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Immanuel Kant Kritik der praktischen Vernunft

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Immanuel Kant

Kritik der praktischen Vernunft

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Vorrede

Warum diese Kritik nicht eine Kritik der reinenpraktischen, sondern schlechthin der praktischen Ver-nunft überhaupt betitelt wird, obgleich der Parallelismderselben mit der spekulativen das erstere zu erfodernscheint, darüber gibt diese Abhandlung hinreichendenAufschluß. Sie soll bloß dartun, daß es reine prakti-sche Vernunft gebe, und kritisiert in dieser Absichtihr ganzes praktisches Vermögen. Wenn es ihr hiemitgelingt, so bedarf sie das reine Vermögen selbst nichtzu kritisieren, um zu sehen, ob sich die Vernunft miteinem solchen, als einer bloßen Anmaßung, nichtübersteige (wie es wohl mit der spekulativen ge-schieht). Denn wenn sie, als reine Vernunft, wirklichpraktisch ist, so beweiset sie ihre und ihrer BegriffeRealität durch die Tat, und alles Vernünfteln widerdie Möglichkeit, es zu sein, ist vergeblich.

Mit diesem Vermögen steht auch die transzenden-tale Freiheit nunmehro fest, und zwar in derjenigenabsoluten Bedeutung genommen, worin die spekula-tive Vernunft beim Gebrauche des Begriffs der Kau-salität sie bedurfte, um sich wider die Antinomie zuretten, darin sie unvermeidlich gerät, wenn sie in derReihe der Kausalverbindung sich das Unbedingtedenken will, welchen Begriff sie aber nur

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problematisch, als nicht unmöglich zu denken, auf-stellen konnte, ohne ihm seine objektive Realität zusichern, sondern allein, um nicht durch vorgeblicheUnmöglichkeit dessen, was sie doch wenigstens alsdenkbar gelten lassen muß, in ihrem Wesen angefoch-ten und in einen Abgrund des Skeptizismus gestürztzu werden.

Der Begriff der Freiheit, so fern dessen Realitätdurch ein apodiktisches Gesetz der praktischen Ver-nunft bewiesen ist, macht nun den Schlußstein vondem ganzen Gebäude eines Systems der reinen, selbstder spekulativen, Vernunft aus, und alle andere Be-griffe (die von Gott und Unsterblichkeit), welche, alsbloße Ideen, in dieser ohne Haltung bleiben, schlie-ßen sich nun an ihn an, und bekommen mit ihm unddurch ihn Bestand und objektive Realität, d.i. dieMöglichkeit derselben wird dadurch bewiesen, daßFreiheit wirklich ist; denn diese Idee offenbaret sichdurchs moralische Gesetz.

Freiheit ist aber auch die einzige unter allen Ideender spek. Vernunft, wovon wir die Möglichkeit apriori wissen, ohne sie doch einzusehen, weil sie dieBedingung1 des moralischen Gesetzes ist, welcheswir wissen. Die Ideen von Gott und Unsterblichkeitsind aber nicht Bedingungen des moralischen Geset-zes, sondern nur Bedingungen des notwendigen Ob-jekts eines durch dieses Gesetz bestimmten Willens,

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d.i. des bloß praktischen Gebrauchs unserer reinenVernunft; also können wir von jenen Ideen auch, ichwill nicht bloß sagen, nicht die Wirklichkeit, sondernauch nicht einmal die Möglichkeit zu erkennen undeinzusehen behaupten. Gleichwohl aber sind sie dieBedingungen der Anwendung des moralisch bestimm-ten Willens auf sein ihm a priori gegebenes Objekt(das höchste Gut). Folglich kann und muß ihre Mög-lichkeit in dieser praktischen Beziehung angenom-men werden, ohne sie doch theoretisch zu erkennenund einzusehen. Für die letztere Foderung ist in prak-tischer Absicht genug, daß sie keine innere Unmög-lichkeit (Widerspruch) enthalten. Hier ist nun ein, inVergleichung mit der spekulativen Vernunft, bloßsubjektiver Grund des Fürwahrhaltens, der doch einereben so reinen, aber praktischen Vernunft objektivgültig ist, dadurch den Ideen von Gott und Unsterb-lichkeit vermittelst des Begriffs der Freiheit objektiveRealität und Befugnis, ja subjektive Notwendigkeit(Bedürfnis der reinen Vernunft) sie anzunehmen ver-schafft wird, ohne daß dadurch doch die Vernunft imtheoretischen Erkenntnisse erweitert, sondern nur dieMöglichkeit, die vorher nur Problem war, hier Asser-tion wird, gegeben, und so der praktische Gebrauchder Vernunft mit den Elementen des theoretischenverknüpft wird. Und dieses Bedürfnis ist nicht etwaein hypothetisches, einer beliebigen Absicht der

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Spekulation, daß man etwas annehmen müsse, wennman zur Vollendung des Vernunftgebrauchs in derSpekulation hinaufsteigen will, sondern ein gesetzli-ches, etwas anzunehmen, ohne welches nicht gesche-hen kann, was man sich zur Absicht seines Tuns undLassens unnachlaßlich setzen soll.

Es wäre allerdings befriedigender für unsere speku-lative Vernunft, ohne diesen Umschweif jene Aufga-ben für sich aufzulösen, und sie als Einsicht zumpraktischen Gebrauche aufzubewahren; allein es isteinmal mit unserem Vermögen der Spekulation nichtso gut bestellt. Diejenige, welche sich solcher hohenErkenntnisse rühmen, sollten damit nicht zurückhal-ten, sondern sie öffentlich zur Prüfung und Hoch-schätzung darstellen. Sie wollen beweisen; wohlan!so mögen sie denn beweisen, und die Kritik legtihnen, als Siegern, ihre ganze Rüstung zu Füßen.Quid statis? Nolint. Atqui licet esse beatis. - Da siealso in der Tat nicht wollen, vermutlich weil sie nichtkönnen, so müssen wir jene doch nur wiederum zurHand nehmen, um die Begriffe von Gott, Freiheit undUnsterblichkeit, für welche die Spekulation nicht hin-reichende Gewährleistung ihrerMöglichkeit findet, inmoralischem Gebrauche der Vernunft zu suchen undauf demselben zu gründen.

Hier erklärt sich auch allererst das Rätsel der Kri-tik, wie man dem übersinnlichen Gebrauche der

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Kategorien in der Spekulation objektive Realität ab-sprechen, und ihnen doch, in Ansehung der Objekteder reinen praktischen Vernunft, diese Realität zuge-stehen könne; denn vorher muß dieses notwendig in-konsequent aussehen, so lange man einen solchenpraktischen Gebrauch nur dem Namen nach kennt.Wird man aber jetzt durch eine vollständige Zerglie-derung der letzteren inne, daß gedachte Realität hiergar auf keine theoretische Bestimmung der Kategori-en und Erweiterung des Erkenntnisses zum Übersinn-lichen hinausgehe, sondern nur hiedurch gemeinet sei,daß ihnen in dieser Beziehung überall ein Objekt zu-komme; weil sie entweder in der notwendigen Wil-lensbestimmung a priori enthalten, oder mit dem Ge-genstande derselben unzertrennlich verbunden sind,so verschwindet jene Inkonsequenz; weil man einenandern Gebrauch von jenen Begriffen macht, als spe-kulative Vernunft bedarf. Dagegen eröffnet sich nuneine vorher kaum zu erwartende und sehr befriedi-gende Bestätigung der konsequenten Denkungsartder spekulativen Kritik darin, daß, da diese die Ge-genstände der Erfahrung, als solche, und darunterselbst unser eigenes Subjekt, nur für Erscheinungengelten zu lassen, ihnen aber gleichwohl Dinge an sichselbst zum Grunde zu legen, also nicht alles Über-sinnliche für Erdichtung und dessen Begriff für leeran Inhalt zu halten, einschärfte: praktische Vernunft

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jetzt für sich selbst, und ohne mit der spekulativenVerabredung getroffen zu haben, einem übersinnli-chen Gegenstande der Kategorie der Kausalität, näm-lich der Freiheit, Realität verschafft (obgleich, alspraktischem Begriffe, auch nur zum praktischen Ge-brauche), also dasjenige, was dort bloß gedacht wer-den konnte, durch ein Faktum bestätigt. Hiebei erhältnun zugleich die befremdliche, obzwar unstreitige,Behauptung der spekulativen Kritik, daß sogar dasdenkende Subjekt ihm selbst, in der inneren An-schauung, bloß Erscheinung sei, in der Kritik derpraktischen Vernunft auch ihre volle Bestätigung, sogut, daß man auf sie kommen muß, wenn die ersterediesen Satz auch gar nicht bewiesen hätte.2

Hiedurch verstehe ich auch, warum die erheblich-sten Einwürfe wider die Kritik, die mir bisher nochvorgekommen sind, sich gerade um diese zwei Angeldrehen: nämlich, einerseits, im theoretischen Erkennt-nis geleugnete und im praktischen behauptete objekti-ve Realität der auf Noumenen angewandten Kategori-en, andererseits die paradoxe Foderung, sich als Sub-jekt der Freiheit zum Noumen, zugleich aber auch inAbsicht auf die Natur zum Phänomen in seinem eige-nen empirischen Bewußtsein zu machen. Denn, solange man sich noch keine bestimmte Begriffe vonSittlichkeit und Freiheit machte, konnte man nicht er-raten, was man einerseits der vorgeblichen

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Erscheinung als Noumen zum Grunde legen wolle,und andererseits, ob es überall auch möglich sei, sichnoch von ihm einen Begriff zu machen, wenn manvorher alle Begriffe des reinen Verstandes im theoreti-schen Gebrauche schon ausschließungsweise den blo-ßen Erscheinungen gewidmet hätte. Nur eine ausführ-liche Kritik der praktischen Vernunft kann alle dieseMißdeutung heben, und die konsequente Denkungs-art, welche eben ihren größten Vorzug ausmacht, inein helles Licht setzen.

So viel zur Rechtfertigung, warum in diesemWerke die Begriffe und Grundsätze der reinen speku-lativen Vernunft, welche doch ihre besondere Kritikschon erlitten haben, hier hin und wieder nochmalsder Prüfung unterworfen werden, welches dem syste-matischen Gange einer zu errichtenden Wissenschaftsonst nicht wohl geziemet (da abgeurteilte Sachen bil-lig nur angeführt und nicht wiederum in Anregung ge-bracht werden müssen), doch hier erlaubt, ja nötigwar; weil die Vernunft mit jenen Begriffen im Über-gange zu einem ganz anderen Gebrauche betrachtetwird, als den sie dort von ihnen machte. Ein solcherÜbergang macht aber eine Vergleichung des älterenmit dem neuern Gebrauche notwendig, um das neueGleis von dem vorigen wohl zu unterscheiden und zu-gleich den Zusammenhang derselben bemerken zulassen. Man wird also Betrachtungen dieser Art, unter

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andern diejenige, welche nochmals auf den Begriff derFreiheit, aber im praktischen Gebrauche der reinenVernunft, gerichtet worden, nicht wie Einschiebselbetrachten, die etwa nur dazu dienen sollen, umLücken des kritischen Systems der spekulativen Ver-nunft auszufüllen (denn dieses ist in seiner Absichtvollständig), und, wie es bei einem übereilten Baueherzugehen pflegt, hintennach noch Stützen und Stre-bepfeiler anzubringen, sondern als wahre Glieder, dieden Zusammenhang des Systems bemerklich machen,und Begriffe, die dort nur problematisch vorgestelltwerden konnten, jetzt in ihrer realen Darstellung ein-sehen zu lassen. Diese Erinnerung geht vornehmlichden Begriff der Freiheit an, von dem man mit Befrem-dung bemerken muß, daß noch so viele ihn ganz wohleinzusehen und die Möglichkeit derselben erklären zukönnen sich rühmen, indem sie ihn bloß in psycholo-gischer Beziehung betrachten, indessen daß, wenn sieihn vorher in transzendentaler genau erwogen hätten,sie so wohl seine Unentbehrlichkeit, als problemati-schen Begriffs, in vollständigem Gebrauche der spe-kulativen Vernunft, als auch die völlige Unbegreif-lichkeit desselben hätten erkennen, und, wenn sienachher mit ihm zum praktischen Gebrauche gingen,gerade auf die nämliche Bestimmung des letzteren inAnsehung seiner Grundsätze von selbst hätten kom-men müssen, zu welcher sie sich sonst so ungern

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verstehen wollen. Der Begriff der Freiheit ist derStein des Anstoßes für alle Empiristen, aber auch derSchlüssel zu den erhabensten praktischen Grundsät-zen für kritischeMoralisten, die dadurch einsehen,daß sie notwendig rational verfahren müssen. Umdeswillen ersuche ich den Leser, das, was zumSchlusse der Analytik über diesen Begriff gesagtwird, nicht mit flüchtigem Auge zu übersehen.

Ob ein solches System, als hier von der reinenpraktischen Vernunft aus der Kritik der letzteren ent-wickelt wird, viel oder wenig Mühe gemacht habe,um vornehmlich den rechten Gesichtspunkt, aus demdas Ganze derselben richtig vorgezeichnet werdenkann, nicht zu verfehlen, muß ich den Kennern einerdergleichen Arbeit zu beurteilen überlassen. Es setztzwar die Grundlegung zur Metaphysik der Sittenvoraus, aber nur in so fern, als diese mit dem Prinzipder Pflicht vorläufige Bekanntschaft macht und einebestimmte Formel derselben angibt und rechtfertigt;3sonst besteht es durch sich selbst. Daß die Einteilungaller praktischen Wissenschaften zur Vollständigkeitnicht mit beigefügt worden, wie es die Kritik der spe-kulativen Vernunft leistete, dazu ist auch gültigerGrund in der Beschaffenheit dieses praktischen Ver-nunftvermögens anzutreffen. Denn die besondere Be-stimmung der Pflichten, als Menschenpflichten, umsie einzuteilen, ist nur möglich, wenn vorher das

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Subjekt dieser Bestimmung (der Mensch), nach derBeschaffenheit, mit der er wirklich ist, obzwar nur soviel als in Beziehung auf Pflicht überhaupt nötig ist,erkannt worden; diese aber gehört nicht in eine Kritikder praktischen Vernunft überhaupt, die nur die Prin-zipien ihrer Möglichkeit, ihres Umfanges und Gren-zen vollständig ohne besondere Beziehung auf diemenschliche Natur angeben soll. Die Einteilung ge-hört also hier zum System der Wissenschaft, nichtzum System der Kritik.

Ich habe einem gewissen, wahrheitliebenden undscharfen, dabei also doch immer achtungswürdigenRezensenten jener Grundlegung zur Met. d. S. aufseinen Einwurf, daß der Begriff des Guten dort nicht(wie es seiner Meinung nach nötig gewesen wäre) vordem moralischen Prinzip festgesetzt worden,4 indem zweiten Hauptstücke der Analytik, wie ich hoffe,Genüge getan; eben so auch auf manche andere Ein-würfe Rücksicht genommen, die mir von Männern zuHänden gekommen sind, die den Willen blicken las-sen, daß die Wahrheit auszumitteln ihnen am Herzenliegt (denn die, so nur ihr altes System vor Augenhaben, und bei denen schon vorher beschlossen ist,was gebilligt oder mißbilligt werden soll, verlangendoch keine Erörterung, die ihrer Privatabsicht imWege sein könnte); und so werde ich es auch ferner-hin halten.

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Wenn es um die Bestimmung eines besonderenVermögens der menschlichen Seele, nach seinenQuellen, Inhalte und Grenzen zu tun ist, so kann manzwar, nach der Natur des menschlichen Erkenntnisses,nicht anders als von den Teilen derselben, ihrer ge-nauen und (so viel als nach der jetzigen Lage unsererschon erworbenen Elemente derselben möglich ist)vollständigen Darstellung anfangen. Aber es ist nocheine zweite Aufmerksamkeit, die mehr philosophischund architektonisch ist; nämlich, die Idee des Gan-zen richtig zu fassen, und aus derselben alle jene Teilein ihrer wechselseitigen Beziehung auf einander, ver-mittelst der Ableitung derselben von dem Begriffejenes Ganzen, in einem reinen Vernunftvermögen insAuge zu fassen. Diese Prüfung und Gewährleistungist nur durch die innigste Bekanntschaft mit dem Sy-stem möglich, und die, welche in Ansehung der erste-ren Nachforschung verdrossen gewesen, also dieseBekanntschaft zu erwerben nicht der Mühe wert ge-achtet haben, gelangen nicht zur zweiten Stufe, näm-lich der Übersicht, welche eine synthetische Wieder-kehr zu demjenigen ist, was vorher analytisch gege-ben worden, und es ist kein Wunder, wenn sie aller-wärts Inkonsequenzen finden, obgleich die Lücken,die diese vermuten lassen, nicht im System selbst,sondern bloß in ihrem eigenen unzusammenhängen-den Gedankengange anzutreffen sind.

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Ich besorge in Ansehung dieser Abhandlung nichtsvon dem Vorwurfe, eine neue Sprache einführen zuwollen, weil die Erkenntnisart sich hier von selbst derPopularität nähert. Dieser Vorwurf konnte auch nie-manden in Ansehung der ersteren Kritik beifallen, dersie nicht bloß durchgeblättert, sondern durchgedachthatte. Neue Worte zu künsteln, wo die Sprache schonso an Ausdrücken für gegebene Begriffe keinen Man-gel hat, ist eine kindische Bemühung, sich unter derMenge, wenn nicht durch neue und wahre Gedanken,doch durch einen neuen Lappen auf dem alten Kleideauszuzeichnen. Wenn daher die Leser jener Schriftpopulärere Ausdrücke wissen, die doch dem Gedan-ken eben so angemessen sein, als mir jene zu seinscheinen, oder etwa die Nichtigkeit dieser Gedankenselbst, mithin zugleich jedes Ausdrucks, der ihn be-zeichnet, darzutun sich getrauen: so würden sie michdurch das erstere sehr verbinden, denn ich will nurverstanden sein; in Ansehung des zweiten aber sichein Verdienst um die Philosophie erwerben. So langeaber jene Gedanken noch stehen, zweifele ich sehr,daß ihnen angemessene und doch gangbarere Aus-drücke dazu aufgefunden werden dürften.5

Auf diese Weise wären denn nunmehr die Prinzipi-en a priori zweier Vermögen des Gemüts, des Er-kenntnis- und Begehrungsvermögens ausgemittelt,und, nach den Bedingungen, dem Umfange und

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Grenzen ihres Gebrauchs, bestimmt, hiedurch aber zueiner systematischen, theoretischen sowohl als prakti-schen Philosophie, als Wissenschaft, sicherer Grundgelegt.

Was Schlimmeres könnte aber diesen Bemühungenwohl nicht begegnen, als wenn jemand die unerwar-tete Entdeckung machte, daß es überall gar kein Er-kenntnis a priori gebe, noch geben könne. Allein eshat hiemit keine Not. Es wäre eben so viel, als ob je-mand durch Vernunft beweisen wollte, daß es keineVernunft gebe. Denn wir sagen nur, daß wir etwasdurch Vernunft erkennen, wenn wir uns bewußt sind,daß wir es auch hätten wissen können, wenn es unsauch nicht so in der Erfahrung vorgekommen wäre;mithin ist Vernunfterkenntnis und Erkenntnis a priorieinerlei. Aus einem Erfahrungssatze Notwendigkeit(ex pumice aquam) auspressen wollen, mit dieserauch wahre Allgemeinheit (ohne welche kein Ver-nunftschluß, mithin auch nicht der Schluß aus derAnalogie, welche eine wenigstens präsumierte Allge-meinheit und objektive Notwendigkeit ist, und diesealso doch immer voraussetzt) einem Urteile verschaf-fen wollen, ist gerader Widerspruch. Subjektive Not-wendigkeit, d.i. Gewohnheit, statt der objektiven, dienur in Urteilen a priori stattfindet, unterschieben,heißt der Vernunft das Vermögen absprechen, überden Gegenstand zu urteilen, d.i. ihn, und was ihm

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zukomme, zu erkennen, und z. B. von dem, was öftersund immer auf einen gewissen vorhergehenden Zu-stand folgte, nicht sagen, daß man aus diesem aufjenes schließen könne (denn das würde objektiveNotwendigkeit und Begriff von einer Verbindung apriori bedeuten), sondern nur ähnliche Fälle (mit denTieren auf ähnliche Art) erwarten dürfe, d.i. den Be-griff der Ursache im Grunde als falsch und bloßenGedankenbetrug verwerfen. Diesem Mangel der ob-jektiven und daraus folgenden allgemeinen Gültigkeitdadurch abhelfen wollen, daß man doch keinen Grundsähe, andern vernünftigen Wesen eine andere Vorstel-lungsart beizulegen, wenn das einen gültigen Schlußabgäbe, so würde uns unsere Unwissenheit mehrDienste zu Erweiterung unserer Erkenntnis leisten, alsalles Nachdenken. Denn bloß deswegen, weil wir an-dere vernünftige Wesen außer dem Menschen nichtkennen, würden wir ein Recht haben, sie als so be-schaffen anzunehmen, wie wir uns erkennen, d.i. wirwürden sie wirklich kennen. Ich erwähne hier nichteinmal, daß nicht die Allgemeinheit des Fürwahrhal-tens die objektive Gültigkeit eines Urteils (d.i. dieGültigkeit desselben als Erkenntnisses) beweise, son-dern, wenn jene auch zufälliger Weise zuträfe, diesesdoch noch nicht einen Beweis der Übereinstimmungmit dem Objekt abgeben könne; vielmehr die objekti-ve Gültigkeit allein den Grund einer notwendigen

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allgemeinen Einstimmung ausmache.Hume würde sich bei diesem System des allgemei-

nen Empirisms in Grundsätzen auch sehr wohl befin-den; denn er verlangte, wie bekannt, nichts mehr, alsdaß, statt aller objektiven Bedeutung der Notwendig-keit im Begriffe der Ursache, eine bloß subjektive,nämlich Gewohnheit, angenommen werde, um derVernunft alles Urteil über Gott, Freiheit und Unsterb-lichkeit abzusprechen; und er verstand sich gewißsehr gut darauf, um, wenn man ihm nur die Prinzipienzugestand, Schlüsse mit aller logischen Bündigkeitdaraus zu folgern. Aber so allgemein hat selbst Humeden Empirism nicht gemacht, um auch die Mathema-tik darin einzuschließen. Er hielt ihre Sätze für analy-tisch, und, wenn das seine Richtigkeit hätte, würdensie in der Tat auch apodiktisch sein, gleichwohl aberdaraus kein Schluß auf ein Vermögen der Vernunft,auch in der Philosophie apodiktische Urteile, nämlichsolche, die synthetisch wären (wie der Satz der Kau-salität), zu fällen, gezogen werden können. Nähmeman aber den Empirism der Prinzipien allgemein an,so wäre auch Mathematik damit eingeflochten.

Wenn nun diese mit der Vernunft, die bloß empiri-sche Grundsätze zuläßt, in Widerstreit gerät, wie die-ses in der Antinomie, da Mathematik die unendlicheTeilbarkeit des Raumes unwidersprechlich beweiset,der Empirism aber sie nicht verstatten kann,

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unvermeidlich ist: so ist die größte mögliche Evidenzder Demonstration, mit den vorgeblichen Schlüssenaus Erfahrungsprinzipien, in offenbarem Wider-spruch, und nun muß man, wie der Blinde des Che-selden fragen: was betrügt mich, das Gesicht oderGefühl? (Denn der Empirism gründet sich auf einergefühlten, der Rationalism aber auf einer eingesehe-nen Notwendigkeit.) Und so offenbaret sich der allge-meine Empirism als den echten Skeptizism, den mandem Hume fälschlich in so unbeschränkter Bedeutungbeilegte,6 da er wenigstens einen sicheren Probier-stein der Erfahrung an der Mathematik übrig ließ,statt daß jener schlechterdings keinen Probiersteinderselben (der immer nur in Prinzipien a priori ange-troffen werden kann) verstattet, obzwar diese dochnicht aus bloßen Gefühlen, sondern auch aus Urteilenbesteht.

Doch, da es in diesem philosophischen und kriti-schen Zeitalter schwerlich mit jenem Empirism Ernstsein kann, und er vermutlich nur zur Übung der Ur-teilskraft, und, um durch den Kontrast die Notwendig-keit rationaler Prinzipien a priori in ein helleres Lichtzu setzen, aufgestellet wird: so kann man es denendoch Dank wissen, die sich mit dieser sonst ebennicht belehrenden Arbeit bemühen wollen.

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Einleitung

Von der Idee einer Kritik der praktischenVernunft

Der theoretische Gebrauch der Vernunft beschäftig-te sich mit Gegenständen des bloßen Erkenntnisver-mögens, und eine Kritik derselben, in Absicht auf die-sen Gebrauch, betraf eigentlich nur das reine Erkennt-nisvermögen, weil dieses Verdacht erregte, der sichauch hernach bestätigte, daß es sich leichtlich überseine Grenzen, unter unerreichbare Gegenstände, odergar einander widerstreitende Begriffe, verlöre. Mitdem praktischen Gebrauche der Vernunft verhält essich schon anders. In diesem beschäftigt sich die Ver-nunft mit Bestimmungsgründen des Willens, welcherein Vermögen ist, den Vorstellungen entsprechendeGegenstände entweder hervorzubringen, oder dochsich selbst zu Bewirkung derselben (das physischeVermögen mag nun hinreichend sein, oder nicht), d.i.seine Kausalität zu bestimmen. Denn da kann wenig-stens die Vernunft zur Willensbestimmung zulangen,und hat so fern immer objektive Realität, als es nurauf das Wollen ankommt. Hier ist also die ersteFrage: ob reine Vernunft zur Bestimmung des Willensfür sich allein zulange, oder ob sie nur als

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empirisch-bedingte ein Bestimmungsgrund derselbensein könne. Nun tritt hier ein durch die Kritik der rei-nen Vernunft gerechtfertigter, obzwar keiner empiri-schen Darstellung fähiger Begriff der Kausalität,nämlich der der Freiheit, ein, und wenn wir anjetztGründe ausfindig machen können, zu beweisen, daßdiese Eigenschaft dem menschlichen Willen (und soauch dem Willen aller vernünftigen Wesen) in der Tatzukomme, so wird dadurch nicht allein dargetan, daßreine Vernunft praktisch sein könne, sondern daß sieallein, und nicht die empirisch-beschränkte, unbe-dingterweise praktisch sei. Folglich werden wir nichteine Kritik der reinen praktischen, sondern nur derpraktischen Vernunft überhaupt zu bearbeiten haben.Denn reine Vernunft, wenn allererst dargetan worden,daß es eine solche gebe, bedarf keiner Kritik. Sie istes, welche selbst die Richtschnur zur Kritik alles ihresGebrauchs enthält. Die Kritik der praktischen Ver-nunft überhaupt hat also die Obliegenheit, die empi-risch bedingte Vernunft von der Anmaßung abzuhal-ten, ausschließungsweise den Bestimmungsgrund desWillens allein abgeben zu wollen. Der Gebrauch derreinen Vernunft, wenn, daß es eine solche gebe, aus-gemacht ist, ist allein immanent; der empi-risch-bedingte, der sich die Alleinherrschaft anmaßt,ist dagegen transzendent, und äußert sich in Zumutun-gen und Geboten, die ganz über ihr Gebiet

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hinausgehen, welches gerade das umgekehrte Verhält-nis von dem ist, was von der reinen Vernunft im spe-kulativen Gebrauche gesagt werden konnte.

Indessen, da es immer noch reine Vernunft ist,deren Erkenntnis hier dem praktischen Gebrauchezum Grunde liegt, so wird doch die Einteilung einerKritik der praktischen Vernunft, dem allgemeinen Ab-risse nach, der der spekulativen gemäß angeordnetwerden müssen. Wir werden also eine Elementar-lehre undMethodenlehre derselben, in jener, als demersten Teile, eine Analytik, als Regel der Wahrheit,und eine Dialektik, als Darstellung und Auflösungdes Scheins in Urteilen der praktischen Vernunfthaben müssen. Allein die Ordnung in der Unterabtei-lung der Analytik wird wiederum das Umgewandtevon der in der Kritik der reinen spekulativen Vernunftsein. Denn in der gegenwärtigen werden wir vonGrundsätzen anfangend zu Begriffen und von diesenallererst, wo möglich, zu den Sinnen gehen; da wirhingegen bei der spekulativen Vernunft von den Sin-nen anfingen, und bei den Grundsätzen endigen muß-ten. Hievon liegt der Grund nun wiederum darin: daßwir es jetzt mit einem Willen zu tun haben, und dieVernunft nicht im Verhältnis auf Gegenstände, son-dern auf diesen Willen und dessen Kausalität zu er-wägen haben, da denn die Grundsätze der empirischunbedingten Kausalität den Anfang machen müssen,

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nach welchem der Versuch gemacht werden kann, un-sere Begriffe von dem Bestimmungsgrunde eines sol-chen Willens, ihrer Anwendung auf Gegenstände, zu-letzt auf das Subjekt und dessen Sinnlichkeit, allererstfestzusetzen. Das Gesetz der Kausalität aus Freiheit,d.i. irgend ein reiner praktischer Grundsatz, machthier unvermeidlich den Anfang, und bestimmt die Ge-genstände, worauf er allein bezogen werden kann.

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Der Kritik der praktischen Vernunfterster Teil

Elementarlehre der reinen praktischenVernunft

Erstes Buch.Die Analytik der reinen praktischen Vernunft

Erstes Hauptstück.Von den Grundsätzen der reinen praktischen

Vernunft

§ 1. Erklärung

Praktische Grundsätze sind Sätze, welche eine all-gemeine Bestimmung des Willens enthalten, die meh-rere praktische Regeln unter sich hat. Sie sind subjek-tiv, oder Maximen, wenn die Bedingung nur als fürden Willen des Subjekts gültig von ihm angesehenwird; objektiv aber, oder praktische Gesetze, wennjene als objektiv, d.i. für den Willen jedes vernünfti-

W ül i k i d

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Anmerkung

Wenn man annimmt, daß reine Vernunft einenpraktisch, d.i. zur Willensbestimmung hinreichendenGrund in sich enthalten könne, so gibt es praktischeGesetze; wo aber nicht, so werden alle praktischeGrundsätze bloße Maximen sein. In einem patholo-gisch-affizierten Willen eines vernünftigen Wesenskann ein Widerstreit der Maximen, wider die von ihmselbst erkannte praktische Gesetze, angetroffen wer-den. Z.B. es kann sich jemand zur Maxime machen,keine Beleidigung ungerächet zu erdulden, und dochzugleich einsehen, daß dieses kein praktisches Gesetz,sondern nur seine Maxime sei, dagegen, als Regel fürden Willen eines jeden vernünftigen Wesens, in einerund derselben Maxime, mit sich selbst nicht zusam-men stimmen könne. In der Naturerkenntnis sind diePrinzipien dessen, was geschieht (z.B. das Prinzip derGleichheit der Wirkung und Gegenwirkung in derMitteilung der Bewegung), zugleich Gesetze derNatur; denn der Gebrauch der Vernunft ist dort theo-retisch und durch die Beschaffenheit des Objekts be-stimmt. In der praktischen Erkenntnis, d.i. derjenigen,welche es bloß mit Bestimmungsgründen des Willenszu tun hat, sind Grundsätze, die man sich macht,darum noch nicht Gesetze, darunter man unvermeid-lich stehe, weil die Vernunft im Praktischen es mit

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dem Subjekte zu tun hat, nämlich dem Begehrungs-vermögen, nach dessen besonderer Beschaffenheitsich die Regel vielfältig richten kann. - Die prakti-sche Regel ist jederzeit ein Produkt der Vernunft, weilsie Handlung, als Mittel zur Wirkung, als Absichtvorschreibt. Diese Regel ist aber für ein Wesen, beidem Vernunft nicht ganz allein Bestimmungsgrunddes Willens ist, ein Imperativ, d.i. eine Regel, diedurch ein Sollen, welches die objektive Nötigung derHandlung ausdrückt, bezeichnet wird, und bedeutet,daß, wenn die Vernunft den Willen gänzlich bestim-mete, die Handlung unausbleiblich nach dieser Regelgeschehen würde. Die Imperativen gelten also objek-tiv, und sind von Maximen, als subjektiven Grundsät-zen, gänzlich unterschieden. Jene bestimmen aber ent-weder die Bedingungen der Kausalität des vernünfti-gen Wesens, als wirkender Ursache, bloß in Anse-hung der Wirkung und Zulänglichkeit zu derselben,oder sie bestimmen nur den Willen, er mag zur Wir-kung hinreichend sein oder nicht. Die erstere würdenhypothetische Imperativen sein, und bloße Vorschrif-ten der Geschicklichkeit enthalten; die zweiten wür-den dagegen kategorisch und allein praktische Geset-ze sein. Maximen sind also zwar Grundsätze, abernicht Imperativen. Die Imperativen selber aber, wennsie bedingt sind, d.i. nicht den Willen schlechthin alsWillen, sondern nur in Ansehung einer begehrten

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Wirkung bestimmen, d.i. hypothetische Imperativensind, sind zwar praktische Vorschriften, aber keineGesetze. Die letztern müssen den Willen als Willen,noch ehe ich frage, ob ich gar das zu einer begehrtenWirkung erforderliche Vermögen habe, oder, was mir,um diese hervorzubringen, zu tun sei, hinreichend be-stimmen, mithin kategorisch sein, sonst sind es keineGesetze; weil ihnen die Notwendigkeit fehlt, welche,wenn sie praktisch sein soll, von pathologischen, mit-hin dem Willen zufällig anklebenden Bedingungenunabhängig sein muß. Saget jemanden, z.B., daß er inder Jugend arbeiten und sparen müsse, um im Alternicht zu darben: so ist dieses eine richtige und zu-gleich wichtige praktische Vorschrift des Willens.Man sieht aber leicht, daß der Wille hier auf etwasanderes verwiesen werde, wovon man voraussetzt,daß er es begehre, und dieses Begehren muß man ihm,dem Täter selbst, überlassen, ob er noch andereHülfsquellen, außer seinem selbst erworbenen Ver-mögen, vorhersehe, oder ob er gar nicht hoffe, alt zuwerden, oder sich denkt im Falle der Not dereinstschlecht behelfen zu können. Die Vernunft, aus derallein alle Regel, die Notwendigkeit enthalten soll,entspringen kann, legt in diese ihre Vorschrift zwarauch Notwendigkeit (denn ohne das wäre sie kein Im-perativ), aber diese ist nur subjektiv bedingt, und mankann sie nicht in allen Subjekten in gleichem Grade

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voraussetzen. Zu ihrer Gesetzgebung aber wird erfo-dert, daß sie bloß sich selbst vorauszusetzen bedürfe,weil die Regel nur alsdenn objektiv und allgemeingültig ist, wenn sie ohne zufällige, subjektive Bedin-gungen gilt, die ein vernünftig Wesen von dem ande-ren unterscheiden. Nun sagt jemanden: er solle nie-mals lügenhaft versprechen, so ist dies eine Regel, diebloß seinen Willen betrifft; die Absichten, die derMensch haben mag, mögen durch denselben erreichtwerden können, oder nicht; das bloße Wollen ist das,was durch jene Regel völlig a priori bestimmt werdensoll. Findet sich nun, daß diese Regel praktisch rich-tig sei, so ist sie ein Gesetz, weil sie ein kategorischerImperativ ist. Also beziehen sich praktische Gesetzeallein auf den Willen, unangesehen dessen, was durchdie Kausalität desselben ausgerichtet wird, und mankann von der letztern (als zur Sinnenwelt gehörig) ab-strahieren, um sie rein zu haben.

§ 2. Lehrsatz I

Alle praktische Prinzipien, die ein Objekt (Materie)des Begehrungsvermögens, als Bestimmungsgrunddes Willens, voraussetzen, sind insgesamt empirischund können keine praktische Gesetze abgeben.

Ich verstehe unter der Materie des

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Begehrungsvermögens einen Gegenstand, dessenWirklichkeit begehret wird. Wenn die Begierde nachdiesem Gegenstande nun vor der praktischen Regelvorhergeht, und die Bedingung ist, sie sich zum Prin-zip machen, so sage ich (erstlich): dieses Prinzip istalsdenn jederzeit empirisch. Denn der Bestimmungs-grund der Willkür ist alsdenn die Vorstellung einesObjekts, und dasjenige Verhältnis derselben zumSubjekt, wodurch das Begehrungsvermögen zurWirklichmachung desselben bestimmt wird. Ein sol-ches Verhältnis aber zum Subjekt heißt die Lust ander Wirklichkeit eines Gegenstandes. Also müßtediese als Bedingung der Möglichkeit der Bestimmungder Willkür vorausgesetzt werden. Es kann aber vonkeiner Vorstellung irgend eines Gegenstandes, welchesie auch sei, a priori erkannt werden, ob sie mit Lustoder Unlust verbunden, oder indifferent sein werde.Also muß in solchem Falle der Bestimmungsgrundder Willkür jederzeit empirisch sein, mithin auch daspraktische materiale Prinzip, welches ihn als Bedin-gung voraussetzte.

Da nun (zweitens) ein Prinzip, das sich nur auf diesubjektive Bedingung der Empfänglichkeit einer Lustoder Unlust (die jederzeit nur empirisch erkannt, undnicht für alle vernünftige Wesen in gleicher Art gültigsein kann) gründet, zwar wohl für das Subjekt, das siebesitzt, zu ihrerMaxime, aber auch für diese selbst

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(weil es ihm an objektiver Notwendigkeit, die a priorierkannt werden muß, mangelt) nicht zum Gesetze die-nen kann, so kann ein solches Prinzip niemals einpraktisches Gesetz abgeben.

§ 3. Lehrsatz II

Alle materiale praktische Prinzipien sind, als sol-che, insgesamt von einer und derselben Art, und ge-hören unter das allgemeine Prinzip der Selbstliebe,oder eigenen Glückseligkeit.

Die Lust aus der Vorstellung der Existenz einerSache, so fern sie ein Bestimmungsgrund des Begeh-rens dieser Sache sein soll, gründet sich auf der Emp-fänglichkeit des Subjekts, weil sie von dem Daseineines Gegenstandes abhängt; mithin gehört sie demSinne (Gefühl) und nicht dem Verstande an, der eineBeziehung der Vorstellung auf ein Objekt, nach Be-griffen, aber nicht auf das Subjekt, nach Gefühlen,ausdrückt. Sie ist also nur so fern praktisch, als dieEmpfindung der Annehmlichkeit, die das Subjekt vonder Wirklichkeit des Gegenstandes erwartet, das Be-gehrungsvermögen bestimmt. Nun ist aber das Be-wußtsein eines vernünftigen Wesens von der An-nehmlichkeit des Lebens, die ununterbrochen seinganzes Dasein begleitet, die Glückseligkeit, und das

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Prinzip, diese sich zum höchsten Bestimmungsgrundeder Willkür zu machen, das Prinzip der Selbstliebe.Also sind alle materiale Prinzipien, die den Bestim-mungsgrund der Willkür in der, aus irgend eines Ge-genstandes Wirklichkeit zu empfindenden, Lust oderUnlust setzen, so fern gänzlich von einerlei Art, daßsie insgesamt zum Prinzip der Selbstliebe, oder eige-nen Glückseligkeit gehören.

Folgerung

Alle materiale praktische Regeln setzen den Be-stimmungsgrund des Willens im unteren Begeh-rungsvermögen, und, gäbe es gar keine bloß formaleGesetze desselben, die den Willen hinreichend be-stimmeten, so würde auch kein oberes Begehrungs-vermögen eingeräumt werden können.

Anmerkung I

Man muß sich wundern, wie sonst scharfsinnigeMänner einen Unterschied zwischen dem unteren undoberen Begehrungsvermögen darin zu finden glau-ben können, ob die Vorstellungen, die mit dem Ge-fühl der Lust verbunden sind, in den Sinnen, oder

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dem Verstande ihren Ursprung haben. Denn eskommt, wenn man nach den Bestimmungsgründendes Begehrens fragt und sie in einer von irgend etwaserwarteten Annehmlichkeit setzt, gar nicht darauf an,wo die Vorstellung dieses vergnügenden Gegenstan-des herkomme, sondern nur, wie sehr sie vergnügt.Wenn eine Vorstellung, sie mag immerhin im Ver-stande ihren Sitz und Ursprung haben, die Willkürnur dadurch bestimmen kann, daß sie ein Gefühl einerLust im Subjekte voraussetzet, so ist, daß sie ein Be-stimmungsgrund der Willkür sei, gänzlich von derBeschaffenheit des inneren Sinnes abhängig, daß die-ser nämlich dadurch mit Annehmlichkeit affiziert wer-den kann. Die Vorstellungen der Gegenstände mögennoch so ungleichartig, sie mögen Verstandes-, selbstVernunftvorstellungen im Gegensatze der Vorstellun-gen der Sinne sein, so ist doch das Gefühl der Lust,wodurch jene doch eigentlich nur den Bestimmungs-grund des Willens ausmachen (die Annehmlichkeit,das Vergnügen, das man davon erwartet, welches dieTätigkeit zur Hervorbringung des Objekts antreibt),nicht allein so fern von einerlei Art, daß es jederzeitbloß empirisch erkannt werden kann, sondern auch sofern, als er eine und dieselbe Lebenskraft, die sich imBegehrungsvermögen äußert, affiziert, und in dieserBeziehung von jedem anderen Bestimmungsgrunde innichts, als dem Grade, verschieden sein kann. Wie

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würde man sonsten zwischen zwei der Vorstellungsartnach gänzlich verschiedenen Bestimmungsgründeneine Vergleichung der Größe nach anstellen können,um den, der am meisten das Begehrungsvermögen af-fiziert, vorzuziehen? Eben derselbe Mensch kann einihm lehrreiches Buch, das ihm nur einmal zu Händenkommt, ungelesen zurückgeben, um die Jagd nicht zuversäumen, in der Mitte einer schönen Rede wegge-hen, um zur Mahlzeit nicht zu spät zu kommen, eineUnterhaltung durch vernünftige Gespräche, die ersonst sehr schätzt, verlassen, um sich an den Spiel-tisch zu setzen, so gar einen Armen, dem wohlzutunihm sonst Freude ist, abweisen, weil er jetzt ebennicht mehr Geld in der Tasche hat, als er braucht, umden Eintritt in die Komödie zu bezahlen. Beruht dieWillensbestimmung auf dem Gefühle der Annehm-lichkeit oder Unannehmlichkeit, die er aus irgendeiner Ursache erwartet, so ist es ihm gänzlich einerlei,durch welche Vorstellungsart er affiziert werde. Nurwie stark, wie lange, wie leicht erworben und oft wie-derholt diese Annehmlichkeit sei, daran liegt es ihm,um sich zur Wahl zu entschließen. So wie demjeni-gen, der Gold zur Ausgabe braucht, gänzlich einerleiist, ob die Materie desselben, das Gold, aus dem Ge-birge gegraben, oder aus dem Sande gewaschen ist,wenn es nur allenthalben für denselben Wert ange-nommen wird, so fragt kein Mensch, wenn es ihm

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bloß an der Annehmlichkeit des Lebens gelegen ist,ob Verstandes- oder Sinnesvorstellungen, sondernnur, wie viel und großes Vergnügen sie ihm auf dielängste Zeit verschaffen. Nur diejenigen, welche derreinen Vernunft das Vermögen, ohne Voraussetzungirgend eines Gefühls den Willen zu bestimmen, gerneabstreiten möchten, können sich so weit von ihrer ei-genen Erklärung verirren, das, was sie selbst vorherauf ein und eben dasselbe Prinzip gebracht haben,dennoch hernach für ganz ungleichartig zu erklären.So findet sich z.B., daß man auch an bloßer Kraftan-wendung, an dem Bewußtsein seiner Seelenstärke inÜberwindung der Hindernisse, die sich unserem Vor-satze entgegensetzen, an der Kultur der Geistesta-lente, u.s.w., Vergnügen finden könne, und wir nen-nen das mit Recht feinere Freuden und Ergötzungen,weil sie mehr, wie andere, in unserer Gewalt sind,sich nicht abnutzen, das Gefühl zu noch mehreremGenuß derselben vielmehr stärken, und, indem sie er-götzen, zugleich kultivieren. Allein sie darum für eineandere Art, den Willen zu bestimmen, als bloß durchden Sinn, auszugeben, da sie doch einmal, zur Mög-lichkeit jener Vergnügen, ein darauf in uns angelegtesGefühle als erste Bedingung dieses Wohlgefallens,voraussetzen, ist gerade so, als wenn Unwissende, diegerne in der Metaphysik pfuschern möchten, sich dieMaterie so fein, so überfein, daß sie selbst darüber

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schwindlig werden möchten, denken, und dann glau-ben, auf diese Art sich ein geistiges und doch ausge-dehntes Wesen erdacht zu haben. Wenn wir es, mitdem Epikur, bei der Tugend aufs bloße Vergnügenaussetzen, das sie verspricht, um den Willen zu be-stimmen: so können wir ihn hernach nicht tadeln, daßer dieses mit denen der gröbsten Sinne für ganzgleichartig hält; denn man hat gar nicht Grund, ihmaufzubürden, daß er die Vorstellungen, wodurch die-ses Gefühl in uns erregt würde, bloß den körperlichenSinnen beigemessen hätte. Er hat von vielen derselbenden Quell, so viel man erraten kann, eben sowohl indem Gebrauch des höheren Erkenntnisvermögens ge-sucht; aber das hinderte ihn nicht und konnte ihn auchnicht hindern, nach genanntem Prinzip das Vergnügenselbst, das uns jene allenfalls intellektuelle Vorstel-lungen gewähren, und wodurch sie allein Bestim-mungsgründe des Willens sein können, gänzlich fürgleichartig zu halten. Konsequent zu sein, ist diegrößte Obliegenheit eines Philosophen, und wirddoch am seltensten angetroffen. Die alten griechischenSchulen geben uns davon mehr Beispiele, als wir inunserem synkretistischen Zeitalter antreffen, wo eingewisses Koalitionssystem widersprechender Grund-sätze voll Unredlichkeit und Seichtigkeit erkünsteltwird, weil es sich einem Publikum besser empfiehlt,das zufrieden ist, von allem etwas, und im ganzen

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nichts zu wissen, und dabei in allen Sätteln gerecht zusein. Das Prinzip der eigenen Glückseligkeit, so vielVerstand und Vernunft bei ihm auch gebraucht wer-den mag, würde doch für den Willen keine andere Be-stimmungsgründe, als die dem unteren Begehrungs-vermögen angemessen sind, in sich fassen, und esgibt also entweder gar kein Begehrungsvermögenoder reine Vernunft muß für sich allein praktischsein, d.i. ohne Voraussetzung irgend eines Gefühls,mithin ohne Vorstellungen des Angenehmen oder Un-angenehmen, als der Materie des Begehrungsvermö-gens, die jederzeit eine empirische Bedingung derPrinzipien ist, durch die bloße Form der praktischenRegel den Willen bestimmen können. Alsdenn alleinist Vernunft nur, so fern sie für sich selbst den Willenbestimmt (nicht im Dienste der Neigungen ist), einwahres oberes Begehrungsvermögen, dem das patho-logisch bestimmbare untergeordnet ist, und wirklich,ja spezifisch von diesem unterschieden, so daß sogardie mindeste Beimischung von den Antrieben der letz-teren ihrer Stärke und Vorzuge Abbruch tut, so wiedas mindeste Empirische, als Bedingung in einer ma-thematischen Demonstration, ihre Würde und Nach-druck herabsetzt und vernichtet. Die Vernunft be-stimmt in einem praktischen Gesetze unmittelbar denWillen, nicht vermittelst eines dazwischen kommen-den Gefühls der Lust und Unlust, selbst nicht an

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diesem Gesetze, und nur, daß sie als reine Vernunftpraktisch sein kann, macht es ihr möglich, gesetzge-bend zu sein.

Anmerkung II

Glücklich zu sein, ist notwendig das Verlangenjedes vernünftigen aber endlichen Wesens, und alsoein unvermeidlicher Bestimmungsgrund seines Be-gehrungsvermögens. Denn die Zufriedenheit mit sei-nem ganzen Dasein ist nicht etwa ein ursprünglicherBesitz, und eine Seligkeit, welche ein Bewußtsein sei-ner unabhängigen Selbstgenugsamkeit voraussetzenwürde, sondern ein durch seine endliche Natur selbstihm aufgedrungenes Problem, weil es bedürftig ist,und dieses Bedürfnis betrifft die Materie seines Be-gehrungsvermögens, d.i. etwas, was sich auf ein sub-jektiv zum Grunde liegendes Gefühl der Lust oderUnlust bezieht, dadurch das, was es zur Zufriedenheitmit seinem Zustande bedarf, bestimmt wird. Abereben darum, weil dieser materiale Bestimmungsgrundvon dem Subjekte bloß empirisch erkannt werdenkann, ist es unmöglich, diese Aufgabe als ein Gesetzzu betrachten, weil dieses als objektiv in allen Fällenund für alle vernünftige Wesen eben denselben Be-stimmungsgrund des Willens enthalten müßte. Denn

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obgleich der Begriff der Glückseligkeit der prakti-schen Beziehung der Objekte aufs Begehrungsvermö-gen allerwärts zum Grunde liegt, so ist er doch nurder allgemeine Titel der subjektiven Bestimmungs-gründe, und bestimmt nichts spezifisch, darum esdoch in dieser praktischen Aufgabe allein zu tun ist,und ohne welche Bestimmung sie gar nicht aufgelösetwerden kann. Worin nämlich jeder seine Glückselig-keit zu setzen habe, kommt auf jedes sein besonderesGefühl der Lust und Unlust an, und selbst in einemund demselben Subjekt auf die Verschiedenheit derBedürfnis, nach den Abänderungen dieses Gefühls,und ein subjektiv notwendiges Gesetz (als Naturge-setz) ist also objektiv ein gar sehr zufälliges prakti-sches Prinzip, das in verschiedenen Subjekten sehrverschieden sein kann und muß, mithin niemals einGesetz abgeben kann, weil es, bei der Begierde nachGlückseligkeit, nicht auf die Form der Gesetzmäßig-keit, sondern lediglich auf die Materie ankommt,nämlich ob und wie viel Vergnügen ich in der Befol-gung des Gesetzes zu erwarten habe. Prinzipien derSelbstliebe können zwar allgemeine Regeln der Ge-schicklichkeit (Mittel zu Absichten auszufinden) ent-halten, alsdenn sind es aber bloß theoretische Prinzi-pien7, (z.B. wie derjenige, der gerne Brot essenmöchte, sich eine Mühle auszudenken habe). Aberpraktische Vorschriften, die sich auf sie gründen,

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können niemals allgemein sein, denn der Bestim-mungsgrund des Begehrungsvermögens ist auf dasGefühl der Lust und Unlust, das niemals als allge-mein, auf dieselben Gegenstände gerichtet, angenom-men werden kann, gegründet.

Aber gesetzt, endliche vernünftige Wesen dächtenauch in Ansehung dessen, was sie für Objekte ihrerGefühle des Vergnügens oder Schmerzens anzuneh-men hätten, imgleichen sogar in Ansehung der Mittel,deren sie sich bedienen müssen, um die erstern zu er-reichen, die andern abzuhalten, durchgehends einerlei,so würde das Prinzip der Selbstliebe dennoch vonihnen durchaus für kein praktisches Gesetz ausgege-ben werden können; denn diese Einhelligkeit wäreselbst doch nur zufällig. Der Bestimmungsgrund wäreimmer doch nur subjektiv gültig und bloß empirisch,und hätte diejenige Notwendigkeit nicht, die in einemjeden Gesetze gedacht wird, nämlich die objektive ausGründen a priori; man müßte denn diese Notwendig-keit gar nicht für praktisch, sondern für bloß physischausgeben, nämlich daß die Handlung durch unsereNeigung uns eben so unausbleiblich abgenötigtwürde, als das Gähnen, wenn wir andere gähnensehen. Man würde eher behaupten können, daß es garkeine praktische Gesetze gebe, sondern nur Anratun-gen zum Behuf unserer Begierden, als daß bloß sub-jektive Prinzipien zum Range praktischer Gesetze

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erhoben würden, die durchaus objektive und nichtbloß subjektive Notwendigkeit haben, und durch Ver-nunft a priori, nicht durch Erfahrung (so empirischallgemein diese auch sein mag) erkannt sein müssen.Selbst die Regeln einstimmiger Erscheinungen wer-den nur Naturgesetze (z.B. die mechanischen) ge-nannt, wenn man sie entweder wirklich a priori er-kennt, oder doch (wie bei den chemischen) annimmt,sie würden a priori aus objektiven Gründen erkanntwerden, wenn unsere Einsicht tiefer ginge. Allein beibloß subjektiven praktischen Prinzipien wird das aus-drücklich zur Bedingung gemacht, daß ihnen nichtobjektive, sondern subjektive Bedingungen der Will-kür zum Grunde liegen müssen; mithin, daß sie jeder-zeit nur als bloße Maximen, niemals aber als prakti-sche Gesetze, vorstellig gemacht werden dürfen.Diese letztere Anmerkung scheint beim ersten An-blicke bloße Wortklauberei zu sein; allein die Wort-bestimmung des allerwichtigsten Unterschiedes, dernur in praktischen Untersuchungen in Betrachtungkommen mag.

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§ 4. Lehrsatz III

Wenn ein vernünftiges Wesen sich seine Maximenals praktische allgemeine Gesetze denken soll, sokann es sich dieselbe nur als solche Prinzipien den-ken, die, nicht der Materie, sondern bloß der Formnach, den Bestimmungsgrund des Willens enthalten.

Die Materie eines praktischen Prinzips ist der Ge-genstand des Willens. Dieser ist entweder der Bestim-mungsgrund des letzteren, oder nicht. Ist er der Be-stimmungsgrund desselben, so würde die Regel desWillens einer empirischen Bedingung (dem Verhält-nisse der bestimmenden Vorstellung zum Gefühle derLust und Unlust) unterworfen, folglich kein prakti-sches Gesetz sein. Nun bleibt von einem Gesetze,wenn man alle Materie, d.i. jeden Gegenstand desWillens (als Bestimmungsgrund) davon absondert,nichts übrig, als die bloße Form einer allgemeinenGesetzgebung. Also kann ein vernünftiges Wesensich seine subjektiv-praktische Prinzipien, d.i. Maxi-men, entweder gar nicht zugleich als allgemeine Ge-setze denken, oder es muß annehmen, daß die bloßeForm derselben, nach der jene sich zur allgemeinenGesetzgebung schicken, sie für sich allein zum prak-tischen Gesetze mache.

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Anmerkung

Welche Form in der Maxime sich zur allgemeinenGesetzgebung schicke, welche nicht, das kann der ge-meinste Verstand ohne Unterweisung unterscheiden.Ich habe z.B. es mir zur Maxime gemacht, mein Ver-mögen durch alle sichere Mittel zu vergrößern. Jetztist ein Depositum in meinen Händen, dessen Eigentü-mer verstorben ist und keine Handschrift darüber zu-rückgelassen hat. Natürlicherweise ist dies der Fallmeiner Maxime. Jetzt will ich nur wissen, ob jeneMaxime auch als allgemeines praktisches Gesetz gel-ten könne. Ich wende jene also auf gegenwärtigen Fallan, und frage, ob sie wohl die Form eines Gesetzesannehmen, mithin ich wohl durch meine Maxime zu-gleich ein solches Gesetz geben könnte: daß jeder-mann ein Depositum ableugnen dürfe, dessen Nieder-legung ihm niemand beweisen kann. Ich werde sofortgewahr, daß ein solches Prinzip, als Gesetz, sichselbst vernichten würde, weil es machen würde, daßes gar kein Depositum gäbe. Ein praktisches Gesetz,was ich dafür erkenne, muß sich zur allgemeinen Ge-setzgebung qualifizieren; dies ist ein identischer Satzund also für sich klar. Sage ich nun, mein Wille stehtunter einem praktischen Gesetze, so kann ich nichtmeine Neigung (z.B. im gegenwärtigen Falle meine

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Habsucht) als den zu einem allgemeinen praktischenGesetze schicklichen Bestimmungsgrund desselbenanführen; denn diese, weit gefehlt, daß sie zu einerallgemeinen Gesetzgebung tauglich sein sollte, somuß sie vielmehr in der Form eines allgemeinen Ge-setzes sich selbst aufreiben.

