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KAPITEL Verschoben oder verwirklicht? Das Reich Gottes Einführung Um die biblischen Zukunftsaussagen richtig verstehen zu können, ist ein klares Verständnis des Reiches Gottes unverzichtbar. Das Reich Gottes in seiner prophetischen Ankündigung im Alten Testa- ment, seiner gegenwärtigen Verwirklichung und seiner zukünftigen Vollendung ist von zentraler Bedeutung für die Eschatologie. Es ist nicht einfach, ein biblisches Verständnis des Reiches Gottes zu gewinnen, denn obwohl das Reich Gottes zentrale Bedeutung in beiden Testamenten hat, findet sich in keinem eine klare Defini- tion. Der Evangelist Markus fasst die Verkündigung Jesu mit den Worten zusammen: »Jesus verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe! Kehrt um, und glaubt an das Evangelium!« (Mk ,-). Über siebzig Mal kommt in den Evangelien der Ausdruck »Reich Gottes« vor. Der griechische Begribasileia bedeutet »Königsherrschaft«. Die Begrie »Reich Gottes« und »Himmelreich« bedeuten beide dasselbe, wie der Ver- gleich zwischen Mt , und Mk , sowie Mt , und Lk , zeigt. Die Evangelisten Markus, Lukas und Johannes sprachen vom »Reich Gottes«, während Matthäus (oenbar mit Rücksicht auf die Juden, die aus Ehrfurcht das Aussprechen des Namens Gottes ver- mieden) ihn mit »Himmel« ersetzte. Im Alten Testament ist vom Reich Gottes oft die Rede, indem ge- Strack und Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd. , .

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KAPITEL Verschoben oder verwirklicht?

Das Reich Gottes

Einführung

Um die biblischen Zukunftsaussagen richtig verstehen zu können,ist ein klares Verständnis des Reiches Gottes unverzichtbar. DasReich Gottes in seiner prophetischen Ankündigung im Alten Testa-ment, seiner gegenwärtigen Verwirklichung und seiner zukünftigenVollendung ist von zentraler Bedeutung für die Eschatologie. Esist nicht einfach, ein biblisches Verständnis des Reiches Gottes zugewinnen, denn obwohl das Reich Gottes zentrale Bedeutung inbeiden Testamenten hat, findet sich in keinem eine klare Defini-tion. Der Evangelist Markus fasst die Verkündigung Jesu mit denWorten zusammen: »Jesus verkündete das Evangelium Gottes undsprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe! Kehrt um, undglaubt an das Evangelium!« (Mk ,-). Über siebzig Mal kommtin den Evangelien der Ausdruck »Reich Gottes« vor. Der griechischeBegriff basileia bedeutet »Königsherrschaft«. Die Begriffe »ReichGottes« und »Himmelreich« bedeuten beide dasselbe, wie der Ver-gleich zwischen Mt , und Mk , sowie Mt , und Lk ,zeigt. Die Evangelisten Markus, Lukas und Johannes sprachen vom»Reich Gottes«, während Matthäus (offenbar mit Rücksicht auf dieJuden, die aus Ehrfurcht das Aussprechen des Namens Gottes ver-mieden) ihn mit »Himmel« ersetzte.

Im Alten Testament ist vom Reich Gottes oft die Rede, indem ge-

Strack und Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud undMidrasch, Bd. , .

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sagt wird, dass Gott seinen Thron errichtet hat (Ps ,; ,-). Gottwird als König beschrieben, der über seine Schöpfung herrscht:»Der Herr ist König auf ewig, / dein Gott, Zion, herrscht vonGeschlecht zu Geschlecht« (Ps ,). Obschon Gott als Schöp-fer über seine ganze Schöpfung herrscht, war im Alten Testamentseine Herrschaft gewissermassen auf Israel beschränkt. Gott offen-barte sich unter seinem Volk und schenkte ihm Licht, während dieVölker in Finsternis waren (Apg ,). Von der Schöpfung her istGott aber nicht nur der Gott Israels, sondern der Gott aller Völ-ker. So findet sich im Alten Testament die Hoffnung, dass Gottseine Herrschaft über Israel hinaus auf alle Völker ausdehnen wird.Der Prophet Jesaja kündigte die Geburt eines Kindes an, auf des-sen Schultern die Herrschaft liegt und dessen weltweites Reich sichdurch Friede und Gerechtigkeit auszeichnen wird (Jes ,-). DerProphet Daniel kündigte an:

»Zur Zeit jener Könige wird aber der Gott des Himmels einReich errichten, das in Ewigkeit nicht untergeht; dieses Reichwird er keinem anderen Volk überlassen. Es wird alle jene Rei-che zermalmen und endgültig vernichten; es selbst aber wirdin alle Ewigkeit bestehen ... Die Herrschaft und Macht undHerrlichkeit aller Reiche unter dem ganzen Himmel werdendem Volk des Heiligen des Höchsten gegeben. Sein Reich istein ewiges Reich, und alle Mächte werden ihm dienen undgehorchen« (Dan ,; ,).

Aufgrund der prophetischen Ankündigungen erwartete man in Is-rael das Auftreten des Messias zur Errichtung des Reiches Gottes.Diese Erwartung beinhaltete insbesondere den Glauben daran, dassder Messias die Feinde des erwählten Volkes schlagen und Israelzurück zur Macht führen wird, wie es in den Tagen Davids und Sa-lomos der Fall gewesen war. Als Jesus auftrat und ankündigte, dassGottes Reich nahe ist, erreichte die endzeitliche Erwartung den Sie-

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depunkt. Alle warteten sehnsüchtig auf den Messias und hofftenauf die Befreiung von der römischen Herrschaft – doch Jesus er-füllte die Erwartungen der Juden nicht. Er lehnte sich nicht gegendie Römer auf, er war friedfertig und sprach von seinem Leiden,und am Ende starb er an einem römischen Kreuz. Damit erhebtsich die Frage nach der Durchsetzung des Reiches. Jesus kündigtees an, man erwartete es mit Sehnsucht, doch die Erwartungen wur-den enttäuscht. Wurde das Reich Gottes wegen der Ablehnung desMessias in die Zukunft verschoben, oder hatte Gott auf unschein-bare Art und Weise begonnen, seine Herrschaft aufzurichten? DieseFrage spielt in der Formulierung unserer Zukunftserwartung einewesentliche Rolle und steht im Zentrum dieses Kapitels.

Wurde das Reich Gottes verschoben?

Nach der Auffassung des Dispensationalismus wurde das ReichGottes auf die Zeit nach der Wiederkunft Christi verschoben.Durch diese Theorie wird das Entscheidende auf die Zukunft ver-legt und für die Gegenwart kaum positive Veränderungen erwar-tet.

Die Kirche hat durch die Jahrhunderte im Allgemeinen gelehrt, dassdas Reich Gottes mit dem Kommen Christi aufgerichtet wurde.Das Reich Gottes ist schon jetzt zeichenhaft in Kirche und Mis-sion gegenwärtig und geht seiner zukünftigen Vollendung entgegen.Mit dem Aufkommen des Dispensationalismus im . Jahrhundertwurde die historische Position in Frage gestellt.

