Karl-Theodor Frhr. zu Guttenberg - Verfassung und Verfassungsvertrag - Konstitutionelle...

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Schriften zum Internationalen Recht Band 176 Verfassung und Verfassungsvertrag Konstitutionelle Entwicklungsstufen in den USA und der EU Von Karl -Theodor Frhr. zu Guttenberg Duncker & Ilumblot * Berlin

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Zielsetzung und Schwerpunkt der Arbeit ist eine vergleichende Untersuchung der konstitutionellen Entwicklungslinien in den USA und der EU. Hierzu legt Karl-Theodor Frhr. zu Guttenberg Eckpunkte und Grundlagen der jeweiligen Verfassungsgeschichte dar und beleuchtet das US-amerikanische sowie ein "europäisches" Verfassungsverständnis.Im Ergebnis lässt sich das Erwachsen eines "transatlantischen Verfassungsfundamentes" konstatieren. Die Verfassungswerdung Amerikas ist sosehr auch eine europäische wie die europäische Verfassungsentwicklung auch eine amerikanische ist. Ihre Festigung und Bestätigung fanden und finden der US-amerikanische Verfassungsstaat sowie die europäische Verfassungsgemeinschaft u. a. durch Verfassunggebung, Verfassungsinterpretation und Verfassungsprinzipien. Drei Themenkomplexe, die ebenfalls einer transatlantisch vergleichenden Analyse unterzogen werden. Neben der Erörterung kodifizierter Wege zur Verfassungs(vertrags)ergänzung und -änderung stellt der Autor dabei die Rollen der beiden obersten Gerichte sowie Grundgedanken und Strukturelemente des amerikanischen Verfassungsstaates und der europäischen Verfassungsgemeinschaft einander gegenüber. Vergleichende Anmerkungen zu den jeweiligen Konventsverfahren und -ergebnissen (1789 und 2003-4) beschließen mit der Frage nach den Lehren für die EU resümierend die Analyse zweier Verfassunggebungsprozesse.Am Ende der Arbeit steht eine Betrachtung der verfassungsmäßig verankerten Gottesbezüge auf beiden Seiten des Atlantiks. Die Darstellung erstreckt sich auch auf die Verfassungen der jeweiligen Einzelstaaten sowie der deutschen Bundesländer.

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Schriften zum Internationalen Recht

B a n d 1 7 6

Verfassung und Verfassungsvertrag

Konstitutionelle Entwicklungsstufen in den USA und der EU

Von

Karl-Theodor Frhr. zu Guttenberg

D u n c k e r & I l u m b l o t * Ber l in

K A R L - T H E O D O R F R H R . Z U G U T T E N B E R G

Verfassung und Verfassungsvertrag

Schriften zum Internationalen Recht

Band 176

Verfassung und Verfassungsvertrag

Konstitutionelle Entwicklungsstufen in den USA und der EU

Von

Karl-Theodor Frhr. zu Gut tenberg

Duncker & Humblot • Berlin

Die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Bayreuth hat diese Arbeit im Jahre 2006 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie: detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2009 Duncker & Humblot CmbH. Berlin

Satz: werksatz • Büro für Typografie und Buchgestaltung. Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH. Berlin

Printed in Germany

ISSN 0720-7646 ISBN 978-3-428-12534-0

Ccdruckt auf altcrungsbcständigcm (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 970G®

Internet: http:/Avww.duncker- hu mblot .de

Vorwort

Europa und die USA. Mancher Blick nach innen wie über den Atlantik trägt dieser Tage den Schimmer der Ernüchterung in sich. Manche kleine wie epochale Erschütterung führt mittlerweile zur Systemfrage. Und manche Tradition weicht der Nostalgie.

Scheinbar unberührt von alledem wähnte man bis zuletzt konstitutionelle Pro-zesse. Trotz gelegentlich zweifelhafter Verfassung unserer Gesellschaften gab es selten einen Zweifel an der gesellschaftlichen Notwendigkeit einer Verfassung.

So pionierhaft sich diesbezüglich der amerikanische Pfad zu gestalten wusste, so eklektisch eigen wurde der europäische beschritten. Letzterer befindet sich wiederkehrend am Scheideweg. Kann man demgemäß und aktuell von Scheitern sprechen? Von einem großen Projekt, das im Angesicht des Hafens noch tragisch Schiffbruch erleidet? Oder vernehmen wir lediglich ein erneutes, wenngleich keuchendes historisches Durchatmen? Zumindest verpasste Europa in den Jah-ren 2007 und 2008 zum wiederholten Male den icaipöq (Kairos) und ließ die notwendige Unbedingtheit des Gestaltungswillen nur schemenhaft erkennen.

Es ist indes müßig zu debattieren, ob es die - letztlich nie eingeräumte - Furcht vor der eigenen Courage oder lähmender Pragmatismus war, der aus einem hart erkämpften Verfassungsvertrag schließlich einen .Vertrag von Lissabon" werden ließ und selbst diesen in vermeidbare Warteschleifen drängte.

Gleichwohl bildet auch diese Zäsur ein lebendiges wie traditionell paradoxes Beispiel europäischer Verfassungsgeschichte, wonach in jeder noch so brachialen Ablehnung immanent der Fortgang angelegt ist.

Demzufolge hätte die vergleichende Beurteilung zweier Verfassungsprozesse mit einem gewissen Optimismus bei jeder „europäischen Krise" enden können. Die Betrachtungen und Bezugnahmen dieser (2006 eingereichten) Monographie gehen nunmehr bis in das Jahr 2007 - abgesehen von einigen punktuell aktualisierten Gedanken.

* * *

Diese Arbeit entspringt einer ungewöhnlichen Verkettung von Glücksfällen. Oder nach anderem - im obigen Sinne untypischem - Verständnis der vereinzelten Wahrnehmung eines ..Kairos".

6 Vorwort

Augenblicken kann man schwer zu Dank verpflichtet sein, den sie gestaltenden Persönlichkeiten jedoch umso mehr. Insbesondere wenn der be- und ergriffene Moment dauerhafte Kräfte zu entfalten wusste.

Ein unerreichtes (nicht lediglich) wissenschaftliches Kraftfeld und die Teil-nehmer verpflichtendes Erbe war und ist das nunmehr zu Recht „legendär" zu nennende „Häberle-Seminar", das dem von Konrad Hesse geprägtem Vorbild längst weit enteilt ist - ohne den „akademischen Enkeln" Erinnerungen und Be-rufungen auf eine Leitfigur der Verfassungslehre zu entwinden. Der Gedanke an die Teilnahme umweht den Verfasser nicht nur während intellektuell dürftigerer Alltagserlebnisse dauerhaft - und erhält wenigstens den Anspruch höchster Qua-lität eigenen Gemurmels. Von Herzen Danke meinem großen Lehrer Prof. Dr. Dies. mult. h.c. Peter Häberle für Unzähliges, das kein Vorwort angemessen ab-bilden könnte. In besonderer Verbundenheit danke ich einem weiteren tatsächlich bedeutenden Europäer, Prof. Dr. Rudolf Streinz.

Wie oft wurde der Kairos der Fertigstellung durch freiberufliche wie später parlamentarische „Ablenkung" versäumt, bevor die Erkenntnis dieses traurigen Faktums einer bemerkenswerten Mischung aus eherner professoraler Geduld (wie Liebenswürdigkeit), sanftem, aber unerbittlichem familiären Druck und wohl auch ein wenig der beklagenswerten Eitelkeit weichen durfte.

Allzu viele mussten meine verwegene Charakter- und Lebensmelange ertragen und ich bin allen überaus dankbar für unbeugsame Gelassenheit. Gleichwohl: Wirkliche Besserung ist kaum absehbar.

Meiner Frau und meinen Töchtern sei diese familienunfreundliche Lektüre in tiefer Dankbarkeit zugedacht. Sie sind der unerreichte wie dauerhafte , /echte Augenblick" meines Lebens.

Berlin, im Winter 2008 Karl-Theodor Frhr. zu Guttenberg

Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung 15

B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung - konstitutionelle Ent-wicklungslinien in den USA und der Europäischen Union 19

I. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 20

1. Augenblicke und Marksteine des europäischen kulturellen Einflusses .. 20

2. Die ..Declaration of Independence" - eine Abkehr von Europa? 22

3. Der Modellcharakter einzel- wie bundesstaatlicher Verfassungen 23

4. Die Entstehung des Verfassungsstaates - der ..Vorabend" der Bundesver-fassung 24

a) Wege zur Emanzipation - von den „Fundamental Orders of Connec-ticut" zur Unabhängigkeitserklärung 24

b) Wege zum Konsens - von den ..Articles of Confederation" zum ..Great Compromise" 27

c) Der Verfassungskonvent 29

d) Ratifizierung und ..Federalists" gegen „Antifederalists" 33 e) Die Schlüsselrolle der Verfassung Virginias - Pionierin der Men-

schenrechte: konstitutionelle . .Morgendämmerung" - die Bill of Rights 35

5. ..We, the People" - Souveränität (in) der US-Verfassung 38

6. Eine (ge)zeitenfeste Verfassung 40

7. Wendepunkte amerikanischer Verfassungsgeschichte - Strukturierungs-ansätze 41

8. Konstitutionelle Selbstfindung und kulturelle Selbstverwirklichung . . . . 45

9. Der Kompromiss als Ankerpunkt amerikanischen Verfassungsverständ-nisses 47

10. Eine dynamische Verfassung - „living Constitution" 48

11. Einige Grundgedanken und Strukturelemente des amerikanischen Ver-fassungsstaates 49

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung sowie des Verfassungsverständnisses 51

1. Eingrenzung eines vielschichtigen Prozesses 52

2. Stationen eines Konstitutionalisierungsprozesses 53

a) Von Paneuropa zur Europa-Union (1923-1944) 53

b) Verfassungsentwürfe nach 1945 59

aa) Hertensteiner Programm (1946) 59

8 Inhaltsverzeichnis

bb) Entwurf einer föderalen Verfassung der Vereinigten Staaten von Europa (1948) 59

cc) Vorentwurf einer europäischen Verfassung (1948) 60

dd) Entwurf einer europäischen Bundesverfassung (1951) 61

c) Wege zum Europarat 61

d) „Verfassungsentwürfe" ab 1952 64

aa) Die Europäische Gemeinschaf t für Kohle und Stahl (1952) . . . 64

bb) Entwurf eines Vertrages über die Satzung der Europäischen Gemeinschaf t - Entwurf der ad-hoc Versammlung der EG KS (1953) 65

cc) Römische Verträge (1957) 67

e) Mythos und Ergebnis der 1950er Jahre 68

f) Stationen zur Europäischen Verfassung - eine Auswahl aus 40 Jahren 69

aa) Der Entwurf von Max Imbodcn (1963) 69

bb) Die Verfassungsdiskussion 1984 - Das Europäische Parlament als Akteur 70

(1) Ausgangspunkte der Debatte 70

(2) Grundgedanken des Verfassungsentwurfs des Europäi-schen Parlaments 71

(3) Verlauf und Ergebnisse der Diskussion 74

cc) Die Einheitliche Europäische Akte (1986) 75

dd) Der Verfassungsvertrag der Gemeinschaf t der Vereinigten Eu-ropäischen Staaten von F. Cromme (1987) 76

ee) Der Vertrag von Maastricht (1992) 77

f f ) Die Verfassungsdiskussion 1994 - der Herman-Bericht 79

(1) Ausgangspunkte der Debatte 79

(2) Grundgedanken des Verfassungsentwurfs des Europäi-schen Parlaments 80

(3) Verlauf und Ergebnisse der Diskussion 82

gg) Der Vertrag von Amsterdam (1997) 84

hh) Verfassungsbemühungen um die Jahr tausendwende 84

ii) Konstitutionelle „Morgendämmerung" in Europa - die Grund-rechtecharta 87

(1) Die Sachlage vor dem Herzog-Konvent 88

(2) Gestaltung und Erfolg des ersten Konvents 90

jj) Mit „Humbold t" nach Nizza? 94

(1) Gründe für ein Debatten-Crescendo 97

(2) Die politische Dimension der Verfassungsdebatte 100

(3) Leitbilder und europäische Ideale in der politischen Aus-einandersetzung 102

(a) Das Ideal einer ..Föderation von Nationalstaaten" . . . 103

9 Inhaltsverzeichnis

(b) Das Ideal eines „Europas der Nationen" 106

(c) Das Ideal eines „Europas der Regionen" 108

(d) Ein offenes Leitbild mit Gemeinschaftsansatz 109

(e) Zwischenfazit 110

(4) Das Wechselspiel zwischen Verfassungsfunktionen und po-litischer Diskussion 111

(a) Die Legit imationsfunktion als Gradmesser der (politi-schen) Verfassungsdebatte - das US-Modell als Vor-bild? I I I

(b) Organisations- und Begrenzungsfunktion in der Ver-fassungsdebatte 114

(c) Integrations- und Identifikationsfunktion: Transparenz und Bürgernähe. EU-Skepsiskult ivierung 116

kk) Folgerungen aus vier Jahrzehnten Verfassungsentwicklung . . 118

II) Die Verfassungsqualität der Gemeinschaftsverträge 120

(1) Ausgewählte Verfassungsattribute 122 (2) Die Qualifikation der Verträge durch den EuGH - ein „eu-

ropäisches Marbury vs. Madison" 124

(3) Völkerrechtliche Qualifikationen 129

(4) Konstitutionelle Defizite der Verträge 131

mm) Aus der Nizzastarre zum Konvent 135

(1) Der Post-Nizza-Prozess - parlamentarische Einfiusssphä-ren 135

(2) Die Erklärung von Laeken - eine „stille Revolution" der Integrationsgeschichte 139

nn) Inkurs: Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis 140

(1) Das Verfassungsverständnis - al lgemeine Überlegungen . 141

(2) Der „europäische" Verfassungsbegriff 142

(a) Zwei Vorfragen 143

(b) Allgemeine Eingrenzungsversuche des Verfassungsbe-griffes 145

(c) Verfassungsfähigkeit und deren Voraussetzungen . . . 147

(d) Staat und Verfassung im „wechselseitigen Korsett"? . 149

(e) Fazit 153

(3) Das Verfassungs-Vorverständnis in anderen EU-Ländern 154

(a) Nationale Erfahrungswerte in der Verfassunggebung 159

(b) Das Vorverständnis von Demokratie . Gewaltenteilung und Kompetenzverteilung 160

oo) Begleitend zum Verfassungskonvent vorgestellte (Privat-)Ent-würfe 164

pp) Der Europäische Konvent 166

(1) Auftrag und Zusammensetzung - das innovative Konvents-moment 166

10 Inhaltsverzeichnis

(2) Die Gestaltung der Konventsarbeit 167

(3) Inkurs: Der Konvent als Zentralisierungsplattform'? . . . . 169

(4) Zeitgemäße Aspekte der Öffentlichkeitsarbeit? 172 (5) Beratung der Verfassungstexte, die Rolle des einzelnen Mit-

glieds 174

(6) Schlussphase der Konventsarbeit, Abst immung(sprobleme) im Europäischen Rat 175

qq) Einige Gedanken zum Ergebnis des Verfassungskonvents . . . 180

(1) Systematische Ergänzungen zur Frage: Verfassung oder Verfassungsvertrag? 180

(2) Inhaltliche Anmerkungen. Präambel und „Leitmotto". Plä-doyer für eine „Europäische Gesprächskultur" 185

rr) Elemente einer Ratifikationskrise 188

3. Drei Folgerungen 192

III. Der Einfluss der amerikanischen Verfassung und des Verfassungsverständ-nisses auf europäische Rechtskultur(en), Rechtskulturzusammenhänge . . . 194

1. Die Vereinigten Staaten von Amerika - ein Faktor des europäischen Einigungsprozesses 197

2. Die konkrete Rolle der USA im europäischen Einigungsprozess 199

a) Eine neue amerikanische Europapolitik nach dem zweiten Weltkrieg? 199

b) Die 60er Jahre: amerikanische Europapolitik im doppelten Span-nungsfeld zwischen Kooperation und Ambivalenz 204

c) Die 70er Jahre: Das Abfedern von transatlantischen Rivalitäten und Friktionsfeldern 207

d) Die 80er Jahre: Konflikt und Kooperation 210

e) Die Folgejahre nach 1989/90 sowie ein Ausblick 213

3. Europäische Einflusssphären im amerikanischen Rechtsdenken - Schlag-lichter 215

4. Inkurs: Teilaspekte einer Europäischen Rechtskultur. Europaverständnis 217

5. Ein historisch gewachsenes „transatlantisches Verfassungsfundament" 219

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates (USA) bzw. der Ver-fassungsgemeinschaft (EU) durch Verfassunggebung, Verfassungsinterpre-tation und Verfassungsprinzipien 221

I. Gebundene Verfassunggebung - Wege zur Verfassungsergänzung und Verfassungsänderung 222

a) USA: Die Amendments als Abbilder einer Verfassungsergän-zung - Spiegelung amerikanischer Kulturgeschichte 222

aa) Artikel V der Bundesverfassung - ein Faktor der Stabilität und Flexibilität 223

bb) „Self-Restraint" in der Verfassunggebung 226

cc) Initiative und Ratifikation - das Verfahren 229

(1) Das Modell „congressional proposaP' - der Regelfall . . . 229

(2) Das Modell „constitutional Convention" - Option zur To-talrevision? 231

12 Inhaltsverzeichnis

(3) Versuche zur Begrenzung von „amending power" 235

(4) Ratifikationserfordernisse und Problemlagen - das Kurio-sum 27. Amendment 236

(5) Beendigung des Amendment-Verfahrens 242

dd) Möglichkeit der Interpretation von Amendments 243

ee) Die generellen Wirkkräf te des Amendment-Verfahrens 245

b) Europäische Union: von der Vertragsänderung zur Verfassungs-

(vertrags)änderung 248

aa) Verfassunggebung in der Supranationalen Union 249

bb) Europäische Rechtsetzung als Spiegelbild der institutionellen

Ordnung, der dynamische Charakter des Unionsrechts 251

cc ) Die Abänderbarkeit der Europäischen Verträge 252

dd) Verfassungsänderung nach dem Verfassungsvertrag - die neuen Verfahren 256

(1) Das Fünfstufenmodell des Verfassungsvertrages 256

(2) Gemeinschaf tsautonome Verfassungsänderung betreffend einen Übergang in die Mehrheitsentscheidung 260

2. Kreative Verfassunggebung - Verfassungsinterpretation, insbesondere die Rolle der Obersten Gerichte 260

a) Allgemeine Erwägungen zur Verfassungsinterpretation 262

b) Der US-Supreme Court als ständiger Verfassungskonvent - die Wiege der Verfassungsgerichtsbarkeit 271

aa) Die Geburtsstunde der Verfassungsgerichtsbarkeit - Marbury vs. Madison 271

bb) Anmerkungen zum Wesen des ..judicial review" 277

cc) Der Supreme Court als erheblicher Bestandteil von Rezeption und Bestätigung gesellschaftlichen Wandels 279

(1) Momentaufnahmen einer Verfassungsgerichtshistorie . . . 279

(2) Der Verfassungsrichter zwischen Recht und Politik - An-merkungen zur ..political question doctr ine" 285

(3) Inkurs: . .counter-majori tarianism" 289

c) Übergreifende Funktionen und Kompetenzen der Verfassungsge-richtsbarkeit - Richtwerte fü r den EuGH? 290

aa) Verfassungsgerichtliche Interpretationspotentiale im Verfas-sungsstaat - Entwicklungsstufen und Komponenten 291

bb) Charakteristika selbständiger Verfassungsgerichtsbarkeit . . . . 297

d) Der EuGH als Verfassungsgericht. Verfassungsrechtsprechung . . . 301

aa) Das Rollengeflecht des EuGH 303

bb) Der EuGH als „Motor der europäischen Integration"? 308

cc) Europäische Rechtsprechung als Spiegelbild einer offenen Ge-sellschaft 311

e) Die Frage der Abhängigkeit zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassung 312

12 Inhaltsverzeichnis

f) Vergleichende Aspekte der Verfassungsgerichtsbarkeit - Kongruenz der Aufgaben 313

3. Grundgedanken und Strukturelemente eines Verfassungsstaates (USA) und einer Verfassungsgemeinschaft (Europäische Union) 317

a) Konzeptionen der Repräsentation - die Vertretung von Bürgern und Einzelstaaten 318

b) Die Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Einzelstaaten 318

aa) Grundlagen des amerikanischen Föderalismus 318

(1) Charakter eines Bundesstaates 321

(2) Funktionsweise des US-Föderal ismus 322

(3) Inkurs: Der institutionelle Aspekt auf einzelstaatlicher Ebe-ne 323

bb) Europäischer Föderalismus: Einzelaspekte 324

cc) Ergänzungen aus vergleichender Sicht 329

c) Das Prinzip der Gewaltenteilung 331

aa) Vorbemerkung 331

bb) Die Ausgestaltung in den USA 332

cc) Die Ausgestaltung in der Europäischen Union 335

d) Identität und der Begriff der Nation 338

e) Das Demokratieprinzip - Anmerkungen 343

f) Inkurs: Verbreitung direktdemokratischer Elemente 349

g) Das Verhältnis zwischen Recht und „Moral" . Souveränitätsverzicht 350

h) Finalität - die Bedeutung von Grenzen und Erweiterung 353

i) Ausgewählte institutionelle Aspekte 354

j) Europäische Grundrechtecharta - Bill of Rights 356

k) Wertegemeinschaft Europa und USA - „ever closer union" und „ever

strenger union" 357

V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein Resümee 358

1. Vergleichende Anmerkungen zum Konventsverfahren 359

2. Vergleichende Anmerkungen zu den Konventsergebnissen 364 3. Lehren für die Europäische Union aus dem Vergleich der Verfassungge-

bungsprozesse 369

C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Kuropas und der USA 373

I. Einleitung 373

II. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas 374

1. Bisherige Regelungen im Primärrecht der Europäischen Gemeinschaf t 374

2. Die Europäische Grundrechtecharta 375

a) Gottesbezug 375

b) Kirchen und Religionen 376

3. Der Entwurf des Europäischen Konvents 377

a) Änderungsanträge 379

13 Inhaltsverzeichnis

b) Die Beratungen der Regierungskonferenz 381

c) Bewertung 381

4. Der Gottesbezug in den Mitgliedstaaten (und Beitrittskandidaten) der Europäischen Union sowie in den deutschen Bundesländern 382

a) Der Gottesbezug in den Verfassungen der Mitgliedstaaten der Euro-päischen Union 383

b) Der Gottesbezug in den Verfassungen der Beitrittskandidaten zur Europäischen Union 388

c) Der Gottesbezug in den Verfassungen der 16 Länder der Bundesre-publik Deutschland 388

III. Gottesbezug und US-Verfassung; die Rechtsprechung des US-Supreme Court zur Trennung von Staat und Religion 391

1. Die Frage nach einem „Got tesbezug" in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika 393

a) Entstehung und Entwicklung der „Establishment Clause" 393

b) Inhalt und Reichweite der „Establishment Clause" nach der Recht-sprechung des Supreme Court 395

aa) Die Vertreter einer Trennung und einer Zusammenarbei t zwi-schen Staat und Religionsgemeinschaften 395

bb) Zusammenfassender Überblick über die Rechtsprechung des Supreme Court 396

2. Gottesbezug in den bundesstaatlichen Verfassungen 399

IV. Das US-Modell ein Vorbild für Europa? 402

Nachwort 403

Zusammenfassung 405

Anhänge 408

Literaturverzeichnis 416

Sachwortverzeichnis 465

. £ s wird ein Tag kommen, wo man jene beiden ungeheu-ren Gruppen: Die Vereinigten Staaten von Nordamerika und die Vereinigten Staaten von Europa einander ge-genüberstellt. sich die Hände über den Ozean hinüber reichen wird [ . . . ) jene beiden unendlichen Gewalten: die Brüderlichkeit der Menschen und die Macht Gottes, miteinander verbinden wird sehen."1

Victor Hugo

A. Einlei tung

„E p lu r ibus u n u m " , „ A u s v i e l e m e i n e s " - so laute te d a s M o t t o , un te r d e m vor über 2 1 5 J ah ren d ie a m e r i k a n i s c h e n 2 S taa ten z u r Un ion z u s a m m e n f a n d e n . Ein Mot to , d a s p r o g r a m m a t i s c h zu vers tehen ist. D a s Land , d a s w i e kein ande re s den P l u r a l i s m u s auf se ine Fahnen g e s c h r i e b e n hat , e r ö f f n e t erst auf d iese r e inhe i t l i -chen . g e m e i n s a m e n Bas is den S p i e l r a u m f ü r die E n t f a l t u n g von Vie lhe i t . S i ch zu e i n e r Na t ion zu ve re in igen , d ie u r s p r ü n g l i c h e a u t o n o m e Vie l fa l t gegen e inen von e iner Zen t r a l r eg i e rung gewähr t en P lu ra l i smus e inzu t auschen bedeu te t e indes Verz icht ; d i e b i s h e r un te r l o sem K o n f ö d e r a t i o n s d a c h w e i t g e h e n d se lbs tänd igen Einze l s taa ten muss ten um d e s G e m e i n s a m e n wi l len den A n s p r u c h auf d a s E igene z u r ü c k s c h r a u b e n und Souve rän i t ä t s r ech te abgeben .

1 V. Hugo in seiner Eröffnungsrede als Präsident des Pariser Friedenskongresses (nach der Proklamation der Zweiten Französischen Republik, wurde er 1849 in die verfassungs-gebende Nationalversammlung gewählt), im Internet abrufbar unter ht tp: / /www.e\amen-europaeum.com/EEE/ EEE2003/24Ideen.htm.

2 „Amerika" und ..amerikanisch" beziehen sich nach allgemeinem Sprachgebrauch im Folgenden auf die Vereinigten Staaten von Amerika (USA). Die Herkunft der Kontin-entsbezeichnung war lange Zeit umstritten. Mittlerweile ist jedoch geklärt, dass die Na-mensgebung auf zwei Deutsche zurückzuführen ist. Der deutsche Humanist M. Ringmann begeisterte sich für den Entdecker und Seefahrer Vespucci. Der mit Ringmann befreundete Kosmograph M. Waldseemiiller nahm dessen Vorschlag auf, Vespuccis Namen auf der seiner ..Cosmographiae Introductio" beigegebenen Weltkarte von 1507 für den neuen und erst vage umrissenen Erdteil zu verwenden. Ringmann hatte vorgeschlagen. Vespuccis Vornamen Amerigo (der sich von Imre oder Emerich, dem zusammen mit dem Vater hei-liggesprochenen Sohn des Ungarnkönigs Stephan I herleitet) entsprechend den Namen der Kontinente der ..Alten Welt". Europa. Afrika, zu feminisieren und in dieser Form als „Ame-rica" zu übernehmen. Andere Versionen, denen zufolge der Kontinent nach Amalrich, dem Namen zweier Könige von Jerusalem im 12. Jahrhundert, oder nach der 1529 gegründeten Stadt Maracaibo benannt worden sei. sind einwandfrei widerlegt. Vgl. F. Luubenberger, Ringmann oder Waldseemüller? Eine kritische Untersuchung über den Urheber des Na-mens Amerika, in: Archiv für Wiss. Geographie, Bd. XIII. H. 3; A. Ronsin, Dicouverte et bapteme de V Amerique, 2. Aufl. 1992.

16 A. Einleitung

Wie schwer ein solcher Verzicht fällt, wie nahe das Eigene und wie fern das Gemeinsame erscheint, wenn man beides gegeneinander abzuwägen beginnt, zeigt sich in aller Deutlichkeit in dem schwierigen Prozess der europäischen Einigung, der so mühsam und zäh vonstatten geht und daher auch weiterhin so wenig Begeis-terung zu erwecken vermag. Gerade angesichts dieser Schwierigkeiten erscheint es angebracht, sich mit einigen Argumenten und Grundfragen zu beschäftigen, mit denen man damals, als es um die amerikanische Einigung ging, für und wider die bundesstaatliche Lösung focht und zu ermitteln, welches Modell der Vermittlung von Einheit und Vielfalt schließlich die Mehrheit überzeugte.

Szenenwechsel: Am 18. Juni 2004 wurde europäische Verfassungsgeschichte geschrieben. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union einigten sich auf den Text des europäischen Verfassungsvertrages. Die Vorgeschichte ist lang und ein Rückblick darf sich keineswegs auf Dezember 2001 beschränken, in dem sich ein pluralistisch zusammengesetztes 105-köpfiges Gremium an die Ausarbeitung einer „Verfassung für Europa" machte. Am 28. Februar2002 ver-sammelten sich in Brüssel die Vertreter von Regierungen und Parlamenten aus ganz Europa zu der ersten Sitzung des EU-Konvents. Einheit in der Vielfalt: Die Verfassung einer freiheitlichen Gemeinschaft gab Anlass zu intensiven Debatten innerhalb des Konvents.

Als der europäische Verfassungskonvent seine Beratungen aufnahm, war dies von allgemein verbreiteter Skepsis begleitet. Die Erwartungen wurden von al-len Beteiligten heruntergespielt. Bezeichnenderweise schien (zumindest in der Anfangsphase des Konvents) nur in den USA Vertrauen in das neue Werk der Europäer zu bestehen. Dort wurde der Verfassungskonvent in den Medien wie in der politischen Debatte zuweilen ungeniert mit dem Konvent von Philadelphia verglichen.3

Nicht nur die spezielle Bezeichnung des mit der Ausarbeitung des Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa befassten Gremiums als „Europäischer Konvent" weckt Assoziationen mit dem mit der Ausarbeitung der amerikanischen Bundesverfassung betrauten „Konvent von Philadelphia". Auch das Ergebnis der europäischen Konventsberatungen, das landläufig als „EU-Verfassung" be-zeichnet wurde, scheint (vordergründig) inhaltliche Parallelen zur amerikanischen Bundesverfassung aufzuweisen.

Bereits seit Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) haben die USA ein lebhaftes Interesse am europäischen Integrationspro-zess gezeigt. Es ist für Europa auch heute bedeutsam zu wissen, welche Perzeption die fortschreitende europäische Integration und das Projekt „europäische Verfas-

3 Vgl. M. Rosenfeld. The European Convention and Constitution Making in Philadelphia, in: International Journal of Constitutional Law 1/2003, S. 373 ff.

17 A. Einleitung

sung" in den USA erfährt, um im sich wandelnden transatlantischen Verhältnis4

für Verständnis zu werben und um erneute Missverständnisse zu vermeiden. Die konstitutionelle Fortentwicklung Europas betrifft die USA als wichtigsten Partner der Europäischen Union unmittelbarer als dies in manchen Kreisen der amerika-nischen Administration und einzelner Think Tanks wahrgenommen werden will. Die Annahme, die USA würden das europäische Interesse teilen, den Prozess der europäischen Integration dauerhaft in eine „transatlantische Partnerschaft der Gleichen" einzubetten, führt (mittlerweile) allerdings zu weit.5

Allerdings gibt es zwischen Europa und den Vereinigten Staaten weiterhin eine Vielzahl verknüpfender Aspekte, die freilich einer ständigen Neudefinition unterworfen sind. Eindrucksvoll waren in diesem Kontext die Worte von Präsident J. F. Kennedy, der am amerikanischen Unabhängigkeitstag, dem 4. Juli 1962 in der Hall of Independence in Philadelphia seine transatlantische Rede mit dem Wunsch beendete, das sich einigende Europa und die Vereinigten Staaten dereinst in einer „Declaration of Interdependence" verbunden zu sehen. Selbst wenn die transat-lantische Atmosphäre wiederkehrend einigen Turbulenzen unterworfen ist, sollte das feinsinnige Wortspiel mit der amerikanischen „Declaration of Independence" vom 4. Juli 1776 nicht in Vergessenheit geraten.

Nicht selten werden die Vorstellungen über Europas zukünftige Rolle in der Welt mit historischen Argumenten unterfüttert, etwa wenn auf die säkulare Tendenz zu einer immer eigenständigeren europäischen Außen- und Verteidigungspolitik oder - im Gegenteil - auf die dauerhafte sicherheitspolitische Abhängigkeit Euro-pas von den USA verwiesen wird. Unabhängig davon, wie berechtigt oder abwegig historische Rekurse dieser Art tatsächlich sind, dürfte sich ein kurzer Rückblick auf die jeweiligen Verfassunggebungsprozes.se und demzufolge auf einige Kapitel aus dem Geschichtsbuch der amerikanisch-europäischen Beziehungen bei der Erörterung von Grenzen und Möglichkeit der internationalen Rolle eines stärker integrierten Europa als überaus hilfreich erweisen. Wie auch in anderen Politikfel-dern. kann die Beschäftigung mit der Vergangenheit dazu beitragen, die Risiken und Chancen bestimmter politischer Maßnahmen realitätsgerechter zu beurteilen, Fehlperzeptionen zu erkennen und somit die verantwortlichen Akteure in die Lage zu versetzen, angemessen auf neue Herausforderungen zu reagieren.

Gleichwohl wird dieser historische Brückenschlag im einschlägigen wissen-schaftlichen Schrifttum, soweit ersichtlich, nur ganz vereinzelt und kursorisch

4 Mit . . transatlantisch" ist ausschließlich das Verhältnis zwischen Europa und den Vereinigten Staaten gemeint, der Begriff nimmt also nicht Bezug auf andere Staaten jenseits und diesseits des Atlantiks.

? So aber G. Burghardt. Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blickwinkel der USA. Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002. im Internet unter www.rewi.hu-berIin.deAVHI/deutsch/fce/fce402/burghardt .htm. S. 1.

18 A. Einleitung

v o r g e n o m m e n 6 u n d z u m Tei l i n s e i n e r B e r e c h t i g u n g v e r n e i n t 7 , z u m Teil e i n g e -

s c h r ä n k t b e j a h t 8 .

Ihre D a u e r h a f t i g k e i t v e r d a n k t d i e a m e r i k a n i s c h e V e r f a s s u n g d e r T a t s a c h e , d a s s

d i e T h e o r i e v o n V e r f a s s u n g u n d S t a a t d e r E r f a h r u n g g e f o l g t ist, s ta t t s ie z u m

A u s f i u s s e i n e r I d e e z u m a c h e n , d i e d i e W i r k l i c h k e i t u m g e s t a l t e n so l l t e . 9

I n K r a f t gese tz t n ä m l i c h w u r d e d a s a m e r i k a n i s c h e V e r f a s s u n g s s y s t e m b u c h s t ä b -l ich o h n e w i r k l i c h e V o r s t e l l u n g v o n e i n e m Staa t . Ü b e r s p i t z t l i eße s ich d e r G e d a n k e a n s c h l i e ß e n , d a s r e v o l u t i o n ä r e A m e r i k a k a m ers t ü b e r d e n U m w e g d e r p r a k t i s c h e n E r f a h r u n g z u s e i n e n V e r f a s s u n g s p r i n z i p i e n . 1 0 E u r o p a m u s s t e , v i e l l e i ch t d u r f t e e i n e n a n d e r e n W e g b e s c h r e i t e n , b e d i e n t e s ich a l l e r d i n g s ä h n l i c h e r Mi t t e l u n d f and v i e l e i n h a l t l i c h e B e z u g s p u n k t e i m a m e r i k a n i s c h e n V e r f a s s u n g s s t a a t .

6 Siehe allerdings aus jüngerer Zeit T. Herbst, Legitimation durch Verfassunggebung. Ein Prinzipienmodell der Legitimität staatlicher und supranationaler Hoheitsgewalt, 2003. der allerdings zum einen den Ausgang des europäischen Verfassungskonvents noch nicht berücksichtigen konnte, zum anderen eine weitgehende Beschränkung auf (wiewohl rechts-vergleichende) Legitimationsaspekte vornehmen musste. Vgl. auch S. Hülscheid/. Europäi-scher Konvent. Europäische Verfassung, nationale Parlamente, in: JöR 53 (2005). S. 429 ff.

7 Vgl. etwa S. Hobe. Bedingungen. Verfahren und Chancen europäischer Verfassungsge-bung: Zur Arbeit des Brüsseler Verfassungskonvents, in: Europarecht. Heft 1. 2003. S. I ff.. 12.

8 W. Wessels, Der Konvent: Modelle für eine innovative Integrationsmethode, in: Inte-gration. 2 /2002 . S. 83 ff. . 93.

9 Ähnlich auch D. Howard. Die Grundlegung der amerikanischen Demokratie . Frank-furt a. M. 2001.

10 Hierin ist einer der wesentlichen Unterschiede zur französischen Revolution zu erkennen, die mit der klaren Vorstellung angetreten war. wie der Staat zu gestalten sei. um das Ziel der bürgerlichen Gleichheit und Brüderlichkeit zu verwirklichen. Der Anspruch der amerikanischen Revolution gestaltete sich da vergleichsweise gering.

B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestät igung - konstitutionelle Entwicklungslinien

in den USA und der Europäischen Union

Zahlreichen Verfassungsbemühungen anderer Staaten diente die US-amerikani-sche Verfassung als Vorbild.1 Ein verfassungsgeschichtlicher Vergleich ist daher auch unter dem Aspekt der Ähnlichkeit pluralistischer Beeinflussung fast geboten.2

Die Verfassungswerdung Amerikas ist so sehr auch eine europäische wie die europäische Verfassungsentwicklung auch eine amerikanische ist. Das Resultat der einen kann dabei auf eine nunmehr über 200 Jahre währende Tradition zu-rückblicken. die andere fertigt sich angesichts der weitaus kürzeren Historie nach klassischen Modellen noch ihre Kinderschuhe ohne dabei modische Entwicklun-gen außer Acht zu lassen. Europa steht in vielerlei Hinsicht bereits auf festen Füßen, die jedoch einer dauerhaften, resistenten Ummantelung bedürfen.

Diese Voraussetzungen zu Grunde gelegt soll ein Begriffspaar gebildet werden, das den unterschiedlichen Status der Verfassungsentwicklung widerspiegelt, die kulturelle Basis jenseits der Verfassungskultur allerdings fast umkehrt: Verfas-sungsbestätigung und Verfassungserweckung. Die Kultur ist für beides Impuls-geber, kontrastiert jedoch in ihrer Ursprünglichkeit. Während in den Vereinigten Staaten der Einfluss und die Kombination eigentlich fremder Kulturen der Ver-fassung erst zu ihrer Genese verhalfen, kann Europa auf ein jahrhundertelanges Nebeneinander, und - aus gewissen Blickwinkeln, etwa dem des christlichen Abendlandes - auf Verschmelzungen zurückblicken, die Grundlage aller Verfas-sungsbildung und damit auch ihrer Erstarkung sind.' Gewiss, auch die Einflüsse auf die erste Fassung der amerikanischen Verfassung waren europäische, jedoch

1 Vgl. unten III. und IV. sowie II .2.f) j j)(4)(a) . : Auch im Sinne einer ..kulturellen Verfassungsvergleichung*', vgl. P. Häberle, Euro-

päische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 252 ff. unter Bezugnahme auf die ..Verfassungs-vergleichung als , fünfte 1 Auslegungsmethode" (vgl. dazu ders.. Grundrcchtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, in: JZ 1989. S. 913 ff.).

Im gemeinschaftsrechtlichen Zusammenhang könnte man nun versucht sein - auch angesichts der bislang zu konstatierenden Verfassungsfortschritte - von „Verfassungserstar-kung" zu sprechen. Eine erstarkende Verfassung wächst jedoch begrifflich zunächst aus sich selbst. Dem Wort ..Erweckung" ist hingegen die äußere sanfte, zuweilen rüttelnde Hand wesenseigen, weshalb dieser Begriff auch im Hinblick auf die schöpferischen Gedanken, die die „Gründungsväter" und bis heute große Denker (aber auch gelegentlich allein die Bedürfnisse einzelner Bevölkerungsteile) dem Gebilde „Europa" zuteil werden lassen.

20 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

solche des 17. und 18. Jahrhunderts. Bestätigt wurde sie mittels eines mehr und mehr autarken amerikanischen Selbstbewusstseins. Ein Befinden, vor dem Europa noch steht: Verfassungsbewusstsein und übergreifend europäisches Selbstbewusst-sein. Was hierbei nun in welcher Reihenfolge einander bedingt, wird auch von der Außendarstellung gegenüber den europäischen Bürgern abhängen. Eine der Demokratie verpflichtete Verfassung entwickelt und bestätigt sich nicht zuletzt durch die Bevölkerung.

I. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung

1. Augenblicke und Marksteine des europäischen kulturellen Einflusses

Europa und die Vereinigten Staaten einem Vergleich zu unterziehen bedeu-tet auch immer, die wechselseitigen kulturellen Impulse mit einzubeziehen. Die Vereinigten Staaten, ihr Selbstverständnis, die heutigen politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Fundamente wären ohne die englische Prägung, begonnen durch die Gründung von Kolonien Anfang des 17. Jahrhunderts4 (Jamestown und die Kolonie Virginia 16075) an der nordamerikanischen Ostküste, nicht denkbar. Insbesondere brachten viele dieser Siedler ein in England ausgebildetes Grundver-ständnis der Möglichkeiten und Errungenschaften eines Rechtsstaats mit auf den neuen Kontinent. Die tiefe Verwurzelung der Freiheit in ihren „status negativus, activus und positivus"6 rührt bereits aus dieser Zeit. Einen hohen Stellenwert nah-men alsbald die Menschenrechte nach der Bill of Rights von 1689, die Beteiligung der wohlhabenden Bürger an Gesetzgebung und Rechtsprechung, die Traditionen

Anwendung finden soll. Dies impliziert freilich, dass der Status der Erweckung nach Ansicht des Verf. noch fortdauert.

4 Es würde freilich zu weit fuhren, spanische oder auch portugiesische Einflüsse auf die großen Entdecker wie C. Columbus oder A. Vespucci zurückzuführen. Beide sahen nie das heutige Gebiet der Vereinigten Staaten von Amerika: dies gelang wohl erst 1512 dem spanischen Governeur von Puerto Rico J. P. de Leon mit dem Betreten des heutigen Floridas. Gleichwohl sind gegenwärtig durchaus spanische Wurzeln in den südlichen Staaten wie Kalifornien, New Mexico. Texas oder Florida durch einen hohen hispanischen, lateiname-rikanisch geprägten Bevölkerungsanteil spürbar, was kaum verwundert , nachdem Florida erst 1819 von Spanien erworben. Texas und andere ehemals spanische oder mexikanische Gebiete wie Kalifornien 1845 „einverleibt" wurden.

? Die erste englische Niederlassung befand sich bemerkenswerterweise, 1577 von F. Drake begründet, in Kalifornien (New Albion).

6 In Anlehnung an G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte. 2. Aufl. 1905. S. 81 ff.; siehe auch ders.. Al lgemeine Staatslehre. 3. Aufl. 1914 (Neudr. 1960). S. 418 ff.: D.P.Currie, Positive und negative Grundrechte, in: AöR I I I (1986), S . 2 3 0 f f . ; G. Radbruch. Rechtsphilosophie. 3. Aufl. 1932 (Studienausg. 1999). S. 67 ff.: R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 13. Aufl. 1999, S. 344 ff.

1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 21

der lokalen Selbstverwaltung, das Recht auf ein Geschworenengericht und auf „habeas corpus" bei Inhaftierung ein.7

Die Rechtsordnungen begründeten sich zum einen auf dem tradierten englischen gemeinen Recht (Common Law), auf den von der Krone gewährten verfassungs-ähnlichen Kolonialcharten8, auf Gesetzgebungsakten der kolonialen Vertretungs-körperschaften sowie den übergeordneten Gesetzen des Parlaments in London. Ungeachtet dieses zweifellos vorherrschenden englischen Potentials, das sich weiterhin durch die (Amts-)Sprache äußert, sollten aber auch weitere kulturelle Wurzeln nicht außer Acht gelassen werden. Die Erschließung Nordamerikas stand im Zeichen europäischer Großmachtrivalitäten, die sich durch die Bemühungen der englischen Krone, den Vormachtanspruch gegen Spanien, die Niederlande9

und bis 1763 gegen Frankreich zu behaupten, manifestieren lassen. Insbesondere wird der französischen Gestaltungskraft oftmals ein allzu geringer Stellenwert eingeräumt.10 Frankreichs Einfluss, der freilich mit dem Pariser Frieden von 1763 spürbar geringer wurde, zeigt sich wie der weiterer europäischer Staaten (beispiels-weise wird die Zahl der Deutschen 1775 auf 200 000 geschätzt) durch kulturelle Grundsteine anderer Art: Neben ökonomischen Verlockungen bot Nordameri-ka zahlreichen religiösen Dissidenten Zuflucht - Puritaner, Quäker. Hugenotten, englische Katholiken. Eine auf der abendländischen Kultur basierende „Western Civilization", die sich über den Atlantik spannt, findet ihren Ursprung im We-sentlichen in europäischen Wurzeln, deren Hauptstämme von der griechischen Philosophie und dem Christentum geformt wurden. Auch bedeutende Entfaltungen

Vgl. auch M. Berg. Die Vereinigten Staaten von Amerika - Teil II. Historische und Politische Entwicklung, in: Staatslexikon. Sechster Band. 7. Aull 1992. S. 373 ff.: K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S . 3 .

h Es gab drei Rechtstypen der Besiedlung, deren ursprüngliches System bis heute in den einzelnen Bundesstaaten spürbar ist: die Kronkolonie (z. B. Virginia), Eigentümerko-lonie (Maryland) und Freibriefkolonie (New Plymouth in Massachusetts, New Häven in Connecticut): hierzu ausführlich K. Loewenstein (1959). S. 2 f.; W. Brugger, Einführung in das öffentl iche Recht der USA. 2. Auflage 2001. S. 1.

9 Die Holländer kauf ten 1626 die Insel Manhattan fü r 24 Dollar den Indianern ab und gründeten dort New Amsterdam. Nachdem 1655 ein Versuch der Schweden, sich in der Delaware-Bucht niederzulassen, abgewehrt werden konnte, musste sich freilich die holländische Siedlung 1664 den Engländern ergeben. Die Siedlung erhielt den Namen New York.

10 Während des 16. Jahrhunderts war die Erforschung des nordamerikanischen Kontin-ents überwiegend den Franzosen vorbehalten, die sich im frühen 17. Jahrhundert schließlich im Osten Kanadas niederließen und bis in den heutigen Mittleren Westen gelangten (bei-spielhaft der französische Entdecker R.R.C. de La Salle 1 6 4 3 - 1 6 8 7 . der „patron saint" von Chicago); erst 1699 wurde die französische Kolonie von Louisiana an der Mündung des Mississippi gegründet. Siehe auch zur Kolonialperiode in der US-amerikanischen Ge-schichte K. Loewenstein. Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S. I ff.

22 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

der Musik und bildenden Kunst, der Philosophie, Literatur und der Wissenschaft tragen eine unverkennbar europäische Kennzeichnung."

T. Jeffersons11 Zeit von 1784 bis 1789 als Gesandter in Paris darf zu den Mark-steinen politischer Entwicklung in Amerika gezählt werden. Sein grundsätzlich am englischen Recht, am antiken Republikanismus und am Individualismus der Aufklärung ausgerichtetes Staatsdenken erfuhr durch den französischen Einfluss und die geistige Unterstützung der französischen Revolution den Feinschliff. In seine Präsidentschaft fällt schließlich auch der Louisiana Purchase, der Kauf des ausgedehnten Louisiana-Gebiets von Frankreich (1803). Die Vertreter „seiner" politischen Richtung vereinigten sich schließlich unter Jeffersons Führung zur Re-publikanischen Partei (die spätere Demokratische Partei). Eine weitere kulturelle Einfiussnahme von Jefferson sollte nicht vorenthalten werden: Bekanntlich betä-tigte er sich auch als Architekt und orientierte sich bei seinen für die amerikanische Architektur impulsgebenden Entwürfen an der Baukunst der spätrömischen An-tike sowie den Werken A. Palladios. Diese wenigen Beispiele illustrieren bereits die Vielfalt des europäischen kulturellen Erbes in den Vereinigten Staaten.

2. Die „Declaration of Independence" - eine Abkehr von Europa?

Dahingegen die berühmte Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 als Ab-kehr von Europa zu bezeichnen wäre unzutreffend. Unabhängigkeitserklärungen können Wirkungen in zwei Richtungen entfalten: einerseits wird dem Neuen, Inno-vativen ein hohes Gewicht eingeräumt, andererseits bilden traditionelle Elemente den notwendigen, kontrollierenden Gegenpol. 3 Konservative und moderne Ge-dankengänge, mit einer vordergründigen Betonung des Fortschrittlichen, treffen

" So gibt es ein schöpferisches Musikleben nach europäischem Vorbild seit etwa 1800. Als frühester Komponist gilt der aus Mähren s tammende A. P. Heinrich. Die Komponisten der sog. „Neuenglandschule" (2. Hälf te des 19. Jahrhunderts) wie J.K. Paine!H. Parker und E. McDowell sahen ihre Vorbilder in J. Brahms und E. Grieg. Andere, wie D. G. Mason und CA/ . Loefßer, gr i f fen später auf C. Debtissy und M. Ravel zurück: vgl. zur amerika-nischen Musikgeschichte H.W. Hitcheock. Music in the United States, 2. Auflage 1974. Die amerikanische Kunst wurde stets von Emigranten mitgeprägt - beispielhaft in der Architektur W. Gropius/L Mies van der Rohe, in Malerei und Skulptur der ersten Hälf te des 20. Jahrhunderts M. Ernst IL. Moholy-Nagy oder N. Gabo. siehe umfassend M. Baigell, A History in American Painting, 1971.

12 Siehe zu T. Jefferson das große Werk von D. Malone, Jefferson and his Time. 6 Bde. 1 9 4 8 - 1 9 8 1 sowie R.M. Johnstone, Jefferson and the Presidency, 1978.

n Dies offenbart sich in jüngster Zeit beispielsweise in Kroatien. Slowenien oder in den baltischen Ländern, die nach dem Bruch mit Jugoslawien bzw. der Sowjetunion zum einen den mutigen Schritt zu einer neuen Verfassung wagten, dieser „westliche" Maßstäbe verliehen, zum anderen aber einer verstärkten Brauchtumpflege nachgehen, die sich gerade ihren Ursprüngen besinnt, vgl. zur neueren Verfassungsentwicklung in Osteuropa T. Schweisfurth/R.AIIeweldt, Die neuen Verfassungsstrukturen in Osteu-ropa. in: G. Brunner (Hrsg.), Politische und ökonomische Transformation in Osteuropa.

1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 23

sich auch im Streben nach Souveränität. Ein veränderten Umständen angepass-tes Staatswesen würde ohne die Rückbesinnung auf grundsätzlich staatstragende Elemente in Kürze zusammenbrechen. Der Text der von Jefferson verfassten Unab-hängigkeitserklärung ist Spiegelbild dieses Phänomens. Er besteht aus drei Teilen, wobei einer Auflistung der Demütigungen und Ungerechtigkeiten Englands eine Rechtfertigung der Revolution und schließlich eine Darstellung der Grundlagen des neuen amerikanischen Gemeinwesens folgt. Und selbst dieses „neue" Ge-meinwesen folgt tief ausgetretenen europäischen Spuren. Da eine Bezugnahme der Kolonien auf das englische Recht über Jahre fruchtlos blieb, greift man auf die Gedanken der Aufklärung und damit auf Elemente das Natur- und Vernunftrechts zurück. So wurde unter anderem wie folgt formuliert:

„We hold these truths to be self-evident. that all men are created equal. that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness. - That to secure these rights, Governments are instituted among Men. deriving their just powers from the consent of the governed, - Thal whenever any Form of Government becomes destruetive of these ends. it is the Right of the People to alter or to abolish it. and to institute new Government, laying its foundation on such principles and organizing its powers in such form, as to them shall seem most likely to effect their Safety and Happiness."1 4

3. Der Modellcharakter einzel- wie bundesstaatlicher Verfassungen

Auch die Verfassungen der Einzelstaaten15, die teilweise den Anregungen des 2. Kontinentalkongresses16 1775/76 folgten, umfassten indes Grundrechtserklä-rungen. die sich nicht nur an der Hinterlassenschaft Englands, sondern auch an den damals aktuellen Leitlinien des Gesellschaftsvertrags und des Naturrechts ausrichteten. Die europäische Aufklärung fand also in einigen ihrer Basis- und

2. Aufl. 1997, S . 4 5 f f . : H. Roggeniann. Verfassungsentwicklung und Verfassungsrecht in Osteuropa, in: Recht in Ost und West 1996. S. 177 ff.; rechtsvergleichend H. Roggeniann (Hrsg.). Die Verfassungen Mittel- und Osteuropas, 1999: G. Brunnen Verfassunggebung in Osteuropa, in: Osteuropa Recht 1995, S. 258 ff.; R. Steinberg, Die neuen Verfassungen der baltischen Staaten, in: JöR 43 (1995), S. 258 ff.

u Zitiert nach P. Kurland/R. Urtier, The Founders ' Consti tution, Vol I. 1987. S. 9 ff.; komplett abgedruckt bei R. D. Rotunda. Modern Constitutional Law. 6 t r ed. 2000. Appendix A. S. 524 ff.; siehe zum Inhalt der Unabhängigkeitserklärung auch W. Brugger, Einführung in das öffentl iche Recht der USA, 2. Aufl. 2001. S . 2 f . , ausführlich J. Heideking, Die Verfassung vor dem Richterstuhl: Vorgeschichte und Ratifizierung der amerikanischen Verfassung: 1 7 8 7 - 1 7 9 1 . 1988: K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S. 5 ff.

15 1780 hatten sich bereits elf von 13 Staaten eine Verfassung gegeben. South Carolina und New Hampshire griffen dabei als erste noch nicht einmal auf die Anregungen des Kontinentalkongresses zurück.

16 Dazu K. Loewenstein (1959). S. 6.

24 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Programmideen17 ihre ersten kodifizierten, staatstragenden Bewährungsproben auf dem nordamerikanischen Kontinent. Die nachfolgende Bundesverfassung er-fuhr eine nachhaltige Prägung durch die Neuerungen in den Einzelverfassungen, die neben der umfassenden Betonung der Gewaltenteilung von einer Stärkung der gesetzgebenden Körperschaften als Mittelpunkt der Staatsgewalt über die ein-geschränkteren Rechte der gewählten Gouverneure als Inhaber der ausführenden Gewalt bis zu einer gesteigerten religiösen Toleranz und einer Intensivierung der demokratischen Grundsätze der Volkssouveränität reichten.

Sogar im Hinblick auf den momentanen Zustand der Entwicklung Europas erweist sich die Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten zwischen 1774 und 1788 als aufschlussreich. Das Ergebnis der Kontinentalkongresse waren die 1777 beschlossenen und 1781 ratifizierten Articles of Confederation, die ers-te Verfassung der Vereinigten Staaten. Diese Konföderationsartikel etablierten einen Staatenbund, den K. Loewenstein „als historisch übliche und wohl auch zweckmäßige Übergangsstufe [ . . . ] von gesonderten Einzelstaaten zum echten Bundesstaat"18 qualifizierte. Inwieweit diese Erscheinungsform mit der europäi-schen Wirklichkeit vergleichbar ist, wird noch zu zeigen sein.1'' An dieser Stelle nur so viel zur Ausgangslage: In Europa wie in den Vereinigten Staaten existierten Einzelstaaten beziehungsweise wie in Deutschland Länder vor der Schaffung eines übergeordneten „Bundes". Gemeinsam ist beiden Entwicklungen die Urhe-berschaft der Gründungsinitiative, die nicht „dem Volk", sondern den Vertretern der Einzelstaaten zuzubilligen ist.

4. Die Entstehung des Verfassungsstaates - der „Vorabend" der Bundesverfassung

a) Wege zur Emanzipation - von den „ Fundamental Orders of Connecticut" zur Unabhängigkeitserklärung

Knüpfte man die amerikanische Verfassungsgeschichte an das Vorhandensein eines Textes, der zumindest einige der heute allgemein angelegten verfassungstheo-retischen Kriterien erfüllt, so ließen sich bereits die 1638 in Hartford erlassenen Fundamental Orders of Connecticut heranziehen, um das frühe Aufkeimen kon-stitutioneller Strukturen abzubilden.20 Tatsächlich sollte es aber fast 140 Jahre

17 N. Hinske, Aufklärung, in: Staatslexikon. Bd. 1 ,7 . Aufl. 1992. S. 391 ff . klassifiziert die tragenden Ideen der Aufklärung in . .Programm-. Kampf- und Basisideen".

18 K. Loewenstein (1959), S. 7. In Art. II der Konföderationsartikel heißt es: ..Each State retains its sovereignty, f reedom. and independence, and every Power. Jurisdiction and right. which is not by this Confederat ion expressly delegated to the United States, in Congress assembled."

19 Siehe unten IV. 3. b). 20 Sie gehen damit sogar dem englichen „Instrument of Government" von O. Cromwell

aus dem Jahr 1653 vor.

1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 25

d a u e r n , b i s e in D o k u m e n t e i n e r B e w e g u n g e n t s p r a n g , d i e a l l g e m e i n u n t e r d e m B e g r i f f „ A m e r i c a n R e v o l u t i o n " r e s ü m i e r t w i rd . 2 1 V o r a n g e g a n g e n e E i n i g u n g s b e -m ü h u n g e n u n t e r d e n K o l o n i e n w i e e t w a B . Franklins P l a n e i n e s B u n d e s a u s d e m J a h r e 1 7 5 4 o d e r d i e b e r e i t s 1 7 4 3 g e s c h l o s s e n e „ N e w E n g l a n d C o n f e d e r a t i o n " k o n n t e n k e i n e s t ab i l e , g e m e i n h i n a k z e p t i e r t e O r d n u n g e t a b l i e r e n .

A u f d i e E i n z e l h e i t e n d e r a m e r i k a n i s c h e n R e v o l u t i o n ist an d i e s e r S te l l e n ich t a u s -s c h w e i f e n d e i n z u g e h e n . 2 2 B e w e g g r ü n d e u n d Resu l t a t so l len j e d o c h n i ch t g ä n z l i c h v e r s c h w i e g e n w e r d e n , n a c h d e m a u c h s ie ge i s t i ge r A u s g a n g s p u n k t d e r f o l g e n d e n V e r f a s s u n g s b e w e g u n g w a r e n . 2 3 E in v e r g l e i c h s w e i s e t r i v i a l e r A u s l ö s e r , d e r Ver -s u c h d e s b r i t i s c h e n P a r l a m e n t s , d i e K o l o n i e n d u r c h Z ö l l e und B e s t e u e r u n g a n d e n K o s t e n d e s S i e b e n j ä h r i g e n K r i e g e s z u b e t e i l i g e n , e n t f l a m m t e a b 1763 e i n e

21 Die amerikanische Unabhängigkeitsbewegung wird - in Analogie zur Französischen Revolution - tatsächlich überwiegend als . .Amerikanische Revolution" bezeichnet. Zu-mindest das Selbstverständnis der Gründungsväter der Vereinigten Staaten ist damit aber keineswegs getroffen. Ihnen ging es nicht um den Bau einer neuen Gesellschaft , nicht um die Umwälzung bestehender Staats- und Machtverhältnisse, sondern - wie bereits anlässlich des ersten Kontinentalkongresses 1774 in Philadelphia zum Ausdruck gebracht - um die Wiedereinsetzung in ihre alten Rechte vor 1763. um die Restauration der durch die englische Krone unterbrochenen und missbrauchten Rechtstradition, vgl. auch U. Opolka, Politische Erklärungen: Die Verfassungen der nordamerikanischen Staaten und der Französischen Revolution, in: E. Braun/F . He ine /U . Opolka (Hrsg.). Politische Philosophie, 6. Aufl. 1998. S. 183 f. Insbesondere hat aber bereits T. Paine. einer der publizistischen Wegbereiter so-wohl der amerikanischen Unabhängigkeit wie dann später der Französischen Revolution, in seinem Werk diesen restaurativen Aspekt deutlich betont, auch wenn er einer der ersten war. die das damalige amerikanische Geschehen als Revolution bezeichneten. So heißt es in Paines berühmter Schrift ..Die Rechte des Menschen" aus den Jahren 1791/92. die Revolu-tion in Amerika sei ..eine Erneuerung der natürlichen Ordnung der Dinge, ein System von Grundsätzen, die ebenso allgemein sind als die Wahrheit und die Existenz des Menschen und die Moral mit politischer Glückseligkeit und Nationalwohlstand verbindet", zitiert nach einer Übersetzung von D.M. Forkel, hrsg. von T. Stemmler, 1973. S. 173. Bemerkenswert in diesem Kontext ist auch eine rückblickende Äußerung von J. Adams in einem Brief an T.Jefferson vom 24. August 1815: ..Die Revolution fand im Herzen des Volkes statt, und diese wurde bewirkt von 1760 bis 1775 im Verlauf von 15 Jahren, bevor ein Tropfen Blut in Lexington vergossen wurde" , vgl. J.Adams, in: L . J .Cap p o n (Hrsg.). The Adams-Jefferson Letters. The Complete Correspondence between T. Jefferson and A. and J. Adams, 11. 1959. S .455 . Speziell zum historisch-sozalwissenschaftlichen Aspekt der ..Revolution" der Klassiker von H. Arendt. Über die Revolution. 1965 (engl. Originalausgabe 1963) sowie K. Griewank, Der neuzeitliche Revolutionsbegriff . 3. Auflage 1973: C. Lindner, Theorie der Revolution. 1972: H. Wassmund. Revolutionstheorien. 1978: K. Lenk. Theor ien der Revolution, 2. Auflage 1982.

22 Detaillierte Darstellungen der .Amer i can Revolution" finden sich bei C. Bonwick, The American Revolution. 1991: D. Higginbotham, The War of American Independence. 1977: H.-C. Schröder. Die amerikanische Revolution. 1982: H. Dippel. Die amerikanische Revolution 1 7 6 3 - 1 7 8 7 , 1985: S.E. Morison it. a.. The Growth of the American Republic, 2 Bde.. 7. Auflage. 1980: F. Freidel (Hrsg.), Harvard Guide to American History, 2 Bde.. Cambr idge (Mass) 1974: A.M. Schlesinger, The Cycles of American History, Boston 1986. Siehe auch K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S. 4 ff.

26 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Kontroverse zwischen den Kolonisten und der britischen Krone und führte - nach der Eskalation in einen bewaffneten Konflikt - schließlich zur bereits erwähnten Erklärung der Unabhängigkeit durch die ..dreizehn vereinigten Staaten von Ameri-ka'" am 4. Juli 1776.24 In der Präambel wird unter Berufung auf das Naturrecht die Freiheit und Gleichheit aller Menschen sowie das Prinzip der Volkssouveränität postuliert. Textlich kulminiert die Erklärung in der Verkündigung neuer staatlicher Souveränität. Angesichts der Form und inhaltlichen Gewichtung könnte beinahe von einer „Postambel" gesprochen werden, wenn es am Schluss heißt:

„We, T H E R E F O R E . the Representatives of the U N I T E D STATES OF AMERICA [ . . . ] , do. in the Name, and by Authority of the good People of these Colonies, solemnly publish and declare. That these United Colonies are. and of Right ought to be F R E E A N D I N D E P E N D E N T STATES [ . . . I " 2 5 .

Die Erklärung ermöglichte den Amerikanern die völkerrechtliche Anerkennung als Krieg führende Partei und punktuelle Hilfe durch andere Mächte. Erst im Pa-riser Frieden von 1783 fand die Unabhängigkeit nach einem wechselvollen Krieg unter Beteiligung Frankreichs, Spaniens und der Niederlande ihre tatsächliche Anerkennung durch das englische Mutterland. Die Declaration of Independence wurde zu einem der bedeutenden Dokumente der Menschheitsgeschichte, in Spra-che und Anspruch gelegentlich (allzu pathetisch) mit den Geboten der großen abendländischen Religionen verglichen. Ihr Gedankengerüst formte das Funda-ment der folgenden Verfassungsentwürfe.2 6 Inhaltlich bildet sie die communis opinio der aufgeklärten Naturrechtslehre. Der Einfluss J. Lockes ist überall dort spürbar, wo von Konsens und Widerstand die Rede ist."

2? Im transatlantischen Kontext bedeutsam die Dissertation von O. Vossler, Die amerika-nischen Revolutionsideale in ihrem Verhältnis zu den europäischen, untersucht an Thomas Jefferson. 1929.

2~ An der Erklärung waren folgende bisherigen Kolonien beteiligt: Connecticut . Dela-ware. Georgia. Maryland, Massachusetts, New Hampshire, New Jersey, New York. North Carolina. Pennsylvania. Rhode Island. South Carolina und Virginia. Umfassend zur Un-abhängigkeitserklärung, ihrer Vorgeschichte und Tragweite J. R. Pole. The Decision of American Independence. 1975. Eine heute ..klassisch" zu nennende Analyse der Erklärung liefert C.L Becker; The Declaration of Independence. A Study in the History of Political Ideas. 1922 (Neudr. i960).

25 Zitiert nach D. W. Voorhees (Hrsg.), Concise Dictionary of American History. 1983, S. 280 f.

26 Hierzu W. P Adams. Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit. Die Verfas-sung und politische Ideen der amerikanischen Revolution. 1973: B. Bailyn, The Ideological Origins of the American Revolution. Neuausg. 1992.

2 Der theoretische Abschnitt der Unabhängigkeitserklärung wird emotional von der Ab-rechnung mit dem englischen König George /// . überlagert. Dort wird das archaische Motiv des Widerstands gegen einen Tyrannen aufgegr i f fen. Insoweit steht die Erklärung durch-aus in gewisser Rechtstradition der Monarchomachen. der Absetzung Philipps 11.1581. der Hinrichtung Karls I. und der Bill of Rights von 1689. Diesen Aspekt heben auch

1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 27

Die vielfältigen europäischen Einflüsse auf Staatsphilosophie und verfassungs-politisches Ideengut, der spürbare Impuls der großen englischen Juristen Cocke und Blackstone28 sowie nicht zuletzt das gestärkte Selbstbewusstsein nach über 20 Jahren erbittertem Ringen aus dem als Klammergriff empfundenen Behar-ren der englischen Krone verdichteten sich schließlich zu dem, was man den „amerikanischen Konsensus am Vorabend der Bundesverfassung" genannt hat.29

Wie auch J. Ellis in seinem Werk „Founding Brothers" in sechs Episoden über die ersten Jahrzehnte des neuen Gemeinwesens beschreibt, reichte die Einig-keit über Jeffersons Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 zunächst nicht über den Willen, das Joch der englischen Krone loszuwerden, hinaus. „The first founding (1776) declared American independence; the second (1787), American statehood".30 In Bezug auf den ersten Schritt bestand Einigkeit; der zweite war zwischen „Föderalisten" und Anhängern eines losen Staatenbundes höchst umstrit-ten. Noch heute besteht bis in die Tätigkeitsfelder der Tagespolitik eine Spannung zwischen den damals von Hamilton und Jefferson verkörperten Denkschulen. Der Einfluss derjenigen, die in den USA auf den „State rights" bestehen, nimmt seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zu.

b) Wege zum Konsens - von den „Articles of Confederation" zum „Great Compromise"

Der Vorabend nahm freilich einige Jahre in Anspruch. Er umfasste neben der Un-abhängigkeitserklärung auch einzelstaatliche Verfassungsbemühungen, die teils den Anregungen der Kontinentalkongresse folgten, sowie verschiedene Grund-rechtserklärungen und die 1781 in Kraft getretenen (1777 formulierten) Articles of Confederation als erste bedeutende Marksteine auf dem Wege zu einer dauer-

W. Reinhard. Vom italienischen Humanismus bis zum Vorabend der Französischen Revolu-tion. in: H. Frenske /D. Mer t ens /W. Reinhard /K. Rosen (Hrsg.), Geschichte der politischen Ideen, aktualisierte Ausgabe 1996. S. 241 ff., 369. sowie E. Angermann. Ständische Recht-stradition in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, in: Historische Zeitschrift 200 (1965). S. 61 ff. hervor. Der Rückschluss Reinhards (1996). die Unabhängigkeitserklärung sei damit nicht von Rousseau abhängig, geht allerdings fehl, da mit Rousseaus Idee des ..volonte generale" gerade die Forderung nach e inem Selbstbest immungsrecht gegenüber Spanien und Großbritannien begründet wurde.

: s Siehe umfassend mit Blick auf das englische . .Erbe" das klassische Werk von C. E. Stevens. Sources of the Constitution of the United States - Considered in Relati-on to Colonial and English History. 2nd ed. 1894. reprint 1987.

29 Vgl. auch H. Steinherger. 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung: Zu Einflüssen des amerikanischen Verfassungsrechts auf die deutsche Verfassungsentwicklung; Vortrag, gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 4. Juni 1986. 1987. S . 6 : umfänglich C. Rossiter. The Political Thought of the American Revolution, 1963; C.L Becker. The Declaration of Independence. A Study in the History of Political Ideas. 1922 (Neudr. i960).

J. Ellis, The Founding Brothers. The Revolutionär)- Generation, 2002. S. 27.

28 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

haften Verfassung. Beachtenswert sind in diesem Bezugsrahmen Connecticut und Rhode Island, deren Verfassungen erst 1819 bzw. 1842 folgten, nachdem sich ihre bisherigen königlichen Charters nach leichten Modifizierungen längerfristig als zweckdienlich erwiesen hatten.

Die Einzelstaatsverfassungen waren sogleich Experiment und Impulsgeber für die nachmalige Bundesverfassung. Von einem sanften Anstoßen späterer Verfassungsprinzipien kann hingegen nicht gesprochen werden. Gegenüber den ursprünglichen königlichen Charters erhielt die Legislative einen höheren Stellen-wert, unter anderem durch möglichst gleichmäßige Repräsentation. Der Gedanke der Volkssouveränität erfuhr stabile Grundlegungen.11 Die Repräsentanten der Exekutive - von Versammlungen gewählte Gouverneure - mussten beschränkte Rechte hinnehmen. Von überragender Tragweite war schließlich die nachhalti-ge Etablierung der Gewaltenteilung mit gegenseitiger Kontrolle der Gewalten.32

Ferner galt das Zweikammersystem (mit der Ausnahme Pennsylvanias) als un-entbehrliches Instrument zur Balancierung und Entschärfung unvermeidlicher Konflikte zwischen Exekutive und Legislative.