Es ist daher wunderlich, wie, da die Begierde zurGlückseligkeit, mithin auch dieMaxime, dadurch sichjeder diese letztere zum Bestimmungsgrunde seinesWillens setzt, allgemein ist, es verständigen Männernhabe in den Sinn kommen können, es darum für einallgemein praktisches Gesetz auszugeben. Denn dasonst ein allgemeines Naturgesetz alles einstimmigmacht, so würde hier, wenn man der Maxime die All-gemeinheit eines Gesetzes geben wollte, grade das äu-ßerste Widerspiel der Einstimmung, der ärgste Wider-streit und die gänzliche Vernichtung der Maximeselbst und ihrer Absicht erfolgen. Denn der Willealler hat alsdenn nicht ein und dasselbe Objekt, son-dern ein jeder hat das seinige (sein eigenes Wohlbe-finden), welches sich zwar, zufälligerweise, auch mitanderer ihren Absichten, die sie gleichfalls auf sichselbst richten, vertragen kann, aber lange nicht zumGesetze hinreichend ist, weil die Ausnahmen, die mangelegentlich zu machen befugt ist, endlos sind, undgar nicht bestimmt in eine allgemeine Regel befaßtwerden können. Es kommt auf diese Art eine

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Harmonie heraus, die derjenigen ähnlich ist, welcheein gewisses Spottgedicht auf die Seeleneintrachtzweier sich zu Grunde richtenden Eheleute schildert:O wundervolle Harmonie, was er will, will auch sieetc., oder was von der Anheischigmachung KönigFranz des Ersten gegen Kaiser Karl den Fünften er-zählt wird: was mein Bruder Karl haben will (Mai-land), das will ich auch haben. Empirische Bestim-mungsgründe taugen zu keiner allgemeinen äußerenGesetzgebung, aber auch eben so wenig zur innern;denn jeder legt sein Subjekt, ein anderer aber ein an-deres Subjekt der Neigung zum Grunde, und in jedemSubjekt selber ist bald die, bald eine andere im Vor-zuge des Einflusses. Ein Gesetz ausfindig zu machen,das sie insgesamt unter dieser Bedingung, nämlichmit allerseitiger Einstimmung, regierte, ist schlechter-dings unmöglich.

§ 5. Aufgabe I

Vorausgesetzt, daß die bloße gesetzgebende Formder Maximen allein der zureichende Bestimmungs-grund eines Willens sei: die Beschaffenheit desjeni-gen Willens zu finden, der dadurch allein bestimmbarist.

Da die bloße Form des Gesetzes lediglich von der

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Vernunft vorgestellt werden kann, und mithin keinGegenstand der Sinne ist, folglich auch nicht unter dieErscheinungen gehört: so ist die Vorstellung dersel-ben als Bestimmungsgrund des Willens von allen Be-stimmungsgründen der Begebenheiten in der Naturnach dem Gesetze der Kausalität unterschieden, weilbei diesen die bestimmenden Gründe selbst Erschei-nungen sein müssen. Wenn aber auch kein andererBestimmungsgrund des Willens für diesen zum Ge-setz dienen kann, als bloß jene allgemeine gesetzge-bende Form: so muß ein solcher Wille als gänzlichunabhängig von dem Naturgesetz der Erscheinungen,nämlich dem Gesetze der Kausalität, beziehungsweiseauf einander, gedacht werden. Eine solche Unabhän-gigkeit aber heißt Freiheit im strengsten, d.i. trans-zendentalen Verstande. Also ist ein Wille, dem diebloße gesetzgebende Form der Maxime allein zumGesetze dienen kann, ein freier Wille.

§ 6. Aufgabe II

Vorausgesetzt, daß ein Wille frei sei: das Gesetz zufinden, welches ihn allein notwendig zu bestimmentauglich ist.

Da die Materie des praktischen Gesetzes, d.i. einObjekt der Maxime, niemals anders als empirisch

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gegeben werden kann, der freie Wille aber, als vonempirischen (d.i. zur Sinnenwelt gehörigen) Bedin-gungen unabhängig, dennoch bestimmbar sein muß:so muß ein freier Wille, unabhängig von derMateriedes Gesetzes, dennoch einen Bestimmungsgrund indem Gesetze antreffen. Es ist aber, außer der Materiedes Gesetzes, nichts weiter in demselben, als die ge-setzgebende Form enthalten. Also ist die gesetzge-bende Form, so fern sie in der Maxime enthalten ist,das einzige, was einen Bestimmungsgrund des Wil-lens ausmachen kann.

Anmerkung

Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz weisenalso wechselsweise auf einander zurück. Ich frage hiernun nicht: ob sie auch in der Tat verschieden sein,und nicht vielmehr ein unbedingtes Gesetz bloß dasSelbstbewußtsein einer reinen praktischen Vernunft,diese aber ganz einerlei mit dem positiven Begriffeder Freiheit sei; sondern wovon unsere Erkenntnis desunbedingt-Praktischen anhebe, ob von der Freiheit,oder dem praktischen Gesetze. Von der Freiheit kannes nicht anheben; denn deren können wir uns wederunmittelbar bewußt werden, weil sein erster Begriffnegativ ist, noch darauf aus der Erfahrung schließen,

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denn Erfahrung gibt uns nur das Gesetz der Erschei-nungen, mithin den Mechanism der Natur, das geradeWiderspiel der Freiheit, zu erkennen. Also ist es dasmoralische Gesetz, dessen wir uns unmittelbar be-wußt werden (so bald wir uns Maximen des Willensentwerfen), welches sich uns zuerst darbietet, und,indem die Vernunft jenes als einen durch keine sinnli-che Bedingungen zu überwiegenden, ja davon gänz-lich unabhängigen Bestimmungsgrund darstellt, gera-de auf den Begriff der Freiheit führt. Wie ist aberauch das Bewußtsein jenes moralischen Gesetzesmöglich? Wir können uns reiner praktischer Gesetzebewußt werden, eben so, wie wir uns reiner theoreti-scher Grundsätze bewußt sind, indem wir auf die Not-wendigkeit, womit sie uns die Vernunft vorschreibt,und auf Absonderung aller empirischen Bedingungen,dazu uns jene hinweiset, Acht haben. Der Begriffeines reinen Willens entspringt aus den ersteren, wiedas Bewußtsein eines reinen Verstandes aus dem letz-teren. Daß dieses die wahre Unterordnung unserer Be-griffe sei, und Sittlichkeit uns zuerst den Begriff derFreiheit entdecke, mithin praktische Vernunft zuerstder spekulativen das unauflöslichste Problem mit die-sem Begriffe aufstelle, um sie durch denselben in diegrößte Verlegenheit zu setzen, erhellet schon daraus:daß, da aus dem Begriffe der Freiheit in den Erschei-nungen nichts erklärt werden kann, sondern hier

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immer Naturmechanism den Leitfaden ausmachenmuß, überdem auch die Antinomie der reinen Ver-nunft, wenn sie zum Unbedingten in der Reihe der Ur-sachen aufsteigen will, sich, bei einem so sehr wie beidem andern, in Unbegreiflichkeiten verwickelt, indes-sen daß doch der letztere (Mechanism) wenigstensBrauchbarkeit in Erklärung der Erscheinungen hat,man niemals zu dem Wagstücke gekommen seinwürde, Freiheit in die Wissenschaft einzuführen, wärenicht das Sittengesetz und mit ihm praktische Ver-nunft dazu gekommen, und hätte uns diesen Begriffnicht aufgedrungen. Aber auch die Erfahrung bestätigtdiese Ordnung der Begriffe in uns. Setzet, daß jemandvon seiner wollüstigen Neigung vorgibt, sie sei, wennihm der beliebte Gegenstand und die Gelegenheitdazu vorkämen, für ihn ganz unwiderstehlich: ob,wenn ein Galgen vor dem Hause, da er diese Gelegen-heit trifft, aufgerichtet wäre, um ihn sogleich nach ge-nossener Wollust daran zu knüpfen, er alsdenn nichtseine Neigung bezwingen würde. Man darf nichtlange raten, was er antworten würde. Fragt ihn aber,ob, wenn sein Fürst ihm, unter Androhung derselbenunverzögerten Todesstrafe, zumutete, ein falschesZeugnis wider einen ehrlichen Mann, den er gerneunter scheinbaren Vorwänden verderben möchte, ab-zulegen, ob er da, so groß auch seine Liebe zumLeben sein mag, sie wohl zu überwinden für möglich

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halte. Ob er es tun würde, oder nicht, wird er viel-leicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihmaber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen.Er urteilet also, daß er etwas kann, darum, weil ersich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich dieFreiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetzunbekannt geblieben wäre.

§ 7. Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft

Handle so, daß die Maxime deines Willens jeder-zeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzge-bung gelten könne.

Anmerkung

Die reine Geometrie hat Postulate als praktischeSätze, die aber nichts weiter enthalten, als die Vor-aussetzung, daß man etwas tun könne, wenn etwa ge-fodert würde, man solle es tun, und diese sind die ein-zigen Sätze derselben, die ein Dasein betreffen. Essind also praktische Regeln unter einer problemati-schen Bedingung des Willens. Hier aber sagt dieRegel: man solle schlechthin auf gewisse Weise ver-fahren. Die praktische Regel ist also unbedingt,

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mithin, als kategorisch praktischer Satz, a priori vor-gestellt, wodurch der Wille schlechterdings und un-mittelbar (durch die praktische Regel selbst, die alsohier Gesetz ist) objektiv bestimmt wird. Denn reine,an sich praktische Vernunft ist hier unmittelbar ge-setzgebend. Der Wille wird als unabhängig von empi-rischen Bedingungen, mithin, als reiner Wille, durchdie bloße Form des Gesetzes als bestimmt gedacht,und dieser Bestimmungsgrund als die oberste Bedin-gung aller Maximen angesehen. Die Sache ist be-fremdlich genug, und hat ihres gleichen in der ganzenübrigen praktischen Erkenntnis nicht. Denn der Ge-danke a priori von einer möglichen allgemeinen Ge-setzgebung, der also bloß problematisch ist, wird,ohne von der Erfahrung oder irgend einem äußerenWillen etwas zu entlehnen, als Gesetz unbedingt ge-boten. Es ist aber auch nicht eine Vorschrift, nachwelcher eine Handlung geschehen soll, dadurch einebegehrte Wirkung möglich ist (denn da wäre dieRegel immer physisch bedingt), sondern eine Regel,die bloß den Willen, in Ansehung der Form seinerMaximen, a priori bestimmt, und da ist ein Gesetz,welches bloß zum Behuf der subjektiven Form derGrundsätze dient, als Bestimmungsgrund durch dieobjektive Form eines Gesetzes überhaupt, wenigstenszu denken, nicht unmöglich. Man kann das Bewußt-sein dieses Grundgesetzes ein Faktum der Vernunft

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nennen, weil man es nicht aus vorhergehenden Datisder Vernunft, z.B. dem Bewußtsein der Freiheit (denndieses ist uns nicht vorher gegeben), herausvernünf-teln kann, sondern weil es sich für sich selbst uns auf-dringt als synthetischer Satz a priori, der auf keiner,weder reinen noch empirischen Anschauung gegrün-det ist, ob er gleich analytisch sein würde, wenn mandie Freiheit des Willens voraussetzte, wozu aber, alspositivem Begriffe, eine intellektuelle Anschauung er-fodert werden würde, die man hier gar nicht anneh-men darf. Doch muß man, um dieses Gesetz ohneMißdeutung als gegeben anzusehen, wohl bemerken:daß es kein empirisches, sondern das einzige Faktumder reinen Vernunft sei, die sich dadurch als ur-sprünglich gesetzgebend (sic volo, sic iubeo) ankün-digt.

Folgerung

Reine Vernunft ist für sich allein praktisch, undgibt (dem Menschen) ein allgemeines Gesetz, welcheswir das Sittengesetz nennen.

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Anmerkung

Das vorher genannte Faktum ist unleugbar. Mandarf nur das Urteil zergliedern, welches die Menschenüber die Gesetzmäßigkeit ihrer Handlungen fällen: sowird man jederzeit finden, daß, was auch die Neigungdazwischen sprechen mag, ihre Vernunft dennoch, un-bestechlich und durch sich selbst gezwungen, die Ma-xime des Willens bei einer Handlung jederzeit an denreinen Willen halte, d.i. an sich selbst, indem sie sichals a priori praktisch betrachtet. Dieses Prinzip derSittlichkeit nun, eben um der Allgemeinheit der Ge-setzgebung willen, die es zum formalen obersten Be-stimmungsgrunde des Willens, unangesehen allersubjektiven Verschiedenheiten desselben, macht, er-klärt die Vernunft zugleich zu einem Gesetze für allevernünftige Wesen, so fern sie überhaupt einen Wil-len, d.i. ein Vermögen haben, ihre Kausalität durchdie Vorstellung von Regeln zu bestimmen, mithin sofern sie der Handlungen nach Grundsätzen, folglichauch nach praktischen Prinzipien a priori (denn diesehaben allein diejenige Notwendigkeit, welche die Ver-nunft zum Grundsatze fodert), fähig sein. Es schränktsich also nicht bloß auf Menschen ein, sondern gehtauf alle endliche Wesen, die Vernunft und Willenhaben, ja schließt sogar das unendliche Wesen, als

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oberste Intelligenz, mit ein. Im ersteren Falle aber hatdas Gesetz die Form eines Imperativs, weil man anjenem zwar, als vernünftigem Wesen, einen reinen,aber, als mit Bedürfnissen und sinnlichen Bewegursa-chen affiziertem Wesen, keinen heiligenWillen, d.i.einen solchen, der keiner dem moralischen Gesetzewiderstreitenden Maximen fähig wäre, voraussetzenkann. Das moralische Gesetz ist daher bei jenen einImperativ, der kategorisch gebietet, weil das Gesetzunbedingt ist; das Verhältnis eines solchen Willens zudiesem Gesetze ist Abhängigkeit, unter dem Namender Verbindlichkeit, welche eine Nötigung, obzwardurch bloße Vernunft und dessen objektives Gesetz,zu einer Handlung bedeutet, die darum Pflicht heißt,weil eine pathologisch affizierte (obgleich dadurchnicht bestimmte, mithin auch immer freie) Willküreinen Wunsch bei sich führt, der aus subjektiven Ur-sachen entspringt, daher auch dem reinen objektivenBestimmungsgrunde oft entgegen sein kann, und alsoeines Widerstandes der praktischen Vernunft, der eininnerer, aber intellektueller, Zwang genannt werdenkann, als moralischer Nötigung bedarf. In der aller-gnugsamsten Intelligenz wird die Willkür, als keinerMaxime fähig, die nicht zugleich objektiv Gesetz seinkonnte, mit Recht vorgestellt, und der Begriff derHeiligkeit, der ihr um deswillen zukommt, setzt siezwar nicht über alle praktische, aber doch über alle

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praktisch-einschränkende Gesetze, mithin Verbind-lichkeit und Pflicht weg. Diese Heiligkeit des Willensist gleichwohl eine praktische Idee, welche notwendigzum Urbilde dienen muß, welchem sich ins Unendli-che zu nähern das einzige ist, was allen endlichen ver-nünftigen Wesen zusteht, und welche das reine Sitten-gesetz, das darum selbst heilig heißt, ihnen beständigund richtig vor Augen hält, von welchem ins Unendli-che gehenden Progressus seiner Maximen und Un-wandelbarkeit derselben zum beständigen Fortschrei-ten sicher zu sein, d.i. Tugend, das Höchste ist, wasendliche praktische Vernunft bewirken kann, dieselbst wiederum wenigstens als natürlich erworbenesVermögen nie vollendet sein kann, weil die Sicherheitin solchem Falle niemals apodiktische Gewißheitwird, und als Überredung sehr gefährlich ist.

§ 8. Lehrsatz IV

Die Autonomie des Willens ist das alleinige Prin-zip aller moralischen Gesetze und der ihnen gemäßenPflichten; alle Heteronomie der Willkür gründet da-gegen nicht allein gar keine Verbindlichkeit, sondernist vielmehr dem Prinzip derselben und der Sittlich-keit des Willens entgegen. In der Unabhängigkeitnämlich von aller Materie des Gesetzes (nämlich

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einem begehrten Objekte) und zugleich doch Bestim-mung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetz-gebende Form, deren eine Maxime fähig sein muß,besteht das alleinige Prinzip der Sittlichkeit. Jene Un-abhängigkeit aber ist Freiheit im negativen, diese ei-gene Gesetzgebung aber der reinen, und, als solche,praktischen Vernunft ist Freiheit im positiven Ver-stande. Also drückt das moralische Gesetz nichts an-ders aus, als die Autonomie der reinen praktischenVernunft, d.i. der Freiheit, und diese ist selbst die for-male Bedingung aller Maximen, unter der sie alleinmit dem obersten praktischen Gesetze zusammenstim-men können. Wenn daher die Materie des Wollens,welche nichts anders, als das Objekt einer Begierdesein kann, die mit dem Gesetz verbunden wird, in daspraktische Gesetz als Bedingung der Möglichkeitdesselben hineinkommt, so wird daraus Heteronomieder Willkür, nämlich Abhängigkeit vom Naturgeset-ze, irgend einem Antriebe oder Neigung zu folgen,und der Wille gibt sich nicht selbst das Gesetz, son-dern nur die Vorschrift zur vernünftigen Befolgungpathologischer Gesetze; die Maxime aber, die auf sol-che Weise niemals die allgemein-gesetzgebende Formin sich enthalten kann, stiftet auf diese Weise nichtallein keine Verbindlichkeit, sondern ist selbst demPrinzip einer reinen praktischen Vernunft, hiemit alsoauch der sittlichen Gesinnung entgegen, wenn gleich

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die Handlung, die daraus entspringt, gesetzmäßig seinsollte.

Anmerkung I

Zum praktischen Gesetze muß also niemals einepraktische Vorschrift gezählt werden, die eine mate-riale (mithin empirische) Bedingung bei sich führt.Denn das Gesetz des reinen Willens, der frei ist, setztdiesen in eine ganz andere Sphäre, als die empirische,und die Notwendigkeit, die es ausdrückt, da sie keineNaturnotwendigkeit sein soll, kann also bloß in for-malen Bedingungen der Möglichkeit eines Gesetzesüberhaupt bestehen. Alle Materie praktischer Regelnberuht immer auf subjektiven Bedingungen, die ihrkeine Allgemeinheit für vernünftige Wesen, als ledig-lich die bedingte (im Falle ich dieses oder jenes be-gehre, was ich alsdenn tun müsse, um es wirklich zumachen) verschaffen, und sie drehen sich insgesamtum das Prinzip der eigenen Glückseligkeit. Nun istfreilich unleugbar, daß alles Wollen auch einen Ge-genstand, mithin eine Materie haben müsse; aberdiese ist darum nicht eben der Bestimmungsgrund undBedingung der Maxime; denn, ist sie es, so läßt diesesich nicht in allgemein gesetzgebender Form darstel-len, weil die Erwartung der Existenz des

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Gegenstandes alsdenn die bestimmende Ursache derWillkür sein würde, und die Abhängigkeit des Begeh-rungsvermögens von der Existenz irgend einer Sachedem Wollen zum Grunde gelegt werden müßte, wel-che immer nur in empirischen Bedingungen gesuchtwerden, und daher niemals den Grund zu einer not-wendigen und allgemeinen Regel abgeben kann. Sowird fremder Wesen Glückseligkeit das Objekt desWillens eines vernünftigen Wesens sein können.Wäre sie aber der Bestimmungsgrund der Maxime, somüßte man voraussetzen, daß wir in dem Wohlseinanderer nicht allein ein natürliches Vergnügen, son-dern auch ein Bedürfnis finden, so wie die sympathe-tische Sinnesart bei Menschen es mit sich bringt.Aber dieses Bedürfnis kann ich nicht bei jedem ver-nünftigen Wesen (bei Gott gar nicht) voraussetzen.Also kann zwar die Materie der Maxime bleiben, siemuß aber nicht die Bedingung derselben sein, dennsonst würde diese nicht zum Gesetze taugen. Also diebloße Form eines Gesetzes, welches die Materie ein-schränkt, muß zugleich ein Grund sein, diese Materiezum Willen hinzuzufügen, aber sie nicht vorauszuset-zen. Die Materie sei z.B. meine eigene Glückselig-keit. Diese, wenn ich sie jedem beilege (wie ich esdenn in der Tat bei endlichen Wesen tun darf), kannnur alsdenn ein objektives praktisches Gesetz werden,wenn ich anderer ihre in dieselbe mit einschließe.

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Also entspringt das Gesetz, anderer Glückseligkeit zubefördern, nicht von der Voraussetzung, daß diesesein Objekt für jedes seine Willkür sei, sondern bloßdaraus, daß die Form der Allgemeinheit, die die Ver-nunft als Bedingung bedarf, einer Maxime der Selbst-liebe die objektive Gültigkeit eines Gesetzes zugeben, der Bestimmungsgrund des Willens wird, undalso war das Objekt (anderer Glückseligkeit) nicht derBestimmungsgrund des reinen Willens, sondern diebloße gesetzliche Form war es allein, dadurch ichmeine auf Neigung gegründete Maxime einschränkte,um ihr die Allgemeinheit eines Gesetzes zu verschaf-fen, und sie so der reinen praktischen Vernunft ange-messen zu machen, aus welcher Einschränkung, undnicht dem Zusatz einer äußeren Triebfeder, alsdennder Begriff der Verbindlichkeit, die Maxime meinerSelbstliebe auch auf die Glückseligkeit anderer zu er-weitern, allein entspringen könnte.

Anmerkung II

Das gerade Widerspiel des Prinzips der Sittlichkeitist: wenn das der eigenen Glückseligkeit zum Bestim-mungsgrunde des Willens gemacht wird, wozu, wieich oben gezeigt habe, alles überhaupt gezählt werdenmuß, was den Bestimmungsgrund, der zum Gesetze

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dienen soll, irgend worin anders, als in der gesetzge-benden Form der Maxime setzt. Dieser Widerstreit istaber nicht bloß logisch, wie der zwischen empi-risch-bedingten Regeln, die man doch zu notwendigenErkenntnisprinzipien erheben wollte, sondern prak-tisch, und würde, wäre nicht die Stimme der Vernunftin Beziehung auf den Willen so deutlich, so unüber-schreibar, selbst für den gemeinsten Menschen so ver-nehmlich, die Sittlichkeit gänzlich zu Grunde richten;so aber kann sie sich nur noch in den kopfverwirren-den Spekulationen der Schulen erhalten, die dreistgenug sein, sich gegen jene himmlische Stimme taubzu machen, um eine Theorie, die kein Kopfbrechenkostet, aufrecht zu erhalten.

Wenn ein dir sonst beliebter Umgangsfreund sichbei dir wegen eines falschen abgelegten Zeugnissesdadurch zu rechtfertigen vermeinete, daß er zuerst die,seinem Vorgeben nach, heilige Pflicht der eigenenGlückseligkeit vorschützte, alsdenn die Vorteile her-zählte, die er sich alle dadurch erworben, die Klugheitnamhaft machte, die er beobachtet, um wider alle Ent-deckung sicher zu sein, selbst wider die von Seitendeiner selbst, dem er das Geheimnis darum allein of-fenbaret, damit er es zu aller Zeit ableugnen könne;dann aber im ganzen Ernst vorgäbe, er habe einewahre Menschenpflicht ausgeübt: so würdest du ihmentweder gerade ins Gesicht lachen, oder mit Abscheu

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davon zurückbeben, ob du gleich, wenn jemand bloßauf eigene Vorteile seine Grundsätze gesteuert hat,wider diese Maßregeln nicht das mindeste einzuwen-den hättest. Oder setzet, es empfehle euch jemandeinen Mann zum Haushalter, dem ihr alle eure Ange-legenheiten blindlings anvertrauen könnet, und, umeuch Zutrauen einzuflößen, rühmete er ihn als einenklugen Menschen, der sich auf seinen eigenen Vorteilmeisterhaft verstehe, auch als einen rastlos wirksa-men, der keine Gelegenheit dazu ungenutzt vorbeige-hen ließe, endlich, damit auch ja nicht Besorgnissewegen eines pöbelhaften Eigennutzes desselben imWege stünden, rühmete er, wie er recht fein zu lebenverstünde, nicht im Geldsammeln oder brutaler Üp-pigkeit, sondern in der Erweiterung seiner Kenntnisse,einem wohlgewählten belehrenden Umgange, selbstim Wohltun der Dürftigen, sein Vergnügen suchte,übrigens aber wegen der Mittel (die doch ihren Wertoder Unwert nur vom Zwecke entlehnen) nicht be-denklich wäre, und fremdes Geld und Gut ihm hiezu,so bald er nur wisse, daß er es unentdeckt und unge-hindert tun könne, so gut wie sein eigenes wäre: sowürdet ihr entweder glauben, der Empfehlende habeeuch zum besten, oder er habe den Verstand verlo-ren. - So deutlich und scharf sind die Grenzen derSittlichkeit und der Selbstliebe abgeschnitten, daßselbst das gemeinste Auge den Unterschied, ob etwas

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zu der einen oder der andern gehöre, gar nicht verfeh-len kann. Folgende wenige Bemerkungen könnenzwar bei einer so offenbaren Wahrheit überflüssigscheinen, allein sie dienen doch wenigstens dazu, demUrteile der gemeinen Menschenvernunft etwas mehrDeutlichkeit zu verschaffen.

Das Prinzip der Glückseligkeit kann zwar Maxi-men, aber niemals solche abgeben, die zu Gesetzendes Willens tauglich wären, selbst wenn man sich dieallgemeine Glückseligkeit zum Objekte machte.Denn, weil dieser ihre Erkenntnis auf lauter Erfah-rungsdatis beruht, weil jedes Urteil darüber gar sehrvon jedes seiner Meinung, die noch dazu selbst sehrveränderlich ist, abhängt, so kann es wohl generelle,aber niemals universelle Regeln, d.i. solche, die imDurchschnitte am öftersten zutreffen, nicht aber sol-che, die jederzeit und notwendig gültig sein müssen,geben, mithin können keine praktische Gesetze daraufgegründet werden. Eben darum, weil hier ein Objektder Willkür der Regel derselben zum Grunde gelegtund also vor dieser vorhergehen muß, so kann diesenicht worauf anders, als auf das, was man empfiehlt,und also auf Erfahrung bezogen und darauf gegründetwerden, und da muß die Verschiedenheit des Urteilsendlos sein. Dieses Prinzip schreibt also nicht allenvernünftigen Wesen eben dieselbe praktische Regelnvor, ob sie zwar unter einem gemeinsamen Titel,

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nämlich dem der Glückseligkeit, stehen. Das morali-sche Gesetz wird aber nur darum als objektiv notwen-dig gedacht, weil es für jedermann gelten soll, derVernunft und Willen hat.

Die Maxime der Selbstliebe (Klugheit) rät bloß an;das Gesetz der Sittlichkeit gebietet. Es ist aber dochein großer Unterschied zwischen dem, wozu man unsanrätig ist, und dem, wozu wir verbindlich sind.

Was nach dem Prinzip der Autonomie der Willkürzu tun sei, ist für den gemeinsten Verstand ganz leichtund ohne Bedenken einzusehen; was unter Vorausset-zung der Heteronomie derselben zu tun sei, schwer,und erfodert Weltkenntnis; d.i. was Pflicht sei, bietetsich jedermann von selbst dar; was aber wahren dau-erhaften Vorteil bringe, ist allemal, wenn dieser aufdas ganze Dasein erstreckt werden soll, in undurch-dringliches Dunkel eingehüllt, und erfodert viel Klug-heit, um die praktische darauf gestimmte Regel durchgeschickte Ausnahmen auch nur auf erträgliche Artden Zwecken des Lebens anzupassen. Gleichwohl ge-bietet das sittliche Gesetz jedermann, und zwar diepünktlichste, Befolgung. Es muß also zu der Beurtei-lung dessen, was nach ihm zu tun sei, nicht so schwersein, daß nicht der gemeinste und ungeübteste Ver-stand selbst ohne Weltklugheit damit umzugehenwüßte.

Dem kategorischen Gebote der Sittlichkeit Genüge

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zu leisten, ist in jedes Gewalt zu aller Zeit, der empi-risch-bedingten Vorschrift der Glückseligkeit nur sel-ten, und bei weitem nicht, auch nur in Ansehung einereinzigen Absicht, für jedermann möglich. Die Ursa-che ist, weil es bei dem ersteren nur auf die Maximeankommt, die echt und rein sein muß, bei der letzterenaber auch auf die Kräfte und das physische Vermö-gen, einen begehrten Gegenstand wirklich zu machen.Ein Gebot, daß jedermann sich glücklich zu machensuchen sollte, wäre töricht; denn man gebietet niemalsjemanden das, was er schon unausbleiblich von selbstwill. Man müßte ihm bloß die Maßregeln gebieten,oder vielmehr darreichen, weil er nicht alles das kann,was er will. Sittlichkeit aber gebieten, unter demNamen der Pflicht, ist ganz vernünftig; denn derenVorschrift will erstlich eben nicht jedermann gernegehorchen, wenn sie mit Neigungen im Widerstreiteist, und was die Maßregeln betrifft, wie er dieses Ge-setz befolgen könne, so dürfen diese hier nicht gelehrtwerden; denn, was er in dieser Beziehung will, daskann er auch.

Der im Spiel verloren hat, kann sich wohl übersich selbst und seine Unklugheit ärgern, aber wenn ersich bewußt ist, im Spiel betrogen (obzwar dadurchgewonnen) zu haben, so muß er sich selbst verachten,so bald er sich mit dem sittlichen Gesetze vergleicht.Dieses muß also doch wohl etwas anderes, als das

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Prinzip der eigenen Glückseligkeit sein. Denn zu sichselber sagen zu müssen: ich bin ein Nichtswürdiger,ob ich gleich meinen Beutel gefüllt habe, muß dochein anderes Richtmaß des Urteils haben, als sichselbst Beifall zu geben, und zu sagen: ich bin ein klu-gerMensch, denn ich habe meine Kasse bereichert.

Endlich ist noch etwas in der Idee unserer prakti-schen Vernunft, welches die Übertretung eines sittli-chen Gesetzes begleitet, nämlich ihre Strafwürdigkeit.Nun läßt sich mit dem Begriffe einer Strafe, als einersolchen, doch gar nicht das Teilhaftigwerden derGlückseligkeit verbinden. Denn obgleich der, so dastraft, wohl zugleich die gütige Absicht haben kann,diese Strafe auch auf diesen Zweck zu richten, so mußsie doch zuvor als Strafe, d.i. als bloßes Übel für sichselbst gerechtfertigt sein, so daß der Gestrafte, wennes dabei bliebe, und er auch auf keine sich hinter die-ser Härte verbergende Gunst hinaussähe, selbst geste-hen muß, es sei ihm recht geschehen, und sein Los seiseinem Verhalten vollkommen angemessen. In jederStrafe, als solcher, muß zuerst Gerechtigkeit sein, unddiese macht das Wesentliche dieses Begriffs aus. Mitihr kann zwar auch Gütigkeit verbunden werden, aberauf diese hat der Strafwürdige, nach seiner Auffüh-rung, nicht die mindeste Ursache sich Rechnung zumachen. Also ist Strafe ein physisches Übel, welches,wenn es auch nicht als natürliche Folge mit dem

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moralisch-Bösen verbunden wäre, doch als Folgenach Prinzipien einer sittlichen Gesetzgebung verbun-den werden müßte. Wenn nun alles Verbrechen, auchohne auf die physischen Folgen in Ansehung des Tä-ters zu sehen, für sich strafbar ist, d.i. Glückseligkeit(wenigstens zum Teil) verwirkt, so wäre es offenbarungereimt zu sagen: das Verbrechen habe darin ebenbestanden, daß er sich eine Strafe zugezogen hat,indem er seiner eigenen Glückseligkeit Abbruch tat(welches nach dem Prinzip der Selbstliebe der eigent-liche Begriff alles Verbrechens sein müßte). Die Stra-fe würde auf diese Art der Grund sein, etwas ein Ver-brechen zu nennen, und die Gerechtigkeit müßte viel-mehr darin bestehen, alle Bestrafung zu unterlassenund selbst die natürliche zu verhindern; denn alsdennwäre in der Handlung nichts Böses mehr, weil dieÜbel, die sonst darauf folgeten, und um deren willendie Handlung allein böse hieß, nunmehro abgehaltenwären. Vollends aber alles Strafen und Belohnen nurals das Maschinenwerk in der Hand einer höherenMacht anzusehen, welches vernünftige Wesen da-durch zu ihrer Endabsicht (der Glückseligkeit) in Tä-tigkeit zu setzen allein dienen sollte, ist gar zu sicht-bar ein alle Freiheit aufhebender Mechanism ihresWillens, als daß es nötig wäre, uns hiebei aufzuhal-ten.

Feiner noch, obgleich eben so unwahr, ist das

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Vorgeben derer, die einen gewissen moralischen be-sondern Sinn annehmen, der, und nicht die Vernunft,das moralische Gesetz bestimmete, nach welchem dasBewußtsein der Tugend unmittelbar mit Zufriedenheitund Vergnügen, das des Lasters aber mit Seelenun-ruhe und Schmerz verbunden wäre, und so alles dochauf Verlangen nach eigener Glückseligkeit aussetzen.Ohne das hieher zu ziehen, was oben gesagt worden,will ich nur die Täuschung bemerken, die hiebei vor-geht. Um den Lasterhaften als durch das Bewußtseinseiner Vergehungen mit Gemütsunruhe geplagt vorzu-stellen, müssen sie ihn, der vornehmsten Grundlageseines Charakters nach, schon zum voraus als, wenig-stens in einigem Grade, moralisch gut, so wie den,welchen das Bewußtsein pflichtmäßiger Handlungenergötzt, vorher schon als tugendhaft vorstellen. Alsomußte doch der Begriff der Moralität und Pflicht voraller Rücksicht auf diese Zufriedenheit vorhergehenund kann von dieser gar nicht abgeleitet werden. Nunmuß man doch die Wichtigkeit dessen, was wirPflicht nennen, das Ansehen des moralischen Geset-zes und den unmittelbaren Wert, den die Befolgungdesselben der Person in ihren eigenen Augen gibt,vorher schätzen, um jene Zufriedenheit indem Be-wußtsein seiner Angemessenheit zu derselben und denbitteren Verweis, wenn man sich dessen Übertretungvorwerfen kann, zu fühlen. Man kann also diese

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Zufriedenheit oder Seelenunruhe nicht vor der Er-kenntnis der Verbindlichkeit fühlen und sie zumGrunde der letzteren machen. Man muß wenigstensauf dem halben Wege schon ein ehrlicher Mann sein,um sich von jenen Empfindungen auch nur eine Vor-stellung machen zu können. Daß übrigens, so wie,vermöge der Freiheit, der menschliche Wille durchsmoralische Gesetz unmittelbar bestimmbar ist, auchdie öftere Ausübung, diesem Bestimmungsgrundegemäß, subjektiv zuletzt ein Gefühl der Zufriedenheitmit sich selbst wirken könne, bin ich gar nicht in Ab-rede; vielmehr gehört es selbst zur Pflicht, dieses,welches eigentlich allein das moralische Gefühl ge-nannt zu werden verdient, zu gründen und zu kultivie-ren; aber der Begriff der Pflicht kann davon nicht ab-geleitet werden, sonst müßten wir uns ein Gefühleines Gesetzes als eines solchen denken, und das zumGegenstande der Empfindung machen, was nur durchVernunft gedacht werden kann; welches, wenn esnicht ein platter Widerspruch werden soll, allen Be-griff der Pflicht ganz aufheben, und an deren Stattbloß ein mechanisches Spiel feinerer, mit den gröbe-ren bisweilen in Zwist geratender, Neigungen setzenwürde.

Wenn wir nun unseren formalen obersten Grund-satz der reinen praktischen Vernunft (als einer Auto-nomie des Willens) mit allen bisherigen materialen

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Prinzipien der Sittlichkeit vergleichen, so können wirin einer Tafel alle übrige, als solche, dadurch wirklichzugleich alle mögliche andere Fälle, außer einem ein-zigen formalen, erschöpft sind, vorstellig machen, undso durch den Augenschein beweisen, daß es vergeb-lich sei, sich nach einem andern Prinzip, als dem jetztvorgetragenen, umzusehen. - Alle mögliche Bestim-mungsgründe des Willens sind nämlich entweder bloßsubjektiv und also empirisch, oder auch objektiv undrational; beide aber entweder äußere oder innere.

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153Kant: Kritik der praktischen Vernunft

Praktische materiale Bestimmungsgründeim Prinzip der Sittlichkeit sind

Subjektive

äußereDer Erziehung (nach Montaigne)Der bürgerlichen Verfassung (nach Mandeville)

innereDes physischen Gefühls (nach Epikur)Des moralischen Gefühls (nach Hutcheson)

Objektive

innereDer Vollkommenheit (nach Wolff und den Stoikern)

äußereDes Willens Gottes (nach Crusius und andern theolo-gischen Moralisten)

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154Kant: Kritik der praktischen Vernunft

Die auf der linken Seite stehende sind insgesamtempirisch und taugen offenbar gar nicht zum allge-meinen Prinzip der Sittlichkeit. Aber die auf der rech-ten Seite gründen sich auf der Vernunft (denn Voll-kommenheit, als Beschaffenheit der Dinge, und diehöchste Vollkommenheit, in Substanz vorgestellt, d.i.Gott, sind beide nur durch Vernunftbegriffe zu den-ken). Allein der erstere Begriff, nämlich der Vollkom-menheit, kann entweder in theoretischer Bedeutunggenommen werden, und da bedeutet er nichts, alsVollständigkeit eines jeden Dinges in seiner Art(transzendentale), oder eines Dinges bloß als Dingesüberhaupt (metaphysische), und davon kann hier nichtdie Rede sein. Der Begriff der Vollkommenheit inpraktischer Bedeutung aber ist die Tauglichkeit, oderZulänglichkeit eines Dinges zu allerlei Zwecken.Diese Vollkommenheit, als Beschaffenheit des Men-schen, folglich innerliche, ist nichts anders, als Ta-lent, und, was dieses stärkt oder ergänzt, Geschick-lichkeit. Die höchste Vollkommenheit in Substanz,d.i. Gott, folglich äußerliche (in praktischer Absichtbetrachtet), ist die Zulänglichkeit dieses Wesens zuallen Zwecken überhaupt. Wenn nun also uns Zweckevorher gegeben werden müssen, in Beziehung aufwelche der Begriff der Vollkommenheit (einer inne-ren, an uns selbst, oder einer äußeren, an Gott) alleinBestimmungsgrund des Willens werden kann, ein

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154Kant: Kritik der praktischen Vernunft

Zweck aber, als Objekt, welches vor der Willensbe-stimmung durch eine praktische Regel vorhergehenund den Grund der Möglichkeit einer solchen enthal-ten muß, mithin dieMaterie des Willens, als Bestim-mungsgrund desselben genommen, jederzeit empi-risch ist, mithin zum epikurischen Prinzip der Glück-seligkeitslehre, niemals aber zum reinen Vernunft-prinzip der Sittenlehre und der Pflicht dienen kann(wie denn Talente und ihre Beförderung nur, weil siezu Vorteilen des Lebens beitragen, oder der WilleGottes, wenn Einstimmung mit ihm, ohne vorherge-hendes von dessen Idee unabhängiges praktischesPrinzip, zum Objekte des Willens genommen worden,nur durch die Glückseligkeit, die wir davon erwarten,Bewegursache desselben werden können), so folgterstlich, daß alle hier aufgestellte Prinzipien materialsind, zweitens, daß sie alle mögliche materiale Prinzi-pien befassen, und daraus endlich der Schluß: daß,weil materiale Prinzipien zum obersten Sittengesetzganz untauglich sind (wie bewiesen worden), das for-male praktische Prinzip der reinen Vernunft, nachwelchem die bloße Form einer durch unsere Maximenmöglichen allgemeinen Gesetzgebung den oberstenund unmittelbaren Bestimmungsgrund des Willensausmachen muß, das einzige mögliche sei, welches zukategorischen Imperativen, d.i. praktischen Gesetzen(welche Handlungen zur Pflicht machen), und

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überhaupt zum Prinzip der Sittlichkeit, sowohl in derBeurteilung, als auch der Anwendung auf denmenschlichen Willen, in Bestimmung desselben,tauglich ist.

I. Von der Deduktion der Grundsätze der reinenpraktischen Vernunft

Diese Analytik tut dar, daß reine Vernunft prak-tisch sein. d.i. für sich, unabhängig von allem Empiri-schen, den Willen bestimmen könne - und dieseszwar durch ein Faktum, worin sich reine Vernunft beiuns in der Tat praktisch beweiset, nämlich die Auto-nomie in dem Grundsatze der Sittlichkeit, wodurchsie den Willen zur Tat bestimmt. - Sie zeigt zugleich,daß dieses Faktum mit dem Bewußtsein der Freiheitdes Willens unzertrennlich verbunden, ja mit ihm ei-nerlei sei, wodurch der Wille eines vernünftigen We-sens, das, als zur Sinnenwelt gehörig, sich, gleich an-deren wirksamen Ursachen, notwendig den Gesetzender Kausalität unterworfen erkennt, im Praktischendoch zugleich sich auf einer andern Seite, nämlich alsWesen an sich selbst, seines in einer intelligibelenOrdnung der Dinge bestimmbaren Daseins bewußtist, zwar nicht einer besondern Anschauung seinerselbst, sondern gewissen dynamischen Gesetzen

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gemäß, die die Kausalität desselben in der Sinnenweltbestimmen können; denn, daß Freiheit, wenn sie unsbeigelegt wird, uns in eine intelligibele Ordnung derDinge versetze, ist anderwärts hinreichend bewiesenworden.

Wenn wir nun damit den analytischen Teil der Kri-tik der reinen spekulativen Vernunft vergleichen, sozeigt sich ein merkwürdiger Kontrast beider gegeneinander. Nicht Grundsätze, sondern reine sinnlicheAnschauung (Raum und Zeit) war daselbst das ersteDatum, welches Erkenntnis a priori und zwar nur fürGegenstände der Sinne möglich machte. - Syntheti-sche Grundsätze aus bloßen Begriffen ohne Anschau-ung waren unmöglich, vielmehr konnten diese nur inBeziehung auf jene, welche sinnlich war, mithin auchnur auf Gegenstände möglicher Erfahrung stattfinden,weil die Begriffe des Verstandes, mit dieser Anschau-ung verbunden, allein dasjenige Erkenntnis möglichmachen, welches wir Erfahrung nennen. - Über dieErfahrungsgegenstände hinaus, also von Dingen alsNoumenen, wurde der spekulativen Vernunft alles Po-sitive einer Erkenntnis mit völligem Rechte abgespro-chen. - Doch leistete diese so viel, daß sie den Be-griff der Noumenen, d.i. die Möglichkeit, ja Notwen-digkeit, dergleichen zu denken, in Sicherheit setzte,und z.B. die Freiheit, negativ betrachtet, anzunehmen,als ganz verträglich mit jenen Grundsätzen und

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Einschränkungen der reinen theoretischen Vernunft,wider alle Einwürfe rettete, ohne doch von solchenGegenständen irgend etwas Bestimmtes und Erwei-terndes zu erkennen zu geben, indem sie vielmehr alleAussicht dahin gänzlich abschnitt.

Dagegen gibt das moralische Gesetz, wenn gleichkeine Aussicht, dennoch ein schlechterdings aus allenDatis der Sinnenwelt und dem ganzen Umfange unse-res theoretischen Vernunftgebrauchs unerklärlichesFaktum an die Hand, das auf eine reine Verstandes-welt Anzeige gibt, ja diese so gar positiv bestimmtund uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz, erkennenläßt.

Dieses Gesetz soll der Sinnenwelt, als einer sinnli-chen Natur (was die vernünftigen Wesen betrifft), dieForm einer Verstandeswelt, d.i. einer übersinnlichenNatur verschaffen, ohne doch jener ihrem MechanismAbbruch zu tun. Nun ist Natur im allgemeinsten Ver-stande die Existenz der Dinge unter Gesetzen. Diesinnliche Natur vernünftiger Wesen überhaupt ist dieExistenz derselben unter empirisch bedingten Geset-zen, mithin für die Vernunft Heteronomie. Die über-sinnliche Natur eben derselben Wesen ist dagegenihre Existenz nach Gesetzen, die von aller empiri-schen Bedingung unabhängig sind, mithin zur Auto-nomie der reinen Vernunft gehören. Und, da die Ge-setze, nach welchen das Dasein der Dinge vom

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Erkenntnis abhängt, praktisch sind: so ist die über-sinnliche Natur, so weit wir uns einen Begriff von ihrmachen können, nichts anders, als eine Natur unterder Autonomie der reinen praktischen Vernunft. DasGesetz dieser Autonomie aber ist das moralische Ge-setz; welches also das Grundgesetz einer übersinnli-chen Natur und einer reinen Verstandeswelt ist, derenGegenbild in der Sinnenwelt, aber doch zugleich ohneAbbruch der Gesetze derselben, existieren soll. Mankönnte jene die urbildliche (natura archetypa), die wirbloß in der Vernunft erkennen, diese aber, weil sie diemögliche Wirkung der Idee der ersteren, als Bestim-mungsgrundes des Willens, enthält, die nachgebildete(natura ectypa) nennen. Denn in der Tat versetzt unsdas moralische Gesetz, der Idee nach, in eine Natur,in welcher reine Vernunft, wenn sie mit dem ihr ange-messenen physischen Vermögen begleitet wäre, dashöchste Gut hervorbringen würde, und bestimmt un-seren Willen, die Form der Sinnenwelt, als einemGanzen vernünftiger Wesen, zu erteilen.

Daß diese Idee wirklich unseren Willensbestim-mungen gleichsam als Vorzeichnung zum Musterliege, bestätigt die gemeinste Aufmerksamkeit aufsich selbst.

Wenn die Maxime, nach der ich ein Zeugnis abzu-legen gesonnen bin, durch die praktische Vernunft ge-prüft wird, so sehe ich immer darnach, wie sie sein

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würde, wenn sie als allgemeines Naturgesetz gölte. Esist offenbar, in dieser Art würde es jedermann zurWahrhaftigkeit nötigen. Denn es kann nicht mit derAllgemeinheit eines Naturgesetzes bestehen, Aussa-gen für beweisend und dennoch als vorsätzlich un-wahr gelten zu lassen. Eben so wird die Maxime, dieich in Ansehung der freien Disposition über meinLeben nehme, sofort bestimmt, wenn ich mich frage,wie sie sein müßte, damit sich eine Natur nach einemGesetze derselben erhalte. Offenbar würde niemand ineiner solchen Natur sein Leben willkürlich endigenkönnen, denn eine solche Verfassung würde keinebleibende Naturordnung sein, und so in allen übrigenFällen. Nun ist aber in der wirklichen Natur, so wiesie ein Gegenstand der Erfahrung ist, der freie Willenicht von selbst zu solchen Maximen bestimmt, diefür sich selbst eine Natur nach allgemeinen Gesetzengründen könnten, oder auch in eine solche, die nachihnen angeordnet wäre, von selbst passeten: vielmehrsind es Privatneigungen, die zwar ein Naturganzesnach pathologischen (physischen) Gesetzen, abernicht eine Natur, die allein durch unsern Willen nachreinen praktischen Gesetzen möglich wäre, ausma-chen. Gleichwohl sind wir uns durch die Vernunfteines Gesetzes bewußt, welchem, als ob durch unse-ren Willen zugleich eine Naturordnung entspringenmüßte, alle unsere Maximen unterworfen sind. Also

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muß dieses die Idee einer nicht empirisch-gegebenenund dennoch durch Freiheit möglichen, mithin über-sinnlichen Natur sein, der wir, wenigstens in prakti-scher Beziehung, objektive Realität geben, weil wirsie als Objekt unseres Willens, als reiner vernünftigerWesen ansehen.

Der Unterschied also zwischen den Gesetzen einerNatur, welcher der Wille unterworfen ist, und einerNatur, die einem Willen (in Ansehung dessen, wasBeziehung desselben auf seine freie Handlungen hat)unterworfen ist, beruht darauf, daß bei jener die Ob-jekte Ursachen der Vorstellungen sein müssen, dieden Willen bestimmen, bei dieser aber der Wille Ur-sache von den Objekten sein soll, so daß die Kausali-tät desselben ihren Bestimmungsgrund lediglich inreinem Vernunftvermögen liegen hat, welches deshalbauch eine reine praktische Vernunft genannt werdenkann.

Die zwei Aufgaben also: wie reine Vernunft einer-seits a priori Objekte erkennen, und wie sie anderer-seits unmittelbar ein Bestimmungsgrund des Willens,d.i. der Kausalität des vernünftigen Wesens in Anse-hung der Wirklichkeit der Objekte (bloß durch denGedanken der Allgemeingültigkeit ihrer eigenen Ma-ximen als Gesetzes) sein könne, sind sehr verschie-den.

Die erste, als zur Kritik der reinen spekulativen

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Vernunft gehörig, erfodert, daß zuvor erklärt werde,wie Anschauungen, ohne welche uns überall kein Ob-jekt gegeben und also auch keines synthetisch erkanntwerden kann, a priori möglich sind, und ihre Auflö-sung fällt dahin aus, daß sie insgesamt nur sinnlichsein, daher auch kein spekulatives Erkenntnis möglichwerden lassen, das weiter ginge, als mögliche Erfah-rung reicht, und daß daher alle Grundsätze jener rei-nen praktischen Vernunft nichts weiter ausrichten, alsErfahrung, entweder von gegebenen Gegenständen,oder denen, die ins Unendliche gegeben werdenmögen, niemals aber vollständig gegeben sind, mög-lich zu machen.

Die zweite, als zur Kritik der praktischen Vernunftgehörig, fodert keine Erklärung, wie die Objekte desBegehrungsvermögens möglich sind, denn das bleibt,als Aufgabe der theoretischen Naturkenntnis, der Kri-tik der spekulativen Vernunft überlassen, sondern nur,wie Vernunft die Maxime des Willens bestimmenkönne, ob es nur vermittelst empirischer Vorstellung,als Bestimmungsgründe, geschehe, oder ob auch reineVernunft praktisch und ein Gesetz einer möglichen,gar nicht empirisch erkennbaren, Naturordnung seinwürde. Die Möglichkeit einer solchen übersinnlichenNatur, deren Begriff zugleich der Grund der Wirklich-keit derselben durch unseren freien Willen sein könne,bedarf keiner Anschauung a priori (einer

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intelligibelen Welt), die in diesem Falle, als übersinn-lich, für uns auch unmöglich sein müßte. Denn eskommt nur auf den Bestimmungsgrund des Wollensin den Maximen desselben an, ob jener empirisch,oder ein Begriff der reinen Vernunft (von der Gesetz-mäßigkeit derselben überhaupt) sei, und wie er letzte-res sein könne. Ob die Kausalität des Willens zurWirklichkeit der Objekte zulange, oder nicht, bleibtden theoretischen Prinzipien der Vernunft zu beurtei-len überlassen, als Untersuchung der Möglichkeit derObjekte des Wollens, deren Anschauung also in derpraktischen Aufgabe gar kein Moment derselben aus-macht. Nur auf die Willensbestimmung und den Be-stimmungsgrund der Maxime desselben, als einesfreien Willens, kommt es hier an, nicht auf den Er-folg. Denn, wenn der Wille nur für die reine Vernunftgesetzmäßig ist, so mag es mit dem Vermögen dessel-ben in der Ausführung stehen, wie es wolle, es magnach diesen Maximen der Gesetzgebung einer mögli-chen Natur eine solche wirklich daraus entspringen,oder nicht, darum bekümmert sich die Kritik, die dauntersucht, ob und wie reine Vernunft praktisch, d.i.unmittelbar willenbestimmend, sein könne, gar nicht.

In diesem Geschäfte kann sie also ohne Tadel undmuß sie von reinen praktischen Gesetzen und derenWirklichkeit anfangen. Statt der Anschauung aberlegt sie denselben den Begriff ihres Daseins in der

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intelligibelen Welt, nämlich der Freiheit, zum Grun-de. Denn dieser bedeutet nichts anders, und jene Ge-setze sind nur in Beziehung auf Freiheit des Willensmöglich, unter Voraussetzung derselben aber notwen-dig, oder, umgekehrt, diese ist notwendig, weil jeneGesetze, als praktische Postulate, notwendig sind.Wie nun dieses Bewußtsein der moralischen Gesetze,oder, welches einerlei ist, das der Freiheit, möglichsei, läßt sich nicht weiter erklären, nur die Zulässig-keit derselben in der theoretischen Kritik gar wohlverteidigen.

Die Exposition des obersten Grundsatzes der prak-tischen Vernunft ist nun geschehen, d.i. erstlich, waser enthalte, daß er gänzlich a priori und unabhängigvon empirischen Prinzipien für sich bestehe, unddann, worin er sich von allen anderen praktischenGrundsätzen unterscheide, gezeigt worden. Mit derDeduktion, d.i. der Rechtfertigung seiner objektivenund allgemeinen Gültigkeit und der Einsicht der Mög-lichkeit eines solchen synthetischen Satzes a priori,darf man nicht so gut fortzukommen hoffen, als es mitden Grundsätzen des reinen theoretischen Verstandesanging. Denn diese bezogen sich auf Gegenständemöglicher Erfahrung, nämlich auf Erscheinungen, undman konnte beweisen, daß nur dadurch, daß diese Er-scheinungen nach Maßgabe jener Gesetze unter dieKategorien gebracht werden, diese Erscheinungen als

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Gegenstände der Erfahrung erkannt werden können,folglich alle mögliche Erfahrung diesen Gesetzen an-gemessen sein müsse. Einen solchen Gang kann ichaber mit der Deduktion des moralischen Gesetzesnicht nehmen. Denn es betrifft nicht das Erkenntnisvon der Beschaffenheit der Gegenstände, die der Ver-nunft irgend wodurch anderwärts gegeben werdenmögen, sondern ein Erkenntnis, so fern es der Grundvon der Existenz der Gegenstände selbst werden kannund die Vernunft durch dieselbe Kausalität in einemvernünftigen Wesen hat, d.i. reine Vernunft, die alsein unmittelbar den Willen bestimmendes Vermögenangesehen werden kann.

Nun ist aber alle menschliche Einsicht zu Ende, sobald wir zu Grundkräften oder Grundvermögen gelan-get sind; denn deren Möglichkeit kann durch nichtsbegriffen, darf aber auch eben so wenig beliebig er-dichtet und angenommen werden. Daher kann uns imtheoretischen Gebrauche der Vernunft nur Erfahrungdazu berechtigen, sie anzunehmen. Dieses Surrogat,statt einer Deduktion, aus Erkenntnisquellen a priori,empirische Beweise anzuführen, ist uns hier aber inAnsehung des reinen praktischen Vernunftvermögensauch benommen. Denn, was den Beweisgrund seinerWirklichkeit von der Erfahrung herzuholen bedarf,muß den Gründen seiner Möglichkeit nach von Erfah-rungsprinzipien abhängig sein, für dergleichen aber

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reine und doch praktische Vernunft schon ihres Be-griffs wegen unmöglich gehalten werden kann. Auchist das moralische Gesetz gleichsam als ein Faktumder reinen Vernunft, dessen wir uns a priori bewußtsind und welches apodiktisch gewiß ist, gegeben, ge-setzt, daß man auch in der Erfahrung kein Beispiel, daes genau befolgt wäre, auftreiben konnte. Also kanndie objektive Realität des moralischen Gesetzes durchkeine Deduktion, durch alle Anstrengung der theoreti-schen, spekulativen oder empirisch unterstützten Ver-nunft, bewiesen, und also, wenn man auch auf dieapodiktische Gewißheit Verzicht tun wollte, durch Er-fahrung bestätigt und so a posteriori bewiesen wer-den, und steht dennoch für sich selbst fest.