Die Theorie des verschobenen Reiches

Unter Dispensationalisten gibt es verschiedene Ansichten über diegegenwärtige Natur des Reiches Gottes. Entsprechend unterschied-lich sind die Begrifflichkeiten. McClain vertritt die Auffassung, dass

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das Gemeindezeitalter ein Unterbruch im Heilsplan Gottes ist unddaher nicht vom Reich auf Erden gesprochen werden kann. Ry-rie glaubt, dass durch die Ablehnung des Messias seitens Israel dasReich Gottes als »Geheimnis« entstand, welches er mit dem Chri-stentum gleichsetzt. Es gibt in der gegenwärtigen Zeit paralleldazu aber auch ein geistliches Reich, in das alle Gläubigen versetztsind. Nach Pentecost gibt es ein geistliches Reich, das sich aus al-len Erwählten aller Zeitalter zusammensetzt. In der Zeit zwischenHimmelfahrt und Wiederkunft existiert das Reich in verborgenerGestalt und umfasst gemäss Matthäus sowohl Gläubige als auchUngläubige. Es ist ein Geheimnis, weil es im Alten Testament nichtvorhergesagt wurde. Weil Israel den Messias ablehnte, ist die Ver-wirklichung des Reiches Gottes auf das zweite Kommen Christi ver-schoben worden. Nach dispensationalistischer Auffassung predigteJesus am Anfang seines Dienstes ein irdisches, politisches Reich,dessen Errichtung nahe bevorstand:

»In der frühen Berichterstattung der Evangelien über Jesuswird verkündigt, dass das Königreich nahe sei (Matthäus ,;Markus ,.). Das Königreich war nahe in dem Sinne, dassder König sich selbst Israel vorstellte. Das Königreich bezogsich auf das prophezeite irdische Königreich, in dem der Mes-sias, Christus, über das Haus Davids und über die ganze Erdeherrschen sollte.«

Da viele Juden Jesus als ihren Messias ablehnten, habe Jesus seineBotschaft geändert und begonnen, ein geistliches Reich im Her-zen der Gläubigen zu predigen. Das Reich Gottes sei verschobenworden:

In Blaising und Bock, Progressive Dispensationalism, -. Ryrie, Die Bibel verstehen, . Ryrie, Die Bibel verstehen, -. Pentecost, Bibel und Zukunft, . Pentecost, Bibel und Zukunft, . Walvoord, Brennpunkte biblischer Prophetie, . Walvoord, Brennpunkte biblischer Prophetie, .

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»Weil Israel ihn verworfen hatte, erkannte Jesus, dass das Kö-nigreich, das er anbot, nicht so bald in Erfüllung gehen würde,sondern erst bei seinem zweiten Kommen.«

Dispensationalisten vertreten im Allgemeinen die Auffassung, dasvon Jesus gepredigte Reich sei ein Angebot gewesen, das angenom-men oder abgelehnt werden konnte. Es hing von Israels Reaktionauf die Predigt Jesu ab, ob das Reich Gottes verwirklicht werdenkonnte, denn »bei seiner Verkündigung des Reiches machte Chri-stus deutlich, dass es vom Willen der Menschen abhing, ob dasReich eingeführt werden konnte oder nicht«. Wenn Israel denMessias angenommen hätte, wäre nach dispensationalistischer Auf-fassung unverzüglich das Reich Gottes (das Tausendjährige Reich)errichtet worden. Jesus wäre nicht am Kreuz gestorben, sondernzum König der Juden gemacht worden. Wegen der Verstockung Is-raels sei das Reich aber bis zum Wiederkommen Christi verschobenworden.

Die Theorie des verschobenen Reiches führt zu einer Diskon-tinuität zwischen der Reichshoffnung des Alten Testamentes undder Zeit des Neuen Testamentes. Das Reich Gottes, das Jesus pre-digte, war sozusagen eine Totgeburt, der ursprüngliche Plan Gottesverfehlte sein Ziel. Es kam nicht das Reich für Israel, sondern esbrach die Zeit der Gemeinde an. Die alttestamentliche Reichspro-phetie hat nach dispensationalistischer Auffassung nichts mit demGemeindezeitalter zu tun.

Walvoord, Brennpunkte biblischer Prophetie, . Pentecost, Bibel und Zukunft, -. Hoyt, »Die Sicht des Dispensationalismus«, in Clouse (Hg.), Das Tausend-

jährige Reich.

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Die Gegenwart des Reiches Gottes

Die dispensationalistische Theorie von der Verschiebung des Rei-ches ist stark kritisiert worden. Nicht nur die Vertreter der andereneschatologischen Modelle, sondern auch manche Dispensationali-sten selbst, erachten sie unterdessen als unvereinbar mit dem Zeug-nis des Neuen Testamentes. Im progressiven Dispensationalismusist die Theorie gänzlich aufgegeben worden.

Es ist das klare Zeugnis des Neuen Testamentes, dass mit Jesusdas Reich da ist. Weder Jesus noch die Apostel sprachen davon,dass Gottes Reich verschoben wurde. Gott machte das Kommenseines Reiches nicht von der Reaktion der Menschen abhängig. DasKommen des Reiches war allein vom souveränen Willen Gottes ab-hängig. Es war und ist Gottes Reich, nicht das von Menschen. Esist Sache des Willens Gottes, seine Herrschaft den Menschen an-zubieten, und es ist Sache des Menschen, auf dieses Angebot zureagieren. Gott gibt das Reich bestimmten Menschen (Lk ,),aber Menschen können es einander nicht geben. Menschen könnendas Reich Gottes ablehnen (Lk ,), aber nirgends in der Schriftist davon die Rede, dass sie es aufhalten können. Der Mensch wirdaufgefordert, in das Reich Gottes einzutreten (Mt ,; ,), aberbauen kann es allein Gott. Menschen können für das Kommen desReiches beten (Mt ,), aber sie können es nicht selbst herbeifüh-ren.

Im Gleichnis vom Wachsen der Saat wird deutlich, dass die Er-richtung des Reiches Gottes nicht an den Menschen gebunden ist,sondern von Gottes Willen abhängt. Ein Mann sät Samen auf denAcker. Er schläft und steht wieder auf und sieht, wie der Same vonselbst wächst, ohne sein Zutun (Mk ,-). So wie der Same vonselbst wächst, richtete Gott durch die Sendung seines Sohnes seineKönigsherrschaft auf. Es war Gottes Wille, dass sich in der Sendungseines Sohnes die Hoffnung der Propheten zu erfüllen begann. DieErrichtung seiner Herrschaft war nie von der menschlichen Reak-

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tion abhängig, sie war ein souveränes Handeln Gottes in Raum undZeit.

Dispensationalisten reden davon, dass das Reich Gottes verscho-ben wurde, weil Israel den Messias ablehnte. Doch der Umstand,dass der grosse Teil Israels Jesus ablehnte, bedeutete nicht, dass dasReich Gottes verschoben wurde. Die Propheten sagten voraus, dassnur ein Rest Israels sich bekehren wird (Jes ,). Nicht alle Judenlehnten Jesus ab. Diejenigen, die auf den »Trost Israels warteten«,erkannten in Jesus den Messias und stellten sich unter seine Herr-schaft, allen voran die Jünger. Auch der erweiterte Jüngerkreis derSiebzig (Lk ,) und eine Gruppe von Frauen gehörte dazu (Lk,-). Es gab eine beträchtliche Zahl heimlicher Jünger (Lk ,-), und selbst in der jüdischen Führungsschicht bekannten sicheinige zu ihm (Joh ,). Nach seiner Auferstehung erschien Je-sus fünfhundert Brüdern auf einmal (Kor ,). Eine grosse Zahlvon Priestern und auch einige von den Pharisäern glaubten an ihn(Apg ,; ,). Sie alle nahmen Jesus als ihren Herrn auf und tratenin das Reich Gottes ein.

Der Dispensationalismus spricht von der Verschiebung des Rei-ches, weil Jesus keine irdisch-politische Herrschaft aufrichtete. Nachdispensationalistischem Verständnis war aber genau das der eigent-liche Plan Gottes. Dieser Auffassung steht die Tatsache entgegen,dass Jesus nie eine irdisch-politische Herrschaft verkündete. Jesushat sich nie als politischen König angeboten, und nie die Hoffnunggenährt, das Reich Davids und Salomos wiederherzustellen. Jesushat dieser Hoffnung sogar entschieden entgegengewirkt, denn alspolitischer Herrscher hätte er nicht der leidende Erlöser sein kön-nen. Nach der Speisung der Fünftausend erkannte Jesus, »dass siekommen würden, um ihn in ihre Gewalt zu bringen und zum Kö-nig zu machen. Daher zog er sich wieder auf den Berg zurück, erallein« (Joh ,). Jesus kam, um die Werke des Teufels zu zerstören(Joh ,), nicht um ein irdisches Reich zu errichten. Jesu Predigtvom Reich war ein messianisches Heilsangebot.

