Kanon und Repertoire in der...

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1 VO Einführung in die Musikwissenschaft WS 2009/10, Nr. 160017, Termin 27.11.2009 (Rainer J. Schwob) Kanon und Repertoire in der Musikwissenschaft Thema betrifft historische und systema- tische Musikwissenschaft (im Prinzip auch Ethnomusikologie) Einige Werke sind bekannter als andere: Zufall? Qualität? System? Derzeit große Umbrüche in Kanon und Repertoire?

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VO Einführung in die Musikwissenschaft

WS 2009/10, Nr. 160017, Termin 27.11.2009 (Rainer J. Schwob)

Kanon und Repertoire in der Musikwissenschaft

• Thema betrifft historische und systema-tische Musikwissenschaft (im Prinzip auch Ethnomusikologie)

• Einige Werke sind bekannter als andere: Zufall? Qualität? System?

• Derzeit große Umbrüche in Kanon und Repertoire?

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ÜBERSICHT

• Definition von Kanon, Repertoire, Klassik

• Historischer Überblick

o Römischer Choral o Magnus liber organi

(Notre-Dame-Schule) o Komponisten: Machaut, Josquin,

Palestrina, Monteverdi o Evangelischer Choral o Komponisten: Pergolesi,

Händel, Gluck o „Wiener Klassik“: um 1800 o um 1900 o heute o Situation in Jazz, Rock, Pop, Musical?

• Diskussion

o Kanon heute? o Repertoire statt Kanon? o national(istisch)? o Pflichtkanon für Studierende?

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Definition von Kanon

• griech. κανω̃ν, lat. kanon:

o Richtschnur, Regel, Norm; o Monochord; Wasserorgel: Tonkanzelle

• Philosophie: in etwa Gebrauch der Logik

• Kirche:

o kanonische Schriften der Bibel (Gegenteil: Apokryphen)

o Kanon der Heiligen o Kanonikus = Chorherr / im Domkapitel o byz. Kirchenmusik: Hymnenform

• Literatur:

o in etwa Auswahl wertvoller Werke o griech. Literatur: Kanon

� der Tragödiendichter (Aischylos, Sophokles, Euripides),

� der Redner, � der Lyriker…

o Kanon der Weltliteratur: ab Homer o Germanistische Institute (u. ä.):

Leselisten mit Pflichtlektüre

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• Musik, Musikwissenschaft:

o (Monochord, Tonkanzelle, Hymnenform…)

o mehrstimmiges Gesangsstück, identische Stimmen, regelmäßig versetzter Einsatz; Kanon im Einklang, in der Sekund, in der Quint…, imitatorische Technik, vgl. „fuga“

o Auswahl der wertvollsten Werke: im Sprachgebrauch, aber so nicht in Lexika

DEFINITIONEN

Definition von Repertoire (repertorium)

• Verzeichnis, (übertragen) Sammlung

• Ensemble, Virtuose: einstudierte Stücke

• Sänger: einstudierte Rollen

• verallgemeinert: was man im Konzertsaal / in der Oper erwarten kann

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Unterschiede Kanon – Repertoire

• Kanon: ideell bis dogmatisch, wissen-schaftsnäher, Forderung, eher Lektüre

• Repertoire: praktisch, Angebot

Definition von „Klassik“

• „erstklassig“, vorzüglich

• vollkommene Entsprechung von Inhalt und Form (Struktur)

• zeitlos

• … aber bestimmte Epochen: griechische, italienische, französische Klassik, Litera-tur: Weimarer Klassik

• Musik: Wiener Klassik (Haydn + Mozart + ev. Beethoven; geprägt von Amadeus Wendt 1836); klass. Kunstlied, klass. Operette etc.

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HISTORISCHER ÜBERBLICK

Römischer Choral

• Cantus planus, „Gregorianik“

• erst mündlich notiert, dann schriftlich fixiert

• mehrere „Reformen“ und „Bereinigungen“

• Als cantus firmus Grundlage für große Teile der frühen Mehrstimmigkeit

• Seit dem 19. Jahrhundert systematisch erforscht

• bis heute ‚gültig‘ und in Verwendung

• „Kanon“ und „Repertoire“

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Magnus liber

• frühe Mehrstimmigkeit

• in mehreren Handschriften (W1, W2, F u. a.) überliefert

• Schule von Notre Dame (Paris): Magister Leoninus, Magister Perotinus (Magnus)

• Namen von englischem Traktat des Anonymus IV überliefert

• Interesse möglicherweise erst retrospektiv

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Einzelne Komponisten

• Guillaume de Machaut (um 1300–1377)

o geschlossenes Werk, selbst redigierte handschriftliche „Gesamtausgabe“, Vorbildwirkung

• Josquin des Prez (um 1450-1521)

o soz. der ersten Komponist, dessen Werk gedruckt wurde (Petrucci 1501)

o „Fürst der Musik“, starke Rezeption durch andere Komponisten, „Parodiemessen“

• Giovanni Pierluigi da Palestrina (ca. 1525–1594)

o Stil in Kompositionslehre kanonisiert (J. J. Fux, Gradus ad Parnassum)

o nach seinem Tod in Rom weiter aufgeführt

o Legende: „Retter der Kirchenmusik“

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• Claudio Monteverdi (1567–1643)

o 8 Madrigalbücher (1587-1683) sind stil-bildend: vom 5st. Satz über gewagte Dissonanzen bis zum dramatischen Stil