Etwas anderes aber und ganz Widersinnisches trittan die Stelle dieser vergeblich gesuchten Deduktiondes moralischen Prinzips, nämlich, daß es umgekehrtselbst zum Prinzip der Deduktion eines unerforschli-chen Vermögens dient, welches keine Erfahrung be-weisen, die spekulative Vernunft aber (um unter ihrenkosmologischen Ideen das Unbedingte seiner Kausali-tät nach zu finden, damit sie sich selbst nicht wider-spreche) wenigstens als möglich annehmen mußte,nämlich das der Freiheit, von der das moralische Ge-setz, welches selbst keiner rechtfertigenden Gründebedarf, nicht bloß die Möglichkeit, sondern die Wirk-lichkeit an Wesen beweiset, die dies Gesetz als für sie

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verbindend erkennen. Das moralische Gesetz ist inder Tat ein Gesetz der Kausalität durch Freiheit, undalso der Möglichkeit einer übersinnlichen Natur, sowie das metaphysische Gesetz der Begebenheiten inder Sinnenwelt ein Gesetz der Kausalität der sinnli-chen Natur war, und jenes bestimmt also das, wasspekulative Philosophie unbestimmt lassen mußte,nämlich das Gesetz für eine Kausalität, deren Begriffin der letzteren nur negativ war, und verschafft diesemalso zuerst objektive Realität.

Diese Art von Kreditiv des moralischen Gesetzes,da es selbst als ein Prinzip der Deduktion der Frei-heit, als einer Kausalität der reinen Vernunft, aufge-stellt wird, ist, da die theoretische Vernunft wenig-stens die Möglichkeit einer Freiheit anzunehmen ge-nötigt war, zu Ergänzung eines Bedürfnisses dersel-ben, statt aller Rechtfertigung a priori völlig hinrei-chend. Denn das moralische Gesetz beweiset seineRealität dadurch auch für die Kritik der spekulativenVernunft genugtuend, daß es einer bloß negativ ge-dachten Kausalität, deren Möglichkeit jener unbe-greiflich und dennoch sie anzunehmen nötig war, po-sitive Bestimmung, nämlich den Begriff einer denWillen unmittelbar (durch die Bedingung einer allge-meinen gesetzlichen Form seiner Maximen) bestim-menden Vernunft hinzufügt, und so der Vernunft, diemit ihren Ideen, wenn sie spekulativ verfahren wollte,

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immer überschwenglich wurde, zum erstenmale ob-jektive, obgleich nur praktische Realität zu geben ver-mag und ihren transzendenten Gebrauch in einen im-manenten (im Felde der Erfahrung durch Ideen selbstwirkende Ursachen zu sein) verwandelt.

Die Bestimmung der Kausalität der Wesen in derSinnenwelt, als einer solchen, konnte niemals unbe-dingt sein, und dennoch muß es zu aller Reihe der Be-dingungen notwendig etwas Unbedingtes, mithin aucheine sich gänzlich von selbst bestimmende Kausalitätgeben. Daher war die Idee der Freiheit, als eines Ver-mögens absoluter Spontaneität, nicht ein Bedürfnis,sondern, was deren Möglichkeit betrifft, ein analyti-scher Grundsatz der reinen spekulativen Vernunft. Al-lein, da es schlechterdings unmöglich ist, ihr gemäßein Beispiel in irgend einer Erfahrung zu geben, weilunter den Ursachen der Dinge, als Erscheinungen,keine Bestimmung der Kausalität, die schlechterdingsunbedingt wäre, angetroffen werden kann, so konntenwir nur den Gedanken von einer freihandelnden Ursa-che, wenn wir diesen auf ein Wesen in der Sinnen-welt, so fern es andererseits auch als Noumenon be-trachtet wird, anwenden, verteidigen, indem wir zeig-ten, daß es sich nicht widerspreche, alle seine Hand-lungen als physisch bedingt, so fern sie Erscheinun-gen sind, und doch zugleich die Kausalität derselben,so fern das handelnde Wesen ein Verstandeswesen ist,

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als physisch unbedingt anzusehen, und so den Begriffder Freiheit zum regulativen Prinzip der Vernunft zumachen, wodurch ich zwar den Gegenstand, dem der-gleichen Kausalität beigelegt wird, gar nicht erkenne,was er sei, aber doch das Hindernis wegnehme, indemich einerseits in der Erklärung der Weltbegebenheiten,mithin auch der Handlungen vernünftiger Wesen, demMechanismus der Naturnotwendigkeit, vom Beding-ten zur Bedingung ins Unendliche zurückzugehen,Gerechtigkeit widerfahren lasse, andererseits aber derspekulativen Vernunft den für sie leeren Platz offenerhalte, nämlich das Intelligibele, um das Unbedingtedahin zu versetzen. Ich konnte aber diesen Gedankennicht realisieren, d.i. ihn nicht in Erkenntnis eines sohandelnden Wesens, auch nur bloß seiner Möglich-keit nach, verwandeln. Diesen leeren Platz füllt nunreine praktische Vernunft, durch ein bestimmtes Ge-setz der Kausalität in einer intelligibelen Welt (durchFreiheit), nämlich das moralische Gesetz, aus. Hie-durch wächst nun zwar der spekulativen Vernunft inAnsehung ihrer Einsicht nichts zu, aber doch in Anse-hung der Sicherung ihres problematischen Begriffsder Freiheit, welchem hier objektive und obgleich nurpraktische, dennoch unbezweifelte Realität verschafftwird. Selbst den Begriff der Kausalität, dessen An-wendung, mithin auch Bedeutung, eigentlich nur inBeziehung auf Erscheinungen, um sie zu Erfahrungen

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zu verknüpfen, stattfindet (wie die Kritik der reinenVernunft beweiset,) erweitert sie nicht so, daß sie sei-nen Gebrauch über gedachte Grenzen ausdehne. Dennwenn sie darauf ausginge, so müßte sie zeigen wollen,wie das logische Verhältnis des Grundes und derFolge bei einer anderen Art von Anschauung, als diesinnliche ist, synthetisch gebraucht werden könne, d.i.wie causa noumenon möglich sei; welches sie garnicht leisten kann, worauf sie aber auch als praktischeVernunft gar nicht Rücksicht nimmt, indem sie nurden Bestimmungsgrund der Kausalität des Menschen,als Sinnenwesens, (welche gegeben ist) in der reinenVernunft (die darum praktisch heißt) setzt, und alsoden Begriff der Ursache selbst, von dessen Anwen-dung auf Objekte zum Behuf theoretischer Erkennt-nisse sie hier gänzlich abstrahieren kann (weil dieserBegriff immer im Verstande, auch unabhängig vonaller Anschauung, a priori angetroffen wird), nicht umGegenstände zu erkennen, sondern die Kausalität inAnsehung derselben überhaupt zu bestimmen, also inkeiner andern als praktischen Absicht braucht, unddaher den Bestimmungsgrund des Willens in die in-telligibele Ordnung der Dinge verlegen kann, indemsie zugleich gerne gesteht, das, was der Begriff derUrsache zur Erkenntnis dieser Dinge für eine Bestim-mung haben möge, gar nicht zu verstehen. Die Kausa-lität in Ansehung der Handlungen des Willens in der

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Sinnenwelt muß sie allerdings auf bestimmte Weiseerkennen, denn sonst könnte praktische Vernunftwirklich keine Tat hervorbringen. Aber den Begriff,den sie von ihrer eigenen Kausalität als Noumenonmacht, braucht sie nicht theoretisch zum Behuf derErkenntnis ihrer übersinnlichen Existenz zu bestim-men, und also ihm so fern Bedeutung geben zu kön-nen. Denn Bedeutung bekommt er ohnedem, obgleichnur zum praktischen Gebrauche, nämlich durchs mo-ralische Gesetz. Auch theoretisch betrachtet bleibt erimmer ein reiner a priori gegebener Verstandesbegriff,der auf Gegenstände angewandt werden kann, siemögen sinnlich oder nicht sinnlich gegeben werden;wiewohl er im letzteren Falle keine bestimmte theore-tische Bedeutung und Anwendung hat, sondern bloßein formaler, aber doch wesentlicher Gedanke desVerstandes von einem Objekte überhaupt ist. Die Be-deutung, die ihm die Vernunft durchs moralische Ge-setz verschafft, ist lediglich praktisch, da nämlich dieIdee des Gesetzes einer Kausalität (des Willens)selbst Kausalität hat, oder ihr Bestimmungsgrund ist.

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II. Von dem Befugnisse der reinen Vernunft, impraktischen Gebrauche, zu einer Erweiterung, dieihr im spekulativen für sich nicht möglich ist

An dem moralischen Prinzip haben wir ein Gesetzder Kausalität aufgestellt, welches den Bestimmungs-grund der letzteren über alle Bedingungen der Sinnen-welt wegsetzt, und den Willen, wie er als zu einer in-telligibelen Welt gehörig bestimmbar sei, mithin dasSubjekt dieses Willens (den Menschen) nicht bloß alszu einer reinen Verstandeswelt gehörig, obgleich indieser Beziehung als uns unbekannt (wie es nach derKritik der reinen spekulativen Vernunft geschehenkonnte) gedacht, sondern ihn auch in Ansehung sei-ner Kausalität, vermittelst eines Gesetzes, welches zugar keinem Naturgesetze der Sinnenwelt gezählt wer-den kann, bestimmt, also unser Erkenntnis über dieGrenzen des letzteren erweitert, welche Anmaßungdoch die Kritik der reinen Vernunft in aller Spekulati-on für nichtig erklärte. Wie ist nun hier praktischerGebrauch der reinen Vernunft mit dem theoretischeneben derselben, in Ansehung der Grenzbestimmungihres Vermögens zu vereinigen?David Hume, von dem man sagen kann, daß er alle

Anfechtung der Rechte einer reinen Vernunft, welcheeine gänzliche Untersuchung derselben notwendig

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machten, eigentlich anfing, schloß so. Der Begriff derUrsache ist ein Begriff, der die Notwendigkeit derVerknüpfung der Existenz des Verschiedenen, undzwar, so fern es verschieden ist, enthält, so: daß,wenn A gesetzt wird, ich erkenne, daß etwas davonganz Verschiedenes, B, notwendig auch existierenmüsse. Notwendigkeit kann aber nur einer Verknüp-fung beigelegt werden, so fern sie a priori erkanntwird; denn die Erfahrung würde von einer Verbin-dung nur zu erkennen geben, daß sie sei, aber nicht,daß sie so notwendigerweise sei. Nun ist es, sagt er,unmöglich, die Verbindung, die zwischen einemDinge und einem anderen (oder einer Bestimmungund einer anderen, ganz von ihr verschiedenen), wennsie nicht in der Wahrnehmung gegeben werden, apriori und als notwendig zu erkennen. Also ist der Be-griff einer Ursache selbst lügenhaft und betrügerisch,und ist, am gelindesten davon zu reden, eine so fernnoch zu entschuldigende Täuschung, da die Gewohn-heit (eine subjektive Notwendigkeit), gewisse Dinge,oder ihre Bestimmungen, öfters neben, oder nach ein-ander ihrer Existenz nach, als sich beigesellet, wahr-zunehmen, unvermerkt für eine objektive Notwendig-keit, in den Gegenständen selbst eine solche Verknüp-fung zu setzen, genommen, und so der Begriff einerUrsache erschlichen und nicht rechtmäßig erworbenist, ja auch niemals erworben oder beglaubigt werden

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kann, weil er eine an sich nichtige, chimärische, vorkeiner Vernunft haltbare Verknüpfung fodert, der garkein Objekt jemals korrespondieren kann. - So wardnun zuerst in Ansehung alles Erkenntnisses, das dieExistenz der Dinge betrifft (die Mathematik blieb alsodavon noch ausgenommen), der Empirismus als dieeinzige Quelle der Prinzipien eingeführt, mit ihm aberzugleich der härteste Skeptizism selbst in Ansehungder ganzen Naturwissenschaft (als Philosophie). Dennwir können, nach solchen Grundsätzen, niemals ausgegebenen Bestimmungen der Dinge ihrer Existenznach auf eine Folge schließen (denn dazu würde derBegriff einer Ursache, der die Notwendigkeit einersolchen Verknüpfung enthält, erfodert werden), son-dern nur, nach der Regel der Einbildungskraft, ähnli-che Fälle, wie sonst, erwarten, welche Erwartung aberniemals sicher ist, sie mag auch noch so oft eingetrof-fen sein. Ja bei keiner Begebenheit könnte man sagen:es müsse etwas vor ihr vorhergegangen sein, woraufsie notwendig folgte, d.i. sie müsse eine Ursachehaben, und also, wenn man auch noch so öftere Fällekennete, wo dergleichen vorherging, so daß eineRegel davon abgezogen werden konnte, so könnteman darum es nicht als immer und notwendig sich aufdie Art zutragend annehmen, und so müsse man demblinden Zufalle, bei welchem aller Vernunftgebrauchaufhört, auch sein Recht lassen, welches denn den

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Skeptizism, in Ansehung der von Wirkungen zu Ursa-chen aufsteigenden Schlüsse, fest gründet und unwi-derleglich macht.

Die Mathematik war so lange noch gut weggekom-men, weil Hume dafür hielt, daß ihre Sätze alle analy-tisch wären, d.i. von einer Bestimmung zur andern,um der Identität willen, mithin nach dem Satze desWiderspruchs fortschritten (welches aber falsch ist,indem sie vielmehr alle synthetisch sind, und, ob-gleich z.B. die Geometrie es nicht mit der Existenzder Dinge, sondern nur ihrer Bestimmung a priori ineiner möglichen Anschauung zu tun hat, dennocheben so gut, wie durch Kausalbegriffe, von einer Be-stimmung A zu einer ganz verschiedenen B, als den-noch mit jener notwendig verknüpft, übergeht). Aberendlich muß jene wegen ihrer apodiktischen Gewiß-heit so hochgepriesene Wissenschaft doch dem Empi-rismus in Grundsätzen, aus demselben Grunde,warum Hume, an der Stelle der objektiven Notwen-digkeit in dem Begriffe der Ursache, die Gewohnheitsetzte, auch unterliegen, und sich, unangesehen allesihres Stolzes, gefallen lassen, ihre kühne, a priori Bei-stimmung gebietende Ansprüche herabzustimmen,und den Beifall für die Allgemeingültigkeit ihrerSätze von der Gunst der Beobachter erwarten, die alsZeugen es doch nicht weigern würden zu gestehen,daß sie das, was der Geometer als Grundsätze

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vorträgt, jederzeit auch so wahrgenommen hätten,folglich, ob es gleich eben nicht notwendig wäre,doch fernerhin, es so erwarten zu dürfen, erlaubenwürden. Auf diese Weise führt Humens Empirism inGrundsätzen auch unvermeidlich auf den Skeptizism,selbst in Ansehung der Mathematik, folglich in allemwissenschaftlichen theoretischen Gebrauche der Ver-nunft (denn dieser gehört entweder zur Philosophie,oder zur Mathematik). Ob der gemeine Vernunftge-brauch (bei einem so schrecklichen Umsturz, als manden Häuptern der Erkenntnis begegnen sieht) besserdurchkommen, und nicht vielmehr, noch unwieder-bringlicher, in eben diese Zerstörung alles Wissenswerde verwickelt werden, mithin ein allgemeinerSkeptizism nicht aus denselben Grundsätzen folgenmüsse (der freilich aber nur die Gelehrten treffenwürde), das will jeden seihst beurteilen lassen.

Was nun meine Bearbeitung in der Kritik der rei-nen Vernunft betrifft, die zwar durch jene HumischeZweifellehre veranlaßt ward, doch viel weiter ging,und das ganze Feld der reinen theoretischen Vernunftim synthetischen Gebrauche, mithin auch desjenigen,was man Metaphysik überhaupt nennt, befassete: soverfuhr ich, in Ansehung der den Begriff der Kausali-tät betreffenden Zweifel des schottischen Philosophen,auf folgende Art. Daß Hume, wenn er (wie es dochauch fast überall geschieht) die Gegenstände der

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Erfahrung für Dinge an sich selbst nahm, den Begriffder Ursache für trüglich und falsches Blendwerk er-klärte, daran tat er ganz recht; denn von Dingen ansich selbst und deren Bestimmungen als solchen kannnicht eingesehen werden, wie darum, weil etwas A ge-setzt wird, etwas anderes B auch notwendig gesetztwerden müsse, und also konnte er eine solche Er-kenntnis a priori von Dingen an sich selbst gar nichteinräumen. Einen empirischen Ursprung dieses Be-griffs konnte der scharfsinnige Mann noch wenigerverstatten, weil dieser geradezu der Notwendigkeit derVerknüpfung widerspricht, welche das Wesentlichedes Begriffs der Kausalität ausmacht; mithin ward derBegriff in die Acht erklärt, und in seine Stelle trat dieGewohnheit im Beobachten des Laufs der Wahrneh-mungen.

Aus meinen Untersuchungen aber ergab es sich,daß die Gegenstände, mit denen wir es in der Erfah-rung zu tun haben, keinesweges Dinge an sich selbst,sondern bloß Erscheinungen sind, und daß, obgleichbei Dingen an sich selbst gar nicht abzusehen ist, jaunmöglich ist einzusehen, wie, wenn A gesetzt wird,es widersprechend sein solle. B, welches von A ganzverschieden ist, nicht zu setzen (die Notwendigkeitder Verknüpfung zwischen A als Ursache und B alsWirkung), es sich doch ganz wohl denken lasse, daßsie als Erscheinungen in einer Erfahrung auf gewisse

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Weise (z.B. in Ansehung der Zeitverhältnisse) not-wendig verbunden sein müssen und nicht getrenntwerden können, ohne derjenigen Verbindung zu wi-dersprechen, vermittelst deren diese Erfahrung mög-lich ist, in welcher sie Gegenstände und uns allein er-kennbar sind. Und so fand es sich auch in der Tat: so,daß ich den Begriff der Ursache nicht allein nach sei-ner objektiven Realität in Ansehung der Gegenständeder Erfahrung beweisen, sondern ihn auch, als Begriffa priori, wegen der Notwendigkeit der Verknüpfung,die er bei sich führt, deduzieren, d.i. seine Möglich-keit aus reinem Verstande, ohne empirische Quellen,dartun, und so, nach Wegschaffung des Empirismusseines Ursprungs, die unvermeidliche Folge dessel-ben, nämlich den Skeptizism, zuerst in Ansehung derNaturwissenschaft, dann auch, wegen des ganz voll-kommen aus denselben Gründen Folgenden in Anse-hung der Mathematik, beider Wissenschaften, die aufGegenstände möglicher Erfahrung bezogen werden,und hiemit den totalen Zweifel an allem, was theoreti-sche Vernunft einzusehen behauptet, aus dem Grundeheben konnte.

Aber wie wird es mit der Anwendung dieser Kate-gorie der Kausalität (und so auch aller übrigen; dennohne sie läßt sich kein Erkenntnis des Existierendenzu Stande bringen) auf Dinge, die nicht Gegenständemöglicher Erfahrung sind, sondern über dieser ihre

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Grenze hinaus liegen? Denn ich habe die objektiveRealität dieser Begriffe nur in Ansehung der Gegen-stände möglicher Erfahrung deduzieren können.Aber eben dieses, daß ich sie auch nur in diesem Fallegerettet habe, daß ich gewiesen habe, es lassen sichdadurch doch Objekte denken, obgleich nicht a prioribestimmen: dieses ist es, was ihnen einen Platz imreinen Verstande gibt, von dem sie auf Objekte über-haupt (sinnliche, oder nicht sinnliche) bezogen wer-den. Wenn etwas noch fehlt, so ist es die Bedingungder Anwendung dieser Kategorien, und namentlichder der Kausalität, auf Gegenstände, nämlich die An-schauung, welche, wo sie nicht gegeben ist, die An-wendung zum Behuf der theoretischen Erkenntnisdes Gegenstandes, als Noumenon, unmöglich macht,die also, wenn es jemand darauf wagt (wie auch in derKritik der reinen Vernunft geschehen), gänzlich ver-wehrt wird, indessen, daß doch immer die objektiveRealität des Begriffs bleibt, auch von Noumenen ge-braucht werden kann, aber ohne diesen Begriff theore-tisch im mindesten bestimmen und dadurch ein Er-kenntnis bewirken zu können. Denn, daß dieser Be-griff auch in Beziehung auf ein Objekt nichts Unmög-liches enthalte, war dadurch bewiesen, daß ihm seinSitz im reinen Verstande bei aller Anwendung aufGegenstände der Sinne gesichert war, und ob er gleichhernach etwa, auf Dinge an sich selbst (die nicht

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Gegenstände der Erfahrung sein können) bezogen,keiner Bestimmung, zur Vorstellung eines bestimm-ten Gegenstandes, zum Behuf einer theoretischen Er-kenntnis, fähig ist, so konnte er doch immer noch zuirgend einem anderen (vielleicht dem praktischen)Behuf einer Bestimmung zur Anwendung desselbenfähig sein, welches nicht sein würde, wenn, nachHume, dieser Begriff der Kausalität etwas, das über-all zu denken unmöglich ist, enthielte.

Um nun diese Bedingung der Anwendung des ge-dachten Begriffs auf Noumenen ausfindig zu machen,dürfen wir nur zurücksehen, weswegen wir nicht mitder Anwendung desselben auf Erfahrungsgegen-stände zufrieden sind, sondern ihn auch gern vonDingen an sich selbst brauchen möchten. Denn dazeigt sich bald, daß es nicht eine theoretische, sondernpraktische Absicht sei, welche uns dieses zur Not-wendigkeit macht. Zur Spekulation würden wir, wennes uns damit auch gelänge, doch keinen wahren Er-werb in Naturkenntnis und überhaupt in Ansehungder Gegenstände, die uns irgend gegeben werdenmögen, machen, sondern allenfalls einen weitenSchritt vom Sinnlichbedingten (bei welchem zu blei-ben und die Kette der Ursachen fleißig durchzuwan-dern wir so schon genug zu tun haben) zum Übersinn-lichen tun und unser Erkenntnis von der Seite derGründe zu vollenden und zu begrenzen, indessen daß

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immer eine unendliche Kluft zwischen jener Grenzeund dem, was wir kennen, unausgefüllt übrig bliebe,und wir mehr einer eiteln Fragsucht, als einer gründli-chen Wißbegierde, Gehör gegeben hätten.

Außer dem Verhältnisse aber, darin der Verstandzu Gegenständen (im theoretischen Erkenntnisse)steht, hat er auch eines zum Begehrungsvermögen,das darum der Wille heißt, und der reine Wille, sofern der reine Verstand (der in solchem Falle Vernunftheißt) durch die bloße Vorstellung eines Gesetzespraktisch ist. Die objektive Realität eines reinen Wil-lens, oder, welches einerlei ist, einer reinen prakti-schen Vernunft ist im moralischen Gesetze a priorigleichsam durch ein Faktum gegeben; denn so kannman eine Willensbestimmung nennen, die unvermeid-lich ist, ob sie gleich nicht auf empirischen Prinzipienberuht. Im Begriffe eines Willens aber ist der Begriffder Kausalität schon enthalten, mithin in dem einesreinen Willens der Begriff einer Kausalität mit Frei-heit, d.i. die nicht nach Naturgesetzen bestimmbar,folglich keiner empirischen Anschauung, als Bewei-ses seiner Realität, fähig ist, dennoch aber, in dem rei-nen praktischen Gesetze a priori, seine objektive Rea-lität, doch (wie leicht einzusehen) nicht zum Behufedes theoretischen, sondern bloß praktischen Ge-brauchs der Vernunft vollkommen rechtfertigt. Nunist der Begriff eines Wesens, das freien Willen hat,

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der Begriff einer causa noumenon und, daß sich dieserBegriff nicht selbst widerspreche, dafür ist man schondadurch gesichert, daß der Begriff einer Ursache, alsgänzlich vom reinen Verstande entsprungen, zugleichauch seiner objektiven Realität in Ansehung der Ge-genstände überhaupt durch die Deduktion gesichert,dabei seinem Ursprunge nach von allen sinnlichenBedingungen unabhängig, also für sich auf Phänome-ne nicht eingeschränkt (es sei denn, wo ein theoreti-scher bestimmter Gebrauch davon gemacht werdenwollte), auf Dinge als reine Verstandeswesen aller-dings angewandt werden könne. Weil aber dieser An-wendung keine Anschauung, als die jederzeit nursinnlich sein kann, untergelegt werden kann, so istcausa noumenon, in Ansehung des theoretischen Ge-brauchs der Vernunft, obgleich ein möglicher, denk-barer, dennoch leerer Begriff. Nun verlange ich aberauch dadurch nicht die Beschaffenheit eines Wesens,so fern es einen reinenWillen hat, theoretisch zukennen; es ist mir genug, es dadurch nur als ein sol-ches zu bezeichnen, mithin nur den Begriff der Kau-salität mit dem der Freiheit (und, was davon unzer-trennlich ist, mit dem moralischen Gesetze, als Be-stimmungsgrunde derselben) zu verbinden; welcheBefugnis mir, vermöge des reinen, nicht empirischenUrsprungs des Begriffs der Ursache, allerdings zu-steht, indem ich davon keinen anderen Gebrauch, als

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in Beziehung auf das moralische Gesetz, das seineRealität bestimmt, d.i. nur einen praktischen Ge-brauch zu machen mich befugt halte.

Hätte ich, mit Humen, dem Begriffe der Kausalitätdie objektive Realität im praktischen Gebrauche nichtallein in Ansehung der Sachen an sich selbst (desÜbersinnlichen), sondern auch in Ansehung der Ge-genstände der Sinne genommen: so wäre er aller Be-deutung verlustig und als ein theoretisch unmöglicherBegriff für gänzlich unbrauchbar erklärt worden; und,da von nichts sich auch kein Gebrauch machen läßt,der praktische Gebrauch eines theoretisch-nichtigenBegriffs ganz ungereimt gewesen. Nun aber der Be-griff einer empirisch unbedingten Kausalität theore-tisch zwar leer (ohne darauf sich schickende Anschau-ung), aber immer doch möglich ist und sich auf einunbestimmt Objekt bezieht, statt dieses aber ihm dochan dem moralischen Gesetze, folglich in praktischerBeziehung, Bedeutung gegeben wird, so habe ichzwar keine Anschauung, die ihm seine objektive theo-retische Realität bestimmte, aber er hat nichts destoweniger wirkliche Anwendung, die sich in concreto inGesinnungen oder Maximen darstellen läßt, d.i. prak-tische Realität, die angegeben werden kann; welchesdenn zu seiner Berechtigung selbst in Absicht aufNoumenen hinreichend ist.

Aber diese einmal eingeleitete objektive Realität

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eines reinen Verstandesbegriffs im Felde des Über-sinnlichen gibt nunmehr allen übrigen Kategorien,obgleich immer nur, so fern sie mit dem Bestim-mungsgrunde des reinen Willens (dem moralischenGesetze) in notwendiger Verbindung stehen, auch ob-jektive, nur keine andere als bloß prak-tisch-anwendbare Realität, indessen sie auf theoreti-sche Erkenntnisse dieser Gegenstände, als Einsichtder Natur derselben durch reine Vernunft, nicht denmindesten Einfluß hat, um dieselbe zu erweitern. Wiewir denn auch in der Folge finden werden, daß sieimmer nur auf Wesen als Intelligenzen, und an diesenauch nur auf das Verhältnis der Vernunft zumWillen,mithin immer nur aufs Praktische Beziehung habenund weiter hinaus sich kein Erkenntnis derselben an-maßen, was aber mit ihnen in Verbindung noch sonstfür Eigenschaften, die zur theoretischen Vorstellungs-art solcher übersinnlichen Dinge gehören, herbeigezo-gen werden möchten, diese insgesamt alsdenn garnicht zum Wissen, sondern nur zur Befugnis (in prak-tischer Absicht aber gar zur Notwendigkeit), sie anzu-nehmen und vorauszusetzen, gezählt werden, selbstda, wo man übersinnliche Wesen (als Gott) nach einerAnalogie, d.i. dem reinen Vernunftverhältnisse, des-sen wir in Ansehung der sinnlichen uns praktisch be-dienen, und so der reinen theoretischen Vernunftdurch die Anwendung aufs Übersinnliche, aber nur in

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praktischer Absicht, zum Schwärmen ins Über-schwengliche nicht den mindesten Vorschub gibt.

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Der Analytik der praktischen Vernunft zweitesHauptstück

Von dem Begriffe eines Gegenstandes der reinenpraktischen Vernunft

Unter einem Begriffe der praktischen Vernunft ver-stehe ich die Vorstellung eines Objekts als einer mög-lichen Wirkung durch Freiheit. Ein Gegenstand derpraktischen Erkenntnis, als einer solchen, zu sein, be-deutet also nur die Beziehung des Willens auf dieHandlung, dadurch er, oder sein Gegenteil, wirklich-gemacht würde, und die Beurteilung, ob etwas einGegenstand der reinen praktischen Vernunft sei, odernicht, ist nur die Unterscheidung der Möglichkeit oderUnmöglichkeit, diejenige Handlung zu wollen, wo-durch, wenn wir das Vermögen dazu hätten (worüberdie Erfahrung urteilen muß), ein gewisses Objektwirklich werden würde. Wenn das Objekt als der Be-stimmungsgrund unseres Begehrungsvermögens ange-nommen wird, so muß die physische Möglichkeit des-selben durch freien Gebrauch unserer Kräfte vor derBeurteilung, ob es ein Gegenstand der praktischenVernunft sei oder nicht, vorangehen. Dagegen, wenndas Gesetz a priori als der Bestimmungsgrund derHandlung, mithin diese als durch reine praktische

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Vernunft bestimmt, betrachtet werden kann, so ist dasUrteil, ob etwas ein Gegenstand der reinen prakti-schen Vernunft sei oder nicht, von der Vergleichungmit unserem physischen Vermögen ganz unabhängig,und die Frage ist nur, ob wir eine Handlung, die aufdie Existenz eines Objekts gerichtet ist, wollen dür-fen, wenn dieses in unserer Gewalt wäre, mithin mußdie moralische Möglichkeit der Handlung vorange-hen; denn da ist nicht der Gegenstand, sondern dasGesetz des Willens der Bestimmungsgrund derselben.

Die alleinigen Objekte einer praktischen Vernunftsind also die vom Guten und Bösen. Denn durch daserstere versteht man einen notwendigen Gegenstanddes Begehrungs-, durch das zweite des Verabscheu-ungsvermögens, beides aber nach einem Prinzip derVernunft.

Wenn der Begriff des Guten nicht von einem vor-hergehenden praktischen Gesetze abgeleitet werden,sondern diesem vielmehr zum Grunde dienen soll, sokann er nur der Begriff von etwas sein, dessen Exi-stenz Lust verheißt und so die Kausalität des Subjektszur Hervorbringung desselben, d.i. das Begehrungs-vermögen bestimmt. Weil es nun unmöglich ist, apriori einzusehen, welche Vorstellung mit Lust, wel-che hingegen mit Unlust werde begleitet sein, sokäme es lediglich auf Erfahrung an, es auszumachen,was unmittelbar gut oder böse sei. Die Eigenschaft

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des Subjekts, worauf in Beziehung diese Erfahrungallein angestellt werden kann, ist das Gefühl der Lustund Unlust, als eine dem inneren Sinne angehörigeRezeptivität und so würde der Begriff von dem, wasunmittelbar gut ist, nur auf das gehen, womit dieEmpfindung des Vergnügens unmittelbar verbundenist, und der von dem schlechthin-Bösen auf das, wasunmittelbar Schmerz erregt, allein bezogen werdenmüssen. Weil aber das dem Sprachgebrauche schonzuwider ist, der das Angenehme vom Guten, das Un-angenehme vom Bösen unterscheidet, und verlangt,daß Gutes und Böses jederzeit durch Vernunft, mithindurch Begriffe, die sich allgemein mitteilen lassen,und nicht durch bloße Empfindung, welche sich aufeinzelne Objekte und deren Empfänglichkeit ein-schränkt, beurteilt werde, gleichwohl aber für sichselbst mit keiner Vorstellung eines Objekts a priorieine Lust oder Unlust unmittelbar verbunden werdenkann, so würde der Philosoph, der sich genötigtglaubte, ein Gefühl der Lust seiner praktischen Beur-teilung zum Grunde zu legen, gut nennen, was einMittel zum Angenehmen, und Böses, was Ursache derUnannehmlichkeit und des Schmerzens ist; denn dieBeurteilung des Verhältnisses der Mittel zu Zweckengehört allerdings zur Vernunft. Obgleich aber Ver-nunft, allein vermögend ist, die Verknüpfung der Mit-tel mit ihren Absichten einzusehen (so daß man auch

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den Willen durch das Vermögen der Zwecke definie-ren könnte, indem sie jederzeit Bestimmungsgründedes Begehrungsvermögens nach Prinzipien sind), sowürden doch die praktischen Maximen, die aus demobigen Begriffe des Guten bloß als Mittel folgten, nieetwas für sich selbst -, sondern immer nur irgendwozu - Gutes zum Gegenstande des Willens enthal-ten: das Gute würde jederzeit bloß das Nützliche sein,und das, wozu es nutzt, müßte allemal außerhalb demWillen in der Empfindung liegen. Wenn diese nun,als angenehme Empfindung, vom Begriffe des Gutenunterschieden werden müßte, so würde es überallnichts unmittelbar Gutes geben, sondern das Gute nurin den Mitteln zu etwas anderm, nämlich irgend einerAnnehmlichkeit, gesucht werden müssen.

Es ist eine alte Formel der Schulen: nihil appeti-mus, nisi sub ratione boni; nihil aversamur, nisi subratione mali; und sie hat einen oft richtigen, aber auchder Philosophie oft sehr nachteiligen Gebrauch, weildie Ausdrücke des boni und mali eine Zweideutigkeitenthalten, daran die Einschränkung der Spracheschuld ist, nach welcher sie eines doppelten Sinnesfähig sind, und daher die praktischen Gesetze unver-meidlich auf Schrauben stellen, und die Philosophie,die im Gebrauche derselben gar wohl der Verschie-denheit des Begriffs bei demselben Worte inne wer-den, aber doch keine besondere Ausdrücke dafür

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finden kann, zu subtilen Distinktionen nötigen, überdie man sich nachher nicht einigen kann, indem derUnterschied durch keinen angemessenen Ausdruckunmittelbar bezeichnet werden konnte.8

Die deutsche Sprache hat das Glück, die Aus-drücke zu besitzen, welche diese Verschiedenheitnicht übersehen lassen. Für das, was die Lateiner miteinem einzigen Worte bonum benennen, hat sie zweisehr verschiedene Begriffe, und auch eben so ver-schiedene Ausdrücke. Für bonum das Gute und dasWohl, für malum das Böse und das Übel (oder Weh):so daß es zwei ganz verschiedene Beurteilungen sind,ob wir bei einer Handlung das Gute und Böse dersel-ben, oder unser Wohl und Weh (Übel) in Betrachtungziehen. Hieraus folgt schon, daß obiger psychologi-scher Satz wenigstens noch sehr ungewiß sei, wenn erso übersetzt wird: wir begehren nichts, als in Rück-sicht auf unserWohl oder Weh; dagegen er, wenn manihn so gibt: wir wollen, nach Anweisung der Ver-nunft, nichts, als nur so fern wir es für gut oder bösehalten, ungezweifelt gewiß und zugleich ganz klarausgedrückt wird.

Das Wohl oder Übel bedeutet immer nur eine Be-ziehung auf unseren Zustand der Annehmlichkeit oderUnannehmlichkeit, des Vergnügens und Schmerzens,und, wenn wir darum ein Objekt begehren, oder ver-abscheuen, so geschieht es, nur so fern es auf unsere

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Sinnlichkeit und das Gefühl der Lust und Unlust, dases bewirkt, bezogen wird. Das Gute oder Böse bedeu-tet aber jederzeit eine Beziehung auf denWillen, sofern dieser durchs Vernunftgesetz bestimmt wird, sichetwas zu seinem Objekte zu machen; wie er denndurch das Objekt und dessen Vorstellung niemals un-mittelbar bestimmt wird, sondern ein Vermögen ist,sich eine Regel der Vernunft zur Bewegursache einerHandlung (dadurch ein Objekt wirklichwerden kann)zu machen. Das Gute oder Böse wird also eigentlichauf Handlungen, nicht auf den Empfindungszustandder Person bezogen, und, sollte etwas schlechthin(und in aller Absicht und ohne weitere Bedingung)gut oder böse sein, oder dafür gehalten werden, sowürde es nur die Handlungsart, die Maxime des Wil-lens und mithin die handelnde Person selbst, als guteroder böser Mensch, nicht aber eine Sache sein, die sogenannt werden könnte.

Man mochte also immer den Stoiker auslachen, derin den heftigsten Gichtschmerzen ausrief: Schmerz,du magst mich noch so sehr foltern, ich werde dochnie gestehen, daß du etwas Böses (kakon, malum)seist! er hatte doch recht. Ein Übel war es, das fühlteer, und das verriet sein Geschrei: aber daß ihm da-durch ein Böses anhinge, hatte er gar nicht Ursacheeinzuräumen; denn der Schmerz verringert den Wertseiner Person nicht im mindesten, sondern nur den

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Wert seines Zustandes. Eine einzige Lüge, deren ersich bewußt gewesen wäre, hätte seinen Mut nieder-schlagen müssen; aber der Schmerz diente nur zurVeranlassung, ihn zu erheben, wenn er sich bewußtwar, daß er sie durch keine unrechte Handlung ver-schuldet und sich dadurch strafwürdig gemacht habe.

Was wir gut nennen sollen, muß in jedes vernünfti-gen Menschen Urteil ein Gegenstand des Begehrungs-vermögens sein, und das Böse in den Augen von je-dermann ein Gegenstand des Abscheues; mithin be-darf es, außer dem Sinne, zu dieser Beurteilung nochVernunft. So ist es mit der Wahrhaftigkeit im Gegen-satz mit der Lüge, so mit der Gerechtigkeit im Gegen-satz der Gewalttätigkeit etc. bewandt. Wir könnenaber etwas ein Übel nennen, welches doch jedermannzugleich für gut, bisweilen mittelbar, bisweilen garfür unmittelbar erklären muß. Der eine chirurgischeOperation an sich verrichten läßt, fühlt sie ohne Zwei-fel als ein Übel; aber durch Vernunft erklärt er, undjedermann, sie für gut. Wenn aber jemand, der fried-liebende Leute gerne neckt und beunruhigt, endlicheinmal anläuft und mit einer tüchtigen Tracht Schlägeabgefertigt wird: so ist dieses allerdings ein Übel,aber jedermann gibt dazu seinen Beifall und hält es ansich für gut, wenn auch nichts weiter daraus ent-spränge; ja selbst der, der sie empfängt, muß in seinerVernunft erkennen, daß ihm Recht geschehe, weil er

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die Proportion zwischen dem Wohlbefinden undWohlverhalten, welche die Vernunft ihm unvermeid-lich vorhält, hier genau in Ausübung gebracht sieht.

Es kommt allerdings auf unser Wohl und Weh inder Beurteilung unserer praktischen Vernunft gar sehrviel, und, was unsere Natur als sinnlicher Wesen be-trifft, alles auf unsere Glückseligkeit an, wenn diese,wie Vernunft es vorzüglich fodert, nicht nach der vor-übergehenden Empfindung, sondern nach dem Ein-flusse, den diese Zufälligkeit auf unsere ganze Exi-stenz und die Zufriedenheit mit derselben hat, beur-teilt wird; aber alles überhaupt kommt darauf dochnicht an. Der Mensch ist ein bedürftiges Wesen, sofern er zur Sinnenwelt gehört und so fern hat seineVernunft allerdings einen nicht abzulehnenden Auf-trag, von Seiten der Sinnlichkeit, sich um das Interes-se derselben zu bekümmern und sich praktische Ma-ximen, auch in Absicht auf die Glückseligkeit dieses,und, wo möglich, auch eines zukünftigen Lebens, zumachen. Aber er ist doch nicht so ganz Tier, umgegen alles, was Vernunft für sich selbst sagt, gleich-gültig zu sein, und diese bloß zum Werkzeuge derBefriedigung seines Bedürfnisses, als Sinnenwesens,zu gebrauchen. Denn im Werte über die bloße Tier-heit erhebt ihn das gar nicht, daß er Vernunft hat,wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll,was bei Tieren der Instinkt verrichtet; sie wäre

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alsdenn nur eine besondere Manier, deren sich dieNatur bedient hätte, um den Menschen zu demselbenZwecke, dazu sie Tiere bestimmt hat, auszurüsten,ohne ihn zu einem höheren Zwecke zu bestimmen. Erbedarf also freilich, nach dieser einmal mit ihm ge-troffenen Naturanstalt, Vernunft, um sein Wohl undWeh jederzeit in Betrachtung zu ziehen, aber er hatsie überdem noch zu einem höheren Behuf, nämlichauch das, was an sich gut oder böse ist, und worüberreine, sinnlich gar nicht interessierte Vernunft nur al-lein urteilen kann, nicht allein mit in Überlegung zunehmen, sondern diese Beurteilung von jener gänzlichzu unterscheiden, und sie zur obersten Bedingung desletzteren zu machen.

In dieser Beurteilung des an sich Guten und Bösen,zum Unterschiede von dem, was nur beziehungsweiseauf Wohl oder Übel so genannt werden kann, kommtes auf folgende Punkte an. Entweder ein Vernunft-prinzip wird schon an sich als der Bestimmungsgrunddes Willens gedacht, ohne Rücksicht auf möglicheObjekte des Begehrungsvermögens (also bloß durchdie gesetzliche Form der Maxime), alsdenn ist jenesPrinzip praktisches Gesetz a priori, und reine Ver-nunft wird für sich praktisch zu sein angenommen.Das Gesetz bestimmt alsdenn unmittelbar den Wil-len, die ihm gemäße Handlung ist an sich selbst gut,ein Wille, dessen Maxime jederzeit diesem Gesetze

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gemäß ist, ist schlechterdings, in aller Absicht, gut,und die oberste Bedingung alles Guten; oder es gehtein Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögensvor der Maxime des Willens vorher, der ein Objektder Lust und Unlust voraussetzt, mithin etwas, dasvergnügt oder schmerzt, und die Maxime der Ver-nunft, jene zu befördern, diese zu vermeiden, be-stimmt die Handlungen, wie sie beziehungsweise aufunsere Neigung, mithin nur mittelbar (in Rücksichtauf einen anderweitigen Zweck, als Mittel zu demsel-ben) gut sind, und diese Maximen können alsdennniemals Gesetze, dennoch aber vernünftige, prakti-sche Vorschriften heißen. Der Zweck selbst, das Ver-gnügen, das wir suchen, ist im letzteren Falle nichtein Gutes, sondern ein Wohl, nicht ein Begriff derVernunft, sondern ein empirischer Begriff von einemGegenstande der Empfindung; allein der Gebrauchdes Mittels dazu, d.i. die Handlung (weil dazu ver-nünftige Überlegung erfodert wird) heißt dennoch gut,aber nicht schlechthin, sondern nur in Beziehung aufunsere Sinnlichkeit, in Ansehung ihres Gefühls derLust und Unlust; der Wille aber, dessen Maxime da-durch affiziert wird, ist nicht ein reiner Wille, der nurauf das geht, wobei reine Vernunft für sich selbstpraktisch sein kann.

Hier ist nun der Ort, das Paradoxon der Methode ineiner Kritik der praktischen Vernunft zu erklären: daß

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nämlich der Begriff des Guten und Bösen nicht vordem moralischen Gesetze (dem es dem Anscheinnach so gar zum Grunde gelegt werden müßte), son-dern nur (wie hier auch geschieht) nach demselbenund durch dasselbe bestimmt werden müsse. Wennwir nämlich auch nicht wüßten, daß das Prinzip derSittlichkeit ein reines a priori den Willen bestimmen-des Gesetz sei, so müßten wir doch, um nicht ganzumsonst (gratis) Grundsätze anzunehmen, es anfäng-lich wenigstens unausgemacht lassen, ob der Willebloß empirische, oder auch reine Bestimmungsgründea priori habe; denn es ist wider alle Grundregeln desphilosophischen Verfahrens, das, worüber man aller-erst entscheiden soll, schon zum voraus als entschie-den anzunehmen. Gesetzt, wir wollten nun vom Be-griffe des Guten anfangen, um davon die Gesetze desWillens abzuleiten, so würde dieser Begriff voneinem Gegenstande (als einem guten) zugleich diesen,als den einigen Bestimmungsgrund des Willens, ange-ben. Weil nun dieser Begriff kein praktisches Gesetza priori zu seiner Richtschnur hatte: so könnte derProbierstein des Guten oder Bösen in nichts anders,als in der Übereinstimmung des Gegenstandes mit un-serem Gefühle der Lust oder Unlust gesetzt werden,und der Gebrauch der Vernunft könnte nur darin be-stehen, teils diese Lust oder Unlust im ganzen Zusam-menhange mit allen Empfindungen meines Daseins,

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teils die Mittel, mir den Gegenstand derselben zu ver-schaffen, zu bestimmen. Da nun, was dem Gefühleder Lust gemäß sei, nur durch Erfahrung ausgemachtwerden kann, das praktische Gesetz aber, der Angabenach, doch darauf, als Bedingung, gegründet werdensoll, so würde geradezu die Möglichkeit praktischerGesetze a priori ausgeschlossen; weil man vorhernötig zu finden meinte, einen Gegenstand für denWillen auszufinden, davon der Begriff, als einesGuten, den allgemeinen, obzwar empirischen Bestim-mungsgrund des Willens ausmachen müsse. Nun aberwar doch vorher nötig zu untersuchen, ob es nichtauch einen Bestimmungsgrund des Willens a priorigebe (welcher niemals irgendwo anders, als an einemreinen praktischen Gesetze, und zwar so fern diesesdie bloße gesetzliche Form, ohne Rücksicht auf einenGegenstand, den Maximen vorschreibt, wäre gefun-den worden). Weil man aber schon einen Gegenstandnach Begriffen des Guten und Bösen zum Grundealles praktischen Gesetzes legte, jener aber ohne vor-hergehendes Gesetz nur nach empirischen Begriffengedacht werden konnte, so hatte man sich die Mög-lichkeit, ein reines praktisches Gesetz auch nur zudenken, schon zum voraus benommen; da man im Ge-genteil, wenn man dem letzteren vorher analytischnachgeforscht hätte, gefunden haben würde, daß nichtder Begriff des Guten, als eines Gegenstandes, das

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moralische Gesetz, sondern umgekehrt das moralischeGesetz allererst den Begriff des Guten, so fern es die-sen Namen schlechthin verdient, bestimme und mög-lich mache.

Diese Anmerkung, welche bloß die Methode derobersten moralischen Untersuchungen betrifft, ist vonWichtigkeit. Sie erklärt auf einmal den veranlassen-den Grund aller Verirrungen der Philosophen in An-sehung des obersten Prinzips der Moral. Denn siesuchten einen Gegenstand des Willens auf, um ihn zurMaterie und dem Grunde eines Gesetzes zu machen(welches alsdenn nicht unmittelbar, sondern vermit-telst jenes an das Gefühl der Lust oder Unlust ge-brachten Gegenstandes, der Bestimmungsgrund desWillens sein sollte, anstatt daß sie zuerst nach einemGesetze hätten forschen sollen, das a priori und un-mittelbar den Willen, und diesem gemäß allererst denGegenstand bestimmete). Nun mochten sie diesen Ge-genstand der Lust, der den obersten Begriff des Gutenabgeben sollte, in der Glückseligkeit, in der Vollkom-menheit, im moralischen Gesetze, oder im WillenGottes setzen, so war ihr Grundsatz allemal Hetero-nomie, sie mußten unvermeidlich auf empirische Be-dingungen zu einem moralischen Gesetze stoßen: weilsie ihren Gegenstand, als unmittelbaren Bestim-mungsgrund des Willens, nur nach seinem unmittel-baren Verhalten zum Gefühl, welches allemal

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empirisch ist, gut oder böse nennen konnten. Nur einformales Gesetz, d.i. ein solches, welches der Ver-nunft nichts weiter als die Form ihrer allgemeinen Ge-setzgebung zur obersten Bedingung der Maximenvorschreibt, kann a priori ein Bestimmungsgrund derpraktischen Vernunft sein. Die Alten verrieten indes-sen diesen Fehler dadurch unverhohlen, daß sie ihremoralische Untersuchung gänzlich auf die Bestim-mung des Begriffs vom höchsten Gut, mithin einesGegenstandes setzten, welchen sie nachher zum Be-stimmungsgrunde des Willens im moralischen Geset-ze zu machten gedachten: ein Objekt, welches weithinterher, wenn das moralische Gesetz allererst fürsich bewährt und als unmittelbarer Bestimmungs-grund des Willens gerechtfertigt ist, dem nunmehr sei-ner Form nach a priori bestimmten Willen als Gegen-stand vorgestellt werden kann, welches wir in derDialektik der reinen praktischen Vernunft uns unter-fangen wollen. Die Neueren, bei denen die Frage überdas höchste Gut außer Gebrauch gekommen, zum we-nigsten nur Nebensache geworden zu sein scheint,verstecken obigen Fehler (wie in vielen andern Fällen)hinter unbestimmten Worten, indessen, daß man ihngleichwohl aus ihren Systemen hervorblicken sieht, daer alsdenn allenthalben Heteronomie der praktischenVernunft verrät, daraus nimmermehr ein a priori all-gemein gebietendes moralisches Gesetz entspringen

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kann.Da nun die Begriffe des Guten und Bösen, als Fol-

gen der Willensbestimmung a priori, auch ein reinespraktisches Prinzip, mithin eine Kausalität der reinenVernunft voraussetzen: so beziehen sie sich, ur-sprünglich, nicht (etwa als Bestimmungen der synthe-tischen Einheit des Mannigfaltigen gegebener An-schauungen in einem Bewußtsein) auf Objekte, wiedie reinen Verstandesbegriffe, oder Kategorien dertheoretisch-gebrauchten Vernunft, sie setzen diesevielmehr als gegeben voraus; sondern sie sind insge-samt Modi einer einzigen Kategorie, nämlich der derKausalität, so fern der Bestimmungsgrund derselbenin der Vernunftvorstellung eines Gesetzes derselbenbesteht, welches, als Gesetz der Freiheit, die Vernunftsich selbst gibt und dadurch sich a priori als praktischbeweiset. Da indessen die Handlungen einerseitszwar unter einem Gesetze, das kein Naturgesetz, son-dern ein Gesetz der Freiheit ist, folglich zu dem Ver-halten intelligibeler Wesen, andererseits aber dochauch, als Begebenheiten in der Sinnenwelt, zu den Er-scheinungen gehören, so werden die Bestimmungeneiner praktischen Vernunft nur in Beziehung auf dieletztere, folglich zwar den Kategorien des Verstandesgemäß, aber nicht in der Absicht eines theoretischenGebrauchs desselben, um das Mannigfaltige der(sinnlichen) Anschauung unter ein Bewußtsein a

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priori zu bringen, sondern nur, um das Mannigfaltigeder Begehrungen der Einheit des Bewußtseins einerim moralischen Gesetze gebietenden praktischen Ver-nunft, oder eines reinen Willens a priori zu unterwer-fen, Statt haben können.

Diese Kategorien der Freiheit, denn so wollen wirsie, statt jener theoretischen Begriffe, als Kategoriender Natur, benennen, haben einen augenscheinlichenVorzug vor den letzteren, daß, da diese nur Gedan-kenformen sind, welche nur unbestimmt Objekteüberhaupt für jede uns mögliche Anschauung durchallgemeine Begriffe bezeichnen, diese hingegen, dasie auf die Bestimmung einer freien Willkür gehen(der zwar keine Anschauung, völlig korrespondierend,gegeben werden kann, die aber, welches bei keinenBegriffen des theoretischen Gebrauchs unseres Er-kenntnisvermögens stattfindet, ein reines praktischesGesetz a priori zum Grunde liegen hat), als praktischeElementarbegriffe statt der Form der Anschauung(Raum und Zeit), die nicht in der Vernunft selbstliegt, sondern anderwärts, nämlich von der Sinnlich-keit, hergenommen werden muß, die Form eines rei-nen Willens in ihr, mithin dem Denkungsvermögenselbst, als gegeben zum Grunde liegen haben; da-durch es denn geschieht, daß, da es in allen Vorschrif-ten der reinen praktischen Vernunft nur um dieWil-lensbestimmung, nicht um die Naturbedingungen (des

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praktischen Vermögens)der Ausführung seiner Ab-sicht zu tun ist, die praktischen Begriffe a priori inBeziehung auf das oberste Prinzip der Freiheit so-gleich Erkenntnisse werden und nicht auf Anschauun-gen warten dürfen, um Bedeutung zu bekommen, undzwar aus diesem merkwürdigen Grunde, weil sie dieWirklichkeit dessen, worauf sie sich beziehen (dieWillensgesinnung), selbst hervorbringen, welches garnicht die Sache theoretischer Begriffe ist. Nur mußman wohl bemerken, daß diese Kategorien nur diepraktische Vernunft überhaupt angehen, und so inihrer Ordnung, von den moralisch noch unbestimm-ten, und sinnlich-bedingten, zu denen, die, sinn-lich-unbedingt, bloß durchs moralische Gesetz be-stimmt sind, fortgehen.

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Tafel der Kategorien der Freiheit in Ansehung derBegriffe des Guten und Bösen

1.Der Quantität

Subjektiv, nach Maximen(Willensmeinungen des Individuum)

Objektiv, nach Prinzipien (Vorschriften)A priori objektive sowohl als subjektive Prinzipien

der Freiheit (Gesetze)

2. 3.Der Qualität Der RelationPraktische Regeln des Auf die PersönlichkeitBegehens (praeceptivae) Auf den ZustandPraktische Regeln des Un- der Personterlassens (prohibitivae) Wechselseitig einerPraktische Regeln der Aus- Person auf den Zustandnahmen(exceptivae) der anderen

4.Modalität

Das Erlaubte und UnerlaubteDie Pflicht und das Pflichtwidrige

Vollkommene und unvollkommene Pflicht

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Man wird hier bald gewahr, daß, in dieser Tafel,die Freiheit, als eine Art von Kausalität, die aber em-pirischen Bestimmungsgründen nicht unterworfen ist,in Ansehung der durch sie möglichen Handlungen, alsErscheinungen in der Sinnenwelt, betrachtet werde,folglich sich auf die Kategorien ihrer Naturmöglich-keit beziehe, indessen daß doch jede Kategorie so all-gemein genommen wird, daß der Bestimmungsgrundjener Kausalität auch außer der Sinnenwelt in derFreiheit als Eigenschaft eines intelligibelen Wesensangenommen werden kann, bis die Kategorien derModalität den Übergang von praktischen Prinzipienüberhaupt zu denen der Sittlichkeit, aber nur proble-matisch, einleiten, welche nachher durchs moralischeGesetz allererst dogmatisch dargestellt werden kön-nen.

Ich füge hier nichts weiter zur Erläuterung gegen-wärtiger Tafel bei, weil sie für sich verständlichgenug ist. Dergleichen nach Prinzipien abgefaßte Ein-teilung ist aller Wissenschaft, ihrer Gründlichkeit so-wohl als Verständlichkeit halber, sehr zuträglich. Soweiß man, z.B., aus obiger Tafel und der ersten Num-mer derselben sogleich, wovon man in praktischenErwägungen anfangen müsse: von den Maximen, diejeder auf seine Neigung gründet, den Vorschriften, diefür eine Gattung vernünftiger Wesen, so fern sie ingewissen Neigungen übereinkommen, gelten, und

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endlich dem Gesetze, welches für alle, unangesehenihrer Neigungen, gilt, u.s.w. Auf diese Weise über-sieht man den ganzen Plan, von dem, was man zu lei-sten hat, so gar jede Frage der praktischen Philoso-phie, die zu beantworten, und zugleich die Ordnung,die zu befolgen ist.