Die Theorie von der Verschiebung des Reiches Gottes hat we-

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sentliche Auswirkungen auf unsere Gegenwartsgestaltung. Der Dis-pensationalist glaubt, dass das Reich Gottes erst in Zukunft aufge-richtet wird. Damit verlegt er das Entscheidende auf die Zukunftund erwartet für die Gegenwart kaum positive Veränderungen. DaJesus nach dispensationalistischer Vorstellung seine Herrschaft nochnicht angetreten hat und sein Reich folglich noch nicht da ist, gehtvon der dispensationalistischen Eschatologie wenig Kraft aus, diein die Gegenwart hineinwirkt. Die Theorie von der Verschiebungdes Reiches Gottes ist nicht zuletzt darum bedenklich, weil sie demKreuz zweitrangige Bedeutung zumisst. Wenn die Juden Jesus an-genommen hätten, wäre nach dispensationalistischer Auffassung so-gleich das Tausendjährige Reich angebrochen, indem Israel als Völ-kermissionar die Nationen zu Gott geführt hätte. Karfreitag, Osternund Himmelfahrt wären nicht nötig gewesen. Denkt man das dis-pensationalistische System zu Ende, war das Kreuz nur nötig, weilIsrael den Messias ablehnte.

Was ist mit dem Reich Gottes gemeint?

Das Reich Gottes ist seit dem ersten Kommen Christi »schon da«aber »noch nicht« volle Wirklichkeit. Wir leben in der Spannungzwischen dem schon angebrochenen aber noch nicht vollendetenReich.

Mit Jesus ist das Reich Gottes da. Das ist unübersehbar im NeuenTestament und bildet die grundlegende Erkenntnis über die Bedeu-tung des Reiches in der Eschatologie.

Das wichtigste Zeichen für die Gegenwart des Reiches Gottesist die Verkündigung des Evangeliums. Als Johannes der TäuferJesus fragen liess, ob er der Messias ist, liess er ihm die Antwortüberbringen: »Geht und berichtet Johannes, was ihr hört und seht:

Vgl. Cullmann, Christus und die Zeit; ders. Heil als Geschichte.

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Blinde sehen wieder, und Lahme gehen; Aussätzige werden rein,und Taube hören; Tote stehen auf, und den Armen wird das Evan-gelium verkündet« (Mt ,-). Beim Propheten Jesaja lesen wir, dassdie Armen frohe Botschaft hören und zerbrochene Herzen geheiltwerden (Jes ,). In der Person Jesu ist dieses Evangelium Wirk-lichkeit.

Ein zweites Zeichen für die Gegenwart des Reiches sind die Wun-der, die Jesus vollbrachte. Die Wunder und Heilungen, die Jesusvollbrachte, wiesen ihn als den verheissenen Messias aus und be-deuteten die Erfüllung der prophetischen Schau vom messianischenZeitalter (vgl. Mt ,- mit Jes ,ff ). Das endzeitliche Heil, diesesSchalom Gottes, auf das man in Israel so sehnsüchtig blickte, ist inJesus herbeigekommen.

Ein drittes Zeichen ist die Austreibung von Dämonen. Jesus er-klärte den Pharisäern: »Wenn ich aber die Dämonen durch denGeist Gottes austreibe, dann ist das Reich Gottes schon zu euchgekommen« (Mt ,). Die Dämonenaustreibungen sind endzeit-liche Kampfhandlungen. Durch die Austreibungen wird das Böse,das hinter dem Lauf der Welt steht, entmachtet und der Weg zurHerrschaft Gottes frei. Die Botschaft der Evangelien ist: In der Per-son Jesus von Nazaret ist das Reich Gottes da.

Wir haben noch nicht geklärt, was unter dem Wortpaar »ReichGottes« genau zu verstehen ist. Ist ein Herrschaftsbereich gemeintoder eine Haltung des Herzens? Wenn das Reich Gottes mit Jesus»da« ist, warum lehrte Jesus uns, für das Kommen des Reiches Got-tes zu beten (Mt ,)? Inwiefern ist das Reich Gottes gegenwärtig,und in welchem Sinn ist es noch zukünftig?

Vgl. Vorländer, Gelebte Hoffnung, .

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Das Reich Gottes ist »schon da« ...

Als Jesus öffentlich aufzutreten begann, verkündete er: »Kehrt um!Denn das Himmelreich ist nahe« (Mt ,). Jesus lehrte, dass dasReich Gottes, von dem die Propheten gesprochen hatten, in seinerPerson da war. Die Pharisäer, die auf die Errichtung des ReichesGottes warteten, fragten Jesus, wann das Reich Gottes komme (Lk,), worauf Jesus antwortete: »Das Reich Gottes kommt nicht so,dass man es an äusseren Zeichen erkennen könnte. Man kann auchnicht sagen: Seht, hier ist es!, oder: Dort ist es! Denn: Das ReichGottes ist (schon) mitten unter euch« (Lk ,-). Die Pharisäerwarteten auf ein politisches Reich und vermochten deshalb in derPerson Jesu nicht den Anbruch des Reiches Gottes zu sehen. Jesuserklärte ihnen, dass das Reich Gottes in seiner Person und in seinenWerken mitten unter ihnen war.

Durch das Kommen Jesu erfüllte sich die Hoffnung der Pro-pheten. Diese wussten, dass ihre Botschaft vom Messias und sei-nem Reich über ihre eigene Zeit hinausging (Petr ,-). Mitdem Kommen des Sohnes Gottes wurde die prophetische HoffnungWirklichkeit. »Viele Propheten und Gerechte haben sich danachgesehnt, zu sehen, was ihr seht, und haben es nicht gesehen, undzu hören, was ihr hört, und haben es nicht gehört«, sagte Jesus zuseinen Jüngern (Mt ,). Das Kommen Jesu, sein Dienst an denArmen und sein erlösendes Sterben bedeutete die Erfüllung der pro-phetischen Hoffnung. Jesus lehrte: »Die Zeit ist erfüllt, das ReichGottes ist nahe« (Mk ,). Als er in der Synagoge von Nazaret Je-saja ,- gelesen hatte, erklärte er einer erstaunten Zuhörerschaft:»Heute hat sich dieses Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt«(Lk ,-). Das Gesetz und die Propheten reichen bis zu Johan-nes dem Täufer, »seitdem wird das Evangelium vom Reich Gottesverkündet« (Lk ,). Das Reich des Messias ist angebrochen!

Der Anbruch des Reiches Gottes in der Person Jesu lässt sich aucham christologischen Titel des Menschensohns aufzeigen. »Men-schensohn« war der einzige messianische Titel, den Jesus wiederholt

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und ausdrücklich auf sich bezog. Der Titel geht auf das apokalyp-tische Danielbuch zurück. In einer nächtlichen Vision sah Danielfolgendes:

»Da kam mit den Wolken des Himmels / einer wie ein Men-schensohn. Er gelangte bis zu dem Hochbetagten / und wurdevor ihn geführt. Ihm wurden Herrschaft, / Würde und König-tum gegeben. Alle Völker, Nationen und Sprachen / müssenihm dienen. Seine Herrschaft ist eine ewige, / unvergänglicheHerrschaft. / Sein Reich geht niemals unter« (Dan ,-).

Daniel sah, wie einer wie ein Menschensohn zum Hochbetagten(Gott) geführt wurde und dort eine ewige Herrschaft empfing. DerMenschensohn ist demnach der Weltherrscher, der aus Gottes Weltkommt und die Erde in Besitz nimmt. Wenn der Weltherrscherkommt, bricht Gottes Herrschaft an. Durch die Selbstbezeichnung»Menschensohn« beanspruchte Jesus, dieser endzeitliche Weltherr-scher zu sein. Er machte von der Vollmacht des MenschensohnsGebrauch und vergab Sünden (Mk ,). Doch dann sprach Jesusin völliger Umkehr dessen, was von Daniel ,- her zu erwar-ten war, vom Leiden und Sterben des Menschensohns. Sein Todaber war nicht das Ende, sondern in seiner Auferstehung und Erhö-hung zur Rechten Gottes nahm Jesus den Herrschaftsthron ein. DieErhöhung Jesu ist die Erfüllung des Ereignisses, von dem Daniel,- spricht. In seiner Erhöhung in den Himmel gelangte Jesusvor den Thron Gottes und empfing Herrschaft, Würde und Kö-nigtum. Im Himmel fand die endzeitliche Machtübernahme statt,durch die Jesus als Herrscher über Gottes Reich eingesetzt wurde.Deshalb konnte Jesus seinen Jüngern vor seiner Erhöhung sagen,dass ihm alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist (Mt,). Mit dem Kommen Jesu, seinem Dienst an den Armen, sei-

Vgl. für das Folgende Vorländer, Gelebte Hoffnung, -.