Die Brückenfunktion vom ungeordneten Nebeneinander der Einzelstaaten zum letztlich errichteten Bundesstaat nahmen die Anicles of Confederation ein. die einen Staatenbund zu begründen wussten, der aus de facto souveränen Staaten bestand, deren verbindendes Element ein Kongress sein sollte, in dem jeder Staat eine Stimme besaß. Die Begriffe Souveränität, Freiheit und Unabhängigkeit fanden erstmals zusammengehörig im Hinblick auf Einzel- oder Mitgliedsstaaten Berücksichtigung:

„Each State retains its souvereignty, f reedom. and independence, and every Power. Jurisdiction and right. which is not by this confederat ion expressiv delegated to the United States, in Congress assembled.*'"

Inhaltlich wurde für Verfassungsänderungen Einstimmigkeit gefordert. Der Kongress, der ursprünglich nicht als Zentralregierung gedacht war und lediglich marginale Zuständigkeiten vereinnahmte u, dehnte seine Rechte in der Folgezeit sukzessiv aus. Eine permanente zentrale Exekutivgewalt fehlte in den Anicles aber ebenso wie eine Regelung der Gerichtsbarkeit, des zwischenstaatlichen Handels und der Steuererhebung." Das Fehlen einer Finanzhoheit und von Zwangsbe-

31 Jedoch wurde keineswegs überall der Anspruch auf Volkssouveränität festgehalten und lediglich in Massachusetts erfolgte eine Befragung des Souveräns zur Verfassung.

3 2 Z u m Verfassungsprinzip Gewaltenteilung siehe unten IV.3.c). 33 Art . II. Zitiert nach R.D.Rotunda u.a.. Modern Constitutional Law, 6* ed. 2000.

Appendix B. 34 Dazu zählten die Hoheitsrechte im Bereich der Auswärtigen Angelegenheiten und

der Verteidigung im Namen der souveränen Einzelstaaten. 35 Vgl. zu Einzelheiten K. Loe wen stein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der

Vereinigten Staaten. 1959. S. 7 f. Siehe auch W. Brugger, E inführung in das öffentl iche Recht der USA. 2. Auflage 2001, S. 2 f.

1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 29

f u g n i s s e n l i eß n a c h d e m W e g f a l l d e r ä u ß e r e n B e d r o h u n g d a s U n v e r m ö g e n z u r e i n h e i t l i c h e n W i l l e n s b i l d u n g k l a r z u Tage t r e t en , w a s s i ch ä u ß e r s t n e g a t i v au f d i e H a n d e l s - u n d F i n a n z p o l i t i k n i e d e r s c h l u g . L e t z t e r e m u s s t e n a c h d e r E i n b u ß e d e r d u r c h d a s b r i t i s c h e M e r k a n t i l s y s t e m g e s i c h e r t e n H a n d e l s b e z i e h u n g e n n e u e V e r b i n d u n g e n g e w i n n e n , i n d e r a u s w ä r t i g e n Po l i t ik gal t e s V e r s t i m m u n g e n m i t E n g l a n d und S p a n i e n g e s c h l o s s e n z u b e g e g n e n 3 6 und z w i s c h e n d e n S t a a t e n k a m e s z u f ö r m l i c h e n H a n d e l s k r i e g e n a u f g r u n d r i g i d e r Z o l l s c h r a n k e n u n d m a n g e l h a f t e r Z u s a m m e n a r b e i t .

c) Der Verfassungskonvent37

D e n S c h w ä c h e n d e r Articles o f Confederation so l l t en s c h l i e ß l i c h d i e ab M a i

1787 in P h i l a d e l p h i a v e r s a m m e l t e n 55 D e l e g i e r t e n d e r E i n z e l s t a a t e n 3 8 - a u s -

3 6 Gerade der Kongress bewies seine gravierendsten Schwächen auf außenpolit ischem Gebiet. Großbritannien kam der im Frieden von Paris genannten Verpflichtung nicht nach, seine Truppen aus dem Staatsgebiet der USA abzuziehen. Als J. Adams 1784 nach London reiste, um der Großbritannien einen Handelsvertrag vorzuschlagen, musste er unverrichteter Dinge zurückkehren, nachdem die Briten ihn mit der heiklen Frage konfrontiert hatten, ob er eine Nation oder einen der 13 Staaten vertrete. Bei dem Versuch, mit Spanien eine Klärung der Grenze zu Florida zu erzielen, war der Kongress ebenso erfolglos wie bei der angemessenen Begleichung der enormen Kriegsschulden. Vgl. zu alledem auch K. Loewenstein (1959), S. 7 f.

Auf die Details des Konvents. Verfahrensbesonderheiten, dessen Zusammensetzung und Beratungen wird an dieser Stelle verzichtet und auf grundlegende Betrachtungen verwiesen. Aus der deutschsprachigen Lit. ausführlich insbesondere J. Heideking. Die Verfassung vor dem Richterstuhl: Vorgeschichte und Ratifizierung der amerikanischen Verfassung: 1 7 8 7 - 1 7 9 1 , 1988: A. Adams fW. P. Adams (Hrsg.) . Die Amerikanische Re-volution und die Verfassung: 1 7 5 4 - 1 7 9 1 . 1987. Zudem die historischen Darstellungen von D.J. Haupt ly. A Convention of Delegates - the Creation of the Consti tution. 1987: D. G. Smith. The Convention and the Constitution. The Political Ideas of the Founding Fa-thers. 1987; L W. Levy (Hrsg.). The Framing and Ratification of the Constitution. 1987; J.D. Elazar. The American Constitutional Tradition. 1988. Siehe auch C. Wolfe. On Un-derstanding the Constitutional Convention of 1787. in: The Journal of Politics. 39 (1977). S . 9 7 f f . ; C.C. Jillson. Consti tut ion-Making: Alignment and Realignment in the Federal Convention of 1787, in: The American Political Science Review, 75 (1981), S. 598 ff.; A.H. Kelly/W.A. Harbison/H. Beiz (Hrsg.), The American Constitution - its Origins and Development, 7th ed. 1991. Klassische Standardwerke sind weiterhin: N.C. Towle. Histo-ry and analysis of the Constitution of the United States, 3^ ed. 1871. reprint 1987; C. van Dören, The Great Rehearsel. The Story of the Making and Ratifying of the Constitution of the United States, 1948.

38 Rhode Island war nicht vertreten. Einige radikale Republikaner wie P. Henry und S. Adams waren freiwillig ferngeblieben. Das erleichterte es den ..Nationalists", sich gegen die Befürworter einzelstaatlicher Souveränität durchzusetzen. Die größten Differenzen in den Beratungen, die unter Vorsitz von G. Washington bis Mitte September andauerten, wa-ren das Verhältnis von Bundesregierung und Einzelstaaten, die Gewaltenteilung innerhalb der Bundesregierung sowie die Interessenkonflikte zwischen Nord- und Südstaaten auf

30 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

nahmslos Vertreter der bürgerlichen und landbesitzenden Schicht - durch die Schaffung eines zentralen Regierungssystems entgegenwirken.

Die genannten Delegierten werden verbreitet als „Verfassungs- oder Gründervä-ter" („founders") bezeichnet. Tatsächlich ist hierbei aber ein differenzierterer Blick angebracht. Der Historiker / Ellis hat die amerikanischen „Verfassungsväter" im Anschluss an die „Gründerväter" der Unabhängigen Vereinigten Staaten „founding brothers" und die Verfassunggebung elf Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung „the second founding" genannt.39

Neben den klangvollen Namen der Konventsmitglieder rückten in jüngerer Vergangenheit weitere Verfassungsväter ins Blickfeld der Verfassungshistoriker. Dies ist insbesondere auf die erneut aufgeflammte Debatte um die Bedeutung der „original meaning" in der Verfassungsinterpretation zurückzuführen. Im Zuge dieser Diskussion erscheinen eigentliches Konzept und Zusammensetzung der Gründer immer weniger fassbar. Das Spektrum der „Founders" schließt im eng-lischen Sprachgebrauch „drafters", „framers", „ratifiers", „adopters" und selbst „we the people" ein. Neben den Konventsdelegierten selbst werden verbreitet auch die zahlreichen Teilnehmer an den einzelstaatlichen Ratifizierungskonventen genannt. Einige erweitern diesen Ansatz um die Zahl all derer, die die öffentliche Debatte um die Verfassung zu prägen verstanden. Allerdings ist die Kategorie „public debate" selten zitierfähig und kaum konkret genug, um den Vorwurf einer gewissen Willkür in der Auswahl zu entkräften.40

Die damalige Entscheidung zu einem völligen verfassungstheoretischen Neube-ginn markierte den entscheidenden Wendepunkt zur konstitutionellen Moderne. Federführend für diese Entwicklung war ein damals 36-jähriger Delegierter aus Virginia, J. Madison41. Er schlug eine radikale Abweichung vom ursprünglichen

der einen, kleinen und großen Einzelstaaten auf der anderen Seite, vgl. dazu J. Heideking, Revolution. Verfassung und Nationalstaatsgründung, in: W.P .Adams u .a . (Hrsg.), Die Vereinigten Staaten von Amerika . Bd. 1. S. 32 ff. . 43. Weitere bekannte Delegierte waren A. Hamilton (New York), der 81-jährige B. Franklin und J. Wilson (beide Pennsylvania). G. Mason (Virginia, den Jefferson, der selbst zu der Zeit als Gesandter in Paris weilte, später ..the Cato of his country without the avarice of the Roman" nennen sollte) sowie J. Dickinson (Delaware).

39 Vgl. J. Ellis. The Founding Brothers. The Revolutionary Generation. 2002. 4" Vgl. zu der Diskussion um die Auswahl der . .Founders" neuerdings S. Cornell, The

Other Founders: Anti-Federalism and the Dissenting Tradition in America, 1 7 8 8 - 1 8 2 8 , 1999: zu den unterschiedlichen Aspekten der Meinungsbi ldung in der einzelstaatlichen ..public debate": B. McConville, These Daring Disturbers of the Public Peace: The Struggle for Property and Power in Early New Jersey, 1999 sowie W. Holton, Forced Founders: Indians. Debtors. Slaves, and the Making of the American Revolution in Virginia. 1999.

41 Zur Person J. Madison und dessen Einfluss auf die Verfassungswerdung siehe die bemerkenswerte Studie von J.N. Rakove. James Madison and the Creation of the Ameri -can Rcpublic, 1990: zu dessen späterer Präsidentschaft ( 1 8 0 9 - 1 8 1 7 ) R.A. Rutland. The Presidency of James Madison, 1990.

1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 31

Auftrag des Konvents vor: die Konföderationsartikel sollten nicht revidiert, son-dern durch den Beschluss einer neuen, nationalen Regierungsform ersetzt werden. Madisons Vorstellungen basierten auf einem eigenen Entwurf, der als „Virginia-Plan" bekannt werden sollte.42 Er sah im Kern eine präsidiale Republik vor, die auf einer strengen Gewaltenteilung durch ein Zweikammerparlament beruhte.

Anstoß an dem Entwurf nahmen allerdings die kleinen Staaten, da sich die Sitzverteilung im Kongress nach der Einwohnerzahl des jeweiligen Bundesstaates richten sollte. Virginia hätte damit ein erhebliches Gewicht im Kongress gehabt. An den Rand des Scheiterns brachte die Beratungen überdies der Interessenkon-flikt zwischen dem kommerziell ausgerichteten Norden und dem auf Sklavenarbeit angewiesenen, Agrarprodukte exportierenden Süden. Politische Protagonisten und Gegenpole dieser Auseinandersetzung waren einerseits die „Nationalisten" - Be-fürworter einer starken Zentralregierung (die sich entgegen dem heutigen Sprach-gebrauch Federalists nannten) - und auf der anderen Seite die Anhänger der Souveränität der Einzelstaaten sowie einer größtmöglichen Dezentralisierung der Macht. Letztere wurden von ihren Widersachern geschickterweise mit dem Na-men Antifederalists belegt, um das Negative und im Zweifel Unpatriotische ihres Standpunktes hervorzuheben. Die Spannungen waren von einer Vermengung un-auflöslich erscheinender materieller Interessen mit generellen Einwänden gegen jegliche Machtkonzentration gekennzeichnet.

Schließlich konnte ein für die Konventsmitglieder akzeptabler Kompromiss (ehrfurchtsvoll „The Great Compromise" genannt) erzielt werden: im Repräsen-tantenhaus war nunmehr eine Vertretung nach der Bevölkerungszahl vorgesehen, der Senat bot hingegen ungeachtet der Größe jeweils zwei Sitze für die einzelnen Staaten.43 Der Souveränität der Einzelstaaten wurde durch das innovative Prinzip des Föderalismus44 und durch die Entscheidung über ein neues Wahlrecht45 Rech-

J- Der Verfassungsdebatte lagen drei . .Plans" zugrunde. Der Vorschlag von New Jersey („New Jersey-Plan"), de re ine Kollektivspitze vorsah, glich dabei in manchen Einzelheiten der späteren Schweizer Verfassung von 1848 (siehe i .Ü. auch P. Widmer. Der Einfluss der Schweiz auf die Amerikanische Verfassung von 1787, in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte. 38 (1988), S. 359 ff.) , der von Virginia hatte Ähnlichkeiten mit der späteren Verfassung der dritten französischen Republik. Den dritten . .Plan" legte A. Hamilton vor; darin wurde ein System bevorzugt, das dem ..British Government" als laut Hamilton ..the best in the world". frappierend ähnelte.

43 Aktualität erlangten diese Frage und die Argumente der früheren Auseinandersetzung bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2000 und der knappen (letztlich gerichtlichen) Entscheidung für den Wahlsieger G. W. Bush.

44 Dazu ausführlicher unten IV. 3.b). 4 5 Für die Wahl zum Repräsentantenhaus, dem einzigen Bundesorgan, das nach der

ursprünglichen Verfassung direkt gewählt werden musste. galt die Best immung, dass die Qualifikationen für die Wähler nicht höher angesetzt werden dürf ten als für das ..populäre" Haus des jeweiligen Einzelstaates (Art. I §2 par 1 der Verfassung). Dem Kongress wurde lediglich das Recht eingeräumt, die von den Einzelstaaten geregelten ..Zeiten. Orte und

32 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

nung getragen. Der Bundesregierung wurde die Befugnis erteilt, Einfuhrzölle und Steuern zu erheben, eine Flotte und ein Heer zu unterhalten, die Milizen der Staaten zu beaufsichtigen (und nötigenfalls militärisch einzusetzen) sowie den Handel zwischen den Staaten und dem Ausland zu regulieren. Den Gipfel der Machtfülle bildete die berühmte Bestimmung, die es dem Kongress ermöglichte, alle Gesetze zu beschließen, die notwendig und angemessen („necessary and pro-per") seien, um die in der Verfassung enthaltenen Kompetenzen wahrzunehmen (Art. I § 8 par. 18 der Verfassung). Eine weitere Beschränkung der Einzelstaaten bildete das Verbot der Münzprägung und Papiergeldausgabe. Allerdings wurde damit erst ein gemeinsamer Binnenmarkt mit einer gemeinsamen Währungs-, Wirtschafts- und Außenhandelspolitik ermöglicht. Kompensation für den Verlust der einzelstaatlichen Souveränität sollte der Senat bieten, über den die Staaten Einfiuss auf die Gesetzgebung, den Abschluss von Verträgen und die Ernennung hoher Amtsinhaber nehmen konnten.

Nicht mehrheitsfähig waren Anregungen, ein Organ („Council of Revision") zu schaffen, das Gesetze der Einzelstaaten und/oder des Kongresses auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen würde. Auch die Zuweisung dieser Funktion an den in der Verfassung vorgesehenen Obersten Gerichtshof fand keine Zustimmung.

Essentiell für die Zustimmung der Südstaaten zur Verfassung war die Anerken-nung der Institution der Sklaverei. Diese Akzeptanz wurde letztlich konkludent in drei Klauseln deutlich. Nach Art. I § 2 par. 3 der Verfassung sollten bei der Berechnung der Bevölkerungszahl im Hinblick auf die Zuteilung von Sitzen im Repräsentantenhaus „other persons" (womit Sklaven gemeint waren) als Drei-Fünftel-Personen gewertet werden. Weiterhin musste gemäß Art. IV § 2 par. 3 der Verfassung ein flüchtiger Sklave von den Behörden des Staates, in den er geflüchtet war, an seinen Herrn ausgeliefert werden. Zudem durfte der Import von Sklaven vom Kongress bis zum Jahre 1808 nicht verboten, jedoch ein Steuer von nicht mehr als 10 Dollar auf jeden importierten Sklaven erhoben werden (Art. I § 9 par. 1 der Verfassung).

Die einzelstaatlichen Verfassungen dienten, wie bereits erwähnt, als wegweisen-der Erfahrungsschatz für die Inhalte der Bundesverfassung. Vorbilder etwa für die Gestaltung der Bundesgewalt mit einer Zweikammerlegislative, einer Einmann-exekutive und einem obersten Gerichtshof waren insbesondere die Verfassungen von New York und Massachusetts."6

Art" der Wahlen zu ändern (Art. I §4 par. 1 der Verfassung). Vgl. auch K.L. Shell. Die Verfassung von 1787. in: W . P Adams u .a . (Hrsg.), Die Vereinigten Staaten von Amerika. Bd. 1. 1990. S. 277 ff., 280 f.

46 Zum Ideengehalt der Einzelstaatsverfassungen: W. P. Adams. Republikanische Verfas-sung und bürgerliche Freiheit. Die Verfassungen und politischen Ideen der amerikanischen Revolution. 1973. Siehe zu deren Einfiuss auf die Bundesverfassung auch H.G. Keller. Die Quellen der amerikanischen Verfassung, in: Schweizer Beiträge zur allgemeinen Geschichte 16 (1953), S. 107 ff.

1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 33

Die am 17. Sept. 1787 verabschiedete Verfassung spiegelte letztlich den mühse-lig errungenen Kompromiss zwischen Interessenlagen wider, die sich in einem ma-teriell ausgerichteten Nord-Süd-Konflikt und einem grundsätzlichen, weitgehend ideellen Streit um etwaige Segnungen des Föderalismus oder eines ausgeprägten Zentralismus offenbarten.

d) Ratifizierung und „Federalists" gegen „Antifederalists"

Der Verabschiedung sollte nach dem Willen der Delegierten die baldige Ratifi-zierung folgen. Diese hätte sich bei Berücksichtigung der damaligen Rechtslage schwierig gestaltet. Die Kongressordnung sah nämlich prinzipiell Einstimmigkeit vor. welche angesichts der zahlreichen Kompromisse kaum zu erreichen schien. So beschloss man. die Zustimmung zur Verfassung nicht dem Kongress in New York, sondern eigens zu berufenden verfassunggebenden Versammlungen in den einzelnen Staaten zu überlassen.47 Überdies sollten nach Art. VII des Verfassungs-entwurfs bereits neun von dreizehn Ja-Stimmen die übrigen Staaten binden. Diese Taktik zahlte sich aus. denn am 2. Juli 1788 wurde durch die Zustimmung des zehnten der dreizehn Gründungsstaaten die Verfassung ratifiziert. North Carolina und Rhode Island zögerten mit der Ratifizierung noch bis zum 21. November 1789 beziehungsweise 29. Mai 1790. Auch in New York galt es Widerstände ge-gen den Verfassungsentwurf zu brechen.48 Wie unter einem Brennglas prallten dort die herausragenden Vertreter von Federalists und Antifederalists aufeinander, die in einer geistig-ideologischen Auseinandersetzung das gemeinsame Funda-ment der Revolution in zwei Varianten des Republikanismus zu spalten wußten. Beide Seiten versuchten mit einer Flut von Flugblättern, Zeitungsartikeln, Reden und Pamphleten die öffentliche Meinung zu indoktrinieren. Die Antifederalists befürworteten dabei die Idee einer überschaubaren Republik in einem lockeren Staatenbund, ähnlich der Struktur, wie sie in den „Articles of Confederation"" vorgesehen war.49

4 7 Gleichzeitig wurde, dem Beispiel aus Massachusetts folgend, allmählich das Volk als eigentlicher Souverän ins Spiel gebracht.

4S Hierzu ausführlich L.G. de Pauw, T h e Eleventh Pillar: New York and the Federal Constitution. 1966: R. Brooks, Alexander Hamilton. Melanchton Smith and the Ratification of the Constitution in New York, in: Will iam and Mary Quarterly 24 (1967), S. 339 ff.

49 Unter Berufung auf Montesquieu widersprachen die Antifederalists der Auffassung, ein Gebiet von der Größe der Vereinigten Staaten könne problemlos als freiheitliche Repu-blik geführt werden. Die neu geschaffenen Verfassungsorgane und Institutionen betrachtete man als potentielle Gefahr für die Bedürfnisse der Einzelstaaten und ihrer Bürger. Überdies wurde der bis dahin fehlende Grundrechtekatalog beklagt. Vgl. zu den Argumenten und Vertretern dieser Bewegung insgesamt J. T. Main. The Antifederalists. Critics of the Con-stitution 1781 - 1 7 8 8 , 1961; C.M. Kenyon. Men of Little Faith: The Antifederalists on the Nature of Representative Government, in: Will iam and Mary Quarterly 12 (1955), S. 3 ff. Neuerdings S. Cornell. The Other Founders: Anti-Federalism and the Dissenting Tradition

34 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Demgegenüber stand das Modell der Federalists, die für das Modell einer ..Bundesrepublik" mit einer effektiven Zentralgewalt sowie für eine Stärkung und Expansion der Wirtschaft eintraten. Den theoretischen und intellektuellen Unterbau hierzu lieferten A. Hamilton, J. Madison und J. Jay, die unter dem gemeinsamen Pseudonym ..Publius" 85 Essays veröffentlichten, in denen sie die Bedeutung und Vorteile der Verfassung hervorzuheben suchten. Diese heute unter dem Titel „Federalist Papers" versammelten Schriften gelten zu Recht als eines der wichtigsten Dokumente zur Staatstheorie und zählen zu den Klassikertexten im Verfassungsleben50, vielleicht sogar in literarischer Hinsicht.51

In deren Plädoyer für einen amerikanischen Bundesstaat lebt die damals ge-führte Diskussion wieder auf und es sind prinzipielle Überlegungen über die Probleme zu finden, die Einigungsprozesse von solcher Größenordnung aufwer-fen. Zudem ist eine Stringenz der Argumentation zu erkennen, die verwundern muss, wenn man die Entstehungsgeschichte der „Papers"bedenkt: Sie waren zu-nächst schlicht eine Serie von Zeitungsartikeln, die etwa ein Jahr lang, nämlich 1787/88. in mehrtägigem Abstand in drei New Yorker Zeitungen erschienen, bevor sie zusammengefaßt als Buch publiziert wurden. Der Anlass für diese eifrige Publi-kationstätigkeit war, für die Ratifizierung der neuen, nunmehr bundesstaatlichen Verfassung zu werben.

Es war nicht vorgesehen, die Verfassung per Volksentscheid zu ratifizieren, vielmehr oblag diese Aufgabe gewählten Konventen. Dennoch richteten sich die Artikel der Autoren ebenso wie die Artikel und Pamphlete der Verfassungsgegner unmittelbar an die interessierten Bürger; es wurde argumentiert, polemisiert, mit zahlreichen Mitteln der politischen Rhetorik um Zustimmung gerungen. Offenbar fand diese öffentlich geführte Kontroverse um die künftige Gestalt der Union auch die erwünschte Resonanz; sie erweckte Leidenschaften. Gerade mit Blick auf

in America . 1 7 8 8 - 1 8 2 8 . 1999. Siehe auch die Textsammlung von H.J.Storing!M. Dry (Hrsg.). The Complete Anti-Federalist, 7 Bde. 1977.

50 Die Begrifflichkeit . .Klassikertexte im Verfassungsleben" prägte P. Häberle. Siehe ders., Klassikertexte im Verfassungsleben. 1981 sowie ders., Verfassungslehre als Kultur-wissenschaft . 2. Aufl. 1998. S . 4 8 1 ff.

51 J. Gebhardt spricht in diesem Zusammenhang von einem „Iivre de circonstance. das dank des Formats seiner Autoren und des Erfolgs der vertretenen politischen Position schließlich einen hervorragenden Platz e innehmen sollte im literarischen corpus der ame-rikanischen Ziviltheologie", vgl. ders.. The Federalist (1787/88) . in: H. Maier u. a. (Hrsg.), Klassiker des politischen Denkens, Bd. II. 5. Aufl. 1987, S . 5 8 ff., 58. Textausgaben wur-den u. a. herausgegeben von J.E. Cooke ( Hrsg.), The Federalist, 1961; C. Rossiter (Hrsg.), The Federalist, 1961: B. F. Wright. The Federalist, 1961 - mit of t zitierter Einleitung; /. Kramnick (Hrsg.). The Federalist Papers. 1987. Deutschsprachige Übersetzungen editier-ten u. a. A. und W. P. Adams (Hrsg), Hami l ton /Mad i son / Jay : Die Federalist Artikel. 1994 sowie F. Ermacora (Hrsg.), Alexander Hamilton. James Madison, John Jay. Der Föderalist. 1958. Zur politischen Interpretation der Federalist Paper vgl. D. F. Epstein. The Political Theory of the Federalist, 1984. Siehe auch K. von Oppen-Rundstedt. Die Interpretation der amerikanischen Verfassung im Federalist, 1970.

1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 35

den europäischen Einigungsprozess ist es erhellend, wie eine von Leidenschaft getragene Einigung andere Kräfte freisetzt als ein Zusammenfinden, das auf mühsamen, kleinteiligen Gewinn-und-Verlust-Rechnungen beruht.

Gleichwohl: Über die unmittelbare Bedeutung der Federalist Papers in der Auseinandersetzung um die Verfassung sind die Meinungen geteilt; New York jedenfalls wählte einen anti-federalistischen Konvent. Nachdem jedoch mit Vir-ginia als zehnter Staat nach Massachusetts ein anderer großer Schlüsselstaat die Verfassung ratifiziert hatte, stand der Staat New York vor der Wahl, der Union fernzubleiben und eine Sezession der Stadt New York zu riskieren oder sich dem Druck der Umstände zu beugen. Der Konvent entschloss sich schließlich mit knapper Mehrheit für die Ratifizierung.

Obwohl die Anti-Federalisten unter dem Strich den Kampf um die Verfassung verloren hatten, ging im Rahmen des erzielten Kompromisses ihre Idee vom republikanischen Kleinstaat ebenso in das amerikanische Selbstverständnis ein wie die einzelnen Prinzipien ihrer federalistischen Widersacher.

Der Verdienst der Federalist Papers lag weniger in deren tagespolitischem Erfolg als in der ideenpolitischen Langzeitwirkung auf das politische Selbstverständnis der amerikanischen Republik.

Der Schritt zu einer neuen, die nationale Willensbildung und Entscheidungsfin-dung vereinfachenden Fasson staatlichen Zusammenlebens hatte sich zuletzt trotz oder gerade aufgrund der langatmigen Ratifikationsauseinandersetzung vollzogen. Einige der Staatsversammlungen hatten die neue Verfassung allerdings nur unter der Prämisse ratifiziert, dass G. Washington als erster Präsident den Beschluß eines Grundrechtekatalogs im Kongress durchsetzen würde.

e) Die Schlüsselrolle der Verfassung Virginias - Pionierin der Menschenrechte: konstitutionelle „Morgendämmerung" - die Bill of Rights

In ihrer Tragweite ist dabei die Verfassung Virginias vom 12./29. Juni 1776 kaum zu unterschätzen. Sie sollte die erste Verfassung sein, die den Schritt von traditionellen konstitutionellen Denkmustern zur Verfassungs-Moderne insoweit zu meistern vermochte, als sie erstmals Regeln der Staatsorganisation („Consti-tution or Form of Government") mit einem Menschenrechtskatalog („Virginia Bill of Rights"52) verband. Die naturrechtliche Lehre von den unveräußerlichen

52 In Art. I der Erklärung heißt es: ..Alle Menschen sind von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig und besitzen gewisse angeborene Rechte ( . . . ] und zwar auf Genuß des Lebens und der Freiheit und dazu die Möglichkeit . Eigentum zu erwerben und zu besitzen und Glück und Sicherheit zu erstreben und zu erlangen."(zitiert nach der Über-setzung von W. P Adams, im Internet unter http:/ /chnm.gmu.edu/declaration/german.html). Hinzu kamen unter anderem Gewährleistungen der Pressefreiheit ( Art . 12) und der freien

36 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Menschenrechten und die Rechtsentwicklungen in England bildeten den geistigen Unterbau, um die bedeutendsten Freiheiten als allgemeine Bürger- oder Menschen-rechte in einem Grundrechtskatalog zu konzentrieren und als positives Gesetz zu verkünden.53 Es mag der damaligen Mentalität der Siedler, ihrem ausgepräg-ten Unabhängigkeitssinn und deren gewachsenem Streben nach Glaubensfreiheit zuzuschreiben sein, dass sich eine beispiellose Offenheit für zeitgenössische Staatsphilosophie beobachten ließ, die schließlich in deren konkreter Umsetzung mündete. Laut O. Vossler sieht der Amerikaner „im Mayflower Compact, in den Covenants von Connecticut [ . . . 1 wirklich durch Vertrag Staaten entstehen, ihm ist in allen diesen Punkten das Naturrecht gar nicht Theorie und Literatur, sondern fassbare, sichtbare, lebendige Wirklichkeit."54 Zwar steht die Menschenrechtser-klärung von Virginia noch außerhalb, also formal getrennt von der „Constitution or Form of Government". Jedoch sollte es nicht lange dauern, bis es zu der Ver-schmelzung beider Bestandteile kam. In der Verfassung Pennsylvanias vom 28.9. 1776 wurde erstmals diese für das spätere Verfassungsverständnis wesentliche Verbindung formuliert:

„We [ . . . ] do ordain. declare and establish the following Declaration of Rights and Frame of Government, to be the Constitution of this commonweal th ." 5 5

Die Staaten Virginia, New York und Massachusetts waren es dann auch, die eine Annahme der Bundesverfassung von der Bedingung abhängig machten, dass Grundrechte dauernde Berücksichtigung fänden.5 6 So kam es schließlich, dass

Religionsausübung (Art. 16). Siehe zu den ersten amerikanischen Entwürfen von Grund-rechtskatalogen bereits H. Hägermann, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in den ersten amerikanischen Staatsverfassungen. 1910. Vgl. auch B. Schwanz. The Great Rights of Mankind. A History of the American Bill of Rights. 1977: R.A. Rutland. The Birth of the Bill of Rights. 1 7 7 6 - 1 7 9 1 . 1955.

53 Bereits das Massachusetts Body of Liberties von 1641 enthielt ein detailliertes Bekenntnis zu Individualrechten. In den General Fundamentals von New Plymouth aus dem Jahre 1671 wurde die Gleichheit vor dem Gesetz und in der Rechtsprechung, die Achtung von Leib. Leben. Freiheit, gutem Namen und Besitztum sowie die Glaubens- , Gewissens-und Kultusfrreiheit für unverletzlich erklärt, vgl. dazu R. Zippelius. Allgemeine Staatslehre. 13. Aufl. 1999. S. 329: J. Hatschek. Allgemeines Staatsrecht. Bd. II. 1909. S. 133 f.

5-1 O. Vossler. Studien zur Erklärung der Menschenrechte, in: R. Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung Menschenrechte und Grundfreihei ten. 1964 (2. Aufl. 1974). S. 166 ff.. 180 f.

55 Vgl. ..The Constitution of Pennsylvania", zitiert nach S.E. Morison (Hrsg.), Sources and Documents Illustrating the American Revolution 1 7 6 4 - 1 7 8 8 , 2. Aufl. 1929, Neudr. 1953, S. 162 f.

56 Bis 1780 schufen lediglich sechs Staaten Grundrechtserklärungen (Virginia. Dela-ware. Pennsylvania. Maryland. North Carolina, Massachusetts). Inhaltlich gab es hierbei erhebliche Differenzen. So war die Frage nach dem konkreten Inhalt von „Freiheit" nicht eindeutig im Sinne einer allgemeinen Übereinst immung zu beantworten. Freiheit als politi-sche Partizipation war nicht gleichmäßig verwirklicht; in fünf Staaten waren beispielsweise nur Protestanten amtsfähig. Das Gleichheitsprinzip der Unabhängigkeitserklärung war

1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 37

Herrschaftsordnung und Grundrechte in der westlichen Verfassungstradition seit der Einbeziehung der Ten Amendments als „Bill of Rights" in die amerikanische Verfassung im Jahre 178957 (ratifiziert 1791) eine untrennbare Einheit bilden und nicht hinweg zu denkender Bestandteil moderner Verfassungen sind.58

Selten wird darauf verwiesen, dass im Prozess der amerikanischen Verfassung-gebung 1787/88 die Föderalisten zunächst für eine Verfassung ohne Grundrechte eintraten.5" Hamilton, Madison und Jay, betonten in den gemeinsam von ihnen verfassten Federalist Papers, Gerechtigkeit und Freiheit seien ausreichend durch Gewaltenteilung und die repräsentative Demokratie gesichert; grundrechtliche Abwehrrechte seien überflüssig, ja schädlich, ließen sie doch den Eindruck ent-stehen. das mit ihnen abgewehrte Verhalten des Staats sei eigentlich erlaubt und müsse erst verboten werden. Zudem würde so abgelenkt von der letztlich entschei-denden Gemeinwohlsicherung, dem Geist der Freiheit in der Bürgerschaft, der sich in demokratischer Selbstbestimmung äußere: ..Hier müssen wir | . . . ] letzten Endes das einzige solide Fundament für alle unsere Rechte suchen."6" Bekanntlich konnten sich die Föderalisten mit diesem Ansatz nicht durchsetzen. Auf Druck der Anti-Föderalisten wurde bald nach Verfassungsannahme ein Grundrechtska-talog entworfen, die Bill of Rights, für die die amerikanische Verfassung berühmt geworden ist.

Der „Vorabend" der Bundesverfassung nahm unter dem Gesichtspunkt der Verknüpfung dieser heute untrennbar erscheinenden Elemente also durchaus den Zeitraum bis 1789 in Anspruch. Das Jahr 1791 mag als die „Morgendämmerung" einer modernen Verfassung bezeichnet werden, die der englischen Tradition von der Magna Charta 1215 über die Petition of Right 1627, die Habeas Corpus Act 1679 und die Bill of Rights 1689 folgend strukturell und inhaltlich schon ein Stück in die Zukunft enteilt war.

vordergründig gegen England gerichtet und zunächst nicht zur unbeschränkten inneren Umsetzung best immt. Überdies fand es nur in drei Grundrechtserklärungen Berücksichti-gung. Vgl. hierzu W.P.Adams. Republikanische Verfassung und bürgerliche Freiheit. Die Verfassungen und politischen Ideen der Amerikanischen Revolution. 1973.

Der Kongress verabschiedete am 25. September zunächst zwölf Verfassungszusätze (.Amendments). von denen die Bundesstaaten letztlich zehn bestätigten. Einzelheiten zu den Amendments unten ausführlich IV. 1. a) Zur Geschichte der amerikanischen ..Bill of Rights" vgl. aus neuerer Zeit das sehr umstrittene Werk von L IV. Levy, Origins of the Bill of Rights. 1999. Die historischen und verfassungsrechtlichen Grundlagen sowie die Fortentwicklung bespricht A. ReedAmar. The Bill of Rights: Creation and Reconstruction, 1998. Siehe auch C.R. Smith. To form a more perfect union. The ratification of the Constitution and the Bill of Rights, 1 7 8 7 - 1 7 9 1 , 1993.

58 Vgl. auch K.Stern. Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. Bd. 1. 1984. S. 65: W. Hertel. Supranationalität als Verfassungsprinzip. 1999. S. 26.

Anders freilich W. Brugger, Verfassungen im Vergleich: USA & Deutschland, in: Ruperto Carola - Forschungsmagazin der Universität Heidelberg. Hef t 3 /1994. S. 22 ff.

60 Vgl. The Federalist No. 84 (Hamilton).

38 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Die Verfassung und die Bill of Rights erzeugten so eine Balance zwischen zwei gegensätzlichen, aber grundlegenden Aspekten der amerikanischen Politik - der Notwendigkeit einer starken, effizienten Zentralgewalt und der Maxime, die Rech-te des Einzelnen zu schützen. Die beiden ersten politischen Parteien spalteten sich entlang dieser Linien. Die Föderalisten bevorzugten einen starken Präsidenten und eine Zentralregierung. Die Demokratischen Republikaner verteidigten die Rechte der einzelnen Staaten, denn dies schien mehr regionale Kontrolle und Verantwor-tung zu garantieren. Eine Auseinandersetzung, die der Konfliktsituation unter den Delegierten des Verfassungskonvents gewissermaßen konsequent nachfolgte.

Der entstandene Verfassungsstaat auf der Grundlage des Dokuments von 1787 war zunächst von Geburtswehen begleitet, die beschwerlicher zu sein schienen als die der abgelösten Konföderation. Insbesondere brach der reformierte Staat, der sich eigentlich erst jetzt als in sich geschlossene Nation betrachten konnte, weit deutlicher mit den politischen Strukturen der vorhergehenden Periode. Setzt man einen Vergleich mit 1776 an. so lässt sich feststellen, dass damals die Kolonien zwar den einschneidenden Schritt zur Unabhängigkeit getätigt hatten, allerdings Verwaltung und Staats Verständnis lediglich Modifizierung erfahren durften. 1787 wurde hingegen ein erstes klares Bekenntnis zur Moderne des Staatswesens abge-geben, indem die durch Generationen hindurch bewahrte Tradition der relativen Selbständigkeit der Einzelterritorien durchbrochen und das Volk der Vereinigten Staaten zum tatsächlichen, obersten Souverän berufen wurde.

5. „We, the People" - Souveränität (in) der US-Verfassung

Die Verfassung der Vereinigten Staaten ist die älteste noch gültige schriftliche Verfassung der Welt.61 Bereits in den ersten drei Worten der Präambel62 manifes-tieren sich Herkunft, Fundament und Auftrag dieses Werkes. „We the People[... 1" ist mehr als lediglich der Ausdruck des Demokratiegedankens, der freilich zu den Säulen amerikanischen Verfassungsdenkens zu zählen ist.63 Das Volk wird als

61 Profunde Darstellungen der amerikanischen Verfassungsordnung bieten etwa R. IV. Bland, Constitutional Law in the United States: a Systematic Inquiry into the Change and Relevance of Supreme Court Decisions. 1992. S. 1 ff., 7 ff.: D.P. Currie, Die Verfas-sung der Vereinigten Staaten von Amerika, 1988. S. II ff . ; J.E. Nowak! R.D. Rotunda, Constitutional Law. ö^ed. 2000. ch. 1,2,3.12.20: LH. Tribe, American Constitutional Law. 3* ed. 2000.

6 2 Die Präambel der amerikanischen Verfassung wird beispielsweise umfassend er-läutert von M. Adler! W.Gortnan, The American Testament. 1975, S . 6 3 f f . Den Zweck. Inhalt und Sinn von Präambeln in ihrer Verbindung mit Verfassungen erläutert rechtsver-gleichend P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft . 2. Aufl. 1998. S. 920 ff.; vgl. auch ders., Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: J .L i s t l /H . Scham-beck (Hrsg.), Demokrat ie in Anfechtung und Bewährung. Festschrift für J .Broe rmann . 1982, S. 211 ff. Siehe auch B.Ackerman, We the People I: Foundations. 1991.

6 3 Z u m Demokrat ieprinzip ausführlicher unter IV.3.e).

1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 39

T r ä g e r de r v e r f a s s u n g g e b e n d e n G e w a l t f e s t g e s c h r i e b e n . 6 4 D i e s e B e z u g n a h m e , d i e i n d i e s e r F o r m e r s t m a l i g E i n z u g i n e i n e m o d e r n e V e r f a s s u n g hiel t" 5 , i m p l i z i e r t a b e r a u c h d i e B i l l i g u n g u n d P r ä g u n g d u r c h d i e B ü r g e r e i n e s L a n d e s , i n d i e s e m Fall s o g a r d e n H i n w e i s au f d i e r e v o l u t i o n ä r e V o r g e s c h i c h t e , u n d e n t f a l t e t s c h l i e ß l i c h i d e n t i t ä t s s t i f t e n d e W i r k u n g . G l e i c h z e i t i g w i r d d e r S c h a f f e n d e z u m A d r e s s a t e n . W o b e i d e r B e g r i f f d e s „ S c h a f f e n d e n " w e i t z u v e r s t e h e n ist: e i n e L e g i t i m a t i o n d u r c h e i n e V o l k s a b s t i m m u n g g a b e s n ä m l i c h e b e n s o w e n i g w i e z u d e n m e i s t e n f o l g e n d e n V e r f a s s u n g s e n t w ü r f e n a n d e r e r L ä n d e r . 6 6 D i e V o l k s s o u v e r ä n i t ä t f a n d z w a r v o n B e g i n n a n i n d e r a m e r i k a n i s c h e n V e r f a s s u n g ihre t h e o r e t i s c h e V e r a n k e -r u n g ; 6 7 s i e e n t f a l t e t e s ich h i n g e g e n i n h a l t l i c h und i n d e r W a h r n e h m u n g ers t e i n e G e n e r a t i o n spä te r , d a d i e V e r f a s s u n g s v ä t e r k e i n e D e m o k r a t e n i m e i g e n t l i c h e n S i n n e w a r e n . S i e z ä h l t e n z u d e r k o n s e r v a t i v e n O b e r s c h i c h t , d i e v o n e i n e m t i e fen M i s s t r a u e n g e g e n j e g l i c h e V o l k s h e r r s c h a f t g e k e n n z e i c h n e t war . 6 8 D e n n o c h s t a n d

6 4 So hat auch der US-Supreme Court bereits früh festgestellt, dass die Verfassung ein Akt des Volkes und nicht von souveränen und unabhängigen Staaten geschaffen war, vgl. McCulloch v. Maryland. 17 U.S. (4 Wheat . ) 316. 403 (1819): Chisholm v. Georgia. 2 U.S. (2 Dali.) 419.471 (1793); Martin v. Hunters Lessee, 14 U.S. (1 Wheat . ) 304. 324 (1816).

65 Schon seit der Antike wurden mit dem Begriff der ..Verfassung" die unterschiedlichs-ten Inhalte in Verbindung gebracht. Es herrschte insoweit Einigkeit als ein Staat, wolle er nicht in Anarchie verfallen, sich an best immte Ordnungsvorstel lungen halten müsse. Freilich handelte es sich hierbei o f tmals lediglich um die Fixierung real vorhandener Machtverhältnisse und obrigkeitlich gesetzter Ordnungen, die alleine auf dem Willen eines Herrschers oder vertraglichen Absprachen beruhten. Es konnte weder von einer Ordnung des gesamten Staatswesens noch von einer Einbeziehung übergeordneter, unabänderlicher Prinzipien die Rede sein. Diesbezüglich war Verfassung alleine „institutio" und nicht „con-stitutio", vgl. auch G. Jellinek. Allgemeine Staatslehre. 3. Auflage 1914 (Neudr. 1960). S. 505, 521; K. Stern. Die Verbindung von Verfassungsidee und Grundrechtsidee zur mo-dernen Verfassung, in: G . M ü l l e r u .a . (Hrsg.). Staatsorganisation und Staatsfunktion im Wandel, Festschrift für Kurl Eichenberger zum 60. Geburtstag. 1982, S. 197 ff.. 200. Zum Verfassungsbegriff unten ausführlich unter B . I I .2 . f )nn) .

6 6 Eine Ausnahme bildet freilich etwa die Schweiz. Zu Volksabstimmungen siehe all-gemein aus dem deutschsprachigen Schrif t tum H. Schneider. Volksabst immung in der rechtsstaatlichen Demokrat ie , in: O. B a c h o f / M . D r a t h / O . G ö n n e n w e i n / E . Walz (Hrsg.), Gedächtnisschrif t für Walter Jellinek. 1955, S. 155 ff.; K. Hernekamp, Formen und Ver-fahren direkter Demokrat ie , 1979: J. Gebhardt. Direkt-demokratische Institutionen und repräsentative Demokratie im Verfassungssstaat, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 1991. B 2 3 . S. 16f f . ; W.Schmitt Glaeser. Die Antwort gibt das Volk, in: P. B a d u r a / R . S c h o l z (Hrsg.). Festschrift für Peter Lerche. 1993. S. 315 ff. Vgl. auch H. K. Heußner. Volksgesetz-gebung in den USA und in Deutschland. 1994 sowie R. Grote. Direkte Demokratie in den Staaten der Europäischen Union, in: Staats Wissenschaft und Staatspraxis, 1996. S. 317 ff.

67 Zu den Inhalten und Elementen des damaligen Souveränitätsverständnisses C. Rossiter. The Political Thought of the American Revolution, 1963, S. 170 ff. , 185 ff.; siehe auch J. Annaheim. Die Gliedstaaten im amerikanischen Bundesstaat: Institutionen und Prozesse eliedstaatlicher Interessenwahrune in den Vereinigten Staaten von Amerika. 1992. S. 26 m. w. N.

68 Vgl. K. Loewenstein (1959), S. 8 f.

40 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

und steht die Souveränität des Volkes in der Folge im Mittelpunkt aller Betrach-tung. Anwendung und Gestaltung der Verfassung. Bestätigt und gestärkt durch die amerikanische Verfassungsgeschichte, begrenzt durch das Bewußtsein, nicht der Mensch, sondern das Recht übe letztlich die Herrschaftsgewalt aus.

6. Eine (ge)zeitenfeste Verfassung

Ursprünglich für einen Agrarstaat mit einer Gesamtbevölkerung von weniger als vier Millionen Menschen konzipiert, gilt die Verfassung mittlerweile in einem Staat, dessen Bevölkerung sich seit 1789 mehr als versechzigfacht hat6'' und der selbstbewußt für sich den Standort der Wiege des Fortschritts in Anspruch nimmt. Tatsächlich entwickelten sich die Vereinigten Staaten zu einer hochindustriali-sierten, beherrschenden Weltmacht - und dies mit einer in ihren Kerngehalten wenig revidierten Verfassung. Die Grundentscheidung der Verfassungsväter, nur die fundamentalen Grundsätze durch die Verfassung selbst zu regeln70 , hat sich möglicherweise auch angesichts dieser Entwicklung bewährt.

Menschen. Institutionen. Organe und Machthaber mussten - vielleicht durf-ten - sich mehr als zwei Jahrhunderte an einem nahezu unveränderten Verfassungs-text o r ien t ie ren . Veränderungen des Wertebewußtseins, System Wechsel, außen-und innenpolitische Neuordnungen fanden gerade nicht ihren Niederschlag in gänzlich neuen Verfassungsentwürfen. Die Flexibilität eines konzentrierten, ge-strafften Werkes ist demzufolge Ursache und Messlatte der Dauerhaftigkeit dieser Verfassung, die lediglich 4400 Worte umfasst und damit die kürzeste aller geschrie-benen Verfassungen ist. Im Zuge der Verfassungsbestätigung der vergangenen 200 Jahre hat sich in den Vereinigten Staaten von Amerika ein mitunter ritualisier-ter Verfassungspatriotismus ausgebildet. Neben idealisierten Darstellungen des Grundkonsenses von 1787 und der darauf beruhenden verfassungsrechtlichen Grundentscheidungen des historischen Verfassungsgebers ist wohl auch dies auf die Knappheit des Textes zurückzuführen. Nach Currie hat diese Entscheidung „erheblich zur gesunden und weit verbreiteten Auffassung beigetragen, dass die Verfassung ewige und heilige Vorschriften enthält, an denen man nicht ohne zwin-genden Grund rütteln sollte.7 1" Auch in England als Wunderwerk menschlichen

69 Die Vereinigten Staaten von Amerika hatten zum Zeitpunkt der letzten Volkszählung im Jahr 1990 insgesamt 248.709.873 Einwohner. Alle neueren Daten sind ein Ergebnis der Fortschreibung der Statistik. Der Fortschreibung zufolge ist die Bevölkerung allein bis zum 1.7. 1998 auf 270 Mio. angestiegen.

70 So auch der Supreme Court in seinem berühmten Urteil McCulloch v. Maryland. 17 U.S. 316 (1819).

71 D.P. Currie, Die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. 1988. S.78. Vgl. auch J. Annaheim (1992). S. 24.

1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 41

Geistes gerühmt72, wurde die Verfassung in den Vereinigten Staaten laut Fraenkel mehr und mehr zum „Objekt eines irrationalen Staatskults"73.

7. Wendepunkte amerikanischer Verfassungsgeschichte - Strukturierungsansätze

Bei aller mythischen Verklärung darf jedoch nicht vergessen werden, wie er-bittert sich das Ringen um die Unionsverfassung gestaltete. Im übrigen bis in die heutige Zeit: eine äußerlich überwiegend statisch anmutende Verfassung ist frei-lich auch stetem Wandel unterzogen, selbst wenn sich dies lediglich in veränderten Auslegungskriterien eines gewandelten gesellschaftlichen Umfelds und nicht oder nur selten in textlichen Modifikationen äußern sollte. Die heute so unverrückbar erscheinende amerikanische Verfassung war das Ergebnis zahlreicher Kompro-misse, wobei der Gedanke des Kompromisses als konstitutives Strukturprinzip oder als politische Lebensform7" das amerikanische Verfassungsdenken in erhebli-chem Masse beeinflusst hat.75 Insgesamt ist es kaum abwegig, der amerikanischen Verfassungsentwicklung bei aller scheinbaren Unbeweglichkeit der Verfassung gewisse Wendepunkte zuzuordnen, die ihrerseits Abbild einschneidender gesell-schaftlicher, vielleicht kultureller Veränderungenwaren .

Der Versuch, die amerikanische Verfassungsgeschichte einer Strukturierung zu unterziehen wurde mehrmals unternommen. Mit unterschiedlichen Ergebnissen, die freilich differierenden Grundausrichtungen der jeweiligen Forschungsvorha-ben entspringen.7 Der vergleichende Blick auf die Verfassungsentwicklung Euro-pas soll eine Auseinandersetzung mit den verfassungsbezogenen Wendepunkten in den Vereinigten Staaten rechtfertigen. Verfassungsbestätigung erfährt damit

72 So bezeichnete W.E. Gladstone, in: The North American Review. Sept. 1878. S. 179 die Verfassung als , , [ . . . ] the most wonderful instrument ever Struck off at a given time by the brain and purpose of man ." Vgl. auch E. S. Corwin. Sonic Lessons f rom the Constitution of 1787. in: R. Loss (ed.). Corwin on the Constitution. Vol. I 1981, S. 157 ff., 164 f.

73 E. Fraenkel. Das amerikanische Regierungssystem. 3. Aufl. 1976, S. 21. Siehe auch C.M. Kiene. Zur Einführung: Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten, in: JuS 1976. S. 8.

74 Diesen Terminus gebraucht, auch im Hinblick auf die Vereinigten Staaten. R. Zippelius in seiner . .Allgemeinen Staatslehre", 13. Auflage 1999. S. 233 ff., 432.

7 5 Diese Vorstellung des Kompromisses bildet den Leitgedanken bei der Betrachtung des amerikanischen ..Verfassungscharakters", vgl. unten B. I .9 .

76 In diesem Zusammenhang von ..kulturellen Veränderungen" zu sprechen ist mit der Gefahr der Widersprüchlichkeit verbunden. Eine Kultur schöpft ihre Wesensmerkmale aus der Kraft immanenter Veränderung.

Die umfassendste Bibliographie der amerikanischen Verfassungsgeschichte s tammt von K.LHall, A Comprehensive Bibliography of American Constitutional and Legal History. 1896-1979 , 5 Vol. 1984. Siehe auch EM. McCarrick. U.S. Constitution: a Guide to Information Sources. 1980: A. T. Mason. American Constitutional Development. 1977; S.M. Millen. A Selected Bibliography of American Constitutional History. 1975.

42 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

sowohl eine Begrenzung als auch eine Erklärung hinsichtlich ihrer Abhängig-keit von „verfassungserstarkenden" Elementen. Letztere sind durchaus in einigen verfassungsgeschichtlichen Wendepunkten zu sehen. Ob sie letztlich ihre Entspre-chung in der kürzeren gemeineuropäischen Verfassungsentwicklung finden, wird am Beispiel der europäischen Wendemarken aufzuzeigen sein.78

Lassen sich nun allgemein verfassungsgeschichtliche Wenden konstruieren, die sich in allen rückblickenden Betrachtungen moderner Verfassungen zwangsläu-fig einstellen müssen, sobald eine gewisse gesellschaftspolitische, soziale oder kulturelle Veränderung Platz gegriffen hat?

K. Loewenstein teilt die Verfassungsentwicklung der Vereinigten Staaten von der Gründung der Union bis zu den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in drei Abschnitte, wobei sich der erste von der Etablierung der Republik bis zur Rekonstruktionsperiode nach Abschluss des Sezessionskrieges erstrecken sollte, der zweite von diesem Zeitpunkt bis zur großen Depression 1929 reichte und schließlich der dritte die Zeitspanne vom Roosevelt'sehen New Deal bis zur Gegenwart umfasse.79

Eine andere Einteilung nimmt J. Annaheim unter dem Aspekt der Entwick-lung des amerikanischen Föderalismus vor.80 Dieser Ansatz soll aufgrund der bestimmenden Rolle des Föderalismus im amerikanischen Verfassungsdenken Berücksichtigung finden. Demnach ist von der Gründungszeit bis zur Gegenwart eine grobe Dreigliederung vorzunehmen, die sich zunächst an den Begriffen „dual federalism" und .kooperative federalism" sowie abschließend etwas flach an der „neueren Entwicklung"81 ausrichtet. Der „dual federalism" erfährt noch eine ab-gestufte Betrachtung, indem zwischen „Aufbau" (1789-1861) und „Bewährung" ( 1 8 6 1 - 1 9 3 3 ) unterschieden wird. Ähnlich wird der „cooperative federalism" in „Grundlegung" ( 1933-1941) und „Ausdifferenzierung" ( 1 9 4 1 - 1 9 6 0 ) sowie die „neuere Entwicklung" in „präsidentiellen Reformföderalismus" (1960-1980) und „Aufgabenreform der achtziger Jahre" gestaffelt. Eine vergleichbare Auf-gliederung nach Entwicklungsstadien des amerikanischen Föderalismus nimmt A. B. Gunlicks vor.82

7S Hier /u unten B. II. und zusammenfassend unter B.V. 1. 79 K. Loewenstein. Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten.

1959. S. 16. 80 Siehe J. Annaheim (1992), S. 38 ff. 81 Das neue Schlagwort in der amerikanischen Föderalismus-Debatte ist die sogenannte

„devolution revolution"; vgl. hierzu A.B. Gunlicks. Föderative Systeme im Vergleich: Die USA und Deutschland, in: H .H. von Arnim (Hrsg.). Föderal ismus - hält er noch, was er verspricht?: seine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunf t , auch im Lichte ausländischer Erfahrungen. 2000. S .41 ff.. 55 ff.. J. Kincaid. De Facto Devolution and Urban Defunding: The Priority of Persons over Places. in: 21 Journal of Urban Affairs (1999) no. 2. S. 135 ff.

82 Vgl. hierzu A.B. Gunlicks (2000), S .41 ff. und ders., Prinzipien des amerikanischen Föderalismus, in: P. K i r chhof /D . Kommers (Hrsg.). Deutschland und sein Grundgesetz: Themen einer deutsch-amerikanischen Konferenz, 1993. S . 9 9 f f .

1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 43

Der Nachteil einer lediglich an den Erscheinungsformen des Föderalismus orientierten, gegliederten Verfassungsgeschichte wird offensichtlich, wenn man eine Einbeziehung des ersten Adressaten der Verfassung in diese Konstellationen anstrebt. So gibt es verfassungsspezifische Wendemarken, welche die Bevölkerung, letztlich die Gesellschaft tatsächlich aufzuwühlen und zu prägen vermochten, die von anderer Qualität waren als solche, die sich nur am Zusammenspiel der Kräfte des Bundes und der Einzelstaaten ausrichteten.

D. P. Currie wagt in diesem Sinne einen anderen Blickwinkel auf die Entwick-lung des amerikanischen Verfassungsrechts.S3 Demnach soll es in der Verfassungs-geschichte der Vereinigten Staaten bislang sechs „große Wenden" gegeben haben: „die erste umfaßte die Unabhängigkeitserklärung, den Revolutionskrieg, und die erste Verfassung, die Articles of Confederation: die Gründung einer neuen Nation. Die zweite war die Verstärkung des Bundes durch die Annahme der jetzigen Verfassung im Jahre 1788 und ihre weite Auslegung durch den Supreme Court während der Amtszeit des großen Chief Justice John Marshall. Die dritte war die Begrenzung der Macht der Einzelstaaten durch die ,Civil War Amendments ' nach dem Bürgerkrieg, die vierte die richterliche Umwandlung des 14. Amendment von einer Vorschrift zur Gleichbehandlung der Schwarzen in eine Waffe gegen den Sozialstaat. Die fünfte war die Abschaffung der Schranken der Kompetenzen der Staaten und des Bundes im wirtschaftlichen und sozialen Bereich während der .New Deal" Revolution der 30er Jahre dieses Jahrhunderts. Seit der sechs-ten Wende hat sich der Supreme Court immer stärker für die Durchsetzung der Grundrechte, den Schutz der Minderheiten und die Integrität des demokratischen Prozesses eingesetzt - wie Chief Justice H.F. Stone schon 1938 voraussagte."84

Eine „siebte konservative Wende" erwägt Currie schließlich durch den Umstand, dass seit 1969 vier republikanische Präsidenten zehn neue Richter zum Supreme Court teils mit dem ausdrücklichen Ziel ernannt haben, eine konservative Wende herbeizuführen.85

Obgleich sich über die Auswahl der einzelnen „Wenden" trefflich streiten lie-ße, zeigt Curries Ansatz, dass der amerikanischen Verfassung auch, aber nicht ausschließlich durch die Diskussion über die Grenzen und Möglichkeiten des Föderalismus Gestalt verliehen wurde. Vielmehr wird eines deutlich: die Verfas-sungsentwicklung wurde und wird im Wesentlichen durch die Entscheidungen des Supreme Court angestoßen, in ihrer Linie bestätigt und gelegentlich neu aus-gerichtet. Jedoch nicht ausnahmslos - insbesondere die politische Praxis sowie der amerikanische Amendment-Process nach Art. V der Bundesverfassung darf

83 D.P. Currie. Neuere Entwicklungen im amerikanischen Verfassungsrecht, in: JÖR 46 (1998). S. 511 ff.

84 D.P. Currie (1998), S. 511 f. 85 Vgl. D.P Currie (1998), S. 512, 524.. der im Ergebnis eine siebte Wende lediglich

angedeutet sehen will.

44 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

bei einer Bestandsaufnahme der Umbrüche einer Verfassung nicht außer Acht bleiben. Insofern soll Currie bereits an dieser Stelle leise widersprochen werden.

B. Ackermann hat kürzlich die Diskussion bereichert, indem er drei „U.S. con-stitutional regimes" benannte, die in ihrer Abfolge bedeutende „transformations" hinzunehmen hatten.Sh Das erste „Regime" sei mit der Gründung der Union ge-schaffen worden, das zweite in der Phase der „Reconstruction" und das dritte während des „New Deal" entstanden. Diese Ansicht kann für sich beanspruchen, im internationalen Kontext zeitliche Parallelen zu finden. Das erste „Regime" ist Teil eines Rahmens, der sich Ende des 18. Jahrhunderts transatlantisch um die Inhalte demokratischer Revolutionen und die Niederlegung von Menschen-rechtskatalogen (Virginia 1776, Frankreich 1789) setzen lässt.87 Die Periode der „Reconstruction" (1865-77) wird gerne mit den Ereignissen in Europa im Jahre 1848 verglichen88, wobei diesbezüglich nicht der zeitgleiche Moment, sondern der Blick auf den Fortgang einer Generation ausschlaggebend sein soll. Für diesen gewagten Blickwinkel spricht immerhin, dass die geistigen Grundlagen beider Zeiträume unmittelbar nicht von Erfolg gekrönt waren, jedoch langfris-tig substantielle Auswirkungen auf die Ideologie demokratischer Staatsführung hatten. Zu der Verfassungskrise während der Zeit des „New Deal" lassen sich durchaus Analogien zu den Entwicklungen etwa in Australien und Kanada zie-hen, wo die ökonomischen Auswirkungen der Depression ähnlich wie in den Vereinigten Staaten zu bemerkenswerten Innovationen in den Regierungs- und Verwaltungsorganisationen führten. Überdies offenbarten die höchsten Gerichte dieser Staaten ähnliche Argumentationsmuster in ihrem Widerstand gegen die W i r t s c h a f t s m i s e r e . D i e Verfassungskrisen in Argentinien und Weimar führten freilich bekanntlich zu anderen Ergebnissen.

Ein nüchterner Blick auf die historischen Grunddaten der amerikanischen Ver-fassungsentwicklung und ihrer Bestätigung kann vielleicht einen Beitrag zur Entwirrung des „Wendengeflechts" leisten. Die implizite Verknüpfung mit den kulturellen Spiegelungen und Wirkungen einer lebenden sowie sich bewähren-den Verfassung soll den sich stets erneuernden Bedeutungszusammenhang von Tradition und Moderne auch in diesem Kontext sichtbar werden lassen.

86 B. Ackermann, We the People, Vol. 2: Transformations, 1998. *' Siehe dazu das klassische Werk R. R. Palmers, Age of Democratic Revolutions,

2 Bde. 1959. Vgl. nur M. Tushnet. The Possibilities of Comparat ive Constitutional Law. in: 108

Yale Law Journal (1999). S. 1225 ff. 89 Vgl. M. Tushnet (1999), ebenda.

1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 45

8. Konstitutionelle Selbstfindung und kulturelle Selbstverwirklichung

Die amerikanische Verfassung hat. neben der Unabhängigkeitserklärung als das wahrscheinlich wichtigste, definitorische Element der amerikanischen res publica, im Laufe der eigenen, amerikanischen Geschichte kontinuierlich als Bezugspunkt gedient. Etwas Analoges hat es beispielsweise in Deutschland nicht gegeben."1

Greift man das oben angeführte Bild der verfassungshistorischen „Wenden" wieder auf, so lassen sich die beschriebenen Schritte von den einzelstaatlichen Verfassungen zu einer bundesstaatlich ausgerichteten, übergeordneten Verfassung in der Gestalt von 1787 sowie die anschließend erfolgte Einbettung der Grund-rechte als erste Wendepunkte markieren. Dabei soll die Wegstrecke konstitutio-neller Selbstfindung vom Mayflower Compact91 bis zur Verfassung Virginias als eigentlicher Ausgangspunkt dienen. Die kühne Feststellung der „konstitutionellen Selbstfindung" geht Hand in Hand mit der kulturellen Selbstverwirklichung einer Bevölkerung, die sich die Unabhängigkeit 1776 nicht nur auf dem Papier, sondern im Herzen erstritten hatte. Amerikanische Kultur beginnt demzufolge nicht erst mit der Declaration of Independence oder den letztlich erfolgreichen Bemühungen um eine Verfassung. Sie findet vielmehr hierin ihre ersten Höhepunkte.

Die Asomnie amerikanischen Verfassungsdenkens und - lebens über mehr als zweihundert Jahre ist ebenso Zeugnis positiven Auslegungsgebarens wie gelegent-liches Abbild eines herausgeforderten Aktionismus. Verfassungsgeschichte muss in den Vereinigten Staaten als Verfassungsgegenwart angesehen werden.92

Die neue Verfassung und die Gesetze und Verträge der Union bildeten das „supreme law of the land", das Vorrang vor den einzelstaatlichen Verfassungen

90 In den mehr als zweihundert Jahren der amerikanischen Verfassung, hat Deutschland das Ende des Heiligen Römischen Reichs gesehen, den Rheinbund, den Deutschen Bund. 1848. später den Norddeutschen Bund, die Bismarck 'sche Reichsverfassung von 1871. die Weimarer Verfasssung. die Rechtlosigkeit und Wil lkürherrschaft des Dritten Reichs, die Besatzungszeit , zwei Verfassungen der DDR und das Grundgesetz. Vgl. auch zu dieser Gegenüberstel lung G. Casper. Die Karlsruher Republik. Rede beim Staatsakt zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts am 28. Sep tember2001 in Karlsruhe. http:/ /www.bverfg.de/texte/deutsch/aktuell /Casper.html.

91 Vor der Landung des berühmten Segelschiffs am 21. 11. 1620 bei Cape Cod schlössen 41 Männer aus den Reihen der Pilgerväter den Mayflower Compact, in dem sie sich zur Aufr ichtumg einer gesetzlichen Ordnung in der zu gründenden Siedlung Plymouth verpflichteten.

92 Ähnlich K. Loewenstein. Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S. VII. Frederick W. Turner III sagte 1971 in einem Vorwort zur Neuauflage von C.A. Eastman IE. Eastman. Indian Boyhood. 1902: „Die Geschichte existiert fü r uns nicht bis und nur wenn wir sie ausgraben, interpretieren und zusammenstellen. Dann wird die Vergangenheit lebendig, oder, akurater ausgedrückt, dann wird deutlich, was Geschichte schon immer gewesen ist - ein Teil der Gegenwart ."

46 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

und Gesetzen hatte. Dies ermöglichte der Zentralregierung die nötige coercive power gegenüber den Einzelstaatsparlamenten, die Madison und Hamilton als unabdingbar für die innere Stabilität der Union erachteten.

Auch P. Häberle93 verdeutlichte, in einer Verfassung seien nicht lediglich blan-ker juristischer Text oder normatives „Regelwerk", „sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen" zu sehen.

Die Väter der Verfassung orientierten sich aber nicht nur an der Gegenwart, sondern auch an der Zukunft ihrer Nation. Sie waren sich bewußt, dass die Re-gierungsstruktur auf die Zeitgenossen, aber auch auf spätere Generationen ausge-richtet sein musste. Artikel V der US-Verfassung gibt hierfür beredtes Zeugnis.94

Trotzdem ist auch im Rahmen zeitgemäßer Interpretation darauf hinzuweisen, dass hinter der heutigen Verfassung eben auch die Begriffe, Denkweisen, Hoffnungen und Ängste der ursprünglich verfassunggebenden Generation des 18. Jahrhun-derts stehen.95 Insoweit ist die Verfassung aber Mahner an die Tradition wie im ähnlichen Maße regulierende Barriere für allzu modernistische Bestrebungen.

Zusammenfassend wäre es also verwegen zu behaupten, die amerikanischen Verfassungen nach 1776 faßten lediglich in Worte, wie man in Amerika glaubte, dass die britische Verfassung hätte geraten müssen. In fortwährendem Rück-griff auf ihre Wurzeln und Ursprünge erlangte die amerikanische Nation mit der Verfassung neben einem Instrument der Selbstinterpretation eines der (kulturel-len) Selbstverwirklichung. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass mit dem Inkrafttreten der Verfassung von 1787 zunächst ein grundsätzlich neuer Verfas-sungsbegriff am Ende einer Entwicklung und am Anfang eines Siegeszuges eines in sich wachsenden „Exportartikels" stand. Ihre Dauerhaftigkeit verdankt die ame-rikanische Verfassung der Tatsache, dass die Theorie von Verfassung und Staat der Erfahrung gefolgt ist, statt sie zum Ausfluss einer Idee zu machen, die die Wirklichkeit umgestalten sollte.96

Die amerikanische Verfassung ist Ausdruck der Selbstbestimmung und nationa-len Einheit des Landes und verobjektivierte den Willen ihrer „founding fathers". Sie kann in ihrer ursprünglichen Gestalt als Resultat einiger wesentlicher Ein-flussfaktoren betrachtet werden: als Erwiderung der vorhersehbaren Schwächen des amerikanischen Staatenbundes unter den Articles of Confederation; als An-

93 Siehe P Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft . 2. Aufl. Berlin 1998. S. 83.

w Hier /u ausführlich unter B.IV. l .a )aa) . 95 Ähnlich P. Hay, US-Amerikanisches Recht. München 2000. S. 18 in Fn. 5. 96 Ähnlich auch D. Howard. Die Grundlegung der amerikanischen Demokratie . Frank-

furt a . M . 2001.

1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 47

passung von Institutionen und politischen Prinzipien, die den Amerikanern aus ihrer kolonialen Vergangenheit und den Verfassungen der neuestens unabhängigen Einzelstaaten vertraut waren97 und als Kompromiss zwischen widerstreitenden Interessen und politischen Ideen.

9. Der Kompromiss als Ankerpunkt amerikanischen Verfassungsverständnisses

Die offensichtlichen Grundprobleme, etwa der Ausgleich zwischen Zentralge-walt und Einzelstaaten wurde durch Kompromisse gelöst. So erlangte die neue Bundesverfassung einen pragmatischen und vergleichsweise undoktrinären Cha-rakter. Der philosophische Schwung der Unabhängigkeitserklärung von 1776 mag verloren gegangen sein - die entsprechend nüchtern ausfallende Verfassungs-Präambel legt hierfür bereits klares Zeugnis ab. Dennoch gewährt die Bundes-verfassung erheblichen Spielraum zur Deutung und, im juristischen Sinne, zur Auslegung.

Das nordamerikanische Verfassungsverständnis ist wesentlich durch die Vor-stellung von Konsens geprägt. In der Praxis bewies sich diese Bewandtnis erstmals anlässlich des Verfassungskonvents von 1787 in der bereits geschilderten Einigung zwischen den kleineren Staaten und Madison hinsichtlich des Proporzes im Zwei-kammersystem. Gleichwohl war die Gesellschaft der Vereinigten Staaten bereits seit langem an die selbstverständliche Praxis einer bestimmten Art von Staatlich-keit und Konsensherstellung gewöhnt. Kein anderes postkoloniales Staatswesen sollte über diese Grundlage einer politisch geschulten Zivilgesellschaft verfügen.98

Insgesamt ist die Perzeption vom „Kompromiss als politischer Lebensform"99

ein Ankerpunkt des amerikanischen Verfassungsverständnisses. Individuelle Inter-essen sollen auf der Basis persönlicher Entfaltungsfreiheit, Meinungs- und Glau-bensfreiheit organisiert und auf den unterschiedlichen Ebenen des Bundesstaates zur Durchsetzung ihrer Ziele in ein Konkurrenzverhältnis gebracht werden. Auf-grund einer ausgeprägten „Partikularisierung" der Politik ergibt es sich nicht selten, dass die Kompromisse kein ausbalanciertes Resultat berücksichtigenswerter Inter-essen sind, sondern unter erheblichem - zuweilen unverhältnismäßigem - Einfluss partikulärer Kräfte erwachsen oder scheitern.