Von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft

Die Begriffe des Guten und Bösen bestimmen demWillen zuerst ein Objekt. Sie stehen selbst aber untereiner praktischen Regel der Vernunft, welche, wennsie reine Vernunft ist, den Willen a priori in Anse-hung seines Gegenstandes bestimmt. Ob nun eine unsin der Sinnlichkeit mögliche Handlung der Fall sei,der unter der Regel stehe, oder nicht, dazu gehörtpraktische Urteilskraft, wodurch dasjenige, was in derRegel allgemein (in abstracto) gesagt wurde, auf eineHandlung in concreto angewandt wird. Weil aber einepraktische Regel der reinen Vernunft erstlich, alspraktisch, die Existenz eines Objekts betrifft, undzweitens, als praktische Regel der reinen VernunftNotwendigkeit in Ansehung des Daseins der Hand-lung bei sich führt, mithin praktisches Gesetz ist, undzwar nicht Naturgesetz, durch empirische Bestim-mungsgründe, sondern ein Gesetz der Freiheit, nach

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welchem der Wille, unabhängig von allem Empiri-schen (bloß durch die Vorstellung eines Gesetzesüberhaupt und dessen Form) bestimmbar sein soll,alle vorkommende Fälle zu möglichen Handlungenaber nur empirisch, d.i. zur Erfahrung und Natur ge-hörig sein können: so scheint es widersinnisch, in derSinnenwelt einen Fall antreffen zu wollen, der, da erimmer so fern nur unter dem Naturgesetze steht, dochdie Anwendung eines Gesetzes der Freiheit auf sichverstatte, und auf welchen die übersinnliche Idee desSittlichguten, das darin in concreto dargestellt werdensoll, angewandt werden könne. Also ist die Urteils-kraft der reinen praktischen Vernunft eben denselbenSchwierigkeiten unterworfen, als die der reinen theo-retischen, welche letztere gleichwohl, aus denselbenzu kommen, ein Mittel zur Hand hatte; nämlich, da esin Ansehung des theoretischen Gebrauchs auf An-schauungen ankam, darauf reine Verstandesbegriffeangewandt werden könnten, dergleichen Anschauun-gen (obzwar nur von Gegenständen der Sinne) doch apriori, mithin, was die Verknüpfung des Mannigfalti-gen in denselben betrifft, den reinen Verstandesbegrif-fen a priori gemäß (als Schemate) gegeben werdenkönnen. Hingegen ist das sittlich-Gute etwas dem Ob-jekte nach Übersinnliches, für das also in keiner sinn-lichen Anschauung etwas Korrespondierendes gefun-den werden kann, und die Urteilskraft unter Gesetzen

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der reinen praktischen Vernunft scheint daher beson-deren Schwierigkeiten unterworfen zu sein, die daraufberuhen, daß ein Gesetz der Freiheit auf Handlungen,als Begebenheiten, die in der Sinnenwelt geschehen,und also so fern zur Natur gehören, angewandt wer-den soll.

Allein hier eröffnet sich doch wieder eine günstigeAussicht für die reine praktische Urteilskraft. Es istbei der Subsumtion einer mir in der Sinnenwelt mög-lichen Handlung unter einem reinen praktischen Ge-setze nicht um die Möglichkeit der Handlung, alseiner Begebenheit in der Sinnenwelt, zu tun; denn diegehört für die Beurteilung des theoretischen Ge-brauchs der Vernunft, nach dem Gesetze der Kausali-tät, eines reinen Verstandesbegriffs, für den sie einSchema in der sinnlichen Anschauung hat. Die physi-sche Kausalität, oder die Bedingung, unter der siestattfindet, gehört unter die Naturbegriffe, deren Sche-ma transzendentale Einbildungskraft entwirft. Hieraber ist es nicht um das Schema eines Falles nach Ge-setzen, sondern um das Schema (wenn dieses Worthier schicklich ist) eines Gesetzes selbst zu tun, weildie Willensbestimmung (nicht der Handlung in Bezie-hung auf ihren Erfolg) durchs Gesetz allein, ohneeinen anderen Bestimmungsgrund, den Begriff derKausalität an ganz andere Bedingungen bindet, alsdiejenige sind, welche die Naturverknüpfung

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ausmachen.Dem Naturgesetze, als Gesetze, welchem die Ge-

genstände sinnlicher Anschauung, als solche, unter-worfen sind, muß ein Schema, d.i. ein allgemeinesVerfahren der Einbildungskraft (den reinen Verstan-desbegriff, den das Gesetz bestimmt, den Sinnen apriori darzustellen), korrespondieren. Aber dem Ge-setze der Freiheit (als einer gar nicht sinnlich beding-ten Kausalität), mithin auch dem Begriffe des unbe-dingt-Guten, kann keine Anschauung, mithin keinSchema zum Behuf seiner Anwendung in concreto un-tergelegt werden. Folglich hat das Sittengesetz keinanderes, die Anwendung desselben auf Gegenständeder Natur vermittelndes Erkenntnisvermögen, als denVerstand (nicht die Einbildungskraft), welcher einerIdee der Vernunft nicht ein Schema der Sinnlichkeit,sondern ein Gesetz, aber doch ein solches, das an Ge-genständen der Sinne in concreto dargestellt werdenkann, mithin ein Naturgesetz, aber nur seiner Formnach, als Gesetz zum Behuf der Urteilskraft unterle-gen kann, und dieses können wir daher den Typus desSittengesetzes nennen.

Die Regel der Urteilskraft unter Gesetzen der rei-nen praktischen Vernunft ist diese: Frage dich selbst,ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einemGesetze der Natur, von der du selbst ein Teil wärest,geschehen sollte, sie du wohl, als durch deinen Willen

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möglich, ansehen könntest. Nach dieser Regel beur-teilt in der Tat jedermann Handlungen, ob sie sitt-lich-gut oder böse sind. So sagt man: Wie, wenn einjeder, wo er seinen Vorteil zu schaffen glaubt, sicherlaubte, zu betrügen, oder befugt hielte, sich dasLeben abzukürzen, so bald ihn ein völliger Überdrußdesselben befällt, oder anderer Not mit völligerGleichgültigkeit ansähe, und du gehörtest mit zu einersolchen Ordnung der Dinge, würdest du darin wohlmit Einstimmung deines Willens sein? Nun weiß einjeder wohl: daß, wenn er sich in Geheim Betrug er-laubt, darum eben nicht jedermann es auch tue, oderwenn er unbemerkt lieblos ist, nicht sofort jedermannauch gegen ihn es sein würde; daher ist diese Verglei-chung der Maxime seiner Handlungen mit einem all-gemeinen Naturgesetze auch nicht der Bestimmungs-grund seines Willens. Aber das letztere ist doch einTypus der Beurteilung der ersteren nach sittlichenPrinzipien. Wenn die Maxime der Handlung nicht sobeschaffen ist, daß sie an der Form eines Naturgeset-zes überhaupt die Probe hält, so ist sie sitt-lich-unmöglich. So urteilt selbst der gemeinste Ver-stand; denn das Naturgesetz liegt allen seinen ge-wöhnlichsten, selbst den Erfahrungsurteilen immerzum Grunde. Er hat es also jederzeit bei der Hand,nur daß er in Fällen, wo die Kausalität aus Freiheitbeurteilt werden soll, jenes Naturgesetz bloß zum

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Typus eines Gesetzes der Freiheit macht, weil er,ohne etwas, was er zum Beispiele im Erfahrungsfallemachen könnte, bei Hand zu haben, dem Gesetzeeiner reinen praktischen Vernunft nicht den Gebrauchin der Anwendung verschaffen könnte.

Es ist also auch erlaubt, die Natur der Sinnenweltals Typus einer intelligibelen Natur zu brauchen, solange ich nur nicht die Anschauungen, und was davonabhängig ist, auf diese übertrage, sondern bloß dieForm der Gesetzmäßigkeit überhaupt (deren Begriffauch im reinsten Vernunftgebrauche stattfindet, aberin keiner anderen Absicht, als bloß zum reinen prakti-schen Gebrauche der Vernunft, a priori bestimmt er-kannt werden kann) darauf beziehe. Denn Gesetze, alssolche, sind so fern einerlei, sie mögen ihre Bestim-mungsgründe hernehmen, woher sie wollen.

Übrigens, da von allem Intelligibelen schlechter-dings nichts als (vermittelst des moralischen Geset-zes) die Freiheit, und auch diese nur, so fern sie einevon jenem unzertrennliche Voraussetzung ist, und fer-ner alle intelligibele Gegenstände, auf welche uns dieVernunft, nach Anleitung jenes Gesetzes, etwa nochführen möchte, wiederum für uns keine Realität wei-ter haben, als zum Behuf desselben Gesetzes und desGebrauches der reinen praktischen Vernunft, dieseaber zum Typus der Urteilskraft die Natur (der reinenVerstandesform derselben nach) zu gebrauchen

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berechtigt und auch benötigt ist: so dient die gegen-wärtige Anmerkung dazu, um zu verhüten, daß, wasbloß zur Typik der Begriffe gehört, nicht zu den Be-griffen selbst gezählt werde. Diese also, als Typik derUrteilskraft, bewahrt für dem Empirism der prakti-schen Vernunft, der die praktischen Begriffe, desGuten und Bösen, bloß in Erfahrungsfolgen (der so-genannten Glückseligkeit) setzt, obzwar diese und dieunendlichen nützlichen Folgen eines durch Selbstliebebestimmten Willens, wenn dieser sich selbst zugleichzum allgemeinen Naturgesetze machte, allerdingszum ganz angemessenen Typus für das Sittlichgutedienen kann, aber mit diesem doch nicht einerlei ist.Eben dieselbe Typik bewahrt auch vor demMystizismder praktischen Vernunft, welche das, was nur zumSymbol dienete, zum Schema macht, d.i. wirkliche,und doch nicht sinnliche, Anschauungen (eines un-sichtbaren Reichs Gottes) der Anwendung der morali-schen Begriffe unterlegt und ins Überschwenglichehinausschweift. Dem Gebrauche der moralischen Be-griffe ist bloß der Rationalism der Urteilskraft ange-messen, der von der sinnlichen Natur nichts weiternimmt, als was auch reine Vernunft für sich denkenkann, d.i. die Gesetzmäßigkeit, und in die übersinnli-che nichts hineinträgt, als was umgekehrt sich durchHandlungen in der Sinnenwelt nach der formalenRegel eines Naturgesetzes überhaupt wirklich

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darstellen läßt. Indessen ist die Verwahrung vor demEmpirism der praktischen Vernunft viel wichtiger undanratungswürdiger, womit derMystizism sich dochnoch mit der Reinigkeit und Erhabenheit des morali-schen Gesetzes zusammen verträgt und außerdem esnicht eben natürlich und der gemeinen Denkungsartangemessen ist, seine Einbildungskraft bis zu über-sinnlichen Anschauungen anzuspannen, mithin aufdieser Seite die Gefahr nicht so allgemein ist; dahin-gegen der Empirism die Sittlichkeit in Gesinnungen(worin doch, und nicht bloß in Handlungen, der hoheWert besteht, den sich die Menschheit durch sie ver-schaffen kann und soll) mit der Wurzel ausrottet, undihr ganz etwas anderes, nämlich ein empirisches Inter-esse, womit die Neigungen überhaupt unter sich Ver-kehr treiben, statt der Pflicht unterschiebt, überdemauch, eben darum, mit allen Neigungen, die (siemögen einen Zuschnitt bekommen, welchen sie wol-len), wenn sie zur Würde eines obersten praktischenPrinzips erhoben werden, die Menschheit degradieren,und da sie gleichwohl der Sinnesart aller so günstigsind, aus der Ursache weit gefährlicher ist, als alleSchwärmerei, die niemals einen daurenden Zustandvieler Menschen ausmachen kann.

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Drittes Hauptstück.Von den Triebfedern der reinen praktischen

Vernunft

Das Wesentliche alles sittlichen Werts der Hand-lungen kommt darauf an, daß das moralische Gesetzunmittelbar den Willen bestimme. Geschieht die Wil-lensbestimmung zwar gemäß dem moralischen Geset-ze, aber nur vermittelst eines Gefühls, welcher Art esauch sei, das vorausgesetzt werden muß, damit jenesein hinreichender Bestimmungsgrund des Willenswerde, mithin nicht um des Gesetzes willen: so wirddie Handlung zwar Legalität, aber nicht Moralitätenthalten. Wenn nun unter Triebfeder (elater animi)der subjektive Bestimmungsgrund des Willens einesWesens verstanden wird, dessen Vernunft nicht,schon vermöge seiner Natur, dem objektiven Gesetzenotwendig gemäß ist, so wird erstlich daraus folgen:daß man dem göttlichen Willen gar keine Triebfedernbeilegen könne, die Triebfeder des menschlichen Wil-lens aber (und des von jedem erschaffenen vernünfti-gen Wesen) niemals etwas anderes, als das morali-sche Gesetz sein könne, mithin der objektive Bestim-mungsgrund jederzeit und ganz allein zugleich dersubjektiv-hinreichende Bestimmungsgrund der Hand-lung sein müsse, wenn diese nicht bloß den

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Buchstaben des Gesetzes, ohne den Geist9 desselbenzu enthalten, erfüllen soll.

Da man also zum Behuf des moralischen Gesetzes,und um ihm Einfluß auf den Willen zu verschaffen,keine anderweitige Triebfeder, dabei die des morali-schen Gesetzes entbehrt werden könnte, suchen muß,weil das alles lauter Gleisnerei, ohne Bestand, bewir-ken würde, und so gar es bedenklich ist, auch nurneben dem moralischen Gesetze noch einige andereTriebfedern (als die des Vorteils) mitwirken zu las-sen: so bleibt nichts übrig, als bloß sorgfältig zu be-stimmen, auf welche Art das moralische Gesetz Trieb-feder werde, und was, indem sie es ist, mit demmenschlichen Begehrungsvermögen, als Wirkungjenes Bestimmungsgrundes auf dasselbe vorgehe.Denn wie ein Gesetz für sich und unmittelbar Bestim-mungsgrund des Willens sein könne (welches dochdas Wesentliche aller Moralität ist), das ist ein für diemenschliche Vernunft unauflösliches Problem und mitdem einerlei: wie ein freier Wille möglich sei. Alsowerden wir nicht den Grund, woher das moralischeGesetz in sich eine Triebfeder abgebe, sondern was,so fern es eine solche ist, sie im Gemüte wirkt (besserzu sagen, wirken muß), a priori anzuzeigen haben.

Das Wesentliche aller Bestimmung des Willensdurchs sittliche Gesetz ist: daß er als freier Wille, mit-hin nicht bloß ohne Mitwirkung sinnlicher Antriebe,

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sondern selbst, mit Abweisung aller derselben, undmit Abbruch aller Neigungen, so fern sie jenem Ge-setze zuwider sein könnten, bloß durchs Gesetz be-stimmt werde. So weit ist also die Wirkung des mora-lischen Gesetzes als Triebfeder nur negativ, und alssolche kann diese Triebfeder a priori erkannt werden.Denn alle Neigung und jeder sinnliche Antrieb ist aufGefühl gegründet, und die negative Wirkung aufs Ge-fühl (durch den Abbruch, der den Neigungen ge-schieht) ist selbst Gefühl. Folglich können wir a prio-ri einsehen, daß das moralische Gesetz als Bestim-mungsgrund des Willens dadurch, daß es allen unse-ren Neigungen Eintrag tut, ein Gefühl bewirkenmüsse, welches Schmerz genannt werden kann, undhier haben wir nun den ersten, vielleicht auch einzi-gen Fall, da wir aus Begriffen a priori das Verhältniseines Erkenntnisses (hier ist es einer reinen prakti-schen Vernunft) zum Gefühl der Lust oder Unlust be-stimmen konnten. Alle Neigungen zusammen (dieauch wohl in ein erträgliches System gebracht werdenkönnen, und deren Befriedigung alsdenn eigeneGlückseligkeit heißt) machen die Selbstsucht (solipsi-mus) aus. Diese ist entweder die der Selbstliebe, einesüber alles gehenden Wohlwollens gegen sich selbst(philautia), oder die desWohlgefallens an sich selbst(arrogantia). Jene heißt besonders Eigenliebe, dieseEigendünkel. Die reine praktische Vernunft tut der

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Eigenliebe bloß Abbruch, indem sie solche, als natür-lich, und noch vor dem moralischen Gesetze, in unsrege, nur auf die Bedingung der Einstimmung mit die-sem Gesetze einschränkt; da sie alsdenn vernünftigeSelbstliebe genannt wird. Aber den Eigendünkelschlägt sie gar nieder, indem alle Ansprüche derSelbstschätzung, die vor der Übereinstimmung mitdem sittlichen Gesetze vorhergehen, nichtig und ohnealle Befugnis sind, indem eben die Gewißheit einerGesinnung, die mit diesem Gesetze übereinstimmt,die erste Bedingung alles Werts der Person ist (wiewir bald deutlicher machen werden) und alle Anma-ßung vor derselben falsch und gesetzwidrig ist. Nungehört der Hang zur Selbstschätzung mit zu den Nei-gungen, denen das moralische Gesetz Abbruch tut, sofern jene bloß auf der Sittlichkeit beruht. Also schlägtdas moralische Gesetz den Eigendünkel nieder. Dadieses Gesetz aber doch etwas an sich Positives ist,nämlich die Form einer intellektuellen Kausalität, d.i.der Freiheit, so ist es, indem es im Gegensatze mitdem subjektiven Widerspiele, nämlich den Neigungenin uns, den Eigendünkel schwächt, zugleich ein Ge-genstand der Achtung, und, indem es ihn sogar nie-derschlägt, d.i. demütigt, ein Gegenstand der größtenAchtung, mithin auch der Grund eines positiven Ge-fühls, das nicht empirischen Ursprungs ist, und apriori erkannt wird. Also ist Achtung fürs moralische

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Gesetz ein Gefühl, welches durch einen intellektuellenGrund gewirkt wird, und dieses Gefühl ist das ein-zige, welches wir völlig a priori erkennen, und dessenNotwendigkeit wir einsehen können.

Wir haben im vorigen Hauptstücke gesehen: daßalles, was sich als Objekt des Willens vor dem mora-lischen Gesetze darbietet, von den Bestimmungsgrün-den des Willens, unter dem Namen des unbe-dingt-Guten, durch dieses Gesetz selbst, als die ober-ste Bedingung der praktischen Vernunft, ausgeschlos-sen werde, und daß die bloße praktische Form, die inder Tauglichkeit der Maximen zur allgemeinen Ge-setzgebung besteht, zuerst das, was an sich undschlechterdings-gut ist, bestimme, und die Maximeeines reinen Willens gründe, der allein in aller Ab-sicht gut ist. Nun finden wir aber unsere Natur, alssinnlicher Wesen so beschaffen, daß die Materie desBegehrungsvermögens (Gegenstände der Neigung, essei der Hoffnung, oder Furcht) sich zuerst aufdringt,und unser pathologisch bestimmbares Selbst, ob esgleich durch seine Maximen zur allgemeinen Gesetz-gebung ganz untauglich ist, dennoch, gleich als ob esunser ganzes Selbst ausmachte, seine Ansprüche vor-her und als die ersten und ursprünglichen geltend zumachen bestrebt sei. Man kann diesen Hang, sichselbst nach den subjektiven Bestimmungsgründen sei-ner Willkür zum objektiven Bestimmungsgrunde des

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194Kant: Kritik der praktischen Vernunft

Willens überhaupt zu machen, die Selbstliebe nennen,welche, wenn sie sich gesetzgebend und zum unbe-dingten praktischen Prinzip macht, Eigendünkel hei-ßen kann. Nun schließt das moralische Gesetz, wel-ches allein wahrhaftig (nämlich in aller Absicht) ob-jektiv ist, den Einfluß der Selbstliebe auf das oberstepraktische Prinzip gänzlich aus, und tut dem Eigen-dünkel, der die subjektiven Bedingungen des ersterenals Gesetze vorschreibt, unendlichen Abbruch. Wasnun unserem Eigendünkel in unserem eigenen UrteilAbbruch tut, das demütigt. Also demütigt das morali-sche Gesetz unvermeidlich jeden Menschen, indemdieser mit demselben den sinnlichen Hang seinerNatur vergleicht. Dasjenige, dessen Vorstellung, alsBestimmungsgrund unseres Willens, uns in unseremSelbstbewußtsein demütigt, erweckt, so fern als espositiv und Bestimmungsgrund ist, für sich Achtung.Also ist das moralische Gesetz auch subjektiv einGrund der Achtung. Da nun alles, was in der Selbst-liebe angetroffen wird, zur Neigung gehört, alle Nei-gung aber auf Gefühlen beruht, mithin, was allen Nei-gungen insgesamt in der Selbstliebe Abbruch tut,eben dadurch notwendig auf das Gefühl Einfluß hat,so begreifen wir, wie es möglich ist, a priori einzuse-hen, daß das moralische Gesetz, indem es die Neigun-gen und den Hang, sie zur obersten praktischen Be-dingung zu machen, d.i. die Selbstliebe, von allem

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Beitritte zur obersten Gesetzgebung ausschließt, eineWürkung aufs Gefühl ausüben könne, welche einer-seits bloß negativ ist, andererseits und zwar in Anse-hung des einschränkenden Grundes der reinen prakti-schen Vernunft positiv ist, und wozu gar keine beson-dere Art von Gefühle, unter dem Namen eines prakti-schen, oder moralischen, als vor dem moralischen Ge-setze vorhergehend und ihm zum Grunde liegend, an-genommen werden darf.

Die negative Wirkung auf Gefühl (der Unannehm-lichkeit) ist, so wie aller Einfluß auf dasselbe, undwie jedes Gefühl überhaupt, pathologisch. Als Wir-kung aber vom Bewußtsein des moralischen Gesetzes,folglich in Beziehung auf eine intelligibele Ursache,nämlich das Subjekt der reinen praktischen Vernunft,als obersten Gesetzgeberin, heißt dieses Gefühl einesvernünftigen von Neigungen affizierten Subjekts zwarDemütigung (intellektuelle Verachtung), aber in Be-ziehung auf den positiven Grund derselben, das Ge-setz, zugleich Achtung für dasselbe, für welches Ge-setz gar kein Gefühl stattfindet, sondern im Urteileder Vernunft, indem es den Widerstand aus demWege schafft, die Wegräumung eines Hindernisseseiner positiven Beförderung der Kausalität gleichge-schätzt wird. Darum kann dieses Gefühl nun auch einGefühl der Achtung fürs moralische Gesetz, aus bei-den Gründen zusammen aber ein moralisches Gefühl

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195Kant: Kritik der praktischen Vernunft

genannt werden.Das moralische Gesetz also, so wie es formaler Be-

stimmungsgrund der Handlung ist, durch praktischereine Vernunft, so wie es zwar auch materialer, abernur objektiver Bestimmungsgrund der Gegenständeder Handlung, unter dem Namen des Guten undBösen, ist, so ist es auch subjektiver Bestimmungs-grund, d.i. Triebfeder, zu dieser Handlung, indem esauf die Sittlichkeit des Subjekts Einfluß hat, und einGefühl bewirkt, welches dem Einflusse des Gesetzesauf den Willen beförderlich ist. Hier geht kein Gefühlim Subjekt vorher, das auf Moralität gestimmt wäre.Denn das ist unmöglich, weil alles Gefühl sinnlichist; die Triebfeder der sittlichen Gesinnung aber mußvon aller sinnlichen Bedingung frei sein. Vielmehr istdas sinnliche Gefühl, was allen unseren Neigungenzum Grunde liegt, zwar die Bedingung derjenigenEmpfindung, die wir Achtung nennen, aber die Ursa-che der Bestimmung desselben liegt in der reinenpraktischen Vernunft, und diese Empfindung kanndaher, ihres Ursprunges wegen, nicht pathologisch,sondern muß praktisch-gewirkt heißen; indem da-durch, daß die Vorstellung des moralischen Gesetzesder Selbstliebe den Einfluß, und dem Eigendünkelden Wahn benimmt, das Hindernis der reinen prakti-schen Vernunft vermindert, und die Vorstellung desVorzuges ihres objektiven Gesetzes vor den

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Antrieben der Sinnlichkeit, mithin das Gewicht desersteren relativ (in Ansehung eines durch die letztereaffizierten Willens) durch die Wegschaffung des Ge-gengewichts, im Urteile der Vernunft, hervorgebrachtwird. Und so ist die Achtung fürs Gesetz nicht Trieb-feder zur Sittlichkeit, sondern sie ist die Sittlichkeitselbst, subjektiv als Triebfeder betrachtet, indem diereine praktische Vernunft dadurch, daß sie der Selbst-liebe, im Gegensatze mit ihr, alle Ansprüche ab-schlägt, dem Gesetze, das jetzt allein Einfluß hat, An-sehen verschafft. Hiebei ist nun zu bemerken: daß, sowie die Achtung eine Wirkung aufs Gefühl, mithinauf die Sinnlichkeit eines vernünftigen Wesens ist, esdiese Sinnlichkeit, mithin auch die Endlichkeit sol-cher Wesen, denen das moralische Gesetz Achtungauferlegt, voraussetze, und daß einem höchsten, oderauch einem von aller Sinnlichkeit freien Wesen, wel-chem diese also auch kein Hindernis der praktischenVernunft sein kann, Achtung fürs Gesetz nicht beige-legt werden könne.

Dieses Gefühl (unter dem Namen des moralischen)ist also lediglich durch Vernunft bewirkt. Es dientnicht zu Beurteilung der Handlungen, oder wohl garzur Gründung des objektiven Sittengesetzes selbst,sondern bloß zur Triebfeder, um dieses in sich zurMaxime zu machen. Mit welchem Namen aber könnteman dieses sonderbare Gefühl, welches mit keinem

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pathologischen in Vergleichung gezogen werdenkann, schicklicher belegen? Es ist so eigentümlicherArt, daß es lediglich der Vernunft, und zwar der prak-tischen reinen Vernunft, zu Gebote zu stehen scheint.Achtung geht jederzeit nur auf Personen, niemals

auf Sachen. Die letztere können Neigung, und, wennes Tiere sind (z.B. Pferde, Hunde etc.), so gar Liebe,oder auch Furcht, wie das Meer, ein Vulkan, einRaubtier, niemals aber Achtung in uns erwecken.Etwas, was diesem Gefühl schon näher tritt, ist Be-wunderung, und diese, als Affekt, das Erstaunen,kann auch auf Sachen gehen, z.B. himmelhohe Berge,die Größe, Menge und Weite der Weltkörper, dieStärke und Geschwindigkeit mancher Tiere, u.s.w.Aber alles dieses ist nicht Achtung. Ein Mensch kannmir auch ein Gegenstand der Liebe, der Furcht, oderder Bewunderung, so gar bis zum Erstaunen und dochdarum kein Gegenstand der Achtung sein. Seinescherzhafte Laune, sein Mut und Stärke, seine Macht,durch seinen Rang, den er unter anderen hat, könnenmir dergleichen Empfindungen einflößen, es fehltaber immer noch an innerer Achtung gegen ihn. Fon-tenelle sagt: vor einem Vornehmen bücke ich mich,aber mein Geist bückt sich nicht. Ich kann hinzu set-zen: vor einem niedrigen, bürgerlich-gemeinen Mann,an dem ich eine Rechtschaffenheit des Charakters ineinem gewissen Maße, als ich mir von mir selbst

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nicht bewußt bin, wahrnehme, bückt sich mein Geist,ich mag wollen oder nicht, und den Kopf noch sohoch tragen, um ihn meinen Vorrang nicht übersehenzu lassen.

Warum das? Sein Beispiel hält mir ein Gesetz vor,das meinen Eigendünkel niederschlägt, wenn ich esmit meinem Verhalten vergleiche, und dessen Befol-gung, mithin die Tunlichkeit desselben, ich durch dieTat bewiesen vor mir sehe. Nun mag ich mir sogareines gleichen Grades der Rechtschaffenheit bewußtsein, und die Achtung bleibt doch. Denn, da beimMenschen immer alles Gute mangelhaft ist, so schlägtdas Gesetz, durch ein Beispiel anschaulich gemacht,doch immer meinen Stolz nieder, wozu der Mann, denich vor mir sehe, dessen Unlauterkeit, die ihm immernoch anhängen mag, mir nicht so, wie mir die meini-ge, bekannt ist, der mir also in reinerem Lichte er-scheint, einen Maßstab abgibt. Achtung ist ein Tri-but, den wir dem Verdienste nicht verweigern können,wir mögen wollen oder nicht; wir mögen allenfallsäußerlich damit zurückhalten, so können wir dochnicht verhüten, sie innerlich zu empfinden.

Die Achtung ist so wenig ein Gefühl der Lust, daßman sich ihr in Ansehung eines Menschen nur ungernüberläßt. Man sucht etwas ausfindig zu machen, wasuns die Last derselben erleichtern könne, irgend einenTadel, um uns wegen der Demütigung, die uns durch

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ein solches Beispiel widerfährt, schadlos zu halten.Selbst Verstorbene sind, vornehmlich wenn ihr Bei-spiel unnachahmlich scheint, vor dieser Kritik nichtimmer gesichert. So gar das moralische Gesetz selbst,in seiner feierlichen Majestät, ist diesem Bestreben,sich der Achtung dagegen zu erwehren, ausgesetzt.Meint man wohl, daß es einer anderen Ursache zuzu-schreiben sei, weswegen man es gern zu unserer ver-traulichen Neigung herabwürdigen möchte, und sichaus anderen Ursachen alles so bemühe, um es zur be-liebten Vorschrift unseres eigenen wohlverstandenenVorteils zu machen, als daß man der abschreckendenAchtung, die uns unsere eigene Unwürdigkeit sostrenge vorhält, loswerden möge? Gleichwohl istdarin doch auch wiederum so wenig Unlust: daß,wenn man einmal den Eigendünkel abgelegt, undjener Achtung praktischen Einfluß verstattet hat, mansich wiederum an der Herrlichkeit dieses Gesetzesnicht satt sehen kann, und die Seele sich in dem Maßeselbst zu erheben glaubt, als sie das heilige Gesetzüber sich und ihre gebrechliche Natur erhaben sieht.Zwar können große Talente und eine ihnen proportio-nierte Tätigkeit auch Achtung, oder ein mit derselbenanalogisches Gefühl, bewirken, es ist auch ganz an-ständig, es ihnen zu widmen, und da scheint es, als obBewunderung mit jener Empfindung einerlei sei. Al-lein, wenn man näher zusieht, so wird man bemerken,

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daß, da es immer ungewiß bleibt, wie viel das ange-borne Talent und wie viel Kultur durch eigenen Fleißan der Geschicklichkeit Teil habe, so stellt uns dieVernunft die letztere mutmaßlich als Frucht der Kul-tur, mithin als Verdienst vor, welches unseren Eigen-dünkel merklich herabstimmt, und uns darüber entwe-der Vorwürfe macht, oder uns die Befolgung einessolchen Beispiels, in der Art, wie es uns angemessenist, auferlegt. Sie ist also nicht bloße Bewunderung,diese Achtung, die wir einer solchen Person (eigent-lich dem Gesetze, was uns sein Beispiel vorhält) be-weisen; welches sich auch dadurch bestätigt, daß dergemeine Haufe der Liebhaber, wenn er das Schlechtedes Charakters eines solchen Mannes (wie etwa Vol-taire) sonst woher erkundigt zu haben glaubt, alleAchtung gegen ihn aufgibt, der wahre Gelehrte abersie noch immer wenigstens im Gesichtspunkte seinerTalente fühlt, weil er selbst in einem Geschäfte undBerufe verwickelt ist, welches die Nachahmung des-selben ihm gewissermaßen zum Gesetze macht.

Achtung fürs moralische Gesetz ist also die einzigeund zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder, sowie dieses Gefühl auch auf kein Objekt anders, als le-diglich aus diesem Grunde gerichtet ist. Zuerst be-stimmt das moralische Gesetz objektiv und unmittel-bar den Willen im Urteile der Vernunft; Freiheit,deren Kausalität bloß durchs Gesetz bestimmbar ist,

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besteht aber eben darin, daß sie alle Neigungen, mit-hin die Schätzung der Person selbst auf die Bedin-gung der Befolgung ihres reinen Gesetzes ein-schränkt. Diese Einschränkung tut nun eine Wirkungaufs Gefühl, und bringt Empfindung der Unlust her-vor, die aus dem moralischen Gesetze a priori erkanntwerden kann. Da sie aber bloß so fern eine negativeWirkung ist, die, als aus dem Einflusse einer reinenpraktischen Vernunft entsprungen, vornehmlich derTätigkeit des Subjekts, so fern Neigungen die Bestim-mungsgründe desselben sind, mithin der Meinung sei-nes persönlichen Werts Abbruch tut (der ohne Ein-stimmung mit dem moralischen Gesetze auf nichtsherabgesetzt wird), so ist die Wirkung dieses Geset-zes aufs Gefühl bloß Demütigung, welches wir alsozwar a priori einsehen, aber an ihr nicht die Kraft desreinen praktischen Gesetzes als Triebfeder, sondernnur den Widerstand gegen Triebfedern der Sinnlich-keit erkennen können. Weil aber dasselbe Gesetzdoch objektiv, d.i. in der Vorstellung der reinen Ver-nunft, ein unmittelbarer Bestimmungsgrund des Wil-lens ist, folglich diese Demütigung nur relativ auf dieReinigkeit des Gesetzes stattfindet, so ist die Herab-setzung der Ansprüche der moralischen Selbstschät-zung, d.i. die Demütigung auf der sinnlichen Seite,eine Erhebung der moralischen, d.i. der praktischenSchätzung des Gesetzes selbst, auf der intellektuellen,

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mit einem Worte Achtung fürs Gesetz, also auch ein,seiner intellektuellen Ursache nach, positives Gefühl,das a priori erkannt wird. Denn eine jede Verminde-rung der Hindernisse einer Tätigkeit ist Beförderungdieser Tätigkeit selbst. Die Anerkennung des morali-schen Gesetzes aber ist das Bewußtsein einer Tätig-keit der praktischen Vernunft aus objektiven Grün-den, die bloß darum nicht ihre Wirkung in Handlun-gen äußert, weil subjektive Ursachen (pathologische)sie hindern. Also muß die Achtung fürs moralischeGesetz auch als positive aber indirekte Wirkung des-selben aufs Gefühl, so fern jenes den hindernden Ein-fluß der Neigungen durch Demütigung des Eigendün-kels schwächt, mithin als subjektiver Grund der Tä-tigkeit, d.i. als Triebfeder zu Befolgung desselben,und als Grund zu Maximen eines ihm gemäßen Le-benswandels angesehen werden. Aus dem Begriffeeiner Triebfeder entspringt der eines Interesse; wel-ches niemals einem Wesen, als was Vernunft hat, bei-gelegt wird, und eine Triebfeder des Willens bedeu-tet, so fern sie durch Vernunft vorgestellt wird. Dadas Gesetz selbst in einem moralisch-guten Willendie Triebfeder sein muß, so ist das moralische Inter-esse ein reines sinnenfreies Interesse der bloßen prak-tischen Vernunft. Auf dem Begriffe eines Interessegründet sich auch der einerMaxime. Diese ist alsonur alsdenn moralisch echt, wenn sie auf dem bloßen

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Interesse, das man an der Befolgung des Gesetzesnimmt, beruht. Alle drei Begriffe aber, der einerTriebfeder, eines Interesse und einer Maxime, kön-nen nur auf endliche Wesen angewandt werden. Dennsie setzen insgesamt eine Eingeschränktheit der Natureines Wesens voraus, da die subjektive Beschaffen-heit seiner Willkür mit dem objektiven Gesetze einerpraktischen Vernunft nicht von selbst übereinstimmt;ein Bedürfnis, irgend wodurch zur Tätigkeit angetrie-ben zu werden, weil ein inneres Hindernis derselbenentgegensteht. Auf den göttlichen Willen können siealso nicht angewandt werden.

Es liegt so etwas Besonderes in der grenzenlosenHochschätzung des reinen, von allem Vorteil entblöß-ten, moralischen Gesetzes, so wie es praktische Ver-nunft uns zur Befolgung vorstellt, deren Stimme auchden kühnsten Frevler zittern macht, und ihn nötigt,sich vor seinem Anblicke zu verbergen: daß man sichnicht wundern darf, diesen Einfluß einer bloß intellek-tuellen Idee aufs Gefühl für spekulative Vernunft un-ergründlich zu finden, und sich damit begnügen zumüssen, daß man a priori doch noch so viel einsehenkann: ein solches Gefühl sei unzertrennlich mit derVorstellung des moralischen Gesetzes in jedem endli-chen vernünftigen Wesen verbunden. Wäre dieses Ge-fühl der Achtung pathologisch und also ein auf deminneren Sinne gegründetes Gefühl der Lust, so würde

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es vergeblich sein, eine Verbindung derselben mit ir-gend einer Idee a priori zu entdecken. Nun aber ist einGefühl, was bloß aufs Praktische geht, und zwar derVorstellung eines Gesetzes lediglich seiner Formnach, nicht irgend eines Objekts desselben wegen, an-hängt, mithin weder zum Vergnügen, noch zumSchmerze gerechnet werden kann, und dennoch einInteresse an der Befolgung desselben hervorbringt,welches wir das moralische nennen; wie denn auchdie Fähigkeit, ein solches Interesse am Gesetze zunehmen (oder die Achtung fürs moralische Gesetzselbst) eigentlich das moralische Gefühl ist.

Das Bewußtsein einer freien Unterwerfung desWillens unter das Gesetz, doch als mit einem unver-meidlichen Zwange, der allen Neigungen, aber nurdurch eigene Vernunft angetan wird, verbunden, istnun die Achtung fürs Gesetz. Das Gesetz, was dieseAchtung fodert und auch einflößt, ist, wie man sieht,kein anderes, als das moralische (denn kein anderesschließt alle Neigungen von der Unmittelbarkeit ihresEinflusses auf den Willen aus). Die Handlung, dienach diesem Gesetze, mit Ausschließung aller Be-stimmungsgründe aus Neigung, objektiv praktisch ist,heißt Pflicht, welche, um dieser Ausschließung wil-len, in ihrem Begriffe praktische Nötigung, d.i. Be-stimmung zu Handlungen, so ungerne, wie sie auchgeschehen mögen, enthält. Das Gefühl, das aus dem

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Bewußtsein dieser Nötigung entspringt, ist nicht pa-thologisch, als ein solches, was von einem Gegenstan-de der Sinne gewirkt würde, sondern allein praktisch,d.i. durch eine vorhergehende (objektive) Willensbe-stimmung und Kausalität der Vernunft, möglich. Esenthält also, als Unterwerfung unter ein Gesetz, d.i.als Gebot (welches für das sinnlich-affizierte SubjektZwang ankündigt), keine Lust, sondern, so fern, viel-mehr Unlust an der Handlung in sich. Dagegen aber,da dieser Zwang bloß durch Gesetzgebung der eige-nen Vernunft ausgeübt wird, enthält es auch Erhe-bung, und die subjektive Wirkung aufs Gefühl, sofern davon reine praktische Vernunft die alleinige Ur-sache ist, kann also bloß Selbstbilligung in Ansehungder letzteren heißen, indem man sich dazu, ohne allesInteresse, bloß durchs Gesetz bestimmt erkennt, undsich nunmehro eines ganz anderen, dadurch subjektivhervorgebrachten, Interesse, welches rein praktischund frei ist, bewußt wird, welches an einer pflichtmä-ßigen Handlung zu nehmen nicht etwa eine Neigunganrätig ist, sondern die Vernunft durchs praktischeGesetz schlechthin gebietet und auch wirklich hervor-bringt, darum aber einen ganz eigentümlichen Namen,nämlich den der Achtung, führt.

Der Begriff der Pflicht fodert also an der Handlung,objektiv, Übereinstimmung mit dem Gesetze, an derMaxime derselben aber, subjektiv, Achtung fürs

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Gesetz, als die alleinige Bestimmungsart des Willensdurch dasselbe. Und darauf beruht der Unterschiedzwischen dem Bewußtsein, pflichtmäßig und ausPflicht, d.i. aus Achtung fürs Gesetz, gehandelt zuhaben, davon das erstere (die Legalität) auch möglichist, wenn Neigungen bloß die Bestimmungsgründedes Willens gewesen wären, das zweite aber (die Mo-ralität), der moralische Wert, lediglich darin gesetztwerden muß, daß die Handlung aus Pflicht, d.i. bloßum des Gesetzes willen geschehe.10

Es ist von der größten Wichtigkeit in allen morali-schen Beurteilungen, auf das subjektive Prinzip allerMaximen mit der äußersten Genauigkeit Acht zuhaben, damit alle Moralität der Handlungen in derNotwendigkeit derselben aus Pflicht und aus Achtungfürs Gesetz, nicht aus Liebe und Zuneigung zu dem,was die Handlungen hervorbringen sollen, gesetztwerde. Für Menschen und alle erschaffene vernünftigeWesen ist die moralische Notwendigkeit Nötigung,d.i. Verbindlichkeit, und jede darauf gegründeteHandlung als Pflicht, nicht aber als eine uns vonselbst schon beliebte, oder beliebt werden könnendeVerfahrungsart vorzustellen. Gleich als ob wir esdahin jemals bringen könnten, daß ohne Achtung fürsGesetz, welche mit Furcht oder wenigstens Besorgnisvor Übertretung verbunden ist, wir, wie die über alleAbhängigkeit erhabene Gottheit, von selbst,

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gleichsam durch eine uns zur Natur gewordene, nie-mals zu verrückende Übereinstimmung des Willensmit dem reinen Sittengesetze (welches also, da wirniemals versucht werden können, ihm untreu zu wer-den, wohl endlich gar aufhören könnte, für uns Gebotzu sein), jemals in den Besitz einer Heiligkeit desWillens kommen könnten.

Das moralische Gesetz ist nämlich für den Willeneines allervollkommensten Wesens ein Gesetz derHeiligkeit, für den Willen jedes endlichen vernünfti-gen Wesens aber ein Gesetz der Pflicht, der morali-schen Nötigung und der Bestimmung der Handlungendesselben durch Achtung für dies Gesetz und aus Ehr-furcht für seine Pflicht. Ein anderes subjektives Prin-zip muß zur Triebfeder nicht angenommen werden,denn sonst kann zwar die Handlung, wie das Gesetzsie vorschreibt, ausfallen, aber, da sie zwar pflichtmä-ßig ist, aber nicht aus Pflicht geschieht, so ist die Ge-sinnung dazu nicht moralisch, auf die es doch in die-ser Gesetzgebung eigentlich ankömmt.

Es ist sehr schön, aus Liebe zu Menschen und teil-nehmendem Wohlwollen ihnen Gutes zu tun, oder ausLiebe zur Ordnung gerecht zu sein, aber das ist nochnicht die echte moralische Maxime unsers Verhaltens,die unserm Standpunkte, unter vernünftigen Wesen,als Menschen, angemessen ist, wenn wir uns anma-ßen, gleichsam als Volontäre, uns mit stolzer

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Einbildung über den Gedanken von Pflicht wegzuset-zen, und uns, als vom Gebote unabhängig, bloß auseigener Lust das tun zu wollen, wozu für uns keinGebot nötig wäre. Wir stehen unter einer Disziplinder Vernunft, und müssen in allen unseren Maximender Unterwürfigkeit unter derselben nicht vergessen,ihr nichts zu entziehen, oder dem Ansehen des Geset-zes (ob es gleich unsere eigene Vernunft gibt) durcheigenliebigen Wahn dadurch etwas abkürzen, daß wirden Bestimmungsgrund unseres Willens, wenn gleichdem Gesetze gemäß, doch worin anders, als im Geset-ze selbst, und in der Achtung für dieses Gesetz setz-ten. Pflicht und Schuldigkeit sind die Benennungen,die wir allein unserem Verhältnisse zum moralischenGesetze geben müssen. Wir sind zwar gesetzgebendeGlieder eines durch Freiheit möglichen, durch prakti-sche Vernunft uns zur Achtung vorgestellten Reichsder Sitten, aber doch zugleich Untertanen, nicht dasOberhaupt desselben, und die Verkennung unsererniederen Stufe, als Geschöpfe, und Weigerung des Ei-gendünkels gegen das Ansehen des heiligen Gesetzes,ist schon eine Abtrünnigkeit von demselben, demGeiste nach, wenn gleich der Buchstabe desselben er-füllt würde.

Hiemit stimmt aber die Möglichkeit eines solchenGebots, als: Liebe Gott über alles und deinen Näch-sten als dich selbst,11 ganz wohl zusammen. Denn es

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fodert doch, als Gebot, Achtung für ein Gesetz, dasLiebe befiehlt, und überläßt es nicht der beliebigenWahl, sich diese zum Prinzip zu machen. Aber Liebezu Gott als Neigung (pathologische Liebe) ist unmög-lich; denn er ist kein Gegenstand der Sinne. Eben die-selbe gegen Menschen ist zwar möglich, kann abernicht geboten werden; denn es steht in keines Men-schen Vermögen, jemanden bloß auf Befehl zu lieben.Also ist es bloß die praktische Liebe, die in jenemKern aller Gesetze verstanden wird. Gott lieben, heißtin dieser Bedeutung, seine Gebote gerne tun; denNächsten lieben, heißt, alle Pflicht gegen ihn gerneausüben. Das Gebot aber, das dieses zur Regel macht,kann auch nicht diese Gesinnung in pflichtmäßigenHandlungen zu haben, sondern bloß darnach zu stre-ben gebieten. Denn ein Gebot, daß man etwas gernetun soll, ist in sich widersprechend, weil, wenn wir,was uns zu tun obliege, schon von selbst wissen,wenn wir uns überdem auch bewußt wären, es gernezu tun, ein Gebot darüber ganz unnötig, und, tun wires zwar, aber eben nicht gerne, sondern nur aus Ach-tung fürs Gesetz, ein Gebot, welches diese Achtungeben zur Triebfeder der Maxime macht, gerade der ge-botenen Gesinnung zuwider wirken würde. Jenes Ge-setz aller Gesetze stellt also, wie alle moralische Vor-schrift des Evangelii, die sittliche Gesinnung in ihrerganzen Vollkommenheit dar, so wie sie als ein Ideal

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der Heiligkeit von keinem Geschöpfe erreichbar, den-noch das Urbild ist, welchem wir uns zu näheren,und, in einem ununterbrochenen, aber unendlichenProgressus, gleich zu werden streben sollen. Könntenämlich ein vernünftig Geschöpf jemals dahin kom-men, alle moralische Gesetze völlig gerne zu tun, sowürde das so viel bedeuten, als, es fände sich in ihmauch nicht einmal die Möglichkeit einer Begierde, dieihn zur Abweichung von ihnen reizte; denn die Über-windung einer solchen kostet dem Subjekt immerAufopferung, bedarf also Selbstzwang, d.i. innere Nö-tigung zu dem, was man nicht ganz gern tut. Zu dieserStufe der moralischen Gesinnung aber kann es einGeschöpf niemals bringen. Denn da es ein Geschöpf,mithin in Ansehung dessen, was er zur gänzlichen Zu-friedenheit mit seinem Zustande fodert, immer abhän-gig ist, so kann es niemals von Begierden und Nei-gungen ganz frei sein, die, weil sie auf physischen Ur-sachen beruhen, mit dem moralischen Gesetze, dasganz andere Quellen hat, nicht von selbst stimmen,mithin es jederzeit notwendig machen, in Rücksichtauf dieselbe, die Gesinnung seiner Maximen auf mo-ralische Nötigung, nicht auf bereitwillige Ergeben-heit, sondern auf Achtung, welche die Befolgung desGesetzes, obgleich sie ungerne geschähe, fodert, nichtauf Liebe, die keine innere Weigerung des Willensgegen das Gesetz besorgt, zu gründen, gleichwohl

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206Kant: Kritik der praktischen Vernunft

aber diese letztere, nämlich die bloße Liebe zum Ge-setze (da es alsdenn aufhören würde, Gebot zu sein,und Moralität, die nun subjektiv in Heiligkeit über-ginge, aufhören würde, Tugend zu sein) sich zum be-ständigen, obgleich unerreichbaren Ziele seiner Be-strebung zu machen. Denn an dem, was wir hoch-schätzen, aber doch (wegen des Bewußtseins unsererSchwächen) scheuen, verwandelt sich, durch die meh-rere Leichtigkeit, ihm Gnüge zu tun, die ehrfurchts-volle Scheu in Zuneigung, und Achtung in Liebe, we-nigstens würde es die Vollendung einer dem Gesetzegewidmeten Gesinnung sein, wenn es jemals einemGeschöpfe möglich wäre, sie zu erreichen.

Diese Betrachtung ist hier nicht so wohl dahin ab-gezweckt, das angeführte evangelische Gebot aufdeutliche Begriffe zu bringen, um der Religions-schwärmerei in Ansehung der Liebe Gottes, sonderndie sittliche Gesinnung, auch unmittelbar in Anse-hung der Pflichten gegen Menschen, genau zu bestim-men, und einer bloß moralischen Schwärmerei, wel-che viel Köpfe ansteckt, zu steuren, oder, wo möglich,vorzubeugen. Die sittliche Stufe, worauf der Mensch(aller unserer Einsicht nach auch jedes vernünftigeGeschöpf) steht, ist Achtung fürs moralische Gesetz.Die Gesinnung, die ihm, dieses zu befolgen, obliegt,ist, es aus Pflicht, nicht aus freiwilliger Zuneigungund auch allenfalls unbefohlener von selbst gern

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207Kant: Kritik der praktischen Vernunft

unternommener Bestrebung zu befolgen, und sein mo-ralischer Zustand, darin er jedesmal sein kann, ist Tu-gend, d.i. moralische Gesinnung im Kampfe, undnicht Heiligkeit im vermeinten Besitze einer völligenReinigkeit der Gesinnungen des Willens. Es ist lautermoralische Schwärmerei und Steigerung des Eigen-dünkels, wozu man die Gemüter durch Aufmunterungzu Handlungen, als edler, erhabener und großmütiger,stimmt, dadurch man sie in den Wahn versetzt, alswäre es nicht Pflicht, d.i. Achtung fürs Gesetz, dessenJoch (das gleichwohl, weil es uns Vernunft selbst auf-erlegt, sanft ist) sie, wenn gleich ungern, tragen müß-ten, was den Bestimmungsgrund ihrer Handlungenausmachte, und welches sie immer noch demütigt,indem sie es befolgen (ihm gehorchen), sondern alsob jene Handlungen nicht aus Pflicht, sondern alsbarer Verdienst von ihnen erwartet würde. Denn nichtallein, daß sie durch Nachahmung solcher Taten,nämlich aus solchem Prinzip, nicht im mindesten demGeiste des Gesetzes ein Genüge getan hätten, welcherin der dem Gesetze sich unterwerfenden Gesinnung,nicht in der Gesetzmäßigkeit der Handlung (das Prin-zip möge sein, welches auch wolle), besteht, und dieTriebfeder pathologisch (in der Sympathie oder auchPhilautie), nicht moralisch (im Gesetze) setzen, sobringen sie auf diese Art eine windige, überfliegende,phantastische Denkungsart hervor, sich mit einer

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208Kant: Kritik der praktischen Vernunft

freiwilligen Gutartigkeit ihres Gemüts, das wederSporns noch Zügel bedürfe, für welches gar nicht ein-mal ein Gebot nötig sei, zu schmeicheln, und darüberihrer Schuldigkeit, an welche sie doch eher denkensollten, als an Verdienst, zu vergessen. Es lassen sichwohl Handlungen anderer, die mit großer Aufopfe-rung, und zwar bloß um der Pflicht willen, geschehensind, unter dem Namen edler und erhabener Tatenpreisen, und doch auch nur so fern Spuren da sind,welche vermuten lassen, daß sie ganz aus Achtung fürseine Pflicht, nicht aus Herzensaufwallungen gesche-hen sind. Will man jemanden aber sie als Beispieleder Nachfolge vorstellen, so muß durchaus die Ach-tung für Pflicht (als das einzige echte, moralische Ge-fühl) zur Triebfeder gebraucht werden: diese ernste,heilige Vorschrift, die es nicht unserer eitelen Selbst-liebe überläßt, mit pathologischen Antrieben (so fernsie der Moralität analogisch sind) zu tändeln, und unsauf verdienstlichenWert was zu Gute zu tun. Wennwir nur wohl nachsuchen, so werden wir zu allenHandlungen, die anpreisungswürdig sind, schon einGesetz der Pflicht finden, welches gebietet und nichtauf unser Belieben ankommen läßt, was unseremHange gefällig sein möchte. Das ist die einzige Dar-stellungsart, welche die Seele moralisch bildet, weilsie allein fester und genau bestimmter Grundsätzefähig ist.

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208Kant: Kritik der praktischen Vernunft

Wenn Schwärmerei in der allergemeinsten Bedeu-tung eine nach Grundsätzen unternommene Über-schreitung der Grenzen der menschlichen Vernunftist, so ist moralische Schwärmerei diese Überschrei-tung der Grenzen, die die praktische reine Vernunftder Menschheit setzt, dadurch sie verbietet, den sub-jektiven Bestimmungsgrund pflichtmäßiger Handlun-gen, d.i. die moralische Triebfeder derselben, irgendworin anders, als im Gesetze selbst, und die Gesin-nung, die dadurch in die Maximen gebracht wird, ir-gend anderwärts, als in der Achtung für dies Gesetz,zu setzen, mithin den alle Arroganz sowohl als eitelePhilautie niederschlagenden Gedanken von Pflichtzum obersten Lebensprinzip aller Moralität im Men-schen zu machen gebietet.

Wenn dem also ist, so haben nicht allein Roman-schreiber, oder empfindelnde Erzieher (ob sie gleichnoch so sehr wider Empfindelei eifern), sondern bis-weilen selbst Philosophen, ja die strengsten unterallen, die Stoiker, moralische Schwärmerei, stattnüchterner, aber weiser Disziplin der Sitten, einge-führt, wenn gleich die Schwärmerei der letzteren mehrheroisch, der ersteren von schaler und schmelzenderBeschaffenheit war, und man kann es, ohne zu heu-cheln, der moralischen Lehre des Evangelii mit allerWahrheit nachsagen: daß es zuerst, durch die Reinig-keit des moralischen Prinzips, zugleich aber durch die

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209Kant: Kritik der praktischen Vernunft

Angemessenheit desselben mit den Schranken endli-cher Wesen, alles Wohlverhalten des Menschen derZucht einer ihnen vor Augen gelegten Pflicht, die sienicht unter moralischen geträumten Vollkommenhei-ten schwärmen läßt, unterworfen und dem Eigendün-kel sowohl als der Eigenliebe, die beide gerne ihreGrenzen verkennen, Schranken der Demut (d.i. derSelbsterkenntnis) gesetzt habe.Pflicht! du erhabener großer Name, der du nichts

Beliebtes, was Einschmeichelung bei sich führt, in dirfassest, sondern Unterwerfung verlangst, doch auchnichts drohest, was natürliche Abneigung im Gemüteerregte und schreckte, um den Willen zu bewegen,sondern bloß ein Gesetz aufstellst, welches von selbstim Gemüte Eingang findet, und doch sich selbst widerWillen Verehrung (wenn gleich nicht immer Befol-gung) erwirbt, vor dem alle Neigungen verstummen,wenn sie gleich in Geheim ihm entgegen wirken, wel-ches ist der deiner würdige Ursprung, und wo findetman die Wurzel deiner edlen Abkunft, welche alleVerwandtschaft mit Neigungen stolz ausschlägt, undvon welcher Wurzel abzustammen die unnachlaßlicheBedingung desjenigen Werts ist, den sich Menschenallein selbst geben können?

Es kann nichts Minderes sein, als was den Men-schen über sich selbst (als einen Teil der Sinnenwelt)erhebt, was ihn an eine Ordnung der Dinge knüpft,

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209Kant: Kritik der praktischen Vernunft

die nur der Verstand denken kann, und die zugleichdie ganze Sinnenwelt, mit ihr das empi-risch-bestimmbare Dasein des Menschen in der Zeitund das Ganze aller Zwecke (welches allein solchenunbedingten praktischen Gesetzen, als das morali-sche, angemessen ist) unter sich hat. Es ist nichts an-ders als die Persönlichkeit, d.i. die Freiheit und Un-abhängigkeit von dem Mechanism der ganzen Natur,doch zugleich als ein Vermögen eines Wesens be-trachtet, welches eigentümlichen, nämlich von seinereigenen Vernunft gegebenen reinen praktischen Ge-setzen, die Person also, als zur Sinnenwelt gehörig,ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist, so fernsie zugleich zur intelligibelen Welt gehört; da es dennnicht zu verwundern ist, wenn der Mensch, als zu bei-den Welten gehörig, sein eigenes Wesen, in Bezie-hung auf seine zweite und höchste Bestimmung, nichtanders, als mit Verehrung und die Gesetze derselbenmit der höchsten Achtung betrachten muß.