Evangelische Choräle

• volkssprachige Strophenlieder (zunächst „Cantica“ oder „Lieder“ genannt)

• Texte: Übersetzungen aus dem Lateinischen oder Neudichtungen

• Melodien: teilw. aus römischem Choral, teilw. Volksliedgut, teilw. Neuschöpfung

• bis heute gesungen

• ungezählte Choralbearbeitungen

• regional stark variabel, daher Repertoire, kein Kanon

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Weitere Komponisten

• Johann Sebastian Bach (1685-1750)

o Nur wenige Drucke; Wohltemperiertes Clavier z. B. nicht gedruckt

o zu Lebzeiten und nach seinem Tode von Musikern weit geachtet (also Kanon),

� aber außerhalb seiner Wirkungs-stätte nur Kennern bekannt: nicht Repertoire

o Im Repertoire seit „Wiederentdeckung“ (Matthäuspassion 1829 / Mendelssohn)

• Georg Friedrich Händel (1685-1759)

o Oratorien werden nach dem Tod in England weiter aufgeführt (Festivals!)

o Opern aber nicht

o ab ca. 1790er: Oratorien auch in Deutschland gepflegt

o Wassermusik, Feuerwerksmusik…

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• Giovanni Battista Pergolesi (1710-1736)

o Intermezzo La serva padrona hält sich lange im Repertoire

o Stabat mater von Musikschriftstel-lern bis 1800 viel beachtet, Kanon

• Christoph Willibald Gluck (1714-1787)

o Reform der Opera seria (ab 1762)

o Werke Ende 18. Jh. und im 19. Jh. auf der Bühne sehr beliebt

„Wiener Klassik“

• Mozart stirbt 1791, Haydn lebt bis 1809,

o aber schon um 1800 sind sie für viele Kritiker das Maß aller Dinge

• Werke „veralten“ nicht, werden immer weiter aufgeführt

• kommerzielle Gründe (Notenhandel!)

• nationale Gründe („deutsch“ – wie übri-gens auch Bach, Händel, später Schütz)

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• Historisierung der Musik

• ca. 1799 bis 1810 kommt Beethoven hinzu: Kanonisierung eines Repertoires

• Werke von Haydn und Mozart bald nicht mehr Vorbild für junge Komponisten, sondern sozusagen unerreichbar

• Ausdruck „Wiener Klassik“: angeblich von Amadeus Wendt 1836 geprägt (aber schon früher in Verwendung)

(Aus: Wiener allgemeine musika-

lische Zeitung 1. Jg., Nr. 43 vom 27. Okt. 1813, Sp. 669-670.)

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Situation um 1900

• Es gibt ein Repertoire der Konzertsäle und Opernhäuser

o (z. B. Beethovens Sinfonien),

• und es ist noch möglich, hineinzukommen

o (z. B. Richard Strauss’ Sinfonische Dichtungen und Opern).

• Dadurch wächst das Repertoire,

o und der Raum für Zeitgenössisches schrumpft.

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Situation heute: Repertoire

• Mediale Verfügbarkeit eines gigantischen „Repertoires“ (LPs, CDs seit 1982, .mp3…)

• Ständige „Wiederentdeckungen“ von Raritäten (z. B. Schubert-Opern…)

• Repertoire wächst in die Vergangenheit (Renaissance, Mittelalter) und platzt deshalb aus allen Nähten

• Repertoire wächst kaum in der Gegen-wart (György Ligeti? Arvo Pärt? Krzysztof Penderecki? Wolfgang Rihm?)

Situation heute: Kanon

• Dekonstruktion des Kanons durch 1968er:

o lange Zeit Ablehnung eines Kanons von „Meisterwerken“

• de facto gibt es den Kanon aber doch noch (Kompositionsunterricht, Musikwissenschaft, Musikkritik…

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Situation heute: andere Stile (Jazz, Rock, Pop, Musical…)

• kürzere Geschichte,

o aber verblüffend ähnliche Tendenzen

• Musical: 12 ältere Broadway-Musicals de facto kanonisiert (u. a. Oklahoma, Kiss Me Kate, My Fair Lady, West Side Story)

• Jazz-Kanon: die Standards („Fake Book“)

• Pop:

o Repertoire medial verfügbar (Commedian Harmonists… Elvis Presley… Jimi Hendrix…)

o Tendenzen zum Kanon? o Anders als in der sog. „Klassik“ ver-

drängt älterer Pop die zeitgenössische Produktion weniger

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DISKUSSION

• Ist ein Kanon heute noch sinnvoll?

• Ersetzt die Praxis (das Repertoire) die Theorie (den Kanon)?

• Fördert die Idee eines Kanons natio-nalistische Tendenzen?

• Sollte es einen Pflichtkanon für Studie-rende der Musikwissenschaft geben?

o Vorteile o Nachteile o überhaupt praktikabel?

• Welche Werke würden Sie in einen Kanon aufnehmen (objektiv)?

o Würden Sie subjektiv anders entscheiden?

• Kontakt: [email protected] • Weitere Informationen und

Literaturangaben (demnächst) auf http://homepage.univie.ac.at/rainer.schwob