So auch K.L Shell, Die Verfassung von 1787. in: W.P .Adams u .a . (Hrsg.), Die Vereinigten Staaten von Amerika . Bd. 1, F rank fu r t /New York 1990. S. 277ff , 277.

98 Derartige Erfahrungen fehlten entweder weitgehend wie in Lateinamerika und später in Af r ika oder sie waren nur wenige Jahrzehnte alt wie etwa in Indien 1947. Siehe die Ansätze zu einer vergleichenden Verfassungsgeschichte auch bezüglich des Staates in der außereuropäischen Welt in W. Reinhard. Geschichte der Staatsgewalt: eine vergleichende Verfassungsgeschichte Europas von den Anfängen bis zur Gegenwart . 1999. S. 480 ff.

99 Vgl. zu dieser Bezeichnung R.Zippelius, Allgemeine Staatslehre. 13. Aufl. 1999. S. 233 ff. m.w. N.

48 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Der dauernde Zwang zu Koordination und Kompromiss erzeugt allerdings auch Reibungsverluste und gefährdet nicht selten Klarheit und Kontinuität amerikani-scher Politik. Die verfassungsrechtlich gewollte „Langsamkeit" der Politikprozes-se in den USA ist in den vergangenen Jahrzehnten häufig durch das Phänomen des „divided government" verstärkt worden. Der Umstand, dass häufig der Präsi-dent und die Kongressmehrheit nicht derselben Partei angehören, hat zusätzlich Entscheidungsprozes.se gehemmt. In der zweiten Amtsperiode von G. W. Bush offenbarte sich jedoch auch ein umgekehrtes Phänomen immanenter Schwächung, nämlich bei klaren Mehrheiten der „Präsidentenpartei" in den beiden Häusern des Kongresses. Auch wenn es paradox klingen mag, führt dies umso eher zu Lähmungserscheinungen. Auf den zweiten Blick wird deutlich: das System der „checks und balances" wird hiermit unelegant, aber effektiv ausgehebelt.

10. Eine dynamische Verfassung - „living Constitution'4

Die amerikanische Verfassung wird weithin als „living Constitution" bezeichnet und begriffen.1'10 Zwar könnte sie für den kontinental-europäischen Juristen ange-sichts fehlender scharfer Kompetenzabgrenzungen sowie begrifflich schwammig umrissener Tatbestände, die demzufolge kaum als Obersatz eines Subsumtions-schlusses dienen können, als Aufruf zur Rechtsunsicherheit verstanden werden. Ihre Kürze und inhaltliche Unbestimmtheit gereicht ihr hingegen zur Stärke. Es liegt daher nahe, die Verfassung der Vereinigten Staaten eben nicht als dauerhaft unberührbaren. in einem Flechtwerk von Kompetenznormen fassbaren Zustand, sondern als dynamischen Evolutionsprozess zu begreifen. Letztere Annahme könn-te die Schlußfolgerung nach sich ziehen, das amerikanische Verfassungsrecht habe nie eine hohe Stufe dogmatischer Durchbildung erreicht.101 Diese Feststellung ist jedoch nur im Hinblick auf dogmatische Grundsätze nachzuvollziehen. die ihren Ursprung in zuweilen engen Maßstäben (kontinental-)europäischen Rechtsden-kens haben. Das amerikanische Faktum einer gewissen Scheu vor starren Be-grifflichkeiten und abstrakten Systematisierungen bedeutet nicht die Abkehr von jeglicher Dogmatik. Im Gegenteil, der Charakterzug der amerikanischen Verfas-sung als „living Constitution" erfordert gerade eine dogmatische Einbettung, die in über 200 Jahren erprobt und bestätigt wurde. Die Notwendigkeit ergibt sich bereits aus der Gefahr der Konturlosigkeit höchsten, verbindlichen Rechts, verbunden mit einem allzu offenen Spielraum richterlicher Interpretationstätigkeit.

100 Vgl. statt vieler R. \V. Bland, Constitutional Law in the United States: a Systematic Inquiry into the Change and Relevance of Supreme Court Decisions, Revised Edition, 1992. S. 7 f. und den Titel der Textsammlung von S. K. Padover, The Living U.S. Constitution. rev. ed. 1995. Vgl. auch die häufige Bezeichnung der Europäischen Menschenrechtskon-vention (EMRK) als „living instrument".

101 So C.M. Klette. Zur Einführung: Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten, in: JuS 1976. S. 8 ff. . 9.

1. Eckpunkte der US-amerikanischen Verfassungsentwicklung 49

Die amerikanische Verfassung soll die festen, abstrakten Grundbedingungen des Staates festlegen und ist nicht - wie in der Schweiz über die Volksinitiative - auch eine stete „Plattform der politischen Auseinandersetzung". Sie ist der Zusammen-halt einer sonst sehr heterogenen Gesellschaft, und bildet so einen eigentlichen „dignified part" des amerikanischen Staatsrechts (Verfassungspatriotismus), ohne aber nur noch repräsentative Funktion zu haben.

Die grundsätzliche Flexibilität der amerikanischen Verfassung, ihre Beständig-keit und Kürze können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Rechtsordnung der USA einen außerordentlich hohen Grad an Komplexität aufzuweisen hat. Viel-leicht sind es gerade die genannten Charakteristika der Verfassung, die zu diesem differenzierten Erscheinungsbild mit beizutragen wissen. Beispielsweise beinhal-tet die Willensbildung zwischen Union und Bundesstaaten, zwischen den Bun-desstaaten und innerhalb eines Bundesstaates sowie schließlich die Assoziation dieser einzelnen Umstände ein vergleichbares Maß an Problemstellungen wie die gegensätzlichen Interessen und weitgehend fehlende Homogenität zwischen den Regionen und den Bundesstaaten."0 Die Schwierigkeiten, die sich aus dem steten, durch das Enteilen der Technik hervorgerufenen sozialen und wirtschaftlichen Wandel ergeben haben und werden, seien an dieser Stelle nur angedeutet.

11. Einige Grundgedanken und Strukturelemente des amerikanischen Verfassungsstaates103

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind eine präsidialdemokratische Repu-blik mit bundesstaatlicher Verfassung. Sie verzichtet auf die Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber der vom Volk gewählten gesetzgebenden Körperschaft, um den ehernen Prinzipien Gewaltenteilung und gegenseitige Gewaltenhemmung stärkere Geltung zu verleihen. Die Furcht vor einer allzu starken Machtkonzentra-tion ebnete den Weg zu einer Bundesverfassung, deren Handhabe gegen jegliche einseitige Machtposition ein vielverzweigtes System der Gewaltenteilung, Gewal-tenverschränkung sowie föderativer Gewaltenbalance erfordert.

Auch insofern ist das gesamte System, abgesehen von den auf Wettbewerb ange-legten Wahlen, am Konfliktregelungsmodell der konsensorientierten Kooperation ausgerichtet. Zusammenarbeit, Verhandeln und Aushandeln bilden die Messlatte des Umgangs.

Unter der Alleinherrschaft eines von einer demokratischen Mehrheit gewählten Parlaments und einer von einem demokratischen Parlament abhängigen Regierung

102 Vgl. auch J. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH. 1995, S . 7 5 ; L L Joffe, English and American Judges as Lawmakers , 1969. S. 69.

103 Vertiefend wird hierauf im Zuge des später folgenden ..transatlantischen Vergleichs" eingegangen (vgl. unter B.1V.3. und B. V.).

50 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

hielten die Väter der amerikanischen Verfassung auch die Rechte der Minderheiten für ständig bedroht und daher nicht nur die religiösen Freiheitsrechte der religiösen Sekten, sondern auch die Eigentumsrechte der (eine dünne Oberschicht bildenden) ökonomischen Elite für gefährdet. Nicht die Herrschaft der Mehrheit, sondern der Schutz der Minderheiten war das primäre Anliegen der ursprünglichen Verfassung der USA. Der Rousseau sehe Gedanke eines a priori gültigen Gemeinwohls ist ihr ebenso fern wie die Vorstellung, dass die Herrschaft des Gemeinwillens die Unter-drückung der Privatinteressen erforderlich mache. Die Verfassung von 1787 geht vielmehr von der Annahme aus, dass dem Gemeinwohl dann am besten gedient sei, wenn allen Sonderinteressen der gleiche Schutz und die gleiche Chance gewährt und gleichzeitig ausreichend Vorsorge getroffen werde, dass kein Einzelinteresse einen dominierenden Einfiuss auszuüben in der Lage sei. Die Ablehnung einer „direkten" Demokratie und die Bejahung der repräsentativen „Republik" wird mit der Erwägung gerechtfertigt, dass mittels einer Repräsentativverfassung nicht nur der Schutz, sondern auch der Ausdruck der Minderheitsinteressen ermöglicht werde.104

Bis in die Gegenwart hinein leben die Vereinigten Staaten von Amerika nach dem Gesetz, nach dem sie angetreten sind: der Bereitschaft, den Mitgliedern der verschiedenen Gruppen, aus denen die heterogene amerikanische Nation zusammengesetzt ist, eine freie Entfaltungsmöglichkeit und den Gruppen selber ein freies Betätigungsrecht zu gewähren.

Nach E. Fraenkel garantiert das naturrechtlich legitimierte amerikanische Ver-fassungsrecht nicht nur die Existenz dieser Gruppen, sondern legt auch die Spiel-regeln fest, nach denen sie im Gesamtgefüge der nationalen Einheit zu operieren berufen sind und normiert zugleich die Beschränkungen, die einer jeden dieser Gruppen und der Gesamtheit auferlegt sind.105 Beides sei zur Pflege des Gemein-wohls einer Nation unerläßlich, die sich gerade deshalb als politische Einheit fühle, weil die autonome Entwicklung der Partikulargruppen gewährleistet ist, aus der sie sich zusammensetzt.

'"4 Siehe aber auch E. Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem. 1960. S . 3 9 f . : „Es wäre allzu einfach, den Drang und den Glauben nach einem einheitlichen .Gemeinwil-len ' lediglich als .falsches Bewußtse in ' abzutun: und es wäre allzu bequem, die Existenz und die Betätigung der Gruppenwil len lediglich als soziale Verfallserscheinungen abzu-lehnen. Besteht doch die Gefahr, dass ohne den Glauben an das Vorhandensein eines Gemeinwil lens das Gemeinwohl gefährdet , wenn nicht gar beeinträchtigt wird, weil sich sonst herausstellen mag. dass ein Gruppenkompromiss entweder unmöglich oder lediglich unter einseitiger Berücksichtigung der Interessen der stärksten dieser Gruppen zu erreichen ist. Wie denn andererseits die Gefahr besteht, dass ohne die Gewährung eines freien Betäti-gungsrechts die Minoritätsgruppen sich vernachlässigt, wenn nicht gar vergewaltigt fühlten, und der amerikanischen Nation niemals hätten eingegliedert werden können bzw. ihr wieder entfremdet worden wären." sowie ders., S. 343 ff.

105 E. Fraenkel. Das amerikanische Regierungssystem. 1960. S. 343 ff.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 51

Es ist richtig: Der stärkste Integrationsfaktorder Vereinigten Staaten von Ameri-ka ist die Anerkennung des pluralistischen Charakters der amerikanischen Nation.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung sowie des Verfassungsverständnisses

Europa als Gedanke, Gewissheit und Realität könnte, am Ende dieser Stufen-leiter angelangt und auf dem Wege zur Tradition, zum Scheitelpunkt zwischen Konservatismus1(16 und Moderne werden, der weder die Option der Grad Wande-rung noch die Gelegenheit der Verbindung jener Elemente auszuschließen vermag. Beides bedarf einer stützenden Konstante, einer organisierten „Seilschaft", die in Europäischen Institutionen wie in einer Europäischen Bevölkerung zu finden sein dürfte. Jedoch nicht getrennt voneinander, sondern ihrerseits im gegenseitigen Verständnis wie auch emotional verbunden. Gerade letzteres sollte vom Vorwurf romantischer Verklärung geschieden und der Erkenntnis eines tatsächlichen Inte-grationsdefizits zugeführt werden. Emotionale Bindungen sind der oftmals von einem Subordinationsverhältnis geprägten Rechtswirklichkeit nicht unbedingt we-senseigen. jedoch haben in verschiedensten Rechtskulturen nach einer gewissen Bewährungszeit Verfassungen wie auch Verfassungsorgane eine bedeutsamere Position im Bewusstsein der jeweiligen Öffentlichkeit eingenommen.107

106 Der Konservatismus ist angesichts seines modernen Ursprungs (er wurde zur Zeit der Französischen Revolution zum Sammelbegr i f f für politische Strömungen und Ideen: in England erscheint der Begriff erst 1830. als J. W. Croker die Tories als „conservative par ty" bezeichnet) vom Tradit ionalismus oder vom sog. ..natürlichen Konservat ismus" zu unterscheiden (vgl. dazu ausführlich K. Mannheim. Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens. 1927). Während der Traditionalismus die ..allgemein-menschliche Eigenschaft" bezeichnet. ..dass wir am Althergebrachten zäh festhalten und ungern auf Neuerungen eingehen", ist der Konservatismus ein erst in der Moderne möglich gewordenes Phänomen, das die Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft und die Spaltung der Ideenwelt in Gegner und Befürworter des ..Fortschritts" voraussetzt, vgl. Mannheim, ebenda. Hier soll der Konservatismus durch seine ambivalente Stellung zur Moderne bestimmt werden; ein lebensfähiger Konservatismus hat demzufolge sowohl die unversöhnliche Gegnerschaft zur Moderne als auch die kritiklose Anerkennung derselben zu meiden, vgl. auch H. Ottmann. Konservatismus, in: Staatslexikon. Bd. 3, 7. Aufl. 1985, S. 636 ff.

107 Vgl. im weiteren Sinne auch R. Streinz, Europäische Integration durch Verfassungs-recht. in: Villa Vigoni. Auf dem Weg zu einer europäischen Wissensgesellschaft , Heft VIII. April 2004, S. 20 ff. und ders., European integration trough constitutional law, in: H.-J. B lanke /S . Mangiameli (Hrsg,). Governing Europe under a Constitution. 2006. S. 1 ff.

52 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

1. Eingrenzung eines vielschichtigen Prozesses

Die Debatte um die Verfasstheit der Europäischen Gemeinschaften bzw. der Europäischen Union108 ist so alt wie diese selbst. In ihr spiegelt sich von Anfang an die Intention der Europäischen Gründerväter, mehr als lediglich ein loser Zusammenschluss gleich gesinnter Staaten zur Erreichung gemeinsamer Ziele und auch mehr als nur ein Binnenmarkt zu sein.

Da die Verfassungsidee unauflöslich mit der Frage der Einigung Europas verbun-den ist, gab es Vorläufereiner Verfassungsdiskussion schon seit dem ausgehenden Mittelalter.109

Eine Verfassungsgeschichte Europas bedürfte freilich des Blickes bereits in die Antike. Allerdings würde selbst die Beschränkung auf einzelne Wegmarken europäischer Verfassungsgenese den Rahmen dieser Untersuchung sprengen. Die Dezimierung auf Aspekte, die ihren Ursprung im 20. Jahrhundert finden, ist daher ein dürftiger Ansatz, jedoch gleichzeitig die Bändigung eines der Ausschwei-fung gefährdeten Blickwinkels, der seinen Ausgangspunkt aber im Versuch des Verständnisses einer Jahrtausende währenden Entwicklungslinie „europäischen Denkens" zu finden sucht.110

Von daher fehlt an dieser Stelle eine eingehendere Betrachtung des Europamy-thos' der Antike, der Europakonzeptionen des Mittelalters wie die von P. Dubois und bildlicher Darstellungen wie Rembrandts „Raub der Europa". Gedanklich einzufügen sind die Europa- und Friedenspläne von Erasmus von Rotterdam, die Erwägungen Sullys im 17., des Abbe de Saint-Pierre im 18. oder von Saint-Simon im frühen 19. Jahrhundert."1 Auch würde „Die Christenheit und Europa" des

l"!' Zu den Begrifflichkeiten „Europäische Gemeinschaf ten" und „Europäische Union" und deren substantieller Unterfütterung Li. Everling, Von den Europäischen Gemeinschaften zur Europäischen Union. Durch Konvergenz zur Kohärenz, in: C . D . C l a s s e n u .a . (Hrsg.), „In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen . . . " . Liber amicorum Thomas Oppermann. 2001, S. 163 ff.

109 Ein guter Überblick findet sich bei R. Streinz!C. Ohler/C. Herrmann. Die neue Verfassung für Europa. Einführung mit Synopse. 2005, S. 1 ff. Siehe auch A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000 .2001 . Vgl. auch R. Streinz, Der europäische Verfassungspro-zess - Grundlagen. Werte und Perspektiven nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages und nach dem Vertrag von Lissabon, aktuelle analysen Nr. 46 der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidcl-Stif tung, 2008. S. 6 f.

110 Siehe aber ausführlich beispielsweise W. Schmale, Geschichte Europas, 2002 sowie M. Zuleeg. Ansätze zu einer Verfassungsgeschichte der Europäischen Union, in: ZNR 1997. S. 270 ff . Vgl. auch U. Everling, Unterwegs zur Europäischen Union. 2001: R.Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, 1991; H. Hattenhauer. Euro-päische Rechtsgeschichte, 4. Aufl. 2004: H. Wehberg. Ideen und Projekte betreffend die Vereinigten Staaten von Europa in den letzten hundert Jahren. 1984.

111 Man müsste Dantes Idee einer „Universalmonarchie" ebenso einbeziehen wie die Gedanken von Podiebrad. Cruces, Comenius und W. Penn. Zu nennen wären freilich in

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 53

D i c h t e r s Novalis g r ö ß e r e B e a c h t u n g v e r d i e n e n , e b e n s o „ V o r d e n k e r " E u r o p a s w i e

C. F. von Schm idt - Ph i sei deck. G. Mazzini o d e r V. Hugo.

2 . S t a t i o n e n e i n e s K o n s t i t u t i o n a l i s i e r u n g s p r o z e s s e s

a) Von Paneuropa zur Europa-Union (1923 -1944)

D e r „ V e r f a s s u n g s p r o z e s s " d e r E u r o p ä i s c h e n G e m e i n s c h a f t e n - b i s h in z u r E u -r o p ä i s c h e n U n i o n - ist v i e l s c h i c h t i g e r a l s o f t m a l s d a r g e s t e l l t " 2 ( - a l l e in a u s d e r Ze i t 1 9 3 9 - 1 9 8 4 ha t W. Lipgens n a h e z u 150 T e x t e m i t V e r f a s s u n g s v o r s c h l ä g e n v o r g e l e g t 1 3 - ) u n d sol l i n d i e s e r ( e i n g e g r e n z t e n ) U n t e r s u c h u n g s e i n e n A u s g a n g s -p u n k t in d e r „ P a n - E u r o p a - B e w e g u n g " d e s Grafen Coudenhove-Kalergi f i n d e n , d i e f r e i l i ch be re i t s i n d e n 2 0 e r J a h r e n d e s v e r g a n g e n e n J a h r h u n d e r t s ih re G e b u r t s -s t u n d e e r l e b t e u n d d a m i t e r h e b l i c h f r ü h e r a l s d i e G r ü n d u n g d e r E u r o p ä i s c h e n G e m e i n s c h a f t e n a n z u s e t z e n ist .

Be re i t s im N o v e m b e r 1 9 2 3 ha t t e R.N. Graf Coudenhove-Kalergi. g e b o r e n 1 8 9 4

in T o k y o als S o h n e i n e s k . u . k . D i p l o m a t e n und e i n e r J a p a n e r i n , e in s c h m a l e s B u c h

v e r ö f f e n t l i c h t 1 u , i n d e m e r s e i n e N e i g u n g , i n E rd t e i l en z u d e n k e n und d i e Wel t nach

s e i n e m p e r s ö n l i c h e n E r m e s s e n z u f o r m e n , e r s t m a l s e i n e r g r ö ß e r e n Ö f f e n t l i c h k e i t

der Folge auch J. Bentheim, F. Gentz und selbst Napoleon Bonaparte (er schreibt 1816 auf seiner Verbannungsinsel St. Helena in sein „Memoria l de Sainte Helene": „Eine meiner Lieblingsideen war die Zusammenschmelzung, die Vereinigung der Völker, die durch Re-volution und Politik getrennt worden waren." Es sei vor allem sein Wunsch gewesen, eine ..association europeenne" zu verwirklichen; sie hätte dem Kontinent Wohlstand und Glück gebracht, nicht zuletzt auch ein gleiches System in ganz Europa: ,.un code europeen. une cour de Cassation europeenne") . Vgl. auch die wichtigen Impulse von /. Kant (er betont in seiner Schrif t . Z u m ewigen Frieden" (1795) die Notwendigkeit, einen Bund der Nationen zu schaffen und entwirf t ein . .Bundes-Europa"), G. F. Hegel und F.W. Schelling. Weiter-gesponnen wurden diese Gedanken (von der Überlegenheit Europas) etwa von .4. Comte. Siehe sodann auch die Schriften von J.K. Bluntschli, K.Frantz, aber auch K.Marx (er teilte etwa die Überzeugung Hegels, dass Westeuropa der fortgeschrittenste und begabteste Teil der Welt sei, also der einzige, der reif wäre, die Zukunf t der Menschen zu formen. Marx begrüßte die freiheitlichen Bewegungen beispielsweise der durch das russische Joch unterdrückten Polen als . .dialektische" Etappe zur Einigung Europas in einer klassenlosen Gesellschaft . Freilich war er überzeugt, dass die europäische Einigung niemals vom libe-ralen Bürgertum oder von Idealisten von der Art Mazzinis herbeigeführt werden könnte, sondern nur durch das Proletariat). Schließlich sei noch auf J. Burckhardt und B. von Suttner verwiesen.

112 Die „europäische" Verfassungsgeschichte mit zahlreichen Verfassungsentwürfen be-trachtet vertiefend auch W. Loth, Entwürfe einer europäischen Verfassung. Eine historische Bilanz. 2002.

113 W. Lipgens (Hrsg.), 45 Jahre Ringen um die Europäische Verfassung. Dokumente 1 9 3 9 - 1 9 8 4 . Von den Schrif ten der Widerstandsbewegung bis zum Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments, 1986.

114 R.N. Graf Coudenhove-Kalergi. Paneuropa. 1923.

54 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

verriet. Der Titel „Pan-Europa" stand für ein Programm mit weit reichenden Zielen: die politische und wirtschaftliche Integration des Kontinents, die Schaffung gemeinsamer Institutionen in einer gemeinsamen Kapitale, eine gemeinsame Währung und Armee, schließlich die Verabschiedung einer Verfassung für die Vereinigten Staaten von Europa.

„Dieses Buch ist bestimmt, eine große politische Bewegung zu wecken, die in allen Völkern Europas schlummert", prophezeite Coudenhove-Kalergi im Vor-wort115, und die europäische Integration wurde für den gerade 29-jährigen Ari-stokraten zur Lebensaufgabe: „Durch Agitation in Wort und Schrift soll die europäische Frage als die Lebensfrage von Millionen Menschen von der öffentli-chen Meinung aller Völker aufgerollt werden, bis jeder Europäer sich gezwungen sieht, zu ihr Stellung zu nehmen."116

Im Frühjahr 1924 gründete er in Wien die Paneuropa-Union117, eine - nach heutigem Sprachgebrauch - Nichtregierungsorganisation, welche zunächst die Öffentlichkeit mobilisieren sollte.

Unter maßgeblicher Beteiligung W. Heiles formierte sich indessen innerhalb der Friedens- und Völkerbundbewegung eine Gegenströmung. Als Antwort auf die Gründung der Paneuropa-Union hoben deutsche und französische Parlamen-tarier im Frühling 1924 ein „Komitee für die Interessengemeinschaft der euro-päischen Völker" aus der Taufe, später umbenannt in „Bund für Europäische Cooperation". Ähnlich wie die Paneuropa-Union verstand sich das Komitee als „pressure group" für Europa in den Parlamenten. Regierungskreisen und in der politischen Publizistik. Grundlegend war dabei die Orientierung am Völkerbund, der den institutionellen Rahmen für die europäische Integration darstellen sollte. Im Unterschied zur Paneuropa-Union betrachteten die Mitglieder des Komitees Großbritannien als einen Teil Europas, dessen Einbeziehung als elementar galt. Ähnlich waren dagegen die langfristigen Ziele: eine weit reichende politische und wirtschaftliche Integration der Staaten Europas, die ihren Abschluss in der Schaf-fung supranationaler Institutionen, eines Binnenmarktes und einer gemeinsamen Währung finden sollte. Damit standen sich seit 1924 zwei politische Organisa-tionen gegenüber, die unterschiedliche Europa-Konzepte verfochten: europäische

'15 R.N. Graf Coudenhove-Kalergi. Paneuropa. 1923. 116 R.N. Graf Coudenhove-Kalergi, Paneuropa. 1923. 117 Umfassend zur Paneuropa-Union beispielsweise ihr langjähriger Präsident O. von

Habsburg. Die Paneuropäische Idee. Eine Vision wird Wirklichkeit. 1999: vgl. auch jüngst A. Ziegerhofer-Prettenthaler. Botschafter Europas. Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi und die Pancuropa-Bewegung in den zwanziger und dreißiger Jahren. 2(X)4. Als Gründer . Präsident und Chefprogrammat iker der von ihm ins Leben gerufenen Bewegung entwi-ckelte Graf Coudenhove-Kalergi eine Strategie persönlicher Lobbyarbeit - im Dialog mit Kanzlern und Königen. Unternehmern und Geistesgrößen. Formen der Kommunikat ion, die heute zum einen angesichts der ..europäischen Lähmung" weiter Kreise der europäi-schen Intellektualität (deren sporadisches und allzu spätes Eingreifen, wie etwa seitens

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 55

Integration innerhalb des Völkerbundes, unter Einbeziehung Großbritanniens und der UdSSR - oder Paneuropa als kontinentaleuropäisches Bündnis mit losen Verbindungen zur internationalen Staatengemeinschaft.1IS Gemeinsam war bei-

J. Habermas, und J. Derrida. Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas", in: FAZ vom 31. Mai 2003, auch in: Blätter fü r deutsche und internationale Politik. Nr. 7 (Juli 2003) S. 877 ff . hierüber nicht hinwegtäuschen kann), zum anderen hinsichtlich des Informati-onsdefizits in der Bevölkerung nahezu aller Mitgliedsstaaten, insgesamt in wesentlichen Teilen der europäischen Öffentlichkeit aktueller denn je . wenigstens dringend geboten erscheinen. Im Lichte der aktuellen Zurückhal tung europäischer Intellektueller innerhalb der Verfassungsdebatte (ausgenommen jurist ischer Fachkreise) sowie in der Diskussion um Gestalt und Zukunf t Europas schlechthin, sei beispielhaft - im Rahmen eines für jede Verfassungsentwicklung auch notwendigen geistesgeschichtlichen Rückblicks an einige Beiträge nach dem ersten Weltkrieg erinnert . Im Frühjahr des Jahres 1919 erscheinen in der renommierten Londoner Zeitschrift Athenäum zwei ..Letters f rom France", verfaßt von dem französischen Dichter P. Valery. Entscheidend geprägt sind diese beiden Briefe, die Valery noch im selben Jahr als Essay unter dem Titel ..La crise de 1'esprit" im fran-zösischen Original veröffentlicht.), von der Erfahrung des erst wenige Monate zuvor zu Ende gegangenen Weltkrieges und von dem klaren Bewußtsein, dass dieser Krieg einen epochalen Einschnitt in der Geschichte Europas markiert (die Schrif t ist abgedruckt in: J. Hytier (Hrsg.), P. Valery. OEuvres . 1957. T. I. S. 988 ff) . Valery begreift dabei die Kri-se Europas nicht nur in ihrer militärischen, politischen und wirtschaft l ichen Dimension. Diese Krise Europas sei in erster Linie eine Krise des Geistes, jenes „esprit europeen", der die eigentliche Essenz Europas ausmache und seine Zivilisation von allen anderen unterscheide. Für den Cartesianer Valery ist dieser europäische Geist nichts anderes als der Geist der Wissenschaf t , wie er sich auf dem Kontinent seit der griechischen Antike herausgebildet habe und wie er zu Beginn der Neuzeit von L da Vinci exemplarisch verkör-pert wurde. Valery artikuliert in seiner Schrift in charakteristischer Weise ein ausgeprägtes Bewußtsein von der Dekadenz Europas, wie es in vielfältiger Form auch bei anderen europäischen Schriftstellern in den Jahren nach dem Ende des 1. Weltkrieges zu finden ist. Als ein Beispiel unter vielen anderen möglichen sei hier aus d e m deutschen Sprach-raum nur H. v. Hofmannsthal mit seinem Essay des Jahres 1922 mit dem Titel „Blick auf den geistigen Zustand Europas" angeführt (Der Text findet sich bei P.M. Lützeler (Hrsg.), . .Hoffnung Europa". Deutsche Essays von Novalis bis Enzensberger, Frankfurt a. M. 1994. S. 258 ff.) Vergleichbare Belege für ein ausgeprägtes europäisches Krisenbewußtsein aber finden sich auch bei O. Spengler in seinem „Untergang des Abendlandes" (1918/22) . bei S. Zweig, vor allem in seiner Autobiographie „Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers ." (postum 1944). in Spanien bei J. Ortega Y Gasset in seinem ..Aufstand der Massen" (1929) oder später in England bei -4. Toynbee in seiner Universalgeschichte „A Study of History" ( 1 9 3 4 - 6 1 ) . Valerys Schrif t „La crise de 1'esprit" kann als der erste bedeutende Beitrag zu einer Debatte über Europa betrachtet werden, die in den zwanziger Jahren auf dem gesamten Kontinent, mit besonderer Intensität aber in Frankreich und Deutschland geführ t worden ist. Europa wird in beiden Ländern zum Thema einer kaum zu zählenden Anzahl von Essays und Aufsätzen, ja sogar zum Gegenstand von zumeist allerdings eher zweitrangigen Romanen. Novellen und Gedichten (einen Überblick mit zahlreichen bibliographischen Angaben gibt P.M. Lützeler. Die Schriftsteller und Europa. Von der Romantik bis zur Gegenwart . München 1992. S. 272 ff. sowie V. Steinkamp. Die Europa-Debatte deutscher und französischer Intellektueller nach dem Ersten Weltkrieg. ZEI-Discussion paper. 1999.

118 Unterschiedlich sah man auch die Modalitäten der Finanzierung: Der Bund für Europäische Cooperat ion konnte auf Subventionen der deutschen und französischen Re-

56 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

den Organisationen die Überzeugung, dass Paris und Berlin Schrittmacher einer europäischen Annäherung sein mussten."9

Wenig später glaubte sich Coudenhove-Kalergi indes am Ziel. Am 5. Septem-ber 1929 schlug der französische Außenminister (und zeitweilige Ministerprä-sident) A. Briand der Völkerbund-Versammlung in Genf vor, die europäischen Staaten durch eine föderale Verbindung enger zusammenzuführen. Vorstellungen, die - auch hinsichtlich einer wirtschaftlichen Einigung - vieles von dem vorberei-teten, was nach 1945 geplant oder begonnen wurde. Sein deutscher Amtskollege G. Stresemann lobte in einer Antwortrede die wirtschaftliche Seite der Idee, doch er verhehlte nicht die Skepsis des Realpolitikers gegenüber der Aussicht auf eine politische Integration Europas.12" Dennoch - Briands Initiative setzte das Thema für einen Moment auf die Agenda der Weltpolitik. So geht aus einem Dossier der französischen Botschaft in Washington hervor, dass in der amerikanischen Öffentlichkeit der Europaplan Briands so ausführlich diskutiert wurde wie selten ein Thema der europäischen Politik.121

Doch Briands Auftritt kam zu spät. Deutlich lassen sich aus einem wenige Mo-nate später nachgelegten Europa-Memorandum1 : 2 die nationalen Interessen und Ängste Frankreichs herauslesen, insbesondere die Sorge um die securite - um die Sicherheit gegenüber einem inzwischen wieder unberechenbaren Nachbarn jen-seits des Rheins. Das Memorandum fordert, die Zusammenarbeit der europäischen

gierungen zurückgreifen, die das Anliegen einer europäischen Verständigung unter dem Dach des Völkerbundes unterstützten. Dagegen suchte und fand Graf Coudenhove-Kalergi finanzielle Unterstützung in e inem Kreis von Unternehmern und Bankiers, die sich unter der Leitung R. Boschs zu einem Paneuropa-Förderkreis zusammenschlössen.

119 Die deutsch-französische Europa-Debatte hat - und das verleiht ihr eine zusätzliche Dimension - ihren Ausgangspunkt in der nach dem ersten Weltkrieg zeitgleich in beiden Ländern einsetzenden Diskussion über die Zukunf t der deutsch-französischen Beziehun-gen. Beide Themenkreise sind natürlich nicht identisch, aber auch schon deshalb nicht voneinander zu trennen, weil in der Wahrnehmung sowohl der Franzosen wie der Deut-schen beide Länder aufgrund ihrer Größe, ihrer zentralen Lage, ihrer Vergangenheit sowie ihrer politischen, wirtschaft l ichen und nicht zuletzt ihrer kulturellen Bedeutung wegen den eigentlichen Kern Europas bilden - eine Konzeption, die sich im übrigen schon im frühen 19. Jahrhundert bei dem in Paris lebenden deutschen Schriftsteller L. Börne findet, der von einem „Nukleus-Europa" spricht, und wenig später auch in V. Hugos Vision von den „Vereinigten Staaten von Europa" wieder auftaucht und die bis in die Gegenwart unter Berücksichtigung vielerlei berechtigter Kritik in der Vorstellung von einer ..deutsch-französischen Achse" oder dem Bild von der deutsch-französischen Freundschaft als Motor des europäischen Einigungsprozesses fortwirkt.

Die Debatte mit den Reden Briands und Stresemanns findet sich abgedruckt bei W. Lipgens, Europäische Einigungsidee 1 9 2 3 - 1 9 3 0 und Briands Europaplan im Urteil der deutschen Akten, in: HZ 203 (1966). S. 46 ff., 78 f., 80 ff.: vgl. auch C. Navari. The Origins of the Briand Plan, in: Diplomacy and Statecraft 3,1 (1992). S . 7 4 f f .

121 Vgl. C. Navari (1992), S .99 : vgl. im weiteren Kontext auch S. Kneeshaw, In Pursuit of Peace: the American reaction to the Kellogg-Briand Pact. 1 9 2 8 - 2 9 , 1991.

122 Vgl. ausführlich W. Lipgens (1966). S. 82 f.; C. Navari (1992), S. 99 ff.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 57

Staaten zu institutionalisieren, eine Europäische Konferenz auf Regierungsebene einzurichten sowie einen Ständigen Politischen Ausschuss als europäisches Exe-kutivinstrument. Überdies regt ein Zusatz an. die Grenzgarantien des Locarno-Paktes auf die osteuropäischen Staaten auszudehnen. Ein solches Ost-Locarno aber war der deutschen Außenpolitik nicht abzuringen, denn diese zielte trotz aller Verständigungsbereitschaft langfristig darauf an, das Reich wieder als Großmacht zu etablieren. So zeugt das Memorandum der französischen Regierung gleicherma-ßen von Briands Glauben an die Gemeinschaft Europas wie von der Hilflosigkeit einer Außenpolitik, die Deutschlands erneutem Griff nach der Weltmacht nur noch wenig entgegenzusetzen vermochte.

Der Boden für außen- und europapolitische Bestrebungen der Vernunft wurde damals immer rascher unterspült durch das Anschwellen radikaler und natio-nalistischer Kräfte in Europa, begünstigt durch die unglücklichen politischen Verhältnisse jener Jahre und die 1929 ausbrechende Weltwirtschaftskrise. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland 1933 war endgültig der Weg zu einer nochmaligen gewaltsamen Explosion des Nationalismus beschritten.

Gleichwohl gab es in der Folge und während des zweiten Weltkrieges eindrucks-volle sowie in vielen Bezügen zur Gegenwart immer noch - oder wieder - ak-tuelle, grundlegenden Ideen und Pläne für eine Neuordnung Europas vor allem in den Widerstandsbewegungen der von Hitlerdeutschland besetzten Länder (wie auch in Deutschland selbst). Weitgehende Übereinstimmung im breiten Spek-trum demokratischer Richtungen des antifaschistischen Widerstandes bestand in der Forderung, dass der Aufbau Europas nach dem Kriege nicht die einfache Wiederherstellung der alten staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen der Vorkriegszeit bedeuten dürfe. Hierbei war die Zahl maßgeblicher Stimmen des Widerstandes wie auch demokratischer Exilgruppen aus den von Deutschland besetzten Ländern besonders groß, die anstelle des Systems der souve-ränen Nationalstaaten, als dem institutionalisierten Egoismus und Gegeneinander der europäischen Völker, die Organisation einer Friedens- und Solidargemein-schaft Europas nach föderalistisch-bundesstaatlichen Prinzipien für notwendig hielt. Damit sollten zugleich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Europa ge-genüber totalitären Kräften gesichert und die für Wiederaufbau und Wohlstand hinderlichen Zoll- und sonstigen Wirtschaftsschranken beseitigt werden.123

So heißt es etwa in einer Erklärung von Vertretern wichtiger Widerstands-bewegungen Frankreichs, die im Juni 1944 ein Französisches Komitee für die europäische Föderation gründeten:

123 Hierzu ausführlich und mit umfassenden Quellenmaterial W. Lipgens. Europa-Föde-rationspläne der Widerstandsbewegungen 1 9 4 0 - 1 9 4 5 . 1968. Die Europaideen des Wider-stands waren in nicht unerheblichen Teilen wohl auch eine Antwort auf die gegensätzlichen, nämlich auf die Vorherrschaft Deutschlands gerichteten ..Europaideen*' des Nationalsozia-Iismus, die vom Typ bisweilen mit den Europaplänen Napoleons verglichen werden.

58 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

„Es ist unmöglich, ein blühendes, demokratisches und friedliches Europa wieder aufzu-bauen. wenn es bei der zusammengewürfe l ten Existenz nationaler Staaten bleibt. [ . . . ] Europa kann sich nur dann in Richtung auf wirtschaftlichen Fortschritt, Demokratie und Frieden entwickeln, wenn die Nationalstaaten sich zusammenschließen und einem euro-päischen Bundesstaat folgende Zuständigkeiten überantworten: die wirtschaftliche und handelspolitische Organisation Europas, das alleinige Recht zu bewaffneten Streitkräften und zur Intervention gegen jeden Versuch der Wiederherstellung autoritärer Regime, die Leitung der auswärtigen Angelegenheiten, die Verwaltung der Kolonialgebiete, die noch nicht bis zur Unabhängigkeit herangereift sind, die Schaf fung einer europäischen Staatsangehörigkeit, die neben die nationale Staatsangehörigkeit träte. Die europäische Bundesregierung muss das Ergebnis nicht einer Wahl durch die Nationalstaaten, sondern einer demokratischen und direkten Best immung durch die Völker Europas sein."124

D i e S o z i a l i s t i s c h e P a r t e i I t a l i ens v e r ö f f e n t l i c h t e 1942 a u s d e m U n t e r g r u n d

f o l g e n d e E r k l ä r u n g :

„Die Grundforderung hinsichtlich der zukünft igen Ordnung in Europa 1.. . | muss darin gesehen werden, dass die bereits bestehende Einheit der europäischen Gesellschaft durch politische Zusammenfassung sichergestellt werden muss. [ . . . ] Die europäische Föderation darf keine in ihren Vollmachten eingeengte Union sein, der ständig von den souveränen Staaten her Gefahr droht."125

B e m e r k e n s w e r t n e b e n a l l zu v i e l e n U n e r w ä h n t e n a u c h d e r d e u t s c h e W i d e r -

s t a n d s k ä m p f e r H.J. Graf von Moltke, h i n g e r i c h t e t 1945 in P l ö t z e n s e e , d e r 1 9 4 2

a n e i n e n F r e u n d i n E n g l a n d s c h r i e b :

„Für uns ist Europa nach dem Kriege weniger eine Frage von Grenzen und Soldaten, von komplizierten Organisationen oder großen Plänen. Europa nach dem Kriege ist die Frage: Wie kann das Bild des Menschen in den Herzen unserer Mitbürger aufgerichtet werden?"1 2 6

U n t e r d e n w ä h r e n d d e r K r i e g s j a h r e 1 9 3 9 - 1 9 4 5 f o r m u l i e r t e n S t u d i e n und M a -n i f e s t e n befe inden s ich a u c h e i n i g e V e r f a s s u n g s e n t w ü r f e . Z u i hnen z ä h l t e n b e i -s p i e l s w e i s e A. Spinellis F l u g s c h r i f t „G l i S ta t i Uni t i d ' E u r o p a e le v a r i e t e n d e n z e p o l i t i c h e " v o m O k t o b e r 1941 u n d d e r A n s a t z d e r S e k t i o n B a s e l d e r s c h w e i z e r i -s c h e n Europa-Union, d i e 1942 u n t e r d e r n a m h a f t e n M i t w i r k u n g v o n W. Hoegner und H. G. Ritzel mi t d e r A u s a r b e i t u n g e i n e r „ V e r f a s s u n g f ü r d i e Ve re in ig t en S t a a t e n v o n E u r o p a " b e g o n n e n und b i s 1 9 4 4 z u d i e s e m Z w e c k 8 0 S i t z u n g e n a b g e h a l t e n u n d , w i e W. Lipgens fes ts te l l t , e i n e n a u s g e r e i f t e n V e r f a s s u n g s e n t w u r f m i t e t w a 90 A r t i k e l n n a c h d e m b e k a n n t e n H a a g e r K o n g r e s s v o n 1 9 4 8 v e r ö f f e n t l i c h t ha t te . 1 2 7

124 Zitiert nach W. Lipgens (1968). S. 244 ff. 125 Zitiert nach W. Lipgens (1968). S. 56. Siehe aber auch das 1941 auf der italienischen

Verbannungsinsel Ventotene von den beiden Italienern A. Spinelli und E. Rossi berühmt gewordene Manifest von Ventotene.

126 H.J. Graf von Moltke, Letzte Briefe aus dem Gefängnis Tegel, 10. Auflage 1965. S. 20 f.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 59

Erwähnenswert ist auch der Verfassungsentwurf für die „United States of Europe", der im Rahmen der Faneuropa-Konferenz in New York 1944 vorgestellt wurde.128

b) Verfassungsentwürfe nach 1945129

aa) Hertensteiner Programm (1946)

Zahlreiche dieser und ähnlicher Vorstellungen fanden einen ersten gemeinsa-men Niederschlag nach dem Kriege im historischen Treffen von Persönlichkeiten des Widerstandes und europäischer Föderalisten vom 14.-21. September 1946 in Bern und am Vierwaldstätter See.:;i" Dabei einigten sich Vertreter aus zwölf euro-päischen Ländern131 und den USA auf den Zusammensehluss aller europäischen Einigungsbewegungen in einer „Aktion Europa-Union".132 Das Aktionsprogramm hatte zwölf Punkte, die sich zuvorderst mit dem Schutz der Menschenrechte be-fassten und eine klare Ablehnung der faschistischen Ideologien und des nationalen Protektionismus signalisierten. Sämtliche in diesem Dokument geforderten Punkte (u. a. föderativer Charakter der Union, keine neue Weltmacht, gemeinschaftliches Gericht zur Streitschlichtung, Anerkennung von Grund- und Freiheitsrechten, Wahrung der nationalen Eigenarten) fanden sich später in den Gemeinschaftsver-trägen bzw. im Unionsvertrag wieder.133

bb) Entwurf einer föderalen Verfassung der Vereinigten Staaten von Europa (1948)

Wenige Tage zuvor hatte W. Churchill in einer Aufsehen erregenden Rede in Zürich dazu aufgerufen, einen „Europarat" als ersten Schritt zu den „Vereinigten

127 Der Entwurf fiel durchaus „schweizerisch" aus: er garantierte Gemeindeautonomie, sah neben den Wahlen auch Abstimmungen zu Sachfragen vor und ging selbstverständlich von einer föderalistischen Bundesstruktur aus. Zeittypisch erachtete man allerdings mehr ..Staat" für nötig, als manche das heute wünschen (vgl. IV. Lipgens (1968). Text 22).

128 Texte mit kurzer Einführung bei A. Schäfer (Hrsg.), Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000.2001.

129 Vgl. vertiefend G. Brunn. Die europäische Einigung von 1945 bis heute. 2002; XI.-T. Bitsch. Histoire de la construction europeenne de 1945 ä nos jours , 1999. Siehe auch F. Knipping. Rom. 25. März 1957. Die Einigung Europas. 2004.

130 Das Treffen und den Text dokumentier t u .a . die Quelle unter ht tp: / /www.jef-niedersachsen.de/hertenstein.html.

131 Belgien. England. Frankreich. Griechenland. Holland. Italien. Liechtenstein. Polen. Österreich. Schweiz. Spanien. Ungarn.

132 Am 17. 12. 1946 erfolgte dann der Zusammenschluss zur ..Union Europeenne des Federalistes".

133 Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Euro-päischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000. 2001, II. 14.

60 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Staaten von Europa" zu bilden"4 ; die Aussöhnung und Partnerschaft Deutschlands und Frankreichs müsse hierfür die Grundlage bilden. Im Mai 1948 erneuerten Politiker und Vertreter privater europäischer Verbände aus fast allen Staaten Westeuropas den Appell für eine Einigung Europas und die Errichtung eines „Europarates" auf ihrem Haager Kongress, aus dem einige Monate später die Gründung der „Europäischen Bewegung" hervorging.135

Vor dem Hintergrund des in Den Haag vom 7. bis 10. Mai 1948 veranstalteten „Europa-Kongresses" erreichte die Diskussion um die europäische Einigung eine neue Intensität. Der französische Christdemokrat und Verfassungsbeauftragte der „Europäischen Parlamentarier-Union" F. de Menthon erarbeitete im Juni 1948 einen Entwurf für eine Versammlung von Abgeordneten der nationalen Parlamente in Interlaken (im September 1948), der erstmals eindeutige Regeln für die doppelte Konstituierung (Völker und Staaten) einer europäischen Föderation enthielt.136

Menthon umriss Organe der Föderation, wie z. B. ein Europäisches Parlament, das sich aus einer Abgeordnetenkammer (Vertreter der nationalen Parlamente) sowie aus einem Staatenrat (2 Vertreter der Mitgliedstaaten) zusammensetzen sollte. Da-neben würden ein Exekutivrat und ein Oberster Gerichtshof eingesetzt, wobei aus den Reihen des ersteren jeweils für ein Jahr der Präsident der Föderation gewählt werden sollte. Fachministerien ergänzten den Föderationsapparat. Die Föderation sollte die Zuständigkeit für die Sicherheit und Außenpolitik besitzen (die NA-TO entstand erst 1949/50) ebenso wie die alleinige Regulierungskompetenz zur Schaffung eines einheitlichen Wirtschaftsgebiets und der „Vereinheitlichung der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten". Der Entwurf enthielt aber keine detaillierten Regelungen hinsichtlich der Abgrenzung der Kompetenzen von Föderation und Mitgliedstaaten.

cc) Vorentwurf einer europäischen Verfassung (1948)

Auf ihrem zweiten Kongress in Rom erarbeitete die Union Europäischer Fö-deralisten einen Vorentwurf einer europäischen Verfassung, der am 1l .Novem-

134 Die Rede Churchills findet sich unter anderem bei W. Lipgens (Hrsg.), 45 Jah-re Ringen um die Europäische Verfassung. Dokumente 1 9 3 9 - 1 9 8 4 . Von den Schrif ten der Widerstandsbewegung bis zum Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments. 1986. S. 214 ff.

135 Es war die Zeit der großen Hoffnungen und entsprechenden Ambitionen, über einen Europäischen Verfassungsrat in einem Wurf und mit e inem Vorgriff auf eine ohnehin in diese Richtung weisende Zukunf t ein Vereinigtes Europa herzustellen. Im März 1948 wurde immerhin von 190 Abgeordneten des britischen Unterhauses und von 169 Abgeordneten der französischen Nationalversammlung die Einberufung einer Europäischen Verfassungs-gebenden Versammlung gefordert. Diese Initiative entsprach indessen nicht den realen Möglichkeiten, die offensichtlich ein schrittweises Vorgehen in Etappen nötig machten.

136 Vgl. IV. Loth, Entwürfe einer europäischen Verfassung. Eine historische Bilanz. 2002. S. 49 ff. "

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 61

ber 1948 verabschiedet wurde.117 Der Entwurf eines einheitlichen europäischen Bundesstaates enthielt weit reichende Regelungen hinsichtlich Zuständigkeits-verlagerung. Gewaltenteilung, Rechtsangleichung und der Vereinheitlichung der Wirtschaft. Eine Besonderheit war, dass der Entwurf ein Drei-Kammer-System aus Unterhaus (direkt gewählte Abgeordnete), Staatenkammer (bestimmt durch nationale Parlamente) und Wirtschafts- und Sozialkammer vorsah. Den nationalen Regierungen wurde im Rahmen der Ausgestaltung der Föderationsorganisation also keine entscheidungserhebliche Rolle zugewiesen. Der auf Vorschlag der drei Kammern vom Obersten Gerichtshof gewählte Präsident sollte einen Kanzler ernennen, der vom Parlament bestätigt werden musste. Der Entwurf enthielt eine Charta der Grundrechte, die über dem Verfassungsgesetz stehen sollte und die politische, wirtschaftliche und soziale Rechte von Einzelpersonen. Gruppen von Einzelpersonen und Körperschaften definierte. Zwar betonte der Entwurf das Sub-sidiaritätsprinzip, es mangelte ihm aber wiederum an einer klaren Abgrenzung der Kompetenzen von europäischem Bundesstaat und Mitgliedstaaten. Vorgesehen war, dass sich einzelne Staaten zu engeren Gemeinschaften zusammenschließen konnten.

dd) Entwurf einer europäischen Bundesverfassung (1951)

72 Mitglieder der Beratenden Versammlung des Europarates fanden sich un-ter dem Vorsitz des bereits oben benannten Präsidenten der Paneuropa Bewe-gung Graf Coudenhove-Kalergi im Februar 1951 in Basel zusammen, um ein „Verfassungskomitee für die Vereinigten Staaten von Europa" ins Leben zu ru-fen. Diese Kommission formulierte im Mai desselben Jahres in Straßburg einen sehr knappen (18 Artikel) Vor- und Rahmenentwurf einer europäischen Bundes-verfassung (Grundsätze, Befugnisse, Bundesbehörden. Verfassungsrevisionen). Hauptaugenmerk des Dokuments war der Bereich der Kompetenzen bzw. Kom-petenzverteilung. Grundlage war das Subsidiaritätsprinzip. Die Mitgliedstaaten sollten genau festgelegte Kompetenzen an den Bund übertragen. Als Bundesorgane waren Bundesparlament und Senat (Legislative), Bundesregierung („Bundesrat") und Bundesgericht vorgesehen.138

c) Wege zum Europarat

Jenseits aller Kongresse und Manifeste war auch ein ansehnlicher Teil der poli-tisch aktiven jüngeren Generation - vor allem in den früheren „Erbfeindländern"

137 Vgl. VV. Loth (2002). S. 55 ff. 138 Ein Abdruck dieses Verfassungsentwurfes findet sich u. a. bei P. C. Mayer-Tasch/

I.Contiades (Hrsg.), Die Verfassungen Europas. 1966. S . 6 3 I ff.; vgl. auch A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000. 2001.11.20.

62 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Frankreich und Deutschland - in diesen Jahren von der Idee erfasst, die Europa trennenden Schranken zu beseitigen und eine gemeinsame europäische Zukunft aufzubauen. Gleichwohl artikulierten sich diesbezüglich Zurückhaltende und Ge-genkräfte, die der Auffassung waren, das System der souveränen Nationalstaaten könne nicht (oder noch nicht) aufgegeben oder eingeschränkt werden. Zu ihren markantesten und einflussreichsten Vertretern zählte C. de Gaulle.139

Eine zusammenfassende Gegenüberstellung der grundsätzlichen Auffassun-gen zur Zukunftsgestaltung Europas, wie sie die politischen Diskussionen und Entscheidungen der Nachkriegsjahre bis zur Gründung der Europäischen Wirt-schaftsgemeinschaft wesentlich bestimmten, ist hier nur stark vereinfacht möglich. Bemerkenswert ist allerdings die Ähnlichkeit mancher Argumentationslinien zur Verfassungsdiskussion der jüngsten, vergangenen Jahre. Die „Zeitlosigkeit" der „europäischen Debatte" ist folglich gleichermaßen Ausdruck von stabilisierender Stringenz und ermüdender Stagnation.

Den damaligen Befürwortern einer „Neuordnung Europas" zufolge war das System der souveränen Nationalstaaten in Europa unfähig, zwischenstaatliche Konflikte gewaltlos zu lösen und damit implizit den Frieden zu sichern: auch wäre im „Schrebergartensystem" seiner Volkswirtschaften eine optimale Entfaltung der Produktionsfaktoren und damit des Wohlstandes kaum zu ermöglichen gewesen: schließlich stellte sich nicht nur angesichts der Erfahrungen der ersten Jahrhun-derthälfte die Frage, wie die gemeinsamen Interessen Europas in der Weltpolitik einschließlich seiner Verteidigung angemessen zu vertreten wären.

Konsequenterweise hätten diese Aufgaben in den Augen jener „Europäer" die Schaffung einer über den Nationen stehenden („supranationalen") gemeinsamen politischen Ordnung in Form eines föderalistischen Bundesstaates erfordert, zu dessen Gunsten die Einzelstaaten auf Teile ihrer Entscheidungsbefugnisse hätten verzichten müssen.

Demgegenüber wurde vertreten, Grundlage der politischen Identität der eu-ropäischen Völker und des durch sie legitimierten staatlichen Handelns seien nach wie vor die Nationalstaaten. Die zur Lösung der gemeinsamen europäischen Probleme und Aufgaben erforderlichen Schritte könnten nur so weit reichen, wie jeder beteiligte Staat aus eigener Entscheidung zu gehen bereit sei. Europäische

139 Für Großbri tannien hatte Churchill bereits in seiner Züricher Rede ein anderes Argument geltend gemacht: Es könne die europäische Einigung von außen fördern, aber selbst nicht daran teilnehmen, da es schon einer anderen Völkergemeinschaft angehöre, dem britischen Commonweal th of Nations (vgl. W. Churchill, a. a. O.). Mit der tatsächlichen Gestaltung Europas nach 1945 auf der Grundlage der alten nationalstaatlichen Ordnung (die. zumindest äußerlich, auch von der Sowjetunion in ihrem Machtbereich nicht in Frage gestellt wurde), war schließlich ein Faktum von eigenem Gewicht geschaffen, das mit zunehmender Entfernung vom Kriege und wachsendem Selbstbewusstsein der Staaten nach dem Wiederaufbau noch an Bedeutung gewann.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 63

Zusammenarbeit sei somit - zumindest vorerst - nur möglich in den Formen herkömmlicher internationaler Zusammenarbeit oder eines Staatenbundes der un-abhängigen („souveränen") Einzelstaaten, nicht aber durch deren Unterordnung unter Entscheidungen supranationaler Organe.

Die unterschiedlichen Vorstellungen in Europa über die Zukunftsgestaltung, insbesondere den Grad der Einigung des Kontinents, waren mit Ende des Zweiten Weltkrieges jedoch vielfältigen Einwirkungen der politischen Entwicklung unter-worfen, in erster Linie dem beginnenden, bald alles überschattenden Ost-West-Konflikt. Nach 1945 sah es trotz aller Einigungspläne für Europa zunächst so aus, als werde sich am wiederhergestellten System der unabhängigen Nationalstaaten kaum etwas ändern. Mit der Teilung Europas, das heißt der Eingliederung der osteuropäischen Staaten und der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands in den Machtbereich der UdSSR, ergaben sich jedoch bald völlig neue Interessen-konstellationen und Impulse zur Einigung (nunmehr) Westeuropas. Sie waren bestimmt vom Bedürfnis der USA und Westeuropas nach Sicherheit, wirtschaftli-cher Stabilität und Eindämmung des Kommunismus.1 '10

Vor dem Hintergrund des bestimmenden Einflusses der beiden Supermächte über Europa war der erste Schritt zu einer von den Europäern selbst ausgehenden organisierten Zusammenarbeit, zu der sich bald die Mehrzahl der westeuropäi-schen Staaten bereit fand, geprägt vom Kompromiss. Der am 5. Mai 1949 von zunächst zehn Staaten in Straßburg gegründete Europarat erhielt einerseits keine supranationalen Befugnisse, wie vor allem die Europäische Bewegung es forderte. Andererseits bedeutete er das Äußerste dessen, was die zurückhaltenderen Staaten an Einigung akzeptieren konnten. Der Kompromiss spiegelt sich auch in Gestal-

u o Die Bundesrepublik Deutschland entschied sich nach ihrer Gründung 1949 unter ihrem ersten Bundeskanzler K. Adenauer ebenfalls fü r den Weg der Westintegration und der Beteiligung an der westlichen Verteidigung. Die sich damit bietende Chance zur gleich-berechtigten Aufnahme in die europäische Staatengemeinschaft , zum wirtschaftl ichen Wiederaufbau und zur Sicherung der jungen Demokrat ie gegenüber dem Kommunismus wurde mehrheitlich auch als Voraussetzung für die Wiedervereinigung Deutschlands gese-hen. Im GG wird neben dem Bekenntnis zur Einheit und Freiheit Deutschlands der Wille ausgedrückt, „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu d ienen" ( Präambel); in Art. 24 Abs. 1 GG ist erstmals in einer deutschen Verfassung die Möglichkeit vorgesehen, dass der Bund ..durch Gesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertra-gen" könne. ..Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen: er wird hierbei in die Beschränkungen seiner Hoheits-rechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern", Art. 24 Abs. 2 GG. Andere Staaten Westeuro-pas waren zu einer supranationalen Einigung zunächst nicht bereit oder in der Lage - sei es wegen auferlegter oder selbst gewählter Neutralität wie bei Finnland. Österreich. Schweden und der Schweiz, aufgrund autoritärer Regime wie in Spanien und Portugal oder aus ei-ner historisch-politisch begründeten Zurückhaltung wie bei Großbritannien (insbesondere durch seine Bindungen im weltweiten Commonweal th) und den skandinavischen Staaten, die im 1951 gegründeten Nordischen Rat eine engere Zusammenarbei t einleiteten.

64 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

tung. Zusammensetzung und Wirkkraft der wichtigsten Organe des Europarates wider.141

Auch wenn dem Europarat supranationale Entscheidungsbefugnisse fehlen, sind seiner freiwilligen Zusammenarbeit nicht unbedeutende Erfolge zu verdan-ken. Sie betreffen die Angleichung von Politik und Gesetzgebung der Mitglied-staaten in Teilbereichen von Erziehung und Bildung. Rechtswesen. Sozialpolitik und Umweltschutz, kulturelle Initiativen sowie nicht zuletzt die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)142; sie bietet die Möglichkeit, wegen Men-schenrechtsverletzungen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg Klage zu erheben. Eine verfassungsgeschichtliche Be-trachtung Europas (wie der Europäischen Union) wäre ohne einen Blick auf die Errungenschaften des Europarates unvollständig.

d) „Verfassungsentwürfe " ab 1952

aa) Die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (1952)

1952 erschien eine unmittelbare politische Integration aufgrund zu großer nationaler Gegensätze noch nicht möglich. Stattdessen unterzeichnete man am 18. April 1951 den - in erster Linie als enge wirtschaftliche Kooperation geschaf-fenen - EGKS-Vertrag143 und hoffte, dass dies „automatisch" auch die engere politische Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten mit sich bringen würde. Dieser Gedanke war auch in der Organisation der EGKS enthalten, die eine Versamm-lung (d. h. ein Parlament), eine Hohe Behörde, den Gerichtshof und den Minis-terrat vorsah. Bemerkenswert ist, dass Art. 21 EGKSV bereits eine Direktwahl der Delegierten zur Versammlung benannte. Die gegenseitige Abhängigkeit und Überwachung der Organe sollte eine rechtsstaatliche Legitimation gewährleisten.

141 Vgl. aus der umfangreichen Lit. zum Europarat K. Carstens, Das Recht des Euro-parates, 1956: J.-L Burban, Le Conseil de l 'Europe. 1985 (2eme ed. 1993); A. Gimbal, Europarat in Bedrängnis. Notwendige Reformen und Konsequenzen, in: Internationale Poli-tik 12/1997. S. 45 ff.; R. Streinz, Einführung: 50 Jahre Europarat, in: ders. (Hrsg.), 50 Jahre Europarat. Der Beitrag des Europarates um Regionalismus, 2000. S. 17 ff.; M. Wittinger, Der Europarat. Die Entwicklung seines Rechts und der „europäischen Verfassungswerte", 2005.

142 Hierzu beispielsweise G.C. Rodriguez Iglesias, Die Stellung der E M R K im Euro-päischen Gemeinschaf tsrecht , in: U. Beyerlin u. a. (Hrsg.), Recht zwischen Umbruch und Bewahrung. Festschrift für R.Bernhardt . 1995. S. 1269 ff . : M. Hilf. Europäische Union und Europäische Menschenrechtskonvention, in: U. Beyerlin u. a. (Hrsg.), Recht zwischen Umbruch und Bewahrung. S. 1193 ff . : C. Busse. Die Geltung der E M R K für Rechtsakte der EU, in: NJW 2000. S. 1074 ff.: H. Waldock. Die Wirksamkeit des Systems der E M R K . in: E u G R Z 1979. S. 599 ff.

143 Vgl. etwa bereits K. Carstens, Die Errichtung des Gemeinsamen Marktes in der Europäischen Wirtschaf tsgemeinschaft . Atomgemeinschaf t und Gemeinschaf t fü r Kohle und Stahl, in: ZaöRVR 18 (1958), S . 4 5 9 ff.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 65

Der EGKS-Vertrag kann als erste „Vertragsverfassung" bezeichnet werden, die konkrete und wirksame Schritte in Richtung einer gemeinsamen politischen Union einleitete. Er lief am 23. Juli 2002 aus.

bb) Entwurf eines Vertrages über die Satzung der Europäischen Gemeinschaft - Entwurf der ad-hoc Versammlung der EGKS (1953)

Kontrastierend zur „pragmatischen Integrationsmethode" ist die Verfassungs-idee Teil eines permanenten Diskussionsprozesses über Reform und Gestaltung der europäischen Einigung gewesen und rückte immer dann auf die Tagesordnung, wenn die Integration in eine neue Phase trat oder in eine Krise geriet.144 Der erste politisch bedeutsame Entwurf für eine konstitutionelle Neugründung Euro-pas entstand im Nachkriegseuropa 1953 im Zusammenhang mit den Plänen zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und Europäischen Politischen Gemeinschaft (EPG). Dieser Ansatz ist auch in klarer Abgrenzung zu den Ver-fassungsentwürfen der benannten Gruppen der Europabewegung während und direkt nach dem Zweiten Weltkrieg zu sehen, deren Pläne meist die Umwandlung Europas in einen föderalen Bundesstaat mit eigener Haushaltskompetenz, ge-meinsamer Armee und weitreichenden legislativen und exekutiven Kompetenzen implizierten.145 Während sich 1950 die Erkenntnis durchgesetzt hatte, dass „Euro-pa sich nicht mit einem Schlage" herstellen lassen könne, sondern mit der EGKS nur eine „erste Etappe der europäischen Föderation"146 auf wirtschaftlichem Ge-biet zu verwirklichen war, gewann die Gründung einer umfassenden politischen Gemeinschaft während des Koreakriegs und der damit verbundenen deutschen Wiederbewaffnung erneut an Bedeutung. Analog zum Modell des Schuman-Plans schlug Frankreich eine frühzeitige Einbindung Deutschlands in ein supranational organisiertes europäisches Sicherheitssystem vor.

Letztlich beschlossen die sechs Außenminister der Montanunion auf Anre-gung von J.Monnet (Präsident der Hohen Behörde der Montanunion) und P.-H. Spaak (Vorsitzender der europäischen Beratenden Versammlung des Euro-parates) eine aus den parlamentarischen Mitgliedern der EGKS und einigen Mitgliedern der Beratenden Versammlung des Europarates zusammengesetzte „ad hoc"-Versammlung zu beauftragen, einen Vertragsentwurf für eine Europäi-sche Politische Gemeinschaft zu erarbeiten. Diese „verstärkte" Versammlung der EGKS bildete einen Verfassungsausschuss, der einen Vertragsentwurf147 ausar-

144 Vgl. W. Weidenfeld. Wie Europa verfaßt sein soll. Materialien zur Politischen Union. 1991. S .76 .

145 Hierzu die Dokumente in W. Lipgens. 45 Jahre Ringen um eine europäische Verfas-sung. Bonn 1986.

146 . .Erklärung zur Montanunion", 9. Mai 1950. in: W. Lipgens, 45 Jahre Ringen um eine europäische Verfassung. Bonn 1986. Dok. 67, S. 293 f.

66 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

be i t e t e . D i e s e n E n t w u r f l e g t e d i e V e r s a m m l u n g a m 9 . M ä r z 1 9 5 3 vor. E r w u r d e

v o m Rat d e r s e c h s A u ß e n m i n i s t e r d e r E G K S a m 10. M ä r z geb i l l i g t .

Z w a r w a r d e r „ A d - h o c - E n t w u r f " v o r s i c h t i g e r f o r m u l i e r t a l s d i e P l ä n e d e r f ö -d e r a l i s t i s c h e n B e w e g u n g ( „ V e r f a s s u n g " o d e r . . B u n d e s s t a a t " t a u c h t e n a l s B e g r i f f e n ich t a u f ) , d o c h inha l t l i ch r i c h t e t e s i ch d e r P l a n w e i t g e h e n d a m L e i t b i l d e i n e s e u r o p ä i s c h e n B u n d e s s t a a t e s a u s . E i n i g e „ V e r f a s s u n g s f u n k t i o n e n " 1 4 8 , w i e d i e L e g i -t i m a t i o n s 1 4 9 - und O r g a n i s a t i o n s f u n k t i o n 1 5 0 d e r v o r g e l e g t e n K o n z e p t i o n ges t a l t e t en s i ch ä h n l i c h d e n E n t w ü r f e n de r E u r o p a b e w e g u n g : e i n e d e m o k r a t i s c h l eg i t im ie r t e , f ö d e r a l e O r g a n i s a t i o n s s t r u k t u r m i t e i n e r w e i t g e h e n d g l e i c h b e r e c h t i g t e n V ö l k e r -und S t a a t e n k a m m e r ( S e n a t ) n a c h a m e r i k a n i s c h e m M o d e l l ( A r t . 1 1 u n d 16), w e l -c h e a u c h d i e H o h e i t ü b e r d e n H a u s h a l t e r h a l t e n so l l t e ( A r t . 7 5 ) . Z u d e m so l l t e d a s P a r l a m e n t d e n „ E u r o p ä i s c h e n E x e k u t i v r a t " mi t P r ä s i d e n t und M i n i s t e r n k o n -t ro l l ie ren (Ar t . 3 1 ) . G e m e i n s c h a f t s r e c h t so l l t e V e r f a s s u n g s v o r r a n g g e g e n ü b e r d e n M i t g l i e d s s t a a t e n e r h a l t e n ( A r t . 4 ) u n d e i n k l a g b a r bei e i n e m G e r i c h t s h o f sein (Ar t . 3 8 - 4 9 ) . D e r E n t w u r f v e r f ü g t e ü b e r k e i n e n M e n s c h e n r e c h t s k a t a l o g , s a h a b e r

147 Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Euro-päischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000. 2001,11.23.b) .

148 Die Unterteilung in Funktionen der Verfassung als Analyseraster ist in ihren Grund-zügen C. Walten Die Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion, in: DVB1 2000. S. I ff.. 5 f. entlehnt.

149 Indem sie die Macht dem subjektiven Belieben ihrer Träger entzieht und sich auf den Willen eines souveränen Volkes stützt, hat die Verfassung zunächst die Funktion. Machtausübung zu legitimieren. Indem sie sich auf die Volkssouveränität als pouvoir constituant beruft , schafft sie die Grundlage für die Ausübung von Hoheitsgewalt überhaupt: Weil nur die Verfassung aus den vorrechtlichen Gegebenheiten der verfassungsgebenden Gewalt der Gemeinschaft abgeleitet ist, muss sich jedes Organ. Gesetz und jeder Rechtsakt auf die Verfassung zurückführen lassen. Sie ist damit der Maßstab allen rechtlichen und politischen Handelns. Weil die Verfassung in der Hierarchie der Normen an oberster Stelle steht, muss sie gegenüber dem einfachen Gesetzesrecht verbindlich durchsetzbar sein. Diese Durchsetzbarkeit kommt üblicherweise einem Verfassungsgericht zu. Es verfügt außerdem über die sogenannte Kompetenzkompetenz, im Namen der verfassungsgebenden Gewalt Unvollständigkeiten in der Verfassung durch neue Staatsaufgaben zu ergänzen, vgl. auch C. Koenig, Ist die europäische Union verfassungsfähig?, in: DÖV 1998. S. 268 ff., 272.

