Kant DritteTranszendentaleIdee Libre

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  • 8/20/2019 Kant DritteTranszendentaleIdee Libre

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    Kants dritte transzendentale IdeeLu Jiang, Universität Regensburg

     Dieser Artikel ist die unveränderte Fassung einer Hauptseminararbeit, die ich während meines

     Magisterstudiums an der Universität Heidelberg eingereicht habe und mit der Note 1,3 benotet

    wurde

    Vorwort

    In der vorliegenden Arbeit wird versucht, die dritte transzendentale Idee in ihrer logischen und

    realen Konstruktion klarzumachen. Genau in diesem Versuch wird deutlich, daß es keine

    prozessuale Entwicklung zu dieser Idee gibt, weil sie der Vernunft immer schon innewohnt und

    bei diesem Konstruktionsversuch genau so wie bei jeder Vernunfthandlung vorausgesetzt ist und

    auch vorausgesetzt sein muß. Es gibt zwar eine gewisse Entwicklung der Idee zum Ideal, d.i. von

    der Idee der durchgängigen Bestimmung der Dinge zur Idee des Inbegriffs aller Möglichkeit, und

    dann zum transzendentalen Ideal des „entis realissimi“, und schließlich zu dem personifizierten

    Gott mit der höchsten Intelligenz. Bei näherer Betrachtung entdeckt man jedoch, daß diese Ideen

    und Begriffe sich gegenseitig implizieren und jede/jeder bei ihrer/seiner eigenen Entfaltung die

    anderen braucht. So machen sie zusammen gar keine zeitliche Entwicklung aus. Bei ihnen gibt es

    also kein früher und später. Es handelt hier um eine dialektische Bewegung der Vernunft zu sich

    selbst! Alle Begriffe sind unterschiedliche Entfaltungsformen der Naturanlage der Vernunft.

    Durch sie, da sie ja nun den Keim zur Gestalten bringen, ist eine Reflexion der Vernunftermöglicht. Diese besteht gerade darin, daß die Vernunft sich über die selbst geschöpften

    Gestalten täuscht, und dann durch strenge Kritik wieder zur Selbstaufklärung gelangt. Dieser

    Prozeß sieht nach einer zirkulären Bewegung aus, bringt jedoch den Gewinn, daß die Vernunft

    dabei das Selbstbewußtsein und damit methodisches Wissen erlangt, wie sie am besten ihre

    Naturanlage handhaben soll.

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    Die vorliegende Arbeit behandelt die unterschiedlichen Entfaltungsformen der Vernunft in Bezug

    auf die dritte transzendentale Idee. Die Reihenfolge soll also nicht als zeitlich verstanden werden.

    Sie richtet sich nach den verschiedenen Arten des Vernunftgebrauchs. Dann wird den

    Reflexionsprozeß der Vernunft behandelt, wo der transzendentale Schein im Mittelpunkt steht.

    Die Gefahr besteht darin, daß die Vernunft durch die dogmatische Metaphysik nicht zur

    Selbstaufklärung kommt. So wird auch der logische Schein in den dogmatischen Gottesbeweis

    behandelt. Zum letzen wird der Nutzen des transzendentalen Ideals behandelt, um zu zeigen, daß

    es als die Selbstentfaltung der Vernunft nicht ein grundloses Hirngespinst ist.

    Alle Zitaten aus der ersten und dritten Kritik entnehme ich der Suhrkamp-Ausgabe, die auch im

    Literaturverzeichnis aufgelistet ist. Alle lateinischen Wörter und Zitaten werden kursiv gedruckt.

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    I. Von den transzendentalen Ideen im Allgemeinen

    Das transzendentale Ideal resultiert bekanntlich aus der Hypostasierung der dritten

    transzendentalen Idee. Von daher ist es vom Nutzen, zuerst zu erläutern, was eine Vernunftideeüberhaupt und die dritte Vernunftidee speziell ist. Kant definiert eine Vernunftidee als „einen

    Begriff aus Notionen, der die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt“ (KrV. A320), während eine

    Notion ein reiner Begriff ist, welcher „lediglich im Verstande seinen Ursprung hat“ (ebd.)1. Eine

    Notion hat aber mittels eines Schemas den transzendentalen Gebrauch auf einen real

    existierenden Gegenstand bzw. auf seine Erscheinung. Ein Vernunftbegriff ist dagegen

    transzendent , d.h., er läßt sich nicht auf Erscheinungen beziehen. Sein Gegenstand, wenn er einen

    hat, muß auch von begrifflicher Natur sein. Er ist also eine Erkenntnis a priori, „durch welche die

    Gegenstände möglich sind“ (Metaphysik L2 79, S.577). Denn bei ihm geht es nicht um die

    Bestimmung eines gegebenen Gegenstandes durch ihn, sondern darum, daß man nach einem

    Gegenstand suchen muß, der ihm angemessen ist. Die Erscheinungen unterliegen den

    Verstandesbegriffen bzw. Kategorien als ihren Bedingungen a priori, die aber für sich allein noch

    keine Erkenntnisse ausmachen. Die Erkenntnis eines Gegenstandes der Erscheinung ergibt sich

    erst aus einem Urteil. Der Vernunftbegriff bzw. Idee legt aber bereits von vorne rein fest, wie sein

    Gegenstand sein soll. Er ist zugleich die durchgängige Bestimmung seines Gegenstandes.

    Während jede Kategorie nur ein Teil der Bedingungen a priori eines Gegenstandes ist, steht derVernunftbegriff allein zur Bestimmung seines Gegenstandes.

    Ein Vernunftbegriff ist jedoch aus den Verstandesbegriffen bzw. Notionen herausentwickelt (vgl.

    seine Definition oben). Das bedeutet also, daß er nicht nur hinsichtlich seines Gegenstandes

    transzendent ist, sondern hinsichtlich der Kategorien eine transzendentale Bedeutung hat, welche

    darin besteht, daß ein Vernunftbegriff allen Erfahrungserkenntnissen insofern eine Einheit stiftet,

    als er diese als bestimmt durch eine absolute Totalität der Bedingung (vgl. KrV B384) betrachtet.

    Er entspricht dem Grundsatz bzw. Prinzip a priori der erkennenden Vernunft. Dieser Grundsatz

    ist die Maxime des Vernunftgebrauchs, die lautet : „wenn das Bedingte gegeben ist, so sei auch

    die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben

    1 „Eine Notion ist ein reiner Verstandesbegriff, der durch Beziehung der Form eines Urteils auf

    einen Gegenstand entsteht. Eine ursprüngliche Notion heißt Kategorien“ (Schmid, C. C. Erhard1798: 403).

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    (d. i. in dem Gegenstande und seiner Verknüpfung enthalten)“ (KrV B365). Hier gibt diese

    Maxime der wissenschaftlichen Forschung auf, immer weiter nach einer höheren Bedingung zu

    suchen. Auf diese Weise stellt der Vernunftbegriff die Totalität der Bedingungen vor. Wenn also

    ein sinnlicher Gegenstand gegeben ist, dann ist, laut der Maxime des Vernunftgebrauches, auch

    die Totalität aller seiner Bedingungen mitgegeben. Dabei kann man merken, daß der

    Vernunftbegriff bereits vorausgesetzt ist, indem wir von einem einzelnen Gegenstand ausgehen

    und immer weiter nach seinen Bedingungen suchen. Um uns wiederum den Vernunftbegriff

    deutlich zu machen, gibt es keinen anderen Weg, also vom Einzelding heraus zu versuchen, die

    Totalität zu „re“konstruieren. So müssen wir den Reihen hinauffolgen, um alle Bedingungen zu

    finden. Die Reihe besteht aber, weil wir von einem Einzelding ausgehen, aus Dingen oder

    Begriffen, die sich in einer bestimmten Relation bedingen. Es gibt nun drei Verstandesrelationen:

    die kategorische, die hypothetische und die disjunktivische. So gibt es drei Arten, zur Totalität zugelangen. Die dritte Vernunftidee entwickelt sich aus der disjunktivischen Relation. Sie ist, um

    etwas vorauszugreifen, die „Idee von dem Inbegriff aller Möglichkeit“ (KrV B601/A573).

    Die Vernunftideen sind an sich fehlerfrei, denn wenn man sie nicht voraussetzt, kann die

    menschliche Erkenntnis nicht erweitert werden. Der falsche Schein kommt erst durch einen

    Mißbrauch dieser Ideen. Man kann unter drei verschiedenen Arten vom Vernunftgebrauch

    unterscheiden2: dem logischen, dem realen und dem transzendentalen Gebrauch. Der logische

    Gebrauch ist zu schließen, es geht dabei nur um die reine Form und daher kann nur einen

    logischen Schein erzeugen, wenn Unaufmerksamkeit aufgetreten ist. Er ist leicht vermeidbar und

    deswegen anders als der transzendentale Schein der Vernunft, der eine notwendige Illusion

    darstellt. Im Gegensatz zu ihm geht es beim realen Gebrauchen der Vernunft um den Inhalt des

    Begriffs. Durch diesen Gebrauch werden auch die Ideen erzeugt. Er ist also transzendental und

    vereint die Verstandesregeln unter Prinzipien zur Einheit. In dem die Vernunft die Idee

    zustandebringt, wird sie bereits vorausgesetzt. Das heißt, die Vernunft hat bereits die Idee. Durch

    den logischen und realen Gebrauch wird sie in ihrer logischen Struktur und ihrem begrifflichen

    Inhalt zur Deutlichkeit gebracht. Dadurch kommt jedoch noch kein transzendentaler Schein

    zustande, der sich anmaßt, nicht erfahrbaren Dinge zu erkennen. Er kommt erst durch den dritten

    Vernunftgebrauch, nämlich den transzendentalen Gebrauch zustande. Kant nennt ihn „eine Logik

    des Scheins, einen besonderen Teil des scholastischen Lehrgebäudes“ (KrV B170/A131). Die

    2 Vgl. Ratke 1929: 85.

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    dritte Vernunftidee ist also zunächst fehlerfrei. Sie entwickelt sich aber weiter zu dem

    transzendentalen Ideal und schließlich zum Wesen aller Wesen, und verwickelt sich dabei in

    einen Schein. Es gilt nun zu forschen, wie diese Idee durch den logischen und realen Gebrauch

    zustande bzw. zur Deutlichkeit gebracht wird und wie die Vernunft sie weiter zum Gottesbegriff

    entwickelt und dann den transzendentalen Schein vom Dasein Gottes erzeugt. Da der

    transzendentale Schein nach Kant kein gekünstelter, sondern ein natürlicher und unvermeidlicher

    Schein ist, soll es auch die Aufgabe der vorliegenden Arbeite sein, den Nutzen sowohl des

    zunächst fehlerfreien als auch des dann in Schein gebrachten Ideals zu zeigen.

    II. Die dritte transzendentale Idee

    II.I Die Bildung der dritten Vernunftidee durch den logischen bzw. reinen Gebrauch der

    Vernunft

    Kant zeigt in seiner B-Deduktion, wie de reinen Verstandesbegriffe auf die logischen Funktionen

    der Urteile zurückzuführen sind. Die Vernunftbegriffe als Begriffe aus Notionen bzw. reinen

    Verstandesbegriffen müssen also auch ihren Ursprung in diesen logischen Funktionen haben.

    Daher ist es für die Untersuchung, wie die Vernunftbegriffe bzw. Ideen gebildet werden, von

    Bedeutung, sie im Sicht des logischen Vernunftgebrauchs zu betrachten.