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nem Tod, seiner Auferstehung und seiner Erhöhung zum Platz derMacht ist Gottes Reich da.

Die Propheten verkündeten eine Herrschaft, deren Kern eineerneuerte Gottesbeziehung ist. Jesaja kündigte einen leidenden Er-löser an, der die Schuld der Menschen auf sich nimmt (Jes ,-).Jeremia sprach davon, dass Gott sein Gesetz in das Herz seines Vol-kes schreiben wird (Jer ,; Hes ,). Durch Christus begannGott seine Herrschaft in unscheinbarer Weise in den Herzen de-rer aufzurichten, die seine Herrschaft akzeptierten. Jesus war nichtgekommen, um ein äusserliches Reich aufzurichten, sondern umMenschen zu suchen, die bereit waren, nach den Massstäben seinerHerrschaft zu leben. Die Zugehörigkeit zum Reich Gottes war nichteine Sache der ethnischen Zugehörigkeit, sondern eine des Herzens.Nur durch Umkehr ist es möglich, in das Reich Gottes einzutreten(Mk ,). Die Seligpreisungen illustrieren, welchen Menschen dasReich Gottes gehört. Es sind Menschen, die ihre Abhängigkeit vonGott erkennen und sich ihm unterwerfen (Mt ,-).

Es ist Bestandteil der prophetischen Hoffnung, dass sich dasReich Gottes am Ende der Zeit über die ganze Welt erstreckt (Dan,; Jes ,-). Dieses Reich, das eines Tages alle Völker der Erdeerfassen soll, beginnt im Herzen einzelner Menschen. Diejenigen,die Vergebung ihrer Sünden empfangen haben und beginnen, nachden Massstäben des gerechten Königs zu leben, sind aufgerufen, dieHerrschaft, unter der sie stehen, auf alle Völker auszudehnen. Inden Briefen des Neuen Testamentes tritt dieses geistlich-dynamischeVerständnis des Reiches Gottes klar zu Tage. Paulus schreibt, dasswir der Macht der Finsternis entrissen und in das Reich des Sohnesaufgenommen sind, durch welchen wir Erlösung und Vergebunghaben (Kol ,-). Paulus lehrte und predigte das Reich Gottes(Apg ,; ,). Er verstand sich als ein Apostel, der die Kraftder Gegenwart des Reiches Gottes kannte (Kor ,-), und erbetrachtete die Gemeinde als Manifestation des Reiches (Römer,). Weil das fundamentale Problem des Menschen seine zer-

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brochene Beziehung zu Gott ist, nimmt Gottes Herrschaft in derErneuerung des Menschen seinen Anfang.

... aber »noch nicht« vollendet

Durch das Kommen Jesu ist Gottes Herrschaft da, ihre Vollendungaber steht noch aus. Die Herrschaft Gottes ist gegenwärtig, abernoch nicht volle Wirklichkeit. Das Reich Gottes hat sich noch nichtin seiner ganzen Macht offenbart. Die Propheten verkündeten, dassdas Reich Gottes ein Zeitalter des Friedens und der Gerechtigkeitsein wird (Jes ,-; ,-); sie sprachen von einem Zeitalter derHeilung von Krankheiten und der Fülle des Geistes (Joel ,-; Jes,). Diese Segnungen sind dort bereits zeichenhafte Wirklichkeit,wo sich Menschen unter Christi Herrschaft stellen. Ihre erneuerteGottesbeziehung und die Erfüllung mit dem Heiligen Geist ermög-licht es ihnen, erneuerte Beziehungen zum Nächsten zu pflegen,Friedensstifter zu sein und gerecht zu handeln. Das Reich Gottesist schon da; es bricht sich durch das Wirken des Geistes und dieErfüllung des Missionsauftrags fortwährend Bahn, aber es wird erstin Zukunft vollendet.

Weil das Reich Gottes »schon« da, aber »noch nicht« volle Wirk-lichkeit ist, kann in der Bibel einmal vom gegenwärtigen und dannwieder vom zukünftigen Reich die Rede sein. Wir sind bereits Teil-haber am Reich Gottes (Offb ,), aber wir erwarten immer nochdas Erbe des Reiches (Mt ,; Eph ,; Gal ,). Jesus wird denGerechten am Tag des Gerichts sagen: »Kommt her, die ihr vonmeinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit derErschaffung der Welt für euch bestimmt ist« (Mt ,). Wir sindaufgerufen, Gottes Willen zu tun, um das Reich zu erben: »Wisst ihrdenn nicht, dass Ungerechte das Reich Gottes nicht erben werden?Täuscht euch nicht! Weder Unzüchtige noch Götzendiener, wederEhebrecher noch Lustknaben, noch Knabenschänder, noch Diebe,

Vgl. Fee und Stuart, Effektives Bibelstudium, -.

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noch Habgierige, keine Trinker, keine Lästerer, keine Räuber wer-den das Reich Gottes erben« (Kor ,-). Das Erbe des Reichesliegt in der Zukunft, es kann erst durch die Auferstehung völlig er-langt werden: »So ist es mit der Auferstehung der Toten. Was gesätwird, ist verweslich, was auferweckt wird, unverweslich ... Fleischund Blut können das Reich Gottes nicht erben; das Vergänglicheerbt nicht das Unvergängliche« (Kor ,.).

Die Jünger rechneten anfänglich mit einem irdischen Reich nachdem Vorbild der salomonischen Herrschaft und betrachteten sichals die zukünftigen Mitregenten des Messias (Mk ,-). Sie er-kannten in Jesus den Messias und glaubten an ihn. Das Leiden unddas Kreuz hatte in ihrer Vorstellung jedoch keinen Platz. Bis zu-letzt hofften sie auf die Rückkehr Israels zu Macht und Ansehen.Als Jesus am Kreuz starb, wurde ihr Glaube an Jesus als Messias Is-raels widerlegt und ihre Hoffnung starb. Doch die Geschichte nahmeine wunderbare Wende. Jesus stand von den Toten auf und er-schien den Jüngern. Die Hoffnung auf das Reich flackerte schnellwieder auf. Die Jünger rechneten damit, dass Jesus jetzt das Reichfür Israel wiederherstellt (Apg ,). Doch Jesus kehrte zum Vaterzurück und goss den versprochenen Heiligen Geist aus (Apg ,-).Viele der prophetischen Ankündigungen hatten sich in Jesus erfüllt,doch die volle Verwirklichung der prophetischen Ankündigungentrat nicht ein. Als die Jünger an Pfingsten mit dem Heiligen Geisterfüllt wurden, begannen sie zu begreifen, dass das Ende aller Dingenoch nicht gekommen war. Die prophetischen Ankündigungen wa-ren in ihrer Mitte schon erfahrbar, aber noch nicht in ihrer ganzenFülle Wirklichkeit. So lernten die ersten Christen ein Volk zu sein,das zwischen dem Anfang und der Vollendung des Endes lebte.

Das Neue Testament enthält eine Spannung zwischen dem schongegenwärtigen, aber noch nicht vollendeten Reich. Weil sich dieHoffnung des Propheten in Christus erfüllt und die Segnungendes messianischen Zeitalters da sind, ist das Reich da. Noch aber

Vgl. Fee und Stuart, Effektives Bibelstudium, .