150 Die Verfassung legt die Organ i sa t ion - und Verfahrensregeln fest, die eine den Legi-timationsprinzipien konforme Handhabung der öffentl ichen Gewalt garantieren. Deshalb enthalten Verfassungen Bestimmungen über die Einrichtung und Ausübung der Hoheitsge-walt. die Missbräuche verhüten sollen und so meist nach dem Prinzip der Gewaltenteilung zwischen Exekutive. Legislative und Judikative die Kompetenzen der einzelnen Organe verbindlich festlegen, vgl. D. Grimm. Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995 (12), S. 581 ff. , 584. Der enge Zusammenhang von Organisations- und Legit imationsfunktion zeigt sich besonders an der verfassungsmäßigen Rolle des Parlaments. Dieses soll im Namen des souveränen Volkes die Regierung kontrollieren und ihr im äußersten Fall auch das Vertrauen entziehen, d. h. sie absetzen können. Gleichzeitig initiiert das Parlament als Repräsentant des Volkes die Gesetze und garantiert so die demokratische Mitgestaltung ge-sellschaftlicher Prozesse. Damit wird das parlamentarische Gesetz das zentrale Instrument der Herrschaftsausübung.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 67

die Aufnahme der EMRK als „integrierten Bestandteil" vor (Art. 3). Die Kompe-tenzen der Gemeinschaft waren allerdings begrenzter als in den Verfassungsplänen der Europabewegung. Der ..Rat der nationalen Minister", der dem Ministerrat der Montanunion und EVG entsprechen sollte, konnte in zentrale Zuständigkeitsgebie-te der Gemeinschaft eingreifen (Art. 104) Auch die Außenpolitik sollte lediglich von der Gemeinschaft koordiniert werden, aber „durch einstimmigen Beschluß" des Ministerrats (Art. 69).

Diese zögerlichen Formulierungen lassen eine Deutung auf den Wandel der europapolitischen Interessen zu Ungunsten eines verfassungspolitischen Integrati-onssprungs zu, welcher letztlich zum Scheitern des Ad-hoc-Entwurfs führte. Das Ende der Koreakrise im Jahr 1953 nahm den Antrieb zur Gründung einer EVG und EPG. Vor allem Frankreich erschien der Preis eines nationalen Souveräni-tätsverlustes zugunsten einer europäischen Armee zu hoch. Der Verfassungsent-wurf scheiterte zusammen mit der EVG in der französischen Nationalversammlung (30. August 1954). Mit dem Entwurf wurde auch das Leitbild eines föderalen Bun-desstaates ad acta gelegt, und die europäische Verfassungsdebatte ebbte zunächst ab. Die Integrationsbemühungen verlagerten sich auf den wirtschaftlichen Be-reich, in dem sich die verschiedenen Motive und Interessen der Mitgliedsstaaten erfolgreicher bündeln ließen. Das Verfassungsmodell reduzierte sich auf eine rein rhetorische Figur. Leitbilder wie „Vereinigte Staaten von Europa"151 wirkten „wie der Aufputz von Sonntagsreden"152.

cc) Römische Verträge (1957)

Die von der Regierungskonferenzder sechs Gründungsstaaten (Belgien. Deutsch-land. Frankreich. Italien. Luxemburg, Niederlande) unter dem Vorsitz von P.-H. Spaak verfassten Verträge über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) betrafen - anders als bei der EGKS - die gesamte Volkswirtschaft der Mitgliedstaaten. Die Römischen Ver-träge153 übernahmen im Wesentlichen die institutionelle Gestaltung der EGKS und sahen einen Rat, eine Kommission und ein Parlament vor. Dabei war der Rat zunächst praktisch als alleiniger Gesetzgeber der Gemeinschaft konzipiert.154

151 Siehe aber T.R. Reid. The United States Of Europe: The New Superpower and the End of American Supremacy. 2005.

152 H. Schneider, Alternativen der Verfassungsfmalität : Föderation, Konföderati-on - oder was sonst?, in: Integration. 3 /2000 . S. 171 ff., 171; siehe auch W. Weidenfeld. Europäische Verfassung fiir Visionäre?, in: Integration. 1/1984. S. 33 ff. . S. 38.

153 Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Euro-päischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000. 2001, II .24.b).

154 Im Einzelnen z. B. W. Loth, Entwürfe einer europäischen Verfassung. Eine histori-sche Bilanz. 2002. 16 ff.

68 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Schon damals wurde daher ein Defizit an Handlungsfähigkeit (Einstimmigkeit im Rat) und an parlamentarischer Kontrolle konstatiert.

e) Mythos und Ergebnis der 1950er Jahre

Gerade angesichts der gelegentlich romantisierenden und den Vergleich zu den USA suchenden Bezeichnung „Gründerväter der Europäischen Gemeinschaften" (bzw. überaus gewagt der „Europäischen Union") ist zu fragen, ob sich die Betei-ligten in den 50er-Jahren des vorigen Jahrhunderts auch über die Ausgestaltung der hoheitlichen öffentlichen Gewalt der Europäischen Gemeinschaften überhaupt Gedanken gemacht haben bzw. machen mussten. Aufgrund der Qualifizierung der Gemeinschaften als lediglich „funktionelle Zweckverbände wirtschaftlicher Inte-gration"155. die vordergründig keine wie immer gearteten „verfassungsrechtlichen" Probleme aufwerfen konnten -soll auch im Hinblick auf die „Verfassungsdebatte" im Rahmen des „Europäischen Konvents"156 dieser Fragestellung nachgegangen werden. Tatsächlich haben sich die „europäischen Gründungsväter" sehr intensiv mit der Thematik der Ausgestaltung und Strukturierung der hoheitlichen öffentli-chen Verbandsgewalt beschäftigt, die sie den drei Europäischen Gemeinschaften mitzugeben beabsichtigten. Sie fanden hierbei auch umfassende Unterstützung durch die Lehre, wie die Fülle einschlägiger Gutachten belegt, die in der zweiten Jahreshälfte 1952 von führenden deutschen Staatsrechtslehrern verfasst wurden.157

Auslöser war die vorgesehene Übertragung von Hoheitsrechten der Bundesrepu-blik Deutschland auf die geplante EVG und Gegenstand der Auseinandersetzung war die von H. Kraus erhobene Forderung nach „struktureller Kongruenz und Ho-mogenität" der hoheitlichen, öffentlichen Verbandsgewalt der EVG im Verhältnis zur Staatsgewalt ihrer Mitgliedstaaten, im konkreten Fall jener der Bundesrepu-blik.158

155 Vgl. H.-P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht , 1972. S. 196. 156 Hierzu unten B. IV.2 . f )oo) . 15 Gesammelt in den Veröffentlichungen des Institutsßir Staatslehre und Politik e. V. in

Mainz (Hrsg.), Der Kampf um den Wehrbeitrag. Bd. 2, 2. Halbband: Das Gutachtenverfah-ren (30 .7 . -15 .12 . 1952), 1953.

158 Nach der später . .Lehre" genannten These von der notwendigen ..strukturellen Kon-gruenz und Homogeni tä t" durf ten gem. Art. 24 Abs. 1 GG deutsche Hoheitsrechte nur an solche zwischenstaatl ichen Einrichtungen übertragen werden, deren Struktur d e m staats-rechtlichen. rechtsstaatlichen Aufbau des nach dem GG verfassten bundesrepublikanischen Staatswesens . .kongruent" ist. Die jüngste „Verfassungsdebatte" in der Europäischen Union nahm dabei Überlegungen auf. die sich bereits 1952 im Zuge der Diskussion bezüglich der Übertragung von Hoheitsrechten Deutschlands auf die geplante EVG entspannen (vgl. dazu W. Hummer, Eine Verfassung für die Europäische Union - eine Sicht aus Österreich, in: H. T immermann (Hrsg.), Eine Verfassung für die Europäische Union. Beiträge zu einer grundsätzlichen und aktuellen Diskussion. 2001).

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 69

Der Ansatz von der notwendigen „strukturellen Kongruenz und Homogenität" der Verbandsgewalt internationaler/supranationaler Organisationen im Allgemei-nen und der EVG im Speziellen in Bezug auf die Staatsgewalt ihrer Mitgliedstaaten wusste sich - wie soeben beschrieben - aber nicht durchzusetzen.

Im Ergebnis erscheint es nicht vermessen, die Europäischen Gemeinschaften konzeptionell als eine „inkongruente" und „inhomogene" Verbandsgewalt „sui generis" zu bezeichnen - und zwar nicht nur ohne Gewaltenteilung, sondern sogar „gewaltenfusionierend" (mit einem exekutiv rekrutierten Rat als Hauptlegisla-tor), ohne Grundrechtskatalog, ohne vertikale Kompetenzverteilung, mit einem Europäischen Parlament ohne Legislativbefugnisse etc. -. die sich bewusst vom staatsrechtlichen Modell ihrer Mitgliedstaaten abhob.1-" Hervorzuheben ist, dass die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften in keiner der Ratifika-tionsdebatten in den sechs Gründungsstaaten verfassungsrechtlichen Bedenken begegneten, und die parlamentarischen Genehmigungsverfahren mit großen Mehr-heiten erfolgten.160

f) Stationen zur Europäischen Verfassung - eine Auswahl aus 40 Jahren

aa) Der Entwurf von Max Imboden (1963)

Unter den Ideen der 60er- und 70-er Jahre des 20. Jahrhunderts ist neben den Fouchet-Plänen (Februar 1961)161 und dem Davignon-Bericht (1970)162 sowie dem Tindemans-Bericht (1975)161 insbesondere der Entwurf von M. Imboden 164

159 So auch W. Hummer. „Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode. Instru-mente zur Verstaatlichung der Union, in: Politische Studien, Der Europäische Verfassungs-konvent - Strategien und Argumente , Sonderheft 1/2003. S. 53 ff. . 55.

1611 Vgl. etwa H.-J. Küsters. Die Gründung der Europäischen Wirtschaf tsgemeinschaft . 1982. S. 472 ff.; S. Griller/F. MaislingerlA. Reindl (Hrsg.), Fundamentale Rechtsgrundla-gen einer EG-Mitgl iedschaft . 1991, S. 236 ff.

161 Hierzu u. a. Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Eu-ropäische Union 2004. Bilanz und Perspektive. 2004, S. 7. 1962 waren die so genannten Fouchet-Pläne grandios gescheitert, die gleichfalls eine engere politische Zusammenarbei t und sogar eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik beabsichtigten. Trotz allem wurde bereits ein Jahr darauf der Dcutsch-Französische-Freundschaftsvertrag unterzeich-net. die Init ialzündung für den so genannten (bis heute nicht unumstri t tenen) ..Motor der Integration".

162 Vgl. etwa S. Petkovic, Geschichte der politischen Integration in Europa - Teil 2 (von der EPZ zum Vertrag von Nizza), 2003, S. 6 f. im Internet: cdl.niedersachsen.de/blob / images/C4786923_L20.pdf . Siehe übrigens aus den 70cr Jahren auch den Verfassungsent-wurf von J. Dorren (1977). abrufbar unter http:/ /www.uni-trier.de/~ievr/eu_verfassungen /dorren.htm.

16 ' Vgl. W. Wessels, Europäische Union 1980. Fragen und Thesen im Hinblick auf den Tindemans-Bericht zur Europäischen Union. 1975: Niedersächsischen Landeszentra-le für politische Bildung (Hrsg.) (2004), S . 8 . Tindemans ..Bericht über die Europäische

70 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

hervorzuheben. Er hielt den „funktionalen" Ansatz der EWG, bei dem die Einheit letztlich durch gemeinschaftliche Ausübung von Funktionen erreicht werden soll, für unzulänglich. In Anlehnung an die Verfassungen der USA, der Schweiz und das deutsche Grundgesetz (GG) wollte Imboden versuchen, „den noch schwer fassbaren konkreten funktionellen Inhalten ein festes politisches Gefäß zu ge-ben." Diese Ordnung sollte der Gemeinschaft „über situationsbedingte Erfolge und Misserfolge hinaus innere und äußere Beständigkeit sichern."165 Er sah die Organe ..Rat"(als Regierung), „Europäische Versammlung"-bestehend aus Abge-ordnetenhaus (Volkswahl) und Senat (Länderkammer) - sowie einen Gerichtshof vor. Art. 18 gewährleistete Grundrechte und in Artikel 2 2 - 2 5 ist ausdrücklich eine Friedenspflicht der Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten und Dritten enthalten.166

Seit Gründung der EWG (1958) standen Erfolge und Rückschläge im Eini-gungsprozess in einem dynamischen Wechselspiel. Bereits 1968 war die Zolluni-on verwirklicht. Mit dem vertragswidrigen Verzicht auf Mehrheitsentscheidungen wurde jedoch zwei Jahre vorher ein entscheidendes Instrument supranationaler Politik außer Kraft gesetzt. Entscheidungen waren demzufolge nur noch auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Einstimmigkeit möglich.

bb) Die Verfassungsdiskussion 1 9 8 4 -Das Europäische Parlament als Akteur

<1) Ausgangspunkte der Debatte

Es zählt zu den bemerkenswerten, wenngleich verfassungstheoretisch stringen-ten Begebenheiten, dass die ersten umfassenderen und inhaltlich kohärenteren Verfassungsentwürfe parlamentarischen Ursprungs sind. Das trifft sowohl auf den Verfassungsentwurf 1984 als auch auf den Verfassungsentwurf 1994 zu, die jeweils vom Europäischen Parlament vorgelegt worden sind. Aufgrund offensicht-licher Parallelen zum jüngsten Verfassungsvertrags-Entwurf soll die Darstellung der Ansätze von 1984 und 1994 entsprechend umfassender ausfallen.

Union" empfahl eine durchaus föderale Gestal tung der Union, ein „Europa der Bürger", deren Grundrechte zu schützen seien, die Stärkung der Sozial- und der Regionalpolitik, erhöhten Verbraucher- und Umweltschutz. Die schrittweise Weiterentwicklung der Union könne, wenn einzelne Staaten noch nicht zu weiterer Integration bereit seien, auch mit verschiedenen Geschwindigkeiten verwirklicht werden. Die Vorschläge fanden Zustim-mung, verschwanden aber in den Schubladen und wurden zum Teil erst viele Jahre später umgesetzt.

164 Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Euro-päischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000. 2001,11.26.

165 Zitat nach R. Streinz/C. Ohlerl C. Hertmann. Die neue Verfassung für Europa. Ein-führung mit Synopse. 2005, S . 4 .

166 P. Häberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006, 33 (Fn. 132) ordnet Imbo-dens Entwurf als „Bauteil innerstaatliche[n) Europaverfassungsrecht[s]" ein.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 71

Vergleichbare Initiativen innerhalb des Europäischen Parlaments gewannen be-reits nach dessen erster Direktwahl im Jahre 1979 an Schubkraft. Einflussreiche Kreise hielten es nach der ersten Direktwahl für eine historische Pflicht, als ers-tes von den europäischen Bürgern direkt gewähltes Parlament einen Entwurf für eine Union vorzulegen, der anschließend den Mitgliedsstaaten zur Ratifizierung vorgelegt werden sollte. Hervorzuheben ist vor allem der italienische Abgeord-nete A. Spinelli, der vehement für diese Initiative kämpfte. Einen ersten Erfolg und Höhepunkt konnte Spinelli mit dem Beschluss des Plenums des Europäi-schen Parlaments vom 9. Juli 1981 erzielen, welcher vorsah, einen Institutionellen Ausschuss im Europäischen Parlament einzurichten, der Vorschläge für die Ver-wirklichung einer Europäischen Union erarbeiten sollte. Im September 1983 legte der Institutionelle Ausschuss den Vorentwurf eines Vertrages vor. Unter Mitwir-kung der so genannten Juristenkommission (vertreten durch die Professoren Hilf, Jacobs, Jaque und Capotori) entstand schließlich ein endgültiger Entwurf, den das Europäische Parlament am 14. Februar 1984 mit großer Mehrheit verabschie-dete.'67

(2) Grundgedanken des Verfassungsentwurfs des Europäischen Parlaments

Von anderen vorherigen und auch nachfolgenden Textentwürfen unterscheidet sich der Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments aus dem Jahre 1984 sowohl hinsichtlich seiner Legitimation als auch in Bezug auf seine inhaltliche Architektur und Geschlossenheit. Die Initiative des Europäischen Parlaments war als Akt echter Verfassunggebung intendiert, der sich mit anderen bisherigen Entwürfen nicht vergleichen ließ. Laut Spinelli verstand sich das erste direkt gewählte Europäische Parlament als „verfassungsgebende Versammlung", die den Unionsbürger legitim vertritt, gegenüber dem Ministerrat trotz zahlreicher Initiativen aber weitgehend machtlos geblieben war.16*

A. Peters charakterisiert den Verfassungsentwurf 1984 (wie auch den aus dem Jahre 1994) als „in dem Sinne revolutionär", als er sich als normativ diskontinu-ierlich zum geltenden Verfassungsrecht auffasste.169 Festzuhalten ist, dass dieser Entwurf ausschließlich eine Initiative des Europäischen Parlaments darstellt. Die Regierungen hatten zur Ausarbeitung dieses Verfassungsentwurfs weder einen Auftrag erteilt noch waren sie an den Verhandlungen über die Formulierungen des Textes beteiligt. Das Europäische Parlament hat sich diesen Aufgaben vielmehr mit dem selbst gesetzten Anspruch eigener Legitimation und unter Inanspruch-

167 Vgl. ABl. Nr. C 77 /1984 . S. 33, abgedruckt auch in: Ausschuss für die Angelegen-heiten der Europäischen Union (Hrsg.), Verfassungsentwürfe fü r die Europäische Union. Texte und Materialien. Bd. 35 (2002). S. 3 ff.

16!> Vgl. A. Spinelli. Das Verfassungsprojekt des Europäischen Parlaments, in: J. Schwarze (Hrsg.). Eine Verfassung für Europa. Von der EG zur EU, 1984. S. 231 ff.. 242.

169 A. Peters. Elemente einer Theorie der Verfassung Europas. 2001. S . 4 9 2 f .

72 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestä t igung

nähme eines konstitutionellen Initiativrechts unterzogen. Insgesamt ein Vorgang, der von einem beachtlichen parlamentarischen Selbstbewusstsein zeugte.

Der Verfassungsentwurf ist in vielerlei Hinsicht als bemerkenswert zu bezeich-nen. Er legt zwei Aktionsweisen der Union fest, die im weiteren Sinne auch noch heute deren Funktionieren zu bestimmen wissen: Einmal die vom Europäischen Parlament so genannte gemeinsame Aktion und zum anderen die Zusammenarbeit. Unter gemeinsamen Aktionen versteht der Verfassungsentwurf Rechtshandlungen, die von den Institutionen der Union ausgehen und sich entweder an diese selbst, an die Staaten oder an Einzelne richten, unter Zusammenarbeit werden die Verpflich-tungen subsumiert, die die Mitgliedsstaaten im Rahmen des Europäischen Rates eingehen. Ausdrücklich vorgesehen ist, dass Gegenstände, die bisher der Zusam-menarbeit zwischen den Staaten unterliegen. Gegenstand gemeinsamer Aktionen werden können, im Interesse der Erhaltung des europäischen Integrationsgrads jedoch nicht umgekehrt.

Bezüglich der Politiken der Union wird in dem Verfassungsentwurf unter je-weils enumerativer Benennung zwischen „ausschließlicher, konkurrierender und potentieller Zuständigkeiten" unterschieden. Die Gewaltenteilung erscheint durch die Differenzierung in supranationale, „gemeinsame Aktionen" und bloße „Zu-sammenarbeit" gewährleistet (Art. 10). Auch berief man sich bekräftigend auf das Subsidiaritätsprinzip. In die ausschließliche Zuständigkeit sollten etwa Bestim-mungen über den Binnenmarkt und die Freizügigkeit sowie den Wettbewerb, in die konkurrierende Zuständigkeit die Konjunktur- und Kreditpolitik, aber auch weite Bereiche der Gesellschaftspolitik lallen. Hinsichtlich der internationalen Beziehungen der Union sollte die Union teilweise durch gemeinsame Aktionen, teilweise im Wege der Zusammenarbeit agieren können. Zentral ist die ausdrück-liche Festlegung, dass im Falle einer ausschließlichen Zuständigkeit der Union allein die Institutionen der Union handlungsbefugt sein sollten. Im Falle der kon-kurrierenden Zuständigkeit waren die Mitgliedsstaaten nur insoweit zur Handlung befugt, als die Union nicht tätig geworden wäre.

Einen gewissen Innovationsgrad besitzen in dem Verfassungsentwurf vor allen Dingen die Bestimmungen über die gesetzgebenden Organe und das Gesetz-gebungsverfahren. Nach Art. 36 des Entwurfs sollten nämlich das Europäische Parlament und der Rat der Union gemeinsam unter aktiver Beteiligung der Kom-mission die Gesetzgebungsbefugnis ausüben. Unter bestimmten Voraussetzungen wurde auch dem Europäischen Parlament Gesetzesinitiativrecht eingeräumt. Die zur Ausführung der Gesetze erforderlichen Verordnungen und Beschlüsse sollten von der Kommission erlassen werden, die sich dabei an die im Gesetz vorge-sehenen Verfahren zu halten hatte. Neu war das Instrument der so genannten Organgesetze, die den organisatorischen Aufbau und die Funktionsweise der Insti-tutionen regeln sollten (Art. 34 II). Dieses Verfahren würde es der Union erlauben, wichtige Modalitäten über das eigene Funktionieren selbst zu regeln, ohne auf die Ratifizierung durch die nationalen Parlamente angewiesen zu sein. Bezüglich

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 73

der Mehrheitserfordernisse ist festzuhalten, dass für Abstimmungen im Rat die Beschlussfassung mit einfacher Mehrheit, das heißt mit der Mehrheit der abgege-benen gewogenen Stimmen ohne Berücksichtigung der Enthaltungen, die Regel sein sollte.

Beachtlich ist, wie sich der Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments zu den Grundrechten verhielt. So sollte auch die Begrenzungsfunktion1" europäischer Hoheitsgewalt gegenüber dem Unionsbürger mittels einer Verfassung erweitert werden. Ausdrücklich erwähnt wurde in Art. 41 nur die Menschenwürde. Ansons-ten verwies der Verfassungsentwurf auf die Grundrechte und Grundfreiheiten, „die sich insbesondere aus den gemeinsamen Grundsätzen der Verfassungen der Mitgliedsstaaten und der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschen-rechte und Grundfreiheiten ergeben". Der Entwurf sah jedoch neben dem Beitritt der Union zur EMRK vor, dass innerhalb einer Frist von fünf Jahren die Union nach dem in dem Entwurf vorgesehenen Vertragsänderungsverfahren „ihre eigene Grundrechtserklärung" verabschieden solle.171

Allerdings hatte der Entwurf angesichts der Organisationsfunktion auch Defi-zite. Gerade die Kompetenzabgrenzung wurde als unzureichend kritisiert. Weder war der rechtliche Status der Begriffe „Zusammenarbeit" noch der „gemeinsamen Aktion" genau definiert, noch das Verfahren der „Europäisierung" einzelner Be-reiche eindeutig festgelegt. Diese Fülle unscharfer Festlegungen schien so kaum praktikabel. Kritiker vermuteten, Spinelli habe eine außerordentliche Ausweitung der Kompetenzen auf die supranationale Ebene vorzunehmen gewollt, so dass

170 Unter Begrenzungsfunktion ist in diesem Kontext (vgl. auch C. Walter, Die Folgen der Globalisierung für die europäische Verfassungsdiskussion, in: DVB1.2(XX). S. 1 ff. 5) zu verstehen, dass die Verfassung neben ihrer Aufgabe. Herrschaft zu legitimieren und zu orga-nisieren. die Rechte des Einzelnen vor der von der Mehrheit errichteten Herrschaft schützt. Sie schreibt verbindliche Grund- und Bürgerrechte fest, die die Freiheit des Einzelnen garantieren und bewahren sollen und die zu diesem Zweck nicht von einer Mehrheit wider-rufbar sind. Dabei ist essentiell, dass wesentliche Grundrechte wie etwa die im Grundgesetz festgelegte Menschenwürde, Art. 1 1 G G . ein „unaufgebbares Naturrecht" (vgl. IV. Rudzio. Das politische System der Bundesrepublik Deutschland. 4. Aufl. 1996. S . 4 4 ) darstellen. Diese von der Gesellschaft wechselseitig zuerkannten Rechte schützen somit die Minder-heit vorder ..Tyrannei der Mehrheit" und begrenzen andererseits die Freiheit des Einzelnen, wenn er den in der Verfassung festgelegten Grundkonsens der Gesellschaft gefährdet. Die jeweilige Ausgestaltung der Grundrechte hängt stark von den Entstehungsbedingungen der Verfassung selbst ab. Beispielsweise bekennen sich j ene Verfassungen, welche nach Dik-taturen entstanden sind, ausführl icher zum Demokrat ieprinzip und den Menschenrechten (wie die deutsche, italienische, spanische und portugiesische) als andere (wie etwa die fran-zösische). s. dazu A. Kimmel, Verfassungsrechtliche Rahmenbedingungen: Grundrechte, Staatszielbest immungen und Verfassungsstrukturen, in: O . W . G a b r i e l / F . Brettschncider. (Hrsg.). Die EU-Staaten im Vergleich. Strukturen. Prozesse. Inhalte. 1994. S . 2 3 f f . . 24.

1 1 Nahezu 20 Jahre später sollte der umgekehrte Weg beschritten werden, indem man zuerst eine Grundrechte-Charta erarbeitete, um sich erst anschließend mit deren Einfügung in eine Verfassung auseinanderzusetzen. Vgl. hierzu unten B.II .2 .f) i i ) -

74 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

den ..Mitgliedsstaaten kaum noch Hoheitsgewalt bleibt". Hinter der Fassade der gemäßigten Formulierungen, mit der nationale Empfindlichkeiten geschont wer-den sollten, verbarg sich also nicht die Fortsetzung der alten Gemeinschaft, denn organisatorisch wurde beim Nullpunkt angefangen.172

Insgesamt tritt in dem Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 1984jedoch der Verfassungscharakter des Vertrages sehr stark hervor. Er ist als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens konstituiert, als Rahmenord-nung politischer Einheitsbildung der Union, einer Ordnung, in der Hoheitsgewalt begründet, begrenzt und zugeordnet, ihre Ausübung legitimiert und organisiert wird. Der Vertrag beinhaltet schließlich einen umfassenden „Zielekatalog", unter-streicht aber eben auch gleichzeitig den Grundsatz der Subsidiarität.

Der Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments aus dem Jahre 1984 wurde vom Europäischen Parlament mit großer Mehrheit angenommen.

(3) Verlauf und Ergebnisse der Diskussion

Das am 17. Juni 1984 neu gewählte Europäische Parlament wurde in der dem Verfassungsentwurf beigefügten Entschließung aufgefordert, alle geeigneten Kon-takte und Treffen mit den nationalen Parlamenten zu organisieren und jede andere dienliche Initiative zu ergreifen, um die Haltungen und Standpunkte der natio-nalen Parlamente zu berücksichtigen. Dieses Verfahren war erforderlich, weil es sich bei dem Vertragsentwurf ja gerade nicht um einen nach völkerrechtlichen Grundsätzen von den Regierungen erarbeiteten Text handelte, der den Parlamenten automatisch und zwingend zur Ratifizierung zugeleitet werden musste.173

Offensichtlich hatte Spinelli die Strategie verfolgt, von der traditionellen Me-thode des Völkerrechts abzuweichen. Bereits eine Zwei-Drittel-Mehrheit der EG-Bevölkerung sollte den Vertrag ratifizieren können, während die Regierungen lediglich das Datum des Inkrafttretens beschließen sollten (Art. 82). Dementspre-chend befürchteten die Regierungen eine „natürliche Koalition der Parlamente gegen die Exekutiven" 74.

Letztlich waren jedoch die zentralistischen Tendenzen ausschlaggebend für das Scheitern der Entwurfes. Sobald die Beteiligten nämlich den „Unterwerfungscha-rakter der supranationalen Beschlüsse" erkannten hatten, rückte der erforderliche

172 Vgl. nur U. Everling. Zur Rechtsstruktur einer Europäischen Verfassung, in: Integra-tion, 1/1984, S. 12 ff. . 13 sowie 23.

173 Die Diskussion, die zum Verfassungsentwurf geführt hatte, hat wesentlich dazu bei-getragen. die Fronten zwischen denjenigen, die vertragsimmanente Reformen für vordring-lich hielten und denjenigen, die auf einen vollständigen Neuansatz für die Fortentwicklung der Integrationen eintraten, zu klären.

174 M. Garthe. Weichenstellung zur Europäischen Union? Der Verfassungsentwurf des Europäischen Parlaments und sein Beitrag zur Überwindung der EG-Krise. 1989. S. 87.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 75

europäische Konsens in unerreichbare Ferne.17 ' So lehnte etwa das dänische Parlament die Spinelli-Initiative mit der Begründung ab. das Vetorecht und die bisherige Kompetenzverteilung müsse erhalten bleiben. Ein wesentlicher Grund für die Ablehnung war die Absicht, die Union mit einem eigenen Haushaltsrecht zu versehen. Der deutsche Bundestag kritisierte den Entwurf wegen der „Tendenzen zur Auszehrung national staatlicher Finanzautonomie".176

Zudem: Das Ziel, staatliche Verfassungsstrukturen auf die europäische Ebene zu übertragen, musste auch an der damals unüberbrückbar - heute banal - schei-nenden Beobachtung scheitern, dass die Union bereits aus Staaten mit eigenen Verfassungen besteht. So wurden die Verfassungsbestrebungen des Europäischen Parlaments dem apostrophierten dualen Charakter der Gemeinschaft - suprana-tional und intergouvernemental - nicht gerecht. Besonders deutlich wird dieses Realisierungsdefizit eben an der (gescheiterten) Strategie des Europäischen Parla-ments, die Exekutiven der Mitgliedsstaaten möglichst wenig mit einzubeziehen. 77

cc) Die Einheitliche Europäische Akte (1986)

Trotz der letztlich fehlenden Umsetzung wirkt der Spinelli-Entwurf bis in die heutige Zeit nach.17* Selbst wenn im Jahre 1986 mit der Einheitlichen Euro-päischen Akte und dem Vertrag von Maastricht aus dem Jahre 1993 wichtige

175 G. Zellentin. Überstaatlichkeit statt Bürgernähe. in: Integration. 1/1984. S . 4 5 f f . . S. 47.

176 Vgl. W. Wessels. Die Debatte um die Europäische Union - Konzeptionelle Grundli-nien und Optionen, in: W. Weidenfe ld /W. Wessels (Hrsg.), Wege zur Europäischen Union: Vom Vertrag zur Verfassung?, 1986. S. 37 ff. . 50.

1 IV. Weidenfeld. Die Reformbilanz der Europäischen Gemeinschaft : Bundes repub l ik Europa" als Perspektive?, in: W. Weidenfe ld /W. Wessels (Hrsg.). Wege zur Europäischen Union: Vom Vertrag zur Verfassung?. Bonn. 1986. S. 28 ff.. 29.

178 Vgl. auch M. Fuchs/S. Hartleif / V. Popovic, Einleitung, in: Deutscher Bundestag. Re-ferat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Der Weg zum EU-Verfassungskonvent, 2002. S. 21 ff. . 32: „Noch heute ist der Enthusiasmus und die Aufbruchst immung der Verfassungsväter für denjenigen spürbar, der sich der Lektüre des Verfassungsentwurfs unterzieht. Der Entwurf verfügt über den großen Vorteil, dass er aus einem Guss und ohne Scheuklappen formuliert ist. Schon daraus, aber auch aus dem Entwurf des Europäischen Parlaments aus dem Jahr 1994. konnte en tnommen werden, zu welchen integrationspolitischen Leistungen und zu welchen konstitutionellen Taten parlamentarisch zusammengesetzte Gremien im Vergleich zu exekutiv zusammengesetzten Organen in der Lage sind." Diese Erkenntnis sollte bei der 20 Jahre später stattfindenden Verfassungsdiskussion noch eine wesentliche Rolle spielen. Denn die Erarbeitung der Grundrechte-Charta und die Vorbereitung der Regierungskon-ferenz 2004 durch einen mehrheitlich aus Parlamentariern zusammengesetzten Konvent ist auch aus der Einsicht entstanden, ein europäischeres, demokratischeres, transparenteres und nicht zuletzt effizienteres Verfahren der Vertragsänderung bzw. -fortentwicklung zu etablieren.

76 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Vertragsfortentwicklungen, die immerhin zur Gründung der Europäischen Uni-on führten, im Wege der herkömmlichen, schrittweisen und regierungsseitig zu Stande gekommenen Vertragsergänzung erfolgt sind, kann doch nicht übersehen werden, dass der Verfassungsentwurf den Prozess, der zur Unterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte geführt hatte, ins Rollen gebracht hat.

Die Einheitliche Europäische Akte hatte bekanntlich eine nennenswerte An-zahl von Vorschlägen aus dem Spinelli-Entwurf übernommen (und etwa die Stellung des Europäischen Parlaments durch die Einführung des Verfahrens der Zusammenarbeit bei der Rechtsetzung deutlich verbessert).179 Zudem hat der Verfassungsentwurf - wie der Entwurf aus dem Jahre 1994 - die trivialen, aber nicht minder bedeutsamen Funktionen erfüllt, den Staats- und Regierungschefs wiederkehrend konstitutionelle Desiderata vor Augen zu führen und den Unions-bürgern deutlich zu machen, dass die Konstitutionalisierung der Europäischen Union und damit ihre zunehmende Demokratisierung und die Erhöhung ihrer Legitimation und Transparenz grundsätzlich nicht am Parlament und seinen Mit-gliedern scheitert und auf keinen Fall an den Parlamenten vorbei erfolgen kann.180

Bis zur Umsetzung dieses ehrgeizigen Anspruches in die Wirklichkeit sollte es jedoch noch ein langer und steiniger Weg sein - auch des Interessenabgleichs zwischen dem Europäischen Parlament und den nationalen Parlamenten. Eine bedeutungsvolle Etappe auf diesem Weg bildete die Verfassungsdiskussion des Jahres 1994.

dd) Der Verfassungsvertrag der Gemeinschaft der Vereinigten Europäischen Staaten von F. Cramme (1987)

Bevor die Debatte von 1994 ins Blickfeld rückt, verdient allerdings der auf Eigeninitiative von F. Cromme entstandene Entwurf eines „Verfassungsvertrages der Gemeinschaft der Vereinigten Europäischen Staaten"181 Aufmerksamkeit. Er

179 Die EEA bereitete letztlich die Europäische Union vor. Eine Union wird bereits als Ziel in der Präambel genannt. Einige wesentliche Änderungen der Gemeinschaftsverträge bestanden in einer Verankerung der Europäischen Politischen Zusammenarbei t und des Europäischen Rates, einer Änderung des Beschlussverfahrens des Rates für den Binnen-markt. der Einführung neue Aufgaben in den Bereichen Umweltschutz. Forschung und Technologie. Allerdings wurden andere Ziele noch nicht erreicht: Auf das Einstimmigkeits-prinzip wurde noch nicht vollständig verzichtet und die erweiterten Rechte des EP machten dieses noch nicht zu einem ..klassischen" Parlament. Die zwölf damaligen Mitgliedstaaten unterzeichneten die EEA 1986; am I .Jul i 1987 trat sie in Kraft . (Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.), Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Europäischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000. 200.11.30).

180 Eine eingehende und umfangreiche - auch empirische - Analyse liefert auch A.Maurer, Parlamentarische Demokrat ie in der Europäischen Union. Der Beitrag des Europäischen Parlaments und der nationalen Parlamente, 2002.

181 Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Euro-päischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000, 2001. 11.31. Vgl. für die

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 77

basierte auf den bestehenden Gemeinschaftsverträgen, auf dem eben beschriebe-nen Spinelli-Eniwuri (1984) und der Einheitlichen Europäischen Akte und legte Schwerpunkte auf die Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten sowie auf eine präzise Festlegung der Kompetenzen der Organe. Er erweiterte zwar die Befugnisse des Europäischen Parlaments (im Vergleich zum Stand der Gemeinschaf t s Verträge von 1987) wesentlich, normier-te aber trotzdem den Rat als zentrales und entscheidungswesentliches Gemein-schaftsorgan. Die systematische Gliederung wurde für eine zukünftige Europäi-sche Verfassung als vorbildlich gewertet.

ee) Der Vertrag von Maastricht (1992)

Am I .November 1993 ist schließlich der in Maastricht geschlossene Vertrag über die Europäische Union (vom 7 .2 .1992) in Kraft getreten. Über die ursprüngli-che Wirtschaftsgemeinschaft hinaus wollten die Mitgliedstaaten mit dieser neuen Reformübereinkunft die Integration weiter vorantreiben. Kernpunkte sind die angestrebte Währungsunion, der Einstieg in eine Gemeinsame Außen- und Si-cherheitspolitik und die engere Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen der Innenpolitik. Die vorhergehenden Debatten lieferten ein Musterbeispiel „euro-päischer Polyphonie", eine den „Federalist Papers" wenigstens nahe kommende intellektuelle Begleitung war in der sich weitgehend spiegelbildlich erweisenden wissenschaftlichen Diskussion nicht erkennbar.1"

80er Jahre auch den Verfassungsentwurf von R. LusterlG. PfennigIF. Fugmann. Bundes-staat Europäische Union. Ein Verfassungsentwurf. 1988.

182 Die zuweilen gezielte Instrumentalisierung von Hoffnungen und Befürchtungen spaltete die öffentl iche Meinung. Frankreich befürchtete eine Übermacht des größeren Deutschland, die Deutschen lehnten den drohenden Verlust der DM zugunsten eines ECU ab, Großbri tannien sträubte sich gegen eine gemeinsame Sozialpolitik. Spanien. Portugal und Griechenland erwarteten mehr Geld aus dem Kohäsionsfonds, Dänemark plante sich von der gemeinsamen Außenpolitik fernzuhalten. Deutschland und die Benelux-Staaten begrüßten allerdings den weiteren Schritt hin zu engerer Zusammenarbei t . Die Kontro-versen spiegelten sich in drei Volksbefragungen wider. Während die Dänen erst nach einigen Kompromissen in einer zweiten Abst immung knapp mehrheitlich zustimmten und auch Frankreichs Referendum mit hauchdünner Mehrheit positiv ausfiel, erreichte die Mehrheit in Irland 69 Prozent. Vgl. insgesamt zum Maastrichter Vertrag aus der ausufern-den Literatur: P.M. Huber. Maastricht - ein Staatsstreich?, 1993; I. Pernice, Maastricht. Staat und Demokratie, in: Die Verwaltung 26 (1993). S .449 f f : P. Lerche. Die Europäische Staatlichkeit und die Identität des Grundgesetzes, in: B. Bender (Hrsg.), Rechtsstaat zwi-schen Sozialgestaltung und Rechtsschutz. Festschrift für Konrad Redeker, 1993. S. 131 ff.; H.-J. Blanke. Der Unionsvertrag von Maastricht - Ein schritt auf dem Weg zu einem europäischen Bundesstaat, in: DOV 1993. S. 412 ff.; Zum ..Maastricht Urteil" des BVerfG: R. Steinberger. Die Europäische Union im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungs-gerichtes vom 12.Oktober 1993, in: U.Beyerl in u .a . (Hrsg.), Recht zwischen Umbruch und Bewahrung. Festschrift für R. Bernhardt. 1995. S. 1313 ff . ; R. Streinz, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: EuZW 1994. S. 329 ff.; V. Götz, Das Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts, in: JZ 1993, S. 1081 ff.

78 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Die Gründe für einen neuen Vertrag waren offensichtlich: Bereits in der Prä-ambel des EGV von 1957 ist als Ziel angegeben, einen immer engeren Zusam-menschluss der europäischen Völker zu schaffen. Mit der Einheitlichen Europäi-schen Akte (1986) und der weitgehenden Vollendung des Binnenmarktes (1993) waren erhebliche Fortschritte erreicht. Mit dem Zerfall des Ostblocks und der Öffnung der Grenzen in Europa stellten sich neue Anforderungen an die Zwölfer-gemeinschaft. Vor diesem Hintergrund gewann die Gipfelkonferenz im Dezember 1991 in Maastricht entscheidende Bedeutung. Der nun gültige Vertragstext Is ' ruht auf drei „Säulen", die hier nur kursorisch wiedergegeben werden sollen:

Die erste Säule umfasst den alten EGV und entwickelt ihn weiter. Statt von „Wirtschaftsgemeinschaft" sollte nunmehr von einer „Europäischen Union" die Rede sein. Zu den alten Bereichen Zollunion, Binnenmarkt, Agrarmarkt und Handelspolitik traten neue Felder der Integration: eine Währungsunion, Verbrau-cher- und Umweltschutz, Gesundheitswesen, Bildung und Sozialpolitik, wobei die Zuständigkeiten der Europäischen Union in den einzelnen Politikbereichen sehr unterschiedlich ausgestaltet waren. Dazu wurde eine „Unionsbürgerschaft"184

eingeführt. Neu aufgenommen wurden die Verpflichtungen zu größerer Bürgernä-he, zur Bildung eines Regionalausschusses sowie zur beschränkten Stärkung der Rechte des Europäischen Parlaments.

Die zweite Säule bezieht sich auf die Außen- und Sicherheitspolitik. Auch hier lagen bereits Erfahrungen aus der Zusammenarbeit im Rahmen der „Europäischen Politischen Zusammenarbeit" (EPZ) vor. Der Vertragstext spricht zurückhaltend davon, in Zukunft eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zu erarbeiten und zu entwickeln. Dabei sollten auch die vorhandenen Strukturen der Westeuropäischen Union (WEU) genutzt werden. Entscheidungen sollten einstimmig getroffen werden.

Die dritte Säule sieht eine Zusammenarbeit in der Innen- und Justizpolitik vor. nennt Stichworte wie Asyl- und Einwanderungsfragen, Kampf gegen Drogen und Kriminalität und empfiehlt engere polizeiliche Zusammenarbeit. Dabei bleibt der Einfiuss bei den Mitgliedstaaten. Die Regierungen erklärten sich aber dazu bereit, sich gegenseitig abzusprechen und gemeinsame Regelungen zu suchen. Diese stark

183 Abdruck BGBl. Nr. 47 v.30. 12. 1992. S. 1254 ff. 184 Vgl. aus dem Schrif t tum P. Hiiberie. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006.

S. 353 ff. Siehe bereits E. Grabitz. Europäisches Bürgerrecht zwischen Marktbürgerschaft und Staatsbürgerschaft . 1970; S. Magiern. Die Europäische Gemeinschaf t auf dem Weg zu einem Europa der Bürger?, in: DÖV 1987. S. 221 f f ; später ders., Der Rechtsstatus der Unionsbürger, in: K. Dicke u. a. (Hrsg.), Weltinnenrecht. Liber amicorum Jost Delbrück. 2005, S. 429 ff.; vgl. auch M. Degen, Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag über die Europäische Union, in: DÖV 1993. S. 749 f f : .4. Randelzhofer. Marktbürgerschaft - Uni-onsbürgerschaft - Staatsbürgerschaft, in: A. Rande lzhofe r /R . S c h o l z / D . Wilke (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995. S. 581 ff.; N. Kotalakidis, Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft , 2000.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 79

geraffte, aber für den gesamten - auch rechtsvergleichenden - Kontext notwendige Zusammenfassung lässt kaum etwas ahnen von den überaus komplexen und (nicht nur) für den Laien schwer verständlichen Vertragsformulierungen. Der Vertrag brachte die Gründung der Europäischen Union - nicht als supranationale Konstruk-tion mit eigener Rechtspersönlichkeit, sondern als völkerrechtliche Einrichtung, der die Mitgliedstaaten der Gemeinschaften angehören. Er wird durch das „Säu-l e n m o d e i r veranschaulicht: Die erste, supranational geprägte Säule beinhaltet die Gemeinschaftsverträge, während die zweite und dritte Säule völkerrechtlich ausgerichtet sind.

f f ) Die Verfassungsdiskussion 1994 - der Herman-Bericht

( I ) Ausgangspunkte der Debatte

Bereits im Hinblick auf die Regierungskonferenz zum Maastricht-Vertrag hatte das Europäische Parlament mit den Entschließungen vom I I .Juli 1990 und vom 12. Dezember 1990 Leitlinien für einen Verfassungsentwurf vorgelegt. Dieser wurde im federführenden institutionellen Ausschuss fortentwickelt, im Februar 1994 finalisiert und anschließend dem Plenum vorgelegt.185 Dieser neuerliche Entwurf einer europäischen Verfassung - benannt nach dem Berichterstatter des Institutionellen Ausschusses des Europäischen Parlaments, F. Hennan - war ge-wissermaßen eine von vielen Antworten auf die Erkenntnis neuer Strukturen und einer etwaigen Modernisierung Europas, die nach den Umbrüchen von 1989/1990, den wahrhaft „europäischen Momenten", deutlich geworden war. Der Zusammen-bruch der Sowjetunion und die Wiedervereinigung Deutschlands hatten innerhalb der EG die gelegentlich im Stolpern begriffenen Schritte in Richtung auf eine politische Union beschleunigt, jedoch noch nicht unbedingt stabilisiert. Bereits zu dieser Zeit waren Wirtschaft und Politik in Europa immer stärker von der Globali-sierung geprägt, gleichzeitig aber gewannen die Regionen Europas11"6 zunehmend an Bedeutung. Während nationalistische Kämpfe den Balkan erschütterten, griffen im Westen Zweifel an einer gemeinsamen Zukunft um sich. Die Erweiterungs-pläne der Union auf 16 oder mehr Mitgliedsstaaten und die damit verbundenen Ängste offenbarten die Notwendigkeit eines institutionellen Umbaus der Union im Hinblick auf ihre Organisation und ihre Entscheidungsverfahren. Auch der offensichtliche Krisenzustand, in dem sich die europäische Wirtschaft, vor allem nach dem Zusammenbruch des EWS, befand, zeigte, dass der Zeitpunkt gekom-men war, das europäische Aufbauwerk erneut mit „Schwung" zu versehen. Doch der Weg, der mit Maastricht beschritten wurde, stieß insbesondere in den Parla-

185 Vgl. ABl. Nr. C 61 /1994 . S. 155. abgedruckt auch in: Ausschuss für die Angelegen-heiten der Europäischen Union (Hrsg.), Verfassungsentwürfe fü r die Europäische Union. Texte und Materialien. Bd. 35 (2002), S. 26 ff.

186 Zum Regionalismus in Europa vgl. insbesondere P. Häberle, Europäische Verfas-sungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 431 ff. mit zahlreichen Nachweisen.

80 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

menten nicht zuletzt aufgrund der übermäßigen Komplexität des Vertragswerkes auf unverhohlene Skepsis.187

Nach Maastricht sollte sich auch das Legitimationsproblem intensivieren. Die Politik der Union betraf immer mehr Lebensbereiche unmittelbar, entzog sich aber zunehmend der demokratischen Kontrolle, da Kompetenzen sich von den nationa-len Parlamenten zur Kommission, Ausschüssen und den Exekutiven verlagerten. Obgleich das Europäische Parlament mit dem Mitentscheidungsrecht in einigen Bereichen gestärkt und bei der Einsetzung der Kommission ein Bestätigungsrecht erhielt, blieben seine gestalterischen und kontrollierenden Kompetenzen eher ge-ring. Die Angst vor einem Souveränitätsverlust spiegelte sich in den knappen Referenden zur Ratifikation des Maastrichter Vertrages wider.

Als weitere Argumente für den Verfassungsbedarf der Union galten die durch den Maastricht-Vertrag eingeführte Unionsbürgerschaft und die erforderliche Stär-kung gemeinsamer Werte sowie die Bildung eines gemeinsamen europäischen Bewusstseins. Schließlich strebte man an, bis Ende der 90er-Jahre endlich Auf-schluss über die Finalität der Europäischen Union und ihren Teilnehmerkreis zu erhalten. Die Verfassungsinitiative vom Februar 1994 hatte daher zum Ziel, die zunehmend komplexen EG-Strukturen zu systematisieren, damit neue Impul-se für den Fortgang der europäischen Integration gesetzt und ein einheitlicher verfassungsrechtlicher Rahmen geschaffen werden konnten.188

(2) Grundgedanken des Verfassungsentw urfs des Europäischen Parlaments

Im Wesentlichen sollte die „Verfassung" von 1994 die Ziele der Europäischen Union präzisieren, die Effizienz. Transparenz und demokratische Ausrichtung der Organe verbessern, die Entscheidungsverfahren vereinfachen und veranschau-lichen bzw. eine stärkere demokratische Legitimierung des Entscheidungsverlah-rens gewährleisten sowie die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantieren. Zu den wichtigsten Axiomen des Verfassungsentwurfs zählten dem-zufolge u.a. die Einführung eines Zwei-Kammer-Systems (Parlament und Rat), eines Gesetzgebungsverfahrens sowie die transparente Definition einer Rechts-hierarchie. Darüber hinaus die Abschaffung von Einstimmigkeitsentscheidungen. Im Hinblick auf die Begrenzungsfunktion hatte das Europäische Parlament bis 1994 auf dem Gebiet der Grund- bzw. Menschenrechte bereits so viele Vorar-beiten geleistet, dass im Herman-Entwurf ein separater Menschenrechtekatalog etabliert werden konnte. Weiter versah der Textentwurf den Unionsbürger mit

187 Vgl. nur die Beschlussempfehlung des Sonderausschusses . .Europäische Union (Vertrag von Maastricht)", BT-Drucks . 12/3895. Der verwirrende und unverständliche Vertragstext hatte nur mit Mühe die Nagelprobe der Referenden in Dänemark und Frankreich bestanden.

188 Vgl. auch T. Läufer, Zur künft igen Verfassung der Europäischen Union, in: Integra-tion. 2 /1994 . S. 204 ff., 205.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 81

einer direkten Klagemöglichkeit vor dem EuGH (Art. 38). und der Verstoß eines Mitgliedsstaates gegen Menschenrechte sollte von Rat und Parlament sanktio-nierbar sein (Art. 44).

Wie im Entwurf von 1984 nahm die Legitimationsfunktion eine zentrale Stel-lung ein. Die Legitimität der Legislative sollte durch eine echte Beteiligung der gewählten Volksvertreter gewährleistet sein, und das Europäische Parlament als Zweite Kammer eine gleichberechtigte Rolle neben dem Ministerrat erhalten bzw. das Mitentscheidungsrecht auf alle Verfahren ausgeweitet werden (1984: Art. 37; 1994: Art. 17-24) . Das Europäische Parlament sollte das Programm des Kommissionspräsidenten billigen, sowie - ähnlich wie im Ad-hoc-Entwurf - ein Misstrauensvotum gegenüber dem Präsidenten aussprechen können (1984: Art. 29: 1994: Art. 22 III). Auch die Judikative sollte stärker demokratisch legitimiert werden, indem die Richter des EuGH zur Hälfte vom Europäischen Parlament ernannt werden sollten (1984: Art. 30, 1994: Art. 25). Im Gegensatz zu 1984 verstand sich das Europäische Parlament 1994 aber nicht als alleinige verfassungs-gebende Versammlung, sondern betonte stärker die doppelte Legitimitätsgrund-lage der Europäischen Union: laut der Entschließung zur Verfassung sollte ein „Verfassungskonvent" aus nationalen und europäischen Parlamentsabgeordneten, der Zivilgesellschaft und den Regierungsvertretern auf Grundlage des Entwurfs eine endgültige Version ausarbeiten (Art. 2).

Der Verfassungsentwurf vermochte einerseits das bisherige EG-System mit einer ganzen Reihe von Elementen anzureichern, die auf eine künftige Staatlichkeit der Union wenigstens hinzudeuten wussten. Gleichzeitig sollte aber das politische System der Union weiterhin auf der Grundlage föderaler Strukturen ausgebaut werden, wie es in der Etablierung des Zwei-Kammer-Systems zum Ausdruck kam.

Allerdings wies der Verfassungsentwurf nicht unerhebliche Defizite auf. Bei-spielhaft seien etwa das Fehlen einer klaren Aufteilung und Benennung der Zuständigkeiten sowie unklare Integrationsziele genannt. Zu erheblichen Diskus-sionen führte die geplante Aufnahme eines Rechts auf Arbeit oder auf Gründung einer Familie in den Grundrechtekatalog. Ebenso das damals bereits erwogene Prinzip der doppelten Mehrheit bei Abstimmungen im Ministerrat. Wie im Spinel-li-Entwurf fehlte auch 1994 eine genauere Festlegung des Subsidiaritätsprinzips. Die bisherige Aufteilung der Kompetenzen in gemeinschaftliche und intergouver-nementale Bereiche blieb zwar bestehen, konnte aber durch das Verfahren der Verfassungsänderung überwunden werden. Unklar blieb, wie eine Verfassungs-änderung vor sich gehen sollte. Es erschien denkbar, dass gemäß Art. 31 ein „Verfassungsgesetz" gemeint war, wonach lediglich eine Zweidrittelmehrheit im Europäischen Parlament nötig wäre. Über die Kompetenzen in der Außen- und Sicherheitspolitik sollte zudem schon nach fünf Jahren mit qualifizierter Mehrheit im Rat entschieden werden (Art. 42).

Mit seinen nur 47 Artikeln erweckte der Entwurf den Eindruck, wesentlich gestrafft zu sein und damit allen Anforderungen an Transparenz und Klarheit

82 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

gerecht zu werden. In dieser Hinsicht stand der Verfassungsentwurf von 1994 der Verfassung der Vereinigten Staaten am nächsten. Allerdings konnte die geringe Anzahl von Artikeln nur durch den fast vollständigen Verzicht auf eine nähere Kompetenzbeschreibung der Union sowie durch die Verschiebung des Katalogs der Menschenrechte in den abschließenden Schlusstitel VIII erreicht werden. Die Verweise auf den „gemeinsamen Besitzstand" der bisherigen Verträge standen mit dem Gebot der Transparenz nur bedingt im Einklang.

(3) Verlauf und Ergebnisse der Diskussion

Anders als 1984 verfügte das Europäische Parlament 1994 über keine eindeutige Strategie zur Durchsetzung des Verfassungsentwurfs. Dies lag unter anderem daran, dass der Entwurf auch in den eigenen Reihen umstritten war.

Am 10. Februar 1994 wies das Europäische Parlament mit einer Mehrheit von 155 Stimmen für die Entschließung bei 46 Stimmenthaltungen und 87 Gegenstim-men (von insgesamt 518 Mitgliedern des Europäischen Parlaments) den bereits zweiten Entwurf an den Institutionellen Ausschuss zurück, u. a. mit der Begrün-dung. dass es kurz vor der Europawahl und der Auflösung des Parlaments nicht ausreichend Zeit gebe, zu einer mehrheitsfähigen Fassung des Verfassungsent-wurfs zu kommen. IS9 Dabei enthielt der zweite Entwurf bereits weniger ehrgeizige Ziele als ursprünglich festgelegt. Mit der Entschließung erging jedoch die Forde-rung an das aus der vierten Direktwahl hervorgehende Parlament, diese Arbeiten

189 Zum Verlauf der Diskussion vgl. ausführlich: M. Fuchs/S. Hartleif /V. Popovic, Ein-leitung. in: Deutscher Bundestag. Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), Der Weg zum EU-Verfassungskonvent. 2002. S .21 ff.. 3 6 f f . In seiner Sitzung am 2 . / 3 . D e z e m b e r l 9 9 3 hatte der Institutionelle Ausschuss den ersten, so genannten Herntan-Entnurf einer Verfassung angenommen. Die Behandlung des Dokuments erfolgte in der Plenarsitzung vom 9. Fe-bruar 1994 und wurde angesichts der fehlenden Sachdebatte von einigen Abgeordneten als Farce bezeichnet. Auch wenn sich die wichtigsten politischen Akteure im Europäischen Par-lament an der Debatte beteiligten, so beschränkte sie sich dennoch (anders als die Debatte um den Maastricht-Vertrag) auf einen relativ kleinen Zirkel von Fachleuten und Politikern. In der kontrovers geführten Aussprache wurde zwar das Ziel, die Verfassungsgrundlagen der Europäischen Union zu verdeutlichen, generell akzeptiert. Dennoch standen viele dem Text eher skeptisch gegenüber. Die spürbare Zurückhaltung lag wohl vor allem daran, dass der Entwurf weder d e m neuen Erwartungshorizont an die Wertentscheidungs- und Rege-lungskraft einer europäischen Verfassung entgegenkam noch inhaltlich den aktuellen Stand der politischen Diskussion widerspiegelte. Teilweise wurde bemängelt , dem Entwurf fehle es an einer schlüssigen Vision, die über die bestehenden Vertragsgrundlagen hinaus reiche. Die Diskussion konzentrierte sich zu stark auf institutionelle Reformen und schwierig zu lösende Legit imationsfragen. Der Entwurf wurde am 9. Februar gemäß Art. 129 der Geschäf tsordnung des Europäischen Parlaments an den Institutionellen Ausschuss zurück überwiesen. Der Institutionelle Ausschuss prüfte seinen Entwurf erneut in seiner Sitzung vom 9. Februar und beschloss, einen zweiten Entwurf vorzulegen. In der gleichen Sitzung nahm er den entsprechenden Entschließungsantrag an und reichte den Text dem Plenum ein.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 83

zu einem Entwurf der Verfassung der Europäischen Union unter Berücksichtigung der Beiträge der nationalen Parlamente und der Öffentlichkeit fortzusetzen. So sollte eine breitere Basis für die Ausarbeitung einer Verfassung für die Europäische Union vorgefunden werden, als dies bis dahin der Fall gewesen war. Zugleich be-auftragte das Europäische Parlament seinen Präsidenten, für die breitestmögliche Verbreitung des Entwurfs zu sorgen. Damit war die öffentliche Auseinanderset-zung angestoßen und ein Signal vom Europäischen Parlament gesetzt, auch wenn es sich selbst noch nicht auf eine konkrete Verfassungsperspektive festgelegt hatte.

Es wird gelegentlich übersehen, dass der Entwurf von 1994 nicht das Ziel hatte, an die Stelle der bestehenden Verträge zu treten, sondern diesen einen Verfas-sungsrahmen zu geben, der über seine Symbolkraft hinaus auch Erneuerungen von großer Tragweite bringen sollte.190 Mit seinem Text ist es dem Institutionel-len Ausschuss gelungen, klar, kurz und prägnant darzulegen, wie die Befugnisse der Europäischen Union aufgebaut und verteilt werden könnten, aber auch zu beweisen, dass sich die Europäische Union in allgemein verständlicher Form orga-nisieren ließe. Insgesamt stellte der noch nicht ausgereifte Entwurf durchaus eine solide Ausgangsbasis für die Diskussion dar, die in den darauf folgenden Jahren, insbesondere bei der Regierungskonferenz 1996, geführt werden sollte. Dennoch zeigt das Schicksal des Entwurfs, dass die Mitgliedsstaaten noch nicht bereit waren, sich auch nur ansatzweise die Verfassunggebung aus der Hand nehmen zu lassen. Bemerkenswert ist allerdings, dass bereits in der Entschließung des Euro-päischen Parlaments vom 10. Februar 1994 vorgeschlagen wurde, dass „vor der für 1996 vorgesehenen Regierungskonferenz ein europäischer Verfassungskonvent aus Abgeordneten des Europäischen Parlaments und der Parlamente der Mitglieds-staaten der Union zusammentritt, der auf der Grundlage eines im Europäischen Parlament vorzulegenden Verfassungsentwurfs Leitlinien für die Verfassung der Europäischen Union verabschiedet und dem Europäischen Parlament den Auftrag zur Ausarbeitung eines endgültigen Entwurfs erteilt."191

Es bleibt festzuhalten, dass die Verfassungsentwürfe von 1984 und 1994 nicht folgenlos blieben, sondern im positiven, inspirierenden Sinne die Funktion „sym-bolischer Politik"192 erfüllten. R. Bieber bezeichnete die Verfassungsdebatte als „integralen Bestandteil der institutionellen Dynamik" der europäischen Einigung:

190 Die beiden Entwürfe von 1984 und 1994 sahen explizit keine völlige Neugründung der EG bzw. EU vor. Die 1984 zu gründende ..Europäische Union" sollte lediglich als Dach für die EG. das Europäisches Wirtschaftssystem und EPZ gebildet werden. 1994 rückte das Ziel in den Vordergrund, dem technokratischen Geflecht der weiter geltenden Verträge einen verfassungsrechtlichen Rahmen zu geben, deren Ziele zu präzisieren und „Effizienz. Transparenz und demokrat ische Ausrichtung zu verdeutlichen", sowie Menschenrechte und Grundfreiheiten zu gewährleisten, vgl. F. Cramme. Der Verfassungsentwurf des Institu-tionellen Ausschusses des europäischen Parlaments von 1994, in: ZfG 1995 (3), S. 256 ff., 257.

191 Vgl. F. Cramme (1995). ebenda.

84 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

als Gegengewichte zur Politik der kleinen, pragmatischen Schritte dienten sie als Orientierungs- und Kristallisationspunkt, an denen „die politischen und gesell-schaftlichen Kräfte ihre Erwartungen und Befürchtungen ausrichten konnten".193

gg) Der Vertrag von Amsterdam (1997)

Eine weitere Revision der Gemeinschaftsverträge führte die stufenweise Inte-gration der Unionsbürger nochmals voran. Der Amsterdamer Vertrag194 wurde am 2. Oktober 1997 unterzeichnet und trat nach Abschluss der Ratifizierungsverfah-ren in den Mitgliedstaaten am 1. Mai 1999 in Kraft. Eine wesentliche Neuerung war die Verankerung des „Europas der mehreren Geschwindigkeiten", d. h. eine Regelung über die Flexibilität der Union. Sie ermöglicht eine individuelle engere Zusammenarbeit zwischen Mitgliedstaaten unter genannten Voraussetzungen und unter Nutzung der gemeinschaftlichen Organe und Verfahren.195

hh) Verfassungsbemühungen um die Jahrtausendwende

In der Konstitutionalisierungsdebatte um die Jahrtausendwende finden sich viele der den bisherigen Entwürfen innewohnenden Argumentationslinien wieder. Erneut versprach man sich von einer europäischen Verfassung die Lösung struk-tureller und substanzieller Probleme wie die mangelnde Handlungsfähigkeit der EU-Organe (insbesondere nach der Osterweiterung), die Kompetenzverteilung zwischen EU-Institutionen und Mitgliedsstaaten, das demokratische Defizit und die fehlende Identifizierung des Bürgers mit Brüssel. Eine konstitutionelle Neu-gründung wurde darüber hinaus als Antwort auf die Frage „quo vadis Europa?"

192 Zu dieser Bezeichnung siehe auch G. Zellentin. Staatswerdung Europas? Politik-wissenschaft l iche Überlegungen nach Maastricht, in: R. Hrbek (Hrsg.). Der Vertrag von Maastricht in der wissenschaftl ichen Kontroverse. Baden-Baden, 1993. S .41 ff.. 48.

193 Vgl. bereits 1991 R. Bieber. Verfassungsentwicklung und Verfassungsgebung in der Europäischen Gemeinschaf t , in: R. Wildenmann, (Hrsg.), Staatswerdung Europas? Optio-nen für eine Europäische Union. Baden-Baden 1991. S. 393 f f . 403; vgl. auch W. Wessels. Die Debatte um die Europäische Union - Konzeptionelle Grundlinien und Optionen, in: W. Weidenfe ld /W. Wessels (Hrsg.). Wege zur Europäischen Union: Vom Vertrag zur Verfassung?, Bonn, 1986. S. 37 ff.. 66.

194 Abdruck bei A. Schäfer (Hrsg.). Die Verfassungsentwürfe zur Gründung einer Euro-päischen Union. Herausragende Dokumente von 1930 bis 2000. 2001,11.37.

195 Ausführt ich zum Vertrag von Amsterdam: M. Hilf IE. Packe, Der Vertrag von Ams-terdam. in: N J W 1998. S. 705 ff.; U. Karpenstein. Der Vertrag von Amsterdam im Lichte der Maastricht-Entscheidung des BVerfG. in: DVB1. 1998. S. 942 ff.; N.K. Riedel. Der Vertrag von Amsterdam und die institutionelle Reform der Europäischen Union, in: BayVBl 1998. S. 545 f f , : J . Hecker. Souveränitätswahrung durch Einstimmigkeit im Rat: Der Conseil Con-stitutionnel zum Vertrag von Amsterdam, in: JZ 1998. S .938 ff.: H.H. Ritpp. Ausschaltung des Bundesverfassungsgerichts durch den Amsterdamer Vertrag?, in: JZ 1998. S. 213 ff.; R. Streinz. Der Vertrag von Amsterdam, in: EuZW 1998. S. 137 ff.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 85

gesehen, als Mittel, der europäischen Einigung eine neue Vision zu geben und damit auch die - damals von vielen bereits als erschöpft bezeichnete - Erörterung der Ungewissheit ihrer Finalität zu beantworten196.

Schon nach dem Beschluss über die Währungsunion im Jahr 1998 hatten Juris-ten und einzelne Politiker den Gedanke einer europäischen Verfassung verstärkt aufgegriffen.197 Mit der deutschen Ratspräsidentschaft der Europäischen Union bestätigte nun erstmals die Regierung eines Mitgliedsstaates diesen Gedanken. Außenminister J. Fischer konstatierte am 12. Januar 1999 vor dem Europäischen Parlament, dass sich nach Maastricht und Amsterdam die Frage nach einer euro-päischen Verfassung viel eher stellen würde. Eine Diskussion über die Verfasstheit Europas werde neue Impulse für die Integration bringen und wichtige Zukunftsfra-gen klären.19* Auf ihrem Parteitag in Erfurt im April 1999 forderte die CDU einen europäischen „Verfassungsvertrag" für ein „werteorientiertes, bürgernahes Euro-pa". Am 3. Mai 1999 stellten der damalige CDU-Vorsitzende W. Schäuble und der außenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion K. Lamers in Anknüpfung an ihr Papier von 1994 ein Strategiepapier zu einem „europäischen Verfassungsver-trag" vor.199 Auf Länderebene forderte der Ministerpräsident Baden-Wrürttembergs E. Teufel eine „europäische Charta, einen europäischen Verfassungsvertrag".200

Am 18. Oktober 1999 schlug ein Expertenkomitee unter der Ägide von R. von Weizsäcker, dem ehemaligen belgischen Premierminister J.-L. Dehaene und dem früheren britischen Minister Lord Simon of Highbury vor, die europäischen Ver-träge zu teilen. Im ersten Teil würde der konstitutionelle Gehalt dargestellt, im zweiten die detaillierten Bestimmungen aufgelistet.201

196 Die wiederkehrende Diskussion um die Finalität Europas widerspiegeln exempla-risch die Beiträge im Sammelband von H. Marhold (Hrsg.), Die neue Europadebatte. Leitbilder fü r das Europa der Zukunf t . 2001; vgl. aber auch H.M. Enzensberger. Ach. Europa!. 1990: E. Morin, Penser l 'Europe. 1990: T.R. Reid. The United States Of Europe: The New Superpower and the End of American Supremacy, 2005; J. Rißein. The European Dream. 2004: A. Szczypiorski, Europa ist unterwegs. Essays und Reden. 1996.

197 Vgl. nur den wenig bekannten Vorschlag der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokrati-scher Juristen. vgl. dazu Süddeutsche Zeitung. 10. August 1998. S. 4: „Wie wär ' s mit e inem Brüsseler Grundgesetz?".

198 Vgl. J. Fischer, Die Schwerpunkte der deutschen Ratspräsidentschaft . Rede vor dem EP in Straßburg. 1999. abrufbar unter www2.hu-berl in .de/ l inguapol is /ConsIV98-99 /Cons98-99.htm. Bevor Fischer zum Ende der deutschen Ratspräsidentschaft erneut vor dem Europäischen Parlament am 21. Juli 1999 an diese Formulierungen anknüpf te , hatte das Thema bereits zunehmende Bedeutung erlangt.

199 Vgl. den Beschluss des 12. Parteitages 1999 in Erfurt : „Europa muss man richtig machen" sowie H'. Schäuble. K. Lamers. Europa braucht einen Verfassungsvertrag, in FAZ vom 4 .5 . 1999.

200 Ygj £ Teufel. Regierungserklärung: Die Einheit Europas - Chance und Aufgabe für Baden-Württemberg und Deutschland. 28. April 1999 (dazu auch J. Schwarze, Auf dem Wege zu einer europäischen Verfassung - Wechselwirkungen zwischen europäischem und nationalem Verfassungsrecht, in: DVB1 1999. S. 1677 ff.. 1679).

86 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

I m V o r f e l d von N i z z a ist d i e D i s k u s s i o n ü b e r e i n e e u r o p ä i s c h e V e r f a s s u n g d u r c h v e r s c h i e d e n e D i s k u s s i o n s b e i t r ä g e u n d v o r g e l e g t e V e r f a s s u n g s e n t w ü r f e e r n e u t a n g e r e i c h e r t w o r d e n . H e r v o r z u h e b e n s ind i m W e s e n t l i c h e n d i e v e r s c h i e d e n e n B e i t r ä g e v o n B u n d e s p r ä s i d e n t J . Ran,102 f e r n e r d i e R e d e n v o n J . Fischer v o r d e r H u m b o l d t - U n i v e r s i t ä t 2 0 3 , v o n J . Chirac vo r d e m D e u t s c h e n B u n d e s t a g 2 ; 4 und von T. Blair in W a r s c h a u 2 0 5 E b e n s o zu n e n n e n s ind d e r Be i t r ag von A. Kwasniewski206

und sch l i eß l i ch d e r g e m e i n s a m e Ar t ike l von G. Schröder u n d G. Amato207. F e r n e r h a b e n b i s E n d e 2 0 0 0 v e r s c h i e d e n e e u r o p ä i s c h e P a r t e i e n V e r f a s s u n g s e n t w ü r f e 2 0 8

201 R.v. Weizsäcker!J.-L. Dehaene/L. Simon of Highbury, The Institutional Implica-tions of Enlargement. Report to the European Commiss ion , 18. Oktober 1999. Dieser Vorschlag löste eine Reihe von neuen Forderungen aus. Bundespräsident J. Ran sprach sich für eine „föderale Verfassung Europas" („Die Quelle der Legitimität deutlich ma-chen", in: FAZ vom 4 . 1 1 . 1999. S. 4) aus. Kommissionspräsident R. Prodi debattierte die Zweiteilung der Verträge am 10. November 1999 mit dem Europäischen Parlament, das der Idee zust immte. Inzwischen hatte sich im Europäischen Parlament unter dem Vorsitz des deutschen M d E P J. Leinen (SPD) ein Ausschuss „Europäische Verfassung" gebildet, der an der Konstitutionalisierung der EU mitwirken und eine groß angelegte Verfassungsdebatte in Gang bringen sollte, vgl. European Parliament, Press Release: Founding of an Intergroup „European Constitution". Straßburg. 16. September 1999.