    Die Vernunft ist hinsichtlich ihres logischen Gebrauchs das Vermögen, mittelbar zu schließen

    (KrV B360/A303). Die Konklusion eines Vernunftschlusses ist ein Urteil synthetisch a priori. Das

    heißt, in diesem Urteil wird nicht eine Anschauung mit einem Begriff verbunden, wie in einem

    Urteil synthetisch a posteriori, was das Geschäft des Verstandes ist, sondern einen Begriff mit

    einem anderen. Es ist auch anders als ein Urteil analytisch a priori, das unmittelbar aus einem

    gegebenen Satz folgt, was ebenfalls der Verstandeshandlung angehört. Der Vernunftschluß ist ein

    mittelbarer Schluß, weil er einen Obersatz und einen vermittelnden Untersatz braucht, um zur

    Konklusion zu kommen. Sie ist das Ergebnis eines Syllogismus. Ein Mittelbegriff   (terminus

    medius) verbindet die beiden Sätze bzw. Prämissen. Die Leistung der Vernunft besteht nun darin,

    die beiden anderen Begriffe (den Ober- und Unterbegriff) in diesem Syllogismus miteinander zu

    verknüpfen. Das von Kant gegebene Beispiel ist wie folgendes (vgl. KrV B379/A322):

    Alle Menschen sind sterblich.

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    Caius ist ein Mensch.

    Also: Caius ist sterblich.

    Hier geht es um eine Erkenntnis durch Begriffe. In diesem Beispiel ist der Schluß erst gültig,

    wenn der Obersatz eine All-Aussage ist. Das bedeutet, der Mittelbegriff wird dort in seinem

    ganzen Umfang gefaßt. Im Obersatz ist das Prädikat „sterblich“ die Bedingung des Subjektes

    „Mensch“, welches in seinem ganzen Begriffsumfang vorgestellt wird. Der logischen Form nach

    steht der Obersatz also in der Allgemeinheit (universalitas) (vgl. KrV B379/A322), und der

    synthetischen Einheit der Bedingung nach in der Allheit (universitas) (ebd.). Die Allgemeinheit

    ist ein Modus der Urteilstafel (vgl. KrV B95/A70)) und die Allheit einer der Kategorientafel (vgl.

    KrV B106/A80). Beides steht unter dem Titel „Quantität“. Die Allheit stellt eine synthetische

    Einheit vor, nämlich die Totalität der Bedingung. Das heißt also, der Obersatz bietet mit derTotalität der Bedingung den Grund dar, daß wir Caius als einen einzelnen Gegenstand darunter

    subsumieren dürfen.

    Nach der Maxime des Vernunftgebrauchs (vgl. S.1 der vorliegenden Arbeit) muß die Vernunft

    nach allgemeineren Bedingungen eines Gegebenes suchen. Sie muß also Prosyllogismen

    schließen, um weiterzukommen. Diese Maxime ist zugleich ein Gesetz der Vernunft, welches als

    ein Gesetz subjektive Notwendigkeit besitzt. Alle empirischen Begriffe sind nämlich bedingt.

    Wenn also einer unter ihnen im Obersatz als Mittelbegriff fungiert, müssen alle seinen

    Bedingungen als wahr angenommen werden. Denn sonst könnten wir seine eigene Wahrheit nicht

    annehmen und nicht unter ihm subsumieren. Der Vernunft genügt aber diese grundlose Annahme

    nicht und will weiter zum Unbedingten aufsteigen, um den Grund aller Bedingungen zu

    erforschen. Dies erfolgt in immer weiter steigenden Prosyllogismen, wo man den Schlußsatz und

    den Untersatz als gegeben hat und nach dem Obersatz sucht. Das gesuchte Unbedingte soll die

    Totalität aller Bedingungen vorstellen. Es ist eine transzendentale Idee. So muß man bei der

    Bildung einer transzendentalen Idee zwei Aspekte beachten: die reine bzw. logische Form des

    Schlusses als den formalen Aspekt einerseits und die Synthesis aller Bedingungen als den

    inhaltlichen bzw. realen Aspekt andererseits.

    Der Form nach gibt es drei Vernunftschlüsse: den kategorischen, den hypothetischen und den

    disjunktiven. Sie entsprechen den drei Modi unter dem Titel „Relation“ in der Urteilstafel, denn

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    die drei Relationen stellen die logischen Funktionen bzw. Verstandeshandlungen vor, die

    Vorstellungen miteinander verbinden und sie dadurch im Verhältnis von Bedingung zum

    Bedingtem betrachten. Die kategorische Relation verbindet Begriffe, die hypothetische zwei

    Urteile, und die disjunktive mehrerer Urteile im Verhältnis gegeneinander (vgl. KrV B98/A73).

    Im kategorischen Vernunftschluß werden der Ober- und Unterbegriff nach dem Verhältnis ihrer

    Extension3  verbunden. Im kategorischen Prosyllogismus wird dann nach dem Oberbegriff

    gesucht, dessen Umfang den des Mittel- so wie Unterbegriffes umfaßt. Hier geht es um ein

    logisch notwendiges Verhältnis zwischen Begriffen.

    Der hypothetische Vernunftschluß verbindet zwei bloß mögliche Urteile nach dem Naturgesetzt.

    Im hypothetischen Prosyllogismus wird nach einem anderen möglichen Urteil gesucht, das dem

    Naturgesetz nach dem Untersatz als notwendige Bedingung dient.

    Der disjunktive Schluß ist eine Mischung aus dem kategorischen und hypothetischen4. Der

    Oberbegriff und all seine Glieder sind bereits gegeben. Es geht nun darum, wie im

    hypothetischen Urteil, eines von den möglichen Gliedern zu setzen, wodurch all die übrigen als

    ausgeschlossen gelten. Im Unterschied zum hypothetischen Schluß, wo beide Urteile bloß

    möglich sind, muß hier eines und nur eines unter den Gliedern als wahr gelten, weil es hier wie

    im kategorischen Schluß um begriffliche Verhältnisse geht. Das Ausgangsurteil hat die Form von

    „S ist P oder S ist Q oder S ist R wobei die Kopula zu lesen ist wie das mengetheoretische

    Symbol ‚⊂’ “. Es besteht also aus Teilsätzen, die miteinander in konträrem Verhältnis stehen. Die

    Wahrheit eines davon setzt die Falschheit aller anderen und umgekehrt. Durch das Ausgangsurteil

    ist die Wahrheit noch keines Teilsatzes gesetzt. Extensional betrachtet ist der Begriffsumfang von

    S in den Umfang P’s, Q’s und R’s untergliedert. Anders als bei einem kategorischen Schluß, wo

    die Umfänge der Begriffe sich einschließen sollen, schließen hier die Umfänge der Begriffe sich

    gegenseitig aus bzw. haben keine Überlappung miteinander. Von einem hypothetischen Schluß,

    wo beide Teilsätze nur möglich sind, unterscheidet dieser Schluß dagegen in der Hinsicht, daß

    einer unter seinen Teilsätzen gelten muß. Anders gesagt, die unbedingte Geltung genau eines

    dieser Sätze wird angenommen5. Der Schluß für sich betrachtet bringt keine neue Erkenntnis mit

    3 Zum Beispiel sind alle Modi der scholastischen Syllogistik kategorische Schlüsse (vgl. KrV

    B141-2, Fußnote), die mittels Mengendiagramms zu lösen sind.4 Vgl. Wolff, M. 1995: 147.

    5 Ebd.

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    sich, weil im Obersatz der Oberbegriff mit seiner ganzen Einteilung alle Erkenntnisse in sich hat.

    Er dient also einem anderen Zweck: der Schluß, wo man einen Teilsatz setzt und dadurch die

    Möglichkeit aller anderen Teilsätze ausschließt, dient zur logischen Bestimmung eines Begriffes,

    weil man dadurch einem allgemeinen Begriff ein weiteres Prädikat/eine weitere Bestimmung

    hinzufügt und dadurch einen inhaltsreicheren Begriff erhält6. Ein solcher Schluß zur Bestimmung

    eines Begriffes ist wie folgendes7:

    S ist P oder S ist Q (wobei die Kopula aber zu lesen ist: P ⊂ S, Q ⊂ S)

    B ist P

    B ist S

    In diesem Fall wird der Begriff B durch den Oberbegriff S, wessen Umfang den seines umfaßt,

    andererseits durch eines der Prädikate, bzw. der Glieder des Umfangs von S, bedingt. Der

    eingeteilte Oberbegriff dient selber wie in einem kategorischen Schluß als notwendige

    Bestimmung, anderseits neue Prädikate, die dagegen wie in einem hypothetischen Schluß bloß

    möglich sind. Extensional gesehen ist der zu bestimmende Begriff B in dem Umfang des

    Oberbegriffs S eingeschlossen, intentional gesehen ist der Begriffsinhalt B’s eine Synthesis vom

    Begriffsinhalt von S und P. Zum Beispiel der Schluß:

    Alle Lebewesen sind vernunftbegabt oder nicht vernunftbegabt.

    Der Mensch ist vernunftbegabt.

    Also ist der Mensch ein Lebewesen.

    Der zu bestimmende Begriff ist „Mensch“. Durch diesen Schluß bekommt man seine Definition,

    nämlich das vernunftbegabte Lebewesen. Das bedeutet, in einem disjunktiven Schluß werden die

    Begriffe sowohl extensional als auch intentional miteinander in Beziehung gebracht.

    6 Vgl. „Die logische Bestimmung eines Begriffs beruht auf einem disjunktiven Vernunftschlusse,

    in welchem der Obersatz eine logische Einteilung (die Teilung der Sphäre eines allgemeinenBegriffs) enthält, der Untersatz diese Sphäre bis auf einen Teil einschränkt und der Schlußsatzden Begriff durch diesen bestimmt“ (KrV. B. 604/5 – A 576/7).7 Diese Form ist entnommen aus: Schulthess, Peter: 1980. S.316.

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    Das direkt auf das oben erwähnte Ausgangsurteil folgende Urteil im Prosyllogismus sieht dann so

    aus: „Y ist S oder Y ist S1“. Die Reihe kann noch höher gefolgt werden, indem man einen Satz

    „Z ist Y oder Z ist Y1“ hinzufügt, und so fort. In der aufsteigenden Reihe soll man zu dem

    umfangsreichsten Begriff 8 aufsteigen, der aber inhaltlich am ärmsten sein soll, also wie zum

    Begriff des Seienden bei Duns Scotus9. Andererseits ist die Einteilung eines Oberbegriffs auf

     jeder Stufe beibehalten und gliedert auf verschachtelte Weise diesen Umfangsreichsten Begriff.

    Jedes Glied eines eingeteilten Begriffs kann jedoch auch selber als Erkenntnisgrund dienen, wenn

    man seinen Umfang einteilt. So kann man gleichfalls einen Episyllogismus starten, in welchem

    man Sätze bilden wie: „X ist B oder X ist C“ und „B ist D oder B ist F“ usw. Kant schreibt zwar

    in der Kritik der reinen Vernunft, daß die Fortsetzung des Bedingten per episyllogismos keine

    notwendige Aufgabe der Vernunft sein, während die ganze aufsteigende Reihe zum Unbedingtennotwendigerweise vorausgesetzt und der entsprechende Aufstieg aufgeben werde (vgl. KrV

    B388/A331). Aber man kommt allein von der aufsteigenden Reihe eines einzigen Begriffs nicht

    zum All der Prädikate, wie die dritte transzendentale Idee ist. Man muß auch beachten, daß die

    Bedingung bei einem disjunktiven Schluß nicht der Oberbegriff allein, sonder auch seine

    Einteilung ausmachen. Deswegen ist die Bedingung immer noch nicht vollständig erforscht, so

    lange die sich ausschließenden Glieder selber nicht vollständig eingeteilt sind. Daher müssen alle

    glieder per episyllogismos immer weiter eingeteilt werden, bis man sowohl durch den Aufstieg

    als auch den Abstieg alle möglichen Prädikate in den umfangsreichsten Begriff eingliedert. Das

    heißt, der sowohl aufsteigende als auch absteigende Prozeß würde nicht aufhören, bis man, wenn

    es nur möglich wäre, zu einem Satz „S ist X und S ist Y, wo unter X sämtliche Prädikate

    8 Hier geht ein Prozeß der Abstraktion vor, und dieser Begriff ist durch die größte mögliche

    Abstraktion erworben. Intentional ist er ein solcher Begriff, „von dem sich keine Bestimmungweiter wegdenken läßt“ (vgl. Jäsche-Logik: A154-5).9 Das Seiende (ens) als Begriff transzendiert über die kategorialen Bestimmungen. Der

    transzensus „geschieht nach Scotus durch einen Rückstieg bzw. eine resolutio unserer distinktenBegriffe, als deren letztes Resultat sich ein in allen washeitlichen Begriffen enthaltener, ‚ersterdistinkt erkennbarer Begriff’( primus conceptus distincte conceptibilis Ord. I d.3 p.1. q.3 nn. 113-4, ed. Vat. IV 205 f.) einstellt, der sich nicht mehr in weitere Teilbegriffe auflösen läßt, sondernein Begriff von einem schlechthin einfachen Gehalt ist. Dieser Begriff bring eine certitudo zumAusdruck, die vorprädikativ in jedem Begriff ausgesagt wird, nämlich die, Begriff von Etwasüberhaupt, von ‚Seiendem’ zu sein“ (Honnefelder 1990: XVI). Unter Seienden zählt alles, waseine Washeit besitzt, d.h. nicht nur die aktual existierenden Einzeldinge, sondern auch dieGattungen und Spezies (ebd.S.5). Kant hat zwar Scotus nicht gelesen, aber der scotische Einflußbleibt über die Vermittlung des Suárez bei Wolff noch bestehen.