Auf diesen Ursprung gründen sich nun mancheAusdrücke, welche den Wert der Gegenstände nachmoralischen Ideen bezeichnen. Das moralische Gesetzist heilig (unverletzlich). Der Mensch ist zwar unhei-lig genug, aber die Menschheit in seiner Person mußihm heilig sein. In der ganzen Schöpfung kann alles,was man will, und worüber man etwas vermag, auchbloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch,

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und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf, ist Zweck ansich selbst. Er ist nämlich das Subjekt des morali-schen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Auto-nomie seiner Freiheit. Eben um dieser willen ist jederWille, selbst jeder Person ihr eigener, auf sie selbstgerichteter Wille, auf die Bedingung der Einstimmungmit der Autonomie des vernünftigen Wesens einge-schränkt, es nämlich keiner Absicht zu unterwerfen,die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Wil-len des leidenden Subjekts selbst entspringen könnte,möglich ist; also dieses niemals bloß als Mittel, son-dern zugleich selbst als Zweck zu gebrauchen. DieseBedingung legen wir mit Recht sogar dem göttlichenWillen, in Ansehung der vernünftigen Wesen in derWelt, als seiner Geschöpfe, bei, indem sie auf derPersönlichkeit derselben beruht, dadurch allein sieZwecke an sich selbst sind.

Diese Achtung erweckende Idee der Persönlichkeit,welche uns die Erhabenheit unserer Natur (ihrer Be-stimmung nach) vor Augen stellt, indem sie uns zu-gleich den Mangel der Angemessenheit unseres Ver-haltens in Ansehung derselben bemerken läßt, und da-durch den Eigendünkel niederschlägt, ist selbst dergemeinsten Menschenvernunft natürlich und leicht be-merklich. Hat nicht jeder auch nur mittelmäßig ehrli-cher Mann bisweilen gefunden, daß er eine sonst un-schädliche Lüge, dadurch er sich entweder selbst aus

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einem verdrießlichen Handel ziehen, oder wohl gareinem geliebten und verdienstvollen Freunde Nutzenschaffen konnte, bloß darum unterließ, um sich in Ge-heim in seinen eigenen Augen nicht verachten zu dür-fen? Hält nicht einen rechtschaffenen Mann im größ-ten Unglücke des Lebens, das er vermeiden konnte,wenn er sich nur hätte über die Pflicht wegsetzen kön-nen, noch das Bewußtsein aufrecht, daß er dieMenschheit in seiner Person doch in ihrer Würde er-halten und geehrt habe, daß er sich nicht vor sichselbst zu schämen und den inneren Anblick derSelbstprüfung zu scheuen Ursache habe? Dieser Trostist nicht Glückseligkeit, auch nicht der mindeste Teilderselben. Denn niemand wird sich die Gelegenheitdazu, auch vielleicht nicht einmal ein Leben in sol-chen Umständen wünschen. Aber er lebt, und kann esnicht erdulden, in seinen eigenen Augen des Lebensunwürdig zu sein. Diese innere Beruhigung ist alsobloß negativ, in Ansehung alles dessen, was dasLeben angenehm machen mag; nämlich sie ist die Ab-haltung der Gefahr, im persönlichen Werte zu sinken,nachdem der seines Zustandes von ihm schon gänz-lich aufgegeben worden. Sie ist die Wirkung voneiner Achtung für etwas ganz anderes, als das Leben,womit in Vergleichung und Entgegensetzung dasLeben vielmehr, mit aller seiner Annehmlichkeit, garkeinen Wert hat. Er lebt nur noch aus Pflicht, nicht

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weil er am Leben den mindesten Geschmack findet.So ist die echte Triebfeder der reinen praktischen

Vernunft beschaffen; sie ist keine andere, als das reinemoralische Gesetz selber, so fern es uns die Erhaben-heit unserer eigenen übersinnlichen Existenz spürenläßt, und subjektiv, in Menschen, die sich zugleichihres sinnlichen Daseins und der damit verbundenenAbhängigkeit von ihrer so fern sehr pathologisch affi-zierten Natur bewußt sind, Achtung für ihre höhereBestimmung wirkt. Nun lassen sich mit dieser Trieb-feder gar wohl so viele Reize und Annehmlichkeitendes Lebens verbinden, daß auch um dieser willen al-lein schon die klügste Wahl eines vernünftigen undüber das größte Wohl des Lebens nachdenkendenEpikureers sich für das sittliche Wohlverhalten erklä-ren würde, und es kann auch ratsam sein, diese Aus-sicht auf einen fröhlichen Genuß des Lebens mit jenerobersten und schon für sich allein hinläng-lich-bestimmenden Bewegursache zu verbinden; abernur um den Anlockungen, die das Laster auf der Ge-genseite vorzuspiegeln nicht ermangelt, das Gegenge-wicht zu halten, nicht um hierin die eigentliche bewe-gende Kraft, auch nicht dem mindesten Teile nach, zusetzen, wenn von Pflicht die Rede ist. Denn daswürde so viel sein, als die moralische Gesinnung inihrer Quelle verunreinigen wollen. Die Ehrwürdigkeitder Pflicht hat nichts mit Lebensgenuß zu schaffen;

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sie hat ihr eigentümliches Gesetz, auch ihr eigentüm-liches Gericht, und wenn man auch beide noch so sehrzusammenschütteln wollte, um sie vermischt, gleich-sam als Arzeneimittel, der kranken Seele zuzureichen,so scheiden sie sich doch alsbald von selbst, und, tunsie es nicht, so wirkt das erste gar nicht, wenn aberauch das physische Leben hiebei einige Kraft ge-wönne, so würde doch das moralische ohne Rettungdahin schwinden.

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Kritische Beleuchtung der Analytik der reinenpraktischen Vernunft

Ich verstehe unter der kritischen Beleuchtung einerWissenschaft, oder eines Abschnitts derselben, der fürsich ein System ausmacht, die Untersuchung undRechtfertigung, warum sie gerade diese und keine an-dere systematische Form haben müsse, wenn man siemit einem anderen System vergleicht, das ein ähnli-ches Erkenntnisvermögen zum Grunde hat. Nun hatpraktische Vernunft mit der spekulativen so fern ei-nerlei Erkenntnisvermögen zum Grunde, als beidereine Vernunft sind. Also wird der Unterschied dersystematischen Form der einen, von der anderen,durch Vergleichung beider bestimmt und Grunddavon angegeben werden müssen.

Die Analytik der reinen theoretischen Vernunfthatte es mit dem Erkenntnisse der Gegenstände, diedem Verstande gegeben werden mögen, zu tun, undmußte also von der Anschauung, mithin (weil diesejederzeit sinnlich ist) von der Sinnlichkeit anfangen,von da aber allererst zu Begriffen (der Gegenständedieser Anschauung) fortschreiten, und durfte, nur nachbeider Voranschickung, mit Grundsätzen endigen.Dagegen, weil praktische Vernunft es nicht mit Ge-genständen, sie zu erkennen, sondern mit ihrem

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eigenen Vermögen, jene (der Erkenntnis derselbengemäß) wirklich zu machen, d.i. es mit einem Willenzu tun hat, welcher eine Kausalität ist, so fern Ver-nunft den Bestimmungsgrund derselben enthält, da siefolglich kein Objekt der Anschauung, sondern (weilder Begriff der Kausalität jederzeit die Beziehung aufein Gesetz enthält, welches die Existenz des Mannig-faltigen im Verhältnisse zu einander bestimmt), alspraktische Vernunft, nur ein Gesetz derselben anzu-geben hat: so muß eine Kritik der Analytik derselben,so fern sie eine praktische Vernunft sein soll (welchesdie eigentliche Aufgabe ist), von derMöglichkeitpraktischer Grundsätze a priori anfangen. Von dakonnte sie allein zu Begriffen der Gegenstände einerpraktischen Vernunft, nämlich denen des schlecht-hin-Guten und Bösen fortgehen, um sie jenen Grund-sätzen gemäß allererst zu geben (denn diese sind vorjenen Prinzipien als Gutes und Böses durch gar keinErkenntnisvermögen zu geben möglich), und nur als-denn konnte allererst das letzte Hauptstück, nämlichdas von dem Verhältnisse der reinen praktischen Ver-nunft zur Sinnlichkeit und ihrem notwendigen, a prio-ri zu erkennenden Einflusse auf dieselbe, d.i. vommoralischen Gefühle, den Teil beschließen. So teiletedenn die Analytik der praktischen reinen Vernunftganz analogisch mit der theoretischen den ganzenUmfang aller Bedingungen ihres Gebrauchs, aber in

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umgekehrter Ordnung. Die Analytik der theoretischenreinen Vernunft wurde in transzendentale Ästhetikund transzendentale Logik eingeteilt, die der prakti-schen umgekehrt in Logik und Ästhetik der reinenpraktischen Vernunft (wenn es mir erlaubt ist, diesesonst gar nicht angemessene Benennungen, bloß derAnalogie wegen, hier zu gebrauchen), die Logik wie-derum dort in die Analytik der Begriffe und die derGrundsätze, hier in die der Grundsätze und Begriffe.Die Ästhetik hatte dort noch zwei Teile, wegen derdoppelten Art einer sinnlichen Anschauung; hier wirddie Sinnlichkeit gar nicht als Anschauungsfähigkeit,sondern bloß als Gefühl (das ein subjektiver Grunddes Begehrens sein kann) betrachtet, und in Ansehungdessen verstattet die reine praktische Vernunft keineweitere Einteilung.

Auch, daß diese Einteilung in zwei Teile mit derenUnterabteilung nicht wirklich (so wie man wohl imAnfange durch das Beispiel der ersteren verleitet wer-den konnte, zu versuchen) hier vorgenommen wurde,davon läßt sich auch der Grund gar wohl einsehen.Denn weil es reine Vernunft ist, die hier in ihrempraktischen Gebrauche, mithin von Grundsätzen apriori und nicht von empirischen Bestimmungsgrün-den ausgehend, betrachtet wird: so wird die Eintei-lung der Analytik der r. pr. V. der eines Vernunft-schlusses ähnlich ausfallen müssen, nämlich vom

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Allgemeinen im Obersatze (dem moralischen Prin-zip), durch eine im Untersatze vorgenommene Sub-sumtion möglicher Handlungen (als guter oderböser)unter jenen, zu dem Schlußsatze, nämlich dersubjektiven Willensbestimmung (einem Interesse andem praktisch-möglichen Guten und der darauf ge-gründeten Maxime) fortgehend. Demjenigen, der sichvon den in der Analytik vorkommenden Sätzen hatüberzeugen können, werden solche VergleichungenVergnügen machen; denn sie veranlassen mit Rechtdie Erwartung, es vielleicht dereinst bis zur Einsichtder Einheit des ganzen reinen Vernunftvermögens(des theoretischen sowohl als praktischen) bringen,und alles aus einem Prinzip ableiten zu können; wel-ches das unvermeidliche Bedürfnis der menschlichenVernunft ist, die nur in einer vollständig systemati-schen Einheit ihrer Erkenntnisse völlige Zufriedenheitfindet.

Betrachten wir nun aller auch den Inhalt der Er-kenntnis, die wir von einer reinen praktischen Ver-nunft, und durch dieselbe, haben können, so wie ihndie Analytik derselben darlegt, so finden sich, beieiner merkwürdigen Analogie zwischen ihr und dertheoretischen, nicht weniger merkwürdige Unterschie-de. In Ansehung der theoretischen könnte das Vermö-gen eines reinen Vernunfterkenntnisses a prioridurch Beispiele aus Wissenschaften (bei denen man,

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da sie ihre Prinzipien auf so mancherlei Art durch me-thodischen Gebrauch auf die Probe stellen, nicht soleicht, wie im gemeinen Erkenntnisse, geheime Bei-mischung empirischer Erkenntnisgründe zu besorgenhat) ganz leicht und evident bewiesen werden. Aberdaß reine Vernunft, ohne Beimischung irgend einesempirischen Bestimmungsgrundes, für sich alleinauch praktisch sei, das mußte man aus dem gemein-sten praktischen Vernunftgebrauche dartun können,indem man den obersten praktischen Grundsatz, alseinen solchen, den jede natürliche Menschenvernunft,als völlig a priori, von keinen sinnlichen Datis abhän-gend, für das oberste Gesetz seines Willens erkennt,beglaubigte. Man mußte ihn zuerst, der Reinigkeitseines Ursprungs nach, selbst im Urteile dieser ge-meinen Vernunft bewähren und rechtfertigen, ehe ihnnoch die Wissenschaft in die Hände nehmen konnte,um Gebrauch von ihm zu machen, gleichsam als einFaktum, das vor allem Vernünfteln über seine Mög-lichkeit und allen Folgerungen, die daraus zu ziehensein möchten, vorhergeht. Aber dieser Umstand läßtsich auch aus dem kurz vorher Angeführten gar wohlerklären; weil praktische reine Vernunft notwendigvon Grundsätzen anfangen muß, die also aller Wis-senschaft, als erste Data, zum Grunde gelegt werdenmüssen, und nicht allererst aus ihr entspringen kön-nen. Diese Rechtfertigung der moralischen Prinzipien,

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als Grundsätze einer reinen Vernunft, konnte aberauch darum gar wohl, und mit gnugsamer Sicherheit,durch bloße Berufung auf das Urteil des gemeinenMenschenverstandes geführet werden, weil sich allesEmpirische, was sich als Bestimmungsgrund des Wil-lens in unsere Maximen einschleichen möchte, durchdas Gefühl des Vergnügens oder Schmerzens, das ihmso fern, als es Begierde erregt, notwendig anhängt, so-fort kenntlich macht, diesem aber jene reine prakti-sche Vernunft geradezu widersteht, es in ihr Prinzip,als Bedingung, aufzunehmen. Die Ungleichartigkeitder Bestimmungsgründe (der empirischen und ratio-nalen) wird durch diese Widerstrebung einer prak-tisch-gesetzgebenden Vernunft, wider alle sich ein-mengende Neigung, durch eine eigentümliche Art vonEmpfindung, welche aber nicht vor der Gesetzgebungder praktischen Vernunft vorhergeht, sondern viel-mehr durch dieselbe allein und zwar als ein Zwanggewirkt wird, nämlich durch das Gefühl einer Ach-tung, dergleichen kein Mensch für Neigungen hat, siemögen sein, welcher Art sie wollen, wohl aber fürsGesetz, so kenntlich gemacht und so gehoben undhervorstechend, daß keiner, auch der gemeinste Men-schenverstand, in einem vorgelegten Beispiele nichtden Augenblick inne werden sollte, daß durch empiri-sche Gründe des Wollens ihm zwar ihren Anreizen zufolgen geraten, niemals aber einem anderen, als

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lediglich dem reinen praktischen Vernunftgesetze, zugehorchen zugemutet werden könne.

Die Unterscheidung der Glückseligkeit sichre vonder Sittenlehre, in derer ersteren empirische Prinzipi-en das ganze Fundament, von der zweiten aber auchnicht den mindesten Beisatz derselben ausmachen, istnun in der Analytik der reinen praktischen Vernunftdie erste und wichtigste ihr obliegende Beschäftigung,in der sie so pünktlich, ja, wenn es auch hieße, pein-lich, verfahren muß, als je der Geometer in seinemGeschäfte. Es kommt aber dem Philosophen, der hier(wie jederzeit im Vernunfterkenntnisse durch bloßeBegriffe, ohne Konstruktion derselben) mit größererSchwierigkeit zu kämpfen hat, weil er keine Anschau-ung (reinem Noumen) zum Grunde legen kann, dochauch zu statten: daß er, beinahe wie der Chemist, zualler Zeit ein Experiment mit jedes Menschen prakti-scher Vernunft anstellen kann, um den moralischen(reinen) Bestimmungsgrund vom empirischen zu un-terscheiden; wenn er nämlich zu dem empi-risch-affizierten Willen (z.B. desjenigen, der gernelügen möchte, weil er sich dadurch was erwerbenkann) das moralische Gesetz (als Bestimmungsgrund)zusetzt. Es ist, als ob der Scheidekünstler der Soluti-on der Kalkerde in Salzgeist Alkali zusetzt; der Salz-geist verläßt so fort den Kalk, vereinigt sich mit demAlkali, und jener wird zu Boden gestürzt. Eben so

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haltet dem, der sonst ein ehrlicher Mann ist (oder sichdoch diesmal nur in Gedanken in die Stelle eines ehr-lichen Mannes versetzt), das moralische Gesetz vor,an dem er die Nichtswürdigkeit eines Lügners er-kennt, so fort verläßt seine praktische Vernunft (imUrteil über das, was von ihm geschehen sollte) denVorteil, vereinigt sich mit dem, was ihm die Achtungfür seine eigene Person erhält (der Wahrhaftigkeit),und der Vorteil wird nun von jedermann, nachdem ervon allem Anhängsel der Vernunft (welche nur gänz-lich auf der Seite der Pflicht ist) abgesondert und ge-waschen worden, gewogen, um mit der Vernunft nochwohl in anderen Fällen in Verbindung zu treten, nurnicht, wo er dem moralischen Gesetze, welches dieVernunft niemals verläßt, sondern sich innigst damitvereinigt, zuwider sein könnte.

Aber diese Unterscheidung des Glückseligkeits-prinzips von dem der Sittlichkeit ist darum nicht sofort Entgegensetzung beider, und die reine praktischeVernunft will nicht, man solle die Ansprüche aufGlückseligkeit aufgeben, sondern nur, so bald vonPflicht die Rede ist, darauf gar nicht Rücksicht neh-men. Es kann sogar in gewissem Betracht Pflicht sein,für seine Glückseligkeit zu sorgen; teils weil sie(wozu Geschicklichkeit, Gesundheit, Reichtum ge-hört) Mittel zu Erfüllung seiner Pflicht enthält, teilsweil der Mangel derselben (z.B. Armut)

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Versuchungen enthält, seine Pflicht zu übertreten.Nur, seine Glückseligkeit zu befördern, kann unmit-telbar niemals Pflicht, noch weniger ein Prinzip allerPflicht sein. Da nun alle Bestimmungsgründe desWillens, außer dem einigen reinen praktischen Ver-nunftgesetze (dem moralischen), insgesamt empirischsind, als solche also zum Glückseligkeitsprinzip ge-hören, so müssen sie insgesamt vom obersten sittli-chen Grundsatze abgesondert, und ihm nie als Bedin-gung einverleibt werden, weil dieses eben so sehrallen sittlichen Wert, als empirische Beimischung zugeometrischen Grundsätzen alle mathematische Evi-denz, das Vortrefflichste, was (nach Platos Urteile)die Mathematik an sich hat, und das selbst allem Nut-zen derselben vorgeht, aufheben würde.

Statt der Deduktion des obersten Prinzips der rei-nen praktischen Vernunft, d.i. der Erklärung der Mög-lichkeit einer dergleichen Erkenntnis a priori, konnteaber nichts weiter angeführt werden, als daß, wennman die Möglichkeit der Freiheit einer wirkenden Ur-sache einsähe, man auch, nicht etwa bloß die Mög-lichkeit, sondern gar die Notwendigkeit des morali-schen Gesetzes, als obersten praktischen Gesetzesvernünftiger Wesen, denen man Freiheit der Kausali-tät ihres Willens beilegt, einsehen würde; weil beideBegriffe so unzertrennlich verbunden sind, daß manpraktische Freiheit auch durch Unabhängigkeit des

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Willens, von jedem anderen, außer allein dem morali-schen Gesetze, definieren könnte. Allein die Freiheiteiner wirkenden Ursache, vornehmlich in der Sinnen-welt, kann ihrer Möglichkeit nach keinesweges einge-sehen werden; glücklich! wenn wir nur, daß kein Be-weis ihrer Unmöglichkeit stattfindet, hinreichend ver-sichert werden können, und nun, durchs moralischeGesetz, welches dieselbe postuliert, genötigt, eben da-durch auch berechtigt werden, sie anzunehmen. Weiles indessen noch viele gibt, welche diese Freiheitnoch immer glauben nach empirischen Prinzipien, wiejedes andere Naturvermögen, erklären zu können, undsie als psychologische Eigenschaft, deren Erklärunglediglich auf einer genaueren Untersuchung der Naturder Seele und der Triebfeder des Willens ankäme,nicht als transzendentales Prädikat der Kausalitäteines Wesens, das zur Sinnenwelt gehört (wie es dochhierauf wirklich allein ankommt), betrachten, und sodie herrliche Eröffnung, die uns durch reine prakti-sche Vernunft vermittelst des moralischen Gesetzeswiderfährt, nämlich die Eröffnung einer intelligibelenWelt, durch Realisierung des sonst transzendentenBegriffs der Freiheit und hiemit das moralische Ge-setz selbst, welches durchaus keinen empirischen Be-stimmungsgrund annimmt, aufheben: so wird es nötigsein, hier noch etwas zur Verwahrung wider diesesBlendwerk, und der Darstellung des Empirismus in

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der ganzen Blöße seiner Seichtigkeit anzuführen.Der Begriff der Kausalität, als Naturnotwendig-

keit, zum Unterschiede derselben, als Freiheit, betrifftnur die Existenz der Dinge, so fern sie in der Zeit be-stimmbar ist, folglich als Erscheinungen, im Gegen-satze ihrer Kausalität, als Dinge an sich selbst.Nimmt man nun die Bestimmungen der Existenz derDinge in der Zeit für Bestimmungen der Dinge ansich selbst (welches die gewöhnlichste Vorstellungs-art ist), so läßt sich die Notwendigkeit in Kausalver-hältnisse mit der Freiheit auf keinerlei Weise vereini-gen; sondern sie sind einander kontradiktorisch entge-gengesetzt. Denn aus der ersteren folgt: daß eine jedeBegebenheit, folglich auch jede Handlung, die ineinem Zeitpunkte vorgeht, unter der Bedingung des-sen, was in der vorhergehenden Zeit war, notwendigsei. Da nun die vergangene Zeit nicht mehr in meinerGewalt ist, so muß jede Handlung, die ich ausübe,durch bestimmende Gründe, die nicht in meiner Ge-walt sein, notwendig sein, d.i. ich bin in dem Zeit-punkte, darin ich handle, niemals frei. Ja, wenn ichgleich mein ganzes Dasein als unabhängig von irgendeiner fremden Ursache (etwa von Gott) annähme, sodaß die Bestimmungsgründe meiner Kausalität, so garmeiner ganzen Existenz, gar nicht außer mir wären:so würde dieses jene Naturnotwendigkeit doch nichtim mindesten in Freiheit verwandeln. Denn in jedem

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Zeitpunkte stehe ich doch immer unter der Notwen-digkeit, durch das zum Handeln bestimmt zu sein,was nicht in meiner Gewalt ist, und die a parte prioriunendliche Reihe der Begebenheiten, die ich immernur, nach einer schon vorherbestimmten Ordnung,fortsetzen, nirgend von selbst anfangen würde, wäreeine stetige Naturkette, meine Kausalität also niemalsFreiheit.

Will man also einem Wesen, dessen Dasein in derZeit bestimmt ist, Freiheit beilegen: so kann man es,so fern wenigstens, vom Gesetze der Naturnotwendig-keit aller Begebenheiten in seiner Existenz, mithinauch seiner Handlungen, nicht ausnehmen; denn daswäre so viel, als es dem blinden Ungefähr übergeben.Da dieses Gesetz aber unvermeidlich alle Kausalitätder Dinge, so fern ihr Dasein in der Zeit bestimmbarist, betrifft, so würde, wenn dieses die Art wäre, wor-nach man sich auch das Dasein dieser Dinge an sichselbst vorzustellen hätte, die Freiheit, als ein nichtigerund unmöglicher Begriff verworfen werden müssen.Folglich, wenn man sie noch retten will, so bleibtkein Weg übrig, als das Dasein eines Dinges, so fernes in der Zeit bestimmbar ist, folglich auch die Kausa-lität nach dem Gesetze der Naturnotwendigkeit, bloßder Erscheinung, die Freiheit aber eben demselbenWesen, als Dinge an sich selbst, beizulegen. So ist esallerdings unvermeidlich, wenn man beide einander

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widerwärtige Begriffe zugleich erhalten will; allein inder Anwendung, wenn man sie als in einer und dersel-ben Handlung vereinigt, und also diese Vereinigungselbst erklären will, tun sich doch große Schwierig-keiten hervor, die eine solche Vereinigung untunlichzu machen scheinen.

Wenn ich von einem Menschen, der einen Dieb-stahl verübt, sage: diese Tat sei nach dem Naturgeset-ze der Kausalität aus den Bestimmungsgründen dervorhergehenden Zeit ein notwendiger Erfolg, so wares unmöglich, daß sie hat unterbleiben können; wiekann denn die Beurteilung nach dem moralischen Ge-setze hierin eine Änderung machen, und voraussetzen,daß sie doch habe unterlassen werden können, weildas Gesetz sagt, sie hätte unterlassen werden sollen,d.i. wie kann derjenige, in demselben Zeitpunkte, inAbsicht auf dieselbe Handlung, ganz frei heißen, inwelchem, und in derselben Absicht, er doch untereiner unvermeidlichen Naturnotwendigkeit steht? EineAusflucht darin suchen, daß man bloß die Art der Be-stimmungsgründe seiner Kausalität nach dem Natur-gesetze einem komparativen Begriffe von Freiheit an-paßt (nach welchem das bisweilen freie Wirkungheißt, davon der bestimmende Naturgrund innerlichim wirkenden Wesen liegt, z.B. das, was ein geworfe-ner Körper verrichtet, wenn er in freier Bewegung ist,da man das Wort Freiheit braucht, weil er, während

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daß er im Fluge ist, nicht von außen wodurch getrie-ben wird, oder wie wir die Bewegung einer Uhr aucheine freie Bewegung nennen, weil sie ihren Zeigerselbst treibt, der also nicht äußerlich geschoben wer-den darf, eben so die Handlungen des Menschen, obsie gleich, durch ihre Bestimmungsgründe, die in derZeit vorhergehen, notwendig sind, dennoch frei nen-nen, weil es doch innere durch unsere eigene Kräftehervorgebrachte Vorstellungen, dadurch nach veran-lassenden Umständen erzeugte Begierden und mithinnach unserem eigenen Belieben bewirkte Handlungensind), ist ein elender Behelf, womit sich noch immereinige hinhalten lassen, und so jenes schwere Problemmit einer kleinen Wortklauberei aufgelöset zu habenmeinen, an dessen Auflösung Jahrtausende vergeblichgearbeitet haben, die daher wohl schwerlich so ganzauf der Oberfläche gefunden werden dürfte. Es kommtnämlich bei der Frage nach derjenigen Freiheit, dieallen moralischen Gesetzen und der ihnen gemäßenZurechnung zum Grunde gelegt werden muß, daraufgar nicht an, ob die nach einem Naturgesetze be-stimmte Kausalität durch Bestimmungsgründe, die imSubjekte, oder außer ihm liegen, und im ersteren Fall,ob sie durch Instinkt oder mit Vernunft gedachte Be-stimmungsgründe notwendig sei; wenn diese bestim-mende Vorstellungen, nach dem Geständnisse ebendieser Männer selbst, den Grund ihrer Existenz doch

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221Kant: Kritik der praktischen Vernunft

in der Zeit und zwar dem vorigen Zustande haben,dieser aber wieder in einem vorhergehenden etc., somögen sie, diese Bestimmungen, immer innerlichsein, sie mögen psychologische und nicht mechani-sche Kausalität haben, d.i. durch Vorstellungen, undnicht durch körperliche Bewegung, Handlung hervor-bringen, so sind es immer Bestimmungsgründe derKausalität eines Wesens, so fern sein Dasein in derZeit bestimmbar ist, mithin unter notwendig machen-den Bedingungen der vergangenen Zeit, die also,wenn das Subjekt handeln soll, nicht mehr in seinerGewalt sind, die also zwar psychologische Frei-heit(wenn man ja dieses Wort von einer bloß innerenVerkettung der Vorstellungen der Seele brauchenwill), aber doch Naturnotwendigkeit bei sich führen,mithin keine transzendentale Freiheit übrig lassen,welche als Unabhängigkeit von allem Empirischenund also von der Natur überhaupt gedacht werdenmuß, sie mag nun Gegenstand des inneren Sinnes,bloß in der Zeit, oder auch äußeren Sinne, im Raumeund der Zeit zugleich betrachtet werden, ohne welcheFreiheit (in der letzteren eigentlichen Bedeutung), dieallein a priori praktisch ist, kein moralisch Gesetz,keine Zurechnung nach demselben, möglich ist. Ebenum deswillen kann man auch alle Notwendigkeit derBegebenheiten in der Zeit, nach dem Naturgesetze derKausalität, denMechanismus der Natur nennen, ob

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man gleich darunter nicht versteht, daß Dinge, dieihm unterworfen sind, wirkliche materielleMaschi-nen sein müßten. Hier wird nur auf die Notwendigkeitder Verknüpfung der Begebenheiten in einer Zeit-reihe, so wie sie sich nach dem Naturgesetze ent-wickelt, gesehen, man mag nun das Subjekt, in wel-chem dieser Ablauf geschieht, automaton materiale,da das Maschinenwesen durch Materie, oder mitLeibnizen spirituale, da es durch Vorstellungen be-trieben wird, nennen, und wenn die Freiheit unseresWillens keine andere als die letztere (etwa die psycho-logische und komparative, nicht transzendentale, d.i.absolute zugleich) wäre, so würde sie im Grundenichts besser, als die Freiheit eines Bratenwenderssein, der auch, wenn er einmal aufgezogen worden,von selbst seine Bewegungen verrichtet.

Um nun den scheinbaren Widerspruch zwischenNaturmechanismus und Freiheit in ein und derselbenHandlung an dem vorgelegten Falle aufzuheben, mußman sich an das erinnern, was in der Kritik der reinenVernunft gesagt war, oder daraus folgt: daß die Na-turnotwendigkeit, welche mit der Freiheit des Sub-jekts nicht zusammen bestehen kann, bloß den Be-stimmungen desjenigen Dinges anhängt, das unterZeitbedingungen steht, folglich nur dem des handeln-den Subjekts als Erscheinung, daß also so fern dieBestimmungsgründe einer jeden Handlung desselben

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in demjenigen liegen, was zur vergangenen Zeit ge-hört, und nicht mehr in seiner Gewalt ist (wozu auchseine schon begangene Taten, und der ihm dadurchbestimmbare Charakter in seinen eigenen Augen, alsPhänomens, gezählt werden müssen). Aber ebendas-selbe Subjekt, das sich anderseits auch seiner, alsDinges an sich selbst, bewußt ist, betrachtet auch seinDasein, so fern es nicht unter Zeitbedingungen steht,sich selbst aber nur als bestimmbar durch Gesetze,die es sich durch Vernunft selbst gibt, und in diesemseinem Dasein ist ihm nichts vorhergehend vor seinerWillensbestimmung, sondern jede Handlung, undüberhaupt jede dem innern Sinne gemäß wechselndeBestimmung seines Daseins, selbst die ganze Reihen-folge seiner Existenz, als Sinnenwesen, ist im Be-wußtsein seiner intelligibelen Existenz nichts alsFolge, niemals aber als Bestimmungsgrund seinerKausalität, als Noumens, anzusehen. In diesem Be-tracht nun kann das vernünftige Wesen, von einerjeden gesetzwidrigen Handlung, die es verübt, ob siegleich, als Erscheinung, in dem Vergangenen hinrei-chend bestimmt, und so fern unausbleiblich notwen-dig ist, mit Recht sagen, daß er sie hätte unterlassenkönnen; denn sie, mit allem Vergangenen, das sie be-stimmt, gehört zu einem einzigen Phänomen seinesCharakters, den er sich selbst verschafft, und nachwelchem er sich, als einer von aller Sinnlichkeit

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unabhängigen Ursache, die Kausalität jener Erschei-nungen selbst zurechnet.

Hiemit stimmen auch die Richteraussprüchedesjenigen wundersamen Vermögens in uns, welcheswir Gewissen nennen, vollkommen überein. EinMensch mag künsteln, soviel als er will, um ein ge-setzwidriges Betragen, dessen er sich erinnert, sich alsunvorsätzliches Versehen, als bloße Unbehutsamkeit,die man niemals gänzlich vermeiden kann, folglich alsetwas, worin er vom Strom der Naturnotwendigkeitfortgerissen wäre, vorzumalen und sich darüber fürschuldfrei zu erklären, so findet er doch, daß der Ad-vokat, der zu seinem Vorteil spricht, den Ankläger inihm keinesweges zum Verstummen bringen könne,wenn er sich bewußt ist, daß er zu der Zeit, als er dasUnrecht verübte, nur bei Sinnen, d.i. im Gebraucheseiner Freiheit war, und gleichwohl erklärt er sichsein Vergehen, aus gewisser übeln, durch allmählicheVernachlässigung der Achtsamkeit auf sich selbst zu-gezogener Gewohnheit, bis auf den Grad, daß er esals eine natürliche Folge derselben ansehen kann,ohne daß dieses ihn gleichwohl wider den Selbsttadelund den Verweis sichern kann, den er sich selbstmacht. Darauf gründet sich denn auch die Reue übereine längst begangene Tat bei jeder Erinnerungderselben; eine schmerzhafte, durch moralische Ge-sinnung gewirkte Empfindung, die so fern praktisch

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leer ist, als sie nicht dazu dienen kann, das Gesche-hene ungeschehen zu machen, und sogar ungereimtsein würde (wie Priestley, als ein echter, konsequentverfahrender Fatalist, sie auch dafür erklärt, und inAnsehung welcher Offenherzigkeit er mehr Beifallverdient, als diejenige, welche, indem sie den Mecha-nism des Willens in der Tat, die Freiheit desselbenaber mit Worten behaupten, noch immer dafür gehal-ten sein wollen, daß sie jene, ohne doch die Möglich-keit einer solchen Zurechnung begreiflich zu machen,in ihrem synkretistischen System mit einschließen),aber, als Schmerz, doch ganz rechtmäßig ist, weil dieVernunft, wenn es auf das Gesetz unserer intelligibe-len Existenz (das moralische) ankommt, keinen Zeit-unterschied anerkennt, und nur frägt, ob die Begeben-heit mir als Tat angehöre, alsdenn aber immer diesel-be Empfindung damit moralisch verknüpft, sie magjetzt geschehen, oder vorlängst geschehen sein. Denndas Sinnenleben hat in Ansehung des intelligibelenBewußtseins seines Daseins (der Freiheit) absoluteEinheit eines Phänomens, welches, so fern es bloß Er-scheinungen von der Gesinnung, die das moralischeGesetz angeht (von dem Charakter), enthält, nichtnach der Naturnotwendigkeit, die ihm als Erscheinungzukommt, sondern nach der absoluten Spontaneitätder Freiheit beurteilt werden muß. Man kann also ein-räumen, daß, wenn es für uns möglich wäre, in eines

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Menschen Denkungsart, so wie sie sich durch inneresowohl als äußere Handlungen zeigt, so tiefe Einsichtzu haben, daß jede, auch die mindeste Triebfeder dazuuns bekannt würde, imgleichen alle auf diese wir-kende äußere Veranlassungen, man eines MenschenVerhalten auf die Zukunft mit Gewißheit, so wie eineMond- oder Sonnenfinsternis, ausrechnen könnte, unddennoch dabei behaupten, daß der Mensch frei sei.Wenn wir nämlich noch eines andern Blicks (der unsaber freilich gar nicht verliehen ist, sondern an dessenStatt wir nur den Vernunftbegriff haben), nämlicheiner intellektuellen Anschauung desselben Subjektsfähig wären, so würden wir doch inne werden, daßdiese ganze Kette von Erscheinungen in Ansehungdessen, was nur immer das moralische Gesetz ange-hen kann, von der Spontaneität des Subjekts, als Din-ges an sich selbst, abhängt, von deren Bestimmungsich gar keine physische Erklärung geben läßt. In Er-mangelung dieser Anschauung versichert uns das mo-ralische Gesetz diesen Unterschied der Beziehung un-serer Handlungen, als Erscheinungen, auf das Sinnen-wesen unseres Subjekts, von derjenigen, dadurch die-ses Sinnenwesen selbst auf das intelligibele Substratin uns bezogen wird. - In dieser Rücksicht, die unse-rer Vernunft natürlich, obgleich unerklärlich ist, las-sen sich auch Beurteilungen rechtfertigen, die, mitaller Gewissenhaftigkeit gefället, dennoch dem ersten

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225Kant: Kritik der praktischen Vernunft

Anscheine nach aller Billigkeit ganz zu widerstreitenscheinen. Es gibt Fälle, wo Menschen von Kindheitauf, selbst unter einer Erziehung, die, mit der ihrigenzugleich, andern ersprießlich war, dennoch so früheBosheit zeigen, und so bis in ihre Mannesjahre zusteigen fortfahren, daß man sie für geborne Bösewich-ter, und gänzlich, was die Denkungsart betrifft, fürunbesserlich hält, gleichwohl aber sie wegen ihresTuns und Lassens eben so richtet, ihnen ihre Verbre-chen eben so als Schuld verweiset, ja sie (die Kinder)selbst diese Verweise so ganz gegründet finden, alsob sie, ungeachtet der ihnen beigemessenen hoff-nungslosen Naturbeschaffenheit ihres Gemüts, ebenso verantwortlich blieben, als jeder andere Mensch.Dieses würde nicht geschehen können, wenn wir nichtvoraussetzten, daß alles, was aus seiner Willkür ent-springt (wie ohne Zweifel jede vorsätzlich verübteHandlung), eine freie Kausalität zum Grunde habe,welche von der frühen Jugend an ihren Charakter inihren Erscheinungen (den Handlungen) ausdrückt, diewegen der Gleichförmigkeit des Verhaltens einen Na-turzusammenhang kenntlich machen, der aber nichtdie arge Beschaffenheit des Willens notwendig macht,sondern vielmehr die Folge der freiwillig angenomme-nen bösen und unwandelbaren Grundsätze ist, welcheihn nur noch um desto verwerflicher und strafwürdi-ger machen.

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Aber noch steht eine Schwierigkeit der Freiheitbevor, so fern sie mit dem Naturmechanism, in einemWesen, das zur Sinnenwelt gehört, vereinigt werdensoll. Eine Schwierigkeit, die, selbst nachdem allesBisherige eingewilligt worden, der Freiheit dennochmit ihrem gänzlichen Untergange droht. Aber bei die-ser Gefahr gibt ein Umstand doch zugleich Hoffnungzu einem für die Behauptung der Freiheit noch glück-lichen Ausgange, nämlich daß dieselbe Schwierigkeitviel stärker (in der Tat, wie wir bald sehen werden,allein) das System drückt, in welchem die in Zeit undRaum bestimmbare Existenz für die Existenz derDinge an sich selbst gehalten wird, sie uns also nichtnötigt, unsere vornehmste Voraussetzung von derIdealität der Zeit, als bloßer Form sinnlicher An-schauung, folglich als bloßer Vorstellungsart, die demSubjekte als zur Sinnenwelt gehörig eigen ist, abzu-gehen, und also nur erfodert, sie mit dieser Idee zuvereinigen.

Wenn man uns nämlich auch einräumt, daß das in-telligibele Subjekt in Ansehung einer gegebenenHandlung noch frei sein kann, obgleich es als Sub-jekt, das auch zur Sinnenwelt gehörig, in Ansehungderselben mechanisch bedingt ist, so scheint es doch,man müsse, so bald man annimmt, Gott, als allgemei-nes Urwesen, sei die Ursache auch der Existenz derSubstanz (ein Satz, der niemals aufgegeben werden

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darf, ohne den Begriff von Gott als Wesen allerWesen, und hiemit seine Allgenugsamkeit, auf diealles in der Theologie ankommt, zugleich mit aufzu-geben), auch einräumen: Die Handlungen des Men-schen haben in demjenigen ihren bestimmendenGrund, was gänzlich außer ihrer Gewalt ist, nämlichin der Kausalität eines von ihm unterschiedenen höch-sten Wesens, von welchem das Dasein des erstern,und die ganze Bestimmung seiner Kausalität ganzund gar abhängt. In der Tat: wären die Handlungendes Menschen, so wie sie zu seinen Bestimmungen inder Zeit gehören, nicht bloße Bestimmungen dessel-ben als Erscheinung, sondern als Dinges an sichselbst, so würde die Freiheit nicht zu retten sein. DerMensch wäre Marionette, oder ein VaucansonschesAutomat, gezimmert und aufgezogen von dem ober-sten Meister aller Kunstwerke, und das Selbstbewußt-sein würde es zwar zu einem denkenden Automatemachen, in welchem aber das Bewußtsein seinerSpontaneität, wenn sie für Freiheit gehalten wird,bloße Täuschung wäre, indem sie nur komparativ sogenannt zu werden verdient, weil die nächsten bestim-menden Ursachen seiner Bewegung, und eine langeReihe derselben zu ihren bestimmenden Ursachenhinauf, zwar innerlich sind, die letzte und höchsteaber doch gänzlich in einer fremden Hand angetroffenwird. Daher sehe ich nicht ab, wie diejenige, welche

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227Kant: Kritik der praktischen Vernunft

noch immer dabei beharren, Zeit und Raum für zumDasein der Dinge an sich selbst gehörige Bestimmun-gen anzusehen, hier die Fatalität der Handlungen ver-meiden wollen, oder, wenn sie so geradezu (wie dersonst scharfsinnige Mendelssohn tat) beide nur als zurExistenz endlicher und abgeleiteter Wesen, aber nichtzu der des unendlichen Urwesens notwendig gehörigeBedingungen einräumen, sich rechtfertigen wollen,woher sie diese Befugnis nehmen, einen solchen Un-terschied zu machen, sogar wie sie auch nur dem Wi-derspruche ausweichen wollen, den sie begehen, wennsie das Dasein in der Zeit als den endlichen Dingen ansich notwendig anhängende Bestimmung ansehen, daGott die Ursache dieses Daseins ist, er aber dochnicht die Ursache der Zeit (oder des Raums) selbstsein kann (weil diese als notwendige Bedingung apriori dem Dasein der Dinge vorausgesetzt sein muß),seine Kausalität folglich in Ansehung der Existenzdieser Dinge, selbst der Zeit nach, bedingt sein muß,wobei nun alle die Widersprüche gegen die Begriffeseiner Unendlichkeit und Unabhängigkeit unvermeid-lich eintreten müssen. Hingegen ist es uns ganz leicht,die Bestimmung der göttlichen Existenz, als unabhän-gig von allen Zeitbedingungen, zum Unterschiede vonder eines Wesens der Sinnenwelt, als die Existenzeines Wesens an sich selbst, von der eines Dinges inder Erscheinung zu unterscheiden. Daher, wenn man

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jene Idealität der Zeit und des Raums nicht annimmt,nur allein der Spinozism übrig bleibt, in welchemRaum und Zeit wesentliche Bestimmungen des Urwe-sens selbst sind, die von ihm abhängige Dinge aber(also auch wir selbst) nicht Substanzen, sondern bloßihm inhärierende Akzidenzen sind; weil, wenn dieseDinge bloß, als seine Wirkungen, in der Zeit existie-ren, welche die Bedingung ihrer Existenz an sichwäre, auch die Handlungen dieser Wesen bloß seineHandlungen sein müßten, die er irgendwo und irgend-wann ausübte. Daher schließt der Spinozism, uner-achtet der Ungereimtheit seiner Grundidee, doch weitbündiger, als es nach der Schöpfungstheorie gesche-hen kann, wenn die für Substanzen angenommene undan sich in der Zeit existierende WesenWirkungeneiner obersten Ursache, und doch nicht zugleich zuihm und seiner Handlung, sondern für sich als Sub-stanzen angesehen werden.

Die Auflösung obgedachter Schwierigkeit ge-schieht, kurz und einleuchtend, auf folgende Art:Wenn die Existenz in der Zeit eine bloße sinnlicheVorstellungsart der denkenden Wesen in der Welt ist,folglich sie, als Dinge an sich selbst, nicht angeht: soist die Schöpfung dieser Wesen eine Schöpfung derDinge an sich selbst; weil der Begriff einer Schöpfungnicht zu der sinnlichen Vorstellungsart der Existenzund zur Kausalität gehört, sondern nur auf Noumenen

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228Kant: Kritik der praktischen Vernunft

bezogen werden kann. Folglich, wenn ich von Wesenin der Sinnenwelt sage: sie sind erschaffen; so be-trachte ich sie so fern als Noumenen. So, wie es alsoein Widerspruch wäre, zu sagen, Gott sei ein Schöp-fer von Erscheinungen, so ist es auch ein Wider-spruch, zu sagen, er sei, als Schöpfer, Ursache derHandlungen in der Sinnenwelt, mithin als Erscheinun-gen, wenn er gleich Ursache des Daseins der handeln-den Wesen (als Noumenen) ist. Ist es nun möglich(wenn wir nur das Dasein in der Zeit für etwas, wasbloß von Erscheinungen, nicht von Dingen an sichselbst gilt, annehmen), die Freiheit, unbeschadet demNaturmechanism der Handlungen als Erscheinungen,zu behaupten, so kann, daß die handelnden WesenGeschöpfe sind, nicht die mindeste Änderung hierinmachen, weil die Schöpfung ihre intelligibele, abernicht sensibele Existenz betrifft, und also nicht alsBestimmungsgrund der Erscheinungen angesehenwerden kann; welches aber ganz anders ausfallenwürde, wenn die Weltwesen als Dinge an sich selbstin der Zeit existierten, da der Schöpfer der Substanzzugleich der Urheber des ganzen Maschinenwesens andieser Substanz sein würde.

Von so großer Wichtigkeit ist die in der Krit. der r.spek. V. verrichtete Absonderung der Zeit (so wie desRaums) von der Existenz der Dinge an sich selbst.

Die hier vorgetragene Auflösung der Schwierigkeit

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hat aber, wird man sagen, doch viel Schweres in sich,und ist einer hellen Darstellung kaum empfänglich.Allein, ist denn jede andere, die man versucht hat,oder versuchen mag, leichter und faßlicher? Ehermöchte man sagen, die dogmatischen Lehrer der Me-taphysik hätten mehr ihre Verschmitztheit als Auf-richtigkeit darin bewiesen, daß sie diesen schwierigenPunkt, so weit wie möglich, aus den Augen brachten,in der Hoffnung, daß, wenn sie davon gar nicht sprä-chen, auch wohl niemand leichtlich an ihn denkenwürde. Wenn einer Wissenschaft geholfen werdensoll, so müssen alle Schwierigkeiten aufgedecket undsogar diejenigen aufgesucht werden, die ihr noch soin geheim im Wege liegen; denn jede derselben ruftein Hülfsmittel auf, welches, ohne der Wissenschafteinen Zuwachs, es sei an Umfang, oder an Bestimmt-heit, zu verschaffen, nicht gefunden werden kann, wo-durch also selbst die Hindernisse Beförderungsmittelder Gründlichkeit der Wissenschaft werden. Dagegen,werden die Schwierigkeiten absichtlich verdeckt, oderbloß durch Palliativmittel gehoben, so brechen sie,über kurz oder lang, in unheilbare Übel aus, welchedie Wissenschaft in einem gänzlichen Skeptizism zuGrunde richten.

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230Kant: Kritik der praktischen Vernunft

Da es eigentlich der Begriff der Freiheit ist, der,unter allen Ideen der reinen spekulativen Vernunft,allein so große Erweiterung im Felde des Übersinnli-chen, wenn gleich nur in Ansehung des praktischenErkenntnisses verschafft, so frage ich mich: woherdenn ihm ausschließungsweise eine so großeFruchtbarkeit zu Teil geworden sei, indessen die üb-rigen zwar die leere Stelle für reine mögliche Verstan-deswesen bezeichnen, den Begriff von ihnen aberdurch nichts bestimmen können. Ich begreife bald,daß, da ich nichts ohne Kategorie denken kann, dieseauch in der Idee der Vernunft von der Freiheit, mit derich mich beschäftige, zuerst müsse aufgesucht wer-den, welche hier die Kategorie der Kausalität ist, unddaß ich, wenn gleich dem Vernunftbegriffe der Frei-heit, als überschwenglichem Begriffe, keine korre-spondierende Anschauung untergelegt werden kann,dennoch dem Verstandesbegriffe (der Kausalität), fürdessen Synthesis jener das Unbedingte fodert, zuvoreine sinnliche Anschauung gegeben werden müsse,dadurch ihm zuerst die objektive Realität gesichertwird. Nun sind alle Kategorien in zwei Klassen, diemathematische, welche bloß auf die Einheit der Syn-thesis in der Vorstellung der Objekte, und die dyna-mische, welche auf die in der Vorstellung der Exi-stenz der Objekte gehen, eingeteilt. Die erstere (dieder Größe und der Qualität) enthalten jederzeit eine

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230Kant: Kritik der praktischen Vernunft

Synthesis des Gleichartigen, in welcher das Unbe-dingte, zu dem in der sinnlichen Anschauung gegebe-nen Bedingten in Raum und Zeit, da es selbst wieder-um zum Raume und der Zeit gehören, und also immerwieder unbedingt sein mußte, gar nicht kann gefundenwerden; daher auch in der Dialektik der reinen theore-tischen Vernunft die einander entgegengesetzte Arten,das Unbedingte und die Totalität der Bedingungen fürsie zu finden, beide falsch waren. Die Kategorien derzweiten Klasse (die der Kausalität und der Notwen-digkeit eines Dinges) erforderten diese Gleichartigkeit(des Bedingten und der Bedingung in der Synthesis)gar nicht, weil hier nicht die Anschauung, wie sie auseinem Mannigfaltigen in ihr zusammengesetzt, son-dern nur, wie die Existenz des ihr korrespondierendenbedingten Gegenstandes zu der Existenz der Bedin-gung (im Verstande als damit verknüpft) hinzu-komme, vorgestellt werden solle, und da war es er-laubt, zu dem durchgängig Bedingten in der Sinnen-welt (so wohl in Ansehung der Kausalität als des zu-fälligen Daseins der Dinge selbst) das Unbedingte,obzwar übrigens unbestimmt, in der intelligibelenWelt zu setzen, und die Synthesis transzendent zu ma-chen; daher denn auch in der Dialektik der r. spek. V.sich fand, daß beide, dem Scheine nach, einander ent-gegengesetzte Arten, das Unbedingte zum Bedingtenzu finden, z.B. in der Synthesis der Kausalität zum

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Bedingten, in der Reihe der Ursachen und Wirkungender Sinnenwelt, die Kausalität, die weiter nicht sinn-lich bedingt ist, zu denken, sich in der Tat nicht wi-derspreche, und daß dieselbe Handlung, die, als zurSinnenwelt gehörig, jederzeit sinnlich bedingt, d.i.mechanisch-notwendig ist, doch zugleich auch, alszur Kausalität des handelnden Wesens, so fern es zurintelligibelen Welt gehörig ist, eine sinnlich unbe-dingte Kausalität zum Grunde haben, mithin als freigedacht werden könne. Nun kam es bloß darauf an,daß dieses Können in ein Sein verwandelt würde, d.i.,daß man in einem wirklichen Falle, gleichsam durchein Faktum, beweisen könne: daß gewisse Handlun-gen eine solche Kausalität (die intellektuelle, sinnlichunbedingte) voraussetzen, sie mögen nun wirklich,oder auch nur geboten, d.i. objektiv praktisch notwen-dig sein. An wirklich in der Erfahrung gegebenenHandlungen, als Begebenheiten der Sinnenwelt, konn-ten wir diese Verknüpfung nicht anzutreffen hoffen,weil die Kausalität durch Freiheit immer außer derSinnenwelt im Intelligibelen gesucht werden muß.Andere Dinge, außer den Sinnenwesen, sind uns aberzur Wahrnehmung und Beobachtung nicht gegeben.Also blieb nichts übrig, als daß etwa ein unwider-sprechlicher und zwar objektiver Grundsatz der Kau-salität, welcher alle sinnliche Bedingung von ihrerBestimmung ausschließt, d.i. ein Grundsatz, in

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welchem die Vernunft sich nicht weiter auf etwas an-deres als Bestimmungsgrund in Ansehung der Kausa-lität beruft, sondern den sie durch jenen Grundsatzschon selbst enthält, und wo sie also, als reine Ver-nunft, selbst praktisch ist, gefunden werde. DieserGrundsatz aber bedarf keines Suchens und keiner Er-findung; er ist längst in aller Menschen Vernunft ge-wesen und ihrem Wesen einverleibt, und ist derGrundsatz der Sittlichkeit. Also ist jene unbedingteKausalität und das Vermögen derselben, die Freiheit,mit dieser aber ein Wesen (ich selber), welches zurSinnenwelt gehört, doch zugleich als zur intelligibe-len gehörig nicht bloß unbestimmt und problematischgedacht (welches schon die spekulative Vernunft alstunlich ausmitteln konnte), sondern sogar in Anse-hung des Gesetzes ihrer Kausalität bestimmt und as-sertorisch erkannt, und so uns die Wirklichkeit derintelligibelen Welt, und zwar in praktischer Rücksichtbestimmt, gegeben worden, und diese Bestimmung,die in theoretischer Absicht transzendent (über-schwenglich)sein würde, ist in praktischer immanent.Dergleichen Schritt aber konnten wir in Ansehung derzweiten dynamischen Idee, nämlich der eines notwen-digen Wesens nicht tun. Wir konnten zu ihm aus derSinnenwelt, ohne Vermittelung der ersteren dyn. Idee,nicht hinauf kommen. Denn, wollten wir es versu-chen, so müßten wir den Sprung gewagt haben, alles

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232Kant: Kritik der praktischen Vernunft

das, was uns gegeben ist, zu verlassen, und uns zudem hinzuschwingen, wovon uns auch nichts gegebenist, wodurch wir die Verknüpfung eines solchen intel-ligibelen Wesens mit der Sinnenwelt vermitteln könn-ten (weil das notwendige Wesen als außer uns gege-ben erkannt werden sollte); welches dagegen in Anse-hung unseres eignen Subjekts, so fern es sich durchsmoralische Gesetz einerseits als intelligibeles Wesen(vermöge der Freiheit) bestimmt, andererseits alsnach dieser Bestimmung in der Sinnenwelt tätig,selbst erkennt, wie jetzt der Augenschein dartut, ganzwohl möglich ist. Der einzige Begriff der Freiheit ver-stattet es, daß wir nicht außer uns hinausgehen dür-fen, um das Unbedingte und Intelligibele zu dem Be-dingten und Sinnlichen zu finden. Denn es ist unsereVernunft selber, die sich durchs höchste und unbe-dingte praktische Gesetz, und das Wesen, das sichdieses Gesetzes bewußt ist (unsere eigene Person), alszur reinen Verstandeswelt gehörig, und zwar sogarmit Bestimmung der Art, wie es als ein solches tätigsein könne, erkennt. So läßt sich begreifen, warum indem ganzen Vernunftvermögen nur das Praktischedasjenige sein könne, welches uns über die Sinnen-welt hinaushilft, und Erkenntnisse von einer übersinn-lichen Ordnung und Verknüpfung verschaffe, die abereben darum freilich nur so weit, als es gerade für diereine praktische Absicht nötig ist, ausgedehnt werden

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233Kant: Kritik der praktischen Vernunft

können.Nur auf eines sei es mir erlaubt bei dieser Gelegen-

heit noch aufmerksam zu machen, nämlich daß jederSchritt, den man mit der reinen Vernunft tut, sogar impraktischen Felde, wo man auf subtile Spekulationgar nicht Rücksicht nimmt, dennoch sich so genauund zwar von selbst an alle Momente der Kritik dertheoretischen Vernunft anschließe, als ob jeder mitüberlegter Vorsicht, bloß um dieser Bestätigung zuverschaffen, ausgedacht wäre. Eine solche auf keiner-lei Weise gesuchte, sondern (wie man sich selbstdavon überzeugen kann, wenn man nur die morali-schen Nachforschungen bis zu ihren Prinzipien fort-setzen will) sich von selbst findende, genaue Ein-treffung der wichtigsten Sätze der praktischen Ver-nunft, mit denen oft zu subtil und unnötig scheinen-den Bemerkungen der Kritik der spekulativen, über-rascht und setzt in Verwunderung, und bestärkt dieschon von andern erkannte und gepriesene Maxime,in jeder wissenschaftlichen Untersuchung mit allermöglichen Genauigkeit und Offenheit seinen Gangungestört fortzusetzen, ohne sich an das zu kehren,wowider sie außer ihrem Felde etwa verstoßen möch-te, sondern sie für sich allein, so viel man kann, wahrund vollständig zu vollführen. Öftere Beobachtunghat mich überzeugt, daß, wenn man diese Geschäftezu Ende gebracht hat, das, was in der Hälfte

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234Kant: Kritik der praktischen Vernunft

desselben, in Betracht anderer Lehren außerhalb, mirbisweilen sehr bedenklich schien, wenn ich diese Be-denklichkeit nur so lange aus den Augen ließ, undbloß auf mein Geschäft Acht hatte, bis es vollendetsei, endlich auf unerwartete Weise mit demjenigenvollkommen zusammenstimmte, was sich ohne diemindeste Rücksicht auf jene Lehren, ohne Parteilich-keit und Vorliebe für dieselbe, von selbst gefundenhatte. Schriftsteller würden sich manche Irrtümer,manche verlorne Mühe (weil sie auf Blendwerk ge-stellt war) ersparen, wenn sie sich nur entschließenkönnten, mit etwas mehr Offenheit zu Werke zugehen.