202 J.Rau, Die Quelle der Legitimation deutlich machen, in: FAZ vom 4 . 1 1 . 1999: der.v..Une Constitition pour l 'Europe. in: Le Monde vom 4. 11. 1999: ders., Wir brauchen eine europäische Verfassung, in: Die Welt vom 15.9 .2000.

203 J. Fischer Vom Staatenverbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität der euro-päischen Integration. Rede vorder Humboldt-Universität Berlin am 12.5. 2000. abgedruckt u. a. in: integration 2000. S. 149 ff.

204 Abgedruckt in: IP. 8/2000. S. 126 ff. 205 T. Blair Speech to the Polish Stock Exchange. Warschau 6. Oktober 2000. abrufbar

unter users.ox.ac.uk/busch/data/blair_warsaw.htmI. 206 A. Kwasniewski, Der Weg zur Politischen Union, in: FAZ vom 2. 12. 2000. 207 G. Schröder! G. Amato. Weil es uns Ernst ist mit der Zukunf t Europas, in: FAZ.

2 1 . 9 . 2 0 0 0 . 208 Lediglich beispielhaft und auf die ergänzende Darstellung P Häberles (Europäi-

sche Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 600 ff.: vgl. auch ders., Die Herausforderungen des europäischen Juristen vor den Aufgaben unserer Verfassungs-Zukunft : 16 Entwürfe auf dem Prüfstand, in: DÖV 11/2003. S. 429 ff.) verweisend: Entwurf der französischen Neogaullisten (RPR) J. Toubon/A. Juppe. Constitution de l 'Union Europeenne. Contr ibu-tion ä une reflexion sur les institutions futures de l 'Europe. vom 2 8 . 6 . 2 0 0 0 (abrufbar u .a . unterwww.mic-fr .org/proposi t ion-mic-ce.r t f) : Entwurf der französischen b'DF: „Pro-jet pour une Constitution de l 'Union Europeenne" , Oktober 2000 (vgl. www.udf -europe .net/main/visu_doc.jsp?path=/notreprojet/projet_consti tution. . \html): Positionspapier der CDU l CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag: „Europa vereinigen. Chancen und Her-ausforderungen der EU-Erwei terung"; Beschluss des Bundesfachausschusses Außen- und Sicherheitspolitik vom 13. 11.2000, Nr. 39, sowie W. Schäuble. Europa vor der Krise?, in: FAZ vom 8 . 6 . 2 0 0 0 . Zu den Gründen, warum von sozialdemokrat ischer bzw. sozialisti-scher Seite bis dahin keine Entwürfe vorlagen, vgl. H. de Bresson, France-AIlemagne: difficiles relations entre PS et SPD. in: Le M o n d e vom 7 . 1 2 . 2 0 0 0 . Allenfalls kann^bis zu diesem Zeitpunkt auf den Antwortbrief von H. Vedrine auf die Rede von J. Fischer

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 87

oder zumindest Positionspapiere zur künftigen Entwicklung Europas vorgelegt. Und auf einer Konferenz in Berlin im Januar 2001 hat Schröder den Appell für eine europäische Verfassung prononciert wiederholt.209

Auch die Kommission hatte eine europäische Forschungsgruppe21" mit der Ausarbeitung eines Entwurfs beauftragt, dessen Inhalte schließlich den Vertrag über die Gründung der Europäischen Union ersetzen sollten. Der im Mai 2000 vorgelegte Entwurf sah vor. die Substanz der bestehenden Verträge weitgehend zu erhalten und nur zusammenzufassen bzw. neu zu gruppieren. Den Unions-bürgern sollte das Primärrecht in vereinfachter und gestraffter Form zugänglich gemacht werden. Der Vorschlag sah eine Zweiteilung vor, wobei der erste Teil grundsätzliche Bestimmungen (d. h. eine „Staatsverfassung") und der zweite Teil die Ausführungsregelungen enthielt. Die Kommission beabsichtigte, mit dem vor-gelegten Basisvertrag211 ein Symbol für die Einheit Europas und die Integration zu schaffen, das - im Sinne einer „Verfassung" - mit einer noch auszuarbeitenden Grundrechtecharta eine Einheit bilden sollte. Diesem Vorschlag zum Teil frappie-rend ähnlich kürzte und vereinfachte die Bertelsmann Forschungsgruppe Politik den Basisvertrag und veröffentlichte (ebenfalls) im Mai 2000 ihren Entwurf eines Grundvertrages für die Europäische Union. Der Text212 entspricht in seinem einfa-chen Aufbau eher der Forderung nach einem übersichtlichen und für den Bürger verständlichen Grundsatzvertrag.

ii) Konstitutionelle „Morgendämmerung" in Europa - die Grundrechtecharta

Insgesamt verstand man es. mit kleinen, gleichwohl ausdruckstarken Schritten aus dem Schatten inhaltsleerer Rhetorik herauszutreten. Die auf dem Gipfel von Nizza im Dezember 2000 proklamierte Grundrechtecharta bezeichnete der Vor-sitzende des Grundrechtskonvents R. Herzog als „einen Teil einer Verfassung von morgen"213. Nicht nur deshalb bedarf es im Rahmen einer entstehungsgeschichtli-chen Betrachtung europäischer Konstitutionalisierung einer kurzen Betrachtung jener Grundrechtecharta. Auf die vorangegangene Betrachtung der amerikani-schen Verfassungsgeschichte und die Bedeutung der ..Bill of Rights" sei an dieser Stelle erinnert.

verwiesen werden, vgl. IP. 8/2000. S. 108 ff., bzw. auf das Streitgespräch zwischen Fischer und J.-P. Chevenement, in: Die Zeit vom 2 1 . 6 . 2 0 0 0 . S. 13.

209 Vgl. dazu etwa Financial T imes vom 2 0 . / 2 I . I . 2001. 21" Vorgelegt vom Europäischen Hochschulinstitut. Robert Schuman Centre for Advan-

ced Studies. Mai 2000. 211 Abgedruckt in Ausschuss fiir die Angelegenheiten der Europäischen Union ( Hrsg.),

Verfassungsentwürfe für die Europäische Union. Texte und Materialien. Bd. 35 (2002). 212 Abgedruckt ebenda. 213 Zitiert nach Die Welt. Herzog schlägt Volksabst immung über EU-Verfassung vor.

in: Die Welt, 14. September 2000. S. 5.

88 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Auf Initiative der deutschen Ratspräsidentschaft beschloss der Europäische Rat am 4. Juni 1999 in Köln, dass „im gegenwärtigen Entwicklungszustand der Europäischen Union die auf der Ebene der Union geltenden Grundrechte in ei-ner Charta zusammengefasst und dadurch sichtbarer gemacht werden sollten"214. Der Beschluss sah vor, „auf der Grundlage der zahlreichen Vorarbeiten | . . . 1 der EU-Kommission, des Europäischen Parlaments, sowie vieler f . . . ] wissenschaft-licher und politischer Arbeitsgruppen in unterschiedlichen Mitgliedsstaaten | . . . ] die heute schon geltenden Grundrechte |zu] systematisieren, in einem Dokument zusammenzufassen und inhaltlich [zu] erweitern"215. Die Entscheidung zur Grund-rechtscharta fiel unter dem Eindruck des Inkrafttretens des Amsterdamer Vertrags im Mai 1999: Der Vertrag institutionalisierte zwar neue Grundrechte und inten-sivierte den Grundrechtsschutz, blieb aber ohne Systematisierung dieser Rechte. Während der folgenden finnischen Ratspräsidentschaft in der zweiten Hälfte des Jahres blieb die Grundrechtecharta auf der Agenda. Am 15. und 16. Oktober 1999 beschloss der Europäische Rat von Tampere die Zusammensetzung eines „Kon-vents"216, welcher die Charta ausarbeiten sollte, und am 17. Dezember 1999 nahm dieses Gremium aus Vertretern der nationalen Regierungen, der nationalen Par-lamente, des Europäische Parlament und der Zivilgesellschaft unter Vorsitz von R. Herzog seine Arbeit auf.2 7

(1) Die Sachlage vordem Herzog-Konvent

Zum Zeitpunkt der Einsetzung des „Konvents" existierte noch kein eigener Grundrechtskatalog der Europäischen Union bzw. der drei Gemeinschaften. Es gab zwar Bestrebungen in dieser Hinsicht, etwa die gemeinsame Erklärung der EG-Organe vom 05.04. 1977218, die Erklärung des Europäischen Parlaments über Grundrechte und Grundfreiheiten vom 12.04.198921 ' ' und den Grundrechtsteil im

214 Europäischer Rat in Köln. 3. und 4. Juni 1999. Schlussfolgerungen des Vorsitzes, vgl. europa.eu. int /council /off /conclu/ june99/june99_de.htm.

Siehe Europäischer Rat in Köln. 3. und 4. Juni 1999. Schlussfolgerungen des Vorsit-zes, ebenda. Vgl. auch H. Däuhler-Gmelin, Schwerpunkte der Rechtspolitik in der neuen Legislaturperiode, in: Z f R 3 /1999 . S. 79 ff. . 84.

216 Freilich gab es bereits verschiedene Expertengremien zur Ausarbeitung von Ver-tragstexten. Neu war die gleichberechtigte Teilnahme von gewählten Volksvertretern, die bis dato auf Beratung und auf nachträgliche Zus t immung beschränkt waren. Erstmalig sollten die Parlamente schon bei der Entstehung einer Vertragsänderung als Vermittler demokratischer Legitimation und Multiplikatoren in die politische Mitverantwortung ge-nommen werden. Vgl. auch W. Dix, Grundrechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?, in: Integration 1/2001, S. 34 ff.

217 Zudem beauftragte der neue Kommissionspräsident R. Prodi am I. September 1999 eine Reflexionsgruppe, ein Gutachten über die institutionellen Auswirkungen der EU-Osterweiterung zu erstellen, deren Verhandlungen nach dem Entschluss des Kölner Rates bereits mit Beginn der Regierungskonferenz im Februar 2000 aufgenommen werden sollten.

2 1 8 ABl. 1977 C 103/1 219 Abgedruckt in EuGRZ 1989. 205.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 89

b e r e i t s o b e n b e n a n n t e n V e r f a s s u n g s e n t w u r f d e s E u r o p ä i s c h e n P a r l a m e n t e s v o m 1 4 . 0 2 . 1 9 9 4 . " ° A u ß e r d e m ist a u f A r t . I A b s . 2 E U V h i n z u w e i s e n , w o n a c h „ d i e U n i o n d i e G r u n d r e c h t e , w i e s i e i n d e r E M R K gewähr l e i s t e t s ind und w i e s ie s ich a u s d e n g e m e i n s a m e n V e r f a s s u n g s ü b e r l i e f e r u n g e n d e r M i t g l i e d s t a a t e n als a l l ge -m e i n e R e c h t s g r u n d s ä t z e e r g e b e n " , ach te t . V o r d e r E u r o p ä i s c h e n G r u n d r e c h t e -c h a r t a w u r d e n e u r o p ä i s c h e G r u n d r e c h t e d e s h a l b h a u p t s ä c h l i c h a u s d e n R e c h t e n d e r E M R K " 1 s o w i e a u s d e n s o g e n a n n t e n „ G e m e i n s c h a f t s g r u n d r e c h t e n " 2 2 2 a b -ge le i t e t .

220 Vgl. auch C.O. Lenz, Ein Grundrechtskatalog für die Europäische Gemeinschaft , in: NJW 1997. S. 3289 f. m . w . N .

221 Die E M R K (mit Zusatzprotokollen) ist im Wesentlichen von allen Mitgliedstaaten der EU ratifiziert worden und damit verbindlich: in Deutschland hat die EMRK wegen Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG den Rang eines einfachen Bundesgesetzes (zur „Gesetzeskraf t" vgl. Gesetze über die Konvention (BGBl. 1952 II 685. 953)). Trotz des formell niederen Rangs der EMRK im Vergleich zum Grundgesetz ist heute in Rspr. und Lehre anerkannt, dass bei der Auslegung des Grundgesetzes Inhalt und Entwicklungsstand der EMRK zu berücksichtigen sind. vgl. nur H. Dreier. vor Art. 1. in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz-Kommen-tar. Bd. I (Art. I - 1 9 ) , 2. Aufl. 2004. Rdn. 22 m.w. N. auf die Rspr. des BVetfG: P Kirchhof \ Verfassungsrechtlicher und internationaler Schutz der Menschenrechte, Konkurrenz oder Ergänzung?, in: E u G R Z 1994. S. 16 ff., 25f: E. Stäche. Die europäische Menschenrechts-konvention und ihre Bedeutung für die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland, in: JA 1996. S. 75 ff. . 81 m. w. N.; Sachs. VerfGH LKV 1996.273 (275). Außerdem ist auch die Rspr. der Europäischen Kommission für Menschenrechte (EKMR) und des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) zu beachten (BVerfG. N J W 1987. 24 (27); Sachs. VerfGH (1996), ebenda). Zur streitigen Bindungswirkung von Urteilen des EGMR für das BVerfG vgl. Art 53 E M R K und EuGH. E u G R Z 1997. 83ff („Kranzow"); BVerfGE 92.91, 108 ( . .Feuerwehrabgabe"); A. Bleckmann. Bundesverfassungsgericht versus Euro-päischer Gerichtshof für Menschenrechte, in: E u G R Z 1995, S. 387 ff.

222 Die „Gemeinschaf ts -Grundrechte" ergeben sich teilweise (ausdrücklich) aus dem primären Gemeinschaftsrecht , teilweise aus (ungeschriebenen) al lgemeinen Rechtsgrund-sätzen im Range von primärem Gemeinschaftsrecht , vgl. u. a. EuGH Slg. 1969. 419 (425) (. .Stauder") - unter Berufung auf Art 164. 215 A b s . 2 E G V ; Slg. 1970. 1125 (..Handels-gesellschaft"); Slg. 1974. 491 („Nold"). Abgeleitet werden diese „allgemeinen Rechts-grundsätze" aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der .Mitgliedstaaten sowie aus den von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen völkerrechtlichen Menschenrechtsver-trägen. speziell der E M R K in der Auslegung ihrer Organe, z . B . Entscheidungen der EKMR oder des E G M R : vgl. Art. F Abs. 2 EUV (Erweiterung durch Amsterdamer Vertrag vom 16.06. 1997). Siehe auch EuGH Slg. 1991 I. 2925 (..Elliniki"); 1975. 1219 (1232) (,.Rutiii"). Die materielle Kompetenz des EuGH zur Entwicklung der „Gemeinschaf ts -grundrechte" ergibt sich aus Art. 164 EGV. Zur Bindungswirkung von Urteilen des EuGH vgl. EuGH Slg. 1981. 1191 (1215); Slg. 1985, 719 (747) und statt vieler B. Beutler/Bie-ber/ J. Pipkorn/J. Srreil, Die Europäische Union. 4. Auflage 1993. Rdnr. 7 .3 .3 .7 . Zum EG-Grundrechtsschutz vgl. T. Jiirgensen! I. Schlünder, EG-Grundrechtsschutz gegenüber Maßnahmen der Mitgliedstaaten, in: AöR 1996. S. 200 ff.; Übersicht bei J. Kokott. Der Grundrechtsschutz im europäischen Gemeinschaftsrecht , in: AöR 1996. S. 599 ff.

90 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Es ließen sich letztlich vier Argumente herauskristallisieren, die Charta als Teil einer Verfassung von morgen rechtsverbindlich (und von jedem Einzelnen vor dem EuGH einklagbar zu machen223):

- Die wachsende Macht der EU-Organe in Brüssel sollte einer Kontrolle unter-werfen werden, die es bislang nicht ausreichend gab.

- Die Komplexität der Verträge erzeugt ein Gefühl der Rechtsunsicherheit. Dem einzelnen Bürger sollte das Gefühl genommen werden, dieser Macht hilf- und schutzlos ausgeliefert zu sein.

- Die Defizite des bisher durch die Verträge und den EuGH gewährleisteten Grundrechtsschutzes sollten beseitigt werden.

- Die deutlichere Darstellung bereits bestehender Rechte, um etwa den Beitritts-kandidaten die Werte, wofür die Union stehe, klarer zu machen.

(2) Gestaltung und Erfolg des ersten Konvents

Der Konvent sollte schließlich aus 15 Beauftragten der Staats- und Regierungs-chefs, 16 Mitgliedern des Europäischen Parlaments, 30 Mitgliedern der natio-nalen Parlamente - zwei aus jedem Mitgliedstaat - sowie einem Beauftragten des Präsidenten der Europäischen Kommission bestehen."" Von den nationalen Parlamenten konnten nicht nur die Regierungsparteien, sondern - als stellver-tretende Mitglieder - auch die jeweilige Opposition beteiligt werden. Jeweils ein Vertreter des Europarats, des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Gerichtshofs der Europäischen Union sollte als Beobachter teilnehmen. Einzelheiten seines Verfahrens und der Auslegung seines Mandats

223 Anerkanntermaßen gewährleistet die Rechtsprechung des EuGH in Luxemburg seit Jahrzehnten weitgehenden Schutz gegen die Hoheitsgewalt der Union. Der Gerichtshof prüft die Rechtsakte der Europäischen Union auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungs-überlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts ergeben (vgl. Art. 6 Abs. 2 EUV). Selbst Rechtsakte der Mitgliedstaaten unterliegen dieser Prüfung, soweit sie Unionsrecht anwenden und umsetzen. Dagegen bleiben die Mitgliedstaaten in den rein nationalen Bereichen der Gesetzgebung nur ihren eigenen Grundrechtsregelungen unterworfen. Darin lässt sich auch schon im geltenden Unionsrecht ein föderatives Element erkennen. Das BVerfG hat ausdrücklich anerkannt, dass der EuGH einen dem Grund-gesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtschutz gewährleistet. Vgl. zu alledem mit weiteren Nachweisen zu den relevanten Etscheidungen des EuGH und des BVerfG Ar. Reich, Zur Notwendigkeit einer Europäischen Grundrechtsbeschwerde, in: Z R P 2000. S. 375 ff. m.w. N. Allerdings gibt es einen wesentlichen Unterschied: Während das Grund-gesetz wie die meisten staatlichen Verfassungen die Grundrechte detailliert regelt, findet sich in Art. 6 E U V nur der Verweis auf die vorgenannten Rechtsquellen. Für den Bürger ist dies wenig transparent und voraussehbar. zumal in dem gemeinsamen Rechtsraum der Union mehr als 27 verschiedene Rechtstraditionen zusammenwachsen sollen.

"4 Zu Verfahren. Arbeitsweise und Zusammensetzung dieses . .Konvents" vgl. W. Dix, Grundrechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?, in: Integration 1/2001. S. 34 ff.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 91

sollte das Gremium nach eigenem Ermessen entscheiden. Von diesem Vorgehen versprach man sich eine ständige aktive Teilnahme des institutionellen Sachver-standes und aller großen politischen Richtungen in den Mitgliedstaaten und auf Unionsebene. Die Parlamente akzeptierten diese Einladung. Das Gremium einigte sich in seiner konstituierenden Sitzung am 17. Dezember 1999 auf den früheren Bundespräsidenten R. Herzog als Vorsitzenden und auf ein Arbeitsprogramm. Auch über die Benennung als „Konvent" und über das Recht der stellvertretenden Mitglieder, an den Beratungen teilzunehmen, entschied die Versammlung durch Abstimmung selbst. Die europäischen und die nationalen Parlamentarier wählten jeweils einen Sprecher in das Präsidium. Die gesellschaftlichen Gruppen und die Öffentlichkeit wurden arbeitsteilig konsultiert: auf Unionsebene durch das Präsidium des Konvents, auf nationaler Ebene durch Anhörungen der jeweiligen Parlamente. Die Sitzungen des Konvents und seine Diskussionsgrundlagen waren ständig öffentlich und über Medien und Internet zugänglich. Alle Interessierten konnten sich direkt gegenüber dem Konvent oder mittelbar über seine Mitglieder zu Worte melden. Das Beratungsverfahren des Konvents war parlamentarisch geprägt: freie Debatte unabhängiger Persönlichkeiten nach strikten parlamentari-schen Regeln, die sich der Konvent nach Bedarf selbst auferlegte. Bei aller Schärfe der sachlichen Auseinandersetzung stand die Suche nach einem möglichst breiten Konsens im Vordergrund. Abstimmungen über den Entwurf, die im Interesse eines möglichst breit legitimierten Ergebnisses bis zuletzt vermieden werden konnten, wären zwar möglich gewesen, jedoch hätte der Konvent die Modalitäten selber festlegen müssen. Überdies hätte ein Ergebnis, das unter den Regierungsbeauftrag-ten im Konvent streitig geblieben wäre, die Kontroverse in den Rat verlagert und wegen der dort erforderlichen Einstimmigkeit den Erfolg des Konvents in Frage gestellt. Andererseits mussten auch die Regierungsbeauftragten ein Höchstmaß an Kompromissbereitschaft aufbringen, um isolierte Positionen im Rat und vor allem auch gegenüber ihren eigenen Parlamenten zu vermeiden. Damit bestanden auf Unionsebene und in den Mitgliedstaaten beste Voraussetzungen für eine breite öffentliche Diskussion. Die Öffentlichkeit hatte es allerdings nicht leicht, dem raschen Verhandlungsgang im Konvent und der teilweise erheblichen Weiterent-wicklung der Vorentwürfe zu folgen. So brachte auch noch die letzte Verhandlung am 26. September wesentliche Veränderungen und hat die fast einhellige Billigung des Textes durch den Konvent erst ermöglicht.

Anlässlich des Europäischen Rates in Nizza am 7. Dezember 2000 hatten die Unionsorgane die erarbeitete Charta der Grundrechte der Europäischen Union feierlich proklamiert. Die Bedeutung dieses Ereignisses wurde naturgemäß in der wissenschaftlichen Literatur, durch die Medien und Politik unterschiedlich bewertet.225 Während manche nach der Notwendigkeit dieser Charta fragten.

225 Einen Überblick bieten N. Bernsdorff / M. Borowsky, Die Char ta der Grundrechte . 2002: /. Pernice, Eine Grundrechte-Charta für die Europäische Union, in: DVB1.2000.

92 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

zumal doch die Grundrechte in der Union und ihren Mitgliedstaaten umfassend gewährleistet wären, stärkte für die Gegenansicht die Charta den Schutz der Grundrechte, weil sie die gemeinsamen Grundrechte für alle Unionsbürger in einer gemeinsamen Sprache klar und verständlich formuliert und damit Vertrauen in die gemeinsame Rechtsordnung begründet hätte. Für Andere stellte die Charta und vor allem das neue Konventsverfahren, in dem sie entstanden war, ein Modell für künftige Vertragsänderungen dar. Sie erhofften sich eine grundlegende Reform der Union unter breiter Mitwirkung der Parlamente und der Öffentlichkeit. Einige sahen in der Charta sogar den ersten Schritt zu einer föderativen Verfassung der Union.

Die Debatte über die gemeinsame Wertebasis der Europäischen Union erreichte im ersten Halbjahr 2000 unter dem Vorzeichen der Wahl der rechtspopulistischen FPÖ in Österreich ihren (unrühmlichen) Höhepunkt. Im Zusammenhang mit den juristischen Problemen, auf welche die Sanktionen der Europäischen Union gegen Österreich stießen, forderten viele Politiker geeignetere Mechanismen, bei möglichen Verstößen gegen Grundrechte auch schon vorbeugend tätig zu werden.

Vor diesem Hintergrund verlagerte sich die Diskussion auf den Gehalt und die Verbindlichkeit der Grundrechtscharta. Hier zeichneten sich zwei Positionen ab: Die Minimalisten plädierten für die Unverbindlichkeit der Charta (dies forderten vor allem die Briten und Skandinavier), die Beschränkung auf klassische Ab-wehrrechte und gegen die Aufnahme sozialer Anspruchsrechte. Die konservativen Parteien und Wirtschaftsverbände fürchteten, dass die Aufnahme dieser Rechte zu einer Kompetenzausweitung der Europäischen Union führen könnte."" Für den maximalistischen Ansatz, welcher neben einem umfassenderen Katalog vor allem die Verbindlichkeit und Einklagbarkeit der Rechte als ersten Schritt zu einer Verfassung einforderte, setzten sich Sozialdemokraten und die Grünen, das Europäische Parlament und die Kommission ein. Auf dem Gipfel von Feira am 19. und 20. Juni 2000 entschloss der Europäische Rat sich dann aber - gegen den Willen von Deutschland und Frankreich - unter dem Einfiuss der „Minimalisten" für die Unverbindlichkeit der Charta.

In Frankreich wurde zeitgleich der Vorschlag des ehemaligen Kommissions-präsidenten J. Delors vom 19. Januar 2000 diskutiert, eine Kerngruppe der sechs

S. 847 ff . ; PJ. Tettingen Die Charta der Grundrechte der EU. in: N J W 2001, S. 1010 ff. Siehe auch J. Meyer. Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union. 2. Aufl. 2005; P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 634 ff. Vgl. auch W. Dix, Eine europäische Charta der Grundrechte, in: Vertretung der Europäischen Kom-mission. Berlin (Hrsg.). Europäische Gespräche. Berlin Heft 2/ 1999. S. 90 ff.; ders., Grund-rechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?, in: Integration 1/2001. S. 34 ff.

226 Vgl. J. Meyer, Will Europa sein Modell opfern? Die EU-Grundrechtecharta belebt die alte Debatte über die Notwendigkeit sozialer Rechte neu, in: Frankfurter Rundschau vom 2 8 . 4 . 2 0 0 0 .

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 93

Gründungsstaaten in der Integration schneller voranschreiten zu lassen, die durch einen „Vertrag im Vertrag" - nicht einer Verfassung - eine „Föderation der Nationalstaaten" bilden soll ten."7 Die ehemaligen Regierungschefs H. Schmidt und - im Hinblick auf seine spätere Rolle nicht ohne Pikanterie - V. Giscard d'Esiaing stimmten diesem Vorschlag zu ." 8

Die Proklamation der Grundrechtecharta ist im Rückblick, jedoch teilweise auch im damaligen Verständnis lediglich als Vorstufe zur vertraglichen Regelung oder Verfassung zu sehen. Sie war notwendig, weil in einigen Mitgliedstaaten weiter-hin starke Vorbehalte gegen eine vertragliche Verankerung der Charta bestanden. Grund hierfür war zumeist das Festhalten an einem Verfassungs- und Souveräni-tätsverständnis, das die Verbindlichkeit der Grundrechtecharta als weiteren Schritt zu einem staatsähnlichen Zustand der Union ablehnte. Das rechtsstaatliche Gebot, die Grundrechte als Beschränkung von Hoheitsrechten möglichst klar und verbind-lich zu regeln, sollte sich letztlich als das stärkere Argument erweisen. Das gilt in besonderem Maße für eine überstaatliche Gemeinschaft, die ihre zwangsläufig größere Bürgerferne überwinden und um Vertrauen und Zustimmung ihrer Bürger werben muss. Dennoch offenbarten sich auch in dieser Debatte die zu erwarten-den Widerstände, die sich regelmäßig im europäischen Kontext an Begriffen wie „Verfassung", „Föderation" und „Souveränität" heraus kristallisieren.

Freilich wurden zu diesem Zeitpunkt - trotz gelegentlich aufflammender Ten-denzen Unionskompetenzen zu renationalisieren - der Union bereits zahlreiche „souveräne" Hoheitsrechte übertragen, weshalb ihre Organe allein schon des-halb zu einem gewissen Grade handlungsfähig, demokratisch und rechtsstaatlich „verfasst" sein müssen229. Die Mitgliedstaaten haben sich vertraglich verpflichtet, diesen „Acquis" zu erhalten und seine Funktionsfähigkeit sicherzustellen. Dem-zufolge hat bislang noch jede Vertragsänderung die gemeinschaftlichen Elemente der Union weiterentwickelt. Als Korrektiv und Grenze dieser Entwicklung wurden zugleich die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten und der Grund-satz der Subsidiarität zu fundamentalen Prinzipien der Union erhoben. Dabei gab es immer schon die Auseinandersetzungen zwischen Befürwortern und Gegnern einer Vertiefung der Union, zwischen „Integrationisten" und „Souveränisten", die jedoch zumeist pragmatisch überbrückt werden konnten.

227 Vgl. nur das Interview mit J. Delors in Le Monde vom 19. 1.2000. 2 2 8 Vgl. J.-L.Arnaud. Die Franzosen und Europa: Der Stand der Debatte in Frankreich

bei Eröffnung der französischen Ratspräsidentschaft. Studien und Forschung Nr. 10. Notre Europe. Groupement d 'E tudes et de Recherches. Paris, Juli 2000. S. 3. Die CDU hielt an ihrem Konzept des Verfassungsvertrages fest, was sie auf ihrem Parteitag im Jahre 2000 in Essen deutlich machte, vgl. Essener Erklärung. Beschluss des 13. C D U - Parteitages, April 2000.

229 Vgl. I. Pernice, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 60 (2001), S. 148 ff.

94 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Der Grundrechtekonvent hat die Frage, ob ein Schritt zu einer quasi-staatli-chen Verfassung der Union vollzogen worden wäre, bewusst offen gelassen. Sie spielte für seine Aufgabe letztlich auch keine fundamentale Rolle. Entscheidend war allein, wie die Union dem Anspruch auf Rechtsstaatlichkeit ihres Handelns am besten gerecht werden konnte. Die strikte Beschränkung auf dieses Ziel ermöglichte schließlich auch die Einigung auf eine entsprechend umfassende Grundrechtecharta und die Genesis eines Textes, der in Klarheit und Verständ-lichkeit den Grundrechtskatalogen der staatlichen Verfassungen vergleichbar ist, über die EMRK hinausgeht und für eine spätere Aufnahme in eine Verfassung grundsätzlich geeignet war.230

Im Ergebnis erwies sich aber insbesondere das Konventsverfahren als zukunfts-tauglich.

j j) Mit „Humboldt" nach Nizza?

Mit der (mittlerweile vom Protagonisten selbst grundlegend revidierten) Rede des deutschen Außenministers J. Fischer an der Berliner Humboldt-Universität am 12. Mai 2000 begann eine weitere Phase der Debatte, in der zahlreiche Spitzenpo-litiker aus verschiedensten Mitgliedsstaaten dem Drang nachgaben, sich zu Wort zu melden und individuelle Verfassungskonzepte der europäischen Öffentlichkeit vorzustellen." ' Aus den Reihen der Staats- und Regierungsschefs eröffnete der französische Staatspräsident J. Chirac den Reigen derer, die sich zu einer weiter

230 Hätte man sich auf einen Streit um Verfassung und Staatlichkeit der Union eingelas-sen. so wäre diese Einigung zu dieser Zeit mit großer Wahrscheinlichkeit gefährdet gewesen, so auch IV. Dix, Grundrechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?, in: Integration 1/2001. S. 34ff , 36. Für Dix. ebenda, ist die ..Charta ein weiteres Beispiel, dass sich die Union auch ohne Berufung auf staatsrechtlich geprägte Zielvorstellungen pragmatisch und schrittweise weiterentwickeln kann. Hierfür genügen ihr die schon immer anerkannten funktionalen Grundsätze der Integration: die Handlungsfähigkeit der Organe, die demokrat ische Legit imation, die Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten."

231 Drei Tage vor dem 50jährigen Jubiläum des Schuman-Plans legte Fischer seine ..Gedanken über die Finalität der europäischen Integration" als „Privatmann" dar. in der er nicht nur ausdrücklich eine „Verfassung" bzw. einen ..Verfassungsvertrag" forderte, sondern durchaus konkrete Inhalte und Realisierungschancen nannte, vgl. Fischer. Vom Staaten-verbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität der europäischen Integration. Rede vor der Humboldt-Universität Berlin am 12.5. 2000. abgedruckt u .a . in: Integration 2000. S. 149 ff. Die Rede fand nicht nur innerhalb Deutschlands Zust immung von den Regierungs-und Oppositionsparteien (siehe u. a. die Darstellungen in der deutschen Tagespresse: etwa Frankfurter Rundschau. 13 .5 .2000 : „Mit der Schwerkraf t zum Ziel"; Frankfurter Allge-meine Zeitung. 13.5. 2000: Fischer greif t nach dem europäischen Rettungsring"; sowie Süddeutsche Zeitung. 17. Mai 2000: ..Schäuble lobt Fischers Europa-Idee"), sie provozierte vor allem auf französischer Seite die unterschiedlichsten Reaktionen. Sowohl in der Sonder-rolle der Ratspräsidentschaft als auch im Hinblick auf die .Kohabitation' wollte Frankreich keine Spaltungen durch provokante Visionen hervorrufen und die für Nizza vorgesehenen

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 95

r e i c h e n d e n „ A n t w o r t " au f d i e G e d a n k e n Fischers a u f g e r u f e n f ü h l t e n . M i t s e i n e r R e d e vor d e m R e i c h s t a g a m 2 7 . J u n i 2 0 0 0 s e t z t e e r s ich ü b e r d i e K o h a b i t a t i o n h i n w e g u n d b e s t ä t i g t e , i n e i n i g e n J a h r e n w e r d e m a n ü b e r e i n e n Text b e f i n d e n , d e n m a n d a n n a l s e r s t e E u r o p ä i s c h e V e r f a s s u n g p r o k l a m i e r e n k ö n n e . 2 3 2 Ä h n l i c h a r g u m e n t i e r t e a m 6 . Jul i d e r i t a l i e n i s c h e S t a a t s p r ä s i d e n t C a r l o C i a m p i a n d e r U n i v e r s i t ä t L e i p z i g . Es fo lg t e d e r b e l g i s c h e P r e m i e r m i n i s t e r G . Verhofstadt mi t e i n e r R e d e v o r d e m E u r o p e a n Po l i cy C e n t e r i n B r ü s s e l ( 2 1 . S e p t e m b e r 2 0 0 0 ) . 2 3 3

K u r z d a r a u f leg te T o n y B la i r v o r d e r p o l n i s c h e n B ö r s e s e i n e V i s i o n f ü r E u r o -p a d a r und s p r a c h s i ch g e g e n e i n e V e r f a s s u n g a u s (6 . O k t o b e r 2 0 0 0 ) . 2 3 4 Z u d e n G e g n e r n e i n e r V e r f a s s u n g z ä h l ( t ) e n n e b e n Blair d e r s p a n i s c h e M i n i s t e r p r ä s i d e n t J.M. Aznar d i e ( s p ä t e r e r m o r d e t e ) s c h w e d i s c h e A u ß e n m i n i s t e r i n A. Lindh, s o w i e e i n e M i n d e r h e i t i m E u r o p ä i s c h e n P a r l a m e n t . E i n e n i ch t u n e r k l e c k l i c h e A n z a h l f r a n z ö s i s c h e r S p i t z e n p o l i t i k e r w i e d e r Soz ia l i s t J.-P. Chevenement, d e r d a m a l i g e f r a n z ö s i s c h e I n n e n m i n i s t e r H. Vedrine und de r e h e m a l i g e K o m m i s s i o n s p r ä s i d e n t J . Delors s p r a c h e n s ich z w a r f ü r g r u n d s ä t z l i c h e R e f o r m e n d e s S y s t e m s aus , ha t t en a b e r b e k a n n t l i c h g e g e n d i e d e u t s c h e n V o r s c h l ä g e e i n e r K o n s t i t u t i o n a l i s i e r u n g a r g u m e n t i e r t .

institutionellen Reformen nicht gefährden, vgl. allgemein J.-L. Arnaud, Die Franzosen und Europa: Der Stand der Debatte in Frankreich bei Eröf fnung der französischen Ratsprä-sidentschaft . Studien und Forschung Nr. 10, Notre Europe. Groupement d ' £ t u d e s et de Recherches. Paris. Juli 2000. S. 3. Konservative wie sozialistische Parteien bekundeten in der französischen Öffentlichkeit ihre Zus t immung zu Fischers Konzept. Der Präsident der konservativen UDF. F. Bayrou, legte - wie bereits erwähnt - mit dem grünen Europaabge-ordneten D. Cohn-Bendit sogar einen eigenen Verfassungsentwurf vor (dazu J.-L. Arnaud. ebenda), kurz darauf folgten die Neogaullisten A. Juppe und J. Toubon mit e inem ausgear-beiteten Konzept (..Constitution de TUnion Europeenne". 28. Juni 2000. abrufbar u. a. unter www.mic-fr .org/proposit ion-mic-ce.rtf) . Dagegen mündete die skeptische Haltung des da-maligen französischen Außenministers J.-P. Chevenement in ein offenes Streitgespräch mit Fischer (dokumentiert in Die Zeit. Dossier. 7. Juni 2000). Nach dem deutsch-französischen Gipfel in Mainz, auf dem der französische Staatspräsident Chirac sich positiv zu Fischers Visionen geäußert hatte, veröffentlichten der britische Premierminister T. Blair und der spanische Staatschef J.M.Aznar am 13. Juni einen gemeinsamen Artikel in der Financial Times und El Mundo, in dem sie sich ebenfalls skeptisch zu Fischers Rede äußerten und ein gemeinsames Auftreten in der Wirtschaftspolitik signalisierten. Auch das Europäische Parlament und die Kommission reagierten ambivalent. Während Kommissionspräsident R. Prodi die Ideen der Rede begrüßte, befürchteten Kollegen, er wolle mit seinen Ver-fassungsplänen die Kommission abschaffen: ähnliche Befürchtungen äußerten einzelne Abgeordnete des Europäischen Parlaments (siehe Süddeutsche Zeitung, 16. Mai 2000. S. I: ..Prodi lobt Fischers Rede zu Europa"; sowie Süddeutsche Zei tung. 18. Mai 2000. S. 5: ..Beifall fürs Ganze . Kritik am Detail").

232 J. Chirac, Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Juni 2000. in: FAZ vom 28.6. 2000. S. 10 f.

233 G. Verhofstadt. A Vision for Europe, 21. September 2000. abrufbar unter w w w .theepc.be.

234 T. Blair, Speech to the Polish Stock Exchange. Warschau 6. Oktober 2000. abrufbar unter users.ox.ac.uk/busch/data/blair_warsaw.html.

96 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Wenig später folgten Reden des finnischen Premierministers P. Lipponen (10. November 2000)235 und - wie bereits oben erwähnt - von Bundespräsident J. Rau, der sein konstitutionelles Konzept in Zeitungsartikeln und einer Rede am 19. Oktober 2000 wiederholt vorstellte.2-1* Das Europäische Parlament und die Kommission legten in diesem Zeitraum mehrere Stellungnahmen zur Verfassungs-debatte vor.237 Zahlreiche Anregungen und Stellungnahmen aus der Wissenschaft begleiteten diesen Prozess.238

Mit dem Vertrag von Nizza239 (Inkrafttreten am 1. Februar 2003) bereitete sich die Union auf die Aufnahme der damaligen zwölf Beitrittskandidaten vor. Er sollte somit die Integrationsfähigkeit während der kommenden Erweiterungsphasen stärken. Der Vertrag enthält wesentliche Änderungen der Gemeinschaftsverträge und des Unionsvertrags, vor allem die Größe der Kommission, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit , die Stimmenwägung und Abstimmungsverfahren betreffend. Insgesamt sollten Legitimität, Effizienz und Transparenz der Gemeinschaftsinstitutionen verbessert werden. Indirekt war damit die Frage nach der politischen, d. h. der demokratischen „Verfasstheit" der Union gestellt.240 Oder anders formuliert: es ging (und geht

235 P. Lipponen, Speech at the College of Europe. Brügge. 10. November 2000. abrufbar unter www.vn.f i /english/speech/20001110e.htm.

236 J.Rau, Rede beim VIII Kongress der Eurochambres Berlin, 19. Oktober 2000: vgl. ders. Die Quelle der Legitimation deutlich machen, in: FAZ vom 4 . 1 1 . 1999: Une Constitition pour l 'Europe, in: Le Monde vom 4. 11. 1999: ders.. Wir brauchen eine euro-päische Verfassung, in: Die Welt vom 15.9. 2000.

237 So etwa der Bericht des konstitutionellen Ausschusses des Europäischen Parlaments über die Konstitutionalisierung der Verträge vom 12. Oktober 2000: sowie der Vorschlag der Kommission zur Neuordnung der Verträge vom 14. Juli 2000.

238 Vgl. auch H. Wagner. Die Rechtsnatur der EU. Anmerkungen zu einer in Deutschland stattfindenden Debatte, in: ZEuS 2006. S. 287 ff., insbesondere zu den kontraprodunktiven Wirkungen der Rede J. Fischers.

239 Vgl. etwa die Aufsätze in: M. J o p p / B . L ippe r t /H . Schneider (Hrsg.), Das Vertrags-werk von Nizza und die Zukunf t der Europäischen Union. 2001 sowie in: D . M e l i s s a s / I. Pernice (Hrsg.), Perspectives of the Nice Treaty and the Intergovernmental Conference in 2004. 2001; K.H. Fischer. Der Vertrag von Nizza. 2001: R. Gnan. Der Vertrag von Niz-za, in: BayVBl. 2001. S. 449 ff.; E. Brök. Die Ergebnisse von Nizza. Eine Sichtweise aus dem Europäischen Parlament, in: Integration 1/2001, S . 8 6 f f . ; J. Schwarze. Europäische Verfassungsperspektiven nach Nizza, in: N J W 2002. S. 993 ff.; T. Bender. Die verstärkte Zusammenarbei t nach Nizza, in: ZaöRV 2001, S. 729 ff.; R. Streinz, (EG-)Verfassungs-rechtliche Aspekte des Vertrages von Nizza, in: ZÖR 58 (2003), S. 137 ff.; A. Hat je. Die institutionelle Reform der Europäischen Union - der Vertrag von Nizza auf dem Prüfstand, in: EuR 2001. S. 143 ff.: P. Schäfer, Der Vertrag von Nizza - seine Folgen für die Zukunf t der Europäischen Union, in: BayVBl. 2001. S. 460 ff.: H.-G. Franzke. Das weitere Schicksal des Vertrages von Nizza, in: Z R P 2001. S . 4 2 3 ff.

240 Vgl. U. Guerot. Eine Verfassung für Europa - Neue Regeln für den alten Kontinent?, in: IP 2 /2001 . S. 28 ff.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 97

weiterhin) um die Frage der vertikalen und horizontalen Gewaltenteilung innerhalb der Europäischen Union.

(1) Gründe für ein Debatten-Crescendo

Vor allem zwei politische Entwicklungen von historischem Ausmaß haben die neuerliche Verfassungsdiskussion entfacht und befördert. Zum einen die „Wiedervereinigung Europas" als historische Aufgabe der Erweiterung der Eu-ropäischen Union um die Länder Mittel- und Osteuropas sowie Maltas und Zy-perns.241 Als zweites politisches, im besonderen Maße auch - ungelöstes - gesell-schaftspolitisches Ereignis, das die gegenwärtige Verfassungsdiskussion in der Europäischen Union entscheidend befördert hat. sticht der 11. September 2001 hervor. Neben zahlreichen anderen Konsequenzen hat dieses schreckliche Ereignis maßgeblich die Einsicht gefördert, dass innerhalb der Europäischen Union eine offensichtliche Diskrepanz nicht mehr länger hinnehmbar ist: nämlich einerseits die Verantwortung einer Weltmacht, andererseits jedoch das evidente Unvermögen auf Grund ihres institutionellen Geftiges - vor allem im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, aber auch im Bereich der Zusammenarbeit Inneres und Justiz - derzeit dieser Verantwortung gerecht zu werden. Dieses Missverhält-nis ist innerhalb einer „europäischen Grundsatzdebatte" kaum den „europäischen Bürgern" zu vermitteln, es untergräbt auch und vor allem die Glaubwürdigkeit und den eigenen Anspruch der Union und trägt damit im Ergebnis mit dazu bei, die Entfernung - zuweilen Entfremdung - zwischen den Bürgern und der Union zu vergrößern anstatt zu verringern.

Freilich traten weitere Elemente und Überlegungen hinzu, die letztendlich die Auffassung manifestierten, dass die Zeit für die formale Konstitutionalisierung der Europäischen Union überreif sei. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an die Ausweitung der Gemeinschaftskompetenzen2 4 2 , die zu einer politischen Auf-

241 Siehe zur EU-Osterweitcrung angesichts ausufernder Literatur die Bibliographie im ..Dresdner Internetportal zur EU-Osterwei terung", abrufbar unter dipo. tu-dresden.de/ browse.php?topic=Literature. Mit grundsätzl ichen Erwägungen / / . Roggemann. Verfas-sungsentwicklung und Verfassungsrecht in Osteuropa, in: Recht in Ost und West. 1996. S. 177 ff.: A. StölzlB. Wieser (Hrsg.), Verfassungsvergleichung in Mitteleuropa. 2000. Zu den einzelnen osteuropäischen Staaten vgl. den Literaturhinweis bei P. Häberle. Europäi-sche Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 217 Fn. 93. Vgl. zu den jüngsten Erweiterungs- und Fortschritten der Länder des westlichen Balkans K.-T. zu Guttenberg. Vorsichtig in die Unabhängigkeit , in: Die Welt vom 8. 10. 2005 sowie ders.. Eine Lösung für den Kosovo, in: Berliner Zeitung vom 18 .2 .2006 .

2~2 Dazu aus der neueren Lit.: M. Zuleeg, Der rechtliche Zusammenhal t der EU. 2004. S. 58 ff.; M. Nettesheim. Kompetenzen, in: A. von Bogdandy. Europäisches Verfassungs-recht. 2003. S. 415 ff.; C. Triie. Das System der EU-Kompetenzen, in: ZaöRV 64 (2004). S. 391 ff.; vgl. auch /. Pernice, Kompetenzregelung im Europäischen Verfassungsverbund, in: JZ 2000. S. 866 ff.

98 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

wertung der Union führten, die Einführung einer Unionsbürgerschaft241 und die Herausbildung eines europäischen Bewusstseins sowie die an Resonanz gewinnen-de Überzeugung, dass mit zunehmender Ausweitung des demokratischen Defizits Vertragsänderungen nicht mehr wie bisher durchgeführt werden konnten. Das Bewusstsein über die Notwendigkeit einer verfassungsgestaltenden und letztlich verfassungsmäßigen „Generalüberholung" der Union sowie die Erkenntnis, die Union sollte den Geboten von Transparenz, Effizienz und Demokratie wahrhaftig genügen, reifte in den vergangenen Jahren über die Ebene einzelner Staats- und Regierungschefs hinaus auch in der Wahrnehmung einer beträchtlichen Mehrheit der Bürger in der Europäischen Union244.

Es ist müßig darüber zu debattieren, ob eine solche, mit aller Konsequenz geführ-te Verfassungsdiskussion bereits zu Beginn der europäischen Einigung zu einer Blockierung des Integrationsprozesses geführt hätte, noch bevor er richtig begon-nen worden wäre. Gleichwohl war die schrittweise Integration in der Gründerphase der europäischen Einigung, die oftmals so apostrophierte „Monnet-Methode"245 , während dieses Abschnittes der europäischen Integration insgesamt die adäquate Methode. Es wäre allerdings ein allzu offensichtliches Versäumnis, die in die-sen evolutionären Entwicklungsschritten bereits enthaltenen verfassunggebenden Elemente zu verschweigen246, weshalb in den vorangegangenen Kapiteln entspre-

24? Siehe den 3. Bericht der Kommission Uber die Unionsbürgerschaft v. 7.9.2001 (KOM (2001) 506) sowie aus dem Schr i f t tum P. Hüberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 353 ff. Siehe bereits E. Grabitz. Europäisches Bürgerrecht zwischen Markt-bürgerschaft und Staatsbürgerschaft. 1970; S. Magiern. Die Europäische Gemeinschaft auf dem Weg zu einem Europa der Bürger?, in: DÖV 1987. S. 221 ff.; später ders., Der Rechts-status der Unionsbürger, in: K. Dicke u. a. (Hrsg.), Weltinnenrecht. Liber amicorum Jost Delbrück. 2005. S . 4 2 9 ff.; vgl. auch M. Degen. Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag über die Europäische Union, in: DÖV 1993, S. 749 ff.; A. Randelzhofer, Marktbürger-schaft - Unionsbürgerschaft - Staatsbürgerschaft, in: A. Randelzhofer /R. Scho lz /D . Wilke (Hrsg.). Gedächtnisschrif t fü r Eberhard"Grabitz, 1995. S . 5 8 1 ff.; Ar. Kotalakidis. Von der nationalen Staatsangehörigkeit zur Unionsbürgerschaft . 2000.

244 Von der Notwendigkeit einer europäischen Verfassung überzeugt zeigten sich 2002 nach der 56. Ausgabe des Eurobarometers 2 / 3 der Bevölkerung, vgl. Bulletin Quotidien Europe Nr. 8192 v. 15 . / 16 .4 .2002 . S. 7 und Nr. 8194 v. 18 .4 .2002 . S. 6.

245 Ein Vorgehen, das die Union schrittweise, orientiert am jeweils Machbaren und ohne die Beteiligten zu überfordern, fortentwickelt, aber umgekehrt auch zu derjenigen Unüber-sichtlichkeit des Vertragswerks beigetragen hat. die zu einem weiteren ernst zu nehmenden Argument für die gegenwärtige Verfassungsdiskussion wurde. Vgl. zur sog. . .Monnet-Methode ;" u. a. W. Wessels. Jean Monnet - Mensch und Methode. 2001.

246 Neben den grundlegenden Erwägungen und in dieser Hinsicht Pionierwerken PHäberles (vgl. nur ders., Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S . 3 6 f f . ) hebt diese verfassunggebenden Elemente etwa auch A. Peters. Elemente einer Theorie der Verfassung Europas. 2001 hervor, die Züge einer ..Kontinuierlichen Verfassungsgebung" konstatiert und eine „Konstitution durch Evolut ion" (S. 375 ff.) sowie eine ..Legitimati-on durch Bewährung" (S. 580 ff.) postuliert. Grundsätze, nach denen der Union bereits heute unstreitig Verfassungsqualität zukommt; vgl. dazu lediglich noch /. Pemicef P.M. Hu-

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 99

chende Hinweise zu geben waren. Der zu Beginn des neuen Jahrhunderts dem spä-teren Verfassungskonvent zugrunde liegende Diskussionsstand ist angesichts der einzelnen und bereits wie im Folgenden angerissenen „verfassungshistorischen" Stufen als bislang konkretestes und entsprechend erfolgversprechendes Szenario zu erachten gewesen247 (das vorübergehende Scheitern und Aussetzen des Verfas-sungsvertrages im Dezember 2003 sowie des Vertrages von Lissabon läuft dieser Beobachtung nicht entgegen - vielmehr hat sie durch die Intensivierung der inhalt-lichen Auseinandersetzung eine Manifestierung erfahren). Insgesamt gestaltet sich spätestens seit dem Vertrag von Nizza die Diskussion sehr viel politischer als zu-vor und steht unter einem sehr viel größeren - nicht nur zeitlichen - (Erwartungs-) Druck.

Im Vorfeld der erneuten Verfassungsdebatte rückten vier qualitativ unterschied-liche Herangehensweisen zur Reform der Vertragsstruktur ins Blickfeld:

- Redaktionelle Vereinfachungen, wie sie in Amsterdam248 begonnen wurden. - Fusionsmodelle, die die wichtigsten Verträge (EUV. EGV, EGKSV, EAGV)

in einem Vertrag zusammenführen und dabei weniger wichtige Bestandteile z. B. Protokolle ausgliedern.

- Grundvertragsmodelle, die eine rechtsqualitative Zweiteilung in einen Kernver-trag mit den konstitutionellen Bestandteilen der Gemeinschaftsverträge sowie in einen oder mehrere Ausführungsteile vorsehen, deren Revision dann auch unterschiedlich strengen Anforderungen genügen muss.

- Schließlich Verfassungsmodelle, die einen neuen Text generieren, der in der Regel von einer verfassungsgebenden Institution (z. B. Konvent) erarbeitet wird - wobei allerdings unterschiedliche Leitmotive zu unterschiedlichen Lö-sungsmodellen führen.

Diese vier Optionen sahen sich auch um die Jahrtausendwende mit Überlegun-gen konfrontiert, die bereits in den vergangenen Jahrzehnten mit mehr oder minder hoher Intensität in der Diskussion standen. So sollten redaktionelle Vereinfachun-gen oder eine reine Fusion der vorhandenen Vertragstexte nicht ausreichen, um das notwendige Maß an Vereinfachung und Transparenz zu schaffen. Verfassungsmo-delle oder sogar eine damit verbundene „Neugründung" der Europäischen Union

ber/G. Lübbe-Wolff /C. Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: VVDStRL 60 (20Ö1) und H. SteinbergerlE. Klein! D. Thürer. Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaf t , in: VVDStRL 50 (1991).

247 Zutreffend diesbezüglich auch J. Schwarze, in: ders. (Hrsg.), Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung. 2000. S. 13, 182, ders., Europäische Verfassungsper-spektiven nach Nizza, in: N J W 2002. S. 993 ff.; ein wenig zu skeptisch bezüglich des politischen Willens für ..konstitutionalisierende europäische Verträge" : W. Graf Vitzthum. Die Identität Europas, in: EuR 2002. S. 1 ff. . 16.

248 Im Einzelnen U. Karpenstein. Der Vertrag von Amsterdam im Lichte der Maas-trichtentscheidung des BVerfG. in: DVB1 1998, S. 942 ff.: R.Streinz, Der Vertrag von Amsterdam, in: JURA 1998. S. 57 ff.

100 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

hätten sich hingegen stets an der politischen Durchsetzbarkeit zu messen. Dies wür-de grundsätzlich bedeuten, den notwendigen, eigenen Befindlichkeiten folgenden Ratifikationsprozess bereits im Vorfeld im Auge zu behalten und den Mehrwert gegenüber den bestehenden, in fünfzig Jahren ausgebildeten Vertragsgrundlagen der „europäischen Bevölkerung" verständlich darzustellen.

(2) Die politische Dimension der Verfassungsdebatte

Der Weg zum Verfassungsvertrag ist - ebenso wie das amerikanische Vor-bild - neben allen verfassungsrechtlichen Aspekten - ein höchst politischer, wes-halb dieser - gerade auch angesichts des Wechselspiels zwischen Politik und Verfassungsrecht249 - wenigstens in Ansätzen aufgezeichnet werden soll.

Die Diskussion, ob Europa tatsächlich einer Verfassung bedarf und was deren Vor- und Nachteile sein könnten, wurde erschöpfend geführt.250 Aus politischer Sicht ist allerdings hervorzuheben, dass mit einem abgeschlossenen Verfassungge-bungsprozess auch eine Manifestierung der „Politisierung" der Europäischen Uni-on einherginge251 und dass dadurch ihre Legitimität erhöht würde, entsprechend

249 Dazu auch unter B . I I .2 . f ) j j ) (4 ) sowie unter B. IV.2 .b)cc) (2) . 250 Die Lit. ist Legion : vgl. etwa D. Grimm. Braucht Europa eine Verfassung?, in:

JZ 1995, S .581 ff.; J.-C. Piris, Hat die Europäische Union eine Verfassung? Braucht sie eine?, in: EuR 2000, S. 311 ff.; T. Stein, Europas Verfassung, in: Festschrift Krau-se. 2000. S. 233 ff . : G. Hirsch. Kein Staat, aber eine Verfassung, in: N J W 2000. S . 4 6 f . ; P. Häberle, Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien. 1999: W. Hertel, Suprantiona-lität als Verfassungsprinzip. 1999. Siehe auch G. C. Rodriguez Iglesias, Zur „Verfassung" der Europäischen Gemeinschaf t , in: EuGRZ 1996. S. 125 ff.; ders.. Gedanken zum Ent-stehen einer Europäischen Rechtsordnung, in: N J W 1999. S. 1 ff.: /. Pernice. Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, in: EuR 1996. S . 2 7 f f . ; T.Schilling, Die Verfassung Europas, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1996. S. 387 ff . ; A. von BogdandyIM. Nettesheim. Die Europäische Union: Ein eineheitlicher Verband mit eigener Rechtsordnung, in: EuR 1996. S. 3 ff.; P.M. Huber. Differenzierte Integration und Flexibili-tät als neues Ordnungsmuster der Europäischen Union?, in: EuR 1996. S. 347 ff.: R. Hrbek (Hrsg.). Die Reform der Europäischen Union. 1997; H. Heberlein. Regierungskonferenz 1996: Eine Neue Verfassung für die Europäische Union? (Tagungsbereicht), in: BayVBl. 1997. S . 7 8 f f . Vgl. auch 1. Pernice, Vertragsrevision oder Verfassunggebung?, in: FAZ vom 7.7. 1999; J.H.H. Weiler, The Constitution of Europe. 1999. Siehe auch die Sammel-bände von J. Schwarze (Hrsg.), Die Entstehung einer euopäischen Verfassungsordnung, 2000; J. SchwarzeIP.-C. Müller-Graff (Hrsg.), Europäische Verfassungsentwicklung. EuR Beiheft 1, 2000; R. Herzog!S. Hobe (Hrsg.). Die europäische Union auf dem Weg zum ver-fassten Staatenverbund: Perspektiven der europäischen Verfassungsordung, 2004: M. Jopp. S. Matl (Hrsg.), Der Vertrag über eine Verfassung für Europa - Analysen zur Konstitu-tionalisierung der EU. 2005. Von manchen als ..klassisch" bezeichnet: P. Pescatore, Die Gemeinschaftsverträge als Verfassungsrecht - ein Kapitel Verfassungsgeschichte in der Per-spektive des Europäischen Gerichtshofs, in: W.G. G r e w e / H . H. Rupp. H. Schneider (Hrsg.), Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans Kutscher. 1981. S. 319 ff.

251 Vgl. auch 5. Goulard. C. Lequesne, Une Constitution europeenne. si et seulement si . . . , in: Politique etrangere, n° 2, 2001, S. 1 ff.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 101

der Maßgabe, dass dort, wo (europäisches) Recht gilt und durch- bzw. umgesetzt wird, auch der (verfassungsmäßige) Ursprung dieser Rechtsetzung offensichtlich sein muss.252 Zudem bedeutet die Realisierung der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion einen qualitativen Integrationsschritt, der steter politischer Be-gleitung bedarf. Und drittens ist zu betonen, dass eine europäische Verfassung der Europäischen Union, die sich als Staaten-, aber auch als Bürgerunion versteht, den europäischen Bürgern die Souveränität über den europäischen Integrationsprozess zurückgeben würde.

Denn eine europäische Verfassung bedeutet im Gegensatz zu den bestehen-den Europäischen Verträgen insofern eine qualitative Veränderung bezüglich der Legitimität, als dass eine Verfassung normalerweise Ausdruck von Volkssouve-ränität und damit, in der besten Tradition von J. Bodin und T. Hobbes, Ausdruck eines freien Volkswillen ist.253 Idealiter würden nicht mehr seine Hoheit, der König von Belgien, ihre Majestät, die Königin von Dänemark, noch der deutsche Bundeskanzler oder der französische Staatspräsident dann ein Vertragsdokument unterzeichnen, sondern die europäischen Bürger, ähnlich wie es in dem fiktiven Verfassungsentwurf („We, the people of Europe . . . " ) , den der britische Econo-mist veröffentlichte254, zum Ausdruck kam. Eine bewusst gesetzte Analogie zum amerikanischen Verfassungstext.

Politisch sprach (und spricht) indes dagegen, dass die Diskussion über eine Europäische Verfassung vor allem von den Gegnern einer tiefer gehenden Inte-gration dazu genutzt werden konnte, indirekt, insbesondere über die Frage der Kompetenzabgrenzung, eine versteckte Renationalisierungsdebatte zu führen.2 5 '

An dieser Stelle soll nunmehr ein vertiefender Blick aus der politischen Praxis die wissenschaftlichen Schilderungs- und Gestaltungsversuche ergänzen.

Manche (wissenschaftlichen) Protagonisten gehen in selten offener Selbstbe-trachtung gar soweit, den Beitrag der Wissenschaft zur Verfassungsentwicklung als eher gering einzuschätzen. D. Freiburghaus stellte lakonisch fest, die Wis-

252 Vgl. J. Rau, Die Quelle der Legitimation deutlich machen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 4. 11. 1999: ders.,Une Constitition pour l 'Europe. in: Le Monde . 4. 11. 1999: ders., Wir brauchen eine europäische Verfassung, in: Die Welt, 1 5 . 9 . 2 0 0 0 sowie A. von Bogdandy, A Bird 's Eye View on the Science of European Law, in: European Law Journal. Bd. 6. Nr. 3. September 2000. S. 208 ff., 215 ff.; vgl. auch die . .Mailänder Erklärung zur Europäischen Verfassung" von DGAP. ifri und ISPI. 28. 11. 2000, abrufbar über: w w w .dgap.org. Stichwort: „European Constitution Watch".

253 Siehe auch U. Guerot. Eine Verfassung für Europa - Neue Regeln fü r den alten Kontinent?, in: IP 2 /2001. S. 28 ff.

254 A Constitution for the European Union, in: The Economist , 28. 10.2000. S. 22. 255 Der luxemburgische Premierminister J.-C.Juncker formulierte in der Financial

T imes Deutschland vom 16. 1.2001: „Die Regierungskonferenz 2004 darf keine Abbau-konferenz werden".

102 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

senschaft begleite diese Prozesse wie ein Chor in der griechischen Tragödie, habe jedoch auf die Handlung kaum Einfluss.256 Gleichwohl: Die Juristen haben auch unter praktischen Aspekten fraglos am meisten beigetragen. Die Ökonomen gelegentlich. Die Politikwissenschaft leidet darunter, dass sie eigentlich nicht Wissenschaft von der Politik, sondern zunehmend Wissenschaft des modernen Staates ist. Soweit ..Europa" (in klaren Grenzen) staatsähnlich ist, erwuchs und erwächst freilich überaus konstruktive Begleitung.

(3) Leitbilder und europäische Ideale in der politischen Auseinandersetzung

Es überrascht kaum, dass unterschiedliche Vorstellungen über die endgültige Gestalt Europas auch die politische Debatte prägten. Sie sollen in der Folge syste-matisiert werden. Es bestand weitgehend Einigkeit darüber, dass zuerst das Ziel der Integration feststehen musste, an dem sich die verfassungsmäßige Organisation europäischer Macht folglich ausrichten sollte. „Man kann ( . . . 1 keine institutionel-le Architektur [ . . . ] vorschlagen, ohne zuvor über den politischen Sinn, den man Europa zu verleihen wünscht, nachgedacht zu haben" (L. Jospin)2-'. Mit dersel-ben Stoßrichtung äußerte sich auch K. Biedenkopf: „Man kann keine Verfassung schaffen, ohne zu wissen, was verfasst werden soll".258 Alle genannten Akteu-re verfolgten letztlich die - banale - Absicht, einen „Klärungsprozess darüber einzuleiten, wozu die Einigung Europas überhaupt gut ist"259.

Neben dem deutschen Außenminister J. Fischer der in einfachen Worten betonte, die Integration sei jetzt „an einem Punkt angelangt, wo unsere Bürger genauer wissen wollen, wohin die Reise geht und wie das Ziel aussieht"260 und deshalb eine Antwort auf die Frage „quo vadis Europa?" vonnöten sei261, stellten andere politische Protagonisten die Frage nach einer europäischen Vision, welche

256 D. Freiburghaus, Stellungnahme, in: G. Kreis (Hrsg.), Der Beitrag der Wissenschaf-ten zur künftigen Verfassung der EU. Interdisziplinäres Verfassungssymposium anlässlich des 10 Jahre Jubi läums des Europainstituts der Universität Basel. Basler Schrif ten zur europäischen Integration. Nr. 66, 2003, S. 60 f., 60. Anders allerdings S. Volkmann-Schluck, Die Debatte um eine europäische Verfassung. CAP-Working Paper. 2001.

257 L Jospin. Rede zur „Zukunf t des erweiterten Europas", 2 8 . 5 . 2 0 0 1 , abrufbar unter www.franco-al lemand.coni/de/de-trai te- jospineurope2001.htm.

258 K. Biedenkopf. Europa vor dem Gipfel in Nizza: Perspektiven. Aufgaben und Her-ausforderungen. Rede am Walter-Hallstein-Institut der Humboldt Universität, Berlin. 4. De-zember 2000. S .3 .

259 H. Schneider, Alternativen der Verfassungsfinalität: Föderation, Konföderati-on - oder was sonst?, in: Integration 3 /2000 . S. 171 ff., 171.

260 J. Fischer, Zukunftsfähigkei t und Legitimität der Europäischen Union. Rede vor der französischen Nationalversammlung, 20. Januar 1999, im Internet abrufbar unter www .auswaert igesamt.de/www/de/infoser\ , ice/download/pdf/reden/1999/r990120a.pdf.

261 J. Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität der europäischen Integration, in: Integration 3 /2000 . S. 149 ff. sowie in: F. Ronge (Hrsg.), In welcher Verfassung ist Europa - welche Verfasssung für Europa?, 2001, S. 299 ff.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 103

beantworten soll, „in welchem Europa wir leben wollen", und die zu „weiteren Anstrengungen veranlasst und diese rechtfertigt"262 .

Weitergehende Gedanken über die „Finalität" der europäischen Einigung mach-ten sich auch die Verfassungsskeptiker wie etwa T. Blair: „Wenn wir uns nicht zuerst die grundlegende Frage nach der Richtung stellen, welche Europa einschla-gen soll, verirren wir uns im Dickicht des institutionellen Wandels."263

Die Überlegungen zur endgültigen Gestalt Europas richteten die unterschiedli-chen Akteure letztlich an differierenden Leitbildern aus. Leitbilder oder „europäi-sche Ideale", die nicht nur die Erwartungen der Beteiligten an die Entwicklung der Integration ausdrückten; sie sollten auch die Rolle der Institutionen im Prozess der Gemeinschaftsbildung ausdrücken helfen und den Grad der Kohärenz des jeweils erreichten Entwicklungsstandes mit den jeweiligen politischen Erwartungen der Bürger widerspiegeln.2"

(a) Das Ideal einer „Föderation von Nationalstaaten"

Mit dem Leitbild einer „Föderation von Nationalstaaten" suchten u. a. J. Delors, J. Fischer, J. Rau und L. Jospin einen Abgleich mit ihren Vorstellungen über die Finalität der Integration. Der Begriff „Föderation" erscheint zunächst als Tabubruch, denn er erweckt den Eindruck, als würde der aus der Europapolitik verbannte Gedanke eines Europäischen Bundesstaates als Gegenstand politischer Gestaltungsperspektiven wiederbelebt.265 Tatsächlich zeigte sich Fischer der den Begriff in seiner Humboldt-Rede aufwirf t , inspiriert von der bundesstaatlichen Rhetorik der Nachkriegszeit. Er bezieht sich auf die „Europäische Föderation, die R. Schuman bereits vor 50 Jahren gefordert hat"266.

262 So J. Chirac. Zum zehnten Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2000 in der Semperoper in Dresden. 3. Oktober 2000. abrufbar unter http:/ /www.sachsen.de/de/bf / reden_und Jnterviews/redenOO/10-C.htm.

263 T. Blair Speech to the Polish Stock Exchange. Warschau. 6. Oktober 2000. ebenda. 264 Vgl. dazu auch J.Janning, Leitbilder der europäischen Integration, in: W. Weidcn-

fe ld /W. Wessels (Hrs^.). Europa von A-Z. Taschenbuch der Europäischen Integration. 1997. S. 253 ff., 258.

265 So P. C. Midler-Graff. Europäische Föderation als Revolutionskonzept im europäi-schen Verfassungsraum?, in: Integration. 3 /2000 . S. 157 ff., 157.

26,% J. Fischer Vom Staatenverbund zur Föderation. Gedanken über die Finalität der europäischen Integration, in: Integration 3 /2000 . S. 149 ff. sowie in: F. Ronge (Hrsg.), In welcher Verfassung ist Europa - welche Verfasssung für Europa?. 2001. S. 299 ff. Dieser Logik folgend, fordert Fischer zunächst staatsähnliche Merkmale fü r diese Föderation: ..Ein europäisches Parlament und eine ebensolche Regierung, die tatsächlich die gesetz-gebende und exekutive Gewalt [ | ausüben". Im Laufe der Rede macht Fischer jedoch deutlich, dass er mit . .Föderation" schließlich etwas anderes meint: ..Die bisherige Vorstel-lung eines europäischen Bundesstaates, der als neuer Souverän die alten Nationalstaaten und ihre Demokratien ablöst, erweist sich als ein Konstrukt jensei ts der gewachsenen

104 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

F i s c h e r s Le i t b i l d ist i n s e i n e r B e r l i n e r R e d e v o m I n t e r e s s e g e p r ä g t , d e n N a t i o -na l s t aa t a u c h be i e i n e r v e r s t ä r k t e n I n t e g r a t i o n z u e r h a l t e n : „ D i e N a t i o n a l s t a a t e n w e r d e n f o r t e x i s t i e r e n u n d i n d e r F ö d e r a t i o n e i n e n s t ä r k e r e n R a n g h a b e n a l s d i e B u n d e s l ä n d e r " . Vor d i e s e m H i n t e r g r u n d w i r d e r k l ä r b a r , d a s s e t w a A b g e o r d n e t e d e s E u r o p ä i s c h e n P a r l a m e n t s Fischer v o r w a r f e n , d a s von i h m e n t w o r f e n e E u r o p a sei k e i n e F ö d e r a t i o n , s o n d e r n e i n e „ l o c k e r e K o n f ö d e r a t i o n v o n N a t i o n a l s t a a t e n i m S i n n e v o n d e G a u l l e " 2 6 7 .