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    enthalten wären, also ausgeschrieben: S ist X1 oder X2 oder ... oder... Xn oder Y“10

     kämme. Der

    Begriff S zusammen mit all seinen Prädikaten ist die omnitudo  realitatis11

     bzw. der „Inbegriff

    aller Möglichkeiten“ (KrV. B 601/A 573). Dabei ist zu beachten, daß der Inbegriff aller

    Möglichkeit in sich strukturiert sein muß, statt ein Aggregat12

     von all den Prädikaten zu sein.

    Denn er ist durch den Polysyllogismus gewonnen, und jeder Schritt des ganzen Prozesses trägt

    bei der Strukturierung bei13

    . Einerseits soll man wie in dem kategorischen Prosyllogismus zu dem

    umfangsreichsten Begriff kommen, andererseits soll jeder Begriff, der in dem Pro- und

    Episyllogismus auftaucht, gemäß der Vernunftidee der Totalität aller Bedingungen bis zu einem

    singulären Begriff, der am inhaltsreichsten ist, eingeteilt werden, welcher sich in seinem Umfang

    nicht mehr einteilen läßt. Denn

    „ein jeder Begriff ist in Ansehung dessen, was in ihm selbst nicht enthalten ist, unbestimmt, undsteht unter dem Grundsatz der Bestimmbarkeit: daß nur eines, von jeden zween einanderkontradiktorisch-entgegengesetzten Prädikaten, ihm zukommen könne, welcher auf dem Satzedes Widerspruchs beruht, und daher ein bloß logisches Prinzip ist, das von allem Inhalte derErkenntnis abstrahiert, und nichts, als die logische Form derselben von Augen hat“ (KrV. B600/A 572).

    Auf diese Weise kann jeder (nicht leere) allgemeine Begriff in seinem Umfang aufgeteilt werden.

    Man kann sich vorstellen, daß unter dem Begriff B die Dinge A, B, C und D fallen. So kann man

    dem Begriff B so aufteilen, indem man seinem Begriffsinhalt ein Prädikat (Pa) wie „die

    Eigenschaft, die dem Ding und nur dem Ding A zukommt“ zufügen, und sein kontradiktorisch-

    entgegengesetztes Prädikat ¬Pa, wenn in diesem Fall keine Universalien mehr als geeignete

    Prädikate gefunden werden können. Weil der disjunktive Schluß die unbedingte Geltung eines

    der Teilsätze der eingeteilten Erkenntnis voraussetzt, und wenn man von einem empirischen

    10 Vgl. Schulthess 1980: 316.

    11 Ebd. Schulthess hat nicht erklärt, was man unter dem Prädikat Y verstehen soll. Es läßt sich

    aber vermuten, daß X und Y die beiden Prädikate „endlich“ und „unendlich“ darstellen. Dennnach Scotus zählt Gott auch zum Seienden, so sind unter X die Prädikate aller endlichen Dingeenthalten. Und in der scotischen Tradition stellt Wolff Gott unter der obersten Gattung desSeienden (vgl. Honnefelder 1990: 317). Genaues wird im folgenden Abschnitt über den realenVernunftgebrauch dargelegt.12

     In KrV. B380/A323 nennt Kant den Inbegriff ein „Aggregat“, aber ein paar Zeilen oben benutzter das Wort „System“.13

     Die Struktur des Inbegriffs aller Möglichkeiten muß meiner Vermutung nach einer Art desBaumes des Porphyrius ähneln.

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    Begriff bzw. nicht leeren Begriff ausgeht und weiter mit empirischen Begriffen operiert14

    , beendet

    man den absteigenden Prozeß mit einem Begriff, unter den ein und nur ein einziges Individuum

    fällt. Das heißt, dieser Begriff ist nicht leer, entspricht aber nur einem einzigen Ding. Er ist nicht

    nur extensional nicht mehr aufteilbar, sondern auch intensional nicht mehr erweiterbar. In diesem

    Fall ist man vom Begriff zum Ding gekommen. Erst dadurch ist die Idee des Inbegriffs aller

    Möglichkeit vollendet. Dieser Übergang ist insofern möglich, als sowohl die Begriffe, die dem

    logischen Prinzip der Bestimmbarkeit unterliegen, als auch die Dinge, die dem ontologischen

    Prinzip der durchgängigen Bestimmung unterliegen, nämlich daß von allen möglichen

    entgegengesetzten Prädikaten jedem Dinge eines zukommt, zu ihrer Bestimmung des

    disjunktiven Urteils bedürfen (vgl. Prolegomena §43 Anm.) Dieser Übergang ist andererseits

    insofern nötig, als ein Ding als erstes nur durch einen allgemeinen Begriff von uns vorgestellt

    wird. Zum Beispiel ist Ding A ein Mensch. So ist die Vorstellung von A ein Exemplar von demBegriff „Mensch“. Weil das Ding A unter dem Prinzip der durchgängigen Bestimmung steht, wird

    sein vollständiger Begriff als Ziel der Erkenntnis gesetzt (vgl. KrV B600/A572). So wird der

    Abstieg von diesem allgemeinen Begriff gleichsam wie der Aufstieg zum Inbegriff aller

    Möglichkeit als Aufgabe geboten. Der Abstieg endet, oder soll bei dem vollständigen Begriff

    eines Individuums enden. Mit dem vollständigen Begriff eines Individuums ist hier das Wolffsche

    „ens omnimode determinatum“ (Ontologia §225) gemeint. Der Inbegriff aller Möglichkeit bietet

    alles dar, was ein Ding sein kann. Der vollständige Begriff läuft durch die ganze Sphäre des

    Inbegriffes aller Möglichkeit hindurch und nimmt auf jeder Stufe eines von ein paar

    entgegengesetzten Prädikaten in Anspruch. Kants erklärt zu dem Prinzip der durchgängigen

    Bestimmung, daß es bedeutet, daß „nicht nur von jedem Paar einander entgegengesetzter

    gegebenen, sondern auch von allen möglichen Prädikaten ihm immer eines zukomme“ (KrV

    B601/A573). Laut dieses Prinzips muß der aus empirischen Begriffen zusammengesetzten

    Inbegriff noch um alle nicht empirischen, aber möglichen bzw. logisch widerspruchsfreien und

    deswegen denkbaren Prädikate bereichert, um überhaupt der Grund dafür zu sein, weshalb ein

    Ding so aber nicht anders ist. Erst dann tritt ein Ding von Potenz zum Aktus über, wenn es

    dadurch vollständig bestimmt wird und keine Möglichkeit mehr frei hat, anders zu sein. Und erst

    dadurch ist es intensional möglich, bis zum individuellen Begriff abzusteigen. Denn vorne wird

    nur die extensionale Möglichkeit betrachtet, die Sphäre eines nicht leeren Begriffs bis zu Sphären

    14 Die Vernunft ordnet sie an, bildet aber selber keine solchen Begriffe, was die Aufgabe des

    reflektierenden Verstandes ist.

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    von Begriffen aufzuteilen, die ein und nur ein Exemplar haben. Die Eigenschaft, durchgängig

    bestimmt zu sein, haben und haben nur die existierenden Dinge. Deswegen gilt der Satz aus der

    Wolffschen Lehre, daß alles, was existiert, durchgängig bestimmt ist. In dieser Anforderung liegt

    dem Inbegriff aller Möglichkeit nicht nur der Satz vom Widerspruch zugrunde, sondern auch der

    Satz vom zureichenden Grund. Erst durch Annahme beider Prinzipien kann man einem

    Einzelding auf der noumenalen Ebene in einen singulären Begriff umwandeln, dessen

    Begriffsintension alles beinhaltet, wodurch man seinen Begriff von dem eines anderen Dinges auf

    analytische Weise unterscheiden kann. Dies entspricht also der differentia numerica  in einem

    vollständigen ontologischen System.

    Man kann die Aufteilung der Begriffe mit dem Porphyrischen Baum15

     vergleichen. Die Begriffe

    der höheren Gattungen lassen sich durch eine intensionale Hinzufügung von determinationibus

     propriis16   zu den der niedrigeren Gattungen erweitern. Die Begriffe der Spezies sind

    Erweiterungen der Begriffe ihrer Gattung durch die differentiam specificam17 ,  und die Begriffe

    der Individuen Erweiterungen der Begriffe ihrer Spezies durch die differentiam numericam18 . Die

    Bestimmungen bzw. Determinationen der Genera und Spezies sind aber Unversalien19

    , weil sie

    bei der Bestimmung der allgemeinen Begriffen wie Genera und Spezies zugleich die Dinge

    bestimmen, die unter solche Begriffe fallen, d.h. dann, sie sind Eigenschaften, die mehreren

    Dingen zukommen. Dagegen ist die differentia  numerica Eigenschaft, die nur einem einzigen

    Dinge zukommt. Ein jede differentia numerica steht also seiner Definition nach in Repugnanz zu

    allen anderen differentiis numericiis. Einem singulären Begriff kann also eine und nur eine

    differentia numerica zukommen. Er ist aber zugleich in dem von dem allgemeinsten Begriff

    herabsteigenden Prozeß mit allen möglichen universalen Prädikaten verglichen, und auf jeder

    Ebene des Episyllogismus mit je einem Paar kontradiktorisch-entgegengesetzten Begriffen

    15 Hinsichtlich des Grundsatzes der durchgängigen Bestimmung knüpft Kant an die Ontologie der

    Schulphilosophie an (vgl. dazu Sala 1990: 240-1).16 Vgl. Wolff. Ontologia §242: „notio generis inferioris componatur ex notione generis superioris& determinationibus sibi propriis“.17

     Vgl. Wolff. Ontologia. §255: „ Notio speciei componitur ex notione generis, sub quo eacontinetur, & differentia specifica. Sint adeo species B & C contentae sub genere A, differentiae

    specificae D & E; B erit A + D, G vero A +E “.18

     Vgl. Wolff. Ontologia. § 257: „Quoniam notio individui componitur ex notione speciei, sub quacontinetur, & differntia numerica“.19

     Vgl. Wolff. Ontologia. §236: „ Nonnunquam determinationes genericae & specificae simulvocantur universales“.

    12

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    verglichen und durch einen unter beiden bestimmt worden. Alle anderen Begriffen auf derselben

    Ebene sind entweder beim Setzen eines Prädikates unter den beiden kontradiktorischen oder beim

    Setzen auf einer höheren Ebene bereits mit dem verneinten Oberbegriffes mit ausgeschlossen.

    Auf diese Weise kann man einem singulären Begriff intensional nichts mehr hinzufügen. Ein

    solcher Begriff erfüllt also die Bedingung der durchgängigen Bestimmung20  (determinatio

    omnimode).

    II.II Der logische Gebrauch der Idee des Inbegriffs aller Möglichkeit

    Nach Kant ist aber die durchgängige Bestimmung

    „ein Begriff, den wir niemals in concreto seiner Totalität nach darstellen können, und gründetsich also auf einer Idee, welche lediglich in der Vernunft ihren Sitz hat, die dem Verstande die

    Regel seines vollständigen Gebrauches vorschreibt21

    “ (KrV. B 601/A573).