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234Kant: Kritik der praktischen Vernunft

Zweites Buch.Dialektik der reinen praktischen Vernunft

Erstes Hauptstück.Von einer Dialektik der reinen praktischen

Vernunft überhaupt

Die reine Vernunft hat jederzeit ihre Dialektik, manmag sie in ihrem spekulativen oder praktischen Ge-brauche betrachten; denn sie verlangt die absolute To-talität der Bedingungen zu einem gegebenen Beding-ten, und diese kann schlechterdings nur in Dingen ansich selbst angetroffen werden. Da aber alle Begriffeder Dinge auf Anschauungen bezogen werden müs-sen, welche, bei uns Menschen, niemals anders alssinnlich sein können, mithin die Gegenstände nichtals Dinge an sich selbst, sondern bloß als Erscheinun-gen erkennen lassen, in deren Reihe des Bedingtenund der Bedingungen das Unbedingte niemals ange-troffen werden kann, so entspringt ein unvermeidli-cher Schein aus der Anwendung dieser Vernunftideeder Totalität der Bedingungen (mithin des Unbeding-ten) auf Erscheinungen, als wären sie Sachen an sichselbst (denn dafür werden sie, in Ermangelung einerwarnenden Kritik, jederzeit gehalten), der aber nie-mals als trüglich bemerkt werden würde, wenn er sich

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235Kant: Kritik der praktischen Vernunft

nicht durch einen Widerstreit der Vernunft mit sichselbst, in der Anwendung ihres Grundsatzes, das Un-bedingte zu allem Bedingten vorauszusetzen, auf Er-scheinungen, selbst verrieten. Hiedurch wird aber dieVernunft genötigt, diesem Scheine nachzuspüren,woraus er entspringe, und wie er gehoben werdenkönne, welches nicht anders, als durch eine vollstän-dige Kritik des ganzen reinen Vernunftvermögens, ge-schehen kann; so daß die Antinomie der reinen Ver-nunft, die in ihrer Dialektik offenbar wird, in der Tatdie wohltätigste Verirrung ist, in die die menschlicheVernunft je hat geraten können, indem sie uns zuletztantreibt, den Schlüssel zu suchen, aus diesem Laby-rinthe herauszukommen, der, wenn er gefunden wor-den, noch das entdeckt, was man nicht suchte unddoch bedarf, nämlich eine Aussicht in eine höhere,unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir schonjetzt sind, und in der unser Dasein der höchsten Ver-nunftbestimmung gemäß fortzusetzen wir durch be-stimmte Vorschriften nunmehr angewiesen werdenkönnen.

Wie im spekulativen Gebrauche der reinen Ver-nunft jene natürliche Dialektik aufzulösen, und derIrrtum, aus einem übrigens natürlichen Scheine, zuverhüten sei, kann man in der Kritik jenes Vermögensausführlich antreffen. Aber der Vernunft in ihrempraktischen Gebrauche geht es um nichts besser. Sie

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235Kant: Kritik der praktischen Vernunft

sucht, als reine praktische Vernunft, zu dem prak-tisch-Bedingten (was auf Neigungen und Naturbe-dürfnis beruht) ebenfalls das Unbedingte, und zwarnicht als Bestimmungsgrund des Willens, sondern,wenn dieser auch (im moralischen Gesetze) gegebenworden, die unbedingte Totalität des Gegenstandesder reinen praktischen Vernunft, unter dem Namendes höchsten Guts.

Diese Idee praktisch -, d.i. für die Maxime unseresvernünftigen Verhaltens, hinreichend zu bestimmen,ist dieWeisheitslehre, und diese wiederum, als Wis-senschaft, ist Philosophie, in der Bedeutung, wie dieAlten das Wort verstanden, bei denen sie eine Anwei-sung zu dem Begriffe war, worin das höchste Gut zusetzen, und zum Verhalten, durch welches es zu er-werben sei. Es wäre gut, wenn wir dieses Wort beiseiner alten Bedeutung ließen, als eine Lehre vomhöchsten Gut, so fern die Vernunft bestrebt ist, esdarin zurWissenschaft zu bringen. Denn einesteilswürde die angehängte einschränkende Bedingung demgriechischen Ausdrucke (welcher Liebe zurWeisheitbedeutet) angemessen und doch zugleich hinreichendsein, die Liebe zurWissenschaft, mithin aller speku-lativen Erkenntnis der Vernunft, so fern sie ihr, so-wohl zu jenem Begriffe, als auch dem praktischen Be-stimmungsgrunde dienlich ist, unter dem Namen derPhilosophie, mit zu befassen, und doch den

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236Kant: Kritik der praktischen Vernunft

Hauptzweck, um dessentwillen sie allein Weisheits-lehre genannt werden kann, nicht aus den Augen ver-lieren lassen. Anderen Teils würde es auch nicht übelsein, den Eigendünkel desjenigen, der es wagte, sichdes Titels eines Philosophen selbst anzumaßen, abzu-schrecken, wenn man ihm schon durch die Definitionden Maßstab der Selbstschätzung vorhielte, der seineAnsprüche sehr herabstimmen wird; denn einWeis-heitslehrer zu sein, möchte wohl etwas mehr, alseinen Schüler bedeuten, der noch immer nicht weitgenug gekommen ist, um sich selbst, vielweniger umandere, mit sicherer Erwartung eines so hohenZwecks, zu leiten; es würde einenMeister in Kennt-nis der Weisheit bedeuten, welches mehr sagen will,als ein bescheidener Mann sich selber anmaßen wird,und Philosophie würde, so wie die Weisheit, selbstnoch immer ein Ideal bleiben, welches objektiv in derVernunft allein vollständig vorgestellt wird, subjektivaber, für die Person, nur das Ziel seiner unaufhörli-chen Bestrebung ist, und in dessen Besitz, unter demangemaßten Namen eines Philosophen, zu sein, nurder vorzugeben berechtigt ist, der auch die unfehlbareWirkung derselben (in Beherrschung seiner selbst,und dem ungezweifelten Interesse, das er vorzüglicham allgemeinen Guten nimmt) an seiner Person, alsBeispiele, aufstellen kann, welches die Alten auch fo-derten, um jenen Ehrennamen verdienen zu können.

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237Kant: Kritik der praktischen Vernunft

In Ansehung der Dialektik der reinen praktischenVernunft, im Punkte der Bestimmung des Begriffsvom höchsten Gute (welche, wenn ihre Auflösung ge-lingt, eben sowohl, als die der theoretischen, diewohltätigste Wirkung erwarten läßt, dadurch daß dieaufrichtig angestellte und nicht verhehlte Widersprü-che der reinen praktischen Vernunft mit ihr selbst zurvollständigen Kritik ihres eigenen Vermögens nöti-gen), haben wir nur noch eine Erinnerung voranzu-schicken.

Das moralische Gesetz ist der alleinige Bestim-mungsgrund des reinen Willens. Da dieses aber bloßformal ist (nämlich, allein die Form der Maxime, alsallgemein gesetzgebend, fodert), so abstrahiert es, alsBestimmungsgrund, von aller Materie, mithin vonallem Objekte, des Wollens. Mithin mag das höchsteGut immer der ganze Gegenstand einer reinen prakti-schen Vernunft, d.i. eines reinen Willens sein, so istes darum doch nicht für den Bestimmungsgrund des-selben zu halten, und das moralische Gesetz muß al-lein als der Grund angesehen werden, jenes, und des-sen Bewirkung oder Beförderung, sich zum Objektezu machen. Diese Erinnerung ist in einem so delikatenFalle, als die Bestimmung sittlicher Prinzipien ist, woauch die kleinste Mißdeutung Gesinnungen ver-fälscht, von Erheblichkeit. Denn man wird aus derAnalytik ersehen haben, daß, wenn man vor dem

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237Kant: Kritik der praktischen Vernunft

moralischen Gesetze irgend ein Objekt, unter demNamen eines Guten, als Bestimmungsgrund des Wil-lens annimmt, und von ihm denn das oberste prakti-sche Prinzip ableitet, dieses alsdenn jederzeit Hetero-nomie herbeibringen und das moralische Prinzip ver-drängen würde.

Es versteht sich aber von selbst, daß, wenn im Be-griffe des höchsten Guts das moralische Gesetz, alsoberste Bedingung, schon mit eingeschlossen ist, als-denn das höchste Gut nicht bloß Objekt, sondern auchsein Begriff, und die Vorstellung der durch unserepraktische Vernunft möglichen Existenz desselbenzugleich der Bestimmungsgrund des reinen Willenssei; weil alsdenn in der Tat das in diesem Begriffeschon eingeschlossene und mitgedachte moralischeGesetz und kein anderer Gegenstand, nach dem Prin-zip der Autonomie, den Willen bestimmt. Diese Ord-nung der Begriffe von der Willensbestimmung darfnicht aus den Augen gelassen werden; weil man sonstsich selbst mißversteht und sich zu widersprechenglaubt, wo doch alles in der vollkommensten Harmo-nie neben einander steht.

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238Kant: Kritik der praktischen Vernunft

Zweites Hauptstück. Von der Dialektik der reinenVernunft in Bestimmung des Begriffs vom

höchsten Gut

Der Begriff des Höchsten enthält schon eine Zwei-deutigkeit, die, wenn man darauf nicht Acht hat, un-nötige Streitigkeiten veranlassen kann. Das Höchstekann das Oberste (supremum) oder auch das Vollen-dete (consummatum) bedeuten. Das erstere ist diejeni-ge Bedingung, die selbst unbedingt, d.i. keiner andernuntergeordnet ist (originarium); das zweite dasjenigeGanze, das kein Teil eines noch größeren Ganzen vonderselben Art ist (perfectissimum). Daß Tugend (alsdie Würdigkeit glücklich zu sein) die oberste Bedin-gung alles dessen, was uns nur wünschenswert schei-nen mag, mithin auch aller unserer Bewerbung umGlückseligkeit, mithin das oberste Gut sei, ist in derAnalytik bewiesen worden. Darum ist sie aber nochnicht das ganze und vollendete Gut, als Gegenstanddes Begehrungsvermögens vernünftiger endlicherWesen; denn, um das zu sein, wird auch Glückselig-keit dazu erfodert, und zwar nicht bloß in den partei-ischen Augen der Person, die sich selbst zum Zweckemacht, sondern selbst im Urteile einer unparteiischenVernunft, die jene überhaupt in der Welt als Zweckan sich betrachtet. Denn der Glückseligkeit bedürftig,

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ihrer auch würdig, dennoch aber derselben nicht teil-haftig zu sein, kann mit dem vollkommenen Wolleneines vernünftigen Wesens, welches zugleich alle Ge-walt hätte, wenn wir uns auch nur ein solches zumVersuche denken, gar nicht zusammen bestehen. Sofern nun Tugend und Glückseligkeit zusammen denBesitz des höchsten Guts in einer Person, hiebei aberauch Glückseligkeit, ganz genau in Proportion derSittlichkeit (als Wert der Person und deren Würdig-keit glücklich zu sein) ausgeteilt, das höchste Guteiner möglichen Welt ausmachen: so bedeutet diesesdas Ganze, das vollendete Gute, worin doch Tugendimmer, als Bedingung, das oberste Gut ist, weil esweiter keine Bedingung über sich hat, Glückseligkeitimmer etwas, was dem, der sie besitzt, zwar ange-nehm, aber nicht für sich allein schlechterdings und inaller Rücksicht gut ist, sondern jederzeit das morali-sche gesetzmäßige Verhalten als Bedingung voraus-setzt.

Zwei in einem Begriffe notwendig verbundene Be-stimmungen müssen als Grund und Folge verknüpftsein, und zwar entweder so, daß diese Einheit alsanalytisch (logische Verknüpfung) oder als synthe-tisch (reale Verbindung), jene nach dem Gesetze derIdentität, diese der Kausalität betrachtet wird. DieVerknüpfung der Tugend mit der Glückseligkeit kannalso entweder so verstanden werden, daß die

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Bestrebung tugendhaft zu sein und die vernünftigeBewerbung um Glückseligkeit nicht zwei verschie-dene, sondern ganz identische Handlungen wären, dadenn der ersteren keine andere Maxime, als zu derletztern zum Grunde gelegt zu werden brauchte: oderjene Verknüpfung wird darauf ausgesetzt, daß Tugenddie Glückseligkeit als etwas von dem Bewußtsein derersteren Unterschiedenes, wie die Ursache eine Wir-kung, hervorbringe.

Von den alten griechischen Schulen waren eigent-lich nur zwei, die in Bestimmung des Begriffs vomhöchsten Gute so fern zwar einerlei Methode befolg-ten, daß sie Tugend und Glückseligkeit nicht als zweiverschiedene Elemente des höchsten Guts gelten lie-ßen, mithin die Einheit des Prinzips nach der Regelder Identität suchten; aber darin schieden sie sich wie-derum, daß sie unter beiden den Grundbegriff ver-schiedentlich wählten. Der Epikureer sagte: sich sei-ner auf Glückseligkeit führenden Maxime bewußtsein, das ist Tugend; der Stoiker: sich seiner Tugendbewußt sein, ist Glückseligkeit. Dem erstern warKlugheit so viel als Sittlichkeit; dem zweiten, der einehöhere Benennung für die Tugend wählete, war Sitt-lichkeit allein wahre Weisheit.

Man muß bedauren, daß die Scharfsinnigkeit dieserMänner (die man doch zugleich darüber bewundernmuß, daß sie in so frühen Zeiten schon alle

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erdenkliche Wege philosophischer Eroberungen ver-suchten) unglücklich angewandt war, zwischen äu-ßerst ungleichartigen Begriffen, dem der Glückselig-keit und dem der Tugend, Identität zu ergrübeln. Al-lein es war dem dialektischen Geiste ihrer Zeiten an-gemessen, was auch jetzt bisweilen subtile Köpfe ver-leitet, wesentliche und nie zu vereinigende Unter-schiede in Prinzipien dadurch aufzuheben, daß mansie in Wortstreit zu verwandeln sucht, und so, demScheine nach, Einheit des Begriffs bloß unter ver-schiedenen Benennungen erkünstelt, und dieses trifftgemeiniglich solche Fälle, wo die Vereinigung un-gleichartiger Gründe so tief oder hoch liegt, oder eineso gänzliche Umänderung der sonst im philosophi-schen System angenommenen Lehren erfodern würde,daß man Scheu trägt, sich in den realen Unterschiedtief einzulassen, und ihn lieber als Uneinigkeit in blo-ßen Formalien behandelt.

Indem beide Schulen Einerleiheit der praktischenPrinzipien der Tugend und Glückseligkeit zu ergrü-beln suchten, so waren sie darum nicht unter sich ein-hellig, wie sie diese Identität herauszwingen wollten,sondern schieden sich in unendliche Weiten von ein-ander, indem die eine ihr Prinzip auf der ästhetischen,die andere auf der logischen Seite, jene im Bewußt-sein der sinnlichen Bedürfnis, die andere in der Unab-hängigkeit der praktischen Vernunft von allen

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sinnlichen Bestimmungsgründen setzte. Der Begriffder Tugend lag, nach dem Epikureer, schon in derMaxime, seine eigene Glückseligkeit zu befördern;das Gefühl der Glückseligkeit war dagegen nach demStoiker schon im Bewußtsein seiner Tugend enthal-ten. Was aber in einem andern Begriffe enthalten ist,ist zwar mit einem Teile des Enthaltenden, aber nichtmit dem Ganzen einerlei, und zween Ganze könnenüberdem spezifisch von einander unterschieden sein,ob sie zwar aus eben demselben Stoffe bestehen,wenn nämlich die Teile in beiden auf ganz verschie-dene Art zu einem Ganzen verbunden werden. DerStoiker behauptete, Tugend sei das ganze höchsteGut, und Glückseligkeit nur das Bewußtsein des Be-sitzes derselben, als zum Zustand des Subjekts gehö-rig. Der Epikureer behauptete, Glückseligkeit sei dasganze höchste Gut, und Tugend nur die Form derMaxime, sich um sie zu bewerben, nämlich im ver-nünftigen Gebrauche der Mittel zu derselben.

Nun ist aber aus der Analytik klar, daß die Maxi-men der Tugend und die der eigenen Glückseligkeit inAnsehung ihres obersten praktischen Prinzips ganzungleichartig sind, und, weit gefehlt, einhellig zu sein,ob sie gleich zu einem höchsten Guten gehören, umdas letztere möglich zu machen, einander in demsel-ben Subjekte gar sehr einschränken und Abbruch tun.Also bleibt die Frage: wie ist das höchste Gut

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praktisch möglich, noch immer, unerachtet aller bis-herigen Koalitionsversuche, eine unaufgelösete Auf-gabe. Das aber, was sie zu einer schwer zu lösendenAufgabe macht, ist in der Analytik gegeben, nämlichdaß Glückseligkeit und Sittlichkeit zwei spezifischganz verschiedene Elemente des höchsten Guts sind,und ihre Verbindung also nicht analytisch erkanntwerden könne (daß etwa der, so seine Glückseligkeitsucht, in diesem seinem Verhalten sich durch bloßeAuflösung seiner Begriffe tugendhaft, oder der, so derTugend folgt, sich im Bewußtsein eines solchen Ver-haltens schon ipso facto glücklich finden werde), son-dern eine Synthesis der Begriffe sei. Weil aber dieseVerbindung als a priori, mithin praktisch notwendig,folglich nicht aus der Erfahrung abgeleitet, erkanntwird, und die Möglichkeit des höchsten Guts also aufkeinen empirischen Prinzipien beruht, so wird die De-duktion dieses Begriffs transzendental sein müssen.Es ist a priori (moralisch) notwendig, das höchsteGut durch Freiheit des Willens hervorzubringen; esmuß also auch die Bedingung der Möglichkeit dessel-ben lediglich auf Erkenntnisgründen a priori beruhen.

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I. Die Antinomie der praktischen Vernunft

In dem höchsten für uns praktischen, d.i. durch un-sern Willen wirklich zu machenden, Gute werden Tu-gend und Glückseligkeit als notwendig verbunden ge-dacht, so, daß das eine durch reine praktische Ver-nunft nicht angenommen werden kann, ohne daß dasandere auch zu ihm gehöre. Nun ist diese Verbindung(wie eine jede überhaupt) entweder analytisch, odersynthetisch. Da diese gegebene aber nicht analytischsein kann, wie nur eben vorher gezeigt worden, somuß sie synthetisch, und zwar als Verknüpfung derUrsache mit der Wirkung gedacht werden; weil sie einpraktisches Gut, d.i. was durch Handlung möglich ist,betrifft. Es muß also entweder die Begierde nachGlückseligkeit die Bewegursache zu Maximen derTugend, oder die Maxime der Tugend muß die wir-kende Ursache der Glückseligkeit sein. Das erste istschlechterdings unmöglich: weil (wie in der Analytikbewiesen worden) Maximen, die den Bestimmungs-grund des Willens in dem Verlangen nach seinerGlückseligkeit setzen, gar nicht moralisch sind, undkeine Tugend gründen können. Das zweite ist aberauch unmöglich, weil alle praktische Verknüpfungder Ursachen und der Wirkungen in der Welt, als Er-folg der Willensbestimmung sich nicht nach

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moralischen Gesinnungen des Willens, sondern derKenntnis der Naturgesetze und dem physischen Ver-mögen, sie zu seinen Absichten zu gebrauchen, rich-tet, folglich keine notwendige und zum höchsten Gutzureichende Verknüpfung der Glückseligkeit mit derTugend in der Welt, durch die pünktlichste Beobach-tung der moralischen Gesetze, erwartet werden kann.Da nun die Beförderung des höchsten Guts, welchesdiese Verknüpfung in seinem Begriffe enthält, ein apriori notwendiges Objekt unseres Willens ist, undmit dem moralischen Gesetze unzertrennlich zusam-menhängt, so muß die Unmöglichkeit des ersterenauch die Falschheit des zweiten beweisen. Ist also dashöchste Gut nach praktischen Regeln unmöglich, somuß auch das moralische Gesetz, welches gebietet,dasselbe zu befördern, phantastisch und auf leere ein-gebildete Zwecke gestellt, mithin an sich falsch sein.

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II. Kritische Aufhebung der Antinomie derpraktischen Vernunft

In der Antinomie der reinen spekulativen Vernunftfindet sich ein ähnlicher Widerstreit zwischen Natur-notwendigkeit und Freiheit, in der Kausalität der Be-gebenheiten in der Welt. Er wurde dadurch gehoben,daß bewiesen wurde, es sei kein wahrer Widerstreit,wenn man die Begebenheiten, und selbst die Welt,darin sie sich ereignen, (wie man auch soll) nur alsErscheinungen betrachtet; da ein und dasselbe han-delnde Wesen, als Erscheinung (selbst vor seinemeignen innern Sinne) eine Kausalität in der Sinnen-welt hat, die jederzeit dem Naturmechanism gemäßist, in Ansehung derselben Begebenheit aber, so fernsich die handelnde Person zugleich als Noumenon be-trachtet (als reine Intelligenz, in seinem nicht der Zeitnach bestimmbaren Dasein), einen Bestimmungs-grund jener Kausalität nach Naturgesetzen, der selbstvon allem Naturgesetze frei ist, enthalten könne.

Mit der vorliegenden Antinomie der reinen prakti-schen Vernunft ist es nun eben so bewandt. Der erstevon den zwei Sätzen, daß das Bestreben nach Glück-seligkeit einen Grund tugendhafter Gesinnung hervor-bringe, ist schlechterdings falsch; der zweite aber,daß Tugendgesinnung notwendig Glückseligkeit

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hervorbringe, ist nicht schlechterdings, sondern nur,so fern sie als die Form der Kausalität in der Sinnen-welt betrachtet wird, und, mithin, wenn ich das Da-sein in derselben für die einzige Art der Existenz desvernünftigen Wesens annehme, also nur bedingterWeise falsch. Da ich aber nicht allein befugt bin, meinDasein auch als Noumenon in einer Verstandesweltzu denken, sondern sogar am moralischen Gesetzeeinen rein intellektuellen Bestimmungsgrund meinerKausalität (in der Sinnenwelt) habe, so ist es nichtunmöglich, daß die Sittlichkeit der Gesinnung einen,wo nicht unmittelbaren, doch mittelbaren (vermittelsteines intelligibelen Urhebers der Natur) und zwar not-wendigen Zusammenhang, als Ursache, mit derGlückseligkeit, als Wirkung in der Sinnenwelt habe,welche Verbindung in einer Natur, die bloß Objektder Sinne ist, niemals anders als zufällig stattfinden,und zum höchsten Gute nicht zulangen kann.

Also ist, unerachtet dieses scheinbaren Widerstreitseiner praktischen Vernunft mit sich selbst, das höch-ste Gut, der notwendige höchste Zweck eines mora-lisch bestimmten Willens, ein wahres Objekt dersel-ben; denn es ist praktisch möglich, und die Maximendes letzteren, die sich darauf ihrer Materie nach bezie-hen, haben objektive Realität, welche anfänglichdurch jene Antinomie in Verbindung der Sittlichkeitmit Glückseligkeit nach einem allgemeinen Gesetze

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getroffen wurde, aber aus bloßem Mißverstande, weilman das Verhältnis zwischen Erscheinungen für einVerhältnis der Dinge an sich selbst zu diesen Erschei-nungen hielte.

Wenn wir uns genötigt sehen, die Möglichkeit deshöchsten Guts, dieses durch die Vernunft allen ver-nünftigen Wesen ausgesteckten Ziels aller ihrer mora-lischen Wünsche, in solcher Weite, nämlich in derVerknüpfung mit einer intelligibelen Welt, zu suchen,so muß es befremden, daß gleichwohl die Philoso-phen, alter so wohl, als neuer Zeiten, die Glückselig-keit mit der Tugend in ganz geziemender Proportionschon in diesem Leben (in der Sinnenwelt) haben fin-den, oder sich ihrer bewußt zu sein haben überredenkönnen. Denn Epikur sowohl, als die Stoiker, erhobendie Glückseligkeit, die aus dem Bewußtsein der Tu-gend im Leben entspringe, über alles, und der ersterewar in seinen praktischen Vorschriften nicht so nied-rig gesinnt, als man aus den Prinzipien seiner Theo-rie, die er zum Erklären, nicht zum Handeln brauchte,schließen möchte, oder, wie sie viele, durch den Aus-druck Wollust, für Zufriedenheit, verleitet, ausdeute-ten, sondern rechnete die uneigennützigste Ausübungdes Guten mit zu den Genußarten der innigsten Freu-de, und die Gnügsamkeit und Bändigung der Neigun-gen, so wie sie immer der strengste Moralphilosophfodern mag, gehörte mit zu seinem Plane eines

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Vergnügens (er verstand darunter das stets fröhlicheHerz); wobei er von den Stoikern vornehmlich nurdarin abwich, daß er in diesem Vergnügen den Bewe-gungsgrund setzte, welches die letztern, und zwar mitRecht, verweigerten. Denn einesteils fiel der tugend-hafte Epikur, so wie noch jetzt viele moralisch wohl-gesinnte, obgleich über ihre Prinzipien nicht tiefgenug nachdenkende Männer, in den Fehler, die tu-gendhafte Gesinnung in denen Personen schon vor-auszusetzen, für die er die Triebfeder zur Tugend zu-erst angeben wollte (und in der Tat kann der Recht-schaffene sich nicht glücklich finden, wenn er sichnicht zuvor seiner Rechtschaffenheit bewußt ist; weil,bei jener Gesinnung, die Verweise, die er bei Übertre-tungen sich selbst zu machen durch seine eigene Den-kungsart genötigt sein würde, und die moralischeSelbstverdammung ihn alles Genusses der Annehm-lichkeit, die sonst sein Zustand enthalten mag, berau-ben würden). Allein die Frage ist: wodurch wird einesolche Gesinnung und Denkungsart, den Wert seinesDaseins zu schätzen, zuerst möglich; da vor derselbennoch gar kein Gefühl für einen moralischen Wertüberhaupt im Subjekte angetroffen werden würde.Der Mensch wird, wenn er tugendhaft ist, freilich,ohne sich in jeder Handlung seiner Rechtschaffenheitbewußt zu sein, des Lebens nicht froh werden, sogünstig ihm auch das Glück im physischen Zustande

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desselben sein mag; aber um ihn allererst tugendhaftzu machen, mithin ehe er noch den moralischen Wertseiner Existenz so hoch anschlägt, kann man ihm dawohl die Seelenruhe anpreisen, die aus dem Bewußt-sein einer Rechtschaffenheit entspringen werde, fürdie er doch keinen Sinn hat?

Andrerseits aber liegt hier immer der Grund zueinem Fehler des Erschleichens (vitium subreptionis)und gleichsam einer optischen Illusion in dem Selbst-bewußtsein dessen, was man tut, zum Unterschiededessen, was man empfindet, die auch der Versuchtestenicht völlig vermeiden kann. Die moralische Gesin-nung ist mit einem Bewußtsein der Bestimmung desWillens unmittelbar durchs Gesetz notwendig ver-bunden. Nun ist das Bewußtsein einer Bestimmungdes Begehrungsvermögens immer der Grund einesWohlgefallens an der Handlung, die dadurch hervor-gebracht wird; aber diese Lust, dieses Wohlgefallenan sich selbst, ist nicht der Bestimmungsgrund derHandlung, sondern die Bestimmung des Willens un-mittelbar, bloß durch die Vernunft, ist der Grund desGefühls der Lust, und jene bleibt eine reine praktischenicht ästhetische Bestimmung des Begehrungsvermö-gens. Da diese Bestimmung nun innerlich gerade die-selbe Wirkung eines Antriebs zur Tätigkeit tut, als einGefühl der Annehmlichkeit, die aus der begehrtenHandlung erwartet wird, würde getan haben, so sehen

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wir das, was wir selbst tun, leichtlich für etwas an,was wir bloß leidentlich fühlen, und nehmen die mo-ralische Triebfeder für sinnlichen Antrieb, wie das al-lemal in der sogenannten Täuschung der Sinne (hierdes innern) zu geschehen pflegt. Es ist etwas sehr Er-habenes in der menschlichen Natur, unmittelbar durchein reines Vernunftgesetz zu Handlungen bestimmt zuwerden, und sogar die Täuschung, das Subjektive die-ser intellektuellen Bestimmbarkeit des Willens füretwas Ästhetisches und Wirkung eines besondernsinnlichen Gefühls (denn ein intellektuelles wäre einWiderspruch) zu halten. Es ist auch von großer Wich-tigkeit, auf diese Eigenschaft unserer Persönlichkeitaufmerksam zu machen, und die Wirkung der Ver-nunft auf dieses Gefühl bestmöglichst zu kultivieren.Aber man muß sich auch in Acht nehmen, durch un-echte Hochpreisungen dieses moralischen Bestim-mungsgrundes, als Triebfeder, indem man ihm Gefüh-le besonderer Freuden, als Gründe (die doch nur Fol-gen sind) unterlegt, die eigentliche echte Triebfeder,das Gesetz selbst, gleichsam wie durch eine falscheFolie, herabzusetzen und zu verunstalten. Achtungund nicht Vergnügen, oder Genuß der Glückseligkeit,ist also etwas, wofür kein der Vernunft zum Grundegelegtes, vorhergehendes Gefühl (weil dieses jeder-zeit ästhetisch und pathologisch sein würde) möglichist, als Bewußtsein der unmittelbaren Nötigung des

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Willens durch Gesetz, ist kaum ein Analogen des Ge-fühls der Lust, indem es im Verhältnisse zum Begeh-rungsvermögen gerade eben dasselbe, aber aus andernQuellen tut; durch diese Vorstellungsart aber kannman allein erreichen, was man sucht, nämlich daßHandlungen nicht bloß pflichtmäßig (angenehmenGefühlen zu Folge), sondern aus Pflicht geschehen,welches der wahre Zweck aller moralischen Bildungsein muß.

Hat man aber nicht ein Wort, welches nicht einenGenuß, wie das der Glückseligkeit, bezeichnete, aberdoch ein Wohlgefallen an seiner Existenz, ein Analo-gon der Glückseligkeit, welche das Bewußtsein derTugend notwendig begleiten muß, anzeigete? Ja! die-ses Wort ist Selbstzufriedenheit, welches in seiner ei-gentlichen Bedeutung jederzeit nur ein negativesWohlgefallen an seiner Existenz andeutet, in welchemman nichts zu bedürfen sich bewußt ist. Freiheit unddas Bewußtsein derselben, als eines Vermögens, mitüberwiegender Gesinnung das moralische Gesetz zubefolgen, ist Unabhängigkeit von Neigungen, wenig-stens als bestimmenden (wenn gleich nicht als affizie-renden) Bewegursachen unseres Begehrens, und, sofern, als ich mir derselben in der Befolgung meinermoralischen Maximen bewußt bin, der einzige Quelleiner notwendig damit verbundenen, auf keinem be-sonderen Gefühle beruhenden, unveränderlichen

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Zufriedenheit, und diese kann intellektuell heißen. Dieästhetische (die uneigentlich so genannt wird), welcheauf der Befriedigung der Neigungen, so fein sie auchimmer ausgeklügelt werden mögen, beruht, kann nie-mals dem, was man sich darüber denkt, adäquat sein.Denn die Neigungen wechseln, wachsen mit der Be-günstigung, die man ihnen widerfahren läßt, und las-sen immer ein noch größeres Leeres übrig, als manauszufüllen gedacht hat. Daher sind sie einem ver-nünftigen Wesen jederzeit lästig, und wenn es siegleich nicht abzulegen vermag, so nötigen sie ihmdoch den Wunsch ab, ihrer entledigt zu sein. Selbsteine Neigung zum Pflichtmäßigen (z.B. zur Wohltä-tigkeit) kann zwar die Wirksamkeit der moralischenMaximen sehr erleichtern, aber keine hervorbringen.Denn alles muß in dieser auf der Vorstellung des Ge-setzes, als Bestimmungsgrunde, angelegt sein, wenndie Handlung nicht bloß Legalität, sondern auch Mo-ralität enthalten soll. Neigung ist blind und knech-tisch, sie mag nun gutartig sein oder nicht, und dieVernunft, wo es auf Sittlichkeit ankommt, muß nichtbloß den Vormund derselben vorstellen, sondern,ohne auf sie Rücksicht zu nehmen, als reine prakti-sche Vernunft ihr eigenes Interesse ganz allein besor-gen. Selbst dies Gefühl des Mitleids und der weich-herzigen Teilnehmung, wenn es vor der Überlegung,was Pflicht sei, vorhergeht und Bestimmungsgrund

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wird, ist wohldenkenden Personen selbst lästig, bringtihre überlegte Maximen in Verwirrung, und bewirktden Wunsch, ihrer entledigt und allein der gesetzge-benden Vernunft unterworfen zu sein.

Hieraus läßt sich verstehen: wie das Bewußtseindieses Vermögens einer reinen praktischen Vernunftdurch Tat (die Tugend) ein Bewußtsein der Ober-macht über seine Neigungen, hiemit also der Unab-hängigkeit von denselben, folglich auch der Unzufrie-denheit, die diese immer begleitet, und also ein nega-tives Wohlgefallen mit seinem Zustande, d.i. Zufrie-denheit, hervorbringen könne, welche in ihrer QuelleZufriedenheit mit seiner Person ist. Die Freiheit selbstwird auf solche Weise (nämlich indirekt) eines Ge-nusses fähig, welcher nicht Glückseligkeit heißenkann, weil er nicht vom positiven Beitritt eines Ge-fühls abhängt, auch genau zu reden nicht Seligkeit,weil er nicht gänzliche Unabhängigkeit von Neigun-gen und Bedürfnissen enthält, der aber doch der letz-tern ähnlich ist, so fern nämlich wenigstens seine Wil-lensbestimmung sich von ihrem Einflusse frei haltenkann, und also, wenigstens seinem Ursprunge nach,der Selbstgenügsamkeit analogisch ist, die man nurdem höchsten Wesen beilegen kann.

Aus dieser Auflösung der Antinomie der prakti-schen reinen Vernunft folgt, daß sich in praktischenGrundsätzen eine natürliche und notwendige

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Verbindung zwischen dem Bewußtsein der Sittlich-keit, und der Erwartung einer ihr proportioniertenGlückseligkeit, als Folge derselben, wenigstens alsmöglich denken (darum aber freilich noch eben nichterkennen und einsehen) lasse; dagegen, daß Grundsät-ze der Bewerbung um Glückseligkeit unmöglich Sitt-lichkeit hervorbringen können: daß also das obersteGut(als die erste Bedingung des höchsten Guts) Sitt-lichkeit, Glückseligkeit dagegen zwar das zweite Ele-ment desselben ausmache, doch so, daß diese nur diemoralisch-bedingte, aber doch notwendige Folge derersteren sei. In dieser Unterordnung allein ist dashöchste Gut das ganze Objekt der reinen praktischenVernunft, die es sich notwendig als möglich vorstel-len muß, weil es ein Gebot derselben ist, zu dessenHervorbringung alles Mögliche beizutragen. Weilaber die Möglichkeit einer solchen Verbindung desBedingten mit seiner Bedingung gänzlich zum über-sinnlichen Verhältnisse der Dinge gehört, und nachGesetzen der Sinnenwelt gar nicht gegeben werdenkann, obzwar die praktische Folge dieser Idee, näm-lich die Handlungen, die darauf abzielen. das höchsteGut wirklichzumachen, zur Sinnenwelt gehören: sowerden wir die Gründe jener Möglichkeit erstlich inAnsehung dessen, was unmittelbar in unserer Gewaltist, und dann zweitens in dem, was uns Vernunft, alsErgänzung unseres Unvermögens, zur Möglichkeit

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des höchsten Guts (nach praktischen Prinzipien not-wendig) darbietet und nicht in unserer Gewalt ist, dar-zustellen suchen.

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III. Von dem Primat der reinen praktischen Vernunftin ihrer Verbindung mit der spekulativen

Unter dem Primate zwischen zweien oder mehrerendurch Vernunft verbundenen Dingen verstehe ich denVorzug des einen, der erste Bestimmungsgrund derVerbindung mit allen übrigen zu sein. In engerer,praktischen Bedeutung bedeutet es den Vorzug desInteresse des einen, so fern ihm (welches keinem an-dern nachgesetzt werden kann) das Interesse der an-dern untergeordnet ist. Einem jeden Vermögen desGemüts kann man ein Interesse beilegen, d.i. einPrinzip, welches die Bedingung enthält, unter welcherallein die Ausübung desselben befördert wird. DieVernunft, als das Vermögen der Prinzipien, bestimmtdas Interesse aller Gemütskräfte, das ihrige aber sichselbst. Das Interesse ihres spekulativen Gebrauchsbesteht in der Erkenntnis des Objekts bis zu denhöchsten Prinzipien a priori, das des praktischen Ge-brauchs in der Bestimmung desWillens, in Ansehungdes letzten und vollständigen Zwecks. Das, was zurMöglichkeit eines Vernunftgebrauchs überhaupt erfo-derlich ist, nämlich daß die Prinzipien und Behaup-tungen derselben einander nicht widersprechen müs-sen, macht keinen Teil ihres Interesse aus, sondern istdie Bedingung, überhaupt Vernunft zu haben; nur die

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Erweiterung, nicht die bloße Zusammenstimmung mitsich selbst, wird zum Interesse derselben gezählt.

Wenn praktische Vernunft nichts weiter annehmenund als gegeben denken darf, als was spekulativeVernunft, für sich, ihr aus ihrer Einsicht darreichenkonnte, so führt diese das Primat. Gesetzt aber, siehätte für sich ursprüngliche Prinzipien a priori, mitdenen gewisse theoretische Positionen unzertrennlichverbunden wären, die sich gleichwohl aller möglichenEinsicht der spekulativen Vernunft entzögen (ob siezwar derselben auch nicht widersprechen müßten), soist die Frage, welches Interesse das oberste sei (nicht,welches weichen müßte, denn eines widerstreitet demandern nicht notwendig); ob spekulative Vernunft, dienicht von allem dem weiß, was praktische ihr anzu-nehmen darbietet, diese Sätze aufnehmen, und sie, obsie gleich für sie überschwenglich sind, mit ihren Be-griffen, als einen fremden auf sie übertragenen Besitz,zu vereinigen suchen müsse, oder ob sie berechtigtsei, ihrem eigenen abgesonderten Interesse hartnäckigzu folgen, und, nach der Kanonik des Epikurs, allesals leere Vernünftelei auszuschlagen, was seine ob-jektive Realität nicht durch augenscheinliche in derErfahrung aufzustellende Beispiele beglaubigen kann,wenn es gleich noch so sehr mit dem Interesse despraktischen (reinen) Gebrauchs verwebt, an sich auchder theoretischen nicht widersprechend wäre, bloß

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weil es wirklich so fern dem Interesse der spekulati-ven Vernunft Abbruch tut, daß es die Grenzen, diediese sich selbst gesetzt, aufhebt, und sie allem Un-sinn oder Wahnsinn der Einbildungskraft preisgibt.

In der Tat, so fern praktische Vernunft als patholo-gisch bedingt, d.i. das Interesse der Neigungen unterdem sinnlichen Prinzip der Glückseligkeit bloß ver-waltend, zum Grunde gelegt würde, so ließe sichdiese Zumutung an die spekulative Vernunft gar nichttun. Mahomets Paradies, oder der Theosophen undMystiker schmelzende Vereinigung mit der Gottheit,so wie jedem sein Sinn steht, würden der Vernunftihre Ungeheuer aufdringen, und es wäre eben so gut,gar keine zu haben, als sie auf solche Weise allenTräumereien preiszugeben. Allein wenn reine Ver-nunft für sich praktisch sein kann und es wirklich ist,wie das Bewußtsein des moralischen Gesetzes es aus-weiset, so ist es doch immer nur eine und dieselbeVernunft, die, es sei in theoretischer oder praktischerAbsicht, nach Prinzipien a priori urteilt, und da ist esklar, daß, wenn ihr Vermögen in der ersteren gleichnicht zulangt, gewisse Sätze behauptend festzusetzen,indessen daß sie ihr auch eben nicht widersprechen,eben diese Sätze, so bald sie unabtrennlich zumpraktischen Interesse der reinen Vernunft gehören,zwar als ein ihr fremdes Angebot, das nicht auf ihremBoden erwachsen, aber doch hinreichend beglaubigt

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ist, annehmen, und sie, mit allem, was sie als spekula-tive Vernunft in ihrer Macht hat, zu vergleichen undzu verknüpfen suchen müsse; doch sich bescheidend,daß dieses nicht ihre Einsichten, aber doch Erweite-rungen ihres Gebrauchs in irgend einer anderen, näm-lich praktischen, Absicht sind, welches ihrem Interes-se, das in der Einschränkung des spekulativen Frevelsbesteht, ganz und gar nicht zuwider ist.

In der Verbindung also der reinen spekulativen mitder reinen praktischen Vernunft zu einem Erkennt-nisse führt die letztere das Primat, vorausgesetztnämlich, daß diese Verbindung nicht etwa zufälligund beliebig, sondern a priori auf der Vernunft selbstgegründet, mithin notwendig sei. Denn es würde ohnediese Unterordnung ein Widerstreit der Vernunft mitihr selbst entstehen; weil, wenn sie einander bloß bei-geordnet (koordiniert) wären, die erstere für sich ihreGrenze enge verschließen und nichts von der letzterenin ihr Gebiet aufnehmen, diese aber ihre Grenzen den-noch über alles ausdehnen, und, wo es ihr Bedürfniserheischt, jene innerhalb der ihrigen mit zu befassensuchen würde. Der spekulativen Vernunft aber unter-geordnet zu sein, und also die Ordnung umzukehren,kann man der reinen praktischen gar nicht zumuten,weil alles Interesse zuletzt praktisch ist, und selbstdas der spekulativen Vernunft nur bedingt und impraktischen Gebrauche allein vollständig ist.

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IV. Die Unsterblichkeit der Seele, als ein Postulatder reinen praktischen Vernunft

Die Bewirkung des höchsten Guts in der Welt istdas notwendige Objekt eines durchs moralische Ge-setz bestimmbaren Willens. In diesem aber ist dievöllige Angemessenheit der Gesinnungen zum mora-lischen Gesetze die oberste Bedingung des höchstenGuts. Sie muß also eben sowohl möglich sein, als ihrObjekt, weil sie in demselben Gebote dieses zu beför-dern enthalten ist. Die völlige Angemessenheit desWillens aber zum moralischen Gesetze ist Heiligkeit,eine Vollkommenheit, deren kein vernünftiges Wesender Sinnenwelt, in keinem Zeitpunkte seines Daseins,fähig ist. Da sie indessen gleichwohl als praktischnotwendig gefedert wird, so kann sie nur in einem insUnendliche gehenden Progressus zu jener völligenAngemessenheit angetroffen werden, und es ist, nachPrinzipien der reinen praktischen Vernunft, notwen-dig, eine solche praktische Fortschreitung als dasreale Objekt unseres Willens anzunehmen.

Dieser unendliche Progressus ist aber nur unterVoraussetzung einer ins Unendliche fortdaurendenExistenz und Persönlichkeit desselben vernünftigenWesens (welche man die Unsterblichkeit der Seelenennt) möglich. Also ist das höchste Gut, praktisch,

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nur unter der Voraussetzung der Unsterblichkeit derSeele möglich; mithin diese, als unzertrennlich mitdem moralischen Gesetz verbunden, ein Postulat derreinen praktischen Vernunft (worunter ich einen theo-retischen, als solchen aber nicht erweislichen Satzverstehe, so fern er einem a priori unbedingt geltendenpraktischen Gesetze unzertrennlich anhängt).

Der Satz von der moralischen Bestimmung unsererNatur, nur allein in einem ins Unendliche gehendenFortschritte zur völligen Angemessenheit mit dem Sit-tengesetze gelangen zu können, ist von dem größtenNutzen, nicht bloß in Rücksicht auf die gegenwärtigeErgänzung des Unvermögens der spekulativen Ver-nunft, sondern auch in Ansehung der Religion. In Er-mangelung desselben wird entweder das moralischeGesetz von seiner Heiligkeit gänzlich abgewürdigt,indem man es sich als nachsichtlich (indulgent), undso unserer Behaglichkeit angemessen, verkünstelt,oder auch seinen Beruf und zugleich Erwartung zueiner unerreichbaren Bestimmung, nämlich einem ver-hofften völligen Erwerb der Heiligkeit des Willens,spannt, und sich in schwärmende, dem Selbsterkennt-nis ganz widersprechende theosophische Träume ver-liert, durch welches beides das unaufhörliche Streben,zur pünktlichen und durchgängigen Befolgung einesstrengen unnachsichtlichen, dennoch aber nicht ideali-schen, sondern wahren Vernunftgebots, nur verhindert

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wird. Einem vernünftigen, aber endlichen Wesen istnur der Progressus ins Unendliche, von niederen zuden höheren Stufen der moralischen Vollkommenheit,möglich. Der Unendliche, dem die Zeitbedingungnichts ist, sieht, in dieser für uns endlosen Reihe, dasGanze der Angemessenheit mit dem moralischen Ge-setze, und die Heiligkeit, die sein Gebot unnachlaß-lich fodert, um seiner Gerechtigkeit in dem Anteil,den er jedem am höchsten Gute bestimmt, gemäß zusein, ist in einer einzigen intellektuellen Anschauungdes Daseins vernünftiger Wesen ganz anzutreffen.Was dem Geschöpfe allein in Ansehung der Hoffnungdieses Anteils zukommen kann, wäre das Bewußtseinseiner erprüften Gesinnung, um aus seinem bisherigenFortschritte vom Schlechteren zum Moralischbesserenund dem dadurch ihm bekannt gewordenen unwandel-baren Vorsatze eine fernere ununterbrochene Fortset-zung desselben, wie weit seine Existenz auch immerreichen mag, selbst über dieses Leben hinaus, zu hof-fen,12 und so, zwar niemals hier, oder in irgendeinem absehlichen künftigen Zeitpunkte seines Da-seins, sondern nur in der (Gott allein übersehbaren)Unendlichkeit seiner Fortdauer, dem Willen desselben(ohne Nachsicht oder Erfassung, welche sich mit derGerechtigkeit nicht zusammenreimt) völlig adäquatzu sein.

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V. Das Dasein Gottes, als ein Postulat der reinenpraktischen Vernunft

Das moralische Gesetz führete in der vorhergehen-den Zergliederung zur praktischen Aufgabe, welche,ohne allen Beitritt sinnlicher Triebfedern, bloß durchreine Vernunft vorgeschrieben wird, nämlich der not-wendigen Vollständigkeit des ersten und vornehmstenTeils des höchsten Guts, der Sittlichkeit, und, da diesenur in einer Ewigkeit völlig aufgelöset werden kann,zum Postulat der Unsterblichkeit. Eben dieses Gesetzmuß auch zur Möglichkeit des zweiten Elements deshöchsten Guts, nämlich der jener Sittlichkeit ange-messenen Glückseligkeit, eben so uneigennützig, wievorher, aus bloßer unparteiischer Vernunft, nämlichauf die Voraussetzung des Daseins einer dieser Wir-kung adäquaten Ursache führen, d.i. die Existenz Got-tes, als zur Möglichkeit des höchsten Guts (welchesObjekt unseres Willens mit der moralischen Gesetz-gebung der reinen Vernunft notwendig verbunden ist)notwendig gehörig, postulieren. Wir wollen diesenZusammenhang überzeugend darstellen.Glückseligkeit ist der Zustand eines vernünftigen

Wesens in der Welt, dem es, im Ganzen seiner Exi-stenz, alles nach Wunsch und Willen geht, und beru-het also auf der Übereinstimmung der Natur zu

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seinem ganzen Zwecke, imgleichen zum wesentlichenBestimmungsgrunde seines Willens. Nun gebietet dasmoralische Gesetz, als ein Gesetz der Freiheit, durchBestimmungsgründe, die von der Natur und der Über-einstimmung derselben zu unserem Begehrungsver-mögen (als Triebfedern) ganz unabhängig sein sollen;das handelnde vernünftige Wesen in der Welt aber istdoch nicht zugleich Ursache der Welt und der Naturselbst. Also ist in dem moralischen Gesetze nicht dermindeste Grund zu einem notwendigen Zusammen-hang zwischen Sittlichkeit und der ihr proportionier-ten Glückseligkeit eines zur Welt als Teil gehörigen,und daher von ihr abhängigen, Wesens, welches ebendarum durch seinen Willen nicht Ursache dieser Natursein, und sie, was seine Glückseligkeit betrifft, mitseinen praktischen Grundsätzen aus eigenen Kräftennicht durchgängig einstimmig machen kann. Gleich-wohl wird in der praktischen Aufgabe der reinen Ver-nunft, d.i. der notwendigen Bearbeitung zum höchstenGute, ein solcher Zusammenhang als notwendig po-stuliert: wir sollen das höchste Gut (welches alsodoch möglich sein muß) zu befördern suchen. Alsowird auch das Dasein einer von der Natur unterschie-denen Ursache der gesamten Natur, welche den Grunddieses Zusammenhanges, nämlich der genauen Über-einstimmung der Glückseligkeit mit der Sittlichkeit,enthalte, postuliert. Diese oberste Ursache aber soll

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den Grund der Übereinstimmung der Natur nicht bloßmit einem Gesetze des Willens der vernünftigenWesen, sondern mit der Vorstellung dieses Gesetzes,so fern diese es sich zum obersten Bestimmungs-grunde des Willens setzen, also nicht bloß mit denSitten der Form nach, sondern auch ihrer Sittlichkeit,als dem Bewegungsgrunde derselben, d.i. mit ihrermoralischen Gesinnung enthalten. Also ist das höch-ste Gut in der Welt nur möglich, so fern eine obersteder Natur angenommen wird, die eine der moralischenGesinnung gemäße Kausalität hat. Nun ist ein Wesen,das der Handlungen nach der Vorstellung von Geset-zen fähig ist, eine Intelligenz (vernünftig Wesen) unddie Kausalität eines solchen Wesens nach dieser Vor-stellung der Gesetze ein Wille desselben. Also ist dieoberste Ursache der Natur, so fern sie zum höchstenGute vorausgesetzt werden muß, ein Wesen, dasdurch Verstand undWillen die Ursache (folglich derUrheber) der Natur ist, d.i. Gott. Folglich ist das Po-stulat der Möglichkeit des höchsten abgeleitetenGuts (der besten Welt) zugleich das Postulat derWirklichkeit eines höchsten ursprünglichen Guts,nämlich der Existenz Gottes. Nun war es Pflicht füruns, das höchste Gut zu befördern, mithin nicht alleinBefugnis, sondern auch mit der Pflicht als Bedürfnisverbundene Notwendigkeit, die Möglichkeit dieseshöchsten Guts vorauszusetzen, welches, da es nur

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unter der Bedingung des Daseins Gottes stattfindet,die Voraussetzung desselben mit der Pflicht unzer-trennlich verbindet, d.i. es ist moralisch notwendig,das Dasein Gottes anzunehmen.

Hier ist nun wohl zu merken, daß diese moralischeNotwendigkeit subjektiv, d.i. Bedürfnis, und nicht ob-jektiv, d.i. selbst Pflicht sei; denn es kann gar keinePflicht geben, die Existenz eines Dinges anzunehmen(weil dieses bloß den theoretischen Gebrauch der Ver-nunft angeht). Auch wird hierunter nicht verstanden,daß die Annehmung des Daseins Gottes, als einesGrundes aller Verbindlichkeit überhaupt, notwendigsei (denn dieser beruht, wie hinreichend bewiesenworden, lediglich auf der Autonomie der Vernunftselbst). Zur Pflicht gehört hier nur die Bearbeitung zuHervorbringung und Beförderung des höchsten Gutsin der Welt, dessen Möglichkeit also postuliert wer-den kann, die aber unsere Vernunft nicht anders denk-bar findet, als unter Voraussetzung einer höchsten In-telligenz, deren Dasein anzunehmen also mit dem Be-wußtsein unserer Pflicht verbunden ist, obzwar dieseAnnehmung selbst für die theoretische Vernunft ge-hört, in Ansehung deren allein sie, als Erklärungs-grund betrachtet, Hypothese, in Beziehung aber aufdie Verständlichkeit eines uns doch durchs moralischeGesetz aufgegebenen Objekts (des höchsten Guts),mithin eines Bedürfnisses in praktischer Absicht,

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Glaube, und zwar reiner Vernunftglaube, heißenkann, weil bloß reine Vernunft (sowohl ihrem theore-tischen als praktischen Gebrauche nach) die Quelleist, daraus er entspringt.

Aus dieser Deduktion wird es nunmehr begreiflich,warum die griechischen Schulen zur Auflösung ihresProblems von der praktischen Möglichkeit des höch-sten Guts niemals gelangen konnten; weil sie nurimmer die Regel des Gebrauchs, den der Wille desMenschen von seiner Freiheit macht, zum einzigenund für sich allein zureichenden Grunde derselbenmachten, ohne, ihrem Bedünken nach, das DaseinGottes dazu zu bedürfen. Zwar taten sie daran recht,daß sie das Prinzip der Sitten unabhängig von diesemPostulat, für sich selbst, aus dem Verhältnis der Ver-nunft allein zum Willen, festsetzten, und es mithin zurobersten praktischen Bedingung des höchsten Gutsmachten; es war aber darum nicht die ganze Bedin-gung der Möglichkeit desselben. Die Epikureer hat-ten nun zwar ein ganz falsches Prinzip der Sitten zumobersten angenommen, nämlich das der Glückselig-keit, und eine Maxime der beliebigen Wahl, nachjedes seiner Neigung, für ein Gesetz untergeschoben;aber darin verfuhren sie doch konsequent genug, daßsie ihr höchstes Gut eben so, nämlich der Niedrigkeitihres Grundsatzes proportionierlich, abwürdigten, undkeine größere Glückseligkeit erwarteten, als die sich

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durch menschliche Klugheit (wozu auch Enthaltsam-keit und Mäßigung der Neigungen gehört) erwerbenläßt, die, wie man weiß, kümmerlich genug, und nachUmständen sehr verschiedentlich, ausfallen muß; dieAusnahmen, welche ihre Maximen unaufhörlich ein-räumen mußten, und die sie zu Gesetzen untauglichmachen, nicht einmal gerechnet. Die Stoiker hattendagegen ihr oberstes praktisches Prinzip, nämlich dieTugend, als Bedingung des höchsten Guts ganz rich-tig gewählt, aber, indem sie den Grad derselben, derfür das reine Gesetz derselben erforderlich ist, als indiesem Leben völlig erreichbar vorstelleten, nicht al-lein das moralische Vermögen desMenschen, unterdem Namen einesWeisen, über alle Schranken seinerNatur hoch gespannt, und etwas, das aller Menschen-kenntnis widerspricht, angenommen, sondern auchvornehmlich das zweite zum höchsten Gut gehörigeBestandstück, nämlich die Glückseligkeit, gar nichtfür einen besonderen Gegenstand des menschlichenBegehrungsvermögens wollen gelten lassen, sondernihren Weisen, gleich einer Gottheit, im Bewußtseinder Vortrefflichkeit seiner Person, von der Natur (inAbsicht auf seine Zufriedenheit) ganz unabhängig ge-macht, indem sie ihn zwar Übeln des Lebens aussetz-ten, aber nicht unterwarfen (zugleich auch als freivom Bösen darstelleten), und so wirklich das zweiteElement des höchsten Guts, eigene Glückseligkeit

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wegließen, indem sie es bloß im Handeln und der Zu-friedenheit mit seinem persönlichen Werte setzten,und also im Bewußtsein der sittlichen Denkungsartmit einschlossen, worin sie aber durch die Stimmeihrer eigenen Natur hinreichend hätten widerlegt wer-den können.