Fischer b e m ü h t e s ich mi t s e i n e r u n o r t h o d o x e n V e r w e n d u n g d e s B e g r i f f s „ F ö -d e r a t i o n " u m e i n v e r m i t t e l n d e s L e i t b i l d , d a s ü b e r „ E n t w e d e r - O d e r - S i c h t w e i s e n h i n a u s f ü h r t " 2 6 8 . B e r e i t s i m J a n u a r 1999 ha t t e e r d a r a u f h i n g e w i e s e n , e s g e h e i h m „ n i c h t d a r u m , e i n e n e u e F ö d e r a l i s m u s - D e b a t t e z u e n t f a c h e n . E u r o p a ist b e r e i t s z u w e i t e n t w i c k e l t , u m s ich i n K a t e g o r i e n w i e S t a a t e n b u n d u n d B u n d e s s t a a t e i n -

politischen Realitäten". Statt dessen definiert Fischer den Föderationsbegriff jensei ts der althergebrachten Begri f fsbest immungen, die hinter jahrzehntelangen Auseinandersetzun-gen um die Zielsetzung der Europapolitik standen, vgl. auch H. Schneider, Alternativen der Verfassungsfinalität: Föderation. Konföderation - oder was sonst?, in: Integration 3 /2000 . S. 171 ff. , 172. Seine „Föderation der Nationalstaaten" beruht auf dem Prinzip der „Souveränitätstei lung" zwischen Mitgliedsstaaten und Europäischen Union nach dem Subsidiari tätsgrundsatz, die sich aus einer doppelten Legit imation ableitet: Eine Bürger-kammer mit direkt gewählten Abgeordneten vertritt die Bürger direkt, eine Staatenkammer wahrt die Interessen der Nationen. Damit diese Dualität gewährleistet bleibt, baut Fischer „Unitar is ierungsbremsen" ein. die „bundesstaatl ichen Tendenzen einen Riegel" vorschie-ben sollen, z. B. mit einer klaren Kompetenzabgrenzung zwischen Mitgliedsstaaten und EU-Organen. Dabei tendierte er teilweise sogar zu einer stärkeren Intergouverncmentali-sierung: Fischer konnte sich im Streitgespräch mit seinem französischen Amtskollegen Chevenement (vgl. DIE ZEIT. 7. Juni 2000. S. 13 ff., 18), „sehr gut vorstellen, dass bestimm-te Aufgaben wieder [auf die Nationalstaaten) rückübertragen werden". Die von Fischer erwogene Alternative, den Ministerrat als „echte Regierung" der Europäischen Union zu etablieren, würde die Kommission allerdings zu einer bloßen administrativen Körperschaft degradieren. Vgl. dazu die vergleichsweise intellektuell klare, wenngleich durchaus streit-bare Replik auf Fischers „Humboldt -Rede" von C. Leben. A Federation of Nation States or a Federation of States?, in: C . Joe rges /Y . M e n y / J . H . H . Weiler (Hrsg.), What Kind of Constitution for What Kind of Policy? Responses to Joschka Fischer, 2000. S. 100 ff., insb. 103: „The Commiss ion would become only an administrative body". Fischers ur-sprüngliches Konzept des Doppelmandats in der ersten Kammer stellt in der Konsequenz einen Rückschritt zu den Zeiten diu-, als das Europäische Parlament noch aus Delegierten der Mitgliedsstaaten zusammengesetzt war. Des weiteren erwähnt Fischer entscheidende föderationsqualifizierendc Merkmale nicht, wie etwa die Übertragung des Haushaltsrechts auf die europäische Ebene (s. auch T.A. Börzel/T. Risse, W h o is afraid of a European Federation? How to Constitutionalize a Multi-Level Governance System, in: C .Joerges /Y. M e n y / J . H . H . Weiler (Hrsg.) (2000), S . 4 5 f f„ 48).

267 So beispielsweise in einem Vortrag J. Voggeniwber. Das Europäische Parlament und die konstitutionellen Reformen der Europäischen Union. 2000. Bericht von M.O. Pähl abrufbar unter www.rewi.hu-berl in.de/WHI/english/fce/fce600/bericht-voggenhuber.htm.

268 Vgl. H. Schneider, Alternativen der Verfassungsfinalität: Föderation. Konföderati-on - oder was sonst?, in: Integration. 3 /2000 . S. 171 ff., 173.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 105

zwängen zu lassen. Europa ist und bleibt eine Konstruktion sui generis"269. Im Streitgespräch mit Chevenement erklärte Fischer, warum er dennoch den ideo-logisch belasteten Begriff „Föderation" gewählt hatte: „Wir haben versucht, ein neues deutsches Wort zu finden anstatt .Föderation'. Wenn man es übersetzt, kommt [ . . . ] immer wieder federation oder federation heraus. Sodass wir am Ende aufgegeben und gesagt haben: Wir müssen akzeptieren, dass dies das Wort ist".270

Gleichwohl ist Fischer mit dieser Wortwahl seiner (wiederholten) Intention gerecht geworden, zu provozieren.271 Dass er aber nicht gänzlich hinter dem Begriff stand, lässt sich anhand der Tatsache vermuten, dass Fischer seinen Verfassungsgedan-ken zwar weiterhin an den Vorstellungen der „Souveränitätsteilung" ausrichtete, das Leitbild der Föderation in seinen späteren Europareden und Stellungnahmen aber nicht mehr nachhaltig verfolgt hat.272

Trotz der begrifflichen Probleme haben einige weitere Politiker dieses Leitbild aufgegriffen. Bundespräsident J. Rau wies darauf hin, dass eine „Föderation von Nationalstaaten" das Gegenteil eines Superstaates bedeuten würde, und schon gar nicht ein Europa „ä la Bundesrepublik Deutschland".273 Der Bundespräsident betonte, dass „die wirtschaftliche Globalisierung die Souveränität der National-staaten gravierend aushöhlt". Die Föderation sei „darauf die Antwort, weil sie Souveränität | . . . ) wiedergewinnt, die die einzelnen Staaten, auf sich allein gestellt, im Zuge der Globalisierung, längst verloren haben". Eine föderale Verfassung gebe „Europa eine Gestalt, wie wir sie uns für morgen wünschen können: ein Zu-sammenschluss von Staaten, die einen Teil ihrer Hoheitsrechte gemeinschaftlichen Einrichtungen übertragen, damit sie durch gemeinsames Handeln Souveränität zurückgewinnen können"274.

J. Fischer, Zukunftsfähigkei t und Legitimität der Europäischen Union. Rede vor der französischen Nationalversammlung. 20. Januar 1999. Umfassend zum Föderalismus-begriff in rechtsvergleichender Perspektive unten B.IV.3.b) .

270 Siehe Die ZEIT. 7. Juni 2000. S. 13 ff.. S. 17 f. 271 Siehe auch das Interview mit Fischer in DIE Z E I T 20. Juli 2000. S . 3 . ..Europas

Werte": ..Dass meine Rede Anstoß erregen würde, davon ging ich aus. das sollte sie". Zur durchaus kontraproduktiven Wirkung der Rede Fischers vgl. auch H. Wagner, Die Rechtsnatur der EU. - Anmerkungen zu einer in Deutschland stattfindenden Debatte, in: ZEuS 2006. S. 287 ff.. 288 ff.

272 In der Rede vor dem belgischen Parlament, in der Fischer seine Konzepte der Humboldt-Rede noch einmal fast wortgetreu wiedergibt , ersetzt er das Wort . .Föderation" durch ..Europa": „Wichtigster Ansatzpunkt muss eine klare Souveränitätsteilung zwischen .Europa* und den Nationalstaaten sein"

273 Siehe J. Rau, Plädoyer für eine Europäische Verfassung" Rede vordem Europäischen Parlament am 4. April 2001, S. 3.

274 J. Rau. Rede beim VIII Kongress der Eurochambres Berlin. 19. Oktober 2000. Wi-dersprüchlich ist allerdings, dass Rau den Ministerrat in eine zweite Kammer neben einem gleichberechtigten Europäischen Parlament umwandeln und das nationale Vetorecht aufge-ben wollte und noch betonte, diese Kammer „wahre die Souveränität der Nationalstaaten",

106 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Auch auf französischer Seite ist das Konzept aufgegriffen worden, wo in ähnli-cher Diktion L. Jospin für eine „Föderation von Nationalstaaten" plädierte. Wie Fischer und Rau distanzierte sich der französische Premier von einer zentralis-tischen Auslegung: „Dieses Wort ( . . . ) deckt in Wirklichkeit vielfältige Inhalte ab".275 Ein Gefüge, in dem die derzeitigen Staaten lediglich den Status eines deutschen Bundeslandes erhielten, könne Frankreich nicht akzeptieren. Verstehe man dagegen unter „Föderation" eine „schrittweise und kontrollierte Teilung von Befugnissen und deren Übertragung auf die Union", stimme er dem Begriff „ohne Wenn und Aber" zu. Der Terminus traf außerdem Jospins Vorstellung des konsti-tutiven Spannungsfeldes der europäischen Integration: die Nationalstaaten seien „Realität", die Föderation bleibe ein „Ideal". Damit „starke und lebendige Natio-nen. die ihre Identität wahren wollen", bestehen bleiben, solle die Union J e d e n Einzelnen stärker machen". Auch J. Delors, der einer Verfassung grundsätzlich skeptisch gegenüber stand, verfolgte dieses Leitbild gleichfalls in der Annahme, „dass die Nationalstaaten bleiben müssen"276.

(b) Das Ideal eines „Europas der Nationen"

Der Vorstellung eines „Europa der Nationen" lassen sich die Verfassungskonzep-te von J. Chirac und A. Juppe mit J. Toiibon zuordnen. Im Gegensatz zu J. Fischer benannte Chirac nicht explizit ein „typisches" Leitbild im Spannungsfeld von Fö-deration oder Konföderation. Indem er auf seine damalige Rolle als Ratspräsident und die Kohabitation Rücksicht nahm, wich er der von Fischer aufgeworfenen Frage der Finalität aus und gab in seiner Berliner Rede „den Pragmatiker", um nicht zu provozieren, sondern auszugleichen.277 Dennoch lässt sich herauskristalli-sieren, wie er Europa sehen wollte, nämlich als „Zusammenschluss von Nationen,

vgl. ders., Plädoyer für eine Europäische Verfassung" Rede vor dem Europäischen Parla-ment am 4. April 2001. S .5 .

275 L Jospin. Rede zur . .Zukunft des erweiterten Europas", 2001. ebenda. S. 7. 276 Vgl. das Interview mit J. Delors in: Le Monde vom 19. Januar 2000. 277 Vgl. J. Chirac. Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Juni 2000. abgedruckt

in: FAZ vom 2 8 . 6 . 2 0 0 0 . S. 10 f. Fischers Vorschlag sorgte auch in diesem Kontext für nahezu reflexartige Abwehrreaktionen. So etwa des bereits benannten . .Souveränisten" Chevenement auf das empfohlene Leitbild der Föderation: ..Weil Deutschland immer noch die Nation diabolisiert. neigt es zur Flucht ins Postnationale und findet sich wieder im wehmütigen Traum einer Art von Föderation, die unterschiedliche Teile möglichst re-gional zusammenhäl t" . Chevenement sah den wichtigsten Bezugspunkt der Bürger in der Nation und hielt deshalb den Begriff des . .Verfassungspatriotismus" für „oberfläch-lich". Gleichzeitig verdächtigte er Fischers Verfassungskonzept als „verkappten deutschen Hegemonieanspruch" (zitiert nach K. »>. Beyme. Fischers Griff nach einer Europäischen Verfassung, in: C . Joe rges /Y . M e n y / J . H . H . Weiler (Hrsg.), What Kind of Constitution for What Kind of Policy? Responses to Joschka Fischer. 2000. S . 6 1 ff.. 61) Einerseits neige Deutschland dazu. ..die Nation zu ver teufeln" (vgl. DIE ZEIT. 7. Juni 2000. S. 13), andererseits habe Fischer aber genau verstanden, dass die Nation ein „unentbehrlicher Rahmen der demokratischen Auseinandersetzung" sei. Hinter diesen .Zweideut igkei ten"

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 107

d i e j e w e i l s ih re S e e l e u n d Iden t i t ä t b e w a h r e n m ö c h t e n , a b e r b e s c h l o s s e n h a b e n ,

ih re I n t e r e s s e n u n d vor a l l e m ihre W e r t e g e m e i n s a m z u v e r t e i d i g e n " 2 7 8 .

K o n k r e t e r b e k a n n t e n s ich Juppe u n d Toubon zu e i n e m L e i t b i l d d e r „ N a t i o n a l -s t a a t e n und d e r B ü r g e r " . A l s e h e m a l i g e r P r e m i e r und V o r s i t z e n d e r v o n Chiracs S a m m l u n g s b e w e g u n g R P R s t a n d Juppe d e m P r ä s i d e n t e n n i c h t n u r n a h e , s o n -d e r n e r ha t te a u c h s e inen V e r f a s s u n g s e n t w u r f i m A u f t r a g d e s s e l b e n a u s g e a r b e i t e t . Z i e l s e t z u n g d e s V e r f a s s u n g s e n t w u r f e s w a r u n t e r a n d e r e m , d e n B ü r g e r n e i n e e r n s t -z u n e h m e n d e S t i m m e z u v e r l e i h e n und R e c h t e d e r M i t g l i e d s s t a a t e n z u g a r a n t i e r e n . D e n V e r f a s s e r n g i n g e s mi t d e r A b s c h a f f u n g d e r K o m m i s s i o n , d e r A u f w e r t u n g

witterte Chevenement offensichtlich den Versuch. Fischer wolle den anderen „ein Konzept aufzwingen, das ihm entspricht, aber nicht uns". In diesem Kontext ist auch das Zitat zu ver-stehen. Deutschland müsse sich „von den Entgleisungen des Nationalsozialismus" erholen. Dass die Deutschen den anderen einen europäischen Bundesstaat nach deutschem Vorbild überstülpen wollen, schien auch J. Delors anzudeuten, wenn er hinter der Diskussion um eine Verfassung „eine Arglist" vermutete (so in seiner Rede bei e inem Kolloquium der Friedrich-Ebert-Stif tung. „Die Europäische Avantgarde" in Paris, 2001. S. 1). Obwohl er die Position Chevenements ablehnte, meinte auch H. Vedrine: „Niemand kann behaupten, eine .Patentlösung" für Europa zu haben". Er betonte wiederholt , die Antwort auf Her-ausforderungen könne „nur das Ergebnis einer wirklichen, loyalen 1.. . 1 Diskussion se in" (vgl. H. Vedrine. Schreiben an den deutschen Außenminister J. Fischer, vom 8. Juni 2000. abrufbar unter ig .cs . tu -ber l in .de /o lds ta t ic /w2001/eu l /dokumente / ) . Nicht allein, weil er sich in der Position des Ratsvorsitzes zu diesem Zeitpunkt um kurzfristigere Ziele kümmern musste. stand Vedrine der Verfassungsidee skeptisch gegenüber. Auch bei ihm rief das Schlagwort „Föderat ion" Souveränitätsverlustängste hervor: „Wenn man die Direktwahl des Präsidenten der Föderation, der deren Außen- und Sicherheitspolitik unter der Kontrolle des Parlaments umzusetzen hätte, in Erwägung zieht, welche Zuständigkeiten verbleiben dann dem Nationalstaat? J . . .1 Wie lange gäbe es in Frankreich noch einen Präsidenten I . . . ] und in Deutschland noch einen Bundeskanzler?" (vgl. Vedrine. ebenda). Auch T. Blair sah in Fischers Konzept ein etatistisch geprägtes Leitbild, welches er dem konföderalen Modell der britischen Konservativen gegenüberstellte: „Zwei Modelle wurden bis jetzt vorgeschlagen: Europa als eine bloße Freihandelszone, und das klassische föderalistische Modell , in dem Europa seinen Kommissionspräsidenten wählt und das Europäische Parla-ment eine echte Legislative und Europas wichtigste demokratische Kontrollinstanz wird". Europa dürfe aber nie ein „Superstaat" werden, denn die wichtigste Quelle demokratischer Legitimität seien die direkt gewählten nationalen Parlamente und Regierungen: „Europa ist ein Europa freier, unabhängiger souveräner Nationen, die frei wählen, ihre Souveränität in ihrem eigenen Interesse und zum gemeinsamen Gut zusammenschl ießen" (vgl. ders. Speech to the Polish Stock Exchange. 2000. S. 5 ff.) Außerdem sei es für die Briten aufgrund ihrer eigenen Verfassungstradition „einfacher zu verstehen", dass eine konstitutionelle Debatte nicht unbedingt in e inem einzigen Dokument enden müsse, schon gar nicht bei einer so „dynamischen und komplexen Einheit wie der EU" . Auch für Blair war das von Fischer vorgeschlagene „Gravi tat ionszentrum" mit eigenen Institutionen nicht akzeptabel. Statt eines „Superstaates" sah (und sieht) Blair Europa als „Supermacht" und „wirtschaftliches Kraf twerk" (vgl. ders. (2000). S. 7).

278 J. Chirac, Rede zum zehnten Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2000. S. auch ders.. Rede vo rdem Deutschen Bundestag: „Unser Europa", 27. Juni 2000. wonach die wichtigsten Bezugspunkte unserer Völker „auch in Zukunf t die Nationen darstellen" würden.

108 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

d e s R a t e s , d e r B e s c h r ä n k u n g e u r o p ä i s c h e r K o m p e t e n z e n u n d d e r ü b e r g e o r d n e t e n P o s i t i o n d e r „ S t a a t e n k a m m e r " l e t z t e n d l i c h u m e i n e w e i t g e h e n d e R e n a t i o n a l i s i e -

279 r u n g .

(c) D a s Idea l e i n e s „ E u r o p a s d e r R e g i o n e n "

N e b e n d e n d e u t s c h e n B u n d e s l ä n d e r v e r f o l g t e n g e r a d e d i e R e g i e r u n g s c h e f s k le i -n e r e r S t a a t e n d a s Le i t b i l d e i n e s „ E u r o p a d e r R e g i o n e n " . E s g a b f r e i l i ch D i f f e r e n -z i e r u n g e n . So se tz te s ich d e r s ä c h s i s c h e M i n i s t e r p r ä s i d e n t K . Biedenkopf b e w u s s t von Fischers „ F ö d e r a t i o n d e r N a t i o n a l s t a a t e n " als „ E n d p u n k t de r I n t e g r a t i o n " a b . D i e v o m A u ß e n m i n i s t e r g e f o r d e r t e S o u v e r ä n i t ä t s t e i l u n g z w i s c h e n N a t i o n e n und E u r o p ä i s c h e r U n i o n sei „ i n s t ab i l " : D i e „ G r ö ß e n u n t e r s c h i e d e d e r M i t g l i e d s s t a a t e n e r l a u b t e n k e i n e d a u e r h a f t e S t r u k t u r " , d a „ d i e Idee d e s N a t i o n a l s t a a t e s ( . . . ] m i t e i n e r d e m o k r a t i s c h l e g i t i m i e r t e n F ö d e r a t i o n [ . . . ) k a u m v e r e i n b a r " se i . 2 8 0 E i n e „ F ö d e r a t i o n d e r N a t i o n a l s t a a t e n " b e f ö r d e r e d i e B e h a u p t u n g u n d D u r c h s e t z u n g n a t i o n a l e r I n t e r e s s e n u n d d i e R e a k t i v i e r u n g d e r N a t i o n a l s t a a t e n i m F a l l e v o n K r i s e n " . Bei „ F o r t d a u e r de r N a t i o n a l s t a a t e n " s e i e n d e r „ S t e i g e r u n g d e r V e r b u n d -s i n t e n s i t ä t d a u e r h a f t G r e n z e n g e s e t z t " . Fischers F ö d e r a t i o n sei ke in „ N e u b e g i n n , d e r e s r e c h t f e r t i g e n w ü r d e , d u r c h e i n e e u r o p ä i s c h e V e r f a s s u n g ra t i f i z ie r t z u we r -d e n , we i l s i e d i e T e n d e n z e i n e r d u r c h d i e n a t i o n a l e n E x e k u t i v e n d o m i n i e r t e n R e g i e r u n g s f o r m " v e r s t ä r k e . E i n „ E u r o p a d e r R e g i o n e n " k ö n n t e , s o Biedenkopf d ie D e m o k r a t i s i e r u n g u n d E f f i z i e n z e u r o p ä i s c h e r Po l i t ik b e s s e r g e w ä h r l e i s t e n . „ G r e n z ü b e r s c h r e i t e n d e E u r o r e g i o n e n " e r l a u b t e n d i e B i l d u n g „ s e l b s t v e r w a l t e t e r E i n h e i t e n " , d i e „a l s K e i m z e l l e n d e r I n t e g r a t i o n " M e n s c h e n a u c h „ ü b e r n a t i o n a l e G r e n z e n h i n a u s v e r b i n d e n " . D i e D o m i n a n z g r ö ß e r e r ü b e r d i e k l e i n e r e n M i t g l i e d s -s t a a t e n w ü r d e s o a u f g e h o b e n u n d d i e U n i o n w ü r d e h a n d l u n g s f ä h i g e r .

W ä h r e n d Biedenkopf d i e A b s i c h t v e r f o l g t e , „ in e i n e m P r o z e s s d e r R e g i o n a -l i s i e r u n g ( . . . ] d i e L ä n d e r au f K o s t e n d e r n a t i o n a l e n P a r l a m e n t e ü b e r d i e R e -g i o n a l p o l i t i k d e r E u r o p ä i s c h e n U n i o n z u s t ä r k e n " 2 s l , h ie l t d e r g l ü c k l o s e n i e d e r -s ä c h s i s c h e M i n i s t e r p r ä s i d e n t S . Gabriel d e n E r h a l t d e s N a t i o n a l s t a a t e s f ü r e i n e V o r r a u s s e t z u n g , „ w i r k l i c h e r n s t h a f t e i n e R e v i t a l i s i e r u n g d e s F ö d e r a l i s m u s i n D e u t s c h l a n d d u r c h z u s e t z e n " 2 8 2 . D e s h a l b s ah Gabriel a u c h k e i n e n W i d e r s p r u c h

279 Siehe A. Juppe/J. Toubon, Constitution de 1'Union Europeenne. Contribution ä une reflexion sur les institutions futures de l 'Europe. vom 2 8 . 6 . 2 0 0 0 . abrufbar unter w w w .mic-fr.org/proposition-mic-ce.rtf . Chiracs Leitbild ist zwar moderater. doch erwähnt er beispielsweise die Kommission auch nicht.

280 Vgl. K. Biedenkopf, Europa vor dem Gipfel in Nizza: Perspektiven. Aufgaben und Herausforderungen", Rede am Walter-Hallstein-Institut der Humboldt Universität, Berlin. 4. Dezember 2000.

281 So K. von Beyme. Fischers Griff nach einer Europäischen Verfassung, in: C. Joerges/ Y. M e n y / J . H . H . Weiler (Hrsg.), What Kind of Constitution for What Kind of Policy? Responses to Joschka Fischer. 2000. S. 61 ff., 70.

282 S. Gabriel, Regierungserklärung am 21. Juni 2000 in Hannover, abrufbar unter www .eiz-niedersachsen.de/uploads/media/ef-2000-1 .pdf.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 109

zwischen dem Erhalt der Nationalstaaten und der Stärkung der Regionen: Ein „Verfassungsvertrag, der die Souveränitäts- und Kompetenzverteilung zwischen Europa und den Nationalstaaten horizontal und vertikal regelt", sollte nämlich gleichzeitig „den Regionen und Ländern Spielräume verschaffen, auf der Grund-lage ihrer jeweiligen Verfassungen die Kompetenzen mit ihren Nationalstaaten zu regeln".

Allen Konzepten der Bundesländer ist die zentrale Forderung nach einer verfas-sungsmäßigen Kompetenzabgrenzung zwischen den Regionen und der Europäi-schen Union gemeinsam, um der „Erosion regionaler Handlungsspielräume"283

durch immer weitere Kompetenzerweiterung der europäischen Ebene entgegenzu-wirken und diese wiederzugewinnen. So forderte im trivialen Duktus der rheinland-pfälzische Ministerpräsident K. Beck: „Die Rechte der Bundesländer müssen in die EU-Verfassung".284

(d) Ein offenes Leitbild mit Gemeinschaftsansatz

In diese Kategorie fallen jene Akteure, die in ihren Reden und Äußerungen keinem fest definierten Muster folgten, aber mit einer Verfassung die Einbeziehung der supranationalen Institutionen garantieren wollen. Dazu sind die Kommission, das Europäische Parlament (bereits aufgrund der Heterogenität der immanenten Ansätze), sowie G. Verhofstadt (bis 2005) und P. Lipponen als Vertreter kleinerer Mitgliedsstaaten zu zählen. Auch C. Ciampi wollte sich nicht an „starre Schemata gebunden fühlen".285

Die Kommission. Lipponen und Verhofstadt richteten ihr Leitbild im Wesentli-chen am Gemeinschaftsmodell aus. So zeigte sich Kommissionspräsident R. Prodi fest davon überzeugt, dass die „Gemeinschaftsmethode" unter der Prämisse ihrer „Rationalisierung, Vereinfachung und Erweiterung die Zukunft der Union" wä-re. Der Gipfel von Nizza hätte die Schwächen der zwischenstaatlichen Methode

283 So der damalige Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens W. Clement. Europa ge-stalten - nicht verwalten. Die Kompetenzordnung der EU nach Nizza, Rede in Berlin. 12. Febr. 2001, abrufbar unter www.pressearchiv .nrw.de/0l_textdienst /12_reden/200l /mskr20010212_l .h tm.

284 Interview mit K.Beck in der FAZ. 2 . J u l i 2 0 0 0 . S .5 . Auch E.Stoiber sah den Kernpunkt eines Verfassungsvertrags Europas in der Frage: „Welche Kompetenzen be-halten die Nationen und Regionen?", vgl. ders., Rede am 13. November 1999 in München, abrufbar unter www.bayem.de/Presse-Info/Regierungserklaerun^en/pdf/reg_(K)0322.pdf ?PHPSESSID.

285 C. Ciampi. Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universi-tät Leipzig. 6. Juli 2000. abrufbar unter www.quirinale. i t /ex_presidenti /Ciampi/Discorsi /Discorso.asp?id=12718, mit dem weiteren Hinweis, dass „ [ . . . ] die Begriffe Bundesstaat. Staatenbund oder Staatenverbund unterschiedliche Hypothesen (verkörpern], die in neuen, kombinierten Formen allesamt brauchbar sind".

110 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

gezeigt. Nur einheitliches Handeln, welches auf dem institutionellen Dreieck der Gemeinschaftsmethode beruhe, würde auch in Zukunft zu Ergebnissen führen.286

Das Parlament verfolgte wohl eine ähnliche Absicht, als es ein Leitbild der „Uni-on der Staaten und Bürger" benannte, die den Ministerrat und das Parlament als wirklich gleichberechtigte Legislativen vorsehen soll te.2" Gleichzeitig betonten die meisten der genannten Akteure, dass sie damit weder für die „Staatswerdung Europas" noch etwa für einen „europäischen Superstaat" plädierten.288 Einmal mehr sollte der Hinweis folgen, die Europäische Union sei eine Rechtsordnung sui generis.

(e) Zwischenfazit

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass keiner der benannten Spitzenpoliti-ker - unabhängig von seiner Meinung zur Konstitutionalisierung der Europäischen Union - einen ,Superstaat Europa' errichten wollte. Zumal die vehementesten Befürworter einer Verfassung wie Fischer oder Ran sich ausdrücklich von einem Europa ä la Bundesrepublik distanzierten und mittels der Staatenkammer und dem Kompetenzkatalog Zentralisierungshindernisse in ihr Konzept mit einbau-ten bzw. sogar die Renationalisierung einzelner Politiken befürworteten.2"9 Die Bedeutung des Begriffs „Föderation" wurde vor diesem Hintergrund nicht mehr ausschließlich von Verfassungsbefürwortern benutzt, sondern beispielsweise auch von kritischen Stimmen wie J. Delors. Die Ablehnung des Verfassungsbegriffs ist

286 R. Prodi, Rede vor dem Europäischen Parlament am 17. Januar 2001. abrufbar un-ter europe.eu. int /comm/igc2000/dialogue/info/offdoc/ index_de.htm. Nach G. Verhofstadt. Welche Zukunf t für welches Europa? Rede am 24. Juni 2001. abrufbar unter www.europa-digital.de/aktuell/dossier/reden/verhofstadt.shtml. könnten ..Transparenz. Effizienz. Legiti-mität" nur mit der Gemeinschaf tsmethode gewährleistet werden. ..Eine .starke Kommission* müsse ihre Kraft aus einem .neuen Verhältnis mit den anderen Institutionen* schöpfen, mit e inem Rat. der die Prioritäten der Union festlege und zusammen mit dem Parlament als Gesetzgeber fungiere (vgl. ders. A Vision of Europe. Rede vom 2 1 . 9 . 2 0 0 0 . abrufbar unter www.theepc .be /About_The_EPC/EPC_Documents /Communica t ions_Doc/305.asp ?ID=305). Für P. Lipponen. Speech at the College of Europe. Brügge. 10. November 2000. abrufbar unter www.vn.fi /english/speech/20001110e.htm.. war die Kommission von „aus-schlaggebender Bedeutung", damit in Zukunf t nicht mehr die größeren über die kleineren Staaten dominieren könnten. Dies würde auch die Gleichberechtigung jedes Mitglieds im Ministerrat nötig machen.

287 So im Bericht des Europäischen Parlaments zu der Konstitutionalisierung der Verträge. 2000. S. 17.

2 8 8 Vgl. G. Verhofstadt. A Vision of Europe. Rede des belgischen Ministerpräsidenten v. 2 1 . 9 . 2 0 0 0 . ebenda sowie K. Hänsch. Ziel und Zukunf t der Einigung Europas. Rede auf der Landestagung der Europa-Union Hessen. 3. Juni 2000. abrufbar unter www.europa-web.de/europa/01 lvkvjf/102LY7haensch.htm.

289 Vgl. umfassend auch 5. Volkmann-Schluck, Die Debatte um eine europäische Ver-fassung, CAP-Working Paper. 2001. S. 30 f.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 111

daher zum Teil durch „institutionalisierte Wirklichkeitskonstruktionen4 '290 bedingt: Gerade euroskeptische Regierungen verbanden mit den Begriffen „Verfassung" und „Föderation" immer noch die althergebrachte Vorstellung eines europäi-schen Superstaates. Andererseits forderten die meisten Verfassungsbefürworter die Vertiefung der politischen Integration, während die Verfassungsskeptiker die Europäische Union vorrangig als Wirtschaftsgemeinschaft sahen.

(4) Das Wechselspiel zwischen Verfassungsfunktionen und politischer Diskussion

Maßgeblich für diese Untersuchung ist die Feststellung, dass bisher alle politi-schen Verfassungsentwürfe der Integrationsgeschichte gescheitert sind, sich aber gleichzeitig die juristische Auffassung durchsetzen konnte, der rechtliche Rahmen der Europäischen Union habe sich bereits weitgehend zur Verfassung entwickelt. Um diesen Widerspruch zu erklären, sind vier essentielle Funktionen und Merk-male einer modernen Verfassung anzusetzen und auf den europäischen Kontext zu übertragen, nämlich die Legitimationsfunktion (Berufung auf eine verfassungs-gebende Gewalt und Garantie von Partizipationsrechten), Organisationsfunktion (vertikale und horizontale Gewaltenteilung), Begrenzungsfunktion (individuelle Bürger- und Menschenrechte) sowie die Integrations- und Identifikationsfunktion (klare Festlegung von Normen und Werten).

(a) Die Legitimationsfunktion als Gradmesser der (politischen) Verfassungsdebatte - das US-Modell als Vorbild?

Alle Beobachter und Politiker betonten während der Debatte um eine künftige Verfassung, dass die Legitimationsquelle der Europäischen Union nicht allein aus dem bisherigen Europäischen Parlament entspringen könne. J. Fischer griff hier - wenn auch nicht explizit - die These auf. dass das Europäische Parlament nie die Rolle der nationalen Parlamente übernehmen könne, denn ein „Faktum der europäischen Realität sind ( . . . ) die unterschiedlichen politischen National-kulturen und deren demokratische Öffentlichkeiten, getrennt zudem noch durch die auffälligen Sprachgrenzen"291. Ähnlich argumentierte auch J. Chirac: Wegen ihrer „politischen, kulturellen und sprachlichen Traditionen" würden „auch in Zukunft die Nationen die wichtigsten Bezugspunkte unserer Völker darstellen".292

Laut C. Ciampi sollte eine europäische Verfassung erforderlich sein, um zu „de-

290 K. v. Bewne. Fischers Griff nach einer Europäischen Verfassung, in: C . Joe rges / Y. M e n y / J . H . H . Weiler (Hrsg.), What Kind of Constitution for What Kind of Policy? Responses to Joschka Fischer. 20(X). S. 61 f f . 67.

291 J. Fischer. Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität der Europäischen Integration. Rede an der Humboldt-Universität Berlin. 12. Mai 20(X).

292 J. Chirac. Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Juni 20(X). in: FAZ Nr. 147 v. 2 8 . 6 . 2 0 0 0 . S. 10 f.

112 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

monstrieren, dass die letztliche Quelle für die Legitimität der Institutionen der Europäischen Union bei den Bürgern liegt", ohne dass sie dabei „die Identität der einzelnen Nationen auslöscht".29- Eine europäische Verfassung sollte deshalb die Souveränität der EU-Bürger auf beiden Ebenen, der europäischen wie der na-tionalen. garantieren. Fischer folgerte daraus: „Ein europäisches Parlament muss deswegen immer ein Doppeltes repräsentieren: Ein Europa der Nationalstaaten und ein Europa der Bürger".2^ Diese „Souveränitätsteilung" sollte sich in einem Zwei-Kammer-System manifestieren, von dem eine Kammer die Bürger und die andere die Staaten vertritt.

Das US-Vorbild des Kongresses schimmerte hierbei erst schüchtern hindurch. Lediglich wenige Politiker - wie Ciampi, Lipponen und Chirac - erwähnten das Zwei-Kammer-System indes nicht ausdrücklich. Andere Befürworter einer Ver-fassung hatten ihre Ideen über die Zusammensetzung dieser beiden Kammern im Laufe der Debatte wiederholt modifiziert. So auch J. Fischer der in seiner Humboldt-Rede das Zwei-Kammer-System nach eigenen Angaben als erster aus der politischen Szenerie auf die Agenda gebracht haben wollte295 und diesen institutionellen Ansatz gleichwohl bald zu relativieren wusste, nachdem dieser Vorschlag auf heftige Kritik in vielen Fraktionen des Europäischen Parlaments gestoßen war. Zahlreiche Abgeordnete warfen Fischer vor, er stelle die Eigen-ständigkeit des Europäischen Parlaments in Frage.2''6 Dem entsprang schließlich ein weiteres Konzept Fischers, welches er vor dem Europäischen Parlament am 6. Juli 2000 darstellte. Ähnlich wie in den USA sollten in der ersten Kammer die direkt gewählten Europa-Abgeordneten sitzen, die Zweite Kammer dafür aus Delegierten der nationalen Parlamente bestehen. : '7

293 C. Ciampi, Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Leipzig, 6. Juli 2000.

294 J. Fischer (2000). 295 Tatsächlich hatte J. Kau in den Namensartikeln in Le Monde und der FAZ schon

im November 1999 für dieses System plädiert, es fand aber nicht ein vergleichbares Echo: vgl. FAZ. 4. November 1999. S. 8: ..Die Quelle der Legitimation deutlich machen". Nach Fischers ursprünglicher Auffassung sollten die Abgeordneten der ersten Kammer zunächst ..zugleich Mitglieder der Nat ionalparlamente" sein, denn nur so sei gewährleistet, dass das EP die „unterschiedlichen nationalen Öffentl ichkeiten tatsächlich zusammenführ t" , vgl. ders. In seiner Humboldt-Rede (2000). ebenda.

296 Da es zeitlich nicht möglich sei, gleichzeitig zwei Mandate ..auch nur annähernd sachgerecht auszuüben", führe ein solches Doppelmandat zu einer . .Schwächung des Europäischen Parlaments und seiner Kontrollfunktion", vgl. dazu den Bericht über das Dis-kussionsforum am Walter-Hallstein-Institut vom 22. Juni 2000 mit Johannes Voggenhuber. MdEP und Vorsitzender des Ausschusses für konstitutionelle Fragen (Grüne): „Umfassen-de Demokrat is ierung gefordert . Gegenposit ion zu Joschka Fischer aus dem Europäischen Parlament".

297 Dazu SZ. 7. Juli 2000. S. 8: „Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg: Fischer fordert Entscheidungen über die Zukunf t der EU" . Das Redemanuskript des Aus-wärtigen Amtes entspricht der im Wesentlichen frei gehaltenen Rede nur in Grundzügen.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 113

Hatte Fischer in seiner Humboldt-Rede noch zwei Alternativen zur Stimmen-verteilung dieser „Staatenkammer" vorgeschlagen - das Senats- und Bundesrats-modell - setzte sich ersteres in der Debatte durch. Auch Andere befürworteten in späteren Reden das Senatmodell mit je zwei Abgeordneten pro Mitgliedsstaat.298

Vor allem die kleineren Länder wie Belgien und Finnland warben aus offensicht-lichen Gründen für das US-Modell. Die Kommission äußerte sich nicht explizit zu diesem Modell, betonte aber mehrfach, die kleinen Staaten müssten gleichbe-rechtigt mit den großen Staaten repräsentiert werden. Während Fischer wederein konkretes Rollenverhältnis zwischen beiden Kammern definierte, noch deutlich machte, ob die zweite Kammer den Ministerrat ersetzen würde, hatten sich die Positionen zwischen den Verfassungsbefürwortern mittlerweile polarisiert: Am einen Ende der Skala standen die Befürworter von mehr Supranationalität. Am anderen Ende waren die Intergouvernamentalisten auszumachen, die dem Eu-ropäischen Parlament nur eine untergeordnete Rolle gegenüber dem Ministerrat zuweisen wollten. Diese Vorschläge kamen vor allem von französischer Seite.2"9

Im Zuge von Nizza plädierten auch Regierungschefs verstärkt dafür, den Rat und das Europäische Parlament zu den Kammern einer einzigen Legislative zu entwickeln, wobei ein ständiger Rat als Beauftragter der Mitgliedsstaaten fungieren sollte, und das Europäische Parlament als Vertreter der europäischen V ö l k e r . E i n drittes Modell zielte darauf ab, die Partizipationsmöglichkeiten der Bürger durch mehr Mitspracherechte der Regionen auszuweiten.301

298 So beispielsweise J. Rau. der fü r die gleichberechtigte Repräsentation mit einer ..gleichen Anzahl von S t immen" in der zweiten Kammer warb (vgl. ders., Rede beim VIII Kongress der Eurochambres Berlin, 19. Oktober 2000).

299 Verfechter von mehr Supranationalität forderten ein Zwei-Kammer-System, in dem das Europäische Parlament und der Ministerrat gleichberechtigt Gesetze erlassen könnte. Teile des Europäischen Parlaments sahen vor, dass die „Komposi t ion, das Funktionieren und die Balance zwischen den Institutionen der Union" die „doppelte Legitimität als eine Union der Völker und eine Union der Staaten" reflektieren müsse, und zwar durch den „Ministerrat und das Europäische Parlament" (Konstitutioneller Ausschuss: Bericht über die Vorschläge des Europäischen Parlaments für die Regierungskonferenz. Dok. Nr.: A 5 - 0 0 8 6 / 2 0 0 0 , 27. März 2000. S . 5 : ..An overall equil ibrium must be Struck between the small and large States [ . . . ] therefore [ . . . ] the constitutional principle that the Union of Peoples is represented by the European Parliament and the Union of the States is represented by the Council") . Zahlreiche Abgeordnete forderten in Anlehnung an die früheren Verfassungsentwürfe aus der Mitte des Europäischen Parlamentes ein „echtes Zwei-Kammer-System", in dem „alle Gesetzgebung doppelt legitimiert sein muss: Durch eine Mehrheit der gewichteten St immen der Mitgliedsstaaten im Rat und durch eine Mehrheit im Parlament" (Vgl. dazu etwa die Rede von K. Hänsch auf der Landestagung der Europa-Union Hessen. 3. Juni 2000: sowie das Papier von W. Görlach/J. Leinen/R. Linkohr. Europa als demokratischer Staat, in: H. Mahrhold. Die neue Europadebatte. 2001, S. 298 ff.). Der konstitutionelle Ausschuss modifizierte diese Forderung, indem er die „Auftei lung in zwei Gruppen von Rechtsakten" verlangte, „in denen das Parlament oder der Rat das letzte Wort haben" sollten (ebenda. S. 17).

100 Laut G. Verhofstadt sollte im Rat die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit gefasst werden, und das Europäische Parlament ein generelles Mitentscheidungsrecht erhal-

114 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

(b) O r g a n i s a t i o n s - u n d B e g r e n z u n g s f u n k t i o n i n d e r V e r f a s s u n g s d e b a t t e

D i e w i s s e n s c h a f t l i c h e u n d p o l i t i s c h e D e b a t t e u m d i e B e r ü c k s i c h t i g u n g d e r Organisationsfunktion ist z w a r mi t B l i ck au f d i e W e c h s e l w i r k u n g e n d i e s e s P r i n -z i p s e h e r d ü r r 3 0 2 , g l e i c h w o h l h a b e n s ich z a h l r e i c h e B e i t r ä g e mi t d e r F r a g e n a c h horizontaler Gewaltenteilung z w i s c h e n d e n I n s t i t u t i o n e n , d e r vertikalen Gewal-tenteilung, s o m i t a u c h b e z ü g l i c h d e r S t i c h w o r t e . . E u r o p ä i s c h e R e g i e r u n g " und „ K o m p e t e n z k a t a l o g " b e f a s s t . 3 0 3

ten ( vgl. ders.. Rede in Göttweig am 24. Juni 2001, S. 9). Das gleiche Konzept schlug auch J. Rau vor: ..Der Ministerrat soll zur Staatenkammer werden, in der jeder Staat, vertreten durch seine Regierung, abst immt". Das Europäische Paralment würde zur . .Bürgerkam-mer" werden. Beide Kammern sollten ..gleichwertig und gleichberechtigt entscheiden" (J. Rau, Plädoyer für eine Europäische Verfassung. Rede vor dem Europäischen Parla-ment am 4. April 2001. S. 5). Auch W. Clement forderte, dass das Europäische Parlament ..als Bürgerkammer in allen Bereichen mit dem Rat gleichberechtigt entscheiden" sollte (vgl. ders, Europa gestalten - nicht verwalten. Die Kompetenzordnung der EU nach Nizza. 12. Febr. 2001). Ahnlich argumentierte auch E.Stoiber, der beiden - Rat und Europäi-schem Parlament - ein Initiativrecht zubilligte (ders., Reformen für Europas Zukunf t . Rede in Berlin. 27. September 2000, abrufbar unter www.bayern .de /Ber l in /Verans ta l tungen /Redenarch iv /?PHPSESSlD=eb06875d90a340f2d38d4976) . Am weitesten ging Bundes-kanzler G. Schröder. Er plädierte nicht nur für den „Ausbau des Rates zu einer europäischen Staa tenkammer" und für die „weitere Stärkung der Rechte des Europäischen Parlamentes mittels Ausweitung der Mitentscheidung", sondern forderte damals als einziger Regie-rungschef die „volle Budgethoheit" für das Europäische Parlament (hier G. Schröder in seiner Funktion als SPD-Parteichef, zitiert nach dem SPD-Leitantrag „Verantwortung für Europa", 30. April 2001, S. 2). Überlegungen auf französischer Seite waren diesen bundesstaatlichen Tendenzen entgegengesetzt. Die Neogaullisten A. Juppe und J. Toubon verorteten Legitimität und Kompetenzkompetenz hauptsächlich bei den Nationalstaaten. In ihrem Verfassungsentwurf vom Juni 2000 ist die „Chambre des Nations" der Kammer der europäischen Abgeordneten deutlich übergeordnet, vgl. eingehender 5. Volkmann-Schluck, Die Debatte um eine europäische Verfassung, CAP-Working Paper. 2001. S. 34 ff.

301 So argumentierten etwa K. Biedenkopf in seiner Rolle als Ministerpräsident, sowie die Regierungschefs der kleineren Staaten. Während vor al lem in den bevölkerungsrei-cheren Mitgliedsstaaten der Nationalstaat nur einen „geringen Bezug zur Bevölkerung" herstellen würden, erlaube die „kleinere, überschaubare Einhei t" der Region den Bür-gern mehr Partizipationsmöglichkeiten. Die Regionen wären demnach „angesichts ihrer besseren Vergleichbarkeit nach äußerer Größe und innerer Homogenität eine geeignetere Basis staatlicher Repräsentanz in Europa" als die „größeren, sehr verschiedenen Natio-nalstaaten" (K. Biedenkopf. Europa vor dem Gipfel in Nizza: Perspektiven. Aufgaben und Herausforderungen. Rede am Walter-Hallstein-Institut der Humboldt Universität Berlin. 4. Dezember 2000. S .8 ) . Auch R Lipponen und G. Verhofstadt betonten die „wachsende Bedeutung der Regionen" (P. Lipponen, Speech at the College of Europe in Brügge. 10. No-vember 2000. S .4 ; G. Verhofstadt. A Vision for Europe. Rede vor dem European Policy Center in Brüssel, 21. September 2000. S .7) . Biedenkopf schlug sogar vor. dass die Zwei-te Kammer überhaupt nicht die Nationalstaaten vertreten solle, sondern sich aus dem Ausschuss der Regionen entwickeln könnte (ebenda (2000)).

302 Vgl. aber aus der poli t ikwissenschaftl ichen Lit. mit zahlreichen Nachweisen 5. Volkmann-Schluck. Die Debatte um eine europäische Verfassung. CAP-Working Pa-per. 2001. S. 38 ff.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 115

Die Forderung nach einer eindeutigeren Zuständigkeitsverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedsstaaten bzw. Regionen stand und steht bis heute in zahlreichen Überlegungen an zentraler Stelle. Ein Kompetenzkatalog stellte - neben der Grundrechtecharta - für viele die Konkretion des Verfas-sungsgedankens dar. Mit einem Kompetenzkatalog sollte das Prinzip funktional definierter Handlungsbefugnisse zugunsten rechtsgebietlich definierter Zuständig-keiten überwunden werden. Statt der Vielzahl von Regelungen auf EU-Ebene als Ergebnis der induktiven Vergemeinschaftung sollten bereits in Fischers Humboldt-Rede die Kompetenzen nach dem Prinzip der horizontalen (zwischen den Institu-tionen), besonders aber der vertikalen Gewaltenteilung zwischen EU-Ebene und Mitgliedsstaaten geordnet werden.

Während die früheren Entwürfe des Europäischen Parlamentes darauf abzielten, zunehmend mehr Macht auf die europäische Ebene zu übertragen, gestaltete sich die Organisationsfunktion der Verfassungsentwürfe um die Jahrtausendwende tatsächlich anders. Sowohl Befürworter als auch Gegner einer Verfassung waren sich weitgehend einig, dass das Subsidiaritätsprinzip durch einen klaren Kom-petenzkatalog gesichert werden sollte und der Übertragung von Kompetenzen verfassungsmäßige Schranken entgegengesetzt werden müssten. So sollte die hori-zontale Gewaltenteilung besser organisiert werden, indem die Kommission klarer der Exekutive zugeordnet würde und der Ministerrat sich auf legislative Aufga-ben konzentriert hätte. Die vertikale Gewaltenteilung, d. h. auf welcher Ebene die unterschiedlichen Politikbereiche ausgeübt werden sollen, hing jedoch - wie historisch erwartbar - von den Interessen der einzelnen Akteure ab.

Überlegungen zur verfassungsmäßigen Begrenzungsfunktion politischer Macht gegenüber dem Einzelnen in Form von Menschen- und Bürgerrechten bildeten neben der Frage der Kompetenzabgrenzung den zweiten Kernpunkt der Verfas-sungsdiskussion. Nicht zufällig trieb demnach die auf dem Kölner Rat vom Juni 1999 beschlossene Ausarbeitung einer „Grundrechtecharta"304, welche die in den Verträgen verstreuten Grundrechte sichtbar machen sollte, die Verfassungsdiskus-sion in allen Mitgliedsstaaten an. Die meisten Akteure versprachen sich von dem

303 Aus der Lit. P.Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006, S. 137 f.. 406 ff.; M. Brenner. Der Gestal tungsauftrag der Verwaltung in der Europäischen Union. 1996. S. 157 ff.. R.A. Lorz, Der gemeineuropäische Bestand von Verfassungsprinzipien zur Begrenzung der Ausübung von Hoheitsgewalt - Gewaltentei lung. Föderalismus, Rechts-bindung, in: P.-C. M ü l l e r - G r a f f / E . Riedel (Hrsg.), Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union. 1998. S. 99 ff.; P. Kirchhof. Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, in: JZ 1998. S. 965 ff.: H.-D. Horn, Über den Grundsatz der Gewaltenteilung in Deutschland und Europa, in: JöR 49 (2001). S. 287 ff. Aus der Perspek-tive der amerikanischen Bundesstaatskonzeption bereits E. Fraenkel. Das amerikanische Regierungssystem. 2. Aufl. 1962, S. 106. Siehe des weiteren M. Simm. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften im föderalen Kompetenzkonflikt. 1998. Zum ..institutionel-len Gleichgewicht" R. Streinz. Europarecht. 6. Aufl. 2003, S. 217.

304 Vgl. unter B.II.2.0").

116 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Menschen- und Bürgerrechtskatalog auch eine Verbesserung der Akzeptanz der Europäischen Union, weil jene als „Wertegemeinschaft"305 identifizierbar würde.

(c) Integrations- und Identifikationsfunktion: Transparenz und Bürgernähe, EU-Skepsiskultivierung

Alle diskutierten Verbesserungen im Bereich der Legitimations-, Begrenzungs-und Organisationsfunktion sollten letztlich dazu beitragen, dass Europa kein „ab-straktes Großprojekt mehr ist, das sich hinter verschlossenen Türen im fernen Brüssel oder in den Köpfen einiger Technokraten abspielt"306. Zahlreiche Beiträge zielten darauf ab. mittels der Verbürgung von mehr Bürgernähe durch Subsi-diarität, der Personifizierung von EU-Politik durch die Wahl eines Präsidenten, der klareren Nachvollziehbarkeit von Verantwortlichkeiten, sowie der Verständi-gung über grundlegende und identitätsstiftende Werte des Zusammenlebens die Identitätskrise zu beseitigen. Die mangelnde Identifizierung des Bürgers mit Brüs-sel war (und ist) für nahezu alle Verfassungsbefürworter ein zentrales Problem: Zwischen der Europäischen Union und ihren Bürgern besteht eine derart bemer-kenswerte Kluft, die sich seit Maastricht nicht verringert hat. Als Indikatoren dieser Identitätskrise nannten die Politiker die steigende Europa-Verdrossenheit und die sinkende Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament. Die negativen dänischen und irischen Referenda zum Euro und zum Vertrag von Nizza wurden als Folge einer Identitätskrise gewertet. Das spätere französische „Non" und das niederländische „Nee" zum Verfassungsvertrag sind beredter Ausdruck einer „EU-Skepsiskultivierung".

Ein weiterer wichtiger Grund für die fehlende Akzeptanz der Europäischen Union bleibt freilich - auch praekonstitutionell - die Undurchsichtigkeit der Ver-träge. Zudem sind die „Wahrnehmungsmängel" der bereits in den EU-Verträgen und durch die Rechtssprechung garantierten europäischen Grundrechte wohl auch entscheidende Gründe für wachsende Unzufriedenheit, Desinteresse und „Euro-Müdigkeit" der Bürger, die in den letzten Europawahlen in nahezu allen Mitglieds-staaten in bisher kaum für möglich gehaltene Wahlverweigerung umgeschlagen sind.

Das Problem hatte spätestens mit der Erweiterungswoge im Jahre 2(K)4 noch an Dringlichkeit und Umfang zugenommen. Nachdem die Vergrößerung der

305 Kritisch zur „Wertegemeinschaf t" R. Streinz, Der europäische Verfassungspro-zess - Grundlagen. Werte und Perspektiven nach dem Scheitern des Verfassungsvertrages und nach dem Vertrag von Lissabon, aktuelle analysen Nr. 46 der Akademie für Politik und Zeitgeschehen der Hanns-Seidel-Stif tung. 2008. S. 13 ff. Vgl. auch M. Herdegen. Die Europäische Union als Wertegemeinschaft: aktuelle Herausforderungen, in: Festschrift für Rupert Scholz. 2007. S. 139 ff.

306 So Bundeskanzler G. Schröder in seiner Regierungserklärung vom 19. Januar 2001 (vgl. Plenarprotokoll des Deutschen Bundestages).

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 117

Europäischen Union von 15 auf 27 (plus x) Mitglieder die Auflösung zuordnungs-fähiger Verantwortlichkeiten noch verstärkt und somit potentiell zu europäischen „Erosionsprozessen" führt, muss es auch aus diesem Grunde einen strukturellen Neuanfang geben. Selbst J. Fischer warnte (sie!), dass die Erweiterung „bei den Bürgern Sorgen und Ängste auslösen würde, unter anderem, weil die EU noch undurchsichtiger und un verstehbarer"307 würde.

Als vordergründig banalste (und in der Umsetzung offensichtlich unerreich-bare) Lösung dafür, dass sich die Bürger wieder als Teilnehmer des europäi-schen Gemeinwesens verstehen, galt deshalb die Vereinfachung der bestehenden Verträge. Analog zu den Erfahrungen in der Bundesrepublik, aber eben auch der Vereinigten Staaten von Amerika könnte sich auf diesem Wege ein euro-päischer „Verfassungspatriotismus" entwickeln. Auch unter diesem Vorzeichen stand die Forderung nach einer Zweiteilung der Verträge in Artikel mit kon-stitutionellem Charakter (in einem Grundvertrag) und solche mit detaillierten Ausführungsbestimmungen.3 0 8

Selbst eine „europäische Verbundsverfassung" wäre dem Bürger nur schwer vermittelbar, weil die konstitutionellen Garantien und Grundsätze in dem über Jahrzehnte gewachsenen, immer komplexer gewordenen Vertragswerk und den Urteilen des EuGH für den Bürger nicht erkennbar sind. Dem theoretisch nicht reizlosen Ansatz eines „Verfassungsverbunds" (/. Pernice™) sind bereits damit messbare Grenzen gesetzt. Damit können die Verträge nicht die integrative Kraft

307 J. Fischer; Vom Staatenverbund zur Föderation- Gedanken über die Finalität der euro-päischen Integration. Abdruck seiner Rede vor der Humboldt Universität Berlin (2000). Die ..für die Europapolitik unverzichtbare Akzeptanz" würde sich auch laut Fischer deshalb nur dann einfinden, wenn der ..Zugang der Bürger zum Recht" verbessert wird (vgl. auch ders., Rede zu den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Tampere, 28. Oktober 1999).

M8 D j e s e Überlegung resultierte aus dem Bericht der ..Drei Weisen", den die Kom-mission im Oktober 1999 in Auftrag gegeben hatte (vgl. European University Insti-tute. A Basic Treaty for the European Union, 2000 sowie Centrum für angewand-te Politikforschung. Ein Grundvertrag fü r die Europäische Union. 2000). Die Kom-mission stieß deswegen die Diskussion um die . .Neugestaltung der vorhandenen Tex-te"(vgl. die Rede von R. Prodi, Nizza - und danach. 29. November 2000. abrufbar un-ter www.europa.eu. int / rapid/s tar t /cgi /guesten.ksh?p_act ion.get txt=gt&doc=SPEECH/00 / 4 7 5 % 7 C 0 % 7 C R A P I D & l g = D E ) bereits in der ersten Phase der Debatte an.

""' /. Pernice. Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungsverbund, in: EuR 1996. S. 27 ff. Die von /. Pernice entwickelte Konzeption des Verfassungsverbunds hat inzwischen hohen Bedeutungsgrad in der deutschen Debatte erlangt. Danach stehen Verfassung und Rechtsordnung des Verbands ..Europäische Union" und der mitgliedstaatlichen Verbände in einem so engen Verhältnis der gegenseitigen Verweisung, der gegenseitigen Anhängigkeil und der Verflechtung, dass man die klassisch-völkerrechtliche Sichtweise (unabhängiger Staat und internationaler Zusammenschluss) überwinden müsse. Europäische Union und Mitgliedstaaten sind danach rechtsnormativ in einer Weise zusammengewachsen, dass man sie als Bestandteile eines miteinander zusammengewachsenen Verbundes betrachten müsse. Die zwischen der EU und den Mitgliedstaaten bestehende Trennung werde durch den Prozess des konstitutiven Zusammen Wachsens aufgehoben. EU-Rechtsordnung und

118 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

einer Verfassung entfalten, weil die Bürger sich nicht als Träger des europäischen Gemeinwesens verstehen. Die Verträge können also die Identifikations- und In-tegrationsfunktion einer Verfassung kaum erfüllen. Die Komplexität führte aber nicht nur zu mangelnder Akzeptanz und Entfremdung von der Europäischen Uni-on. sondern auch zu Koordinationsproblemen im politischen System selbst, womit auch die mangelhafte Organisationsfunktion der Verträge erneut angedeutet wäre.

Unter dem Strich trugen alle Defizite im Bereich der Legitimation, Organisation und Begrenzung europäischer Macht zur mangelnden Identifizierung der Bürger mit Brüssel bei. Dramatisch (und fälschlicherweise gerne gleichgesetzt mit dem vorangegangenen Gedanken) war in der Folge auch der Identitätsverlust seitens der Europäischen Union.

kk) Folgerungen aus vier Jahrzehnten Verfassungsentwicklung

Insgesamt hat sich herausgestellt, dass das ursprünglich zwischenstaatlich kon-zipierte europäische Recht der anfänglichen Wirtschaftsgemeinschaft im Laufe des Integrationsprozesses immer mehr konstitutionelle Funktionsnormen entwi-ckelt hat. So legitimieren die Verträge europäische Macht, indem sie dem Bürger Wahlmöglichkeiten und Petitionsrechte einräumen. Die Verträge begrenzen Macht, indem sie die individuellen Menschenrechte der EU-Bürger schützen. Es hat sich gezeigt, dass diese Konstitutionalisierung maßgeblich vom EuGH forciert wurde, welcher bereits in den sechziger Jahren europäischem Recht Vorrang vor natio-nalem Recht zusprach und ein Garant individueller Rechte wurde, indem er dem Einzelnen Klagemöglichkeiten gegen Vertragsverstöße durch die Mitgliedsstaaten gab. Gleichzeitig ist aber auch offensichtlich geworden, dass die Verträge und die EuGH-Rechtssprechung wesentliche Funktionen einer Verfassung nicht erfüllen können, denn sie leiten sich nicht vom pouvoir constituant eines souveränen Vol-

nationale Rechtsordnung w ürden miteinander verschmolzen. Die Verflechtung hätte einen Grad erreicht, der es konzeptionell nicht mehr sinnvoll erscheinen ließe, zwischen zwei verschiedenen Rechtsordnungen zu unterscheiden (vgl. I. Pernice, Art. 23, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz Kommentar. 1998. Rdnr. 20). Die in der Vergangenheit immer wie-der auf tauchenden Konflikte zwischen dem Geltungsanspruch beider Rechtsordnungen wären damit hinfällig. Im Hinblick auf das Zusammenwachsen der Verfassungen müs-se auch von einer einheitlichen „Verfassung Europas" gesprochen werden, in der EU-Verfassungsrecht und nationale Verfassungen aufgegangen seien. Dies mündet in ein Ver-fassungsverständnis, in dessen Mittelpunkt die europäische Verfassungsgesamtheit steht, in der die mitgliedstaatlichen Verfassungen und die unionale Verfassung als „Teilverfas-sungen" (P. Hüberle) aufgehen (. .Mehrebenen Verfassungsverbund", vgl. nur I. Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: European Consti tution-Making Revisited?, in: 3 6 C M L R e v . 1999. S . 7 0 3 ff.). Im Übrigen steht nicht die Frage nach der Souveränität bzw. nach dem Ausnahmefall im Zentrum des Denkens von Pernice, sondern der Regelfall der Kooperation, vgl. auch M. Nettesheim. EU-Recht und nationales Verfas-sungsrecht, Deutscher Bericht für die XX. FIDE-Tagung 2002. (zu finden im Internet unter www.fide2002.org/reportseulaw.htm).

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 119

kes310 ab und bieten dem Bürger nur unzureichende Möglichkeiten, die Politik der Union demokratisch mitzugestalten. Erschwerend kommen die Sprachbarrie-ren zwischen den Mitgliedsstaaten hinzu, die verhindern, dass eine europäische Öffentlichkeit3" zustande kommt, die für das Funktionieren einer Verfassung unerlässlich ist. Auch aus diesem Defizit lässt sich schließen, dass eine europäi-sche Konstitution nicht die staatlichen Verfassungen ersetzen kann, weil sie nicht gänzlich über die nötigen demokratischen Strukturen und Voraussetzungen, wie sie üblicherweise vom Staat gewährleistet werden, verfügen würde.

Die Verfassungspläne, die während der Integrationsgeschichte vom Europäi-schen Parlament entworfen wurden, hatten zum Ziel, diese Defizite zu lösen und die unübersichtlichen Verträge durch ein einzelnes, übersichtliches Dokument zu ersetzen. Initiativen zur Konstitutionalisierung der Europäischen Union entstan-den immer dann, wenn eine innere Krise diese Probleme sichtbar machte oder wenn die europäische Integration durch Einflüsse von außen sich qualitativ verän-derte. So war der Entwurf der Ad-hoc-Versanunhmg eine Reaktion auf die Korea-Krise und sollte den Übergang zu einer politischen Gemeinschaft markieren. Ähnlich versuchte der Herman-Entwurf von 1994. ein neues Selbstverständnis der Europäischen Union nach dem Ende des Kalten Krieges zu definieren. Die beiden neueren Entwürfe des Europäischen Parlamentes von 1984 und 1994 entstanden, um die Handlungsfälligkeit der Europäischen Union auch nach ei-ner Erweiterung ihrer Mitgliederzahl zu sichern. Der Entwurf des Parlamentes von 1994 reagierte auf die Akzeptanzkrise nach dem Maastrichter Vertrag, der zwar immer mehr politische Befugnisse auf die Gemeinschaft übertragen, dem Bürger aber kaum Gestaltungsmöglichkeiten europäischer Politik gegeben hatte. Obgleich die Akzeptanz- und Handlungsprobleme der Europäischen Union, die sie zu lösen versuchten, sich im Laufe der Integration verschärften und spätestens seit Maastricht auch zur gelegentlich offenen Verweigerung der Europäischen Union (Wahlen!) umschlugen, waren die Verfassungsentwürfe des Europäischen Parlamentes zum Scheitern verurteilt, da sie die besonderen Bedingungen einer europäischen Konstitutionalisierung nicht genügend berücksichtigten.

Die Verfassungsentwicklung der Europäischen Union stellt keinen „eindeutig abgrenzbaren linearen" Prozess dar. sondern ein „mehrpoliges System", in dem „zwischen den Mitgliedsstaaten und der Gemeinschaft sowie zwischen den Orga-nen der EG ein sich fortwährend neu definierendes Gleichgewicht gesucht wird".312

310 Zum ..Volksbegriff* aus der Lit: A. Augustin, Das Volk der Europäischen Union. Zu Inhalt und Kritik eines normativen Begriffs , 2()(X): vgl. P. Hüberle, Europäische Verfas-sungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 306 f.

311 Grundlegend P. Hüberle, „europäische Öffentl ichkeit"?. 2001 zuvor schon in: Fest-schrift Hangartner. 1998. S. 1007 ff.

312 Zitate nach R. Bieber. Verfassungsentwicklung und Verfassungsgebung in der EG. in: R. Wildenmann (Hrsg.): Staatswerdung Europas? Optionen für eine Europäische Union. 1991. S. 393 ff.. 412 f.

120 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Laut I. Pernice ist eine „geschachtelt konstituierte europäische Gesamtordnung" entstanden, die „ein einheitliches, föderal strukturiertes System bildet, in dem die nationalen Verfassungen und das europäische Primärrecht Teilelemente eines Europäischen Verfassungsverbundes bilden".313

11) Die Verfassungsqualität der Gemeinschaf t s Verträge

In der Literatur ist man sich inzwischen weitgehend einig, dass das Primärrecht der Europäischen Union Verfassungsqualität314 hat. dass aber unter Zugrundele-gung eines substantiell angereicherten Verfassungsbegriffs Defizite bestehen.

Die rechtsdogmatische Qualifikation der Europäischen Gemeinschaften berei-tete hingegen schon zur Zeit ihrer Gründung erhebliche Schwierigkeiten.315 Im Zuge ihrer weiteren Entwicklung und Ausgestaltung zu einer politischen Union und „Werte-Gemeinschaft" haben sich diese noch erheblich verstärkt.

Zwar charakterisierte schon W. Hallstein die EWG als „Rechtsgemeinschaft" und nicht lediglich als ein Bündel völkervertraglicher Rechte und Pflichten der verbundenen Staaten.3 '6 Bemerkenswert äußerte sich auch der EuGH - bereits in diesem Kontext - , der in seiner berühmten Les Verts-Entscheidung bestätigte, „dass die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft eine Rechtsgemeinschaft der Art ist. dass weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle

313 /. Pernice. Der europäische Verfassungsverbund auf dem Weg der Konsolidierung, in: JöR. Bd. 48 (2000). S. 205 ff., 210.

314 Grundsätzl ich zur Frage eines konstitutionellen Europas: PHäberle, Europäi-sche Verfassungslehre in Einzelstudien, 1999; ders.. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006; A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas. 2001: M. Zuleeg, Die Vorzüge der europäischen Verfassung, in: Der Staat 41 (2002), S. 359 ff.: R. Scholz. We-ge zur Europäischen Verfassung, in: ZG 2002. S. I ff.; A. von Bogdandy. Europäische Prinzi-pienlehre, in: ders. (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht. 2003. S. 149 ff.; I. Pernice. Die Europäische Verfassung, in: Festschrift Steinberger, 2002. S. 1319 ff.: H.H. Rupp. Anmer-kungen zu einer Europäischen Verfassung, in: JZ 2003, S. 18 ff.; E. Pache. Eine Verfassung für Europa - Krönung oder Kollaps der Europäische Integration?, in: EuR 2002. S. 767 ff.

'1 5 Vgl. dazu allgemein A. Riklin, Die Europäische Gemeinschaf t im System der Staa-tenverbindungen. 1972.

316 W. Hallsrein. Die Europäische Gemeinschaf t , 1. Aufl. 1973, S . 4 9 : H. P.lpsen, Eu-ropäisches Gemeinschaf tsrecht , 1972. S. 197 ff. , sieht in der Gemeinschaf t einen Zweck-verband und unterstreicht damit auch den Unterschied zur „Staatlichkeit als umfassender geistig-sozialer Wirklichkeit, potenziell unbeschränkter Kompetenzfülle von Gebiets- und Personalhoheit". Zu \V. Hallstein: M. Kilian, Der Visionär, in: C . D . C l a s s e n u .a . (Hrsg.), ..In einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen . . . " . Liber amicorum Thomas Oppermann. 2001. S. 119 ff. Hallsteins Werke dürfen zu den Klassikern des gemeinschafts-rechtlichen Schr i f t tums gezählt werden, vgl. auch ders., Der unvollendete Bundesstaat. Europäische Erfahrungen und Erkenntnisse. 1969. Zur Europäischen Union als ..Rechtsge-meinschaf t" R. Streinz, Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft . Rechtsstaatliche Anforderungen an einen Staatenverbund, in: Festschrift für Detlev Merten. 2007. S. 395 ff.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 121

darüber entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsur-kunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen".317 Unentschieden blieb jedoch die grundlegende Frage, ob die Gemeinschaften bzw. die Union (noch) mit dem herkömmlichen begrifflichen Instrumentarium des Staatsrechts oder des Völker-rechts qualifiziert werden können318 oder ob sie sich einer solchen Einordnung konzeptuell bereits entziehen.319

317 EuGH Slg. 1986. 1339 (1365 f.). 318 Vgl. auch W. Hummer. . .Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode. Instru-

mente zur Verstaatlichung der Union, in: Politische Studien. Der Europäische Verfassungs-konvent - Strategien und Argumente. Sonderheft 1/2003, S. 53 ff. 55 f.: umfassend bereits VV. Meng, Das Recht der internationalen Organisationen - eine Entwicklungsstufe des Völkerrechts. Zugleich eine Untersuchung zur Rechtsnatur des Rechts der Europäischen Gemeinschaf ten, 1979.

319 Zur rechtlichen Natur der Europäischen Union sei noch ergänzt, dass die Union zunächst auf mehreren, in der Art der Zusammenarbei t zwischen den Staaten abgestuften Gemeinschaften basiert. Diese „drei Säulen Europas" umfassen die Europäischen Gemein-schaften als erste Säule (Die Europäischen Gemeinschaf ten (die EG. die E G K S - im Jahr 2002 in die Anwendungsbereiche des EGV überführt - sowie die Euratom) bilden seit dem am 0 1 . 1 1 . 1 9 9 3 in Kraft getretenen Vertrag von Maastricht Untereinheiten der Euro-päischen Union und wurden durch diesen Vertrag ergänzt um PJZ und GASP. vgl. e twa M. Herdegen, Europarecht. 8. Aufl. 2006. S . 3 8 f . ) , die Gemeinsame Außen- und Sicher-heitspolitik (GASP) als zweite Säule sowie die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbei t in Strafsachen (PJZ) als dritte Säule. Während es sich bei der zweiten und dritten Säule um Strukturen mit rein intergouvernementaler Zusammenarbe i t handelt, die teilweise auf die Organe der Europäischen Gemeinschaf ten zurückgreifen, bilden die Europäischen Ge-meinschaften eine besondere Form völkerrechtlicher Verträge durch Ihren Charakter als „supranationale Organisat ionen" und sind in ihrer rechtlichen Gestalt weltweit einzigartig (so auch M. Heintzen, Vom Dickicht der Verträge zur europäischen Verfassung? Vortrag vom 27. 11.2000 im Rahmen des Studienganges Journalisten-Weiterbildung der Freien Uni-versität Berlin. www.fu-berlin.de/jura/netlaw/pubikationen/beitraege/ssOO-heintzen.html). Wesentlich fü r die Begründung dieses supranationalen Staatenzusammenschlusses ist die Übertragung von Teilen nationaler Hoheitsgewalt durch die Mitgliedstaaten auf die Europäi-schen Gemeinschaften. Dadurch liegt sowohl legislative als auch judikative Entscheidungs-und Regelungsgewalt gegenüber den Völkern dieser Staaten in den Händen der Europäi-schen Gemeinschaftsorgane, die beispielsweise im Fall der Europäischen Kommission und des EuGH auch unabhängig von nationaler Willensbildung tätig werden. Das Primärrecht der Europäischen Union setzt sich zusammen aus dem primären Gemeinschaftsrecht (das durch die vertraglichen Grundlagen der Europäischen Gemeinschaf ten gebildet wird) und den Grundlagenverträgen der Europäischen Union, das Sekundärrecht besteht aus allen Rechtsakten, die auf der Grundlage des Primärrechtes gesetzt werden und ebenfalls mit-telbare als auch unmittelbare Wirkung annehmen können. Die sog. intergouvernementale Zusammenarbei t wirkt insbesondere in den Bereichen der zweiten und dritten Säule der Europäischen Union, in denen die Staaten auf der Grundlage völkerrechtlicher Verträge, die jedoch auf das jeweilige nationale Recht nur mittelbaren Einfluss haben, kooperieren. Nur die Europäischen Gemeinschaf ten sind sowohl im völkerrechtlichen Sinne als auch im innerstaatlichen Rechtsverkehr im Rahmen der Kompetenzen der EG rechtsfähig. (Aus-drücklich anerkannt in den drei Gründungsverträgen: Art. 281 und 282 EGV. Art. 6 EGKS

122 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

In die Verfassungstheorie lassen sich nichtstaatliche Verbände dadurch dogma-tisch einbeziehen, dass man innerhalb eines weiter gefassten Verfassungsbegriffs verschiedene Verfassungstypen unterscheidet. Bisher sind nach der Art des Ver-bandes drei Verfassungstypen zu unterscheiden, nämlich die Staatsverfassung, die bundesstaatliche Gliedstaatsverfassung und - ggf. - die Unionsverfassung. T. Schmitz ist zuzustimmen , dass die essentiellen Lehren der Verfassungstheo-rie auf alle Verfassungstypen anwendbar sind, während weitere Lehren nur für bestimmte Verfassungstypen gelten und allenfalls nach umsichtiger Anpassung auf andere übertragen werden können.120 Die Einbeziehung staatsähnlicher Ver-bände bedeutet demnach also keine vollständige Gleichstellung einer etwaigen Unionsverfassung mit der eines Staates.