    „ In concreto“ heißt hier, Begriffe auf eine konkrete Anschauung verwenden zu können22

    . Die

    Anwendung in concreto  ist nicht möglich, weil im Prinzip der durchgängigen Bestimmung

    besteht bereits eine transzendentale Anforderung, nämlich die Anforderung des zureichenden

    Grundes. Von einem empirischen Begriff ausgehend, sowohl durch Aufstieg als auch Abstieg,

    kann man den Inbegriff aller Möglichkeit nie vollständig rekonstruieren, noch gelangt man durch

    den logischen Gebrauch zu einem durchgängig bestimmten singulären Begriff, weil einem nur

    die empirische Begriffe und das logische Prinzip des Widerspruchs zur Verfügung stehen. Er ist

    also nicht erst durch die logische Konstruktion zustande gebracht, sondern bereits vorausgesetzt.

    Unter dieser Voraussetzung wird die vollständige Analytizität eines Dinges als Aufgabe gegeben.

    Diese Voraussetzung ist real bzw. transzendental. Und diese Aufgabe gehört bereits zum realen

    20 Vgl. Wolff. Ontologia. §225: „ Ens omnimode determinatum dicitur, in quo nihil concipitur

    indeterminatum, quo nondum determinato cetera, quae insunt, actu esse nequeunt “. Diesentspricht auch der Behauptung Kants „ein jedes Ding aber, seiner Möglichkeit nach, steht nochunter dem Grundsatze der durchgängigen Bestimmung, nach welchem ihm von allen möglichenPrädikaten der Dinge, so fern sie mit ihren Gegenteilen verglichen werden, eines zukommenmuß“ (KrV. A 571).21

     Kant wendet sich hier gegen die Wolffsche Lehre, daß es das ens singulare geben kann. Dievollständige Bestimmung eines Dinges ist also nur eine Idee und nicht im empirischen Urteil zuverwenden. Diese Idee impliziert die Idee des Inbegriffs aller Möglichkeit, die gleichfalls nichterreichbar ist.22

     Vgl. Schmid 1798: 153: „Concreto in, d.h. in der wirklichen Natur, den wirklichenGegenständen der Erfahrung. Hier kann manches anders beschaffen sein, als in abstracto d. i.wenn wir bloß den reinen Begriff von einer Sache in Erwägung ziehen, ohne auf dasjenige zusehen, was überdies noch in der sinnlichen Anschauung eines Gegenstandes liegt“.

    13

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    Vernunftgebrauch. In dem Versuch, von einem empirischen Begriff heraus das System zu

    rekonstruieren, spielt jedoch der logische Vernunftgebrauch die Hauptrolle. Dabei muß der

    Vernunftbegriff bereits vorausgesetzt sein, welcher aber nur regulativ zu gebrauchen ist. Seine

    Verwendung besteht darin, die Dinge und ihre empirischen Bestimmungen im Hinblick auf eine

    systematische23 Ordnung zu regulieren. Schulthess nennt diese die transzendente Funktion der

    Vernunftidee, und vergleicht sie mit der Logarithmusfunktion wie folgendes:

    log (1+x) = 1/k(x/1-x2 /2+x

    3 /3-...), wo bei k = 1e die Basis ist (vgl. Schulthess 1980: 309).

    Die reinen Verstandesbegriffe sind mögliche Formen der Urteile und repräsentieren somit die

    Verhältnisse zwischen zwei möglichen Gegenständen. Die Vernunftideen der Totalität aller

    Bedingungen enthalten jedoch nicht nur die Verhältnisse zwischen den Gegenständen, sondernauch alle möglichen Gegenstände. Die Logarithmusfunktion wird durch eine Reihe von

    repetitionibus  infinitis  ausgedruckt. Nach Euler gehören Logarithmusfunktionen zu den

    transzendenten Funktionen. So kann man sie analogisch zu den transzendenten Vernunftideen

    betrachten, und die Entfaltung der unendlichen Reihe analogisch zu den Verstandesurteilen, die

    unendlich viele Paare (analog betrachtet ähnelt einem solchen Paar von Gegenständen von realen

    Gegenständen dem Paar x/1 und –x2 /2 der obengenannten Reihe) verbinden (ebd.). Man kann die

    Reihe unendlich fortsetzen, indem man immer wieder einen neuen Gegenstand hinzufügt,

    welcher zu dem vorletzten Gegenstand ein Verhältnis unterhält, welches dem entsprechenden

    Verstandesbegriff entspricht. Die transzendente Funktion bestimmt also nicht a priori, welcher

    Gegenstand diese Reihe beendet. Die Reihe setzt sich in der realen Welt fort, wo man nur durch

    Erfahrungen die Gegenstände erkennt, während die transzendente Idee keine unendliche Reihe

    darstellt, sondern einen einzelnen Begriff, der aber in seiner Transzendenz mit keinem realen

    Ding in Verbindung gebracht werden kann. Der dialektische Schein besteht also darin, daß man

    den transzendenten Begriff als Bestimmung eines realen Dinges annimmt, um dem leeren Begriff

    einen Gegenstand zu verschaffen.

    23 Vgl. KrV. A323: „So viele Arten des Verhältnisse es nun gibt, die der Verstand vermittelst der

    Kategorien sich verstellt, so vielerlei reine Vernunftbegriffe wird auch geben, und es wird also[...], drittens der disjunktiven Synthesis der Teile in einem System zu suchen sein“(Hervorhegung von mir).

    14

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    Unter dieser Voraussetzung kommt die „logische Funktion“(Prolegomena §45) der Vernunft zum

    Ausdruck. Die betreffende logische Form bei der dritten transzendentalen Idee ist die Form des

    disjunktiven Urteils:

    „alle disjunktive Urteile stellen also verschiedene Urteile als in der Gemeinschaft einer Sphärevor und bringen jedes Urteil nur durch die Einschränkung des andern in Ansehung der ganzenSphäre hervor, sie bestimmen also jedes Urteils Verhältnis zur ganzen Sphäre, und dadurchzugleich das Verhältnis, das diese verschiedenen Trennungsglieder (membra  disiuncta) untereinander selbst haben“ (Jäsche-Logik. A 166).

    Die Eigentümlichkeit des disjunktiven Urteils besteht darin, daß „ein Ding durch viel Begriffe, z.

    B. „das Definitum durch alle Merkmale der Koordination“, gedacht wird (vgl. Jäsche-Logik. A

    168). Auf dieselbe Weise verhält sich die Idee des Inbegriffs aller Möglichkeiten zu einem zu

    bestimmenden Einzelding. Sie repräsentiert ein durch strukturiertes ontologisches System und die

    durchgängige Bestimmung (bzw. das ens singulare nach Wolff) zeigt den systematischen Status

    des Dinges an. Unter dieser Voraussetzung kann die Vernunft im Prozeß der Rekonstruktion eines

    Systems methodisch verfahren und sich an die Richtschnur der Baumstruktur orientieren.

    III. Das transzendentale Ideal

    III.I Der reale Vernunftgebrauch

    Das ontologische Prinzip der durchgängigen Bestimmung der Dinge impliziert also bereits die

    Idee des Inbegriffs aller Möglichkeit. Er ist aber bereits vorausgesetzt in jedem Versuch der

    logischen Rekonstruktion des Systems, durch die allein, ohne diese Voraussetzung, das System

    nie ein Kontinuum sein könnte. Das bedeutet, im logischen Vernunftgebrauch dient das Ergebnis

    des realen Vernunftgebrauchs als Voraussetzung! Andererseits erfüllt der Inbegriff aller

    Möglichkeit auch als System nicht das Bedürfnis der Vernunft, das Unbedingte als ein Einzelnes

    zu suchen. Dies liegt auch im realen Vernunftgebrauch.

    Die Idee vom Inbegriff aller Möglichkeiten wird durch den realen Vernunftgebrauch zum Ideal,

    welches „nicht bloß in concreto, sondern in individuo, d. i. als ein einzelnes, durch die Idee allein

    bestimmbares, oder gar bestimmtes Ding“ (KrV. B 596/A 568) gedacht wird. Das transzendentale

    Ideal wird durch die dritte Vernunftidee allein bestimmt. Seine Bestimmung ist der Inbegriff aller

    Möglichkeit. Dabei ist er auch in individuo gedacht, genau wie das ens singulare der Wolffschen

    15

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    Ontologie. Ein Begriff ist insofern in  individuo gedacht, als ihm keine neue Bestimmung mehr

    zukommen kann. Da die Bestimmung omnitudo  realitatis  alle möglichen Prädikate unter sich

    faßt, besteht außer ihr kein anderes Prädikat mehr, welches man dem des Inbegriffes gemäß

    fingierten Dinge noch zuschreiben kann. Dennoch ist er nur eine sehr unklare Bestimmung, daher

    ist eine Läuterung notwendig, um klare Bestimmungen für das fingierte Ding zu finden. Dazu

    schreibt Kant:

    „Ob nun zwar diese Idee von dem Inbegriff aller Möglichkeit, so fern er als Bedingung derdurchgängigen Bestimmung eines jeden Dinges zum Grunde liegt, in Ansehung der Prädikate, diedenselben ausmachen mögen, selbst noch unbestimmt ist, und wir dadurch nichts weiter als einenInbegriff aller möglichen Prädikate überhaupt denken, so finden wir doch bei nähererUntersuchung, daß diese Idee, als Urbegriff, eine Menge von Prädikaten ausstoße, die alsabgeleitet durch andere schon gegeben sind oder neben einander nicht stehen können, und daß siesich bis zu einem durchgängige a priori bestimmten Begriffe läutere, und dadurch der Begriff voneinem einzelnen Gegenstande werde, der durch die bloße Idee durchgängige bestimmt, mit hinein Ideal der reinen Vernunft genannt werden muß (KrV. B601-602/A573-574).

    Die Läuterung besteht also darin, die Begriffintension des Ideals klar und deutlich zu bestimmen.

    III.II Vom Inbegriff aller Möglichkeit zum Begriff „ens realissimum“

    Das transzendentale Ideal dient als „Urbegriff“ ( prototypon transzendentale) aller Dinge, weil er

    den Stoff ihrer Möglichkeit darbietet (KrV. B 606/A 578). Hier ist nicht nur die logische, sondern

    auch die transzendentale bzw. inhaltliche Möglichkeit gemeint. Denn das System der Gattungund Arten ordnet sich nicht bloß nach dem logischen Prinzip vom Satz des Widerspruch. Sie sind

    Realdefinitionen und entsprechen dem Wesen der Dinge. Die transzendentale Bejahung drückt

    eine Washeit aus, die das Wesen eines Dinges ausmachen kann. Die transzendentale Verneinung

    ist eine Privation, und besagt, daß ihre entgegengesetzte Washeit manchen Dingen nicht

    zukommt. Die transzendentale Bejahung drückt also an sich bereits ein Sein aus und wird

    deswegen als Realität24

      genannt (vgl. KrV B602/A574). Durch die transzendentalen Bejahungen

    allein sind „Gegenstände Etwas (Dinge)“ (ebd.), und die entgegenstehende Negation bedeutet

    24 Vgl. Honnefelder 1990: 457-8: „Wie Kants eigene Wiedergabe als ‚Sachheit’ und ‚Dingheit’

    und die Einordnung unter die Kategorie der Qualität erkennen lassen, knüpft der hier verwendetTerminus ‚Realität’ an dem durch Scotus eingeführten und auch von Suárez und vor allem Wolffübernommen Terminus der ‚realititas’ an, der eine quiditative Bestimmung der res bezeichnet, dieeine gewisse ontologische Eigenständigkeit besitzt, jedoch nicht selbst eine eigene res darstellt.In dieser Bedeutung begegnet der lateinische Terminus ‚realitas’ nicht nur im vorkritischen WerkKants, sondern auch noch in der Lehre vom transzendentalen Ideal der Kritik der reinenVernunft“.