Die Lehre des Christentums13, wenn man sie auchnoch nicht als Religionslehre betrachtet, gibt in die-sem Stücke einen Begriff des höchsten Guts (desReichs Gottes), der allein der strengsten Foderung derpraktischen Vernunft ein Gnüge tut. Das moralischeGesetz ist heilig (unnachsichtlich) und fodert Heilig-keit der Sitten, obgleich alle moralische Vollkommen-heit, zu welcher der Mensch gelangen kann, immernur Tugend ist, d.i. gesetzmäßige Gesinnung aus Ach-tung fürs Gesetz, folglich Bewußtsein eines kontinu-ierlichen Hanges zur Übertretung, wenigstens Unlau-terkeit, d.i. Beimischung vieler unechter (nicht mora-lischer) Bewegungsgründe zur Befolgung des Geset-zes, folglich eine mit Demut verbundene Selbstschät-zung, und also in Ansehung der Heiligkeit, welchedas christliche Gesetz fodert, nichts als Fortschritt insUnendliche dem Geschöpfe übrig läßt, eben daheraber auch dasselbe zur Hoffnung seiner ins Unendli-che gehenden Fortdauer berechtigt. DerWert einerdem moralischen Gesetze völlig angemessenen Gesin-nung ist unendlich; weil alle mögliche Glückseligkeit,

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im Urteile eines weisen und alles vermögenden Aus-teilers derselben, keine andere Einschränkung hat, alsden Mangel der Angemessenheit vernünftiger Wesenan ihrer Pflicht. Aber das moralische Gesetz für sichverheißt doch keine Glückseligkeit; denn diese ist,nach Begriffen von einer Naturordnung überhaupt,mit der Befolgung desselben nicht notwendig verbun-den. Die christliche Sittenlehre ergänzt nun diesenMangel (des zweiten unentbehrlichen Bestandstücksdes höchsten Guts) durch die Darstellung der Welt,darin vernünftige Wesen sich dem sittlichen Gesetzevon ganzer Seele weihen, als eines Reichs Gottes, inwelchem Natur und Sitten in eine, jeder von beidenfür sich selbst fremde, Harmonie, durch einen heiligenUrheber kommen, der das abgeleitete höchste Gutmöglich macht. Die Heiligkeit der Sitten wird ihnenin diesem Leben schon zur Richtschnur angewiesen,das dieser proportionierte Wohl aber, die Seligkeit,nur als in einer Ewigkeit erreichbar vorgestellt; weiljene immer das Urbild ihres Verhaltens in jedemStande sein muß, und das Fortschreiten zu ihr schonin diesem Leben möglich und notwendig ist, dieseaber in dieser Welt, unter dem Namen der Glückselig-keit, gar nicht erreicht werden kann (so viel auf unserVermögen ankommt), und daher lediglich zum Ge-genstande der Hoffnung gemacht wird. Diesem unge-achtet ist das christliche Prinzip derMoral selbst

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doch nicht theologisch (mithin Heteronomie), sondernAutonomie der reinen praktischen Vernunft für sichselbst, weil sie die Erkenntnis Gottes und seines Wil-lens nicht zum Grunde dieser Gesetze, sondern nurder Gelangung zum höchsten Gute, unter der Bedin-gung der Befolgung derselben macht, und selbst dieeigentliche Triebfeder zu Befolgung der ersteren nichtin den gewünschten Folgen derselben, sondern in derVorstellung der Pflicht allein setzt, als in deren treuerBeobachtung die Würdigkeit des Erwerbs der letzternallein besteht.

Auf solche Weise führt das moralische Gesetzdurch den Begriff des höchsten Guts, als das Objektund den Endzweck der reinen praktischen Vernunft,zur Religion, d.i. zur Erkenntnis aller Pflichten alsgöttlicher Gebote, nicht als Sanktionen, d.i. willkür-liche für sich selbst zufällige Verordnungen, einesfremden Willens, sondern als wesentlicher Gesetzeeines jeden freien Willens für sich selbst, die aberdennoch als Gebote des höchsten Wesens angesehenwerden müssen, weil wir nur von einem mora-lisch-vollkommenen (heiligen und gütigen), zugleichauch allgewaltigen Willen das höchste Gut, welcheszum Gegenstande unserer Bestrebung zu setzen unsdas moralische Gesetz zur Pflicht macht, und alsodurch Übereinstimmung mit diesem Willen dazu zugelangen hoffen können. Auch hier bleibt daher alles

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uneigennützig und bloß auf Pflicht gegründet; ohnedaß Furcht oder Hoffnung als Triebfedern zum Grun-de gelegt werden dürften, die, wenn sie zu Prinzipienwerden, den ganzen moralischen Wert der Handlun-gen vernichten. Das moralische Gesetz gebietet, dashöchste mögliche Gut in einer Welt mir zum letztenGegenstande alles Verhaltens zu machen. Dieses aberkann ich nicht zu bewirken hoffen, als nur durch dieÜbereinstimmung meines Willens mit dem eines hei-ligen und gütigen Welturhebers, und, obgleich in demBegriffe des höchsten Guts, als dem eines Ganzen,worin die größte Glückseligkeit mit dem größtenMaße sittlicher (in Geschöpfen möglicher) Vollkom-menheit, als in der genausten Proportion verbundenvorgestellt wird, meine eigene Glückseligkeit mit ent-halten ist: so ist doch nicht sie, sondern das morali-sche Gesetz (welches vielmehr mein unbegrenztesVerlangen darnach auf Bedingungen strenge ein-schränkt) der Bestimmungsgrund des Willens, der zurBeförderung des höchsten Guts angewiesen wird.

Daher ist auch die Moral nicht eigentlich die Lehre,wie wir uns glücklich machen, sondern wie wir derGlückseligkeit würdig werden sollen. Nur denn, wennReligion dazu kommt, tritt auch die Hoffnung ein, derGlückseligkeit dereinst in dem Maße teilhaftig zuwerden, als wir darauf bedacht gewesen, ihrer nichtunwürdig zu sein.

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Würdig ist jemand des Besitzes einer Sache, odereines Zustandes, wenn, daß er in diesem Besitze sei,mit dem höchsten Gute zusammenstimmt. Man kannjetzt leicht einsehen, daß alle Würdigkeit auf das sitt-liche Verhalten ankomme, weil dieses im Begriffe deshöchsten Guts die Bedingung des übrigen (was zumZustande gehört), nämlich des Anteils an Glückselig-keit ausmacht. Nun folgt hieraus: daß man dieMoralan sich niemals als Glückseligkeitslehre behandelnmüsse, d.i. als eine Anweisung, der Glückseligkeitteilhaftig zu werden; denn sie hat es lediglich mit derVernunftbedingung (conditio sine qua non) der letzte-ren, nicht mit einem Erwerbmittel derselben zu tun.Wenn sie aber (die bloß Pflichten auferlegt, nicht ei-gennützigen Wünschen Maßregeln an die Hand gibt)vollständig vorgetragen worden: alsdenn allererstkann, nachdem der sich auf ein Gesetz gründende mo-ralische Wunsch, das höchste Gut zu befördern (dasReich Gottes zu uns zu bringen), der vorher keiner ei-gennützigen Seele aufsteigen konnte, erweckt, undihm zum Behuf der Schritt zur Religion geschehen ist,diese Sittenlehre auch Glückseligkeitslehre genanntwerden, weil die Hoffnung dazu nur mit der Religionallererst anhebt.

Auch kann man hieraus ersehen: daß, wenn mannach dem letzten Zwecke Gottes in Schöpfung derWelt frägt, man nicht die Glückseligkeit der

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vernünftigen Wesen in ihr, sondern das höchste Gutnennen müsse, welches jenem Wunsche dieser Wesennoch eine Bedingung, nämlich die, der Glückseligkeitwürdig zu sein, d.i. die Sittlichkeit eben derselbenvernünftigen Wesen, hinzufügt, die allein den Maß-stab enthält, nach welchem sie allein der ersteren,durch die Hand eines weisen Urhebers, teilhaftig zuwerden hoffen können. Denn, daWeisheit, theoretischbetrachtet, die Erkenntnis des höchsten Guts, und,praktisch, die Angemessenheit des Willens zumhöchsten Gute bedeutet, so kann man einer höchstenselbständigen Weisheit nicht einen Zweck beilegen,der bloß auf Gütigkeit gegründet wäre. Denn dieserihre Wirkung (in Ansehung der Glückseligkeit dervernünftigen Wesen) kann man nur unter den ein-schränkenden Bedingungen der Übereinstimmung mitder Heiligkeit14 seines Willens, als dem höchsten ur-sprünglichen Gute angemessen, denken. Daher dieje-nige, welche den Zweck der Schöpfung in die EhreGottes (vorausgesetzt, daß man diese nicht anthropo-morphistisch, als Neigung, gepriesen zu werden,denkt) setzten, wohl den besten Ausdruck getroffenhaben. Denn nichts ehrt Gott mehr, als das, was dasSchätzbarste in der Welt ist, die Achtung für seinGebot, die Beobachtung der heiligen Pflicht, die unssein Gesetz auferlegt, wenn seine herrliche Anstaltdazu kommt, eine solche schöne Ordnung mit

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angemessener Glückseligkeit zu krönen. Wenn ihndas letztere (auf menschliche Art zu reden) liebens-würdig macht, so ist er durch das erstere ein Gegen-stand der Anbetung (Adoration). Selbst Menschenkönnen sich durch Wohltun zwar Liebe, aber dadurchallein niemals Achtung erwerben, so daß die größteWohltätigkeit ihnen nur dadurch Ehre macht, daß sienach Würdigkeit ausgeübt wird.

Daß, in der Ordnung der Zwecke, der Mensch (mitihm jedes vernünftige Wesen) Zweck an sich selbstsei, d.i. niemals bloß als Mittel von jemanden (selbstnicht von Gott), ohne zugleich hiebei selbst Zweck zusein, könne gebraucht werden, daß also dieMensch-heit in unserer Person uns selbst heilig sein müsse,folgt nunmehr von selbst, weil er das Subjekt des mo-ralischen Gesetzes, mithin dessen ist, was an sichheilig ist, um dessen willen und in Einstimmung mitwelchem auch überhaupt nur etwas heilig genanntwerden kann. Denn dieses moralische Gesetz gründetsich auf der Autonomie seines Willens, als eines frei-en Willens, der nach seinen allgemeinen Gesetzennotwendig zu demjenigen zugleich muß einstimmenkönnen, welchem ersieh unterwerfen soll.

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VI. Über die Postulate der reinen praktischenVernunft überhaupt

Sie gehen alle vom Grundsätze der Moralität aus,der kein Postulat, sondern ein Gesetz ist, durch wel-ches Vernunft mittelbar den Willen bestimmt, welcherWille eben dadurch, daß er so bestimmt ist, als reinerWille, diese notwendige Bedingungen der Befolgungseiner Vorschrift fodert. Diese Postulate sind nichttheoretische Dogmata, sondern Voraussetzungen innotwendig praktischer Rücksicht, erweitern also zwardas spekulative Erkenntnis, geben aber den Ideen derspekulativen Vernunft im allgemeinen (vermittelstihrer Beziehung aufs Praktische) objektive Realität,und berechtigen sie zu Begriffen, deren Möglichkeitauch nur zu behaupten sie sich sonst nicht anmaßenkönnte.

Diese Postulate sind die der Unsterblichkeit, derFreiheit, positiv betrachtet (als der Kausalität einesWesens, so fern es zur intelligibelen Welt gehört),und des Daseins Gottes. Das erste fließt aus derpraktisch notwendigen Bedingung der Angemessen-heit der Dauer zur Vollständigkeit der Erfüllung desmoralischen Gesetzes; das zweite aus der notwendi-gen Voraussetzung der Unabhängigkeit von der Sin-nenwelt und des Vermögens der Bestimmung seines

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Willens, nach dem Gesetze einer intelligibelen Welt,d.i. der Freiheit; das dritte aus der Notwendigkeit derBedingung zu einer solchen intelligibelen Welt, umdas höchste Gut zu sein, durch die Voraussetzung deshöchsten selbständigen Guts, d.i. des Daseins Gottes.

Die durch die Achtung fürs moralische Gesetz not-wendige Absicht aufs höchste Gut, und daraus flie-ßende Voraussetzung der objektiven Realität dessel-ben, führt also durch Postulate der praktischen Ver-nunft zu Begriffen, welche die spekulative Vernunftzwar als Aufgaben vortragen, sie aber nicht auflösenkonnte. Also 1. zu derjenigen, in deren Auflösung dieletztere nichts, als Paralogismen begehen konnte(nämlich der Unsterblichkeit), weil es ihr am Merk-male der Beharrlichkeit fehlete, um den psychologi-schen Begriff eines letzten Subjekts, welcher derSeele im Selbstbewußtsein notwendig beigelegt wird,zur realen Vorstellung einer Substanz zu ergänzen,welches die praktische Vernunft, durch das Postulat,einer zur Angemessenheit mit dem moralischen Ge-setze im höchsten Gute, als dem ganzen Zwecke derpraktischen Vernunft, erforderlichen Dauer, ausrich-tet. 2. Führt sie zu dem, wovon die spekulative Ver-nunft nichts als Antinomie enthielt, deren Auflösungsie nur auf einem problematisch zwar denkbaren, aberseiner objektiven Realität nach für sie nicht erweisli-chen und bestimmbaren Begriffe gründen konnte,

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nämlich die kosmologische Idee einer intelligibelenWelt und das Bewußtsein unseres Daseins in dersel-ben, vermittelst des Postulats der Freiheit (deren Rea-lität sie durch das moralische Gesetz darlegt, und mitihm zugleich das Gesetz einer intelligibelen Welt,worauf die spekulative nur hinweisen, ihren Begriffaber nicht bestimmen konnte). 3. Verschafft sie dem,was spekulative Vernunft zwar denken, aber als blo-ßes transzendentales Ideal unbestimmt lassen mußte,dem theologischen Begriffe des Urwesens, Bedeutung(in praktischer Absicht, d.i. als einer Bedingung derMöglichkeit des Objekts eines durch jenes Gesetz be-stimmten Willens), als dem obersten Prinzip deshöchsten Guts in einer intelligibelen Welt, durch ge-walthabende moralische Gesetzgebung in derselben.

Wird nun aber unser Erkenntnis auf solche Artdurch reine praktische Vernunft wirklich erweitert,und ist das, was für die spekulative transzendent war,in der praktischen immanent? Allerdings, aber nur inpraktischer Absicht. Denn wir erkennen zwar da-durch weder unserer Seele Natur, noch die intelligi-bele Welt, noch das höchste Wesen, nach dem, wassie an sich selbst sind, sondern haben nur die Begriffevon ihnen im praktischen Begriffe des höchsten Gutsvereinigt, als dem Objekte unseres Willens, und völ-lig a priori, durch reine Vernunft, aber nur vermittelstdes moralischen Gesetzes, und auch bloß in

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Beziehung auf dasselbe, in Ansehung des Objekte,das es gebietet. Wie aber auch nur die Freiheit mög-lich sei, und wie man sich diese Art von Kausalitättheoretisch und positiv vorzustellen habe, wird da-durch nicht eingesehen, sondern nur, daß eine solchesei, durchs moralische Gesetz und zu dessen Behufpostuliert. So ist es auch mit den übrigen Ideen be-wandt, die nach ihrer Möglichkeit kein menschlicherVerstand jemals ergründen, aber auch, daß sie nichtwahre Begriffe sind, keine Sophisterei der Überzeu-gung, selbst des gemeinsten Menschen, jemals entrei-ßen wird.

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266Kant: Kritik der praktischen Vernunft

VII. Wie eine Erweiterung der reinen Vernunft, inpraktischer Absicht, ohne damit ihr Erkenntnis, alsspekulativ, zugleich zu erweitern, zu denken möglich

sei?

Wir wollen diese Frage, um nicht zu abstrakt zuwerden, sofort in Anwendung auf den vorliegendenFall beantworten. - Um ein reines Erkenntnis prak-tisch zu erweitern, muß eine Absicht a priori gegebensein, d.i. ein Zweck, als Objekt (des Willens), wel-ches, unabhängig von allen theologischen Grundsät-zen, durch einen den Willen unmittelbar bestimmen-den (kategorischen) Imperativ, als prak-tisch-notwendig vorgestellt wird, und das ist hier dashöchste Gut. Dieses ist aber nicht möglich, ohne dreitheoretische Begriffe (für die sich, weil sie bloße reineVernunftbegriffe sind, keine korrespondierende An-schauung, mithin, auf dem theoretischen Wege, keineobjektive Realität finden läßt) vorauszusetzen: näm-lich Freiheit, Unsterblichkeit, und Gott. Also wirddurchs praktische Gesetz, welches die Existenz deshöchsten in einer Welt möglichen Guts gebietet, dieMöglichkeit jener Objekte der reinen spekulativenVernunft, die objektive Realität, welche diese ihnennicht sichern konnte, postuliert; wodurch denn dietheoretische Erkenntnis der reinen Vernunft allerdings

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einen Zuwachs bekommt, der aber bloß darin besteht,daß jene für sie sonst problematische (bloß denkbare)Begriffe jetzt assertorisch für solche erklärt werden,denen wirklich Objekte zukommen, weil praktischeVernunft die Existenz derselben zur Möglichkeitihres, und zwar praktisch-schlechthin notwendigen,Objekts des höchsten Guts unvermeidlich bedarf, unddie theoretische dadurch berechtigt wird, sie voraus-zusetzen. Diese Erweiterung der theoretischen Ver-nunft ist aber keine Erweiterung der Spekulation, d.i.um in theoretischer Absicht nunmehr einen positivenGebrauch davon zu machen. Denn da nichts weiterdurch praktische Vernunft hiebei geleistet worden, alsdaß jene Begriffe real sind, und wirklich ihre (mögli-che) Objekte haben, dabei aber uns nichts von An-schauung derselben gegeben wird (welches auch nichtgefedert werden kann), so ist kein synthetischer Satzdurch diese eingeräumte Realität derselben möglich.Folglich hilft uns diese Eröffnung nicht im mindestenin spekulativer Absicht, wohl aber in Ansehung despraktischen Gebrauchs der reinen Vernunft, zur Er-weiterung dieses unseres Erkenntnisses. Die obigedrei Ideen der spekulativen Vernunft sind an sichnoch keine Erkenntnisse; doch sind es (transzendente)Gedanken, in denen nichts Unmögliches ist. Nun be-kommen sie durch ein apodiktisches praktisches Ge-setz, als notwendige Bedingungen der Möglichkeit

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dessen, was dieses sich zum Objekte zu machen ge-bietet, objektive Realität, d.i. wir werden durch jenesangewiesen, daß sie Objekte haben, ohne doch, wiesich ihr Begriff auf ein Objekt bezieht, anzeigen zukönnen, und das ist auch noch nicht Erkenntnis dieserObjekte; denn man kann dadurch gar nichts über siesynthetisch urteilen, noch die Anwendung derselbentheoretisch bestimmen, mithin von ihnen gar keinentheoretischen Gebrauch der Vernunft machen, alsworin eigentlich alle spekulative Erkenntnis derselbenbesteht. Aber dennoch ward das theoretische Erkennt-nis, zwar nicht dieser Objekte, aber der Vernunftüberhaupt, dadurch so fern erweitert, daß durch diepraktischen Postulate jenen Ideen doch Objekte gege-ben wurden, indem ein bloß problematischer Gedankedadurch allererst objektive Realität bekam. Also wares keine Erweiterung der Erkenntnis von gegebenenübersinnlichen Gegenständen, aber doch eine Erwei-terung der theoretischen Vernunft und der Erkenntnisderselben in Ansehung des Übersinnlichen überhaupt,so fern als sie genötigt wurde, daß es solche Gegen-stände gebe, einzuräumen, ohne sie doch näher be-stimmen, mithin dieses Erkenntnis von den Objekten(die ihr nunmehr aus praktischem Grunde, und auchnur zum praktischen Gebrauche, gegeben worden)selbst erweitern zu können, welchen Zuwachs also diereine theoretische Vernunft, für die alle jene Ideen

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transzendent und ohne Objekt sind, lediglich ihremreinen praktischen Vermögen zu verdanken hat. Hierwerden sie immanent und konstitutiv, indem sieGründe der Möglichkeit sind, das notwendige Objektder reinen praktischen Vernunft (das höchste Gut)wirklich zu machen, da sie, ohne dies, transzendentund bloß regulative Prinzipien der spekulativen Ver-nunft sind, die ihr nicht ein neues Objekt über die Er-fahrung hinaus anzunehmen, sondern nur ihren Ge-brauch in der Erfahrung der Vollständigkeit zu nähe-ren, auferlegen. Ist aber die Vernunft einmal im Besit-ze dieses Zuwachses, so wird sie, als spekulative Ver-nunft (eigentlich nur zur Sicherung ihres praktischenGebrauchs), negativ, d.i. nicht erweiternd, sondernläuternd, mit jenen Ideen zu Werke gehen, um einer-seits den Anthropomorphism als den Quell der Su-perstition, oder scheinbare Erweiterung jener Begriffedurch vermeinte Erfahrung, andererseits den Fanati-zism, der sie durch übersinnliche Anschauung oderdergleichen Gefühle verspricht, abzuhalten; welchesalles Hindernisse des praktischen Gebrauchs der rei-nen Vernunft sind, deren Abwehrung also zu der Er-weiterung unserer Erkenntnis in praktischer Absichtallerdings gehört, oder daß es dieser widerspricht, zu-gleich zu gestehen, daß die Vernunft in spekulativerAbsicht dadurch im mindesten nichts gewonnen habe.

Zu jedem Gebrauche der Vernunft in Ansehung

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eines Gegenstandes werden reine Verstandesbegriffe(Kategorien) erfodert, ohne die kein Gegenstand ge-dacht werden kann. Diese können zum theoretischenGebrauche der Vernunft, d.i. zu dergleichen Erkennt-nis nur angewandt werden, so fern ihnen zugleich An-schauung (die jederzeit sinnlich ist) untergelegt wird,und also bloß, um durch sie ein Objekt möglicher Er-fahrung vorzustellen. Nun sind hier aber Ideen derVernunft, die in gar keiner Erfahrung gegeben werdenkönnen, das, was ich durch Kategorien denken müßte,um es zu erkennen. Allein es ist hier auch nicht umdas theoretische Erkenntnis der Objekte dieser Ideen,sondern nur darum, daß sie überhaupt Objekte haben,zu tun. Diese Realität verschafft reine praktische Ver-nunft, und hiebei hat die theoretische Vernunft nichtsweiter zu tun, als jene Objekte durch Kategorien bloßzu denken, welches, wie wir sonst deutlich gewiesenhaben, ganz wohl, ohne Anschauung (weder sinnli-che, noch übersinnliche) zu bedürfen, angeht, weil dieKategorien im reinen Verstande unabhängig und voraller Anschauung, lediglich als dem Vermögen zudenken, ihren Sitz und Ursprung haben, und sieimmer nur ein Objekt überhaupt bedeuten, auf welcheArt es uns auch immer gegeben werden mag. Nun istden Kategorien, so fern sie auf jene Ideen angewandtwerden sollen, zwar kein Objekt in der Anschauungzu geben möglich; es ist ihnen aber doch, daß ein

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solches wirklich sei, mithin die Kategorie, als einebloße Gedankenform, hier nicht leer sei, sondern Be-deutung habe, durch ein Objekt, welches die prakti-sche Vernunft im Begriffe des höchsten Guts unge-zweifelt darbietet, die Realität der Begriffe, die zumBehuf der Möglichkeit des höchsten Guts gehören,hinreichend gesichert, ohne gleichwohl durch diesenZuwachs die mindeste Erweiterung des Erkenntnissesnach theoretischen Grundsätzen zu bewirken.

* * *

Wenn, nächstdem, diese Ideen von Gott, einer in-telligibelen Welt (dem Reiche Gottes) und der Un-sterblichkeit durch Prädikate bestimmt werten, dievon unserer eigenen Natur hergenommen sind, so darfman diese Bestimmung weder als Versinnlichungjener reinen Vernunftideen (Anthropomorphismen),noch als überschwengliches Erkenntnis übersinnli-cher Gegenstände ansehen; denn diese Prädikate sindkeine andere als Verstand und Wille, und zwar so imVerhältnisse gegen einander betrachtet, als sie im mo-ralischen Gesetze gedacht werden müssen, also nur,so weit von ihnen ein reiner praktischer Gebrauch ge-macht wird. Von allem übrigen, was diesen Begriffenpsychologisch anhängt, d.i. so fern wir diese unsereVermögen in ihrer Ausübung empirisch beobachten

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(z.B., daß der Verstand des Menschen diskursiv ist,seine Vorstellungen also Gedanken, nicht Anschauun-gen sind, daß diese in der Zeit auf einander folgen,daß sein Wille immer mit einer Abhängigkeit der Zu-friedenheit von der Existenz seines Gegenstandes be-haftet ist, u.s.w., welches im höchsten Wesen so nichtsein kann), wird alsdenn abstrahiert, und so bleibtvon den Begriffen, durch die wir uns ein reines Ver-standeswesen denken, nichts mehr übrig, als geradezur Möglichkeit erfoderlich ist, sich ein moralisch Ge-setz zu denken, mithin zwar ein Erkenntnis Gottes,aber nur in praktischer Beziehung, wodurch, wennwir den Versuch machen, es zu einem theoretischenzu erweitern, wir einen Verstand desselben bekom-men, der nicht denkt, sondern anschaut, einen Willen,der auf Gegenstände gerichtet ist, von deren Existenzseine Zufriedenheit nicht im mindesten abhängt (ichwill nicht einmal der transzendentalen Prädikate er-wähnen, als z.B. eine Größe der Existenz, d.i. Dauer,die aber nicht in der Zeit, als dem einzigen uns mögli-chen Mittel, uns Dasein als Größe vorzustellen, statt-findet), lauter Eigenschaften, von denen wir uns garkeinen Begriff, zum Erkenntnisse des Gegenstandestauglich, machen können, und dadurch belehrt wer-den, daß sie niemals zu einer Theorie von übersinnli-chen Wesen gebraucht werden können, und also, aufdieser Seite, ein spekulatives Erkenntnis zu gründen

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gar nicht vermögen, sondern ihren Gebrauch lediglichauf die Ausübung des moralischen Gesetzes ein-schränken.

Dieses letztere ist so augenscheinlich, und kann soklar durch die Tat bewiesen werden, daß man getrostalle vermeinte natürliche Gottesgelehrte (ein wunder-licher Name)15 auffodern kann, auch nur eine diesenihren Gegenstand (über die bloß ontologischen Prädi-kate hinaus) bestimmende Eigenschaft, etwa des Ver-standes, oder des Willens, zu nennen, an der mannicht unwidersprechlich dartun könnte, daß, wennman alles Anthropomorphistische davon absondert,uns nur das bloße Wort übrig bleibe, ohne damit denmindesten Begriff verbinden zu können, dadurch eineErweiterung der theoretischen Erkenntnis gehofft wer-den dürfte. In Ansehung des Praktischen aber bleibtuns von den Eigenschaften eines Verstandes und Wil-lens doch noch der Begriff eines Verhältnisses übrig,welchem das praktische Gesetz (das gerade diesesVerhältnis des Verstandes zum Willen a priori be-stimmt) objektive Realität verschafft. Ist dieses nuneinmal geschehen, so wird dem Begriffe des Objektseines moralisch bestimmten Willens (dem des höch-sten Guts) und mit ihm den Bedingungen seiner Mög-lichkeit, den Ideen von Gott, Freiheit und Unsterb-lichkeit, auch Realität, aber immer nur in Beziehungauf die Ausübung des moralischen Gesetzes (zu

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keinem spekulativen Behuf), gegeben.Nach diesen Erinnerungen ist nun auch die Beant-

wortung der wichtigen Frage leicht zu finden: Ob derBegriff von Gott ein zur Physik (mithin auch zur Me-taphysik, als die nur die reinen Prinzipien a priori derersteren in allgemeiner Bedeutung enthält) oder einzur Moral gehöriger Begriff sei. Natureinrichtungen,oder deren Veränderung zu erklären, wenn man da zuGott, als dem Urheber aller Dinge, seine Zufluchtnimmt, ist wenigstens keine physische Erklärung, undüberall ein Geständnis, man sei mit seiner Philoso-phie zu Ende; weil man genötigt ist, etwas, wovonman sonst für sich keinen Begriff hat, anzunehmen,um sich von der Möglichkeit dessen, was man vorAugen sieht, einen Begriff machen zu können. DurchMetaphysik aber von der Kenntnis dieserWelt zumBegriffe von Gott und dem Beweise seiner Existenzdurch sichere Schlüsse zu gelangen, ist darum un-möglich, weil wir diese Welt als das vollkommenstemögliche Ganze, mithin, zu diesem Behuf, alle mögli-che Welten (um sie mit dieser vergleichen zu können)erkennen, mithin allwissend sein müßten, um zusagen, daß sie nur durch einen Gott (wie wir uns die-sen Begriff denken müssen) möglich war. Vollendsaber die Existenz dieses Wesens aus bloßen Begriffenzu erkennen, ist schlechterdings unmöglich, weil einjeder Existentialsatz, d.i. der, so von einem Wesen,

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von dem ich mir einen Begriff mache, sagt, daß esexistiere, ein synthetischer Satz ist, d.i. ein solcher,dadurch ich über jenen Begriff hinausgehe und mehrvon ihm sage, als im Begriffe gedacht war: nämlichdaß diesem Begriffe im Verstande noch ein Gegen-stand außer dem Verstande korrespondierend gesetztsei, welches offenbar unmöglich ist durch irgendeinen Schluß herauszubringen. Also bleibt nur eineinziges Verfahren für die Vernunft übrig, zu diesemErkenntnisse zu gelangen, da sie nämlich, als reineVernunft, von dem obersten Prinzip ihres reinen prak-tischen Gebrauchs ausgehend (indem dieser ohnedembloß auf die Existenz von etwas, als Folge der Ver-nunft, gerichtet ist), ihr Objekt bestimmt. Und dazeigt sich, nicht allein in ihrer unvermeidlichen Auf-gabe, nämlich der notwendigen Richtung des Willensauf das höchste Gut, die Notwendigkeit, ein solchesUrwesen, in Beziehung auf die Möglichkeit diesesGuten in der Welt, anzunehmen, sondern, was dasMerkwürdigste ist, etwas, was dem Fortgange derVernunft auf dem Naturwege ganz mangelte, nämlichein genau bestimmter Begriff dieses Urwesens. Dawir diese Welt nur zu einem kleinen Teile kennen,noch weniger sie mit allen möglichen Welten verglei-chen können, so können wir von ihrer Ordnung,Zweckmäßigkeit und Größe wohl auf einen weisen,gütigen, mächtigen etc. Urheber derselben schließen,

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aber nicht auf seine Allwissenheit, Allgütigkeit, All-macht, u.s.w. Man kann auch gar wohl einräumen:daß man diesen unvermeidlichen Mangel durch eineerlaubte ganz vernünftige Hypothese zu ergänzenwohl befugt sei; daß nämlich, wenn in so vielStücken, als sich unserer näheren Kenntnis darbieten,Weisheit, Gütigkeit etc. hervorleuchtet, in allen übri-gen es eben so sein werde, und es also vernünftig sei,dem Welturheber alle mögliche Vollkommenheit bei-zulegen; aber das sind keine Schlüsse, wodurch wiruns auf unsere Einsicht etwas dünken, sondern nurBefugnisse, die man uns nachsehen kann, und dochnoch einer anderweitigen Empfehlung bedürfen, umdavon Gebrauch zu machen. Der Begriff von Gottbleibt also auf dem empirischen Wege (der Physik)immer ein nicht genau bestimmter Begriff von derVollkommenheit des ersten Wesens, um ihn dem Be-griffe einer Gottheit für angemessen zu halten (mit derMetaphysik aber in ihrem transzendentalen Teile istgar nichts auszurichten).

Ich versuche nun, diesen Begriff an das Objekt derpraktischen Vernunft zu halten, und da finde ich, daßder moralische Grundsatz ihn nur als möglich, unterVoraussetzung eines Welturhebers von höchster Voll-kommenheit, zulasse. Er muß allwissend sein, ummein Verhalten bis zum Innersten meiner Gesinnungin allen möglichen Fällen und in alle Zukunft zu

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erkennen; allmächtig, um ihm die angemessenen Fol-gen zu erteilen; eben so allgegenwärtig, ewig, usw.Mithin bestimmt das moralische Gesetz durch denBegriff des höchsten Guts, als Gegenstandes einer rei-nen praktischen Vernunft, den Begriff des Urwesensals höchsten Wesens, welches der physische (undhöher fortgesetzt der metaphysische), mithin derganze spekulative Gang der Vernunft nicht bewirkenkonnte. Also ist der Begriff von Gott ein ursprünglichnicht zur Physik, d.i. für die spekulative Vernunft,sondern zur Moral gehöriger Begriff, und eben daskann man auch von den übrigen Vernunftbegriffensagen, von denen wir, als Postulaten derselben inihrem praktischen Gebrauche, oben gehandelt haben.

Wenn man in der Geschichte der griechischen Phi-losophie über den Anaxagoras hinaus keine deutlicheSpuren einer reinen Vernunfttheologie antrifft, so istder Grund nicht darin gelegen, daß es den älteren Phi-losophen an Verstande und Einsicht fehlte, um durchden Weg der Spekulation, wenigstens mit Beihülfeeiner ganz vernünftigen Hypothese, sich dahin zu er-heben; was konnte leichter, was natürlicher sein, alsder sich von selbst jedermann darbietende Gedanke,statt unbestimmter Grade der Vollkommenheit ver-schiedener Weltursachen, eine einzige vernünftige an-zunehmen, die alle Vollkommenheit hat? Aber dieÜbel in der Welt schienen ihnen viel zu wichtige

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Einwürfe zu sein, um zu einer solchen Hypothese sichfür berechtigt zu halten. Mithin zeigten sie darin ebenVerstand und Einsicht, daß sie sich jene nicht erlaub-ten, und vielmehr in den Naturursachen herum such-ten, ob sie unter ihnen nicht die zu Urwesen erfoderli-che Beschaffenheit und Vermögen antreffen möchten.Aber nachdem dieses scharfsinnige Volk so weit inNachforschungen fortgerückt war, selbst sittliche Ge-genstände, darüber andere Völker niemals mehr alsgeschwatzt haben, philosophisch zu behandeln: dafanden sie allererst ein neues Bedürfnis, nämlich einpraktisches, welches nicht ermangelte, ihnen den Be-griff des Urwesens bestimmt anzugeben, wobei diespekulative Vernunft das Zusehen hatte, höchstensnoch das Verdienst, einen Begriff, der nicht auf ihremBoden erwachsen war, auszuschmücken, und miteinem Gefolge von Bestätigungen aus der Naturbe-trachtung, die nun allererst hervortraten, wohl nichtdas Ansehen desselben (welches schon gegründetwar), sondern vielmehr nur das Gepränge mit ver-meinter theoretischer Vernunfteinsicht zu befördern.

* * *

Aus diesen Erinnerungen wird der Leser der Krit.d. r. spek. Vernunft sich vollkommen überzeugen: wiehöchstnötig, wie ersprießlich für Theologie und

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Einwürfe zu sein, um zu einer solchen Hypothese sichfür berechtigt zu halten. Mithin zeigten sie darin ebenVerstand und Einsicht, daß sie sich jene nicht erlaub-ten, und vielmehr in den Naturursachen herum such-ten, ob sie unter ihnen nicht die zu Urwesen erfoderli-che Beschaffenheit und Vermögen antreffen möchten.Aber nachdem dieses scharfsinnige Volk so weit inNachforschungen fortgerückt war, selbst sittliche Ge-genstände, darüber andere Völker niemals mehr alsgeschwatzt haben, philosophisch zu behandeln: dafanden sie allererst ein neues Bedürfnis, nämlich einpraktisches, welches nicht ermangelte, ihnen den Be-griff des Urwesens bestimmt anzugeben, wobei diespekulative Vernunft das Zusehen hatte, höchstensnoch das Verdienst, einen Begriff, der nicht auf ihremBoden erwachsen war, auszuschmücken, und miteinem Gefolge von Bestätigungen aus der Naturbe-trachtung, die nun allererst hervortraten, wohl nichtdas Ansehen desselben (welches schon gegründetwar), sondern vielmehr nur das Gepränge mit ver-meinter theoretischer Vernunfteinsicht zu befördern.

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Aus diesen Erinnerungen wird der Leser der Krit.d. r. spek. Vernunft sich vollkommen überzeugen: wiehöchstnötig, wie ersprießlich für Theologie und

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Moral, jene mühsame Deduktion der Kategorien war.Denn dadurch allein kann verhütet werden, sie, wennman sie im reinen Verstande setzt, mit Plato, für an-geboren zu halten, und darauf überschwengliche An-maßungen mit Theorien des Übersinnlichen, wovonman kein Ende absieht, zu gründen, dadurch aber dieTheologie zur Zauberlaterne von Hirngespenstern zumachen; wenn man sie aber für erworben hält, zu ver-hüten, daß man nicht, mit Epikur, allen und jeden Ge-brauch derselben, selbst den in praktischer Absicht,bloß auf Gegenstände und Bestimmungsgründe derSinne einschränke. Nun aber, nachdem die Kritik injener Deduktion erstlich bewies, daß sie nicht empiri-schen Ursprungs sein, sondern a priori im reinen Ver-stande ihren Sitz und Quelle haben; zweitens auch,daß, da sie auf Gegenstände überhaupt, unabhängigvon ihrer Anschauung, bezogen werden, sie zwar nurin Anwendung auf empirische Gegenstände theoreti-sches Erkenntnis zu Stande bringen, aber doch auch,auf einen durch reine praktische Vernunft gegebenenGegenstand angewandt, zum bestimmten Denken desÜbersinnlichen dienen, jedoch nur, so fern diesesbloß durch solche Prädikate bestimmt wird, die not-wendig zur reinen a priori gegebenen praktischen Ab-sicht und deren Möglichkeit gehören. SpekulativeEinschränkung der reinen Vernunft und praktische Er-weiterung derselben bringen dieselbe allererst in

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dasjenige Verhältnis der Gleichheit, worin Vernunftüberhaupt zweckmäßig gebraucht werden kann, unddieses Beispiel beweiset besser, als sonst eines, daßder Weg zurWeisheit, wenn er gesichert und nichtungangbar oder irreleitend werden soll, bei uns Men-schen unvermeidlich durch die Wissenschaft durchge-hen müsse, wovon man aber, daß diese zu jenem Zieleführe, nur nach Vollendung derselben überzeugt wer-den kann.

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VIII. Vom Fürwahrhalten aus einem Bedürfnisse derreinen Vernunft

Ein Bedürfnis der reinen Vernunft in ihrem speku-lativen Gebrauche führt nur auf Hypothesen, das derreinen praktischen Vernunft aber zu Postulaten; dennim ersteren Falle steige ich vom Abgeleiteten so hochhinauf in der Reihe der Gründe, wie ich will, und be-darf eines Ungrundes, nicht um jenem Abgeleiteten(z.B. der Kausalverbindung der Dinge und Verände-rungen in der Welt) objektive Realität zu geben, son-dern nur um meine forschende Vernunft in Ansehungdesselben vollständig zu befriedigen. So sehe ichOrdnung und Zweckmäßigkeit in der Natur vor mir,und bedarf nicht, um mich von derenWirklichkeit zuversichern, zur Spekulation zu schreiten, sondern nur,um sie zu erklären, eine Gottheit, als deren Ursache,voraus zu setzen; da denn, weil von einer Wirkungder Schluß auf eine bestimmte, vornehmlich so genauund so vollständig bestimmte Ursache, als wir anGott zu denken haben, immer unsicher und mißlichist, eine solche Voraussetzung nicht weitergebrachtwerden kann, als zu dem Grade der, für uns Men-schen, allervernünftigsten Meinung.16 Dagegen istein Bedürfnis der reinen praktischen Vernunft, aufeiner Pflicht gegründet, etwas (das höchste Gut) zum

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Gegenstande meines Willens zu machen, um es nachallen meinen Kräften zu befördern; wobei ich aber dieMöglichkeit desselben, mithin auch die Bedingungendazu, nämlich Gott, Freiheit und Unsterblichkeit vor-aussetzen muß, weil ich diese durch meine spekula-tive Vernunft nicht beweisen, obgleich auch nicht wi-derlegen kann. Diese Pflicht gründet sich auf einem,freilich von diesen letzteren Voraussetzungen ganzunabhängigen, für sich selbst apodiktisch gewissen,nämlich dem moralischen, Gesetze, und ist, so fern,keiner anderweitigen Unterstützung durch theoreti-sche Meinung von der innern Beschaffenheit derDinge, der geheimen Abzweckung der Weltordnung,oder eines ihr vorstehenden Regierers, bedürftig, umuns auf das vollkommenste zu unbe-dingt-gesetzmäßigen Handlungen zu verbinden. Aberder subjektive Effekt dieses Gesetzes, nämlich dieihm angemessene und durch dasselbe auch notwen-dige Gesinnung, das praktisch mögliche höchste Gutzu befördern, setzt doch wenigstens voraus, daß dasletztere möglich sei, widrigenfalls es prak-tisch-unmöglich wäre, dem Objekte eines Begriffesnachzustreben, welcher im Grunde leer und ohne Ob-jekt wäre. Nun betreffen obige Postulate nur die phy-sische oder metaphysische, mit einem Worte, in derNatur der Dinge liegende Bedingungen der Möglich-keit des höchsten Guts, aber nicht zum Behuf einer

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beliebigen spekulativen Absicht, sondern eines prak-tisch notwendigen Zwecks des reinen Vernunftwil-lens, der hier nicht wählt, sondern einem unnachlaßli-chen Vernunftgebote gehorcht, welches seinen Grund,objektiv, in der Beschaffenheit der Dinge hat, so wiesie durch reine Vernunft allgemein beurteilt werdenmüssen, und gründet sich nicht etwa auf Neigung, diezum Behuf dessen, was wir aus bloß subjektivenGründen wünschen, so fort die Mittel dazu als mög-lich, oder den Gegenstand wohl gar als wirklich, an-zunehmen keinesweges berechtigt ist. Also ist diesesein Bedürfnis in schlechterdings notwendiger Ab-sicht, und rechtfertigt seine Voraussetzung nicht bloßals erlaubte Hypothese, sondern als Postulat in prakti-scher Absicht; und, zugestanden, daß das reine mora-lische Gesetz jedermann, als Gebot (nicht als Klug-heitsregel), unnachlaßlich verbinde, darf der Recht-schaffene wohl sagen: ich will, daß ein Gott, daß meinDasein in dieser Welt, auch außer der Naturverknüp-fung, noch ein Dasein in einer reinen Verstandeswelt,endlich auch daß meine Dauer endlos sei, ich beharredarauf und lasse mir diesen Glauben nicht nehmen;denn dieses ist das einzige, wo mein Interesse, weilich von demselben nichts nachlassen darf, mein Urteilunvermeidlich bestimmt, ohne auf Vernünfteleien zuachten, so wenig ich auch darauf zu antworten oderihnen scheinbarere entgegen zu stellen im Stande sein

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278Kant: Kritik der praktischen Vernunft

möchte.17

* * *

Um bei dem Gebrauche eines noch so ungewohntenBegriffs als der eines reinen praktischen Vernunft-glaubens ist, Mißdeutungen zu verhüten, sei mir er-laubt, noch eine Anmerkung hinzuzufügen. - Es soll-te fast scheinen, als ob dieser Vernunftglaube hierselbst als Gebot angekündigt werde, nämlich dashöchste Gut für möglich anzunehmen. Ein Glaubeaber, der geboten wird, ist ein Unding. Man erinneresich aber der obigen Auseinandersetzung dessen, wasim Begriffe des höchsten Guts anzunehmen verlangtwird, und wird man inne werden, daß diese Möglich-keit anzunehmen gar nicht geboten werden dürfe, undkeine praktische Gesinnungen fodere, sie einzuräu-men, sondern daß spekulative Vernunft sie ohne Ge-such zugeben müsse; denn daß eine, dem moralischenGesetze angemessene, Würdigkeit der vernünftigenWesen in der Welt, glücklich zu sein, mit einem die-ser proportionierten Besitze dieser Glückseligkeit inVerbindung, an sich unmöglich sei, kann doch nie-mand behaupten wollen. Nun gibt uns in Ansehungdes ersten Stücks des höchsten Guts, nämlich was dieSittlichkeit betrifft, das moralische Gesetz bloß einGebot, und, die Möglichkeit jenes Bestandstücks zu

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279Kant: Kritik der praktischen Vernunft

bezweifeln, wäre eben so viel, als das moralische Ge-setz selbst in Zweifel ziehen. Was aber das zweiteStück jenes Objekts, nämlich die jener Würdigkeitdurchgängig angemessene Glückseligkeit, betrifft, soist zwar die Möglichkeit derselben überhaupt einzu-räumen gar nicht eines Gebots bedürftig, denn dietheoretische Vernunft hat selbst nichts dawider: nurdie Art, wie wir uns eine solche Harmonie der Natur-gesetze mit denen der Freiheit denken sollen, hatetwas an sich, in Ansehung dessen uns eineWahl zu-kommt, weil theoretische Vernunft hierüber nichts mitapodiktischer Gewißheit entscheidet, und, in Anse-hung dieser, kann es ein moralisches Interesse geben,das den Ausschlag gibt.

Oben hatte ich gesagt, daß, nach einem bloßen Na-turgange in der Welt, die genau dem sittlichen Werteangemessene Glückseligkeit nicht zu erwarten und fürunmöglich zu halten sei, und daß also die Möglich-keit des höchsten Guts, von dieser Seite, nur unterVoraussetzung eines moralischen Welturhebers könneeingeräumt werden. Ich hielt mit Vorbedacht mit derEinschränkung dieses Urteils auf die subjektiven Be-dingungen unserer Vernunft zurück, um nur dann al-lererst, wenn die Art ihres Fürwahrhaltens näher be-stimmt werden sollte, davon Gebrauch zu machen. Inder Tat ist die genannte Unmöglichkeit bloß subjek-tiv, d.i. unsere Vernunft findet es ihr unmöglich, sich

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279Kant: Kritik der praktischen Vernunft

einen so genau angemessenen und durchgängigzweckmäßigen Zusammenhang, zwischen zwei nachso verschiedenen Gesetzen sich eräugnenden Weltbe-gebenheiten, nach einem bloßen Naturlaufe, begreif-lich zu machen; ob sie zwar, wie bei allem, was sonstin der Natur Zweckmäßiges ist, die Unmöglichkeitdesselben, nach allgemeinen Naturgesetzen, dochauch nicht beweisen, d.i. aus objektiven Gründen hin-reichend dartun kann.

Allein jetzt kommt ein Entscheidungsgrund von an-derer Art ins Spiel, um im Schwanken der spekulati-ven Vernunft den Ausschlag zu geben. Das Gebot,das höchste Gut zu befördern, ist objektiv (in derpraktischen Vernunft), die Möglichkeit desselbenüberhaupt gleichfalls objektiv (in der theoretischenVernunft, die nichts dawider hat) gegründet. Alleindie Art, wie wir uns diese Möglichkeit vorstellen sol-len, ob nach allgemeinen Naturgesetzen, ohne einender Natur vorstehenden weisen Urheber, oder nurunter dessen Voraussetzung, das kann die Vernunftobjektiv nicht entscheiden. Hier tritt nun eine subjek-tive Bedingung der Vernunft ein: die einzige ihr theo-retisch mögliche, zugleich der Moralität (die untereinem objektiven Gesetze der Vernunft steht) alleinzuträgliche Art, sich die genaue Zusammenstimmungdes Reichs der Natur mit dem Reiche der Sitten, alsBedingung der Möglichkeit des höchsten Guts, zu

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denken. Da nun die Beförderung desselben, und alsodie Voraussetzung seiner Möglichkeit, objektiv (abernur der praktischen Vernunft zu Folge) notwendig ist,zugleich aber die Art, auf welche Weise wir es uns alsmöglich denken wollen, in unserer Wahl steht, in wel-cher aber ein freies Interesse der reinen praktischenVernunft für die Annehmung eines weisen Welturhe-bers entscheidet: so ist das Prinzip, was unser Urteilhierin bestimmt, zwar subjektiv, als Bedürfnis, aberauch zugleich als Beförderungsmittel dessen, was ob-jektiv (praktisch) notwendig ist, der Grund einerMa-xime des Fürwahrhaltens in moralischer Absicht, d.i.ein reiner praktischer Vernunftglaube. Dieser istalso nicht geboten, sondern, als freiwillige, zur mora-lischen (gebotenen) Absicht zuträgliche, überdemnoch mit dem theoretischen Bedürfnisse der Vernunfteinstimmige Bestimmung unseres Urteils, jene Exi-stenz anzunehmen und dem Vernunftgebrauch fernerzum Grunde zu legen, selbst aus der moralischen Ge-sinnung entsprungen; kann also öfters selbst beiWohlgesinneten bisweilen in Schwanken niemalsaber in Unglauben geraten.

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281Kant: Kritik der praktischen Vernunft

IX. Von der der praktischen Bestimmung desMenschen weislich angemessenen Proportion seiner

Erkenntnisvermögen

Wenn die menschliche Natur zum höchsten Gutezu streben bestimmt ist, so muß auch das Maß ihrerErkenntnisvermögen, vornehmlich ihr Verhältnisunter einander, als zu diesem Zwecke schicklich, an-genommen werden. Nun beweiset aber die Kritik derreinen spekulativen Vernunft die größte Unzuläng-lichkeit derselben, um die wichtigsten Aufgaben, dieihr vorgelegt werden, dem Zwecke angemessen aufzu-lösen, ob sie zwar die natürlichen und nicht zu über-sehenden Winke eben derselben Vernunft, imgleichendie großen Schritte, die sie tun kann, nicht verkennt,um sich diesem großen Ziele, das ihr ausgesteckt ist,zu näheren, aber doch, ohne es jemals für sich selbst,sogar mit Beihülfe der größten Naturkenntnis, zu er-reichen. Also scheint die Natur hier uns nur stiefmüt-terlich mit einem zu unserem Zwecke benötigten Ver-mögen versorgt zu haben.

Gesetzt nun, sie wäre hierin unserem Wunschewillfährig gewesen, und hätte uns diejenige Einsichts-fähigkeit, oder Erleuchtung erteilt, die wir gerne besit-zen möchten, oder in deren Besitz einige wohl garwähnen sich wirklich zu befinden, was würde allem

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281Kant: Kritik der praktischen Vernunft

Ansehn nach wohl die Folge hievon sein? Wofernnicht zugleich unsere ganze Natur umgeändert wäre,so würden die Neigungen, die doch allemal das ersteWort haben, zuerst ihre Befriedigung, und, mit ver-nünftiger Überlegung verbunden, ihre größtmöglicheund daurende Befriedigung, unter dem Namen derGlückseligkeit, verlangen; das moralische Gesetzwürde nachher sprechen, um jene in ihren geziemen-den Schranken zu halten, und sogar sie alle insgesamteinem höheren, auf keine Neigung Rücksicht nehmen-den, Zwecke zu unterwerfen. Aber, statt des Streits,den jetzt die moralische Gesinnung mit den Neigun-gen zu führen hat, in welchem, nach einigen Niederla-gen, doch allmählich moralische Stärke der Seele zuerwerben ist, würden Gott und Ewigkeit, mit ihrerfurchtbaren Majestät, uns unablässig vor Augen lie-gen (denn, was wir vollkommen beweisen können,gilt, in Ansehung der Gewißheit, uns so viel, alswovon wir uns durch den Augenschein versichern).Die Übertretung des Gesetzes würde freilich vermie-den, das Gebotene getan werden; weil aber die Gesin-nung, aus welcher Handlungen geschehen sollen,durch kein Gebot mit eingeflößt werden kann, derStachel der Tätigkeit hier aber sogleich bei Hand, undäußerlich ist, die Vernunft also sich nicht allererstempor arbeiten darf, um Kraft zum Widerstandegegen Neigungen durch lebendige Vorstellung der

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Würde des Gesetzes zu sammeln, so würden die meh-resten gesetzmäßigen Handlungen aus Furcht, nur we-nige aus Hoffnung und gar keine aus Pflicht gesche-hen, ein moralischer Wert der Handlungen aber, wor-auf doch allein der Wert der Person und selbst der derWelt, in den Augen der höchsten Weisheit, ankommt,würde gar nicht existieren. Das Verhalten der Men-schen, so lange ihre Natur, wie sie jetzt ist, bliebe,würde also in einen bloßen Mechanismus verwandeltwerden, wo, wie im Marionettenspiel, alles gut gesti-kulieren, aber in den Figuren doch kein Leben anzu-treffen sein würde. Nun, da es mit uns ganz andersbeschaffen ist, da wir, mit aller Anstrengung unsererVernunft, nur eine sehr dunkele und zweideutige Aus-sicht in die Zukunft haben, der Weltregierer uns seinDasein und seine Herrlichkeit nur mutmaßen, nichterblicken, oder klar beweisen läßt, dagegen das mora-lische Gesetz in uns, ohne uns etwas mit Sicherheit zuverheißen, oder zu drohen, von uns uneigennützigeAchtung fodert, übrigens aber, wenn diese Achtungtätig und herrschend geworden, allererst alsdenn undnur dadurch, Aussichten ins Reich des Übersinnli-chen, aber auch nur mit schwachen Blicken erlaubt:so kann wahrhafte sittliche, dem Gesetze unmittelbargeweihete Gesinnung stattfinden und das vernünftigeGeschöpf des Anteils am höchsten Gute würdig wer-den, das dem moralischen Werte seiner Person und

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nicht bloß seinen Handlungen angemessen ist. Alsomöchte es auch hier wohl damit seine Richtigkeithaben, was uns das Studium der Natur und des Men-schen sonst hinreichend lehrt, daß die unerforschlicheWeisheit, durch die wir existieren, nicht minder ver-ehrungswürdig ist, in dem, was sie uns versagte, alsin dem, was sie uns zu teil werden ließ.

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Der Kritik der praktischen Vernunftzweiter Teil

Methodenlehre der reinen praktischenVernunft

Unter der Methodenlehre der reinen praktischenVernunft kann man nicht die Art (sowohl im Nach-denken als im Vortrage), mit reinen praktischenGrundsätzen in Absicht auf ein wissenschaftlichesErkenntnis derselben zu verfahren, verstehen, welchesman sonst im theoretischen eigentlich allein Methodenennt (denn populäres Erkenntnis bedarf einer Ma-nier, Wissenschaft aber einerMethode, d.i. einesVerfahrens nach Prinzipien der Vernunft, wodurchdas Mannigfaltige einer Erkenntnis allein ein Systemwerden kann). Vielmehr wird unter dieser Methoden-lehre die Art verstanden, wie man den Gesetzen derreinen praktischen Vernunft Eingang in das menschli-che Gemüt, Einfluß auf die Maximen desselben ver-schaffen, d.i. die objektiv-praktische Vernunft auchsubjektiv praktisch machen könne.

