschwunden. (ermacht eine lange Pause) Es ist selt-sam, dass Sie mich jetzt danachfragen.

Warum?Jetzt, wo ich wieder intensiver da-rüber nachdenke, fällt mir ein,dass ich damals glaubte: „Niemandwird sich mehr um mich küm-mern. Warum rufen meine Elternnicht an? Warum unternehmenmeine Eltern nichts? Warum las-sen sie mich hier im Gefängnis sit-zen?“

Haben Sie später mit Ihren El-tern darüber gesprochen?Nein. Ich war erst mal einfach zu-rück nach Hause gegangen. Da sahich dann, dass mein Vater sich eineWaffe zugelegt hatte. Er legte sievor mir auf den Tisch. Ich fragteihn: „Was soll diese Waffe in unse-rem Haus?“ Er sagte: „Wenn siedas noch mal mit dir probieren,werde ich sie erschießen.“ Ich ant-wortete: „Aber du hast doch nursechs Kugeln. Dann werden siedich erschießen.“ Und da antwor-tete mein Vater nur: „Das ist miregal.“ Meine Verhaftungen, dieFolter – das waren Ereignisse, diedamals die gesamte Struktur mei-ner Familie verändert haben. Ein-fach alles. Du wirst paranoid.

Wie haben Sie es überwunden?Nur durch die Zeit. Die Zeit war fürmich die beste Medizin dagegen.

DIE WELT KOMPAKT MONTAG, 1. OKTOBER 2018 KULTUR 9

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