    16

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    „einen bloßen Mangel, und wo diese allein gedacht wird, die Aufhebung alles Dinge vorgestellt

    wird“ (ebd.). Die Negation allein gedacht ist das Nichts (nihilum). Hier ist die Negation einer

    Realität das „nihil  negativum“ (vgl. KrV B348/A292). Es ist ein „leerer Gegenstand eines

    Begriffs“ (ebd.). Das transzendentale Ideal bietet also auch den Grund aller Seinsmöglichkeit dar.

    Daß es aber der Urbegriff aller Dinge ist und sie ihre Möglichkeit von ihm hernehmen, soll so

    betrachtet werden, daß die Bestimmungen der Dinge von ihm ableitbar sind. Auf diese Weise

    wird das transzendentale Ideal als der Grund25

     aller Möglichkeit betrachtet. Es kann also nicht

    mehr auf der Ebene des Inbegriffes aller Möglichkeiten bleiben, welcher alle Prädikate bloß unter

    sich enthalten, d. i. als Unterglieder seines Umfangs, sondern muß über diesen Inbegriff hinaus zu

    dem werden, was alle Prädikate in sich haben (vgl. KrV. B 606/A 578). Das bedeutet, man muß

    es intensional bestimmen, so daß es diese Bedingung als maximum  intensionis erfüllt. Es kann

    weder der singuläre Begriff des Einzeldinges gemeint sein, denn er ist zwar am Merkmal amreichsten, dennoch am Bezug am ärmsten, noch der allgemeinste Begriff „das Seiende“, denn es

    ist nur eines der Transzendentalien und nicht mit realem Inhalt gebunden. So muß man nach der

    höchsten Realität suchen, indem man zuerst alle Prädikate, die vorhin miteinander in einer

    verschachtelten Disjunktion stehen, in eine Konjunktion nebeneinander stellen. Dieser Prozeß ist

    aber von demjenigen zu unterscheiden, wo man durch kategorischen Prosyllogismus zu dem

    umfangsreichsten Begriff (des Seienden) kommt. Denn er läßt nicht die differentia gar weg, wie

    bei der Abstraktion, sondern behält sie, während die kontradiktorisch-entgegensetzte Prädikate

    positiver Prädikate (z.B. „nicht-vernunftbegabt“ als Mangel von „vernunftbegabt“) als Mangel

    und Beraubung der Realität abfallen. Die Begriffe der Arten und Gattung sind dagegen in dem

    Begriff der obersten Gattung bereits begriffen und daher von ihm abgeleitet. Solche bloß

    abgeleiteten Begriffe werden also auch abgestoßen. Nur der Begriff des Seienden bleibt am Ende

    übrig. So bekommt man zuerst so einen Begriff, dessen Intension so aussehen würde wie: B =

    D1+D2+D3+....+Dn + das Prädikat „das Seiende“; wobei D1 bis Dn alle differentiae vorstellen.

    25 Vgl. KrV. B 605/A 576: „Also ist es ein transzendentales Ideal, welches der durchgängigen

    Bestimmung, die notwendig bei allem, was existiert, angetroffen, wird, zum Grunde liegt, und dieoberste und vollständige materiale Bedingung seiner Möglichkeit ausmacht, auf welcher allesDenken der Gegenstände überhaupt ihrem Inhalt nach zurückgeführt werden muß“(Hervorhebung von mir). Hier bezieht sich Kant wohl auf den Satz vom Grund der WolffschenPhilosophie.

    17

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    Diese Ansammlung von Prädikaten ist aber immer noch verworren und unbestimmt, bis man über

    das Gebiet der metaphysicae generalis hinaus zu den differentiis „endlich – unendlich26

    “ kommt.

    Dabei ist das Prädikat „unendlich“ zwar der grammatischen Form nach eine Negation, denn noch

    dem Inhalt nach ein positiver Begriff 27

    . Alle Möglichkeit ist im Vergleich mit ihm eine

    Limitation. Denn, indem es mit der Gattung „endliche Seiende“ nach der logischen Form nach

    eine Disjunktion bildet, muß die durchgängige Bestimmung eines jeden Einzeldinges die

    Negation des unendlichen Seienden enthalten. Diese Negation ist aber insofern verschieden von

    der logischen Negation, durch welche von je einem Paar von den kontradiktorisch-

    entgegengesetzten Prädikaten das Negative in der Konjunktion mit dem Positiven aufgehoben

    werden muß, um logische Widersprüche zu vermeiden, als das Unendliche kein empirischer

    Begriff ist und daher allein in intensionaler Beziehung zu den empirischen Begriffen steht. Das

    bedeutet, der allgemeinste Begriff des „Seienden“ ist keine Gattung. Sonst wäre das Unendlichemit den endlichen Dingen in denselben ontologischen Status gesetzt. Daher teilt das Unendliche

    auch nicht mit den endlichen Dingen den Umgang eines Oberbegriffs, sondern faßt sie alle in

    sich. So gilt auf dieser Stufe das disjunktive Urteil nicht mehr. Das heißt, wenn ein Seiendes

    endlich ist, ist es zwar nicht unendlich, ist aber in dem unendlichen Seienden enthalten. Jedes

    Einzelding sowie jeder empirische Begriff müssen deswegen intensional als Einschränkung des

    Unendlichen bzw. der höchsten Realität betrachtet werden. So hebt das Prädikat „unendlich“,

    welches als das Letzte der Konjunktion hinzugefügt wird, alle empirischen Prädikate nicht nur

    insofern auf, als sie unter dem Begriff „endlich“ stehen und daher logisch widersprüchlich zu

    dem Prädikat „unendlich“ sind, sonder auch weil sie zugleich intensional als Ableitungen des

    Unendlichen zu betrachten sind. Und man bekommt auf diese Weise das transzendentale Ideal,

    26 Vgl. KrV. B 613/A 585: „Dieser (der unbewegliche Felsen des Absolutnotwendigen) aber

    schwebt ohne Stütze, wenn noch außer und unter ihm leerer Raum ist, und er nicht selbst alleserfüllt und dadurch keinen Platz zum Warum mehr übrig läßt, d.i. der Realität nach unendlich ist“(meine Ergänzung in den Klammern).27

     Baumgarten z. B. definiert das Unendliche (ens infinitum) als „ens gradum realitatis maximumhabens“, und das ens finitum wird als solches definiert, was einen „limes“ in seinem Realitätsgradhat (vgl. Baumgarten: „Prima matheseos intensorum principia“, §248 und Sala 1990:205). BeiKants Übernahme dieser Definition wird zudem betont, daß das ens infinitum bzw. ensrealissimum kein räumliches totum aus allem Seienden des niedrigeren Grades sondern dieEinheit einer intensiven Größe sei (vgl. Kant: R 3727, und Sala 1990: 206). Wolff definiert dasunendliche und endliche Seiende als gegensätzliche intensionale Größen. Das reale endlicheSeiende wird als das jenige Seiende definiert, dem nicht alles gleichzeitig innewohnen kann, wasihm aktuell innezuwohnen vermag (Ontologia §837), es muß so zu sagen durch eine Limitationbegrenzt werden, und das real unendliche Seiende als das Seiende, in dem alles zugleich ist, wasihm aktuell innezuwohnen vermag (Ontologia § 838).

    18

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    das als ens realissimum28   bzw. infinitum  definiert wird. Das heißt dann, es ist nicht das

    ontologische System aller Seienden, auch nicht der allgemeinste Begriff überhaupt, sondern ein

    Seiendes, welches in seinem ontologischen Status bzw. dem Vollkommenheitsgrad über allem

    anderen steht. Dieser Status schreibt ihm jedoch keine reale Existenz zu. Es dient nur als ein

    „transzendentale Substratum“ (KrV. B 604/A 576) aller Realitäten, welches a priori gedacht

    werden kann, und steht hinsichtlich der Intension in einer Grund-Folge-Beziehung (nicht die

    physische, sondern die begriffliche Grund-Folge-Beziehung) zu ihnen. Es bleibt aber noch zu

    untersuchen, wie sich diese Beziehung näher bestimmen läßt, und wie das ens realissimum sich

    weiter zu einem enti singulari entwickelt.

    III.III Das transzendentale Ideal als in individuo gedacht

    Die Kategorien sind reine Verstandesbegriffe und die Bedingungen a priori, denen unser Denkenüberhaupt unterliegen muß. Ihre Verwendung auf sinnliche Gegenstände muß aber per Schemate

    geschehen, die eine Überbrückung vom Übersinnlichen zum Sinnlichen schafft. Das

    transzendentale Ideal als ein Gedankending muß also auch durch die Kategorien bestimmbar sein.

    Es darf aber, als ein Noumenon, nicht den Bedingungen der sinnlichen Gegenstände unterliegen.

    Vielmehr muß es, weil es als das Unendliche die endliche Dinge, die die Sinnenwelt ausmachen,

    aufhebt, auch alle Bedingungen a priori der sinnlichen Gegenstände aufheben. Also bilden die

    Bestimmungen des entis realissimi  genau die Gegenteile aller Bedingungen a priori eines

    möglichen Gegenstandes der Erfahrung. Methodisch gewinnt man die entsprechenden

    Bestimmungen des transzendentalen Ideals durch Negation aller synthetischen Grundsätze a

    priori der Naturwissenschaft. Denn die Kategorien29

     sind formale Verhältnisse, die zwischen den

    Gegenständen hergestellt werden. Die Bestimmungen eines möglichen Gegenstandes der

    Erfahrung, d. i. Prädikate in einem Urteil, sind dagegen in den Grundsätzen schematisiert30

    . Wir

    heben aber bei dem transzendentalen Ideal den Anspruch, es als ein Noumenon bzw. ein Ding an

    28 Vgl. R 3889: „Die höchste Realität besteht nicht darin, daß alles in ihr sei, sondern durch sie als

    einem Grund; denn das maximum der Realität ist nicht synthetisch möglich oder durchKoordination, sondern mindere Grade sind nur durch Einschränkung des größesten möglich. Nunist die höchste Realität die, welche nicht eingeschränkt werden kann; also ist diejenige, welchedas maß aller Dinge ist und darin aller Dinge Realität liegt, nur die Folge von ente summo(vergleiche auch Sala: 206).29

     Vgl. KrV. B187/A147: „Also sind die Kategorien, ohne Schemate, nur Funktionen desVerstandes zu Begriffen, stellen aber keinen Gegenstand vor“.30

     Das Schema ist nämlich der sinnliche Begriff eines Gegenstandes in Übereinstimmung mit derKategorien (vgl. KrV. B186/A146).

    19

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    sich a priori zu erkennen. Seine Bestimmungen müssen also derart sein, daß sich solche

    Grundsätze nicht mehr auf das Ideal verwenden lassen. Wenn man aber dem Noumenon

    Bestimmungen bzw. Prädikate zuschreibt, erfolgt dies auch in Urteilen. Das heißt, man braucht

    dazu genau so Schemate, die aber das Gegenteil zu den Schematen in den Grundsätze bilden.

    Denn die Schemate31, die in den Grundsätzen auftauchen, konstituieren die sinnlichen

    Restringenzen, die Gegenstände der Erscheinung haben müssen (vgl. KrV B186/A146). Sie

    bestehen in der Verzeitlichung der reinen Verstandesbegriffe. Um ein Gedankending gemäß einer

    Vernunftidee zu konstruieren, sind andere Schemate genötigt, die im Gegensatz zu jenen

    keineswegs den sinnlichen Bedingungen unterliegen sollen. Auf diese Weise erfolgt ein

    transzendentaler32

     Gebrauch der synthetischen Grundsätze (vgl. KrV B664/A636), wodurch alle

    sinnlichen Restringenzen der Anschauungsform aufgehoben wird. Dennoch muß es aber dem

    obersten Grundsatz aller analytischen Urteile bzw. dem Satz vom Widerspruch genügen, weilsonst die Denkmöglichkeit überhaupt aufgehoben wäre. Kant stellt alle synthetischen Grundsätze

    als 1. Axiomen der Anschauung, 2. Antizipationen der Wahrnehmung, 3. Analogien der

    Erfahrung, 4. Postulate des empirischen Denkens überhaupt dar (vgl. KrV B200/A161).