Unübersehbare Parallelen zwischen den Gründungsverträgen der Europäischen Gemeinschaften und einer Verfassung haben im europarechtlichen Schrifttum allerdings schon früh zu einer verfassungsrechtlichen Interpretation der Verträge geführt. Bereits Ophüls verwies darauf, dass sie eine Grundordnung enthielten, ein in sich geschlossenes System, das im Gemeinschaftsrecht ähnlich herrsche wie die staatliche Verfassung im nationalen Bereich.121 Hinsichtlich der teils erst für spätere Zeitpunkte festgelegten Integrationsschritte sprach er von „Pla-nungsverfassungen". Ipsen benannte sie später angesichts der bereits mehrfach erfolgten Vertragsänderungen als „Wandelverfassungen".322 In den achtziger Jah-ren ging die Lehre zunehmend dazu über, die Verträge unter Hinweis auf ihre zum Teil verfassungstypischen Regelungsinhalte und Funktionen als Verfassung zu charakterisieren; dabei war durchaus an eine Verfassung i .S .d . normativen Verfassungsbegriffs der Verfassungstheorie gedacht.

( I ) Ausgewählte Verfassungsattribute

Die Verträge sind Verträge zwischen Mitgliedstaaten, welche sich ursprüng-lich auf die Schaffung eines gemeinsamen Marktes und die damit verbundenen Wirtschaftspolitiken beziehen (sollten). Als „Zweckverband" ist ihr Geltungsbe-reich im Gegensatz zur Verfassung also nicht universal, sondern auf einzelne Politikbereiche begrenzt.323 Anders als eine Verfassung im „klassischen" Sinne

sowie Art. 184 und 185 Euratom). Die EU sollte dagegen bisher augenscheinlich keine auf völkerrechtlicher Ebene rechtsfähige Organisation sein (vgl. M. Herdegen (2006). S .65) .

320 T. Schmitz, Integration in der Supranationalen Union. 2001. S. 398 ff. 321 C. F. Ophüls, Die Europäischen Gemeinschaftsverträge als Planungsverfassungen, in:

J. H. Kaiser (Hrsg.), Planung 1. Recht und Politik der Planung in Wirtschaft und Gesellschaft . 1965. S. 229 ff.

322 Vgl. H.P. Ipsen, Die Verfassungsrolle des Europäischen Gerichtshofs fü r die Inte-gration. in: J. Schwarze (Hrsg.). Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, 1983, S. 29 ff. Siehe bereits ders., Europäisches Gemeinschaftsrecht . 1972, S. 64. wo vom ..Inbegriff des Pr imärrechts" als der ..materiellen Verfassung der Gemeinschaf t " die Rede ist.

323 Vgl. H.P. Ipsen. Fusionverfassung Europäische Gemeinschaf ten , 1969. S. 54.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 123

konstituieren sich die EU- und EG-Verträge eben auch nicht aus einem - beispiels-weise revolutionären - Gründungsakt einer politischen Gemeinschaft , sondern leiten sich aus dem Vertragsabschluss souveräner Staaten ab. Laut Art. 48 EUV muss deshalb jede Änderung der EU-Verträge an den Anforderungen der nationa-len Verfassungen gemessen und von den nationalen Parlamenten ratifiziert werden, und theoretisch können die Mitgliedsstaaten (in einer besonderen Ausdrucksform jenes Attributes) als „Herren der Verträge"324 die Mitgliedschaft wieder aufkün-digen.

Gleichwohl existieren Merkmale, die den Verträgen partiell Verfassungsqualität verleihen. Demzufolge sei mit einigen Stichpunkten und freilich unvollständig auf einige Attribute hingewiesen.

Was die EG- und EU-Verträge zunächst von internationalen Verträgen unter-scheidet. ist der teilweise Souveränitätsverzicht der Mitgliedsstaaten durch die ver-traglich festgelegte Errichtung einer supranationalen Behörde und eines Gerichts-hofs. Die Kommission hat das alleinige Initiativrecht für Gesetze (Art. 211 EGV) und kontrolliert die Implementierung dieser Gesetze auf nationaler Ebene.325 Die funktionale Ausweitung der Verträge auf immer neue Wirtschafts- und Politik-bereiche und die damit verbundene Übertragung ursprünglich nationalstaatlicher Kompetenzen auf die supranationale Ebene hat dazu geführt, dass die Verträge wesentliche Funktionen übernommen haben, die im staatlichen Bereich von einer Verfassung erwartet und erfüllt werden. In Bezug auf die Legitimationsfunktion haben die Verträge dem ursprünglichen „Marktbürger"326 im Integrationsprozess immer mehr Partizipationsrechte gewährleistet. Dazu zählt seit 1979 das aktive Wahlrecht zu den Direktwahlen des Europäischen Parlaments, was seit „Maas-tricht" mit der Unionsbürgerschaft auch auf das aktive und passive Wahlrecht bei Kommunalwahlen in jedem Mitgliedsstaat ausgeweitet wurde. Mit der Uni-onsbürgerschaft erhielt der Einzelne auch das Recht, Eingaben und Beschwerden an das Europäische Parlament zu richten. Dazu gibt es einen Bürgerbeauftrag-

324 Kritisch freilich P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 192. da die Staaten „im EU-Europa ohnehin nicht mehr .Herren der Verträge' sind." Im demokrati-schen Europa könne es keine „Herren" geben. Die auf der würde des Menschen aufbauende . .Bürgergemeinschaft Europas" mache die Herrenideologie gegenstandlos (vgl. ebenda. Fn. 21). P.Häberles Bezug zur . .Herrenideologie" erscheint jedoch ein wenig konstru-iert - bei aller zugestanden unglücklichen Wortwahl.

Bei der Gründung der Europäischen Gemeinschaf t fü r Kohle und Stahl (EGKS) im Jahr 1950 eröffnete sich durch diesen Souveränitätsverzicht für Frankreich die Möglichkeit, auf friedliche Weise den Kern des deutschen Wirtschaftspotentials zu kontrollieren, und für den Kriegsverlierer Deutschland die gleichberechtigte Aufnahme in eine internatio-nale Organisation. Ausgehend von diesem „kleinsten gemeinsamen Nenner" sollten die Mitgliedsstaaten dazu gebracht werden, auf weiteren Gebieten „gemeinsame Lösungen zu suchen", vgl. C. Giering. Europa zwischen Zweckverband und Superstaat, 1997. S .45 .

326 Zu diesem Begriff siehe auch S. Hobe. Die Unionsbürgerschaft nach dem Vertrag von Maastricht, in: Der Staat. Nr. 32 (1993). S. 245 ff.. 246.

124 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

ten, der im Interesse der Bürger die Organe zu Stellungnahmen auffordern kann (Art. 195 EGV). Gleichzeitig haben sich im Laufe der Integrationsgeschichte im-mer mehr allgemein als „demokratisch" bezeichnete Rechtsgrundsätze entwickelt, wie das Verhältnismäßigkeitsprinzip und die Rechtssicherheit.

Die verfassungsmäßige Begrenzung von Hoheitsgewalt zum Schutz des Ein-zelnen in Form von Grund- und Bürgerrechten ist im Prozess der schrittweisen Vertragsänderungen ebenfalls ausgebaut worden. Laut Art. 6 E U V achtet die Uni-on die Grundrechte, welche in der EMRK „gewährleistet sind" und die sich aus den „gemeinsamen Verfassungen der Mitgliedsstaaten ergeben". Dazu gehören seit „Amsterdam" auch der Schutz vor ..Diskriminierung aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion" oder „der Weltanschauung", ei-ner „Behinderung", des „Alters" oder der „sexuellen Ausrichtung" (Art 13 EGV). In Art. 136 EGV werden zudem grundsätzliche soziale Rechte bestimmt, sowie in Art. 3 Abs. 2 EGV die „Gleichstellung von Männern und Frauen". Mit dem Ver-trag von Nizza ist außerdem ein Frühwarnsystem eingebaut worden: Art. 7 EUV wurde so geändert, dass der Ministerrat auch vorbeugend tätig werden kann, wenn 90 Prozent des Rates feststellen, dass die Gefahr einer schwerwiegenden Verlet-zung grundlegender gemeinsamer Werte besteht. Der in Maastricht geschaffene „status activus" der Unionsbürgerschaft soll dem Bürger durch Petitions- und Ap-pellationsrechte ein gewisses „Nähe- und Akzeptanzverhältnis" zur Europäischen Union ermöglichen und so zur Integration und Identifikation beitragen. Auch das Subsidiaritätsprinzip327 (Art. 5 EGV) soll garantieren, dass Entscheidungen „mög-lichst bürgernah getroffen werden sollen" (Präambel EUV).328 Gleichzeitig ist die Unionsbürgerschaft aber nur als Ergänzung zur nationalen Staatsangehörigkeit gedacht: ..Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedsstaaten" (Art. 6, Abs. 3 EUV).

(2) Die Qualifikation der Verträge durch den EuGH -ein „europäisches Marbury vs. Madison"

Die konstitutionellen Merkmale des bisherigen Gemeinschaftsrechts erschlie-ßen sich nicht nur aus dem Wortlaut der Verträge, sondern auch aus höchstrich-terlichen Leitentscheidungen.329 In seiner Rolle als unabhängige permanente Ge-

327 Die Lit. zum ..Subsidiaritätsprinzip" ist uferlos. Vgl. etwa H. Lecheler, Das Subsidia-ritätsprinzip - Strukturprinzip einer europäischen Union. 1993: P. Häberle, Das Prinzip der Subsidiarität aus Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, in: AöR 118 (1994). S. 169 ff.: A.Riklin/G. Batline r (Hrsg.). Subsidiarität . 1994: D.Merten (Hrsg.), Die Subsidiarität Europas. 1993.

328 Gleichzeitig ist die Unionsbürgerschaft aber nur als Ergänzung zur nationalen Staats-angehörigkeit gedacht: ..Die Union achtet die nationale Identität ihrer Mitgliedsstaaten" (Art. 6. Abs. 3 EUV).

329 Die diesbezüglichen Ansätze des französischen Conseil Constitutionnel beleuch-tet J. Dutheil de la Roche re, The French Conseil Constituionnel and the constitutional

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 125

richtsinstanz für die Wahrung des Gemeinschaftsrechts hat der EuGH als „Mark-stein" rechtsschöpferischer Gerichtsbarkeit das Gemeinschaftsrecht von der völ-kerrechtlichen Grundlage der Verträge gelöst und seine Prinzipien in Richtung auf eine Verfassung entwickelt.330

Dieser Konstitutionalisierungsprozess durch den EuGH ist gekennzeichnet durch zwei Grundprinzipien: Die direkte Wirkung des EG-Rechts auf den Bürger und der Vorrang der europäischen Rechtsordnung gegenüber den Mitgliedstaaten.

development of the European Union, in: M. Kloepfer / I . Pernice (Hrsg.), Entwicklungs-perspektiven der europäischen Verfassung im Lichte des Vertrags von Amsterdam. 1999. S . 4 3 f f . Das BVerfG hat verschiedentlich untechnisch von einer Gemeinschaftsverfassung gesprochen, zur verfassungstheoretischen Einordnung der Verträge aber bislang nicht Stel-lung genommen. Gleichwohl ist (trotz inflationärer Literatur) in diesem Zusammenhang die „Maastricht"-Entscheidung des BVerfG vom 12. Oktober 1993 zu nennen, in welchem das BVerfG den Gründungsvertrag der Union sowie die Europäische Union selbst mit folgen-den Worten qualifiziert: ..Der Vertrag begründet einen europäischen Staatenverbund, der von den Mitgliedstaaten getragen wird und deren nationale Identität achtet; er betr iff t die Mitgliedschaft Deutschlands in supranationalen Organisationen, nicht eine Zugehörigkeit zu einem europäischen Staat [ . . . ] . Der Unions-Vertrag begründet [ . . . J einen Staatenver-bund zur Verwirklichung einer immer engeren Union der - staatlich organisierten - Völker Europas, keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat [ ]. Wohin ein europäischer Integrationsprozess nach weiteren Vertragsänderungen letztlich fuhren soll, mag in der Chiffre der .Europäischen Union ' zwar im Anliegen einer weiteren Integration angedeutet sein, bleibt im gemeinten Ziel letztlich jedoch offen. Jedenfal ls ist eine Grün-dung ,Vereinigter Staaten von Europa ' , die der Staatswerdung der Vereinigten Staaten von Amer ika vergleichbar wäre, derzeit nicht beabsichtigt" (BVerfGE 89. S. 155 ff. (Rdnr. 33. 51. 53). Damit verwirft das BVerfG nicht nur ( für den damaligen Integrationsstand) jed-weden Staatsbezug, sondern sieht auch für die weitere Ausgestaltung der Gemeinschaf ten bzw. der Union - nicht einmal für die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsu-nion - ..keinen in seinem Selbstlauf nicht mehr steuerbaren ,Automat i smus" ' (BVerfGE ebenda. Rdnr. 88). der unter Umständen zu Formen föderaler Staatlichkeit führen könnte. In der vom BVerfG gewählten Beschreibung der Europäischen Union als „Staatenverbund" drückt sich allerdings die ganze Hilflosigkeit nicht nur der Doktrin, sondern auch der höchstrichterlichen Judikatur mitgliedstaatlicher Gerichte aus. die hybride Rechtsnatur der Europäischen Union auch nur einigermaßen exakt zu beschreiben. Der Begriff ..Staaten-verbund" stellt in diesem Zusammenhang (und bis zur wegweisenden Ausgestaltung durch /. Pernice, vgl. statt vieler Aufsätze ders.. Die Dritte Gewalt im europäischen Verfassungs-verbund. in: EuR 1996. S. 27 ff.) geradezu den Schulfall einer ..semantischen Leerformel" dar. täuscht er doch - allerdings nur auf der semantischen Ebene - einen (vermeintlichen) Konsens in der (völkerrechtlichen) Lehre der Staatenverbindungen über die rechtliche Qualität der Europäischen Union vor, der als solcher aber nicht existiert.

330 Vgl. auch M.A.Dauses, Die Rolle des EuGH als Verfassungsgericht der EU, in: Integration. 4 /1994 . S. 215 ff.. 215. Zu ebendieser Rolle des EuGH als „Verfassungsgericht" siehe bereits G. C. Rodriguez Iglesias, Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Verfassungsgericht, in: EuR 1992. S. 225 ff.; T. Hitzel-Cassagnes, Der Europäische Gerichtshof: Ein europäisches .Verfassungsgericht '?, in: APuZ. B. 5 2 - 5 3 / 2 0 0 0 . Siehe auch F. G. Jacobs, A new Constitutional Role for the European Court of Justice in the next decade?, in: M. Kloepfer / I . Pernice (Hrsg.), Entwicklungsperspektiven der europäischen Verfassung im Lichte des Vertrags von Amsterdam. Baden-Baden 1999. S. 56 ff.

126 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Der EuGH entschied bereits 1963 in der berühmten Rs. Van Gend & Loos, dass EG-Recht anders als in internationalen Organisationen nicht nur für Staaten, sondern auch unmittelbar für deren Bürger gilt, indem er den Bürgern die Möglichkeit gab. Gemeinschaftsrecht vor ihren jeweiligen nationalen Gerichten einzuklagen.1 '1 Die nationalen Gerichte müssen demnach EG-Recht unabhängig von der jeweiligen Gesetzgebung in den Mitgliedsstaaten anwenden. Mit der Ausweitung der Kla-gemöglichkeit auf Einzelpersonen und Unternehmen ist der EuGH nicht mehr nur ..Kontrollorgan der Staaten und der Gemeinschaftsorgane", sondern - wie ein Verfassungsgericht - auch ein „Gralshüter" jener Rechte und Freiheiten der EG-Bürger, die in den Vertragstexten begründet sind.112 Den übergeordneten Charak-ter des EG-Rechts vor nationalem Recht bestätigte der EuGH kurz darauf in der Rs. Costa/ENEL:

„Mit der Übertragung von Hoheitsrechten [ . . . ] auf die Gemeinschaf t [ . . . ] haben die Mitgliedsstaaten ihre [ . . . ] Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für sie und ihre Angehörigen verbindlich i s t . " 3 "

Mit dieser Rechtssprechung wurde den Verträgen Vorrang vor nationalem Recht verliehen, indem spezifischen europäischen Freiheiten des Einzelnen gegen Eingriffe der Mitgliedsstaaten Schutz erwuchs. Um dieser verfassungsmäßigen Begrenzungsfunktion von Hoheitsgewalt auch auf der Ebene der Europäischen Union gerecht zu werden, integrierte der EuGH eine „Grundrechtsdoktrin" in seine Rechtssprechung, welche über die im EWG-Vertrag vorgesehenen wirtschaftli-chen Freiheiten und den Schutz vor Diskriminierung aufgrund der Nationalität hinausreichte. Weil die Verträge selbst keinen Grundrechtskatalog besitzen, be-rief sich der EuGH seit 1970 (Rs. Internationale Handelsgesellschaft) auf die gemeinsamen Überlieferungen der Mitgliedsstaaten und der EMRK.1-14

Ebenfalls in der Rs. Van Gend & Loos hatte sich der EuGH 1963 mit der Rechts-natur der EWG und deren Gründungsvertrag auseinander zu setzen gehabt335 und dabei statuiert, dass der EWG-Vertrag „mehr ist als ein Abkommen, das nur wech-selseitige Verpflichtungen zwischen den vertragsschließenden Staaten begründet" sowie „dass die Gemeinschaft eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, zu deren Gunsten die Staaten, wenn auch in begrenztem Rahmen, ihre Souve-

331 Vgl. EuGH. Rs. 26 /62 . Van Gend & Loos. Slg. 1963, S. 1 ff. . 24. 332 So auch M.A. Dauses (1994). S. 215. 333 EuGH. Rs. 6 /64 . Costa /ENEL, Slg. 1964. S. 1141 f f„ 1251. 334 Die Organe müssen demnach bei der Gesetzgebung, die Mitgliedsstaaten bei der

Umsetzung von EG-Recht diese Menschenrechte beachten. Auch ohne Grundrechtskatalog gab es also genügend Mechanismen, die sicherstellen, „dass die Organe und Mitglieds-staaten die Grenzen der ihnen übertragenen öffentlichen Autorität nicht überschreiten" (so U.K. Preuß. Auf der Suche nach Europas Verfassung, in: Transit 1999 (17). S. 154 ff.. 155).

335 Vgl. hierzu sowie zu den weiteren relevanten Ansätzen des EuGH W. Hummer. . .Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode, in: Politische Studien. Sonderband 1/2003. S. 54 ff. . 57 f.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 127

riinitätsrechte eingeschränkt haben, eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind'*.336 Ein Jahr später entwickelt der EuGH in der benannten Rs. Costa! EN EL diesen Gedanken der Eigenständigkeit der Rechtsordnung der EWG weiter fort:

. Z u m Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag ei-ne eigene Rechtsordnung geschaffen [ . . . J Denn durch die Gründung einer Gemeinschaf t für unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit , mit internationaler Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten, aus der Beschrän-kung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Über t ragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaf t herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist. haben die Mitgliedstaaten, wenngleich auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre Souverä-nitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und für sie selbst verbindlich i s t . "" '

Dieser von ihm selbst benannte völkerrechtliche Ursprung der Europäischen Gemeinschaften hinderte den EuGH hingegen nicht, wiederholt deren Gründungs-verträge als „Verfassungen" zu bezeichnen und damit (gewollt oder ungewollt) eine staatsrechtliche Analogie zu ziehen. So bediente sich der EuGH erstmals der Begrifflichkeit „Verfassung" - wenngleich zunächst noch in Form eines bloßen obiter dictum - in seinem Gutachten I/7633*, wo er von der „inneren Verfas-sung der Gemeinschaft" spricht, im Anschluß aber bereits pointiert in der Rs. Les Verts, in der er den EWG-Vertrag explizit als „die Verfassungsurkunde der Ge-meinschaft" bezeichnet.339 Diese Formulierung nimmt der EuGH in der Folge in der Rs. Zwartveld wieder auf und postuliert, dass weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsorgane der Kontrolle darüber entzogen sind, „ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen".340 Im Gutachten 1/91 qualifiziert der EuGH den EWG-Vertrag (kontrastierend zum EWR-Vertrag) wie folgt:

..Dagegen stellt der EWG-Vertrag, obwohl er in der Form einer völkerrechtlichen Über-e inkunf t geschlossen wurde, nichtsdestoweniger die Verfassungsurkunde einer Rechts-gemeinschaft dar."541

336 EuGH. Rs. 26 /62 , Van Gend & Loos. Slg. 1963. S. I ff., 25. 337 EuGH. Rs. 6 /64 . Costa /ENEL, Slg. 1964. S. 1141 ff. 3 3 8 EuGH. Gutachten 1/76 vom 26. April 1977, Stilllegungsfonds für die Binnenschiff-

fahrt.

Slg. 1977, S. 741 ff. 339 In der französischen Fassung: ..Charte constitutionnclle de base", vgl. insge-

samt EuGH. Rs. 294 /83 . Parti 'ecologiste ..Les Verts"/Europäisches Parlament. Slg. 1986. S. 1339 ff.

340 EuGH. Rs. C-2 /88 . J .J . Zwartveld u .a . . Beschluss vom 13.Juli 1990. Slg. 1990. S. 1-3365. Rdnr. 16.

341 EuGH. Gutachten 1/91 vom 14. Dezember 1991, EWR. Slg. 1991 S. 6079 ff.

128 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Schließlich sucht der EuGH in der Rs. Beate Weber wieder den Kontext zu seiner Formulierung in der Rs. Zwartveld, indem er die Zulässigkeit einer Nichtigkeits-klage damit begründet, dass „weder die Mitgliedstaaten noch die Gemeinschaftsor-gane der Kontrolle daraufhin entzogen sind, ob ihre Handlungen im Einklang mit der Verfassungsurkunde der Gemeinschaft, dem Vertrag, stehen'*.342 Im Übrigen stellte auch das EuG in der Rs. Martfnez fest, dass der Gründungsvertrag der EG als „Verfassungsurkunde" der Gemeinschaft zu erachten ist.341

Im Ergebnis hat der EuGH die verfassungsrechtliche Sichtweise zunächst durch seine kontinuierlich rechtsstaatlich-staatsanaloge und systembildende Rechtspre-chung gefördert und schließlich mit der Entscheidung Les Verts von 1986 und dem I.Gutachten zum EWR-Abkommen von 1991 übernommen, ohne sie aller-dings näher zu begründen oder zu erläutern. Andererseits ist sich der EuGH aber durchaus der Grenzen einer solchen staatsrechtlichen Analogie bewusst, vor allem was einen eventuellen „föderalen" Charakter der vertikalen Kompetenzverteilung zwischen den Gemeinschaften und ihren Mitgliedstaaten betrifft.344

Insgesamt lässt sich mit Blick auf die Leitentscheidungen des EuGH (insbeson-dere 1963 und 1964) und angesichts der Parallelen zu den US-Entwicklungen von einem „europäischen Marbury vs. Madison"345 sprechen.

342 EuGH. Rs. C-314/91 . Beate Weber /Europäisches Parlament. Slg. 1993. S. I-1093 ff.. Rdnr.8.

343 EuG. verb. Rs. T-222. 327 und 329 /99 . Jean Claude Mart fnez ua /Europä i sches Parlament. Slg. 2001, S. 11-2823, Rdnr. 48.

344 So weist er zu dem Vorbringen der deutschen Bundesregierung in der Rs. C-359/ 92 - die der Kommission in Art. 9 der al lgemeinen Produktsicherheitsrichtlinie (1992) eingeräumte Befugnis stehe „in Widerspruch zu der Verteilung der Befugnisse zwischen den Gemeinschaftsorganen und den Mitgliedstaaten" und gehe damit ..über die Befugnisse hinaus, die in einem Bundesstaat wie der Bundesrepublik Deutschland dem Bund gegen-über den Ländern zus tünden" - darauf hin, ..dass die Vorschriften, die die Beziehungen zwischen der Gemeinschaf t und ihren Mitgliedstaaten betreffen, nicht die gleichen sind wie diejenigen, die den Bund und die Länder miteinander verbinden" (EuGH. Rs. C-359 /92 , Deutschland /Ra t . Slg. 1994. S. 1-3681 ff. , S. 1-3712, Rdnr.38). Auch der Generalanwalt F.G.Jacobs weist in seinen Schlussanträgen in dieser Rechtssache darauf hin. dass „mir eine solche Analogie zur Verteilung der Befugnisse nach der deutschen Verfassung jedoch neben der Sache zu liegen [scheint]" (vgl. die Schlussanträge des GA Jacobs in der Rs. C-359 /92 (Fn. 34). S. 1-3694. Rdnr.39). Damit erkennen sowohl der EuGH als auch der Ge-neralanwalt. dass die „vertikale Kompetenzverteilung" im Sinne einer (bloßen) „begrenzten Einzelermächt igung" mit f inal ausgerichteten Organkompetenzen zwischen den Mitglied-staaten der Gemeinschaf ten bzw. der Union mit der bundesrepublikanischen föderalen Kompetenzverteilung nichts gemein hat. sondern anderen Gesetzmäßigkeiten - außerhalb des Staatsrechts - folgt. Vgl. auch W. Hummer (2003), S. 57 f.

345 Zur zitierten Entscheidung des US-Supreme Courts unter B.IV.2b)aa) .

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 129

(3) Völkerrechtliche Qualifikationen

Neuerdings wird der herrschenden Qualifikation'46 einer zwischen den beiden Polen eines völkerrechtlichen Staatenbundes bzw. eines staatsrechtlichen Bun-desstaates34 angesiedelten gegenwärtigen Hybridform als Gebilde „sui generis" insoweit entgegengetreten, als dies nicht schlüssig die Existenz einer eigenen au-tonomen Rechtsordnung im Sinne einer „lex contractus"348 nach sich ziehen muss. Vielmehr seien die Kategorien der Allgemeinen Staatslehre sowie der Lehre von den völkerrechtlichen Staatenverbindungen349 flexibel genug, um auch eine Ein-ordnung der Europäischen Union nach herkömmlicher Terminologie vornehmen zu können.350

Selbst das Abgrenzungskriterium der „Kompetenz-Kompetenz" stellt keine plausible Trennlinie dar. Denn völkerrechtlich ist die souveräne Selbstbestim-mung, also die Unabhängigkeit von Dritten entscheidend, nicht aber, ob innerhalb der Staatenverbindung die „Kompetenz-Kompetenz" bei der zentralen oder bei den dezentralisierten Einheiten liegt. Letzteres ist wiederum maßgeblich für die föderale Ausgestaltung und die Gewaltenbalance in diesem Verbund, nicht aber für die Selbstständigkeit gegenüber Dritten, die aus völkerrechtlicher Sicht das Kriterium für den Bestand einer „Staatsgewalt" darstellt.351

Bezug nehmend auf die klassische „Drei-Elemente-Lehre" des Völkerrechts für das Vorliegen eines souveränen Staates wird behauptet, dass der EU eben jene drei Elemente fehlen würden:

346 Im Sinne eines „dualistischen Rechtsdenkens*'. 147 Einem sehr allgemeinen Ansatz folgend liegt der Unterschied zwischen Staatenbün-

den und Bundesstaaten grundsätzl ich im Ausmaß der Zentral is ierung bzw. Dezentralisie-rung der Aufgabenwahrnehmung, wobei die Grenzen aber fließend sind.

348 Ygj p f j s c i J e r D i e EU - eine autonome Rechtsgemeinschaft? Gleichzeitig ein . .Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode. Beitrag zur Problematik des dua-listischen Rechtsdenkens in der internationalen Jurisprudenz, in: W. Hummer (Hrsg.), Paradigmenwechsel im Europarecht zur Jahrtausendwende. Ansichten österreichischer Völkerrechtler zu aktuellen Problemlagen. 2003. S. 3 ff.

149 Klassiker etwa G. Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen. 1882; J. L. Kunz, Die Staatenverbindungen. 1929; H.Kelsen, General Theory of Law and State, 1949; R. Bindschedler; Rechtsfragen der europäischen Einigung. Ein Beitrag zu der Lehre von den Staatenverbindungen, 1954.

350 Diese Beobachtung und Differenzierung stützt sich auf W. Hummer, „Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode. Instrumente zur Verstaatlichung der Union, in: Politische Studien. Der Europäische Verfassungskonvent - Strategien und Argumente. Sonderhef t 1/2003. S. 53 ff. 56. Vgl. auch 5. Griller, Der ..Sui Generis-Charakter" der EU und die Konsequenzen für die Verfassungsoptionen. Ein Versuch der Entmythologisie-rung des Verfassungsstreits, in: W. Hummer (Hrsg.). Paradigmenwechsel im Europarecht zur Jahrtausendwende. Ansichten österreichischer Europarechtler zu aktuellen Problemla-gen. 2()03. S. 23 ff.; siehe auch A. Riklin, Die Europäische Gemeinschaf t im System der Staatenverbindungen. 1972. S. 330 ff.

351 Vgl. auch S. Griller (2003), S. 26 ff.

130 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

- So habe sie bereits kein Staatsvolk, sondern gem. Art. 17 EGV nur Unionsbürger und es existierten gem. Art. 189 EGV nur die „Völker der in der Gemeinschaft zusammengeschlossenen Staaten", aber kein einheitliches europäisches Staats-volk.

- Des Weiteren sei der Europäischen Union kein Staatsgebiet zuzuordnen, sondern nur ein gem. Art. 299 EGV über die territoriale Souveränität ihrer Mitgliedstaa-ten umschriebener räumlicher Geltungsbereich ihres Gründungsvertrages.

- Zuletzt fehle ihr auch die Staatsgewalt, da das Gewaltmonopol nach wie vor bei den Mitgliedstaaten liege.

Alle diese Einwände lassen jedoch nicht zwingende Argumentationslinien erkennen.352

Hinsichtlich der Existenz eines „europäischen Volkes" verlangt das Völkerrecht kein homogenes Staatsvolk bzw. eine „subjektive Bekenntnisgemeinschaft" im Sinne einer „Nation", sondern rekurriert auf die Bevölkerung als Anzahl sess-hafter Menschen. Bezüglich des Staatsgebietes stellt das Völkerrecht nur auf den Bestand eines gesicherten Raumes ab, auf dem das Staatsvolk seine Herr-schaft ausüben kann.353 Und betreffs der fehlenden Staatsgewalt wurde vorstehend schon ausgeführt, dass es nur auf die souveräne Selbstregierung und rechtliche Unabhängigkeit ankommen könne, nicht aber darauf, wie die Wahrnehmung der Staatsgewalt in der Staatenverbindung intern aufgeteilt ist.

Im Wesentlichen ist die noch fehlende „Staatsqualität" des (völkerrechtlichen) Staatenbundes Europäische Union auf den mangelnden Staatsgründungswillen ihrer Mitgliedstaaten zurückzuführen und weniger auf die fehlende hinreichende Staatsgewalt oder die in den Gründungsverträgen enthaltenen Garantien für die einzelstaatliche Identität (Art. 6 Abs. 3 EUV) und Selbstständigkeit.354

352 Die folgenden völkerrechtlichen Begründungsansätze lehnen sich an W. Hummer, . .Verfassungs-Konvent" und neue Konventsmethode. Instrumente zur Verstaatlichung der Union, in: Politische Studien. Der Europäische Verfassungskonvent - Strategien und Argu-mente. Sonderheft 1/2003. S. 53 ff., 56 an.

353 Hierzu auch S. Griller, Ein Staat ohne Volk? Zur Zukunf t der Europäischen Union. IEF Working Paper Nr. 21. 1996. S. 14: „Warum die Festlegung dieses Gebiets in der .Staatsverfassung* nicht unter Bezugnahme auf die räumliche Abgrenzung seiner territo-rialen Untergliederungen, etwa der Länder einer bundesstaatlichen Organisation, möglich sein soll - e twa in Form von Art. 3 B-VG: .Das Bundesgebiet umfasst die Gebiete der Bundesländer ' - bleibt unerfindlich".

354 Bezüglich der damit zusammenhängenden, dogmatisch ebenfalls bestrittene Völ-kerrechtssubjektivität der Europäischen Union unterscheidet W. Hummer (2003), ebenda, zwischen einer . .Innensicht" im Sinne einer . .Autostereotypisierung" und einer ..Außen-sicht" im Sinne einer . .Heterostereotypisierung". Im Inneren wachse ..der Union implizit vor allem über den bereits durch sie selbst mehrfach erfolgten Vertragsschluss mit Drittstaaten gem. Art. 24 E U V mehr und mehr Handlungsfähigkeit und damit (partielle) Rechtsper-sönlichkeit im Völkerrecht zu. hinsichtlich des ,Außenaspektes ' muss ein in der Literatur

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 131

(4) Konstitutionelle Defizite der Verträge

Der „Komplementärverfassungscharakter" der Verträge birgt jedoch auch kon-stitutionelle Mängel, von denen einige in der gebotenen Kürze dargestellt werden sollen.

Unzureichend ist zunächst die Legitimationsfunktion der Verträge. Der EuGH stützte seine Urteile wie zitiert auf die Annahme, dass die Gemeinschaft eine „neue Rechtsordnung des Völkerrechts" darstellt, „zu deren Gunsten die Staaten | . . . ) ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben".355 Aus einer engen, verfassungs-theoretischen Perspektive ist dies nicht unproblematisch, da sich die Souveränität der europäischen Rechtsordnung nicht auf den vorrechtlichen pouvoir constituant einer politischen Gemeinschaft, sondern letztlich auf die Rechtssprechung eines durch Verträge geschaffenen Gerichtshofes stützt. Auch das Europäische Parla-ment als schwächstes Organ der Gemeinschaft kann wegen seiner mangelhaften Gestaltungs- und Kontrollmöglichkeiten nur unzureichend die konstitutionelle Legitimationsfunktion übernehmen. Der Bürger bleibt durch seine rudimentären Mitwirkungs- und Kontrollrechte eher ein „Zaungast des eigenen Schicksals", der es schwer hat. die „neue Formation öffentlicher Gewalt zu verstehen und sich selbst als Subjekt dieser Entwicklung zu erkennen".356 Auf dieses vielbeklagte Demokratiedefizit"7 stützt sich die Meinung, die Europäische Union sei generell nicht verfassungsfähig358 , da der Bürger zwar immer mehr an die Hoheitsge-walt der Gemeinschaft gebunden ist, seine demokratischen Mitwirkungsrechte aber primär im jeweiligen Mitgliedsstaat ausübt. Demzufolge kann die materielle „Verfassung" der Europäischen Union bereits ihre integrative Kraft nicht vollends

völlig vernachlässigtes Kriterium erwähnt werden, nämlich der Umstand, wie denn die Staatengemeinschaft als solche die EU als „internationalen Akteur" sieht. Diese ..Heteros-tereotypisierung" der EU als eigenständige Rechtsperson durch dritte Völkerrechtssubjekte wird mit zunehmender Verdichtung der Außenbeziehungen der EU immer wahrscheinlicher und würde die EU diesbezüglich „von außen" in Zugzwang bringen, ihre Handlungs- und damit auch Rechtsfähigkeit „nachzujust ieren".

355 EuGH. Rs. 26 /62 , Van Gend & Loos. Slg. 1963. S. 1 ff. . 25. 356 Zitiert nach U. Di Fabio, Eine europäische Charta. Auf dem Weg zur Unionsverfas-

sung. in: JZ 2(KM), S. 737 ff.. 738. 357 Vgl. n u r A Blecknumn. Das europäische Demokratieprinzip, in: JZ 2001. S. 53 ff., 57:

D. Tsatsos, Die Europäische Unionsgrundordnung im Schatten der Effektivitätsdiskussion, in: JöR 49 (2001). S. 63 ff. . 69 ff. Vgl. auch J. Drexl u. a. (Hrsg.), Europäische Demokratie. 1999: D. Thürer. Demokratie in Europa. Staatsrechtliche und europarechtliche Aspekte, in: O. Due u. a. (Hrsg.), Festschrift fü r U. Everling, 1995, Band 2, S. 1561 ff.: M. Kaufmann. Europäische Integration und Demokratieprinzip. 1997. Siehe auch P.M. Huber. Die Rolle des Demokrat ieprinzips im europäischen Integrationsprozess. in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1992, S. 349 ff.; I. Pernice. Maastricht. Staat und Demokrat ie , in: Die Verwaltung 29 (1993), S .449 ff.: H.H. Rupp, Europäische Verfassung und Demokratische Legitimation, in: AöR 120 (1995), S. 269 ff.

3 5 8 Zur Frage der . .Verfassungsfähigkeit" der Union m.w. N. unter B . I I .2 . f )nn) (2) (c ) .

132 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

entfalten, weil die Bürger sich nicht als Mitträger des durch sie konstituierten Gemeinwesens verstehen.359

Als größtes Hemmnis der Bildung eines europäischen öffentlichen Raumes, in dem die Bürger ihre Konflikte austragen könnten, bezeichnet unter Anderen D. Grimm das Fehlen einer gemeinsamen Sprache, durch das der öffentliche poli-tische Diskurs an nationale Grenzen gebunden bleibe, während im europäischen Raum abseits der Öffentlichkeit geführte Fach- und Interessensdiskurse domi-nieren.360 Deshalb könne der zum Funktionieren einer Verfassung unerlässliche demokratische Willensbildungsprozess nicht zustande kommen. Eine konstitutio-nelle Neugründung der Europäischen Union würde zwar den Organen die Fähigkeit geben, neue Hoheitsbefugnisse zu schaffen. Da diese Kompetenz-Kompetenz aber nicht von einer Art europäischem Staatsvolk legitimiert wäre, wäre die durch eine europäische Verfassung vermittelte Legitimation nur eine „Scheinlegitimation".361

Hiergegen ließe sich anführen, dass ein Grundaxiom der europäischen Idee gerade nicht die Homogenität eines Staatsvolks, sondern auf der Basis eines der Pluralität verhafteten Europabildes das „Recht zum Anderssein", die „Garantie für Vielfalt" und die „Selbstbestimmung des Individuums" die erforderlichen Prä-missen bilden. Die Legitimität einer solchen primär funktionellen, heterogenen Gemeinschaft erfolgt weniger durch eine politische Gesamtwillensbildung nach parlamentarischem Muster, sondern durch die Bereitstellung verschiedener Betei-ligungsmöglichkeiten auf den politischen Prozess wie Interessensgruppen, politi-sche Parteien. EU-Organe, Bundesländer und jeweiligen nationalen Parlamente. Da die supranationale Gemeinschaft gerade ihrer dem Nationalstaat gegenüber höheren Problemlösefähigkeit wegen gegründet wurde, ist das wichtigste Legi-timitätskriterium der Europäischen Union nicht wipM/-definiert, also z. B. durch Wahlen, sondern ergibt sich aus ihrem Output, d. h. der Leistungsfähigkeit und Ef-fektivität, Probleme zu lösen. Wichtig wäre es deshalb, die Union handlungsfähig und Kanäle zur Interessensdurchsetzung nutzbar zu machen. Ziel einer europäi-schen Verfassung wäre deshalb nicht, den Nationalstaat zu ersetzen, sondern das

359 Vgl. D.Grimm. Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995. S .581 ff.. 581. Unter dieser Prämisse könnte selbst die Stärkung der legislativen Rechte des Europäischen Parlaments dieses Defizit nicht verringern. Denn die Unionsbürger orientieren sich bei der Wahl der Abgeordneten an Präferenzen, die sich ..sachlich in den nationalen nach wie vor segmentierten öffentl ichen Meinungen widerspiegeln" (so C. Koenig, Ist die europäische Union verfassungsfähig?, in: DÖV 1998. S. 268 ff., 271).

360 D. Grimm (1995), S. 587. 591. 161 In die gleiche Richtung zielte auch das BVerfG in seiner „Maastricht"-Entscheidung

vom 12. Oktober 1993 (BVerfGE 89. S. 155 ff.). Nur innerhalb der Mitgliedsstaaten könne sich das „Staatsvolk in einem von ihm legitimierten und gesteuerten Prozess politischer Willensbildung entfalten und artikulieren", um so dem. was es „relativ homogen - geistig, sozial und politisch -verbindet I . . . J rechtlichen Ausdruck zu geben".

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 133

Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht und einer auf verschiedenen Ebenen ruhenden geteilten Souveränität.362

Ein weiteres Defizit der Verträge ist bei der Organisationsfunktion zu sehen. Zwar sind in Art. 7 und Art. 189 ff. EGV die Organe und Ausschüsse der Ge-meinschaft, sowie deren Befugnisse und Aufgaben festgelegt. Ein wesentliches Organisationsprinzip der Europäischen Union, die Subsidiarität, ist im Vertrag von Maastricht sogar in die Präambel aufgenommen worden. Eine klare Abgrenzung der Kompetenzen und Normenhierarchie legen die Verträge allerdings nicht fest. Zwar wird die vorrangige Stellung des Vertragsrechts in Art. 10 EGV deutlich, laut dem die Mitgliedsstaaten alle zur Erfüllung ihrer Verpflichtungen beitragenden Maßnahmen ergreifen müssen. Die Kompetenzen innerhalb der Europäischen Union sind allerdings willkürlich aufgelistet (vgl. Art. 3 EGV) und stimmen nicht mit der Systematik der Art. 2 3 - 1 8 8 EGV überein. Es wird weder klargestellt, welche Normen Verfassungsrang haben und welche sich davon ableiten, noch wird eine qualitative Unterscheidung der einzelnen Politiken vorgenommen. Es bleibt unklar, in welchen Politiken die Union tatsächlich verantwortlich und ent-scheidungsbefugt ist, welche Bereiche nur teilweise zur Union gehören oder nur von dieser koordiniert werden und welche Politiken noch rein zwischenstaatlich gemacht werden.363

Auch die tatsächliche Begrenzungsfunktion der in den Verträgen festgelegten Grundrechte ist beschränkt. Vordem EuGH haben Einzelpersonen kein Klagerecht, und erst seit Amsterdam gibt es einen sehr schwerfälligen Sanktionsmechanis-mus.364 Weil der EuGH sich in Bezug auf die Menschenrechte gerade nicht auf die autonome Rechtsordnung der Europäischen Union, sondern auf die Verfas-sungstraditionen der Mitgliedsstaaten beruft , kann es hier zu Konflikten mit die-sen Grundrechtskatalogen kommen, denn die Verfassungen der Mitgliedsstaaten verbürgen wegen ihrer kulturellen und geschichtlichen Entstehungsbedingungen unterschiedliche Grundrechte. Würde der EuGH beispielsweise das in der irischen Konstitution vorgesehene Abtreibungsverbot in seine Rechtssprechung mit ein-beziehen. käme es zum Konflikt mit allen anderen Verfassungen.365 Der Beitritt der Europäischen Union zur EMRK kann dieses Problem formell und in enger

162 Vgl. I. Pernice, Der europäische Verfassungsverbund auf dem Weg der Konsolidie-rung. in: JöR 48 (2000), S. 205 ff. sowie die Aufsatzsammlung bei J. Schwarze (Hrsg.), Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung. Das Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht. 2000.

363 Vgl. zu alledem Centrum für angewandte Politikforschung, Ein Grundvertrag für die Europäische Union. 2000. S. 13.

'6 4 Art. 13 EGV: Der Rat kann auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Parlaments einst immige Vorkehrungen treffen, um diese Diskriminierungen [ . . . ] zu bekämpfen.

365 Hierzu G. De Bürca, Fundamental Rights and the Reach of EC-Law. in: Oxford Journal of Legal Studies. 3 /1993 . S. 283 f f . 301.

134 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Auslegung auch nicht lösen, da der Konvention nur Staaten beitreten können, und die Europäische Union ist - wie der EuGH 1994 bestätigte - kein Staat.

Das markanteste Defizit der Verträge liegt allerdings bei der Integrations- und Identifikationsfunktion. So sind die demokratischen Rechte des Bürgers nur schwer in den Verträgen erkennbar, da sie in einem Jahrzehnte langen Prozess an ver-schiedensten Stellen immer wieder eingefügt und ergänzt worden sind. Ähnliches gilt für die vom EuGH entwickelte ungeschriebene Grundrechtsdoktrin, welche selbst für Fachleute gelegentlich diffus erscheint. Zudem kommt erschwerend die komplizierte Sprache des Rechts und die geringe Präsenz des EuGH im Bewusst-sein der Bürger im Vergleich mit anderen EU-Institutionen hinzu. J.H.H. Weiler spricht in diesem Zusammenhang von einem .,selfreferential legal universe".366

Dem Einzelnen ist es bereits deshalb nicht möglich, seine vertraglich verbürgten Rechte umfassend wahrzunehmen, weil er sie kaum erkennen kann.

Der Streit um die Verfassung der Europäischen Union erhält durch eine unver-meidliche Nebenfolge der Integration, die in Europa zu erheblichen Teilen bereits eingetreten ist, besonderes Gewicht: Zwangsläufig büßt die nationale Verfassung einen Teil ihrer politischen Steuerungsfähigkeit ein, denn in ihrem territorialen Wirkungskreis entfalten sich Kräfte, die nicht mehr ihrer Autorität unterworfen sind; zudem wird ihre Autorität gegenüber den ihr unterstellten Akteuren durch ab-weichende Vorgaben aus einer anderen Rechtsordnung punktuell durchbrochen.1*7

Dieser ..graduelle Bedeutungsverlust der Verfassungen der Mitgliedstaaten" zeigt sich insbesondere auf dem Gebiet der Grundrechte, aber auch bei materiellen Verfassungsgrundsätzen und sogar bei nationalen Verfassungsspezifika. die als solche nicht in einem Zusammenhang mit der Tätigkeit der Union stehen. Durch diese Entwicklung wird die Integrationsfunktion der Verfassungen beeinträchtigt, auf die sich gerade der moderne Verfassungsstaat der zweiten Hälfte des 20. Jahr-hunderts gestützt hat. Um heute in dem um die Union erweiterten politischen Gesamtsystem das sicherzustellen, was früher in den Mitgliedstaaten gegeben war, müssen die nationalen Verfassungen durch ein Pendant auf der Ebene der Union ergänzt werden, welches ihre Funktionsdefizite ausgleicht. Die derzeiti-gen Gründungsverträge der Europäischen Union erfüllen diese Anforderungen offensichtlich nicht.

366 J.H.H. Weiler. The Constitution of Europe. 1999. S. 190. 3*7 Ygi hier /u ausführlich T. Schmitz. Integration in der Supranationalen Union. 2001.

S. 374 ff .

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 135

mm) Aus der Nizzastarre zum Konvent

(1) Der Post-Nizza-Prozess™ - parlamentarische Einflusssphären

Im Lichte der wenig überzeugenden Reformergebnisse des Vertrags von Nizza wurde wiederkehrend der Vorteil eines konventsähnlichen Verfahrens themati-siert. Ein wesentliches Argument für die Forderung nach einer offenen und trans-parenten Methode jenseits der nationalen Interessensgräben der Regierungskon-ferenzen war dabei regelmäßig der Hinweis auf die positiven Erfahrungen mit dem Konvent zur Erarbeitung der Grundrechtecharta, der in nur 18 Sitzungen eines der modernsten Menschenrechtsdokumente und ein deutliches Bekenntnis der Europäischen Union zum europäischen Grundrechte- und Wertemodell ent-worfen hatte.

Im ersten Halbjahr nach Nizza kristallisierte sich heraus, wie die Debatte über die Zukunft der Europäsche Union und ihre Verfassung strukturiert werden sollte. Die Ratspräsidentschaft übernahm mit Schweden im ersten Halbjahr 2001 ein EU-kritischer ..Kleinstaat", der sich eher mit dem euroskeptischen Großbritan-nien verbündet sah. die Verfassungsfrage stand nicht explizit auf der Agenda. Dennoch förderte Schweden die „Debatte über die Zukunft Europas", in der es einmal mehr um die bessere Verständlichkeit der Verträge und Strukturen der Europäischen Union, das Gleichgewicht zwischen Mitgliedsstaaten und Union sowie um die Stärkung des demokratischen Selbstverständnisses gehen sollte. Am 17.1.2001 stellte Kommissionspräsident R. Prodi einen dreistufigen Plan über die Strukturierung der Debatte über die Zukunft der Europäischen Union vor.369 EU-Kommissar M. Bamier konkretisierte diesen Plan in einer Rede in Brüssel und bekannte sich ausdrücklich zu dem Wort „Verfassungsvertrag".370 Am 9 .3 .2001 eröffneten Kommissionspräsident Prodi, der Kommissar für institutionelle Fragen Bamier und der schwedische Ministerpräsident G. Persson eine insgesamt breiter angelegte und eingehendere Debatte, welche auch im Internet verstärkt geführt werden sollte.371

368 Hierzu etwa M. Kotzur, Ein nationaler Beitrag zur Europäischen Verfassungsdiskus-sion: deutsche Erfahrungen im Post-Nizza-Prozess, in: P. Häbe r l e /M. Mor lok /W. Skouris (Hrsg.). Festschrift Festschrift für Dimi t r i sTh. Tsatsos. Zum 70. Geburtstag am 5. Mai 2003. 2003, S. 257 ff.; C. Do rau. Die Verfassungsfrage der EU - Möglichkeiten und Grenzen der europäischen Verfassungsentwicklung nach Nizza. 2001; M. Stolleis. Europa nach Nizza. Die historische Dimension, in: NJW 2002. S. 1022ff . : P.C. MiUler-Graff, Der Post-Nizza-Prozess. Auf dem Weg zu einer neuen europäischen Verfassung, in: Integration 2 /2001 . S. 208 ff.

369 Vgl. R. Prodi. Rede vor dem Europäischen Parlament am 17. 1.2001: „Es ist an der Zeit, die Debatte über die Zukunf t Europas zu strukturieren", s. Protokolle der Sitzungen des Europäischem Parlaments.

370 M. Bamier. Rede vor Vertretern der Region Aquitaine und Emilia-Romagna und des Landes Hessen: ..Die Perspektiven der EU nach Nizza", Brüssel. 18. Januar 2001. abrufbar unter www.europe.eu. int /comm/igc2000/dialogue/ info/offdoc/ indcx_de.htm.

136 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

E in . .Rat d e r W e i s e n " d e r z w i s c h e n z e i t l i c h a u f R a t s e b e n e a l s A l t e r n a t i v e z u m K o n v e n t t h e m a t i s i e r t w u r d e , g e n ü g t e n a c h f e s t e r Ü b e r z e u g u n g v i e l e r F a c h a u s -s c h ü s s e n a t i o n a l e r P a r l a m e n t e d e r F o r d e r u n g n a c h m e h r D e m o k r a t i e u n d T r a n s -p a r e n z d e r M e i n u n g s - und E n t s c h e i d u n g s p r o z e s s e i n d e r E u r o p ä i s c h e n U n i o n n ich t . 3 7 2

J e d o c h g e l a n g e s au f d e r X X I V . C O S A C a m 2 1 . / 2 2 . 5 2 0 0 1 i n S t o c k h o l m , d i e U n t e r s t ü t z u n g d e r V e r t r e t e r a l l e r n a t i o n a l e n P a r l a m e n t e f ü r d i e n e u e M e t h o d e z u g e w i n n e n . 3 7 3 H i n s i c h t l i c h d e r Z u s a m m e n s e t z u n g und A r b e i t s w e i s e d e s G r e m i -

371 Vgl. Mitteilung von Ministerpräsident G.Persson anlässlich der Debatte über die Zukunf t der Union. März 2001. Brüssel 2001; siehe dazu SZ. 9. März 2001, S . 2 , ..Die EU tritt vor das Volk"; die Debatte im Internet unter: ht tp: / /europa.eu.int/futurum.htm. Auch die Regierungschefs setzten ihre Grundsatzreden kontinuierlich fort. Bei seiner Re-gierungserklärung vor dem Bundestag zu den Ergebnissen von Nizza am 19.1 .2001 sagte Bundeskanzler G. Schröder, dass in Nizza die Tür zum neuen Europa aufgestoßen worden sei. welches über eine verfassungsmäßige Grundlage verfügen werde (Regierungserklärung vom 19. Januar 2001. vgl. die Protokolle der Sitzungen des Deutschen Bundestages). Diese Vision wiederholte Schröder vor dem Internationalen Bertelsmann Forum in Berlin (im Rede-Manuskript ist zwar von ..Verfasstheit" die Rede. Seinen Wunsch nach einer europäi-schen Verfassung äußerte er aber spontan, vgl. dazu SZ. 22. 1.2001. S. 1: „Wenn Schröders Herz spricht"). Aufsehen und kritische St immen erntete ein Leitantrag der SPD vom April 2001. in dem Schröder in seiner Funktion als Parteichef seine Vorstellungen über die Aus-gestaltung der europäischen Verfassung konkretisierte (SPD-Leitantrag ..Verantwortung für Europa", 3 0 . 4 . 2 0 0 1 . Berlin 2001). Kurz zuvor erntete Bundespräsident J. Rau vor dem Europäischen Parlament Beifall für sein bereits erwähntes ..Plädoyer für eine Europäische Verfassung" (Rede am 4 . 4 . 2 0 0 1 . Straßburg). Am 2 8 . 5 . 2 0 0 1 hielt schließlich auch der französische Ministerpräsident L. Jospin seine lang erwartete Grundsatzrede zur Zukunf t Europas, in der er sich u. a. für eine europäische Verfassung aussprach (..Zur Zukunf t des erweiterten Europa") .

372 Die ablehnende Haltung des Ausschusses für Europäische Angelegenheiren des Deut-schen Bundestages (Beschluss vom 4. April 2001 bzw. Bericht vom 6. Ju l i2001) ist bei \ f . Fuchs/ S. Hartleif / V. Popovic, Einleitung, in: Deutscher Bundestag. Referat Öffentlich-keitsarbeit (Hrsg.), Der Weg zum EU-Verfassungskonvent. 2002. S . 2 4 I ff. dokumentier t .

373 Trotz deutlicher Zurückhal tung des Gastgeberlandes Schweden sprachen sich im Verlauf der Beratungen immer mehr Delegierte für ein konventsähnliches Verfahren in Anlehnung an den Grundrechtekonvent aus. Nachhaltig unterstützt wurde die Bundestags-delegation in ihrer Forderung nach einer Verfahrensreform von der COSAC-Delegat ion der Assemblee Nationale und des französischen Senats sowie den Abgeordneten des Eu-ropäischen Parlaments. Am Ende der zweitägigen Konferenz verabschiedete die COSAC einst immig bei einer St immenthal tung einen Beitrag, in dem die Einrichtung einer am Vorbild Grundrechtekonvent orientierten Konferenz zur Vorbereitung der Regierungskon-ferenz 2004 gefordert wurde, vgl. M. Fuchs/S. Hartleif IV. Popovic (2002), S . 6 3 I . Nach dem ersten Schulterschluss mit den anderen mitgliedsstaatlichen Parlamenten blieb der Europaausschuss des Bundestages in engem Kontakt mit der Bundesregierung über die Frage der weiteren Verfahrensschrit te im Rahmen des Post-Nizza-Prozesses. Am 4. Ju-li 2001 fasste er mit den St immen aller Fraktionen einen weiteren Konventsbeschluss, vgl. M. Fuchs!S. Hartleif / V. Popovic (2002), S. 245, in dem er unter anderem forderte, das Mandat des Konvents zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 2004 auf Vorschläge zur

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 137

u m s b e t o n t e n d i e D e l e g a t i o n e n d i e N o t w e n d i g k e i t e i n e r s t a r k e n u n d f r ü h z e i t i g e n

p a r l a m e n t a r i s c h e n B e t e i l i g u n g .

E b e n s o w i e i n d e n P a r l a m e n t e n d e r M i t g l i e d s s t a a t e n g e w a n n d i e D i s k u s s i o n u m d e n P o s t - N i z z a - P r o z e s s a u c h i n n e r h a l b d e s R a t e s i m m e r d e u t l i c h e r e K o n -tu ren . I n s b e s o n d e r e d i e b e l g i s c h e E U - R a t s p r ä s i d e n t s c h a f t ve r t r a t d i e I d e e d e s K o n v e n t m o d e l l s w ä h r e n d d e s 2 . H a l b j a h r e s 2 0 0 1 m i t g r o ß e m N a c h d r u c k . 3 7 4 I m O k t o b e r 2 0 0 1 k o n n t e n i m A l l g e m e i n e n R a t und b e i m i n f o r m e l l e n T r e f f e n d e r E U - A u ß e n m i n i s t e r i n G e n v a l a u f b e l g i s c h e In i t i a t ive e r s t e F e s t l e g u n g e n a u f d i e K o n v e n t m e t h o d e zu r V o r b e r e i t u n g d e r R e g i e r u n g s k o n f e r e n z 2 0 0 4 e r r e i ch t w e r d e n . E i n i g w a r e n d i e A u ß e n m i n i s t e r ü b e r d i e Z u s a m m e n s e t z u n g d e s z w e i t e n K o n v e n t s nach d e m Vorbi ld d e s G r u n d r e c h t e k o n v e n t s - u n d d a m i t ü b e r d i e s ta rke p a r l a m e n -t a r i s c h e K o m p o n e n t e - . d i e g l e i c h b e r e c h t i g t e E i n b e z i e h u n g d e r B e i t r i t t s l ä n d e r s o w i e d e n B e g i n n d e r A r b e i t e n u n t e r d e r f o l g e n d e n s p a n i s c h e n R a t s p r ä s i d e n t s c h a f t i m 1 . H a l b j a h r 2 0 0 2 . W e i t e r e w i c h t i g e V e r f a h r e n s f r a g e n w i e d e r U m f a n g d e s Kon-v e n t m a n d a t s , d i e F r a g e e i n e s G e s a m t t e x t e s o d e r e i n e r O p t i o n s l ö s u n g s o w i e d i e E i n r i c h t u n g e i n e s P r ä s i d i u m s b l i e b e n a l l e r d i n g s m a n g e l s K o n s e n s n o c h i n d e r D i s k u s s i o n . Para l le l d a z u be r i e t en sei t S e p t e m b e r 2 0 0 1 die E u r o p a a u s s c h ü s s e d e s D e u t s c h e n B u n d e s t a g e s 3 5 u n d d e r A s s e m b l e e N a t i o n a l e ü b e r e i n e n g e m e i n s a m e n Text z u r Z u s a m m e n s e t z u n g u n d A r b e i t s w e i s e d e s n e u e n K o n v e n t s . 3 7 6

zukünftigen Rolle der Organe der EU sowie ihr Verhältnis zueinander, zur Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedsstaaten, zur Verein-fachung der Verträge, zur künftigen Rolle der nationalen Parlamente sowie zur Integration der Europäischen Grundrechtecharta in die Verträge auszuweiten. Um den Ergebnissen eines zweiten Konvents in der anschließenden Regierungskonferenz Gewicht zu verleihen, betonte der Ausschuss die Bedeutung der Erarbeitung eines einzigen Ergebnisentwurfs mit der Möglichkeit , in Ausnahmefäl len bei kontroversen Meinungen alternative Optionen in Form von Mehrhei ts- und Minderheitsvoten anzuzeigen. Mit diesem Beschluss. der nach den geschäftsordnungsrechtl ichen Sonderbefugnissen des Europaausschusses stellvertre-tend für den Deutschen Bundestag gefasst w urde, vgl. § 93a Abs. 4 GO-BT. sprach sich der Bundestag klar für die Ausdehnung des Konventmandats auf die künftige Gewaltenteilung zwischen den europäischen Institutionen aus. die in der Erklärung Nr. 23 zur Zukunf t der EU von den Staats- und Regierungschefs als Thema der Zukunftsdebatte noch nicht explizit genannt worden war.

374 Zum Auftakt seiner Ratspräsidentschaft erklärte der belgische Premierminister G. Verhofstadt. dass der Post-Nizza-Prozess in „die Konstitutionalisierung der Union" münden müsse. Vgl. ders., Rede am 24. Juni. „Welche Zukunf t fü r welches Europa?", 2001.

' ? So befasste sich der Deutsche Bundestag bereits in einer Sondersi tzung des Eu-ropaausschusses am 15. Dezember 2000 (vgl. M. Fuchs/S. Hartleif /V. Popovic (2002). S. 49 ff.) mit der Initiative der Bundesregierung zum Anstoß der europaweiten Zukunf tsde-batte; die Abgeordneten machten mehrheitlich deutlich, dass die Ausgestaltung des Prozes-ses zur Zukunf t der EU und die Vorbereitung der Regierungskonferenz 2004 einen neuen Verfahrensansatz erfordere. Dabei wurde das Konventsmodell „als kreative, transparente und unmittelbar demokratisch legitimierte Methode zur Vorbereitung der nächsten Vertrags-revisionsverhandlungen". vgl. M. Fuchs usw. (2002). ebenda, angesehen. Die Bundestags-abgeordneten stellten sich damit auf den gleichen Standpunkt , den auch das Europäische

138 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Mit Blick auf den Stand der Konventsdiskussion im Rat wurde eine gemeinsame Erklärung an den Europäischen Rat von Laeken verabschiedet377, in der sich die Abgeordneten dafür aussprachen, das Mandat des Konvents auf die Vorlage eines einzigen Textentwurfs für den neuen Grundvertrag der Europäischen Union zu richten und Optionslösungen nur in unvermeidlichen Fällen zu formulieren. Beide Parlamente vertraten die Überzeugung, dass das inhaltliche Mandat des Konvents außerdem die Prüfung weiterer Integrationsschritte in den Bereichen der 2. und 3. Säule umfassen müsse. Die bilaterale Parlamentsinitiative unterstützte damit vor-behaltlos die gemeinsame Erklärung der Bundesregierung und der französischen Regierung auf dem deutsch-französischen Gipfel von Nantes vom November 2001, die ehrgeizige Initiativen im Bereich der inneren und äußeren Sicherheit wie die Einsetzung einer europäischen Polizei zur Überwachung der EU-Außengrenzen, die Stärkung von Europol mit dem Ziel einer integrierten Polizei zur Bekämpfung von internationalem Terrorismus und organisierter Kriminalität, den Ausbau von Eurojust, den Aufbau einer europäischen Staatsanwaltschaft, die Perspektive einer gemeinsamen europäischen Verteidigung und die Terrorismusbekämpfung als Aufgabe der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik gefordert hatte. Gleichzeitig lag den Parlamenten besonders an der Ausstattung des Konvents mit einem weit gefassten und seine Autonomie wahrenden Mandat.

Parlament auf europäischer Ebene gegenüber den Staats- und Regierungschefs in seiner Be-wertung zu Nizza einnahm, vgl. M. Fuchs usw. (2002). S. 561 ff. Mit dem Fortschreiten der Ausschussberatungen und im Anschluss an eine öffentliche Anhörung zur Zukunftsdebatte in der EU mit nationalen Verfassungsexperten fasste der Europaausschuss des Bundestages im April 2001 zur Vorbereitung der XXIV. COSAC, der gemeinsamen Konferenz der Euro-paausschüsse der nationalen Parlamente und des Europäischen Parlaments einen von allen Bundestagsfraktionen getragenen Beschluss, vgl. M. Fuchs/S. Hartleif IV. Popovic (2002). S. 241 ff., in dem er forderte, dass die Vorbereitungen zur Ausarbeitung einer Verfassung im Rahmen des in Nizza beschlossenen Prozesses zur Zukunf t der Europäischen Union verstärkt durch das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente, einschließlich der Parlamente der Beitrittsländer, wahrgenommen werden müssten. Gleichzeitig regten die Ausschussmitglieder an. dass zur Vorbereitung der für 2004 geplanten Regierungskon-ferenz eine an den Konvent angelehnte Konferenz zusammengerufen werden sollte, um Vorschläge für die Reform der EU zu erarbeiten. Damit hatte der Europaausschuss seine Position zur Vorbereitung der Regierungskonferenz 2004 frühzeitig festgelegt.

376 Im unmittelbaren Vorfeld des Europäischen Rats von Laeken trafen am 10. Dezem-ber 2001 die beiden Europaausschüsse zusammen mit den Auswärtigen Ausschüssen und unter Leitung der Parlamentspräsidenten W. Thierse und R. Forni in Paris erstmalig in der Geschichte beider Parlamente zu einer gemeinsamen Sitzung zusammen.

377 Vgl. M. Fuchs IS. Hartleif IV. Popovic (2002), S. 263 f.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 139

(2) Die Erklärung von Laeken -eine „stille Revolution" der Integrationsgeschichte

Die Staats- und Regierungschefs haben mit der dem Vertrag von Nizza beige-fügten Erklärung Nr. 23378 zur Zukunft der Union dies unterstrichen, indem sie unter anderem folgende Fragen formulierten, die es zu klären galt:

- Zum einen wie eine genauere, dem Subsidiaritätsprinzip entsprechende Ab-grenzung der Zuständigkeiten zwischen der Europäischen Union und den Mit-gliedsstaaten hergestellt und danach aufrechterhalten werden kann;

- sodann der Status der in Nizza verkündeten Charta der Grundrechte der Eu-ropäischen Union gemäß den Schlussfolgerungen des Europäischen Rates von Köln;

- eine Vereinfachung der Verträge mit dem Ziel, diese klarer und verständlicher zu machen, ohne sie inhaltlich zu ändern:

- die Rolle der nationalen Parlamente in der Architektur Europas.

Neben der Forderung nach einer Vereinfachung und Neuorganisation des euro-päischen Vertragswerks und der Integration der Grundrechtecharta in die Verträge wurden konkrete Reformkomplexe wie die Wahl des Präsidenten der Europäi-schen Kommission, die Frage der Beibehaltung der halbjährlichen Rotation des EU-Ratsvorsitzes, die Verteilung der Zuständigkeitsbereiche zwischen der europäi-schen und der nationalstaatlichen Ebene, die Stärkung der Rolle der Europäischen Union in den Bereichen Verteidigung, Außenpolitik. Zuwanderung. Kriminalitäts-bekämpfung, und der Anstoß zu Veränderungen der Gesetzgebungsinstrumente der Europäischen Union formuliert.

Die der Einsetzung des Europäischen Konvents zugrunde liegende Entschei-dung der EU-Staats- und Regierungschefs im belgischen Laeken, die Debatte über die künftige Gestalt der Europäischen Union im Rahmen eines Konvents unter maßgeblicher Beteiligung der nationalen Parlamente der EU-Mitgliedsstaaten und des Europäischen Parlaments zu führen, wurde zu Recht als historischer Schritt bezeichnet und verdiente sich angesichts der weitgehend zustimmenden Reaktio-nen in großen Teilen der „europäischen Öffentlichkeit" den Begriff einer „stillen Revolution" der europäischen Integrationsgeschichte.

Mit der Festlegung auf einen überwiegend aus Parlamentariern zusammenge-setzten Konvent hatten die Staats- und Regierungschefs die Unzulänglichkeit der „Methode Regierungskonferenz" für die gewünschte europaweite Zukunftsdebatte erkannt. Gleichzeitig entsprach der Europäische Rat in Laeken dem begründeten Ringen der Parlamente in der Europäischen Union um mehr und direkten Einfluss bei der Fortentwicklung der Europäischen Verträge.

178 Dazu R. Wagenbauer, Zur Zukunf t der EU: Was bringt die Erklärung von Laeken?, in: Z R P 2002. S. 94 f.

140 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Mit der Erklärung von Laeken war ein tatsächlich zukunftsgerichteter Aus-gangspunkt für die Diskussion über die Effizienz eines neuen Verfahrens zur Vorbereitung künftiger Vertragsrevisionen gefunden.