Nun ist zwar klar, daß diejenigen Bestimmungs-gründe des Willens, welche allein die Maximen ei-gentlich moralisch machen und ihnen einen sittlichenWert geben, die unmittelbare Vorstellung des

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Gesetzes und die objektiv-notwendige Befolgung des-selben als Pflicht, als die eigentlichen Triebfedern derHandlungen vorgestellt werden müssen; weil sonstzwar Legalität der Handlungen, aber nicht Moralitätder Gesinnungen bewirkt werden würde. Allein nichtso klar, vielmehr beim ersten Anblicke ganz unwahr-scheinlich, muß es jedermann vorkommen, daß auchsubjektiv jene Darstellung der reinen Tugend mehrMacht über das menschliche Gemüt haben und eineweit stärkere Triebfeder abgeben könne, selbst jeneLegalität der Handlungen zu bewirken, und kräftigereEntschließungen hervorzubringen, das Gesetz, ausreiner Achtung für dasselbe, jeder anderer Rücksichtvorzuziehen, als alle Anlockungen, die aus Vorspie-gelungen von Vergnügen und überhaupt allem dem,was man zur Glückseligkeit zählen mag, oder auchalle Androhungen von Schmerz und Übeln jemalswirken können. Gleichwohl ist es wirklich so be-wandt, und wäre es nicht so mit der menschlichenNatur beschaffen, so würde auch keine Vorstellungs-art des Gesetzes durch Umschweife und empfehlendeMittel jemals Moralität der Gesinnung hervorbringen.Alles wäre lauter Gleisnerei, das Gesetz würde ge-haßt, oder wohl gar verachtet, indessen doch um eige-nen Vorteils willen befolgt werden. Der Buchstabedes Gesetzes (Legalität) würde in unseren Handlun-gen anzutreffen sein, der Geist derselben aber in

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unseren Gesinnungen (Moralität) gar nicht, und dawir mit aller unserer Bemühung uns doch in unseremUrteile nicht ganz von der Vernunft los machen kön-nen, so würden wir unvermeidlich in unseren eigenenAugen als nichtswürdige, verworfene Menschen er-scheinen müssen, wenn wir uns gleich für diese Krän-kung vor dem inneren Richterstuhl dadurch schadloszu halten versuchten, daß wir uns an denen Vergnü-gen ergötzten, die ein von uns angenommenes natürli-ches oder göttliches Gesetz, unserem Wahne nach,mit dem Maschinenwesen ihrer Polizei, die sich bloßnach dem richtete, was man tut, ohne sich um die Be-wegungsgründe, warum man es tut, zu bekümmern,verbunden hätte.

Zwar kann man nicht in Abrede sein, daß, um einentweder noch ungebildetes, oder auch verwildertesGemüt zuerst ins Gleis des moralisch-Guten zu brin-gen, es einiger vorbereitenden Anleitungen bedürfe, esdurch seinen eigenen Vorteil zu locken, oder durchden Schaden zu schrecken; allein, so bald dieses Ma-schinenwerk, dieses Gängelband, nur einige Wirkunggetan hat, so muß durchaus der reine moralische Be-wegungsgrund an die Seele gebracht werden, der nichtallein dadurch, daß er der einzige ist, welcher einenCharakter (praktische konsequente Denkungsart nachunveränderlichen Maximen) gründet, sondern auchdarum, weil er den Menschen seine eigene Würde

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fühlen lehrt, dem Gemüte eine ihm selbst unerwarteteKraft gibt, sich von aller sinnlichen Anhänglichkeit,so fern sie herrschend werden will, loszureißen, undin der Unabhängigkeit seiner intelligibelen Natur undder Seelengröße, dazu er sich bestimmt sieht, für dieOpfer, die er darbringt, reichliche Entschädigung zufinden. Wir wollen also diese Eigenschaft unseres Ge-müts, diese Empfänglichkeit eines reinen moralischenInteresse, und mithin die bewegende Kraft der reinenVorstellung der Tugend, wenn sie gehörig ansmenschliche Herz gebracht wird, als die mächtigste,und, wenn es auf die Dauer und Pünktlichkeit in Be-folgung moralischer Maximen ankommt, einzigeTriebfeder zum Guten, durch Beobachtungen, die einjeder anstellen kann, beweisen; wobei doch zugleicherinnert werden muß, daß, wenn diese Beobachtungennur die Wirklichkeit eines solchen Gefühls, nicht aberdadurch zu Stande gebrachte sittliche Besserung be-weisen, dieses der einzigen Methode, die objek-tiv-praktischen Gesetze der reinen Vernunft durchbloße reine Vorstellung der Pflicht subjektiv-praktisch zu machen, keinen Abbruch tue, gleich alsob sie eine leere Phantasterei wäre. Denn, da dieseMethode noch niemals in Gang gebracht worden, sokann auch die Erfahrung noch nichts von ihrem Erfolgaufzeigen, sondern man kann nur Beweistümer derEmpfänglichkeit solcher Triebfedern fodern, die ich

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jetzt kürzlich vorlegen und darnach die Methode derGründung und Kultur echter moralischer Gesinnun-gen, mit wenigem, entwerfen will.

Wenn man auf den Gang der Gespräche in ge-mischten Gesellschaften, die nicht bloß aus Gelehrtenund Vernünftlern, sondern auch aus Leuten von Ge-schäften oder Frauenzimmer bestehen, Acht hat, sobemerkt man, daß, außer dem Erzählen und Scherzen,noch eine Unterhaltung, nämlich das Räsonieren,darin Platz findet; weil das erstere, wenn es Neuig-keit, und, mit ihr, Interesse bei sich führen soll, balderschöpft, das zweite aber leicht schal wird. Unterallem Räsonieren ist aber keines, was mehr den Bei-tritt der Personen, die sonst bei allem Vernünftelnbald lange Weile haben, erregt, und eine gewisse Leb-haftigkeit in die Gesellschaft bringt, als das über densittlichen Wert dieser oder jener Handlung, dadurchder Charakter irgend einer Person ausgemacht werdensoll. Diejenige, welchen sonst alles Subtile und Grüb-lerische in theoretischen Fragen trocken und verdrieß-lich ist, treten bald bei, wenn es darauf ankommt, denmoralischen Gehalt einer erzählten guten oder bösenHandlung auszumachen, und sind so genau, so grüb-lerisch, so subtil, alles, was die Reinigkeit der Ab-sicht, und mithin den Grad der Tugend in derselbenvermindern, oder auch nur verdächtig machen könnte,auszusinnen, als man bei keinem Objekte der

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Spekulation sonst von ihnen erwartet. Man kann indiesen Beurteilungen oft den Charakter der über ande-re urteilenden Personen selbst hervorschimmernsehen, deren einige vorzüglich geneigt scheinen,indem sie ihr Richteramt, vornehmlich über Verstor-bene, ausüben, das Gute, was von dieser oder jenerTat derselben erzählt wird, wider alle kränkende Ein-würfe der Unlauterkeit und zuletzt den ganzen sittli-chen Wert der Person wider den Vorwurf der Verstel-lung und geheimen Bösartigkeit zu verteidigen, ande-re dagegen mehr auf Anklagen und Beschuldigungensinnen, diesen Wert anzufechten. Doch kann man denletzteren nicht immer die Absicht beimessen, Tugendaus allen Beispielen der Menschen gänzlich wegver-nünfteln zu wollen, um sie dadurch zum leerenNamen zu machen, sondern es ist oft nur wohlge-meinte Strenge in Bestimmung des echten sittlichenGehalts, nach einem unnachsichtlichen Gesetze, mitwelchem und nicht mit Beispielen verglichen der Ei-gendünkel im Moralischen sehr sinkt, und Demutnicht etwa bloß gelehrt, sondern bei scharfer Selbst-prüfung von jedem gefühlt wird. Dennoch kann manden Verteidigern der Reinigkeit der Absicht in gege-benen Beispielen es mehrenteils ansehen, daß sie ihrda, wo sie die Vermutung der Rechtschaffenheit fürsich hat, auch den mindesten Fleck gerne abwischenmöchten, aus dem Bewegungsgrunde, damit nicht,

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wenn allen Beispielen ihre Wahrhaftigkeit gestrittenund aller menschlichen Tugend die Lauterkeit wegge-leugnet würde, diese nicht endlich gar für ein bloßesHirngespinst gehalten, und so alle Bestrebung zuderselben als eitles Geziere und trüglicher Eigendün-kel geringschätzig gemacht werde.

Ich weiß nicht, warum die Erzieher der Jugend vondiesem Hange der Vernunft, in aufgeworfenen prakti-schen Fragen selbst die subtilste Prüfung mit Vergnü-gen einzuschlagen, nicht schon längst Gebrauch ge-macht haben, und, nachdem sie einen bloß morali-schen Katechism zum Grunde legten, sie nicht dieBiographien alter und neuer Zeiten in der Absichtdurchsuchten, um Belege zu den vorgelegten Pflichtenbei der Hand zu haben, an denen sie, vornehmlichdurch die Vergleichung ähnlicher Handlungen unterverschiedenen Umständen, die Beurteilung ihrer Zög-linge in Tätigkeit setzten, um den mindern oder grö-ßeren moralischen Gehalt derselben zu bemerken, alsworin sie selbst die frühe Jugend, die zu aller Speku-lation sonst noch unreif ist, bald sehr scharfsichtig,und dabei, weil sie den Fortschritt ihrer Urteilskraftfühlt, nicht wenig interessiert finden werden, was aberdas Vornehmste ist, mit Sicherheit hoffen können,daß die öftere Übung, das Wohlverhalten in seinerganzen Reinigkeit zu kennen und ihm Beifall zugeben, dagegen selbst die kleinste Abweichung von

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ihr mit Bedauern oder Verachtung zu bemerken, ob eszwar bis dahin nur ein Spiel der Urteilskraft, in wel-chem Kinder mit einander wetteifern können, getrie-ben wird, dennoch einen dauerhaften Eindruck derHochschätzung auf der einen und des Abscheues aufder andern Seite zurücklassen werde, welche, durchbloße Gewohnheit, solche Handlungen als beifalls-oder tadelswürdig öfters anzusehen, zur Rechtschaf-fenheit im künftigen Lebenswandel eine gute Grund-lage ausmachen würden. Nur wünsche ich sie mitBeispielen sogenannter edler (überverdienstlicher)Handlungen, mit welchen unsere empfindsame Schrif-ten so viel um sich werfen, zu verschonen, und allesbloß auf Pflicht und den Wert, den ein Mensch sich inseinen eigenen Augen durch das Bewußtsein, sie nichtübertreten zu haben, geben kann und muß, auszuset-zen, weil, was auf leere Wünsche und Sehnsuchtennach unersteiglicher Vollkommenheit hinausläuft,lauter Romanhelden hervorbringt, die, indem sie sichauf ihr Gefühl für das überschwenglich-Große viel zuGute tun, sich dafür von der Beobachtung der gemei-nen und gangbaren Schuldigkeit, die alsdenn ihnennur unbedeutend klein scheint, frei sprechen.18

Wenn man aber trägt: was denn eigentlich die reineSittlichkeit ist, an der, als dem Probemetall, man jederHandlung moralischen Gehalt prüfen müsse, so mußich gestehen, daß nur Philosophen die Entscheidung

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dieser Frage zweifelhaft machen können; denn in dergemeinen Menschenvernunft ist sie, zwar nicht durchabgezogene allgemeine Formeln, aber doch durch dengewöhnlichen Gebrauch, gleichsam als der Unter-schied zwischen der rechten und linken Hand, längstentschieden. Wir wollen also vorerst das Prüfungs-merkmal der reinen Tugend an einem Beispiele zei-gen, und, indem wir uns vorstellen, daß es etwa einemzehnjährigen Knaben zur Beurteilung vorgelegt wor-den, sehen, ob er auch von selber, ohne durch denLehrer dazu angewiesen zu sein, notwendig so urtei-len müßte. Man erzähle die Geschichte eines redli-chen Mannes, den man bewegen will, den Verleum-dern einer unschuldigen, übrigens nicht vermögendenPerson (wie etwa Anna von Boleyn auf AnklageHeinrichs VIII. von England) beizutreten. Man bietetGewinne, d.i. große Geschenke oder hohen Rang an,er schlägt sie aus. Dieses wird bloßen Beifall und Bil-ligung in der Seele des Zuhörers wirken, weil es Ge-winn ist. Nun fängt man es mit Androhung des Ver-lusts an. Es sind unter diesen Verleumdern seine be-sten Freunde, die ihm jetzt ihre Freundschaft aufsa-gen, nahe Verwandte, die ihn (der ohne Vermögen ist)zu enterben drohen, Mächtige, die ihn in jedem Orteund Zustande verfolgen und kränken können, ein Lan-desfürst, der ihn mit dem Verlust der Freiheit, ja desLebens selbst bedroht. Um ihn aber, damit das Maß

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des Leidens voll sei, auch den Schmerz fühlen zu las-sen, den nur das sittlich gute Herz recht inniglich füh-len kann, mag man seine mit äußerster Not und Dürf-tigkeit bedrohete Familie ihn um Nachgiebigkeit an-flehend, ihn selbst, obzwar rechtschaffen, doch ebennicht von festen unempfindlichen Organen des Ge-fühls, für Mitleid sowohl als eigener Not, in einemAugenblick, darin er wünscht, den Tag nie erlebt zuhaben, der ihn einem so unaussprechlichen Schmerzaussetzte, dennoch seinem Vorsatze der Redlichkeit,ohne zu wanken oder nur zu zweifeln, treu bleibend,vorstellen: so wird mein jugendlicher Zuhörer stufen-weise, von der bloßen Billigung zur Bewunderung,von da zum Erstaunen, endlich bis zur größten Vereh-rung, und einem lebhaften Wunsche, selbst ein sol-cher Mann sein zu können (obzwar freilich nicht inseinem Zustande), erhoben werden; und gleichwohlist hier die Tugend nur darum so viel wert, weil sie soviel kostet, nicht weil sie etwas einbringt. Die ganzeBewunderung und selbst Bestrebung zur Ähnlichkeitmit diesem Charakter beruht hier gänzlich auf derReinigkeit des sittlichen Grundsatzes, welche nur da-durch recht in die Augen fallend vorgestellet werdenkann, daß man alles, was Menschen nur zur Glückse-ligkeit zählen mögen, von den Triebfedern der Hand-lung wegnimmt. Also muß die Sittlichkeit auf dasmenschliche Herz desto mehr Kraft haben, je reiner

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sie dargestellt wird. Woraus denn folgt, daß, wenndas Gesetz der Sitten und das Bild der Heiligkeit undTugend auf unsere Seele überall einigen Einfluß aus-üben soll, sie diesen nur so fern ausüben könne, alssie rein, unvermengt von Absichten auf sein Wohlbe-finden, als Triebfeder ans Herz gelegt wird, darumweil sie sich im Leiden am herrlichsten zeigt. Dasje-nige aber, dessen Wegräumung die Wirkung einer be-wegenden Kraft verstärkt, muß ein Hindernis gewesensein. Folglich ist alle Beimischung der Triebfedern,die von eigener Glückseligkeit hergenommen werden,ein Hindernis, dem moralischen Gesetze Einfluß aufsmenschliche Herz zu verschaffen. - Ich behaupte fer-ner, daß selbst in jener bewunderten Handlung, wennder Bewegungsgrund, daraus sie geschah, die Hoch-schätzung seiner Pflicht war, alsdenn eben diese Ach-tung fürs Gesetz, nicht etwa ein Anspruch auf die in-nere Meinung von Großmut und edler verdienstlicherDenkungsart, gerade auf das Gemüt des Zuschauersdie größte Kraft habe, folglich Pflicht, nicht Ver-dienst, den nicht allein bestimmtesten, sondern, wennsie im rechten Lichte ihrer Unverletzlichkeit vorge-stellt wird, auch den eindringendsten Einfluß aufsGemüt haben müsse.

In unsern Zeiten, wo man mehr mit schmelzendenweichherzigen Gefühlen, oder hochfliegenden, aufblä-henden und das Herz eher welk, als stark, machenden

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Anmaßungen über das Gemüt mehr auszurichtenhofft, als durch die der menschlichen Unvollkommen-heit und dem Fortschritte im Guten angemeßneretrockne und ernsthafte Vorstellung der Pflicht, ist dieHinweisung auf diese Methode nötiger, als jemals.Kindern Handlungen als edele, großmütige, verdienst-liche zum Muster aufzustellen, in der Meinung, siedurch Einflößung eines Enthusiasmus für dieselbeeinzunehmen, ist vollends zweckwidrig. Denn da sienoch in der Beobachtung der gemeinsten Pflicht undselbst in der richtigen Beurteilung derselben so weitzurück sind, so heißt das so viel, als sie bei Zeiten zuPhantasten zu machen. Aber auch bei dem belehrternund erfahrnern Teil der Menschen ist diese vermeinteTriebfeder, wo nicht von nachteiliger, wenigstens vonkeiner echten moralischen Wirkung aufs Herz, dieman dadurch doch hat zuwegebringen wollen.

Alle Gefühle, vornehmlich die, so ungewohnte An-strengung bewirken sollen, müssen in dem Augen-blicke, da sie in ihrer Heftigkeit sind, und ehe sie ver-brausen, ihre Wirkung tun, sonst tun sie nichts; indemdas Herz natürlicherweise zu seiner natürlichen gemä-ßigten Lebensbewegung zurückkehrt, und sonach indie Mattigkeit verfällt, die ihm vorher eigen war; weilzwar etwas, was es reizte, nichts aber, das es stärkte,an dasselbe gebracht war. Grundsätze müssen aufBegriffe errichtet werden, auf alle andere Grundlage

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können nur Anwandelungen zu Stande kommen, dieder Person keinen moralischen Wert, ja nicht einmaleine Zuversicht auf sich selbst verschaffen können,ohne die das Bewußtsein seiner moralischen Gesin-nung und eines solchen Charakters, das höchste Gutim Menschen, gar nicht stattfinden kann. Diese Be-griffe nun, wenn sie subjektiv praktisch werden sol-len, müssen nicht bei den objektiven Gesetzen derSittlichkeit stehen bleiben, um sie zu bewundern, undin Beziehung auf die Menschheit hochzuschätzen,sondern ihre Vorstellung in Relation auf den Men-schen und auf sein Individuum betrachten; da dennjenes Gesetz in einer zwar höchst achtungswürdigen,aber nicht so gefälligen Gestalt erscheint, als ob es zudem Elemente gehöre, daran er natürlicher Weise ge-wohnt ist, sondern wie es ihn nötiget, dieses oft, nichtohne Selbstverleugnung, zu verlassen, und sich in einhöheres zu begeben, darin er sich, mit unaufhörlicherBesorgnis des Rückfalls, nur mit Mühe erhalten kann.Mit einem Worte, das moralische Gesetz verlangt Be-folgung aus Pflicht, nicht aus Vorliebe, die man garnicht voraussetzen kann und soll.

Laßt uns nun im Beispiele sehen, ob in der Vorstel-lung einer Handlung als edler und großmütiger Hand-lung mehr subjektiv bewegende Kraft einer Triebfederliege, als, wenn diese bloß als Pflicht in Verhältnisauf das ernste moralische Gesetz vorgestellt wird. Die

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Handlung, da jemand, mit der größten Gefahr des Le-bens, Leute aus dem Schiffbruche zu retten sucht,wenn er zuletzt dabei selbst sein Leben einbüßt, wirdzwar einerseits zur Pflicht, andererseits aber undgrößtenteils auch für verdienstliche Handlung ange-rechnet, aber unsere Hochschätzung derselben wirdgar sehr durch den Begriff von Pflicht gegen sichselbst, welche hier etwas Abbruch zu leiden scheint,geschwächt. Entscheidender ist die großmütige Auf-opferung seines Lebens zur Erhaltung des Vaterlan-des, und doch, ob es auch so vollkommen Pflicht sei,sich von selbst und unbefohlen dieser Absicht zu wei-hen, darüber bleibt einiger Skrupel übrig, und dieHandlung hat nicht die ganze Kraft eines Musters undAntriebes zur Nachahmung in sich. Ist es aber uner-läßliche Pflicht, deren Übertretung das moralischeGesetz an sich und ohne Rücksicht auf Menschen-wohl verletzt, und dessen Heiligkeit gleichsam mitFüßen tritt (dergleichen Pflichten man Pflichten gegenGott zu nennen pflegt, weil wir uns in ihm das Idealder Heiligkeit in Substanz denken), so widmen wirder Befolgung desselben, mit Aufopferung alles des-sen, was für die innigste aller unserer Neigungen nurimmer einen Wert haben mag, die allervollkommensteHochachtung, und wir finden unsere Seele durch einsolches Beispiel gestärkt und erhoben, wenn wir andemselben uns überzeugen können, daß die

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menschliche Natur zu einer so großen Erhebung überalles, was Natur nur immer an Triebfedern zum Ge-genteil aufbringen mag, fähig sei. Juvenal stellt einsolches Beispiel in einer Steigerung vor, die denLeser die Kraft der Triebfeder, die im reinen Gesetzeder Pflicht, als Pflicht, steckt, lebhaft empfinden läßt:

Esto bonus miles, tutor bonus, arbiter idemInteger; ambiguae si quando citabere testisIncertaeque rei, Phalaris licet imperet, ut sisFalsus, et admoto dictet periuria tauro:Summum crede nefas animam praeferre pudori,Et propter vitam vivendi perdere causas.

Wenn wir irgend etwas Schmeichelhaftes vom Ver-dienstlichen in unsere Handlung bringen können,denn ist die Triebfeder schon mit Eigenliebe etwasvermischt, hat also einige Beihülfe von der Seite derSinnlichkeit. Aber der Heiligkeit der Pflicht alleinalles nachsetzen, und sich bewußt werden, daß man eskönne, weil unsere eigene Vernunft dieses als ihrGebot anerkennt, und sagt, daß man es tun solle, dasheißt sich gleichsam über die Sinnenwelt selbst gänz-lich erheben, und ist in demselben Bewußtsein desGesetzes auch als Triebfeder eines die Sinnlichkeitbeherrschenden Vermögens unzertrennlich, wenngleich nicht immer mit Effekt verbunden, der aber

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doch auch, durch die öftere Beschäftigung mit dersel-ben, und die anfangs kleinern Versuche ihres Ge-brauchs, Hoffnung zu seiner Bewirkung gibt, um inuns nach und nach das größte, aber reine moralischeInteresse daran hervorzubringen.

Die Methode nimmt also folgenden Gang. Zuerstist es nur darum zu tun, die Beurteilung nach morali-schen Gesetzen zu einer natürlichen, alle unsere eige-ne sowohl als die Beobachtung fremder freier Hand-lungen begleitenden Beschäftigung und gleichsam zurGewohnheit zu machen, und sie zu schärfen, indemman vorerst frägt, ob die Handlung objektiv dem mo-ralischen Gesetze, und welchem, gemäß sei; wobeiman denn die Aufmerksamkeit auf dasjenige Gesetz,welches bloß einen Grund zur Verbindlichkeit an dieHand gibt, von dem unterscheidet, welches in der Tatverbindend ist (leges obligandi a legibus obliganti-bus), (wie z.B. das Gesetz desjenigen, was das Be-dürfnis der Menschen im Gegensatze dessen, was dasRecht derselben von mir fordert, wovon das letzterewesentliche, das erstere aber nur außerwesentlichePflichten vorschreibt) und so verschiedene Pflichten,die in einer Handlung zusammenkommen, unterschei-den lehrt. Der andere Punkt, worauf die Aufmerksam-keit gerichtet werden muß, ist die Frage: ob die Hand-lung auch (subjektiv) um des moralischen Gesetzeswillen geschehen, und also sie nicht allein sittliche

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Richtigkeit, als Tat, sondern auch sittlichen Wert, alsGesinnung, ihrer Maxime nach habe. Nun ist keinZweifel, daß diese Übung, und das Bewußtsein einerdaraus entspringenden Kultur unserer bloß über dasPraktische urteilenden Vernunft, ein gewisses Interes-se, selbst am Gesetze derselben, mithin an sittlichguten Handlungen nach und nach hervorbringenmüsse. Denn wir gewinnen endlich das lieb, dessenBetrachtung uns den erweiterten Gebrauch unserer Er-kenntniskräfte empfinden läßt, welchen vornehmlichdasjenige befördert, worin wir moralische Richtigkeitantreffen; weil sich die Vernunft in einer solchen Ord-nung der Dinge mit ihrem Vermögen, a priori nachPrinzipien zu bestimmen was geschehen soll, alleingut finden kann. Gewinnt doch ein NaturbeobachterGegenstände, die seinen Sinnen anfangs anstößigsind, endlich lieb, wenn er die große Zweckmäßigkeitihrer Organisation daran entdeckt, und so seine Ver-nunft an ihrer Betrachtung weidet, und Leibniz brach-te ein Insekt, welches er durchs Mikroskop sorgfältigbetrachtet hatte, schonend wiederum auf sein Blatt zu-rück, weil er sich durch seinen Anblick belehrt gefun-den, und von ihm gleichsam eine Wohltat genossenhatte.

Aber diese Beschäftigung der Urteilskraft, welcheuns unsere eigene Erkenntniskräfte fühlen läßt, istnoch nicht das Interesse an den Handlungen und ihrer

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Moralität selbst. Sie macht bloß, daß man sich gernemit einer solchen Beurteilung unterhält, und gibt derTugend, oder der Denkungsart nach moralischen Ge-setzen, eine Form der Schönheit, die bewundert,darum aber noch nicht gesucht wird (laudatur etalget); wie alles, dessen Betrachtung subjektiv ein Be-wußtsein der Harmonie unserer Vorstellungskräfte be-wirkt, und wobei wir unser ganzes Erkenntnisvermö-gen (Verstand und Einbildungskraft) gestärkt fühlen,ein Wohlgefallen hervorbringt, das sich auch andernmitteilen läßt, wobei gleichwohl die Existenz des Ob-jekts uns gleichgültig bleibt, indem es nur als die Ver-anlassung angesehen wird, der über die Tierheit erha-benen Anlage der Talente in uns inne zu werden. Nuntritt aber die zweite Übung ihr Geschäft an, nämlich,in der lebendigen Darstellung der moralischen Gesin-nung an Beispielen, die Reinigkeit des Willens be-merklich zu machen, vorerst nur als negativer Voll-kommenheit desselben, so fern in einer Handlung ausPflicht gar keine Triebfedern der Neigungen als Be-stimmungsgründe auf ihn einfließen; wodurch derLehrling doch auf das Bewußtsein seiner Freiheit auf-merksam erhalten wird; und obgleich diese Entsagungeine anfängliche Empfindung von Schmerz erregt,dennoch dadurch, daß sie jenen Lehrling dem Zwangeselbst wahrer Bedürfnisse entzieht, ihm zugleich eineBefreiung von der mannigfaltigen Unzufriedenheit,

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298Kant: Kritik der praktischen Vernunft

darin ihn alle diese Bedürfnisse verflechten, angekün-digt, und das Gemüt für die Empfindung der Zufrie-denheit aus anderen Quellen empfänglich gemachtwird. Das Herz wird doch von einer Last, die es jeder-zeit ingeheim drückt, befreit und erleichtert, wenn anreinen moralischen Entschließungen, davon Beispielevorgelegt werden, dem Menschen ein inneres, ihmselbst sonst nicht einmal recht bekanntes Vermögen,die innere Freiheit, aufgedeckt wird, sich von der un-gestümen Zudringlichkeit der Neigungen dermaßenloszumachen, daß gar keine, selbst die beliebtestenicht, auf eine Entschließung, zu der wir uns jetzt un-serer Vernunft bedienen sollen, Einfluß habe. Ineinem Falle, wo ich nur allein weiß, daß das Unrechtauf meiner Seite sei, und, obgleich das freie Geständ-nis desselben, und die Anerbietung zur Genugtuungan der Eitelkeit, dem Eigennutze, selbst dem sonstnicht unrechtmäßigen Widerwillen gegen den, dessenRecht von mir geschmälert ist, so großen Wider-spruch findet, dennoch mich über alle diese Bedenk-lichkeiten wegsetzen kann, ist doch ein Bewußtseineiner Unabhängigkeit von Neigungen und vonGlücksumständen, und der Möglichkeit, sich selbstgenug zu sein, enthalten, welche mir überall auch inanderer Absicht heilsam ist. Und nun findet das Ge-setz der Pflicht, durch den positiven Wert, den uns dieBefolgung desselben empfinden läßt, leichteren

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Eingang durch die Achtung für uns selbst im Be-wußtsein unserer Freiheit. Auf diese, wenn sie wohlgegründet ist, wenn der Mensch nichts stärker scheu-et, als sich in der inneren Selbstprüfung in seinen ei-genen Augen geringschätzig und verwerflich zu fin-den, kann nun jede gute sittliche Gesinnung gepfropftwerden; weil dieses der beste, ja der einzige Wächterist, das Eindringen unedler und verderbender Antriebevom Gemüte abzuhalten.

Ich habe hiemit nur auf die allgemeinsten Maximender Methodenlehre einer moralischen Bildung undÜbung hinweisen wollen. Da die Mannigfaltigkeit derPflichten für jede Art derselben noch besondere Be-stimmungen erfoderte, und so ein weitläuftiges Ge-schäfte ausmachen würde, so wird man mich für ent-schuldigt halten, wenn ich, in einer Schrift, wie diese,die nur Vorübung ist, es bei diesen Grundzügen be-wenden lasse.

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300Kant: Kritik der praktischen Vernunft

Beschluß

Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuerund zunehmenden Bewunderung und Ehrfurcht, jeöfter und anhaltender sich das Nachdenken damit be-schäftigt: Der bestirnte Himmel über mir, und dasmoralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als inDunkelheiten verhüllt, oder im Überschwenglichen,außer meinem Gesichtskreise, suchen und bloß ver-muten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmit-telbar mit dem Bewußtsein meiner Existenz. Das erstefängt von dem Platze an, den ich in der äußern Sin-nenwelt einnehme, und erweitert die Verknüpfung,darin ich stehe, ins unabsehlich-Große mit Weltenüber Welten und Systemen von Systemen, überdemnoch in grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewe-gung, deren Anfang und Fortdauer. Das zweite fängtvon meinem unsichtbaren Selbst, meiner Persönlich-keit, an, und stellt mich in einer Welt dar, die wahreUnendlichkeit hat, aber nur dem Verstande spürbarist, und mit welcher (dadurch aber auch zugleich mitallen jenen sichtbaren Welten) ich mich nicht, wiedort, in bloß zufälliger, sondern allgemeiner und not-wendiger Verknüpfung erkenne. Der erstere Anblickeiner zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsammeine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfs,

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das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einembloßen Punkt im Weltall) wieder zurückgeben muß,nachdem es eine kurze Zeit (man weiß nicht wie) mitLebenskraft versehen gewesen. Der zweite erhebt da-gegen meinen Wert, als einer Intelligenz, unendlich,durch meine Persönlichkeit, in welcher das moralischeGesetz mir ein von der Tierheit und selbst von derganzen Sinnenwelt unabhängiges Leben offenbart,wenigstens so viel sich aus der zweckmäßigen Be-stimmung meines Daseins durch dieses Gesetz, wel-che nicht auf Bedingungen und Grenzen dieses Le-bens eingeschränkt ist, sondern ins Unendliche geht,abnehmen läßt.

Allein, Bewunderung und Achtung können zwarzur Nachforschung reizen, aber den Mangel derselbennicht ersetzen. Was ist nun zu tun, um diese, auf nutz-bare und der Erhabenheit des Gegenstandes angemes-sene Art, anzustellen? Beispiele mögen hiebei zurWarnung, aber auch zur Nachahmung dienen. DieWeltbetrachtung fing von dem herrlichsten Anblickean, den menschliche Sinne nur immer vorlegen, undunser Verstand, in ihrem weiten Umfange zu verfol-gen, nur immer vertragen kann, und endigte - mit derSterndeutung. Die Moral fing mit der edelsten Eigen-schaft in der menschlichen Natur an, deren Entwicke-lung und Kultur auf unendlichen Nutzen hinaussieht,und endigte - mit der Schwärmerei, oder dem

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Aberglauben. So geht es allen noch rohen Versuchen,in denen der vornehmste Teil des Geschäftes auf denGebrauch der Vernunft ankommt, der nicht, so wieder Gebrauch der Füße, sich von selbst, vermittelstder öftern Ausübung, findet, vornehmlich wenn er Ei-genschaften betrifft, die sich nicht so unmittelbar inder gemeinen Erfahrung darstellen lassen. Nachdemaber, wiewohl spät, die Maxime in Schwang gekom-men war, alle Schritte vorher wohl zu überlegen, diedie Vernunft zu tun vorhat, und sie nicht anders, alsim Gleise einer vorher wohl überdachten Methode,ihren Gang machen zu lassen, so bekam die Beurtei-lung des Weltgebäudes eine ganz andere Richtung,und, mit dieser, zugleich einen, ohne Vergleichung,glücklichern Ausgang. Der Fall eines Steins, die Be-wegung einer Schleuder, in ihre Elemente und dabeisich äußernde Kräfte aufgelöst, und mathematisch be-arbeitet, brachte zuletzt diejenige klare und für alleZukunft unveränderliche Einsicht in den Weltbau her-vor, die, bei fortgehender Beobachtung, hoffen kann,sich immer nur zu erweitern, niemals aber, zurückge-hen zu müssen, fürchten darf.

Diesen Weg nun in Behandlung der moralischenAnlagen unserer Natur gleichfalls einzuschlagen,kann uns jenes Beispiel anrätig sein, und Hoffnung zuähnlichem guten Erfolg geben. Wir haben doch dieBeispiele der moralisch-urteilenden Vernunft bei

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Hand. Diese nun in ihre Elementarbegriffe zu zerglie-dern, in Ermangelung derMathematik aber ein derChemie ähnliches Verfahren, der Scheidung des Em-pirischen vom Rationalen, das sich in ihnen vorfindenmöchte, in wiederholten Versuchen am gemeinenMenschenverstande vorzunehmen, kann uns beidesrein, und, was jedes für sich allein leisten könne, mitGewißheit kennbar machen, und so, teils der Verir-rung einer noch rohen ungeübten Beurteilung, teils(welches weit nötiger ist) den Genieschwüngen vor-beugen, durch welche, wie es von Adepten des Steinsder Weisen zu geschehen pflegt, ohne alle methodi-sche Nachforschung und Kenntnis der Natur, ge-träumte Schätze versprochen und wahre verschleudertwerden. Mit einem Worte: Wissenschaft (kritisch ge-sucht und methodisch eingeleitet) ist die enge Pforte,die zurWeisheitslehre führt, wenn unter dieser nichtbloß verstanden wird, was man tun, sondern was Leh-rern zur Richtschnur dienen soll, um den Weg zurWeisheit, den jedermann gehen soll, gut und kenntlichzu bahnen, und andere vor Irrwegen zu sicheren; eineWissenschaft, deren Aufbewahrerin jederzeit die Phi-losophie bleiben muß, an deren subtiler Untersuchungdas Publikum keinen Anteil, wohl aber an den Lehrenzu nehmen hat, die ihm, nach einer solchen Bearbei-tung, allererst recht hell einleuchten können.

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Fußnoten

1 Damit man hier nicht Inkonsequenzen anzutreffenwähne, wenn ich jetzt die Freiheit die Bedingung desmoralischen Gesetzes nenne, und in der Abhandlungnachher behaupte, daß das moralische Gesetz die Be-dingung sei, unter der wir uns allererst der Freiheitbewußt werden können, so will ich nur erinnern, daßdie Freiheit allerdings die ratio essendi des morali-schen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratiocognoscendi der Freiheit sei. Denn, wäre nicht dasmoralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlichgedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten,so etwas, als Freiheit ist (ob diese gleich sich nichtwiderspricht), anzunehmen. Wäre aber keine Freiheit,so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht an-zutreffen sein.

2 Die Vereinigung der Kausalität, als Freiheit, mitihr, als Naturmechanism, davon die erste durchs Sit-tengesetz, die zweite durchs Naturgesetz, und zwar ineinem und demselben Subjekte, dem Menschen, feststeht, ist unmöglich, ohne diesen in Beziehung aufdas erstere als Wesen an sich selbst, auf das zweiteaber als Erscheinung, jenes im reinen, dieses im em-pirischen Bewußtsein, vorzustellen. Ohne dieses ist

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der Widerspruch der Vernunft mit sich selbst unver-meidlich.

3 Ein Rezensent, der etwas zum Tadel dieser Schriftsagen wollte, hat es besser getroffen, als er wohlselbst gemeint haben mag, indem er sagt: daß darinkein neues Prinzip der Moralität, sondern nur eineneue Formel aufgestellet worden. Wer wollte aberauch einen neuen Grundsatz aller Sittlichkeit einfüh-ren, und diese gleichsam zuerst erfinden? gleich alsob vor ihm die Welt, in dem was Pflicht sei, unwis-send, oder in durchgängigem Irrtume gewesen wäre.Wer aber weiß, was dem Mathematiker eine Formelbedeutet, die das, was zu tun sei, um eine Aufgabe zubefolgen, ganz genau bestimmt und nicht verfehlenläßt, wird eine Formel, welche dieses in Ansehungaller Pflicht überhaupt tut, nicht für etwas Unbedeu-tendes und Entbehrliches halten.

4 Man könnte mir noch den Einwurf machen, warumich nicht auch den Begriff des Begehrungsvermö-gens, oder des Gefühls der Lust vorher erklärt habe;obgleich dieser Vorwurf unbillig sein würde, weilman diese Erklärung, als in der Psychologie gegeben,billig sollte voraussetzen können. Es könnte aber frei-lich die Definition daselbst so eingerichtet sein, daßdas Gefühl der Lust der Bestimmung des

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Begehrungsvermögens zum Grunde gelegt würde (wiees auch wirklich gemeinhin so zu geschehen pflegt),dadurch aber das oberste Prinzip der praktischen Phi-losophie notwendig empirisch ausfallen müßte, wel-ches doch allererst auszumachen ist, und in dieserKritik gänzlich widerlegt wird. Daher will ich dieseErklärung hier so geben, wie sie sein muß, um diesenstreitigen Punkt, wie billig, im Anfange unentschie-den zu lassen. - Leben ist das Vermögen eines We-sens, nach Gesetzen des Begehrungsvermögens zuhandeln. Das Begehrungsvermögen ist das Vermö-gen desselben, durch seine Vorstellungen Ursachevon der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vor-stellungen zu sein. Lust ist die Vorstellung der Über-einstimmung des Gegenstandes oder der Handlungmit den subjektiven Bedingungen des Lebens, d.i.mit dem Vermögen der Kausalität einer Vorstellungin Ansehung der Wirklichkeit ihres Objekts (oder derBestimmung der Kräfte des Subjekts zur Handlung,es hervorzubringen). Mehr brauche ich nicht zumBehuf der Kritik von Begriffen, die aus der Psycholo-gie entlehnt werden, das übrige leistet die Kritikselbst. Man wird leicht gewahr, daß die Frage, ob dieLust dem Begehrungsvermögen jederzeit zum Grundegelegt werden müsse, oder ob sie auch unter gewissenBedingungen nur auf die Bestimmung desselbenfolge, durch diese Erklärung unentschieden bleibt;

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denn sie ist aus lauter Merkmalen des reinen Ver-standes, d.i. Kategorien zusammengesetzt, die nichtsEmpirisches enthalten. Eine solche Behutsamkeit istin der ganzen Philosophie sehr empfehlungswürdig,und wird dennoch oft verabsäumt, nämlich, seinenUrteilen vor der vollständigen Zergliederung des Be-griffs, die oft nur sehr spät erreicht wird, durch ge-wagte Definition nicht vorzugreifen. Man wird auchdurch den ganzen Lauf der Kritik (der theoretischensowohl als praktischen Vernunft) bemerken, daß sichin demselben mannigfaltige Veranlassung vorfinde,manche Mängel im alten dogmatischen Gange derPhilosophie zu ergänzen, und Fehler abzuändern, dienicht eher bemerkt werden, als wenn man von Begrif-fen einen Gebrauch der Vernunft macht, der aufsGanze derselben geht.

5 Mehr (als jene Unverständlichkeit) besorge ich hierhin und wieder Mißdeutung in Ansehung einiger Aus-drücke, die ich mit größter Sorgfalt aussuchte, um denBegriff nicht verfehlen zu lassen, darauf sie weisen.So hat in der Tafel der Kategorien der praktischenVernunft, in dem Titel der Modalität, das Erlaubteund Unerlaubte (praktisch-objektiv Mögliche undUnmögliche) mit der nächstfolgenden Kategorie derPflicht und des Pflichtwidrigen im gemeinen Sprach-gebrauche beinahe einerlei Sinn; hier aber soll das

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erstere dasjenige bedeuten, was mit einer bloß mögli-chen praktischen Vorschrift in Einstimmung oder Wi-derstreit ist (wie etwa die Auflösung aller Problemeder Geometrie und Mechanik), das zweite, was in sol-cher Beziehung auf ein in der Vernunft überhauptwirklich liegendes Gesetz steht; und dieser Unter-schied der Bedeutung ist auch dem gemeinen Sprach-gebrauche nicht ganz fremd, wenn gleich etwas unge-wöhnlich. So ist es z.B. einem Redner, als solchem,unerlaubt, neue Worte oder Wortfügungen zuschmieden; dem Dichter ist es in gewissem Maße er-laubt; in keinem von beiden wird hier an Pflicht ge-dacht. Denn wer sich um den Ruf eines Redners brin-gen will, dem kann es niemand wehren. Es ist hier nurum den Unterschied der Imperativen, unter proble-matischem, assertorischem und apodiktischem Be-stimmungsgrunde, zu tun. Eben so habe ich inderjenigen Note, wo ich die moralischen Ideen prakti-scher Vollkommenheit in verschiedenen philosophi-schen Schulen gegen einander stellete, die Idee derWeisheit von der der Heiligkeit unterschieden, ob ichsie gleich selbst im Grunde und objektiv für einerleierkläret habe. Allein ich verstehe an diesem Orte dar-unter nur diejenige Weisheit, die sich der Mensch (derStoiker) anmaßt, also subjektiv als Eigenschaft demMenschen angedichtet. (Vielleicht könnte der Aus-druck Tugend, womit der Stoiker auch großen Staat

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trieb, besser das Charakteristische seiner Schule be-zeichnen.) Aber der Ausdruck eines Postulats der r.pr. Vern. konnte noch am meisten Mißdeutung veran-lassen, wenn man damit die Bedeutung vermengete,welche die Postulate der reinen Mathematik haben,und welche apodiktische Gewißheit bei sich führen.Aber diese postulieren die Möglichkeit einer Hand-lung, deren Gegenstand man a priori theoretisch mitvölliger Gewißheit als möglich voraus erkannt hat.Jenes aber postuliert die Möglichkeit eines Gegen-standes (Gottes und der Unsterblichkeit der Seele)selbst aus apodiktischen praktischen Gesetzen, alsonur zum Behuf einer praktischen Vernunft; da denndiese Gewißheit der postulierten Möglichkeit garnicht theoretisch, mithin auch nicht apodiktisch, d.i.in Ansehung des Objekts erkannte Notwendigkeit,sondern in Ansehung des Subjekts, zu Befolgungihrer objektiven, aber praktischen Gesetze notwendigeAnnehmung, mithin bloß notwendige Hypothesis ist.Ich wußte für diese subjektive, aber doch wahre undunbedingte Vernunftnotwendigkeit keinen besserenAusdruck auszufinden.

6 Namen, welche einen Sektenanhang bezeichnen,haben zu aller Zeit viel Rechtsverdrehung bei sich ge-führt; ungefähr so, als wenn jemand sagte: N. ist einIdealist. Denn, ob er gleich, durchaus, nicht allein

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einräumt, sondern darauf dringt, daß unseren Vorstel-lungen äußerer Dinge wirkliche Gegenstände äußererDinge korrespondieren, so will er doch, daß die Formder Anschauung derselben nicht ihnen, sondern nurdem menschlichen Gemüte anhänge.

7 Sätze, welche in der Mathematik oder Naturlehrepraktisch genannt werden, sollten eigentlich tech-nisch heißen. Denn um die Willensbestimmung ist esdiesen Lehren gar nicht zu tun; sie zeigen nur dasMannigfaltige der möglichen Handlung an, welcheseine gewisse Wirkung hervorzubringen hinreichendist, und sind also eben so theoretisch, als alle Sätze,welche die Verknüpfung der Ursache mit einer Wir-kung aussagen. Wem nun die letztere beliebt, der mußsich auch gefallen lassen, die erstere zu sein.

8 Überdem ist der Ausdruck sub ratione boni auchzweideutig. Denn er kann so viel sagen: wir stellenuns etwas als gut vor, wenn und weil wir es begehren(wollen); aber auch: wir begehren etwas darum, weilwir es uns als gut vorstellen, so daß entweder die Be-gierde der Bestimmungsgrund des Begriffs des Ob-jekts als eines Guten, oder der Begriff des Guten derBestimmungsgrund des Begehrens (des Willens) sei;da denn das: sub ratione boni, im ersteren Falle be-deuten würde, wir wollen etwas unter der Idee des

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Guten, im zweiten, zu Folge dieser Idee, welche vordem Wollen als Bestimmungsgrund desselben vorher-gehen muß.

9 Man kann von jeder gesetzmäßigen Handlung, diedoch nicht um des Gesetzes willen geschehen ist,sagen: sie sei bloß dem Buchstaben, aber nicht demGeiste (der Gesinnung) nach moralisch gut.

10 Wenn man den Begriff der Achtung für Personen,so wie er vorher dargelegt worden, genau erwägt, sowird man gewahr, daß sie immer auf dem Bewußtseineiner Pflicht beruhe, die uns ein Beispiel vorhält, und,daß also Achtung niemals einen andern als morali-schen Grund haben könne, und es sehr gut, so gar inpsychologischer Absicht zur Menschenkenntnis sehrnützlich sei, allerwärts, wo wir diesen Ausdruck brau-chen, auf die geheime und wundernswürdige, dabeiaber oft vorkommende Rücksicht, die der Mensch inseinen Beurteilungen aufs moralische Gesetz nimmt,Acht zu haben.

11 Mit diesem Gesetze macht das Prinzip der eigenenGlückseligkeit, welches einige zum obersten Grund-satze der Sittlichkeit machen wollen, einen seltsamenKontrast: Dieses würde so lauten: Liebe dich selbstüber alles, Gott aber und deinen Nächsten um dein

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selbst willen.

12 Die Überzeugung von der Unwandelbarkeit seinerGesinnung, im Fortschritte zum Guten, scheint gleich-wohl auch einem Geschöpfe für sich unmöglich zusein. Um deswillen läßt die christliche Religionslehresie auch von demselben Geiste, der die Heiligung, d.i.diesen festen Vorsatz und mit ihm das Bewußtseinder Beharrlichkeit im moralischen Progressus, wirkt,allein abstammen. Aber auch natürlicher Weise darfderjenige, der sich bewußt ist, einen langen Teil sei-nes Lebens bis zu Ende desselben, im Fortschrittezum Bessern, und zwar aus echten moralischen Bewe-gungsgründen, angehalten zu haben, sich wohl dietröstende Hoffnung, wenn gleich nicht Gewißheit,machen, daß er, auch in einer über dieses Leben hin-aus fortgesetzten Existenz, bei diesen Grundsätzenbeharren werde, und, wiewohl er in seinen eigenenAugen hier nie gerechtfertigt ist, noch, bei dem ver-hofften künftigen Anwachs seiner Naturvollkommen-heit, mit ihr aber auch seiner Pflichten, es jemals hof-fen darf, dennoch in diesem Fortschritte, der, ob erzwar ein ins Unendliche hinausgerücktes Ziel betrifft,dennoch für Gott als Besitz gilt, eine Aussicht in eineselige Zukunft haben; denn dieses ist der Ausdruck,dessen sich die Vernunft bedient, um ein von allen zu-fälligen Ursachen der Welt unabhängiges

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vollständiges Wohl zu bezeichnen, welches eben so,wie Heiligkeit eine Idee ist, welche nur in einem un-endlichen Progressus und dessen Totalität enthaltensein kann, mithin vom Geschöpfe niemals völlig er-reicht wird.

13 Man hält gemeiniglich dafür, die christliche Vor-schrift der Sitten habe in Ansehung ihrer Reinigkeitvor dem moralischen Begriffe der Stoiker nichts vor-aus; allein der Unterschied beider ist doch sehr sicht-bar. Das stoische System machte das Bewußtsein derSeelenstärke zum Angel, um den sich alle sittlicheGesinnungen wenden sollten, und, ob die Anhängerdessen zwar von Pflichten redeten, auch sie ganz wohlbestimmeten, so setzen sie doch die Triebfeder undden eigentlichen Bestimmungsgrund des Willens ineiner Erhebung der Denkungsart über die niedrige undnur durch Seelenschwäche machthabende Triebfedernder Sinne. Tugend war also bei ihnen ein gewisserHeroism des über tierische Natur des Menschen sicherhebenden Weisen, der ihm selbst genug ist, andernzwar Pflichten vorträgt, selbst aber über sie erhobenund keiner Versuchung zu Übertretung des sittlichenGesetzes unterworfen ist. Dieses alles aber konntensie nicht tun, wenn sie sich dieses Gesetz in der Rei-nigkeit und Strenge, als es die Vorschrift des Evange-lii tut, vorgestellt hätten. Wenn ich unter einer Idee

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eine Vollkommenheit verstehe, der nichts in der Er-fahrung adäquat gegeben werden kann, so sind diemoralischen Ideen darum nichts Überschwengliches,d.i. dergleichen, wovon wir auch nicht einmal den Be-griff hinreichend bestimmen könnten, oder von demes ungewiß ist, ob ihm überall ein Gegenstand korre-spondiere, wie die Ideen der spekulativen Vernunft,sondern dienen, als Urbilder der praktischen Voll-kommenheit, zur unentbehrlichen Richtschnur dessittlichen Verhaltens, und zugleich zumMaßstabeder Vergleichung. Wenn ich nun die christlicheMoral von ihrer philosophischen Seite betrachte, sowürde sie, mit den Ideen der griechischen Schulenverglichen, so erscheinen: Die Ideen der Kyniker, derEpikureer, der Stoiker und des Christen sind: die Na-tureinfalt, die Klugheit, dieWeisheit und die Heilig-keit. In Ansehung des Weges, dazu zu gelangen, un-terschieden sich die griechischen Philosophen so voneinander, daß die Kyniker dazu den gemeinen Men-schenverstand, die andern nur den Weg der Wissen-schaft, beide also doch bloßen Gebrauch der natürli-chen Kräfte dazu hinreichend fanden. Die christlicheMoral, weil sie ihre Vorschrift (wie es auch sein muß)so rein und unnachsichtlich einrichtet, benimmt demMenschen das Zutrauen, wenigstens hier im Leben,ihr völlig adäquat zu sein, richtet es aber doch auchdadurch wiederum auf, daß, wenn wir so gut handeln,

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als in unserem Vermögen ist, wir hoffen können, daß,was nicht in unserm Vermögen ist, uns anderweitigwerde zu statten kommen, wir mögen nun wissen, aufwelche Art, oder nicht. Aristoteles und Plato unter-schieden sich nur in Ansehung des Ursprungs unserersittlichen Begriffe.

14 Hiebei, und um das Eigentümliche dieser Begriffekenntlich zu machen, merke ich nur noch an: daß, daman Gott verschiedene Eigenschaften beilegt, derenQualität man auch den Geschöpfen angemessen fin-det, nur daß sie dort zum höchsten Grade erhobenwerden, z.B. Macht, Wissenschaft, Gegenwart, Güteetc. unter den Benennungen der Allmacht, der Allwis-senheit, der Allgegenwart, der Allgütigkeit etc., esdoch drei gibt, die ausschließungsweise, und dochohne Beisatz von Größe, Gott beigelegt werden, unddie insgesamt moralisch sind. Er ist der allein Heili-ge, der allein Selige, der allein Weise; weil diese Be-griffe schon die Uneingeschränktheit bei sich führen.Nach der Ordnung derselben ist er denn also auch derheilige Gesetzgeber (und Schöpfer), der gütige Re-gierer (und Erhalter) und der gerechte Richter. DreiEigenschaften, die alles in sich enthalten, wodurchGott der Gegenstand der Religion wird, und denen an-gemessen die metaphysischen Vollkommenheiten sichvon selbst in der Vernunft hinzu fügen.

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15 Gelehrsamkeit ist eigentlich nur der Inbegriff hi-storischerWissenschaften. Folglich kann nur derLehrer der geoffenbarten Theologie ein Gottesgelehr-ter heißen. Wollte man aber auch den, der im Besitzevon Vernunftwissenschaften (Mathematik und Philo-sophie) ist, einen Gelehrten nennen, obgleich diesesschon der Wortbedeutung (als die jederzeit nur dasje-nige, was man durchaus gelehret werden muß, undwas man also nicht von selbst, durch Vernunft, erfin-den kann, zur Gelehrsamkeit zählt) widerstreitenwürde: so möchte wohl der Philosoph mit seiner Er-kenntnis Gottes, als positiver Wissenschaft, eine zuschlechte Figur machen, um sich deshalb einen Ge-lehrten nennen zu lassen.

16 Aber selbst auch hier würden wir nicht ein Bedürf-nis der Vernunft vorschützen können, läge nicht einproblematischer, aber doch unvermeidlicher Begriffder Vernunft vor Augen, nämlich der eines schlechter-dings notwendigen Wesens. Dieser Begriff will nunbestimmt sein, und das ist, wenn der Trieb zur Erwei-terung dazu kommt, der objektive Grund eines Be-dürfnisses der spekulativen Vernunft, nämlich denBegriff eines notwendigen Wesens, welches andernzum Urgrunde dienen soll, näher zu bestimmen, unddieses letzte also wodurch kenntlich zu machen. Ohnesolche vorausgehende notwendige Probleme gibt es

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keine Bedürfnisse, wenigstens nicht der reinen Ver-nunft; die übrigen sind Bedürfnisse der Neigung.

17 Im deutschen Museum, Febr. 1787, findet sicheine Abhandlung von einem sehr feinen und hellenKopfe, dem sel. Wizenmann, dessen früher Tod zubedauren ist, darin er die Befugnis, aus einem Bedürf-nisse auf die objektive Realität des Gegenstandes des-selben zu schließen, bestreitet, und seinen Gegenstanddurch das Beispiel eines Verliebten erläutert, der,indem er sich in eine Idee von Schönheit, welche bloßsein Hirngespinst ist, vernarrt hätte, schließen wollte,daß ein solches Objekt wirklich wo existiere. Ich gebeihm hierin vollkommen recht, in allen Fällen, wo dasBedürfnis auf Neigung gegründet ist, die nicht einmalnotwendig für den, der damit angefochten ist, die Exi-stenz ihres Objekts postulieren kann, vielweniger einefür jedermann gültige Foderung enthält, und daher einbloß subjektiver Grund der Wünsche ist. Hier aber istes ein Vernunftbedürfnis, aus einem objektiven Be-stimmungsgrunde des Willens, nämlich dem morali-schen Gesetze entspringend, welches jedes vernünf-tige Wesen notwendig verbindet, also zur Vorausset-zung der ihm angemessenen Bedingungen in derNatur a priori berechtigt, und die letztern von demvollständigen praktischen Gebrauche der Vernunft un-zertrennlich macht. Es ist Pflicht, das höchste Gut

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nach unserem größten Vermögen wirklichzumachen;daher muß es doch auch möglich sein; mithin ist esfür jedes vernünftige Wesen in der Welt auch unver-meidlich, dasjenige vorauszusetzen, was zu dessenobjektiver Möglichkeit notwendig ist. Die Vorausset-zung ist so notwendig, als das moralische Gesetz, inBeziehung auf welches sie auch nur gültig ist.

18 Handlungen, aus denen große uneigennützige, teil-nehmende Gesinnung und Menschlichkeit hervor-leuchtet, zu preisen, ist ganz ratsam. Aber man mußhier nicht sowohl auf die Seelenerhebung, die sehrflüchtig und vorübergehend ist, als vielmehr auf dieHerzensunterwerfung unter Pflicht, wovon ein länge-rer Eindruck erwartet werden kann, weil sie Grundsät-ze (jene aber nur Aufwallungen) mit sich führt, auf-merksam machen. Man darf nur ein wenig nachsin-nen, man wird immer eine Schuld finden, die er sichirgend wodurch in Ansehung des Menschenge-schlechts aufgeladen hat (sollte es auch nur die sein,daß man, durch die Ungleichheit der Menschen in derbürgerlichen Verfassung, Vorteile genießt, um derenwillen andere desto mehr entbehren müssen), umdurch die eigenliebige Einbildung des Verdienstli-chen den Gedanken an Pflicht nicht zu verdrängen.

Immanuel Kant: Werke in zwölf Bänden. Band 7, Frankfurt am Main 1977