    Hinsichtlich der Axiomen sind alle Gegenstände der Erfahrung eine Größe. Eine extensive Größe

    31 Zum Schema der Vernunftbegriffen: „Die reine Vernunft ist auf dem Gebiet der Ideen nur mit

    sich selbst beschäftigt (Krv B708/A680); anschauliche Elemente stehen ihr hier nicht zur

    Verfügung, da sie – zwar im Regressus vom Empirischen ausgehend – das Unbedingte sucht,dem in der Erfahrung kein Gegenstand entsprechen kann; so ist denn ein Vernunftbegriff keinkonstitutives, sondern nur regulatives Prinzip, von zwar objektiver, aber unbestimmter Gültigkeit(KrV B691-708/A663-680), weil den Vernunftbegriffen „kein korrespondierendes Schema derSinnlichkeit gegeben werden kann‘ (KrV B692/A664); die Vernunft will den Verstandesgebrauchzur größtmöglichen Einheit bringen; ein ‚Schema in der Anschauung‘ aber fehlt hier (KrVB693/A665); indessen ‚kann und muß doch ein Analogon eines solchen Schemas gegebenwerden , welches die Idee des Maximum der Abteilung und der Vereinigung derVerstandeserkenntnisse in einem Prinzip ist‘ (KrV B693/A665); diese erstrebte systematischeEinheit kann die Vernunft sich nicht anders denken, als daß sie ihren Ideen einen Gegenstandgibt, z. B. Gott, Seele; aber dieses problematische ‚transzendentale Ding ist bloß das Schema jenes regulativen Prinzips, wodurch die Vernunft [...] systematische Einheit über alle Erfahrungverbreitet‘ (KrV B710/A682); vgl. (670ff.)“ (Ratke 1929: 215-6). Also ist ein solchesGedankending bzw. Vernunft Wesen ist also Gegenstand und Schema zugleich. Darin bestehtauch die Selbstbezüglichkeit der Vernunft. Dazu vgl. auch KU B341/A337: „Daher ist der Begriffeines notwendigen Wesens zwar eine unentbehrliche Vernunftideen, aber ein für denmenschlichen Verstand unerreichbarer problematischer Begriff“.32

     Der Gebrauch vom Sinnlichen zum Übersinnlichen, was keinen Schein erzeugt, sondern nurein Analogon einer Erkenntnis, zu der unser Verstand nicht ausgerüstet ist, die Vernunft aber zugelangen versucht. Der transzendente Gebrauch in der umgekehrten Richtung erzeugt dendialektischen Schein.

    20

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    ist „diejenige, in welcher die Vorstellung der Teile die Vorstellung des Ganzen möglich macht“

    (KrV B 203/A162). Ihr Gegenteil ist also das, was nicht der Fall ist, daß in ihm die Vorstellung

    der Teile die Vorstellung des Ganzen möglich macht. Das heißt dann, es wird nach einer

    Vorstellung gesucht, die als Ganze nicht durch die Vorstellung der Teile bestimmt ist. So kommt

    man zum Prädikat „allgegenwärtig“. Dabei ist weder die Vorstellung der Teile noch die des

    Ganzen wie in der ersten Antinomie aufgegeben, sondern nur die Bestimmbarkeit des einen durch

    die andere. Auf dieselbe Weise bekommt man das Gegenteil des Schemas der Antizipation, wo es

    um die zeitliche Bestimmung geht. Das gesuchte Prädikat ist „ewig“. Die Allgegenwart kann man

    durch den unendlichen Raum, die Ewigkeit die unendliche (zeitlose) Zeit verständlich machen.

    Zu der phänomenalen Welt gehören bedingte Räume und Zeiten. Der unendliche Raum ist nur

    eine symbolische Erkenntnis der Allgegenwart, so wie die unendliche Zeit eine symbolische

    Erkenntnis der Ewigkeit ist. Sie aber, die Allgegenwart und Ewigkeit, sind eigentlich beide außerder Welt zu denken. Sonst würde man über sie in Aporien geraten

    33. Sie sind also übersinnliche

    Eigenschaften, die durch eine Subreption in die Sinnenwelt hinein projeziert werden und dadurch

    anschaulich gemacht werden. Das bedeutet, die Subreption ist zwar eine Täuschung, kommt aber

    anderseits dem Verstand zur Hilfe, damit das Übersinnliche verständlich wird34

    . Hinsichtlich der

    Analogien der Erfahrung bekommt man das Prädikat „allgenugsam“, denn der Grundsatz der

    Analogien besagt, daß alle Erfahrungen erst möglich sind durch die Vorstellung einer

    notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen (vgl. KrV B218/A176), dessen Gegenteil ist,

    ohne jegliche Verknüpfungen nach allen drei Modi der Zeit35

    . Weder ist es notwendig, das Ideal

    als die Substanz, die beharrt, mit ihren Akzidenzien zu verknüpfen, um es verständlich zu machen

    (vgl. die erste Analogie), noch ist es möglich, das Ideal als Folge eines anderen zu betrachten

    (vgl. die zweite Analogie), denn dies widerspricht seiner Definition als ens realissimum, welches

    alles in sich enthält, noch steht es in Wechselwirkung mit irgend etwas anderem (vgl. die dritte

    33 Vgl. R 4071: Der Raum ist nichts wirkliches, sondern eine Möglichkeit, die ihren Grund in

    etwas wirklichem hat. Raum und Zeit werden somit auf die Erhaltung durch Einen zurückgeführtund als Erscheinung oder Phänomene der Allgegenwart und Ewigkeit gedeutet. Dazu vgl. auchTheis 1994: 239-240. Vgl. auch Heimsoeth 1969: 453: „‘Ewig‘ heißt jetzt: Außer aller Zeit“.34

     Vgl. KU B97/A96: „Also ist das Gefühl des Erhabenen in der Natur Achtung für unsere eigeneBestimmung, die wir einem Objekte der Natur durch eine gewisse Subreption [...] beweisen,welches uns die Überlegenheit der Vernunftbestimmung unserer Erkenntnisvermögen über dasgrößte Vermögen der Sinnlichkeit gleichsam anschaulich macht“.35

     Hier lauert aber die Gefahr des dialektischen Scheins, denn die Verknüpfung nach den dreiZeitmodi bezieht sich bloß auf das Dasein der Gegenstände, das a priori nicht zu erkennen ist.Daher muß man aufpassen, daß der betreffende Grundsatz bloß regulativ und nicht konstitutivangewendet werden darf (vgl. KrV B220-3/A178-80).

    21

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    Analogie). Vielmehr muß man sich hüten, das Urwesen in Verbindung mit irgend was Sinnlichem

    zu sehen. Der erste Beweger der antiken Philosophie benötigt nämlich Materie, um überhaupt als

    Weltbaumeister gelten zu dürfen. So ist hier mit dem allgenugsamen Urwesen nicht gemeint (vgl.

    Heimsoeth 1969: 453). Hinsichtlich der Postulate bekommt man das Prädikat „absolut

    notwendig“. Die drei Prädikate über die Existenz der Erfahrungsgegenstände, nämlich, die

    Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit kommen dem transzendentalen Ideal nicht zu, denn

    sie sind alle direkte oder abgeleiteten empirischen Aussagen. Dagegen kommt ihm die absolute

    Notwendigkeit zu, die aber im Gegensatz zur materialen Notwendigkeit36

     des Postulates von

     jeglicher Erfahrung unabhängig ist. Das Ideal, dem diese absolute Notwendigkeit zukommt,

    bildet nicht wie in der vierten Antinomie das erste Glied einer Kausalkette, die alle

    Weltgeschehnisse umfaßt. Es betrifft nur die Denknotwendigkeit, daß es als Substratum aller

    Möglichkeit jede Zeit vorausgesetzt wird, aber nicht die Existenz desselben. Zusammengefaßthandelt es sich hier um ein ens extramundanum. So begehen alle, die ontologische Beweise fürs

    Gottesdasein liefern, indem sie aus dem Gottesbegriff „ens necessarium“ die notwendige

    Existenz Gottes abzuleiten versuchen, den Fehler, daß sie den Begriff „ens necessarium“ aus der

    Ursache-Wirkung-Kette der Welt herausentwickelt, statt ihn als einen notwendigen Begriff zu

    betrachten. Und erst dadurch ist es möglich, die Existenz dessen aus dem Begriff allein

    abzuleiten.

    Das transzendentale Ideal ist bei Kant also eine notwendige Vernunfthypothese (vgl. Theis 1994:

    294). In Reflexion 4565 lautet:

    „Von einem allerrealsten Wesen ist es nicht begreiflicher, daß es existire, als von einemeingeschränkten; aber aus seiner Voraussetzung ist es leichter, eingeschränkte Wesen abzuleiten.Demnach ist hier eine notwendigkeit, so ein Wesen anzunehmen, um der Gründe der spekulativenVernunft willen“.

    Aus seiner vorkritischen Schrift „Beweisgrund“ kann man die Überlegung zur Transzendentalen

    Theologie finden, nach der das „ens realissimum“ als der zugrundeliegende Begriff angenommen

    wird, und die absolute Notwendigkeit und die Allgenugsamkeit als dessen Grundeigenschaften

    betrachtet werden. Aus diesen beiden Eigenschaften läßt sich wiederum andere Eigenschaften

    ableiten, wie Einigkeit, Einfachheit, Unveränderlichkeit, Ewigkeit, höchste Realität und

    36 Material notwendig ist z.B. die Existenz des Feuers, das man nicht erfahren hat, aber dessen

    Rauch gesehen wird.

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    schließlich dessen Geistigkeit. Alle Prädikate außer dem letzten sind deistisch, während die

    Geistigkeit zum Theismus führt (vgl. Theis 1994: 310-312). Das „ens realissimum“ ist der

    Realgrund aller Möglichkeit, es ist insofern absolut notwendig, als durch dessen Aufhebung alle

    Materialien zum Denken aufgehoben werden. Es ist einig, weil alles Denkbare von ihm abhängt.

    Gäbe ein zweites Notwendiges Wesen, müßte dies auch vom ihm abhängen, so wäre es aber

    widersprüchlich (vgl. 83-84 vom „Beweisgrund“). Es ist einfach, weil es nicht von den anderen

    Dingen zusammengesetzt werden kann, die ihrerseits von ihm abhängen. Denn sonst wäre es als

    ein Zusammengesetztes von seinen Teilen abhängig (vgl. 83-84). Es ist unveränderlich und ewig,

    weil es alle Möglichkeiten bereits in sich hat und daher keine neue Möglichkeit mehr

    hinzunehmen kann. Und ewig, weil sein Nicht-Sein undenkbar ist (84-85). Es enthält als der

    Realgrund aller Möglichkeit die höchste Realität. Es ist aber nicht der Fall, daß alle mögliche

    Realität zu seiner Bestimmung gehört, sondern daß es das höchste Grad von Realität besitzt.Denn so kann es seinem Begriff nach keinen realen Widerstreit enthalten, weil die anderen

    Bestimmungen nicht in ihm liegen, die miteinander zwar nicht in logischer aber doch in realer

    Repugnanz stehen oder stehen können (vgl. die Entwicklung des Inbegriffs zum „ens

    realissimum“ in der vorliegenden Arbeit, S. 14-17 und „Beweisgrund“ 35-38). Das notwendige

    Wesen ist ein Geist und besitzt Verstand und Willen. Denn es ist der Grund zu all dem, was

    Verstand und Willen besitzt. Dieses als Folge würde jenes als seinen Grund übertreffen, wenn das

    „ens  realissimum“ selber keinen Verstand und Willen hat. Außerdem sprechen Ordnung,

    Schönheit und Vollkommenheit für einen Grund mit Verstand37 (87-89).