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sind nicht alle Voraussagen der Propheten erfüllt. Der Menschen-sohn ist noch nicht in Macht und Herrlichkeit erschienen, GottesFeinde sind noch nicht geschlagen, und die Auferstehung der To-ten steht noch aus. Diese Spannung zeigt sich im Neuen Testamentauch sprachlich. So ist von »dieser« Welt im Gegensatz zu »je-ner« Welt die Rede. Jesus erklärte: »Nur in dieser Welt heiraten dieMenschen. Die aber, die Gott für würdig hält, an jener Welt und ander Auferstehung von den Toten teilzuhaben, werden dann nichtmehr heiraten« (Lk ,-). Ähnliches sagte Jesus zu den Pha-risäern: »Jede Sünde und Lästerung wird den Menschen vergebenwerden, aber die Lästerung gegen den Geist wird nicht vergeben.Auch dem, der etwas gegen den Menschensohn sagt, wird verge-ben werden; wer aber etwas gegen den Heiligen Geist sagt, demwird nicht vergeben, weder in dieser noch in der zukünftigen Welt«(Mt ,-). Seinen Jüngern versprach Jesus: »Jeder, der um desReiches Gottes willen Haus oder Frau, Brüder, Eltern oder Kinderverlassen hat, wird dafür schon in dieser Zeit das Vielfache erhal-ten und in der kommenden Welt das ewige Leben« (Lk ,-).Dieselbe Spannung bringt die Rede von den »letzten Tagen« (Plu-ral) und dem »letzten Tag« (Singular) zum Ausdruck. Wir lebenschon »in den letzten Tagen« (Tim ,; Hebr ,-), aber der »letzteTag« steht noch aus. Marta sagte von ihrem verstorbenen Bruder:»Ich weiss, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am Letz-ten Tag« (Joh ,). Jesus lehrte: »Wer mich verachtet und meineWorte nicht annimmt, der hat schon seinen Richter: Das Wort, dasich gesprochen habe, wird ihn richten am Letzten Tag« (Joh ,).Die letzten Tage (Mehrzahl) sind schon da, der letzte Tag (Singu-lar), welches der Tag der Auferstehung und des Gerichts ist, stehtnoch aus.

Die Gemeinde lebt zwischen dem Anbruch und der Vollendungdes Reiches Gottes. Gottes Herrschaft beginnt im Herzen einzel-ner Menschen. Die Vergebung durch Jesus Christus und die Kraft

Vgl. Hoekema, The Bible and the Future, -.

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des Heiligen Geistes schafft eine erneuerte Gottesbeziehung, die esihnen ermöglicht, nach den Massstäben der Herrschaft Christi zuleben. Sie leben in der Gewissheit, dass Gott seine Herrschaft aufge-richtet hat und sie jetzt durch Christus, den Herrn, ausübt. In derErwartung, dass sich Gottes Reich in der Gegenwart fortwährendBahn bricht, setzen sie das Reich Gottes an die erste Stelle in ihremLeben (Mt ,) und schauen hoffnungsvoll auf die Vollendung desReiches, indem sie beten: »Dein Reich komme!«

Warum ist das Reich Gottes ein Geheimnis?

Das Reich Gottes war für die Zeitgenossen Jesu ein Geheimnis,weil Gott es in der Sendung seines Sohnes in unscheinbarer Weiseaufrichtete. Das Neue Testament offenbart, dass Gottes Reich erstmit der Wiederkunft Christi in seiner ganzen Fülle offenbart wird.

Jesus lehrte gerne und oft in Gleichnissen, insbesondere wenn es umdas Reich Gottes ging. Seine Jünger fragten ihn einmal, warum er zuden Menschen in Gleichnissen rede, worauf er antwortete: »Euch istes gegeben, die Geheimnisse des Himmelreichs zu erkennen; ihnenaber ist es nicht gegeben« (Mt ,-). Warum nannte Jesus dasReich Gottes ein Geheimnis?

Eine neue Wahrheit

Jesu Lehre vom Reich Gottes war für die Juden ein Geheimnis, weilsie sie nicht verstehen konnten. Dass Gott seine Herrschaft auf-richten wird, war kein Geheimnis, sondern die allgemeine jüdischeErwartung, die sich aus den Prophezeiungen des Alten Testamen-tes ergab. Ladd hat in seinen Büchern Jesus and the Kingdom undA Theology of the New Testament dargelegt, dass das Geheimnis des

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Reiches Gottes darin bestand, dass Gott sein Reich nicht sogleichmit Macht herbeiführte, sondern in der Sendung seines Sohnes inunscheinbarer Form aufzurichten begonnen hat:

»Die neue Wahrheit, die jetzt den Menschen durch die Offen-barung in der Person Jesu und seinem Auftrag gegeben wird, istdass das Königreich, welches schliesslich mit apokalyptischerKraft kommen wird, wie es Daniel vorausgesehen hatte, be-reits in einer verborgenen Form in die Welt gekommen ist, umverborgen unter den Menschen zu wirken. Dies ist in der Tatein Geheimnis, eine neue Offenbarung. Dass das Kommen desReiches Gottes in der Art stattfinden sollte, wie Jesus es verkün-digte, in einer verborgenen, unscheinbaren Form, leise unterden Menschen wirkend, war völlig neuartig für Jesu Zeitge-nossen.«

Aufgrund der prophetischen Ankündigungen des Alten Testamen-tes erwarteten die Juden, dass Gottes Reich machtvoll in die Ge-schichte hereinbrechen würde (vgl. Dan ,). Sie lebten in derErwartung, dass Gott seine Macht demonstrieren und seinem Volkzum Sieg über seine Feinde verhelfen wird. Seit den Tagen Davidsund Salomos setzten die Juden die Aufrichtung des Reiches Gottesmit der Wiederherstellung dieser einst so herrlichen Blütezeit Israelsgleich. Das Kommen des Reiches Gottes war nach ihrer Auffassungein einziges grosses Ereignis, welches das Ende des gegenwärtigenZeitalters bedeuten wird (vgl. Mt, ,-). Jesus kündigte nun dasReich an und lehrte, dass es in seiner Person da war, aber er führtenicht das Ende herbei. Dieser Umstand war für Freund und Feindein Rätsel. Selbst Johannes der Täufer, der das Reich Gottes an-kündigte (Mt ,), verstand Jesus nicht. Als Jesus keine Umwälzungder bestehenden Ordnung herbeiführte, bekam Johannes Zweifelan der Messianität Jesu (Mt ,).

Ladd, Jesus and the Kingdom, .

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Die Gleichnisrede über das Himmelreich

In der Gleichnisrede über das Himmelreich (Mt ,-) führte Je-sus seine Jünger in das Geheimnis des Reiches Gottes ein. Ladd hatdarauf hingewiesen, dass die Gleichnisse über das Himmelreich alledie eine, wichtige Wahrheit lehren: Das Reich Gottes, das sich ei-nes Tages allumfassend und machtvoll offenbaren wird, ist mit demKommen Jesu in unscheinbarer Form bereits angebrochen. In derfolgenden Auslegung der Gleichnisse über das Himmelreich stützeich mich zur Hauptsache auf Ladd:

Das Gleichnis vom Sämann (Mt ,-.-) macht deutlich,dass Gottes Herrschaft nur von wenigen Menschen akzeptiert wird.So wie auf felsigen Boden oder unter die Dornen gesäter Samefruchtlos bleibt, werden nur wenige umkehren und dem Evange-lium glauben. Der Same, der in die Erde eindringt und Fruchtbringt, steht für die, die Gottes Herrschaft akzeptieren und durchden Glauben an den Sohn Gottes in das Reich eintreten. DiesesGleichnis ist nicht notwendigerweise eine Voraussage über die ganzeZeit bis zur Wiederkunft. Jesus lehrte nicht, dass es zu allen Zeitennur wenige sind, die seine Herrschaft akzeptieren. Was er sagte, wardass zu seiner Zeit wenige aus Israel an ihn glaubten. Die Gleich-nisse wollten ja in erster Linie die scheinbare Erfolgslosigkeit Jesuins rechte Licht rücken. Das Gleichnis vom Säman macht deutlich,dass Gottes Herrschaft im Herzen einzelner Menschen beginnt. Inder Person seines geliebten Sohnes bietet Gott den Menschen seinewunderbare Herrschaft an, er zwingt sie niemandem auf. Erst wennsich seine Herrschaft in der glorreichen Wiederkunft vollendet, wer-den sich alle Knie vor dem Thron Gottes und des Lammes beugen(Phil ,-). In der Gegenwart ist seine Herrschaft erst im Lebenderer Realität, die sich der Herrschaft des Königs unterwerfen undseine Vergebung annehmen.

Das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt ,-.-

Ladd, A Theology of the New Testament, . Ladd, A Theology of the New Testament, -.

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) vergleicht den Anbruch des Reiches Gottes mit dem Säen gutenSamens auf einen Acker. Wie die anderen Gleichnisse muss auchdieses auf dem Hintergrund der jüdischen Messiaserwartung ver-standen werden. Nach Cullmann waren zur Zeit Jesu vielfältigeVorstellungen vom Messias verbreitet, die sich zum Teil radikal von-einander unterschieden. Obwohl festgehalten werden muss, »dassdas Judentum zur Zeit Jesu überhaupt keinen festen Messiasbegriff«hatte, kann man doch von der allgemeinen Vorstellung eines »po-litischen Messias« sprechen. Man hoffte, dass der Messias einegereinigte jüdische Gesellschaft hervorbringen und über die FeindeIsraels triumphieren wird. Nun war nach der Lehre Jesu das ReichGottes angebrochen, aber die Gesellschaft wurde nicht gereinigt,und Jesus machte nicht gegen die Römer mobil. Kein umwälzendesEreignis setzte ein. Im Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizenlehrt Jesus, dass im Reich Gottes Gut und Böse nebeneinander biszur »Ernte« (dem Gericht) bestehen bleiben. Erst das Gericht, dasJesus bei seiner Wiederkunft hält, wird Unkraut und Weizen tren-nen. Erst dann »werden die Gerechten im Reich ihres Vaters wie dieSonne leuchten« (Mt ,).

Das Gleichnis vom Senfkorn (Mt ,-) illustriert die Wahr-heit, »dass das Reich Gottes, das eines Tages ein grosser Baum seinwird, bereits jetzt in der Welt gegenwärtig ist in kleiner, unbedeu-tender Form«. Die Schlüsselworte des Gleichnisses sind »klein«und »grösser«. Als Jesus in seiner Person und seinem Dienst dasReich Gottes brachte, war es klein und unscheinbar.

»Die brennende Frage, mit der Jesu Jünger konfrontiert waren,war, wie das Reich Gottes überhaupt in solch einer unbedeu-tenden Bewegung wie derjenigen seines Dienstes gegenwärtigsein konnte. Die Juden erwarteten, dass das Reich wie ein gros-ser Baum sein wird, unter dem die Nationen Schutz finden.

Cullmann, Die Christologie des Neuen Testamentes, -. Ladd, A Theology of the New Testament, .

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Sie konnten nicht verstehen, wie jemand vom Reich ohne einesolche umfassende Erscheinung der Herrschaft Gottes redenkonnte. Wie könnte das kommende, herrliche Reich irgend-etwas mit der armen, kleinen Schar der Jünger Jesu zu tunhaben?«

Das Bild vom Senfkorn sollte den Jüngern die Augen für die Wahr-heit öffnen, dass Gottes Reich erst allmählich zum Welt umspan-nenden Reich wird, von dem der Prophet Daniel gesprochen hatte(Dan ,). Dieses Gleichnis offenbart, dass die Zeit zwischen demersten und dem zweiten Kommen Christi eine Zeit des Wachstumsist, in der sich die gute Nachricht von der Erlösung in Jesus Christusüber die ganze Welt ausbreitet. Die prophetische Hoffnung erfülltsich in der Gegenwart durch Gemeindebau und Mission, aber erstdurch die Wiederkunft des Königs selbst, wird die Herrschaft Got-tes volle geschichtliche Wirklichkeit.

Das Gleichnis vom Sauerteig (Mt ,) lehrt die gleiche Wahr-heit wie das Gleichnis vom Senfkorn. Das Reich Gottes ist schonjetzt in kaum wahrnehmbarer Form da und setzt sich in der Ge-schichte durch, bis es die ganze Welt durchdrungen hat. Sauerteigwird in der Bibel zuweilen als ein Bild für die Sünde gebraucht (Mt,; Kor ,-). In diesem Gleichnis steht Sauerteig jedoch nichtfür die Sünde, sondern wird seiner durchdringenden Eigenschaftwegen als Bild für Gottes Reich verwendet. Ein wenig Sauerteig hatdie Eigenschaft, den ganzen Teig zu durchdringen. So ist es mit demReich Gottes und der Welt. Die jüdische Vorstellung vom Reichwar die eines Eingriffs in die Geschichte, der alles bisherige verän-dert. Jesus und seine Jünger aber schienen nichts zu verändern. Jesuserregte zwar Aufsehen, bewirkte aber keine tief greifende Verände-rung in der Gesellschaft. Durch das Gleichnis vom Sauerteig lehrteJesus, dass das Reich Gottes, das in seiner Person und seiner Gruppevon Jüngern in unscheinbarer Form angebrochen war, eine durch-

Ladd, Jesus and the Kingdom, .

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dringende Kraft darstellt und schliesslich die ganze Welt erfassenwird.

Das Gleichnis vom Fischnetz (Mt ,-) erklärt das Nebenein-ander von Gut und Böse im Reich Gottes. Die Pharisäer glaubten,dass Gott nur die Gerechten annimmt, deshalb sonderten sie sichvon den »Sündern« ab (Lk ,; ,-). Jesus aber erklärte, dassdas Reich Gottes gerade darin besteht, dass Gott die Sünder an-nimmt und ihnen Vergebung schenkt (Lk ,-). Einige jüdischeRabbinen lehrten, dass Gott sein Volk unabhängig seines geistlichenZustands erlösen werde, andere sahen die Busse Israels als Voraus-setzung für das Kommen der messianischen Heilszeit. Jesus riefzur Busse auf, doch nicht die Busse Israels, sondern die Gnade Got-tes ermöglichte die Herbeiführung der messianischen Heilszeit. DerSchlüsselbegriff des Gleichnisses ist »Ende«. Erst am Ende der Welt-zeit, wenn der Sohn nicht als Retter, sondern als Richter erscheint,werden die Guten und die Bösen voneinander getrennt (d.h. ge-richtet). Das Geheimnis bestand darin, dass die von den Judenerwartete Trennung von Gut und Böse nicht stattfand, als Jesus dasReich Gottes ankündigte. Das Reich Gottes besteht inmitten desReiches der Welt und ist darum auch von seiner Qualität her eindurchmischtes Reich.

Gottes unerwartetes Handeln

Durch die Aufrichtung des Reiches Gottes in der Person seinesSohnes hat Gott unerwartet in die Geschichte eingegriffen. Ausdem Alten Testament war die Art und Weise, wie Gott in Jesushandelte nicht voraussehbar. Die Herbeiführung des Reiches als ge-genwärtige Wirklichkeit, deren Vollendung aber noch aussteht, warin der Tat eine neue Offenbarung. Dieses überraschende HandelnGottes legt eine wichtige Folgerung nahe: Wenn der Anbruch des

Strack und Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud undMidrasch, Bd. ,-.

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Reiches Gottes sich auf unerwartete Art und Weise ereignete, müs-sen wir damit rechnen, dass die Vollendung des Reiches in ebensounerwarteter Art und Weise geschehen wird. Wir mögen die ent-sprechenden Stellen der Wiederkunft studieren und zu gewissenSchlüssen kommen, dürfen aber nicht vergessen, dass Gott erneutauf überraschende Art und Weise handeln mag. Diese Folgerungist auch aus zwei weiteren Gründen naheliegend. Zum einen kenntdie Bibel kein geschlossenes eschatologisches System. Die Lehre vonden letzten Dingen ist keine in sich geschlossene Darstellung, sievermittelt vielmehr Hoffnung und verschafft Durchblick. Zum an-dern ist unsere Erkenntnis »Stückwerk«. Der Apostel Paulus sagt inKorinther ,-, dass unsere Erkenntnis und unser prophetischesReden »aus Teilen« (ek merous) besteht. Das, was wir wissen, sindTeilaspekte des Ganzen. Gott hat uns bruchstückhafte Wahrheitenoffenbart. Sie sind in sich völlig wahr, aber eben nur »Stückwerk«.Das zeigt sich am Vergleich zwischen Altem und Neuem Testament.Was im Alten Testament bruchstückhaft offenbart wurde, tritt imNeuen Testament klarer zu Tage. In der Theologie redet man indiesem Zusammenhang vom Fortschreiten der Offenbarung. Gottoffenbarte im Laufe der Zeit immer mehr von seinem Heilsplan.Am Anfang stand ein Versprechen, das den Sieg des Guten überdas Böse in Aussicht stellte (Gen ,). In den Bündnissen offen-barte Gott die Grundlinien seines Heilsplans. Durch die Prophetenliess er Israel wissen, dass der Messias kommen und welche Qualitä-ten seine Herrschaft haben wird. Den Propheten blieb die Art undWeise, wie sich ihre Prophezeiungen erfüllen sollte, aber verbor-gen. Das Kommen Jesu und die Ausgiessung des Heiligen Geistesbedeuteten dann ein erneutes Fortschreiten der Offenbarung. Erstjetzt trat zu Tage, wie Gott seine Versprechen einlöst, und erst jetztzeigte sich, dass der Messias nicht einmal, sondern zweimal kommt.Aber auch das Neue Testament enthält keine alle zukünftigen Er-eignisse umfassende Lehre. Biblische Eschatologie lässt sich nie zurtheologischen Systematik umfunktionieren. Unser Wissen ist undbleibt Stückwerk. Dieser Umstand legt es nahe, in der Auslegung

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eschatologischer Texte zurückhaltend zu sein und in unserer Auf-fassung zukünftiger Dinge offen für Korrektur zu bleiben.