    Zusammengefaßt ist das transzendentale Ideal der Quantität nach einig, der Qualität nach

    unendlich, der Relation nach allgenugsam, und der Modalität nach absolut notwendig. Durch

    Aufhebung der Bedingung a priori der Anschauungsformen bekommt man zudem die Prädikate

    ewig und allgegenwärtig38

    .  Auf diese Weise ist das transzendentalen Ideals hinsichtlich jeder

    37 Die traditionellen Prädikate Gottes wie z.B. allmächtig, allgütig gehören nicht zu den

    Bestimmungen des transzendentalen Ideals. Sie sind theistische Bestimmungen, während dastranszendentale Ideal ein deistischer Gottesbegriff ist. Die letzte Bestimmung aus dem„Beweisgrund“ ist auch theistisch Aber zu ihr gelangt man über Moral, und daher ist sie nicht mitdem Sinnlichen vermischt.38

     Vgl. KrV. B 678-9/A 641-2: „Die Notwendigkeit, die Unendlichkeit, die Einheit, das Daseinaußer der Welt (nicht als Weltseele), die Ewigkeit, ohne Bedingungen der Zeit, die Allgegenwart,ohne Bedingungen des Raumes, die Allmacht etc. sind lauter transzendentale Prädikate, unddaher kann der gereinigte Begriff derselben, den eine jede Theologie so sehr nötig hat, bloß ausder transzendentalen gezogen werden“.

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    Regel a priori bestimmt und gelangt dadurch zur Individuation, weil die durchgängige

    Bestimmung eines Gegenstandes zugleich dessen Individuationsprinzip auf der noumenalen

    Ebene ist. Weil das Vernunftwesen keine sinnliche Bestimmung besitzt, sondern nur

    Bestimmungen a priori, also Bestimmungen gemäß der Kategorien, sind die hier vorgeführte

    Bestimmungen für das transzendentale Ideal vollzählig. Durch die Schematisierung durch

    Aufhebung der synthetischen Grundsätze des Verstandes wird unter dem transzendentalen Ideal

    ein Gegenstand vorgestellt39

    . Das ens realissimum wird auf diese Weise substantialisiert. Zu

    beachten ist aber noch, daß alle Prädikate des transzendentalen Ideals allein aus seinem Begriff

    „ens realissimum“ abzuleiten sind. Auf diese Weise vereint es alle Kategorien in sich als ein

    Prinzipium derselben (vgl. Heimsoeth 1969: 453, Fußnote 70).

    III.IV Das transzendentale Ideal als Urbild (Personifizierung des entis realissimi)

    Nach Kants Metaphysik-Vorlesung ist das Ideal ein Gegenstand, der durch eine Idee bestimmt ist

    (Metaphysik L2 §79). Das realisierte, hypostasierte Ideal wird durch die Idee des Inbegriffs aller

    Möglichkeit bestimmt. Von der vorherigen Untersuchung wird das ens realissimum als der erste

    Grund aller Dinge betrachtet, so läßt sich in diesem Sinne auch verstehen, weshalb das

    unendliche Seiende auch als Urbild ( prototypon) aller Dinge dient, welche bloß als mangelhafte

    Kopien (ectypa) derselben zu verstehen sind (KrV. B 606/A 578). Kant erläutert in Kapitel „Von

    den Ideen überhaupt“ der KrV die Beziehung zwischen dem Urbild und den Kopien:

    „Platon bediente sich des Ausdrucks Idee so, daß man wohl sieht, er habe darunter etwaverstanden, was nicht allein niemals von den Sinnen entlehnt wird, sondern welches so gar dieBegriffe des Verstandes, mit denen sich Aristoteles beschäftigte, weit übersteigt, indem in derErfahrung niemals etwas damit Kongruierendes angetroffen wird. Die Ideen sind bei ihmUrbilder der Dinge selbst, und nicht bloß Schlüssel zu möglichen Erfahrungen, wie dieKategorien (B 370/A 313). [...] Aber nicht bloß in demjenigen, wobei die menschliche Vernunftwahrhafte Kausalität zeigt, und wo Ideen wirkende Ursachen (der Handlungen und ihrerGegenstände) werden, nämlich im Sittlichen, sondern auch in Ansehung der Natur selbst, siehtPlato mit Recht deutliche Beweise ihres Ursprungs aus Ideen, [...] daß zwar kein einzelnes

    Geschöpf, unter den einzelnen Bedingungen seines Daseins, mit der Idee des Vollkommenstenseiner Art kongruiere (so wenig wie der Mensch mit der Idee der Menschheit, die er sogar selbstals das Urbild seiner Handlungen in seiner Seele trägt), daß gleichwohl jene Ideen im höchstenVerstand einzeln, unveränderlich, durchgängig bestimmt, und die ursprünglichen Ursachen der

    39 Die Schemate realisieren die Kategorien. Der Gang zum transzendentalen Scheins des

    transzendentalen Ideals besteht darin, daß es, ob zwar es eine bloße Vorstellung ist, „zuerstrealisiert wird, d. i. zum Objekt gemacht, darauf hypostasiert, endlich, durch einen natürlichenFortschritt der Vernunft zur Vollendung der Einheit, so gar personifiziert“ (KrV B612/A584,Fußnote).

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    Dinge sind, und nur das Ganze ihrer Verbindung im Weltall einzig und allein jener Idee völligadäquat sei. Wenn man das Übertriebene des Ausdrucks absondert, so ist der Geistesschwung desPhilosophen, von der kopeilichen Betrachtung des Physischen der Weltordnung zu derarchitektonischen Verknüpfung derselben nach Zwecken, d. i. nach Ideen, hinaufzusteigen, eineBemühung, die Achtung und Nachfolge verdient; [...]“ (B 374-5/ A 317-8, Hervorhebungen von

    mir).Und zum Ideal als Urbild:

    „Was uns ein Ideal ist, war dem Plato eine Idee des göttlichen Verstande, ein einzelnerGegenstand in der reinen Anschauung desselben, das Vollkommenste einer jeden Art möglicherWesen und der Urgrund aller Nachbilder in der Erscheinung. [...] So wie die Idee die Regel gibt,so dient das Ideal in solchem Falle zum Urbilde der durchgängigen Bestimmung des Nachbildes,[...]. Diese Ideale, ob man ihnen gleich nicht objektive Realität (Existenz) zugestehen möchte,sind doch um dessen willen nicht für Hirngespinste anzusehen, sondern geben einunentbehrliches Richtmaß der Vernunft ab, die des Begriffs von dem, was in seiner Art ganzvollständig ist, bedarf, um darnach den Grad und die Mängel des Unvollständigen zu schätzenund abzumessen (KrV B 596-8/A 568-70)“.

    Platons Urbilder übersteigen die Sinnenwelt und geben, im aristotelischen Term, die causae

     formales der Dinge an. Das transzendentale Urbild Kants dient als Substratum aller Möglichkeit,

    auf diese Weise ist es auch das reale40

      bzw. gedankliche Grund aller Dinge. Dennoch ist das

    Verhältnis unklar, wie sich alle Dinge vom ersten Grund ableiten lassen. Offenbar besagt der

    deistische bzw. transzendentale Gottesbegriff zusammen mit seinen deistischen Bestimmungen

    nichts Genaues darüber.

    Kant hat im Kapitel „Von dem Ideal überhaupt“ (KrV B595/A567ff.) ein Beispiel gegeben, wie

    sich das Urbild zu den von ihm abzuleitenden Dingen verhält: Es ist das Beispiel des stoischen

    Weisen, der das Urbild aller Tugenden ist. Daraus läßt sich vermuten, daß die letzte Bestimmung

    aus dem „Beweisgrund“ als eine theistische Bestimmung Gottes in dieser Hinsicht

    notwendigerweise ins Spiel gebracht werden muß, um das Verhältnis zwischen dem Urbild und

    seinen Nachgebildeten verständlich zu machen.

    Nach der Bestimmung des entis realissimi als einem Geist mit der höchsten Intelligenz, ist es

    auch ursächlich für die Ordnung, Schönheit und Vollkommenheit der Natur. Diese aus der

    40 Real nicht im Sinne wie real, objektiv existierend, sondern im Sinne Wolffscher Philosophie

    von Realität. Nach der Kategorientafel steht „Realität“ unter dem Titel „Qualität“ (KrVB95/A70). Sie ist in diesem Sinne etwas, was begrifflich aufgefaßt wird. Und steht als „Sachheit“in Tradition der Schulphilosophie (vgl. Honnefelder 1990: 459).

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    Physikotheologie stammende Bestimmung unterscheidet sich insofern von Gott als der

    kosmologischen Ursache, als es Gott nicht in die physische Kausalkette einbettet, sondern Ihn in

    eine formale Beziehung zur Natur setzt. Die Begriffe Ordnung, Schönheit und Vollkommenheit

    drücken ihrerseits eine Zweckmäßigkeit aus und sind also Begriffe der reflektierenden

    Urteilskraft. Zweckmäßigkeit ist „die Übereinstimmung eines Dinges mit derjenigen

    Beschaffenheit der Dinge, die nur nach Zwecken möglich ist“ (KU BXXVIII/AXXVI). Die

    Zweckmäßigkeit der Natur, der die Ordnung und Vollkommenheit als Begriffe der objektiven

    Zweckmäßigkeit entsprechen, stellt die Natur so vor, „als ob ein Verstand den Grund der Einheit

    des Mannigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte“ (ebd.), während die Schönheit als Begriff

    der subjektiven Zweckmäßigkeit ein objektives Substratum in der Natur für das menschliche

    Erkenntnisvermögen findet. Die Schönheit in der Natur überzeugt die Vernunft davon, daß das

    menschliche Erkenntnisvermögen seine objektive Anwendung nicht nur findet, sondern auch inÜbereinstimmung mit der objektiven Welt steht, und daß die menschlichen Erkenntnisse somit

    die objektive Gültigkeit besitzt, statt rein subjektiv zu sein, wie Kleist einmal Kant mißverstanden

    hat. Nicht die physische Existenz der Dinge geht auf den ersten Grund zurück, sondern ihre

    noumenale Form. Die Vollkommenheit eines Dinges ist dagegen im gleichen Sinne des

    platonischen ειδοσ zu verstehen. Sie ist nicht empirisch durch Abstraktion gewonnen, sondern

    entspricht dem Vernunftprinzip, für eine Art nicht nach einem Durchschnitt, sondern nach dem

    Muster der ganzen Art zu Suchen. Die Schönheit entspricht der Wohlproportion der sinnlichenForm eines Dinges, während die Ordnung den gegenseitigen Zusammenhang zwischen den

    Dingen nach ihren äußeren Zwecken ausdrückt. Sie ist also nicht mehr die ontologische Struktur,

    die im ersten Teil der vorliegenden Arbeit behandelt wurde, sondern der Organismus der ganze

    Natur, welchen die mechanischen Naturgesetze wie die Newtonschen nicht zu beschreiben

    vermögen (vgl. KU B338/A334). Der organische Zusammenhang zwischen den Dingen weist auf

    ein anderes System als das rein logische oder das mechanische hin. Im Gegensatz zu dem

    Leibnizia-wolffschen ontologischen System besteht das System nicht allein im analytischen

    Aufbau, wonach die Begriffe durch Kombination von Merkmalen gewonnen werden, sondern

    auch noch im synthetischen Aufbau, wonach die Begriffe nicht diskursiv, sondern intuitiv

    aufgefaßt sind (vgl. Wood 1978: 41 u. KU B349/A345). Der Verstand also, der alle Dinge intuitiv

    in ihrem systematischen Zusammenhang auffaßt, ist aber nicht der unserige, welche stets

    diskursiv und die intuitive Auffassung der Dinge zwar ahnt aber bloß durch die unzureichenden

    Begriffe der Zweckmäßigkeit statt des Zwecks selber dem Mangeln abzuhelfen sucht, sondern

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    der Verstand Gottes bzw. die höchste Intelligenz. Der organische Zusammenhang des Systems der

    Natur zusammen mit dem diskursiven ontologischen System macht das von der Vernunft als ihre

    Aufgabe angestrebte systematische Einheit der Natur aus. Der intuitive Verstand geht vom

    Ganzen aus und leitet die Teile von oben ab, der menschliche geht dagegen von den einzelnen

    Teilen aus (vgl. Wood 1978: 41). Die empirischen Begriffe und Naturgesetze können keine

    vollständige Systematisierung liefern, zu der die Erkenntnis von den inneren Formen nötig ist.

    Unsere Begriffe Ordnung, Vollkommenheit und Schönheit sind Begriffe der Urteilskraft und

    bieten eine unzulängliche Abhilfe für dieses Bedürfnis der Vernunft hin. Sie weisen auf eine

    vollkommene bzw. noumenale41

     Erkenntnis der Dinge dar, ohne sie tatsächlich zeigen zu können.

    Um dem Bedürfnis der Vernunft nachzukommen, wird ein göttlicher Verstand per thesin

    vorausgesetzt, in dem als einem ursprünglichen Verstande den obersten Grund als Weltschöpfer

    und Weltbaumeister zugleich zu suchen ist (KU B354/A350). Nur hinsichtlich dieser organischenEinheit ist der göttliche Verstand als Urbilder aller Dinge zu verstehen. So ist auch zu verstehen,

    wie alle Möglichkeiten als innere Zwecke von diesem Urbild abzuleiten sind. Durch diese

    Personifikation (vgl. KrV B 612/A584, Fußnote) des transzendentalen Ideals wird es zum ersten

    Mal zur Ursache aller Dinge, statt nur ein Substrat derselben zu sein. Die Ableitbarkeit besteht

    nun in der finalen42

     Kausalität zwischen dem Ideal und den Dingen.

    Zusammengefaßt ist das transzendentale Ideal kein Schein, sondern ein notwendiges Postulat der

    Vernunft, um unserer Erkenntnis der Natur eine systematische Einheit zu stiften. Der deistische

    Gottesbegriff einerseits stellt die Einheit der reinen Verstandesbegriffe dar und reguliert ihre

    Zusammenstimmung miteinander bei einer möglicher Anwendung, und der theistische

    Gottesbegriff anderseits stellt die systematische Notwendigkeit der empirischen Begriffe vor, und

    garantiert die Sicherheit der Anwendung der Begriffe auf objektive Gegenstände, d. i. die

    objektive Zweckmäßigkeit des Urteils. Die beiden Gottesbegriffe entsprechen also je einem

    Vernunftprinzip, und sind nicht als Schein abzutun. So muß man noch erklären, wie der Schein

    41 Kant unterscheidet zwischen zwei Typen des Noumenons: I. Noumenon in negativer

    Bedeutung ist ein Gegenstand der Erfahrung, bei dem wir aber „von unserer Anschauungsartdesselben abstrahieren und der insofern nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist“ (KrV B307). II Noumenon in positiver Bedeutung ist ein Objekt einer nicht sinnlichen Anschauung. DasNoumenon in positiver Bedeutung wird von der Vernunft als ein Ideal der Erkenntnis angesehen.42

     Eine formale Ursache ist die Form zu dem entsprechen Ding, während die intuitive Idee Gottesauch die finale Ursache des Dinges zu verstehen ist wegen der Analogie zu der menschlichenHandlung.

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    bei dem transzendentalen Ideal zustande kommt. Solange sie auf der noumenalen Seite bleiben,

    ist das entsprechende transzendentale Ideal „fehlerfrei“ 43

    .

    III.V Der Schein des transzendentalen Ideals

    Der Schein entsteht in dem falschen Gebrauch der an sich gültigen transzendentalen Ideen. Die

    Entwicklung des transzendentalen Ideals besteht aus der Realisierung, Hypostasierung und

    Personifikation der Idee des Inbegriffs aller Möglichkeit. Die Realisierung ist im richtigen

    Gebrauch nur eine Schematisierung der Vernunftidee, die aber ohne empirischen Gehalt ist und

    daher auf keinen Gegenstand der Erfahrung bezogen werden kann. Streng genommen ist sie nur

    ein Analogon eines Schemas und läßt sich nur als das oberste Prinzip zur Organisation der

    Gedankenwelt auf Noumena beziehen. Die Hypostasierung führt jedoch zur Annahme der

    Existenz eines solchen Gegenstandes in der noumenalen Welt. Diese Annahme hier ist aberharmlos, denn ein solches positives Noumenon ist ein Objekt nichtsinnlicher Anschauung, die

    dem Menschen zwar vorstellbar aber nicht zugänglich ist. Insofern ist der zustande gekommene

    Schein nicht irrführend für unsere Erkenntnis, als das verdinglichte Ideal nicht bestimmend

    verwendet wird. Der transzendentale Schein ist ein Ergebnis der transzendentalen Subreption

    (KrV B647/A619) und gehört zum Fehler der Urteilskraft, die das von selbst erzeugte Schema als

    einen Gegenstand hält.

    Ein zweiter Schein ist aber beim weiten weniger harmlos. Er steckt in dem ontologischen

    Gottesbeweis, der allein aus dem Gottesbegriff sein Dasein abzuleiten versucht. Bei der

    Realisierung erhält das transzendentale Ideal nämliche Prädikate, die von seinem ursprünglichen

    Begriff abgeleitet sind. Zu denen zählt das Prädikat „absolut notwendig“ als das wesentlichste.

    Dennoch betrifft es bei der Ableitung nur die absolute Notwendigkeit des Denkens. Die

    Notwendigkeit der Sinnenwelt ist immer hypothetisch statt absolut. Das heißt, ein sinnlicher

    Gegenstand existiert nur im Hinblick auf einen anderen notwendig (vgl. KrV B279/A226-7).

    Zum Beispiel muß das Feuer als Ursache des Rauches existieren, wenn wir bloß den Rauch

    gesehen haben. In dem ontologischen Gottesbeweis wird jedoch versucht, aus dem Begriff „ ens

    necessarium“ die notwendige Existenz abzuleiten. Dabei ist das kosmologische Argument unter

    der Deckung des gleichen Wortes „notwendig“ eingeschlichen. Die kosmologische

    43 Vgl. KrV. B 670/A 642: „ Das höchste Wesen bleibt also für den bloß spekulativen Gebrauch

    der Vernunft ein bloßes, aber doch fehlerfreies Ideal, [...]“.

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    Notwendigkeit basiert auf dem Argument, daß die Dinge der Sinnenwelt bloß zufällig wären,

    wenn kein absolut notwendiges Wesen gesetzt würde, also genau die, die aus der vierten

    Antinomie entwickelt ist. Nach Henrich ist die Thesis der vierten Antinomie der Ursprung der

    Ontotheologie44

     (vgl. Henrich 1960: 154). Wenn es nichts absolut Notwendiges gibt, dann gibt es

    auch keine hypothetische Notwendigkeit. Daher muß man etwas absolutes Notwendiges setzen,

    damit unsere Denken in unterschiedlicher Modalität nicht bezweifelt wird. Hier geht es also

    wiederum um die Notwendigkeit des Denkens, eine solche Ursache anzunehmen. Sie darf aber

    nicht als bewiesen angesehen werden. Das absolute notwendige Wesen ist entweder als die

    absolute notwendige Ursache zu allen anderen Noumena zu betrachten, wobei die Existenz eines

    solchen Wesens für uns unerschlossen bleiben muß, oder als die absolute notwendige Ursache zu

    Dingen der Erscheinungen. Weil aber innerhalb der Phänomena keines sich als unbedingt

    erweisen kann, unternimmt man einen illegitimen Absprung (µεταβασιζ ειξ αλλο γενοξ) (vgl.

    KrV B487/A459) und setzt ein solches Wesen als ens extramundanum, wobei es aber zugleich als

    die Ursache zu Dingen der Erscheinung betrachtet wird. Dieser ist ein falscher Gebrauch der

    Vernunftidee und führt zum Schein eines absoluten notwendigen Wesens, das auch zur Erklärung

    in der phänonenale Welt herangezogen wird. Hier besteht die Gefährlichkeit des Scheins. Denn

    der Schein des ersten Schrittes ist nur eine „natürliche Illusion“ (KrV B354/A298), nämlich so,

    als ob gäbe es so ein Objekt. Der des modalen ontologischen Arguments liefert dagegen durch ein

    Sophisma (nämlich Verwechselung des Begriffs) einen Scheinbeweis für die Existenz einessolchen Objektes.

    Im modalen ontologischen Gottesbeweis übernimmt man die ontologische Eigenschaft des

    Gottesbegriffs „absolut notwendig“ und vertauscht sie stillschweigend mit dem aus der vierten

    kosmologischen Idee entwickelten „ens necessarium“. Dadurch wird der ontologische Gott mit

    der Sinnenwelt verbunden. Erst durch diese illegitime Verbindung ist es möglich, die Existenz

    Gottes aus seinem ontologischen Begriff zu „beweisen“. Der cartesianische Gottesbeweis begeht

    genau diesen Fehler. So wird das transzendentale Ideal konstitutiv gebraucht.

    44 Henrich ist der Meinung, daß der nervus probandi des ontologischen Beweises der Frühneuzeit

    darin besteht, daß der Begriff „ens realisimum“ mit dem „ens necessarium“ aus der Kosmologiein ein äquivalentes Verhältnis gebracht wird. Die beiden Begriffe sind aber bei näherer Prüfungnicht mit Gewißheit miteinander zu verbinden.

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    Im Schritt der Personifikation des transzendentalen Ideals kommt der dialektische Schein leicht

    zustande, wenn man die in der Welt empirisch beobachtbare Ordnung, Schönheit und

    Vollkommenheit auf einen höchsten Urheber zurückführt, und ihn mit dem transzendentalen Ideal

    gleichsetzt. Denn aus der Physikotheologie gewinnt man nur eine Idee des Weltbaumeisters, aber

    nicht des Weltschöpfers. Dem Weltschöpfer entspricht das transzendentale Ideal als omnitudo

    realitatis bzw. ens realissimum, welches das Material45

     zu allen noumenalen Dingen enthält. Die

    Ordnung, Schönheit und Vollkommenheit weisen zwar auf die noumenalen Zwecke, gehören

    selber aber immer noch der empirischen Welt an. So kann man den Weltbaumeister und

    Weltschöpfer nicht mit apodiktischer Sicherheit zusammenbringen. Wenn man dies trotz allem

    tut, kommt der Schein zustande.

    Zusammengefaßt hat das transzendentale Ideal seinen subjektiven Grund in der Vernunft, und derontologische Gottesbegriff ist der einzige mögliche Beweisgrund des Dasein Gottes. Die

    durchgeführten Gottesweise, sei es ontologisch, kosmologisch usw., vermengen nur die zwei

    Welten. Alle Schritte der Entwicklung des transzendentalen Ideals begleitet ein transzendentaler

    Schein, daß das schematisierte Ideal für ein real existierendes Ding gehalten wird. Dieser Schein

    ist kein gekünstelter Schein wie der durch logische Trugschlüsse, sondern wohnt natürlicherweise

    der Vernunft bei. Er ist auch leicht aufzudecken, indem die Vernunft des „als ob“ bewußt wird.

    Dieser Schein ist insofern harmlos, als das hypothetische Ideal auf der noumenalen Welt bleibt.

    Es kann aber aus dem natürlichen Bedürfnis der Vernunft ein anderer Schein zustande kommen,

    der ein logischer Schein ist. Er liegt in den Gottesbeweisen und kommt durch logische

    Trugschlüsse zustande und gaukelt uns eine apodiktische Sicherheit vor. Im Fall des

    transzendentalen Ideals wird in allen Gottesbeweisen eine Verwechselung der noumenalen und

    phänomenalen Welt begangen.

    Der transzendentale Schein als eine natürliche Illusion der Vernunft besteht im ontologischen

    Gottesbeweis des Anselms von Canterbury. Dabei wird die absolute Notwendigkeit des Ideals als

    die Voraussetzung des Denkens erkannt. Um aber der Kritik des heiligen Thomas von Aquin und

    später der von Empirikern wie Gassendi zu entgehen, daß ein notwendige Begriff die Existenz

    45 Hier ist nicht die Materie gemeint.

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    nicht beinhalten kann, wird von Descartes ein modaler ontologischer Beweis entwickelt, der aber

    auf verdeckte Weise einen kosmologischen Begriff zur Hilfe einschleppt46

    .

    III.VI Die Funktion des transzendentalen Ideals

    III.VI.I Die holistische Funktion des Ideals als eines Systems

    Wenn