Was hat das Reich Gottes mit Mission zu tun?

Mission »ist der zentrale heilsgeschichtliche Sinn der Zwischen-zeit zwischen Himmelfahrt und Wiederkunft des Herrn«. EineTheologie des Endes, die keine Theologie der Mission ist, ist keinebiblische Theologie.

Die Gemeinde lebt zwischen Anbruch und Vollendung des ReichesGottes. Die Segnungen der messianischen Heilszeit sind durch dieSendung des Sohnes Gottes bereits erfahrbar, aber sie sind nochnicht volle Wirklichkeit. Aus der alttestamentlichen Prophetie isteine Zwischenzeit zwischen dem Kommen des Messias und derVollendung seines Werkes nicht ersichtlich. Aus alttestamentlicherPerspektive sind die eschatologischen Ereignisse ein Moment, ver-gleichbar mit einem Punkt in der Geschichte. Im Neuen Testamentdehnt sich die Eschatologie zu einem Prozess, vergleichbar mit ei-ner Linie. Warum diese Dehnung? Was ist der Zweck der Zeit, diezwischen Anbruch und Vollendung des Reiches Gottes liegt?

Die weltweite Verkündigung des Evangeliums

Die Antwort auf die Frage, warum das Reich Gottes angebrochen,aber noch nicht vollendet ist, lässt sich in einem Wort zusammen-fassen: Mission. Bevor Jesus durch seine Wiederkunft das ReichGottes zu seiner Vollendung führt, muss das Evangelium allen Völ-kern gebracht werden. In der Zeit zwischen Anbruch und Vollen-dung des Reiches baut Jesus seine Gemeinde. Der Sauerteig durch-

Hartenstein, Deutsche Evangelische Weltmission. Jahrbuch ,. Vgl. Cullmann, Christus und die Zeit, -.

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säuert den Teig, der unscheinbare Same bringt reiche Frucht, dasSenfkorn wächst und wird zum Baum. Die Gemeinde ist das sicht-bare Zeichen des Reiches und zugleich Gottes Instrument, um alleVölker mit dem Evangelium zu erreichen. Durch Gemeindebauund Mission setzt sich Gottes Herrschaft in der Welt durch undführt so hin zur Vollendung des Reiches. Die Vision des weltwei-ten Gottesreiches bei den Propheten, befindet sich jetzt im Prozessder Erfüllung, indem das Evangelium in alle Welt hinausgeht. Mis-sion bedeutet, dass sich Gott durch seine Gemeinde allen Völkernzuwendet, um ihnen die Segnungen seiner Herrschaft zu bringen.Mission ist das eschatologische Ereignis schlechthin. Das Neue Te-stament streicht an zentralen Stellen immer wieder den Zusammen-hang zwischen dem Reich Gottes und der Mission heraus:

In der grossen Rede über die Endzeit in Matthäus - erklärteJesus den Jüngern, wie sich das Ende und die Mission gegensei-tig bedingen. Die Jünger fragten Jesus, wann das Ende der Weltkommt (Mt ,). Jesus erklärte: »Dieses Evangelium vom Reichwird auf der ganzen Welt verkündigt werden, damit alle Völker eshören; dann erst kommt das Ende« (Mt ,). Jesus sprach vonder Zerstörung des herodianischen Tempels, was die Jünger zurAnnahme veranlasste, dass das Ende unmittelbar bevorstand (Mt,-). Jesus erklärte den Jüngern, dass zuerst Verfolgung und Nötekommen (Mt ,-), dass aber inmitten dieser Wirren das Evan-gelium zu allen Völkern gehen wird, »erst dann kommt das Ende«.Der Gang der Mission und die Vollendung des Reiches Gottes sindalso aufs Engste miteinander verbunden. Für die weltweite evan-gelikale Bewegung ist diese Erkenntnis von grundlegender Bedeu-tung und motiviert zur Mission. Auf dem internationalen Kongressfür Weltevangelisation, Manila , unter dem Motto »Verkün-digt Christus, bis er wiederkommt« wurde im Abschlussmanifestmit Verweis auf Matthäus , und anderen Stellen festgehalten:»Die Spanne zwischen dem ersten und zweiten Kommen Jesu solldurch christliches missionarisches Handeln bestimmt sein. Wir sindbeauftragt, mit dem Evangelium bis an die Enden der Erde zu ge-

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hen. Er ist uns verheissen, dass das Ende nicht kommen wird, biswir das getan haben«. Seit der zweiten Hälfte des . Jahrhundertsist Matthäus , zu Recht zu einem der hauptsächlichen Missi-onstexte der Evangelikalen geworden. Mit der engen Verbindungvon Mission und Eschatologie sind aber auch Gefahren verbunden.Zweifellos hat die Wiederentdeckung von Matthäus , als Missi-onstext den Missionseifer stark wachsen lassen, denn der Erfolg derMission wurde nun als eine Bedingung für die Wiederkunft ver-standen. Allerdings war man im Zuge des allgemeinen Fortschritts-glaubens auch der Meinung, dass man mit genügend finanziellenMitteln und hingegebenen Missionaren das Ende noch vor demAnbruch des . Jahrhunderts herbeiführen könne. Derart gestei-gerte Erwartungen mussten unweigerlich zur Enttäuschung führen.

In der Parallele in Markus wird der Zusammenhang zwischenReich Gottes und Mission noch deutlicher. Während es bei Mat-thäus heisst, dass das Evangelium gepredigt wird (und damit dieGewissheit der weltweiten Evangeliumsverbreitung betont ist) stehtbei Markus die geschichtliche Notwendigkeit der Mission im Vor-dergrund: »Vor dem Ende aber muss allen Völkern das Evangeliumverkündet werden« (Mk ,). »Dieses ›es muss‹ ist ein Hinweisauf die geschichtliche Notwendigkeit, die sich aus einem ewigenRatschluss Gottes selber ergibt. Es ist von der heilsgeschichtlichenVerankerung des missionarischen Geschehens hier die Rede.« Dasdei (muss) in Markus , zeigt an, dass es sich bei der weltwei-ten Ausbreitung des Evangeliums um einen unaufgebbaren gött-lichen Willensentschluss handelt. Mission ist verankert in der aussich selbst herausgehenden Liebe Gottes. Sie ist angekündigt in denBündnissen und den Propheten und sie wird geschichtlich verwirk-licht in der Mission der Gemeinde.

Auch der Missionsauftrag in Matthäus ,- ist ausdrücklich

Manifest von Manila , III. in Evangelisation mit Leidenschaft, S. . Bosch, Transforming Mission, -. Beyerhaus, Allen Völkern zum Zeugnis, .

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als Auftrag zwischen Himmelfahrt und dem Ende der Welt gege-ben: »Mir ist alle Macht gegeben im Himmel und auf der Erde.Darum geht zu allen Völkern, und macht alle Menschen zu mei-nen Jüngern; tauft sie auf den Namen des Vaters und des Sohnesund des Heiligen Geistes; und lehrt sie, alles zu befolgen, was icheuch geboten habe. Seid gewiss: Ich bin bei euch alle Tage bis zumEnde der Welt« (Mt ,-). Nach dieser Stelle beginnt der Mis-sionsauftrag mit der Himmelfahrt Christi und endet mit seinemWiederkommen. Der Missionsauftrag ist eng verbunden mit derHerrschaft Christi, die er seit seiner Himmelfahrt ausübt. In seinerHimmelfahrt bestieg Jesus den Platz der Macht zur Rechten Gottes,und nur deshalb ist Mission (die eine Sendung von Schafen mittenunter die Wölfe ist) überhaupt denkbar. Es geht bei der Mission»um nichts Geringeres als um die Einsetzung des Gekreuzigten undAuferstandenen in die Weltherrschaft. Dieses entscheidende, ewiggültige, heilbringende Ereignis muss den Völkern mitgeteilt werden.Denn es ist für sie von absoluter Bedeutung und Wichtigkeit«.

In Apostelgeschichte ,- berichtet Lukas, wie die Jünger nachder Wiederherstellung des Reiches für Israel fragten: »Beim gemein-samen Mahl gebot er ihnen: Geht nicht weg von Jerusalem, sondernwartet auf die Verheissung des Vaters, die ihr von mir vernommenhabt. Johannes hat mit Wasser getauft, ihr aber werdet schon inwenigen Tagen mit dem Heiligen Geist getauft. Als sie nun bei-sammen waren, fragten sie: Herr, stellst du in dieser Zeit das Reichfür Israel wieder her?« (Apg ,-). Jesus beantwortete ihre Fragenicht, sondern wies auf den Auftrag der Mission hin: »Er sagte zuihnen: Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu erfahren, dieder Vater in seiner Macht festgesetzt hat. Aber ihr werden die Kraftdes Heiligen Geistes empfangen, der auf euch herabkommen wird;und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Ju-däa und Samarien und bis an die Grenzen der Erde« (Apg ,-).Dispensationalisten sehen in der Antwort Jesu eine Bestätigung für

Beyerhaus, Allen Völkern zum Zeugnis, .

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die Lehre vom Tausendjährigen Reich. Nach ihrem Verständnis istdie Frage der Jünger eine direkte Folge der Unterweisung über dasReich Gottes, die sie in den vierzig Tagen zwischen Auferstehungund Himmelfahrt von Jesus erhielten (Apg ,). Nichts deute dar-auf hin, dass Jesus den Glauben an ein politisches, irdisches Reichfallen gelassen habe oder dieser Glaube umgedeutet worden wäre.

Das Argument enthält eine gewisse Logik, zumal Jesus die Erwar-tung der Jünger hätte korrigieren können, wenn sie völlig falschgewesen wäre. Anderseits ist es nicht statthaft, aus einem Schweigeneine eschatologische Position zu begründen. Klar ist an der Ant-wort Jesu eigentlich nur, dass sie in die Mission weist. Daran habenwir uns zu orientieren. Der Sinn der Zeit zwischen Anbruch undVollendung des Reiches Gottes ist das Zeugnis für Christus. Erstdurch die weltweite Ausbreitung des Evangeliums wächst das ReichGottes zu seiner vollen geschichtlichen Grösse heran. Jesus sicherteseinen Jüngern zu, dass durch die Kraft des Heiligen Geistes dasEvangelium bis an die Grenzen der Erde getragen wird.

Hoffnung

Die Tatsache, dass das Ende von der Mission abhängt, darf nicht zurSpekulation über den Zeitpunkt des Endes führen, sondern soll zurMission motivieren. Indem Mission, Gemeindebau und die Vollen-dung der Herrschaft Gottes miteinander verknüpft sind, ist uns einehoffnungsvolle Zukunftsperspektive geschenkt. So gewiss das Endeeinst kommt, so gewiss wird der Missionsauftrag erfüllt werden. ZuUnrecht ist das Wort »Ende« in der Eschatologie fast ausschlies-slich negativ besetzt. Zwar wissen wir, dass das Böse in der Zeit biszur Wiederkunft ausreift und schliesslich unter Gottes Gericht fällt.Wir wissen aber auch, dass das Gute seiner Vollendung entgegengeht und siegen wird. Endzeit bedeutet nach neutestamentlicher

Blaising und Bock, Progressive Dispensationalism, . Blaising und Bock, Progressive Dispensationalism, .

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Lehre doch auch: Das Evangelium wird in der ganzen Welt ver-kündet (Mt ,; Mk ,; Apg ,)! Die finsteren Mächte werdendie Gemeinde nicht überwältigen (Mt ,)! Das Evangelium wirddie Welt wie ein Sauerteig durchdringen (Mt ,)! Ein unzählbareSchar aus allen Stämmen, Sprachen und Nationen wird in der Ge-genwart gewonnen, um einst vor Gottes Thron anzubeten (Offb,)! All dies ist uns für die Endzeit zugesagt und darum ist Endzeitauch Missions- und Hoffnungszeit.

Es ist im Besonderen die dispensationalistische Auffassung vonder Verschiebung des Reiches, die zu Bedenken Anlass geben muss.Es ist zu begrüssen, dass die Theorie von der Verschiebung desReiches im progressiven Dispensationalismus aufgegeben wordenist. Es ist zu hoffen, dass diese unbiblische Theorie mit der Zeitgänzlich aus dem Dispensationalismus verschwindet. Der progres-sive Dispensationalismus sieht im Zeitalter der Gemeinde den Be-ginn der eschatologischen Erfüllung, und schafft damit Raum fürpositive Entwicklungen in der Gegenwart. Nach Auffassung pro-gressiver Dispensationalisten ist mit dem ersten Kommen Christidas Reich Gottes angebrochen. Die Segnungen des neuen Bun-des haben sich zu erfüllen begonnen. Es ist ein geistliches und einmaterielles Reich, denn es umfasst nicht nur Vergebung, sondernauch Heilung. »Das Reich, das Jesus predigte, war sowohl einReich der Heiligkeit und der Gerechtigkeit als auch ein weltweitespolitisches Reich. Es besteht kein Widerspruch und keine Span-nung zwischen diesen beiden Vorstellungen«. Die Reichsauffas-sung der progressiven Dispensationalisten ist ein Schritt in die rich-tige Richtung. Dennoch bleibt im progressiven Dispensationalis-mus der Blick für die Gegenwart auffallend zurückhaltend. Das

Saucy, The Case for Progressive Dispensationalism, . Blaising und Bock, Progressive Dispensationalism, -. Blaising und Bock, Progressive Dispensationalism, -. Blaising und Bock, Progressive Dispensationalism, . Blaising und Bock, Progressive Dispensationalism, .

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Reich ist in geheimnisvoller Form zwar schon da, doch es nimmtgelegentlich den Charakter einer vorübergehenden Phase im Heils-plan an. Das Hauptaugenmerk bleibt ähnlich wie im klassischenDispensationalismus auf das zukünftige Reich gerichtet, denn »diegegenwärtige Dispensation bedeutet nicht die völlige Offenbarungdes eschatologischen Reiches. Es ist eine progressive Stufe in derOffenbarung jenes Reiches.« Generell ist im Dispensationalismusaber immer noch das klassische Muster vorherrschend, in welchemdas Entscheidende auf die Zukunft verschoben wird. Der ThronChristi als Ort der Autorität über alles Sichtbare und Unsichtbare(Mt ,) und das Reich Gottes als dynamisches Ereignis in derGeschichte (Mt ,ff ), spielen im Denken der meisten Dispensa-tionalisten keine Rolle. Sie verschieben das Entscheidende auf dieZukunft und erwarten in der Gegenwart keine Besserung. An dieStelle der dynamischen Herrschaft Gottes tritt der Pessimismus. An-statt im Glauben an die Kraft des Heiligen Geistes das Reich zupredigen (Mt ,), verfällt man dem Fatalismus und lässt denDingen ihren Lauf. Eine wirklich biblische Zukunftssicht ist abernur dort vorhanden, wo die Endzeit auch in ihrem positiven Ge-präge gesehen wird und diese Sicht zu Mut und Hoffnung Anlassgibt und zu verantwortungsvollem Handeln in Evangelisation, Mis-sion und sozialem Dienst führt.

Blaising und Bock, Progressive Dispensationalism, -. Blaising und Bock, Progressive Dispensationalism, .