Die intensive Einbeziehung der nationalen Parlamente sowie des Europäischen Parlaments bildete schon relativ früh den gedanklichen Ausgangspunkt für den Wunsch nach Einrichtung eines Konvents. So hatte etwa der Deutsche Bundes-tag durch den Ausschuß für Europäische Angelegenheiten, der in Wahrnehmung seiner verfassungsmäßigen Rechte gemäß Art. 45 GG i.V. m. § 93a Abs 3 Sa tz2 GO-BT am 4. Juli 2001 einen entsprechenden plenarersetzenden Beschluß fass-te379, unter Rückgriff auf das Konvents-Modell für die Vorbereitungsphase der „Regierungskonferenz 2004" eine umfassende Einbeziehung der nationalen Par-lamente sowie des Europäischen Parlaments gefordert. Bereits zuvor hatte der Bundesrat in einer Entschließung zu den Verfahrensaspekten der „Erklärung zur Zukunft der Europäischen Union" vom 11. Mai 2001 ein Gremium aus Vertretern der nationalen Parlamente unter Einschluss eines Vertreters des Bundesrates, der mitgliedstaatlichen Regierungen, der Organe in der Europäischen Union sowie von Sachverständigen und Vertretern der Beitrittsländer gefordert. Das Europäische Parlament hatte sich in einer Entschließung diesen Forderungen im Wesentlichen angeschlossen. Auch die Kommission hatte sich bereits zu einem recht frühen Zeit-punkt für ein Konventmodell unter Anlehnung an das im Rahmen der Erarbeitung der Grundrechts-Charta praktizierte Prozedere ausgesprochen.

nn) Inkurs: Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis

In derZeit um die Erklärung von Laeken spitzte sich die (nicht neue) europäische Debatte über die Verfassungsfähigkeit der Europäischen Union in entsprechen-der Intensität zu. Eine nähere Betrachtung des Konventverfahrens und seiner Zielsetzung erfordert die Klärung einer elementaren, gleichwohl inflationär abge-handelten Vorfrage: von welchem Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis ist innerhalb der heutigen Europäischen Union auszugehen?380

Auch mit Blick auf die späteren Vergleiche mit der US-amerikanischen Verfas-sungsordnung soll dieser Aspekt eingehender abgehandelt und durch einige, die bisherige Debatte ergänzende Überlegungen angereichert werden. Zudem bedarf es einer zielführenden Einordnung, um im Rahmen der späteren Betrachtung

379 Vgl. M. Fuchs usw. (2002). S. 245 ff. 380 Aus der unüberschaubaren Lit. insbesondere W. Hertel. Supranationali tät als Ver-

fassungsprinzip. 1999: P. Häherle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 32 ff. . 69 ff.; C.Koenig, Ist die Europäische Union verfassungsfähig?, in: D Ö V 1998. 268 ff. Siehe auch D. Tsatsos, Die Europäische Unionsgrundordnung, in: E u G R Z 1995. S. 287 ff.; I. Pernice. Der Europäische Vervassungsvcrbund auf dem Weg der Konsolidierung, in: JöR 48 (2000), S. 205 ff.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 141

des europäischen „Verfassungsänderungsverfahrens" oder einer „Europäischen Verfassungsgerichtsbarkeit" gesicherte Grundlagen aufweisen zu können.

(1) Das Verfassungsverständnis - allgemeine Überlegungen

Der Facettenreichtum einer Verfassung legt den Schluss nahe, ein Verfassungs-verständnis gründe sich auf der geglückten gedanklichen Verbindung ihrer vielfäl-tigen Elemente. Das Verfassungsverständnis kann nun mittels Begriffen bestimmt werden, die ihrerseits allesamt einer „gemischten"381 Definition innewohnen dürf-ten. Nun geht es hier nicht um die Frage, was überhaupt Verfassung ist382, sondern wie sich Verfassung in ihrem jeweiligen Umfeld darstellt. So unscharf zuweilen zwischen Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis unterschieden wird383, so vordergründig unvereinbar (einige, wie C. Schmitt gegen R. Smend bestäti-gen diese Einschätzung) scheinen sich gewisse Thesen gegenüberzustehen, die eine Annäherung an das Verfassungsverständnis unternehmen. Wenn allerdings das Verfassungsverständnis etwa als Grundlage eines Verständnisses von Verfas-sungsgerichtsbarkeit und deren Methodik zu begreifen ist, das ersteres wiederum ausgestaltet, so wird man sich nicht auf formale Gesichtspunkte beschränken können.

Ähnliches gilt auch für den Verfassungsvergleich: es bietet sich ein ..gemischtes Verfassungsverständnis" an, da eine Gegenüberstellung sich nicht lediglich am Gestaltungswillen des Gesetzgebers (N. Achterberg)3*4, am jeweiligen Entschei-dungsmoment (C. Schmitt)385 oder an der Akzentuierung planmäßigen, bewussten

381 Ein „gemischtes Verfassungsverständnis" betont P. Hiiberle. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft . 2. Aufl. 1998. S .397 , 399 ff . : ders., Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 187 ff. Ähnlich K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundes-republik Deutschland. 20. Aufl. 1995. S . 3 f f „ der in Abgrenzung zur Verfassungstheorie für die Verfassungsrechtslehre auf einen vielseitig beeinflussten Verfassungsbegriff zu-rückgreift und diesen wohl mit dem Verfassungsverständnis gleichsetzt. Vgl. aber auch P. Hiiberle zum (erweiterten) Ansatz eines „gemischten, kulturwissenschaft l ichen Verfas-sungsverständnisses", ders., Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S .9 .

' s 2 Auch um dieser Problemstellung be izukommen wird allgemein auf . .Hilfsmittel" zurückgegriffen, sei es dass auf die dem Begriff zugrundeliegenden Aufgaben und Zielset-zung abgestellt wird. vgl. K. Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. 20. Aufl. 1995, S. 3. oder auf ihre Funktionen, vgl. etwa R. Smend. Staatsrecht-liche Abhandlungen. 3. Aufl. 1994. S. 187 ff.. H. Heller. Staatslehre. 1934 (Neudr. 1963), 5. 249 ff.

383 Dass mehrere Begriffe zumeist erst ein Verständnis ausbilden können, beweist sich bereits bei den Versuchen, sich sowohl einem Verfassungsverständnis als auch dem angestrebten Verfassungsbegriff mit mehr oder weniger langatmigen Umschreibungen anzunähern.

' s 4 Vgl. N. Achterberg. Die Verfassung als Sozialgestaltungsplan. in: ders. (Hrsg.), Recht und Staat im sozialen Wandel. Festschrift für H.U. Scupin. 1983. S. 293 ff.

385 Siehe C. Schmitt. Verfassungslehre. 8. Aufl. 1993. S. 23.

142 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

organisierten Zusammenwirkens (H. Heller)38* orientieren muss. Einem umfassen-den Vergleich ist ebenso wenig eine Verengung der Sichtweise auf den materiellen oder formellen Sinn zuträglich , s wie eine Begriffsbestimmung durch die Betonung einer „Hauptfunktion", sei es die Verfassung als grundlegende normative Ordnung und Sinnorientierung, in deren fortlaufenden Vollzug sich die politische Gemein-schaft „integriert" (R. Srnend, H. Heller)2** oder die intendierte Freiheitssicherung durch Machtbeschränkung (//. Ehmke, K. Loewenstein)389. Die unterschiedlichen Ansätze einer Begriffsbestimmung aus dem deutschen Sprachraum werfen so-mit bereits ein vorauseilendes Licht auf die Schwierigkeiten, die im Rahmen der Rechtsvergleichung zu erwarten wären. Gleichwohl wird auch diese Untersuchung auf Versuche eingehen, die einen europäischen (bzw. im späteren Rechtsvergleich den US-amerikanischen) Verfassungsbegriff zu prägen glauben, indes nur als eine der Komponenten eines übergreifenden Verfassungsverständnisses. Nach-dem dieses auch durch seine stete Fortentwicklung geformt wird, ist die hier getätigte Auswahl bestimmender Faktoren unweigerlich fragmentarisch. Dennoch soll unter Berücksichtigung der Bedeutung einzelner Verfassungsprinzipien und der rechtskulturellen Perspektive für die jeweilige Ausprägung einer Verfassungs-entwicklung dem Leitbild eines „gemischten Verfassungsverständnisses" gefolgt werden.

Letztlich würde selbst ein befürwortetes einheitliches Verfassungsverständnis der tatsächlichen Vielfalt einer mehr als zwei Jahrhunderte erprobten amerikani-schen Verfassung und der Bandbreite eines Regelwerks, die den Anforderungen eines vergleichsweise jungen Europas entspringt, kaum gerecht.

(2) Der „ europäische " Verfassungshegriff

Die Frage nach der Konstitutionalisierung der Europäischen Union hat ihren Bezugspunkt in der Problematik des Gemeinwesens der Europäischen Union in ihrer (gegenwärtigen) Verfasstheit. Derzeit ist die Europäische Union eine „Komposition" aus drei Europäischen Gemeinschaften und zwei Formen der Zusammenarbeit. Hinzu kommen gemeinsam verfasste Grundaufgaben und mate-rielle (z. B. wirtschafts- und sozialpolitische) Ziele (Art. 2 EUV), ein einheitlicher, institutioneller Rahmen (Art. 3 - 5 EUV) sowie eine gemeinsame Grundwerteori-entierung (Art. 6 - 7 EUV und Europäische Grundrechtecharta). Dies allerdings

386 Vgl. H. Heller (1934). 387 So gibt es Staaten - wie beispielsweise Großbritannien -, die durchaus eine Verfas-

sung im materiellen Sinne, jedoch keine Verfassungsurkunde besitzen, die die tragenden Verfassungsgrundsätze zusammenfaßt .

3 8 8 Vgl. H.Heller (1934); R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Aufl. 1994. S. 187 ff.

389 Siehe K. Loewenstein. Verfassungslehre. 3. Aufl. 1975. S. 127 ff.. H. Ehmke, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 143

legt nahe, dass die Europäische Union, auch wenn sie als Gemeinwesen sui generis ohne „Staatsqualität" gelten muss, grundsätzlich ein verfassungsbedürftiges Ge-meinwesen darstellt. Als eigene Rechtspersönlichkeit 390 mit eigener legislativer391, administrativ-exekutiver392 und judikativer Gewalt393 übt die Europäische Union kraft ihrer Organe letztlich (quasi-)staatliche Gewalt aus, wobei sie laut Art. 213 Abs. 2 EGV auf ein Gemeinschaftswohl verpflichtet ist. Juristisch könnte man daraus ein „Verfassungserfordernis" für die Europäische Union ableiten bzw. die Notwendigkeit, das politische Ziel, zu einer Gesamtverfassung von Gemeinschaf-ten und Union zu kommen.

(a) Zwei Vorfragen

Bei allen Qualifizierungen der bisherigen europäischen Rechtsordnung rich-tete sich eine breite Hoffnung auf eine „echte" Verfassung. Die Banalität der Begrifflichkeit „echt" verschleiert jedoch die Klärung zweier Grundfragen, die neben den weiteren (sogleich angerissenen) vielschichtigen Debatten - etwa um die „Staatlichkeit" der Europäischen Union - oftmals unterzugehen drohen.394

Erstens: gibt es den idealen Typus der Verfassung, den absoluten, platonistisch konzipierten Begriff der Verfassung? Zweitens: selbst wenn die Konstitutionalisie-rung Europas ein „Sonderweg"3 9 5 ist, soll sie ein Sonderweg zur Normalität sein, also die „Konstitutionalisierung" Europas seine „Normalisierung" bedeuten?

Hinsichtlich der ersten Fragestellung sind weiterhin latente Tendenzen einer gewissen Art der „Begriffsjurisprudenz" zu beobachten, die sich jedoch nicht offenbart, sondern oft unauffällig in den Diskurs hineinzugelangen vermag. Die scheinbare Notwendigkeit stets fester Begrifflichkeiten bietet hierbei eine - wenn auch gelegentlich schwankende - Plattform für Begriffsrealismus. Die juristischen Begriffe müssten danach metahistorische Größe sein. Um mit R. von Ihering zu sprechen, gäbe es einen „juristischen Begriffshimmel", wohin der inszenierte Romanist nach seinem Tod endlich kommt:

390 Vgl. die Texte von Art. 6 EGKSV, 281 f. EGV. 188 f. EAGV. 391 Siehe etwa die Ermächtigung zum Erlass von Verordnungen im Sinne von Art. 249

Abs. 2 EGV. 392 Vgl. nur die Befugnis zur Aufsicht über staatliche Beihilfen, zur Ahndung von

Verstößen gegen die Wettbewerbsregeln etc. 393 Vgl. insb. Art. 220 ff. EGV. 394 Vgl. aber den Redebeitrag von O.Jouanjan, Stel lungnahme, in: G . K r e i s (Hrsg.),

Der Beitrag der Wissenschaften zur künft igen Verfassung der EU. Interdisziplinäres Ver-fassungssymposium anlässlich des 10 Jahre Jubiläums des Europainstituts der Universität Basel. Basler Schriften zur europäischen Integration. Nr. 66. 2003. S. 12 ff.

395 So J.H.H. Weiler. Federal isme et consti tutionnalisme: le Sonderweg de 1'Europe. in: R. Dehousse (Hrsg.). Une Constitution pour 1'Europe?, 2002. S. 151.

144 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

„In ihm findest Du alle die juristischen Begriffe, mit denen Du Dich auf Erden so viel beschäftigt hast, wieder. Aber nicht in ihrer unvollkommenen Gestalt , in ihrer Verunstaltung, die sie auf Erden durch Gesetzgeber und Praktiker erfahren haben, sondern in ihrer vollendeten, fleckenlosen Reinheit und idealen Schönheit."3*6

Das Heraklit 'sche rcdvra pei entfaltet jedoch auch im Hinblick auf juristische Grundbegriffe Geltungskraft. Bereits G. Jellinek hatte Anfang des 20. Jahrhun-derts diese „im Fluss des historischen Geschehens" gesehen.397 Auch angesichts eines erforderlichen Schutzes gegen wissenschaftlich vertarnten Essentialismus sollte alles in allem nicht von einem „idealen Wesen der Verfassung", sondern höchstens von einem geschichtlichen Typus ausgegangen werden.

Das Flussprinzip gilt im Übrigen auch für die zweite Voraussetzung der Frage nach der „echten" Verfassung, nämlich die angedachte „Normalisierung" Europas. Zwar könnte man in der kongruenten Wandelbarkeit bereits einen Hinweis hierauf erkennen. Die Europäische Union bleibt jedoch trotz unübersehbarer Parallelen zu verfassungsschöpferischen Vorgängen in der (nationalstaatlichen) Verfassungsge-schichte auch im Hinblick auf seine Konstitutionalisierung ein Ansatz sui generis. Zudem ist „Normalisierung" in diesem Kontext und unabhängig vom Ergebnis nicht lediglich mit „Verstaatlichung" gleichzusetzen. Schon die Erklärung von Laeken vom 15. 12.2001 weist in diese Richtung.398

In diesem Kontext ist festzuhalten, dass neben den genannten Gründen die bisherige etatistische Ausrichtung europäischer Verfassunggebung schon deshalb zum Scheitern verurteilt war. weil im Gegensatz zur gelegentlich idealisierten Ver-fassunggebung nach dem Muster der französischen Revolution eine europäische Verfassung kein Machtvakuum füllen soll, sondern im Gegenteil bereits vorhan-denen staatlichen Macht- und Verfassungsstrukturen entgegentritt. So wurde der Begriff „europäische Verfassung" lange Zeit auch tabuisiert, weil er reflexartige Abwehrreaktionen vieler Mitgliedsstaaten hervorrief, da er in den Argumenta-tionslinien auch die „Staatswerdung" Europas und damit Souveränitätsverluste implizierte. So verblieben die Verfassungsentwürfe der Integrationsgeschichte weitgehend im Bereich der symbolischen Politik.

396 R. von Ihering, Scherz und Ernst in der Jurisprudenz. Neudruck. Darmstadt 1992. S. 249 f.

397 Vgl. G. Jellinek. Allgemeine Staatslehre. 3. Aufl.. 1914. S. 39. 3 9 8 Siehe den Text der Erklärung, u. a. abgedruckt in E u G R Z 2001, S. 662, wonach der

Bürger „mehr Ergebnisse, bessere Antworten auf konkrete Fragen (erwartet), nicht aber einen europäischen Superstaat oder europäische Organe, die sich mit allem und j edem befassen."

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 145

(b) Allgemeine Eingrenzungsversuche des Verfassungsbegriffes

Seine normative Bedeutung gewann der Verfassungsbegriff erst im 18. Jahrhun-dert.399 Vorher handelte es sich nicht um einen - im heutigen Sinne - normativen, sondern um einen empirischen Begriff, in den Normen im Wesentlichen lediglich als zustandsbestimmende Elemente eingingen. Wo das Wort „Verfassung" oder ein fremdsprachliches Äquivalent normativ verwendet wurde, meinte es dagegen bestimmte von Herrscher erlassene Gesetze, aber gerade nicht ein Gesetz, das die Herrschaft selbst betreffen sollte.400

Seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert manifestierten sich in zahlreichen Staaten der Gedanke und die Forderung, ein Staat müsse eine Verfassung haben, um die Staatsgewalt rechtsstaatlich zu begrenzen und insbesondere Grundfreihei-ten der Bürger zu sichern. In vielen Staaten entstanden politische Bewegungen und teilweise innere Kämpfe um die Frage, ob der Staat eine Verfassung erhalten oder ob es beim „verfassungslosen" Zustand verbleiben sollte. So ist die Idee der geschriebenen Verfassung als Grundgesetz des „modernen" Staates eine Frucht des ausgehenden 18. Jahrhunderts, als sich der Gedanke von der Notwendigkeit die staatliche Herrschaft ordnender und begrenzender Normen sowie das Prinzip der Kodifikation durchsetzte.4<>1

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Ausdruck „Verfassung" mit verschie-denen Bedeutungen verbunden.402 Über einige grundlegende Wesensmerkmale be-steht jedoch Einigkeit. So wird der Begriff „Verfassung" zumeist als die rechtliche

399 Vgl. M. Nettesheim. EU-Recht und nationales Verfassungsrecht. Deutscher Bericht für die XX. FIDE-Tagung 2002. S. 10 (abrufbar unter www.f ide2002.org/reportseulaw .htm).

4 0 0 Vgl. D. Grimm. Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995. S. 581 ff., 582. 401 Vgl. K.Stern. Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. 2 .Auf lage , 1984

B a n d l . S .48 . Gleichwohl wird es als fraglich erachtet, ob es ausschließlich das sich in dieser Zeit formende Ideengut der Aufklärung, der Emanzipat ion der bürgerlichen Ge-sellschaft von religiösen Vorstellungen, oder das Gedankengut der Volkssouveränität, des Liberalismus und der Demokratie gewesen sind, die Verfassungen hervorbrachten, oder ob es nicht auch eine Anknüpfung an ältere, namentlich griechische oder römisch-rechtliche sowie mittelalterliche Vorstellungen gewesen ist, vgl. auch instruktiv aus den Sammel-werken P. Bachira, Verfassung, in: R. Herzog u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon. Band II. 3. Auflage, 1987. Spalte 3738: D.Grimm. Verfassung, in: Görres Gesellschaft (Hrsg.) . Staatslexikon. Band 5. 7. Auflage. 1989 und 1995. S . 6 3 4 . Wie bereits oben be-schrieben wurden diese auf Schaf fung eines Verfassungsstaates abzielenden Bestrebungen zuerst auf dem amerikanischen Kontinent in die politische Wirklichkeit umgesetzt, bevor sich in Europa im Jahre 1791 Frankreich seine erste Verfassung schuf. Was Deutschland anbelangt, gaben sich in Anlehnung an die französische Verfassung von 1814 zahlreiche deutsche Staaten eine Verfassung, so Sachsen-Weimar-Eisenach (1816), dann Bayern und Baden (1818), Würt temberg (1819). Im Jahre 1871 trat eine gesamtdeutsche Verfassung, als staatsrechtliche Grundlage des neu geschaffenen deutschen Bundesstaates, in Kraft . Den Anforderungen demokrat ischer Verfassunggebung genügte aber erst die Weimarer Verfassung von 1919.

146 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Grundordnung des Gemeinwesens umschrieben. Auch besteht Übereinstimmung darüber, dass in der Verfassung die Leitprinzipien für die Organisation des Staat-verbundes und die Funktionsweise der Staatsgewalt und damit die wesentlichen Entscheidungsstrukturen festgelegt werden.403

Wie man die begrifflichen Voraussetzungen der Verfassung definiert, hängt ebenso wie bei den Voraussetzungen der Verfassungsfähigkeit und vielen anderen Fragen der Verfassungstheorie zu einem erklecklichen Teil von Wertungen ab. Demzufolge lassen sich kaum zwingende Aussagen treffen, wie sie bei logischen Fragestellungen möglich sind. An dieser Stelle soll sich auf diejenigen Merkmale konzentriert werden, die für die Wirkung der „Verfassung als rechtliche Institu-tion"41" erforderlich sind. Das sind im Wesentlichen formelle, aber auch einige materielle Merkmale (da es eine Verfassung in einem nur formellen oder nur materiellen Sinne faktisch nicht geben kann - auch deswegen ist vieles, was in der europäischen Verfassungsdiskussion als „Verfassung" bezeichnet wird, nicht wirklich als Verfassung i. S. d. Verfassungstheorie anzuerkennen).

Gleichwohl bleibt die Unterscheidung von Verfassung im formellen und mate-riellen Sinne grundlegend. Dabei versucht der formelle Verfassungsbegriff eine Antwort auf die Frage zu geben, welche äußerlichen Kriterien (Form, Bestands-kraft, einheitliche Urkunde) eine Verfassung kennzeichnen, während der materi-elle Verfassungsbegriff nach dem Regelungsgehalt eine Zuordnung bestimmter Normen zum Verfassungsrecht vornimmt. Bedeutung und Inhalt beider Verfas-sungsbegriffe sind in den Einzelheiten freilich sehr umstritten.405 Nach verbreiteter Meinung wird im formellen Sinne unter Verfassung das Verfassungsgesetz als das „Grundgesetz" eines Staates verstanden, das besondere Formqualitäten kennzeich-nen406: der höchste Rang innerhalb der staatlichen Normenhierarchie (Vorrang der Verfassung), erschwerte Abänderbarkeit, erhöhte Bestandskraft. Die höchs-te Norm der staatlichen Rechtsordnung, die allen anderen Normen die Regeln der Erzeugung vorgibt und den Geltungsmaßstab bildet, ist die einzige Norm, welche Zulässigkeit und Verfahren der eigenen Abänderbarkeit regelt. Sie lässt sich auf keine Normenzeugungsregel zurückzuführen. Sie entspringt außerhalb

402 Vgl. P.Badura (1987), Spalte 3737 und M.Sachs, Grundgesetz . Kommentar . 3. Aufl. 2003, S. 51 ff. Beachtenswert sind die Begrif fsbest immungen der Verfassung von G. Jellinek und C. Schmitt, die einen nicht unerheblichen Einfiuss auf die Verfassungsrechts-lehre ausgeübt haben. Vgl. dazu K. Stern (1984). S. 51 ff. und W. Hertel. Supranationalität als Verfassungsprinzip. 1998. S. 77 ff.

4 l" Vgl. etwa J. Schwarze. Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung. Das Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht, 2000. S. 109

404 Dazu T. Schmilz (2001), S. 415. 4 0 5 Vgl. J. Schwarze. Verfassungsentwicklung in der Europäischen Gemeinschaf t , in:

J. Schwarze /R . Bieber (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa. 1. Aufl. 1984. S. 15 ff. . 17. 4 0 6 Vgl. nur. / . Isensee. Staat und Verfassung, in: J. I sensee /R Kirchhof, Handbuch des

Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland. B a n d l . 1987, S .644 .

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 147

des Systems staatlich verfasster Legalität im Legitimitätsgrund der Staatlichkeit, der, nach demokratischem Verständnis, im Willen des Volkes liegt. Verfassung im materiellen Sinne ist dagegen die rechtliche Grundordnung des Staates. Sie ist die rechtliche Substanz, auf der das Staatsgrundgesetz als die rechtliche Form angelegt ist. Materien der Verfassung müssen über die des einfachen, disponiblen Gesetzes durch ihre Bedeutung für die staatliche Einheit hinausreichen. Zur ma-teriellen Verfassung gehören die Staatsform, Grundlagen der Staatsorganisation, der Legitimationsursprung, die Machtverteilung durch die Kompetenzordnung, das Recht der höchsten Staatsorgane sowie Ziele und Grenzen der Staatsform. Als wesentliche Charakteristika der Verfassungsordnung eines modernen Staates werden die Staatsorganisation, das Demokratieprinzip, die Rechtsstaatlichkeit und der Schutz der Grundrechte betrachtet.407

(c) Verfassungsfähigkeit und deren Voraussetzungen

Die zentrale Frage in der europäischen Verfassungsdiskussion war die, ob der europäische Herrschafts- und Integrationsverband in seiner damaligen (und gegen-wärtigen) Gestalt überhaupt eine Verfassung haben kann408, das heißt im Sinne der Verfassungstheorie zu einer Verfassung fähig ist („Verfassungsfähigkeit"). Diese Debatte hat sich auch nach dem Verfassungskonvent nicht gänzlich erschöpft. Obgleich man annehmen könnte, dass mit dem schließlich vorgelegten Verfas-sungsvertrag der Streit um die Verfassungsfähigkeit obsolet geworden ist, gewann diese Diskussion beispielsweise bei der Qualifikation des Konventsentwurfs (Ver-fassung, Vertrag bzw. Verfassungsvertrag409) oder einer etwaigen („klassischen" Verfassungs(?)-)Interpretation erneut Aktualität.

Über die Voraussetzungen der Verfassungsfähigkeit ist in der Verfassungstheo-rie bisher keine tiefgreifende Diskussion geführt worden, weil der Begriff der

4117 Vgl. wiederum J. Schwarze, Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung. Das Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht. 2(XM). S. 115 ff.

408 Vgl. statt vieler etwa D.Grimm. Braucht Europa eine Verfassung?, in: JZ 1995. S. 581 ff . ; I. Pernice, Multilevel Constitutionalism and the Treaty of Amsterdam: Euro-pean Const i tut ion-Making Revisited?, in: 3 6 C M L R e v . 1999. S. 703 ff.; P. Hiiberle, Ge -meineuropäisches Verfassungsrecht, in: ders. . Europäische Rechtskultur. 1994. S . 3 3 f f . ; E.-W. Böckenförde, Welchen Weg geht Europa?, in: ders., Staat. Nation. Europa. Studi-en zur Staatslehre. Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie. 1999. S . 6 8 f f . ; T.Bruhaf J.J.Hessel C.Nowak (Hrsg.), Welche Verfassung für Europa? Erstes interdisziplinäres . .Schwarzkopf-Kol loquiunfzur Verfassungsdebatte in der Europäischen Union, 2001; J. Habermas, Die postnationale Konstellation und die Zukunf t der Demokratie, in: ders.. Die postnationale Konstellation. Politische Essays, 1998. S . 9 1 ff.; ders., Braucht Europa eine Verfassung? Eine Bemerkung zu Dieter Gr imm, in: D. Gr imm. Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, 1996. S. 185 ff.; G. Frankenberg, The Return of Contract: Problems and Pitfalls of European Consti tutionalism. in: 6 ELJ 2000. S. 257 ff.; E.-U. Petersmann. Proposais for a Constitutional Theory and Constitutional Law of the EU. in: 32 CMLRev . 1995. S. 1123 ff.

4 0 9 Dazu unter B . I I . 2 . 0 q q ) ( D .

148 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

„Verfassungsfähigkeit" dort noch nicht entsprechend breit eingeführt ist.410 Es kann daher nur allgemein auf Sinn und Zweck der Verfassung und die unter die-sem Gesichtspunkt wichtigen Eigenschaften des Staates abgestellt werden. Dabei müssen das zentrale Anliegen und der Kerngedanke der Verfassungstheorie im Mittelpunkt stehen. Primäre Voraussetzung ist, dass es sich um einen Verband, eine Körperschaft handelt. Außerdem ist jede Verfassung auf einen einzigen, be-stimmten Verband beschränkt, der allerdings auch ein Gesamtverband sein kann. Eine „europäische Verfassung" im Wortsinne, die unmittelbar an das Territorium anknüpft oder die rechtlich unverbundenen europäischen Verbände Europäische Union, Europarat und OSZE unter einer Ordnung vereint, erscheint also nicht möglich. Weitere Voraussetzungen sind ein hoher Organisationsgrad und weitrei-chende Kompetenzen, denn Verfassungen kommen nach der hier vertretenen Auf-fassung nur für hoch entwickelte Verbände mit politischem Gewicht in Betracht. Außerdem muss es sich um einen allgemeinen politischen Zusammenschluss handeln, denn die Institution der Verfassung ist für die rechtliche Ordnung po-litischer Gemeinschaften von Menschen und nicht als Steuerungsinstrument für Zweckverbände entwickelt worden. Ferner bedarf es einer nicht unerheblichen Autonomie bei der Aufgabenerfüllung, soll die Institution der Verfassung doch der Selbstkontrolle selbständiger Machtapparate und nicht der Beaufsichtigung von Er-füllungsgehilfen dienen. Zu dieser Autonomie gehört bei einem völkerrechtlichen Verband auch eine Verselbständigung des politischen Willens gegenüber den einzelnen Willen der Mitgliedstaaten und ihrer Regierungen. Deswegen muss zumindest ein erheblicher Teil der wesentlichen Entscheidungen unitarischen Or-ganen überantwortet oder dem Mehrheitsprinzip unterstellt sein. Verstände man den Luxemburger Kompromiss von 1966 als rechtlich bindend, müsste man da-her die Verfassungsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaften bis in die späten achtziger Jahre verneinen. Schließlich muss ein verfassungsfähiger Verband von einer engen Verantwortungs- und Solidargemeinschaft getragen sein, die eine Par-allele zur staatlichen Schicksalsgemeinschaft erkennen lässt. denn die Funktion einer Verfassung ist auch die eines grundlegenden rechtlichen Dokumentes, das dem Bürger den Schutz und Beistand der Gemeinschaft garantiert. - Bei einer Supranationalen Union411 sind diese Voraussetzungen grundsätzlich erfüllt. Im Einzelfall kann die Verfassungsfähigkeit allerdings daran scheitern, dass den Re-gierungen der Mitgliedstaaten eine so weitgehende Kontrolle über die Politik der

4 1 0 Vgl. aber grundlegend und zu den nachfolgend aufgeführ ten Gesichtspunkten aus-führlich T. Schmitz, Integration in der Supranationalen Union. 2001. S. 404 ff.

411 Der Verf. versteht in dieser Arbeit unter „Supranationaler Union" eine von mehreren Staaten zum Zwecke der Integration gegründete, auf ständige Fortentwicklung angelegte, konzeptionell fü r Aufgaben aller Art o f fene internationale Organisation, welche ihrer In-tegrat ionsfunktion vor al lem dadurch nachkommt, dass sie in erheblichen Umfang durch Ausübung von Hoheitsgewalt in den Mitgliedstaaten selbst öffentl iche Aufgaben wahr-nimmt. vgl. auch die Definition von T. Schmitz (2001), S. 168. Die Europäische Union und die Europäischen Gemeinschaf ten fallen somit hierunter.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 149

Union eingeräumt ist, dass letztlich nicht mehr von autonomer Aufgabenerfüllung gesprochen werden kann.

(d) Staat und Verfassung im „wechselseitigen Korsett"?

Geboren und durchgesetzt in der Epoche der Nationalstaatlichkeit, ist die In-stitution der Verfassung traditionell mit der Organisationsform des Staates ver-bunden. Ihre Theorie wurde für den Staat entwickelt, die historischen Verfas-sunggebungen, die als Referenz dienten, landen in den Staaten statt. Nach die-sem vielfach als „klassisch" bestimmtem Verständnis werden die Funktionen und Vorraussetzungen der Verfassung auf das Bild eines in sich geschlossenen, in völ-liger Selbständigkeit handelnden Staates bezogen.412 Auch C. Schmitt wählte in seiner „Verfassungslehre" eine ähnliche, vergleichbar enge Formulierung, indem er „Verfassung" (kontrastierend zum „Verfassungsgesetz") als Dezision über die Form und Grundstruktur eines schon vorgegebenen Staates bezeichnete.413 Dieses auf die Heger sehe Staatsphilosophie zurückgehende414 staatszentrierte Verständ-nis von Verfassung lässt die Annahme, es existiere bereits eine europäische Verfassung, ebenso wenig zu wie die Behauptung, die Europäische Union könne sich in näherer Zukunft eine Verfassung zulegen.

Der Staatsbezug ist darauf zurückzuführen, dass lange Zeit nur der Staat als ter-ritorial gebundene, allein zu allgemeinverbindlicher Entscheidung und zu zwangs-weisem Vollzug legitimierte Einrichtung durch seine Souveränität, d .h . sein ausschließliches Recht, über ein definiertes Gebiet einem Geltungs- und Anwen-dungsbefehl konstitutiv zur Wirkung zu verhelfen, die Effektivität der Verfassung garantieren konnte.415 Bezeichnet man nun den souveränen Staat als Rechtsvoraus-setzungsbegriff und die Konstituente, den „pouvoirconstituant", als nur aus diesem Grund frei, besteht nach dem so genannten „normativen staatsbezogenen Verfas-sungsbegriff* folglich eine Konnexität von souveränem Staat und Verfassung416, wenn nicht sogar eine wechselseitige korsettartige Verbindung.

412 Vgl. W. Wessels, Die europäischen Staaten und ihre Union - Staatsbilder in der Diskussion, in: H. Schne ide r /D . Bieh l /W. Wessels (Hrsg.), Föderale Union - Europas Zukunf t? , 1994. S. 51 ff. . 53.

413 C. Schmitt, Verfassungslehre. 1928. S. I l f f sowie zur Differenzierung von Verfas-sung und Verfassungsgesetz, ebenda S. 3: „Das Wort .Verfassung* muss auf die Verfassung des Staates, d. h. der politischen Einheit eines Volkes beschränkt werden, wenn eine Ver-ständigung möglich sein soll".

414 Für Hegel ist der Staat als „die Wirklichkeit der Sittlichen Idee" das „an und für sich Vernüftige", vgl. G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821. S . 3 9 8 f . ( § § 2 5 7 ff.): Zum modernen sittlichen Staat vgl. W. Pauly, Hegel und die Frage nach dem Staat, in: Der Staat 200(). S . 3 8 1 ff., vor allem 392 ff.. E.-W. Böckenförde, Der Staat als sittlicher Staat. 1978.

4 1 5 Herleitung nach D. Nohlen/R.-O. Schtdtze. Lexikon der Politik. Band I: Politische Theorie, 1995. S .605 .

150 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

A u c h h i n s i c h t l i c h d e r e u r o p ä i s c h e n D i m e n s i o n w u r d e d e r B e g r i f f d e r V e r f a s -s u n g z u n ä c h s t h e r k ö m m l i c h u n d ü b e r w i e g e n d au f d e n S t a a t b e z o g e n g e d a c h t . 4 1 7

I n d e r K o n s e q u e n z k ö n n e n a c h d i e s e r A u f f a s s u n g d i e E u r o p ä i s c h e U n i o n k e i n e V e r f a s s u n g h a b e n , d e n n sie sei ke in S taa t . 4 1 8 Da sie a u c h ke in Volk im t r ad i t i one l -len S i n n e v o r z u w e i s e n h a b e , g e b e e s n o c h n ich t e i n m a l e i n e v e r f a s s u n g s g e b e n d e G e w a l t . D i e s e r w e i t e r h i n von d e n f r ü h e r e n R i c h t e r n a m B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t P. Kirchhof u n d D. Grimm v e r t r e t e n e n V o r s t e l l u n g ha t I. Pernice e i n e n „ p o s t n a -t i o n a l e n " V e r f a s s u n g s b e g r i f f e n t g e g e n g e s t e l l t . 4 1 9 E r ist f u n k t i o n a l b e s t i m m t und b e g r ü n d e t s ich au f d e m v o n P . Häherle f o r m u l i e r t e n G e d a n k e n , d a s s e s n i ch t m e h r „ S t a a t " g e b e n k a n n , a ls d i e V e r f a s s u n g kons t i t u i e r t . 4 2 0 D e r S t aa t ist d e m z u f o l g e d e r V e r f a s s u n g n ich t v o r g e l a g e r t , w i r d v o n ihr n ich t v o r a u s g e s e t z t , s o n d e r n d u r c h s ie kons t i tu i e r t . M i t d e m W a n d e l d e s S t a a t e s und s e i n e n F u n k t i o n e n w i rd n a c h d i e s e r A u f f a s s u n g d a s B e d ü r f n i s n a c h e i n e m „ o f f e n e n V e r f a s s u n g s b e g r i f f " ev iden t . 4 2 1

4 1 6 So D. Blumenwitz, Wer gibt die Verfassung Europas?, in: Politische Studien. Der Europäische Verfassungskonvent - Strategien und Argumente. Sonderheft I /2003. S. 44 ff.. 47 f.

41 Vgl. nur P. Kirchhof. Europäische Einigung und der Verfassungsstaat der Bundes-republik Deutschland, in: J. Isensee (Hrsg.). Europa als politische Idee und als rechtliche Form. 1993. S. 63 ff., 82.

4 . 8 In diesem Sinne auch U. di Fabio. Ist die Staatswerdung Europas unausweichlich? Die Spannung zwischen Unionsgewalt und Souveränität der Mitgliedstaaten ist kein Hin-dernis für die Einheit Europius, in: FAZ v . 2 . 2 . 2 0 0 1 . S. 8. „ [ . . . ] das s es eine europäische Verfassung im herkömmlichen Sinne staatlicher verfassungsgebender Gewalt nicht gibt, wohl aber einen funktionellen Verfassungsvertrag, den man. um Missverständnisse auszu-schließen. die Europäische Charta nennen könnte". Allerdings auch ders.. Eine europäische Charta. Auf dem Weg zu einer Unionsverfassung, in: JZ 2000. S. 737 ff., 739. wonach . . ! . . . ] wir uns längst im Strudel des Epochenwechsels befinden, der die Konnexität von sou-veränem Staat und Verfassung auflöst", und es nicht mehr erlaubt ist, ..auf der klassischen Idee von der Verfassung als Ausdruck staatlicher Selbstherrschaft zu beharren".

4.9 /. Pernice. Europäisches und nationales Verfassungsrecht, Bericht, V V D S t R L 60 (2001), Ziff . II. ( i .E.) ; vgl. auch ders., Die Europäische Verfassung. Grundlagenpapier , in: Herbert Quandt-St i f tung (Hrsg.), 16. Sinclair-Haus Gespräch. Europas Verfassung-Eine Ordnung für die Zukunft der Union. 2001, S. 18 ff., 20 f. Grundsätzlich J. Habermas. Die postnationale Konstellation. Politische Essays, 1998. S. 105 ff. sowie speziell zur Entwicklung in der Europäischen Union D. H. Scheuing. Zur Europäisierung des deutschen Verfassungsrechts, in: J. Drexl u. a. (Hrsg.), Die Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der Europäischen Union, 1997. S. 87 ff.

4 2 0 Vgl. P. Haberle. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft . 2. Aufl. 1998. S. 620: ders.. Europäische Verfassungslehre - Ein Projekt, in: ders.. Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien. 1999. S. 16. Ihm letztlich folgend: H. Hofmann. Von der Staatssoziologie zur Soziologie der Verfassung?, in: JZ 1999. S. 1065 ff., 1066; vgl. auch K. Sobotta, Das Prinzip Rechtsstaat. 1997. S. 30 ff.

421 Dies umfasst eine „Offenhei t" für die rechtliche Erfassung supra- und internationaler Strukturen gleicher Ziel- und Zwecksetzung, vgl. /. Pernice, Die Europäische Verfassung. Grundlagenpapier, in: Herbert Quandt-Stif tung (Hrsg.), 16. Sinclair-Haus Gespräch. Euro-pas Verfassung-Eine Ordnung für die Zukunf t der Union. 2001. S. 18 ff. . 20. Für einen vom

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 151

Mit der Supranationalen Union existiert nunmehr eine völkerrechtliche Or-ganisationsform. die dem Staat nahe kommt, doch wird bis heute vielfach in Zweifel gezogen, ob dies schon eine Übertragung der eigentlichen Verfassungs-idee zulässt. Zwar bedarf die Union ebenso wie der Staat eines festen Rahmens, der sie bei aller Entwicklungsoffenheit verlässlich in bestimmte Bahnen lenkt und so die vom Verfassungsstaat bekannte Grundsicherheit schafft, doch bleibt eine „Unionsverfassung" vordergründig sowohl in ihrer Legitimität als auch in ihrer normativen Wirkung hinter der eines Staates zurück, da zum einen kei-ne Zurückführbarkeit auf ein Staatsvolk, zum anderen zunächst lediglich eine „Komplementärverfassung", also kein umfassend normhierarchischer Vorrang gegenüber dem mitgliedstaatlichen Recht gesehen werden könnte.

Die Debatte war in ihrem Kern letztlich eine um Folgeprobleme, die aller-dings oftmals unbenannt blieben. Akzeptierte man nämlich die Möglichkeit einer Verfassung für die Union, verknüpfte sich dies mit der Gefahr einer Verwäs-serung des Verfassungsbegriffs und damit einer schleichenden Entwertung des Konzepts der Verfassung. Verneinte man sie, drohte je nach den unmittelbar daraus gezogenen Konsequenzen eine vorübergehende Stagnation der Integra-tion mit anschließendem Zentralisierungsschub, ein unzureichend vorbereiteter vorzeitiger Übergang in den „geo-regionalen Vereinigungs-Staat", eine allmäh-liche Untergrabung der Herrschaft der Verfassung durch immer ausgedehntere „verfassungsfreie Zonen" oder eine weitere Komplizierung der Supranationalen Union durch eine erst noch einzuführende, in ihrer Wirkung schwer berechenbare verfassungsähnliche Institution.422 Nicht nur die Verfassungslehre sah und sieht sich hierbei mit einer grundlegenden Weichenstellung konfrontiert, die man als das „Verfassungsdilemma supranationaler Integrationsverbände"423 umschreiben kann.

Staat gelösten Verfassungsbegriff siehe auch G. Biaggini. Die Idee der Verfassung - Neu-ausrichtung im Zeitalter der Globalisierung, in: ZSR 119 (2000), S. 445 ff.. 463.

4 2 2 So T. Schmilz, Integration in der Supranationalen Union. 2001. S. 388 ff. 423 T. Schmitz spricht ähnlich, jedoch in einem etwas zu weitgehendem Ansatz, vom

..Verfassungsdilemma der supranationalen Integration". Als Ausweg aus dem Verfassungs-di lemma schlägt ders. (2001), S. 393 ff., die ..vorsichtige Einbeziehung einzelner nichtstaat-licher Organisationsformen in die Verfassungstheorie' - vor. Es müsse unterschieden werden zwischen den gewöhnlichen nichtstaatlichen Verbänden, die aus vielfachen Gründen nicht für eine Verfassung geeignet sind, und den wenigen herausragenden Typen, bei denen sich aufgrund einer besonderen Staatsähnlichkeit die Übernahme des Konzepts der Verfassung trotz der damit verbundenen Probleme rechtfertigen lässt. Auf diese Weise lasse sich das zentrale Anliegen der Verfassungstheorie, für eine verlässliche grobe Ordnung der politi-schen Verhältnisse und eine Grundausrichtung und Mäßigung der öffentlichen Gewalt zu sorgen, in das Zeitalter der relativierten und integrierten Staatlichkeit weitertragen, ohne dass dabei der Kern dieser Theorie, der Grundgedanke der Bindung jedes Machtträgers in einem Herrschaftsverband an übergeordnete rechtliche Vorgaben, verändert würde. Es handelt sich nach Schmitz also um eine Fortschreibung, nicht Verfälschung. Es ist richtig: Dieser Lösungsansatz erlaubt eine möglichst weitgehende Verfassungsgebundenheit öffent-licher Gewalt auch unter den Bedingungen der Globalisierung und Georegionalisierung und

152 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Insgesamt stößt jedoch der enge Verfassungsbegriff (wie etwa bei C. Schmitt) - nicht nur qua definitionein - rasch auf Grenzen, die der Wirklichkeit geschuldet sind. Visionär im gewissen Sinne ist bereits der Ansatz P. Häberles. der - gleich-wohl (aber eben nicht nur) mit Staatsbezug - einen ähnlich weiten Verfassungs-begriff angelegt hat:

..Verfassung meint rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft , schließt also die - verfasste - Gesellschaft ein. - freilich nicht im Sinne von Identitätsvorstellungen . d. h.: nicht nur der Staat ist verfasst (Verfassung ist nicht nur .Staats- 'Verfassung)."*24

Angesichts der ökonomischen und politischen Potenziale, die in einer Gesamt-bevölkerung von mehr als 350 Millionen Menschen stecken und wenn es gelingen sollte, diese über demokratische Repräsentation einheitlich zu artikulieren, werden theoretische Einwände, einen „postnationalen Verfassungsbegriff" gebe es nicht, für eine Verfassung brauche man ein „Staatsvolk", der Übergang vom Vertrag auf die Verfassung sei verfrüht oder der Wechsel von der Legitimation durch die Staa-ten (im Ministerrat) zur Legitimation durch ein echtes Parlament sei noch nicht (oder nie) gangbar, kaum Widerhall finden. Diese Einwände artikulieren Sorgen vor einem wachsenden Defizit an demokratischer Legitimation, manchmal aber lediglich Irritationen, weil der gewohnte nationalstaatliche Verfassungsrahmen und die damit verbundene Begriffiichkeit dahinschwinden. Ähnlich verhält es sich mit der zögernden Formel „staatlicher Verbund"425. Die Politik der „Kernländer" der Europäischen Union ist längst festgelegt; sie kann sich wegen der normativen Kraft des Faktischen einem noch weiter verdichteten und rechtlich verfassten Europa nicht mehr entziehen.

„Verfassung" kann also auch in einem weiteren Sinne als rechtliche Grundord-nung eines nichtstaatlichen Gemeinwesens, einer Rechtsgemeinschaft oder einer supranationalen öffentlichen Gewalt verstanden werden. Demgemäß können die Gründungsverträge internationaler Organisationen, die formal als multilaterale völkerrechtliche Verträge erscheinen, Verfassungscharakter426 haben.

Der Verfassungsfähigkeit der Europäischen Union als eines supranationalen Herrschaftsgebildes eigener Art steht damit auf den ersten Blick zumindest begriff-lich nichts entgegen.

berücksichtigt außerdem den Bedarf an vorstaatlichen Verfassungserfahrungen im multina-tionalen Integrationsverband, auf die sich später bei der Erarbeitung einer Staatsverfassung zurückgreifen lässt. Er vermeidet die negativen Folgen einer Integration ohne Verfassung, vernachlässigt aber nicht die Gefahren, die mit einer Ö f f n u n g der Verfassungstheorie einhergehen.

424 P. Hiiberle. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft . 2. Auflage. Berlin 1998. S. 118 f.

4 2 5 So das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 89. 155 11811. 4 2 6 Hierzu unter B.II .2.011).

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 153

(e) Fazit

Im Zuge der Integration hat sich schließlich ein Hoheitsträger herausgebildet, der Recht setzt, ohne Staat zu sein. Der überkommene, seit nunmehr dreihundert Jahren gültige und nahezu zum Dogma erhobene Konnex von Staat und Recht, von Staatsgewalt und Rechtsetzung wird hiermit relativiert, wenn nicht durch-brochen. Regierungsgewalt und Rechtsetzung dürfen nunmehr als Erscheinungen begriffen werden, die auch jenseits der Staatlichkeit erfolgen. Nettesheim ist zuzu-stimmen, wenn die damit verbundenen Schwierigkeiten - entgegen gelegentlich geäußerter Befürchtungen - nicht überzeichnet werden sollten: „Kategorien wie Kompetenz. Zwang, Recht etc. lassen sich ohne Probleme auch außerhalb staat-licher Kontexte denken. Das Völkerrecht bietet hierfür seit Herausbildung des Konzepts der internationalen Organisation in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts genügend Beispiele. Insbesondere warde r Rechtsbegriff zu keiner Zeit ausschließlich auf den Staat bezogen."427

Insbesondere die deutsche Verfassungsrechtswissenschaft bedient sich nicht eines eindeutigen Verfassungsbegriffs. Einige weisen zu Recht darauf hin. dass je nach Erkenntnisinteresse, verfassungstheoretischem Standpunkt und norma-tivem Anliegen man sich des Begriffs in deutlich unterschiedlicher Bedeutung bedient.428 Insofern könne es nicht verwundern, dass sich die Diskussion um Stand und Entwicklung der europäischen Integration, um Richtung und Finalität des Prozesses auch und zuerst auf begrifflicher Ebene abspielt(e).

Weitgehend hat sich die Auffassung durchgesetzt, die eine Verwendung eines angereicherten, wenngleich nicht legitimistischen Verfassungsbegriffs als sinnvoll erscheinen lässt. Es muss sich demnach um einen Verfassungsbegriff handeln, der auf die Problematik zugeschnitten ist, die sich mit der Einbindung und Legiti-mierung von Herrschaft im 21. Jahrhundert jenseits des Nationalstaates verbindet (konkreter, aber abstrahierender normativer Verfassungsbegriff).429

427 M. Nettesheim. Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten, in: ZEuS 5 (2002), S. 507 ff. Staatliches Recht genoss zwar vor dem Hintergrund der staatlichen Zwangsgewalt eine besonders prägnante Normativität : an seiner Seite stand aber immer auch Recht, hinter dem diese Gewalt nicht stand, das aber gleichwohl in seiner Existenz und Wirksamkeit als Recht nicht in Zweifel gezogen werden konnte. Insofern bedarf es eines Hinweises, dass die Durchsetzung des Unionsrechts in den Händen der Mitgliedstaaten liegt, nicht.

4 2 8 So etwa M. Nettesheim, EU-Recht und nationales Verfassungsrecht. Deutscher Be-richt für die XX. FIDE-Tagung 2002. (zu finden im Internet unter www.f ide2002.org /reportseulaw.htm).

4 2 9 Zum Ganzen P. Craig, Consti tutions. Consti tutionalism and the European Union, in: 7 ELJ 2001. S. 125 ff. Zur Begriffsbi ldung vgl. zusammenfassend etwa M. Nettesheim (2002). mit zahlreichen Nachweisen sowie R. Bieber, Verfassungsfrage und institutionelle Reform, in: T. Bruha u. a. (Hrsg.), Welche Verfassung fü r Europa?. 2001, S. 111 ff.

154 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Ergänzend und die vorherigen Verfassungs-Prämissen aufgreifend wären für eine „Unionsverfassung" zunächst als einzelne formelle Voraussetzungen zu nen-nen:

- der durch normativen Gesamtakt erlassene Normenkomplex (was allerdings eine allmähliche Verfassungsherausbildung und Verfassungsbegründung durch richterliche Rechtsfortbildung ausschließen würde);

- die Schriftform; der Vorrang (mit der Konsequenz, dass die Unionsverfassung nur in einem Verfassungsvertrag liegen kann430);

- die erschwerte Abänderbarkeit und schließlich - die Selbstkennzeichnung als Verfassung.

Materielle Voraussetzungen einer „Unionsverfassung" wären etwa:

- die organisatorische Ausgestaltung der Union; - die Bestimmung des Verhältnisses zu den Mitgliedstaaten (bis hin zum Bereit-

stellen von Sanktionsinstrumenten für den Krisenfall, dass ein Mitgliedstaat aus der Verfassungsordnung ausbricht);

- die Schaffung der verbandsbezogenen rechtlichen Voraussetzungen für die Entstehung der supranationalen öffentlichen Gewalt und schließlich

- die politisch-philosophische Grundausrichtung der Union.

Im „Streit um die Verfassung der Europäischen Union" ging es allerdings nicht nur um Begrifflichkeiten: Er dreht sich bis heute auch allgemein um die politische und staatstheoretische Bedeutung des Primärrechts der Union auf der einen und des nationalen Verfassungsrechts auf der anderen Seite, und damit auch um die Bedeutung der Institutionen Union und Staat.

(3) Das Verfassungs-Vorverständnis in anderen EU-Ländern

Von C(arlo) Schmid stammt das geflügelte Wort, es sei ganz leicht, eine eu-ropäische Verfassung zu schreiben. Man brauche nur jeweils das Beste aus den nationalen Verfassungen der Mitgliedstaaten zu nehmen. Richtig an dieser Aussage ist. dass es in Demokratien allgemein gültige Wirkungsmechanismen gibt. Politi-sche Verantwortlichkeit, demokratische Legitimation und Gewaltenteilung finden sich auch in den verschiedenen instititutionellen Ausprägungen und Grundrechten der EU-Mitgliedstaaten. Der Rekurs auf nationale Verfassungsvorverständnisse erfordert Umsicht. Das Originäre an der Europäischen Union ist - wie bereits aufgezeigt - ihr nichtstaatlicher Charakter, ihr ..Doppelcharakter als Staaten- und Bürgerunion", wie er z. B. in einer Föderation von Nationalstaaten zum Ausdruck käme. Nationalstaatliche Verfassungstraditionen sind infolgedessen nicht eins zu eins übertragbar. Eine europäische Verfassung kann nur eine nicht-staatliche Ver-fassung darstellen, die die nationalen Verfassungsordnungen ergänzt. Es gibt auch

430 Vgl. zu der Abgrenzung ..Verfassung" - „Verfassungsvertrag" unten B . I I . 2 . f )qq ) ( l ) .

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 155

noch keinen komplementären europäischen Demos411 und erst ansatzweise eine komplementäre europäische Öffentlichkeit.

Eine Analyse nationaler Verfassungs-Vorverständnisse kann gerade auch im Hinblick auf das Konventsergebnis dreierlei leisten:

- eine Hilfestellung zur Wahrnehmung der eingeflossenen „europageeigneten" Strukturen und Institutionen;412

- einen Beitrag zum besseren Verständnis vorheriger Verfassungsprojekte für die Europäische Union - mit ihrer z. B. eher supranational-föderalen oder eher intergouvernemental - souveränistischen Ausrichtung;

- eine Verdeutlichung der Grenzen für die Übertragung von nationalen Modellen im Rahmen der europäischen Verfassunggebung.433

Alle konstitutionellen Sonderwege, die in den alten (insbesondere in Großbri-tannien), neuen und zukünftigen Mitgliedstaaten bestehen, verdeutlichen: Eine Verfassung ist eine Existenzbedingung eines modernen demokratisch organisier-ten Gemeinwesens. Sie kann dazu beitragen, eine historische Ausnahmesituation zu bewältigen.

Die italienische Verfassung (1947) wurde wie das Grundgesetz (GG) und die späteren Verfassungen von Griechenland (1975), Portugal (1976) und Spanien (1978) nach dem Ende eines diktatorischen Regimes ausgearbeitet. Ein vergleich-barer Umstand prägt z. B. auch die polnische Verfassung von 1997. Den Schöpfern der Verfassung der V. Französischen Republik ging es 1958 dagegen darum, einen

431 Vgl. aber J.H.H. Weiler, Der Staat „über alles". Demos. Telos und die Maastricht-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in: JöR 44 (1996). S. 91 ff. (gemeinsam mit A. Ballmann und F. Mayer).Aus der nationalstaatlichen Sphäre vertraute Baumuster kön-nen beim Bürger eher ein Gefühl der Transparenz und Verständlichkeit vermitteln als eine ,.sui generis" - Konstruktion. Eine zu ausgeprägte Verwendung nationaler Verfassungs-vorstellungen kann aber zum .Missverständnis führen, dass über eine EU-Verfassung eine Staatlichkeit der Union angestrebt wird („Superstaat").

432 So gibt es bei den existierenden, nationalstaatlichen Zweikammer-Systemen durch-aus „Model le" für echte supranationale zweite Kammern, vgl. nur den deutschen Bundesrat oder den US-Senat - und solche, die lediglich mit einer stärkeren Einbeziehung nationaler Parlamentarier arbeiten: bei den Exekutivmodellen stehen sich z. B. das Modell eines par-lamentarisch-verantwortlichen Regierungschefs und das einer direkt gewählten exekutiven Spitze gegenüber. Vgl. allgemein sowie für die beidseitige Wechselwirkung auch W. Kluih, Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union als Gestalter und Adressaten des Integrations-prozesses - Grundlagen und Problemaufriss, in: ders. (Hrsg.), Europäische Integration und Verfassungsrecht. Eine Analyse der Einwirkungen der Europäischen Integration auf die mitgliedstaatlichen Verfassungssysteme und ein Vergleich ihrer Reaktionsmodelle, 2007, S. 9 ff.

4 3 3 Aus dem Doppelcharakter der Staaten- und Bürgerunion folgt z. B. - dass anders als in den meisten nationalen Verfassungen - in einem EU-Verfassungsvertrag ein „Staaten-Legitimationsstrang" im Rat und ein „Unions-Legit imationsstrang" über das Europäische Parlament und die Kommission notwendig ist.

156 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

ineffizienten Parlamentarismus zu überwinden und eine starke Exekutive zu schaf-fen.

Das Grundgesetz (GG) hatte in der (alten) Bundesrepublik Deutschland einen besonderen historischen Stellenwert. In einer geteilten Nation bot es die Mög-lichkeit, über einen „Verfassungspatriotismus" einen Identifikationspunkt für den verlorenen Nationalstaat zu bilden. Aus deutscher Perzeption hat dabei das Grund-gesetz vor allem auch abwehrenden Charakter gegenüber Übergriffen des Staates. Die Verfassungen anderer Mitgliedstaaten stehen nicht in gleichem Maße für diesen positiv besetzten Abwehrgedanken. Während der europäischen Verfas-sungsdebatte durfte man deshalb außerhalb von Deutschland nicht die gleichen Konnotationen beim Begriff einer etwaigen EU-Verfassung erwarten. Vielmehr überwogen (allerdings auch letztlich in Deutschland) die Befürchtungen einer Staatswerdung Europas.434

Betrachtet man nun die Strukturen der am Konvent beteiligten Staaten, so er-gibt sich insgesamt ein eher heterogenes Bild.435 Aus deutscher Sicht sind die naheliegendsten Vergleichsparameter für Verfassungen die des Grundgesetzes von 1949 und der Nachkriegs-Länderverfassungen, wobei für die Struktur des Grundgesetzes wie für die Verfassungen der Länder die Zusammenfassung der Verfassungsbestimmungen in einer Urkunde436 und im Grundgesetz - kontrastie-rend zur Struktur der Weimarer Verfassung - die Akzentuierung der (meisten437) Grundrechte durch ihre „Position" an der Spitze der Verfassung, in einem Teil I („Die Grundrechte" - Art. I bis 19 GG) kennzeichnend sind.438

Der deutschen Verfassungsstruktur ist die Italiens (Verfassung von 1947) nicht unähnlich. Diametral unterschiedlich erweist sich hingegen die Verfassungsord-nung Großbritanniens. Großbritannien verfügt mit der Magna Charta von 1215

434 Dies galt freilich immer weniger in Frankreich (vgl. die Rede von Staatspräsident J. Chirac vor dem Deutschen Bundestag vom 2 7 . 0 6 . 2 0 0 0 , in: FAZ vom 28 .6 .2000 . S. 10 f.. in der der Verfassungsbegriff zentral fü r die Bes t immung der französischen Rolle in der und durch die EU ist).

4 3 5 Zu diesem Ergebnis kommt auch F.C. Mayen Verfassungsstruktur und Verfassungs-kohärenz - Merkmale europäischen Verfassungsrechts?, in: Integration 4 /2003 . S. 398 ff.. 405 f.

4 3 6 Vgl. auch Art. 79 Abs. 1 GG. 437 Siehe aber die justiziellen Grundrechte in Art. 101 ff. GG. 4 3 8 Eine Besonderheit bildet die Einbeziehung der Art. 136 bis 141 der Weimarer Ver-

fassung in das Grundgesetz durch Verweis. Materiell besteht grundsätzlich eine Gleichran-gigkeit der Grundgesetzbest immungen, allerdings ergibt sich durch die . .Ewigkeitsklausel" des Art . 79 Abs. 3 GG eine Abstufung in der Änderungsfestigkeit der Verfassungsartikel. Insgesamt verwundert es nicht, dass aus deutscher Sicht die Struktur des Konventsentwurfs eines Verfassungsvertrages vor allem unter zwei Aspekten Kritik fand: zum einen wegen der Positionierung der Grundrechtecharta lediglich in Teil II des Entwurfs , zum anderen aufgrund des unklaren Verhältnisses zwischen Teil I und insbesondere Teil III des Entwurfs.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 157

zwar über das vergleichsweise älteste geschriebene Verfassungsdokument, hat aber bekanntlich kein einheitliches, geschriebenes Verfassungsrecht. Dieses setzt sich zum einen aus kodifizierten Texten, wie eben der Magna Charta oder der Bill of Rights von 1689 bis zum Human Rights Act (1998) zusammen, zum anderen aber aus den nicht kodifizierten Grundsätzen des Common Law wie dem Grundsatz der „Parliamentary Sovereignty". Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass die kodifizierten Rechte mit Verfassungsrang keine hervorgehobene Stellung innerhalb des Rechtssystems einnehmen.439

Die Verfassungen der anderen Mitgliedstaaten lassen sich innerhalb der bei-den „Pole" - einerseits Konzentrierung aller Verfassungsbestimmungen in einer Urkunde, andererseits weitgehend ungeschriebene, nur in Einzelaspekten auf be-stimmte Urkunden zurückgreifende Verfassung-ansiedeln. Am nächsten kommen der ersteren Erscheinungsform mit übersichtlichen, einheitlichen Verfassungsur-kunden die Verfassungen von Belgien (1831 r 4 0 , Luxemburg (1868), Griechenland (1975) und Portugal (1976). Ebenso sind die verfassungsrechtlichen Grundlagen in Polen (Verfassung von 1997), der Slowakei (1992), Slowenien (1991), Li-tauen (1992) und beim Konventsteilnehmer Bulgarien (1991) in einer Urkunde zusammengeführt. In Zypern beanspruchte während des Konventsverfahrens die Verfassung von 1960 nur für den griechischen Teil der Insel Geltung, weshalb zu einem gewissen Grade von „ungeklärten Verfassungsverhältnissen" gesprochen werden kann.441

In manchen Verfassungsordnungen ist allerdings nicht unmittelbar erkennbar, dass das als Verfassung apostrophierte Dokument nicht alle geltenden „Verfas-sungsbestimmungen" widerspiegelt, ja wiedergibt. So finden sich etwa in der Verfassungsurkunde Verweise auf frühere Normschichten oder auf ergänzende

4 3 9 Sie stehen vielmehr auf derselben Rangstufe wie andere Parlamentsgesetze. Dem-zufolge könnten durch entgegenstehende ..Statutes" Verfassungsrechte aufgehoben werden, vgl. insgesamt auch P. Birkinshaw, Britischer Landesbericht , in: J. Schwarze (Hrsg.), Die Entstehung einer europäischen Verfassungsordnung. Das Ineinandergreifen von nationalem und europäischem Verfassungsrecht, 2000. S. 208 ff.

4 4 0 Zur Vorbildfunktion der belgischen Verfassung allgemein H. Hauenhauer, Europäi-sche Rechtsgeschichte. 1992. S. 565 ff. Die belgische Verfassung, die bis heute Bestand hat. verbriefte die bedeutendsten Freiheitsrechte als geltendes Recht und stellte erstmals in Europa die Staatsordnung auf eine demokrat ische Grundlage, ohne allerdings das Beste-hen der Monarchie anzutasten, vgl. ebenso IV. Skouris, Die kontinentale(n) europäische(n) Verfassungskultur(en), in: M.Mor lok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates. 2001. S. 85 ff.. 90. Der Verfassungstext von 1831 war Vorbild für zahlreiche späteren europäi-schen Verfassungsurkunden, insbesondere für die griechische Verfassung von 1864 (deren Grundentscheidungen auch den Kern der heutigen griechischen Verfassung von 1975 bilden).

441 In der Türkei galt zu diesem Zeitpunkt noch die Verfassung von 1982 (die im Zuge der EU-Beitr i t tsbemühungen grundlegende Änderungen erfahren sollte). Eine Reihe von kemalistischen Reformgesetzen bleiben allerdings gegen diese Verfassung abgeschirmt (Art. 174 der türkischen Verfassung).

158 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Normen. Beispielhaft ist hierbei Frankreich zu nennen, wo mit der Verfassung der V.Republik von 1958 zwar eine einheitliche Verfassungsurkunde existiert; jedoch verweist diese in ihrer Präambel auf die Präambel der Verfassung von 1946. die wiederum die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 mit Verfassungsrang ausstattet. Daneben bestehen sogenannte „Lois organiques", die die Verfassung weiter konkretisieren.

Eine vergleichbare Normenkategorie findet sich in Spanien zur Ausgestaltung der Verfassung von 1978. In der Verfassung der Niederlande von 1983 stehen Verweise auf einzelne Bestimmungen der Verfassung von 1972, die somit weiter Geltungskraft entfalten. In Ungarn gilt die Verfassung von 1949. die 1989/90 umfassend revidiert wurde. Die Verfassung von Lettland lässt sich auf einen Text aus dem Jahre 1922 zurückführen, der 1998 umfängliche Änderungen erfahren durfte.442 Wie die Beispiele von Irland und Dänemark zeigen, können verfassungs-ergänzende Bestimmungen durchaus unterschiedlicher Natur sein.443 Während in Schweden vier „Grundgesetze" mit Verfassungsrang bestehen444, beruhte auch die Verfassungsordnung Finnlands (gewissermaßen als Relikt aus den Zeiten der Zugehörigkeit Finnlands zum schwedischen Königreich) bis in die jüngste Zeit auf mehreren Verfassungsgesetzen mit Verfassungscharakter. Nach einer umfas-senden Verfassungsreform wurde 1999 eine Verfassung für Finnland verkündet, die im Jahre 2000 in Kraft trat. Eine Eigentümlichkeit des finnischen Verfas-sungsrechts besteht allerdings dahingehend fort, als materielle Abweichungen von der Verfassung durch „Verfassungsausnahmegesetze" zugelassen werden können (Paragraph 73 (1) der finnischen Verfassung).445 Die Verfassung von Malta ist

442 Davor bestand ein eigenes Verfassungsgesetz über Bürgerrechte von 1991. Diese finden sich nunmehr im Schlusskapitel der Verfassung.

4 4 3 Die Verfassung von Dänemark (1953) wird etwa durch das . .Thronfolgegesetz" ergänzt. In Irland sind alle Verträge, auf die sich die europäische Integration gründet, explizit in den Wortlaut der derzeitigen Verfassung (Ausgangsfassung aus dem Jahre 1937) aufgenommen und damit gleichsam in das irische Verfassungsrecht einbezogen, vgl. auch F.C. Mayer. Verfassungsstruktur und Verfassungskohärenz - Merkmale europäi-schen Verfassungsrechts?, in: Integration 4 /2003 . S. 398 ff.. 404f: ..Damit genügt es nicht, zur Ermitt lung des geltenden irischen Verfassungsrechts den Verfassungstext von 1937 aufzuschlagen, vielmehr muss man auch das europäische Primärrecht heranziehen."

444 Neben der Verfassung ( . .Regeringsformen") aus dem Jahre 1975, und dem ..Thron-folgegesetz" sind dies Gesetze mit Verfassungsrang, die jeweils grundrechtl iche Gewähr-leistungen zur Pressefreiheit („Tryckfrihetsförordningen") und zur Meinungsfreihei t („Yt-trandefrihetsgrundlagen") enthalten.

445 Demzufolge kann der Gesetzgeber unter denselben Voraussetzungen, wie sie für eine förmliche Verfassungsänderung erforderlich sind. Gesetze verabschieden, die nicht mit der Verfassung vereinbar sind. Der Unterschied zu einer Verfassungsänderung besteht darin, dass die „Verfassungsausnahmegesetze" zwar in e inem qualifizierten Verfahren zustande kommen, jedoch durch ein einfaches Parlamentsgesetz zurückgenommen werden können (allein in den Jahren 1919 bis 1995 ist in 869 Fällen ein Verfassungsausnahmegesetz verabschiedet worden). In diesem Kontext ist beachtenswert, dass nach der Verfassung des

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 159

gekennzeichnet durch die Besonderheit, dass sie durch sogenannte „Schedules" ergänzt wird.

Auch in Österreich ist eine „Streuung" von Normen mit Verfassungsrang über die gesamte Rechtsordnung zu beobachten. Obgleich mit dem Bundes-Verfas-sungsgesetz von 1920 in der Fassung von 1929 (zurückgehend auf den großen Verfassungsrechtler H. Kelsen) ein hervorgehobener und allgemein als „österrei-chische Verfassung" identifizierter Text vorliegt, finden sich doch mehr als zwei-hundert Verfassungsbestimmungen in über hundert Bundesgesetzen, die letztlich alle - als „Bundesverfassungsgesetze" - im gleichen Rang stehen und mit dem Bun-des* Verfassungsgesetz die eigentliche „Verfassung" bilden. Gewisse Parallelen zu einem „Ensemble von Teilverfassungen" (P. Häberle) im europäischen Kontext sind nicht zu übersehen. In der Tschechischen Republik gilt die Verfassung von 1992. Diese bezieht neben weiteren „Verfassungsgesetzen" in ihrem Art. 3 eine „Grundrechtecharta" (ebenfalls 1992) als Bestandteil der Verfassungsordnung mit ein - bemerkenswert im Hinblick auf die europäische Struktur.

(a) Nationale Erfahrungswerte in der Verfassunggebung

Hinsichtlich des originären Verfassunggebungsprozesses offenbarten zum Zeit-punkt der Einberufung des Verfassungskonvents alle vierzehn (geschriebenen) Verfassungen der Mitgliedstaaten - in der unterschiedlichsten Form - Anschau-ungsmaterial für demokratische, legitimitätsstiftende Verfahren des Zustandekom-mens.

Die „Verfassungsschöpfung" erfolgte teilweise durch ein „normales" Parlament, häufiger aber durch eine eigens gewählte verfassunggebende Versammlung. Zu-sätzlich ist das Instrument des Volksentscheids zu nennen oder sogar, wie 1958 in Frankreich, ein Referendum ohne vorherige parlamentarische Beratung und Verabschiedung. Das Grundgesetz (GG) bildet insofern eine Ausnahme, als der Parlamentarische Rat nicht direkt gewählt war, sondern sich aus Vertretern der Landtage der westdeutschen Länder zusammensetzte.446 Nach den Erfahrungen des Europäischen Rates in Nizza lag es nahe, an nationale Erfahrungen der Ver-fassunggebung anzuknüpfen. Fragen von derart grundsätzlicher Tragweite, wie sie im Post-Nizza-Prozess (teilweise erneut) anstehen sollten447, ließen sich al-leine durch das herkömmliche Verfahren der Regierungskonferenz kaum lösen. Nach den positiven Erfahrungen bei der Ausarbeitung mit der Grundrechte-Charta sprach deshalb viel dafür, diese mit der Konvent-Methode zu nutzen.448

Konventsteilnehmers Rumäniens von 1991 mit Zweidrit telmehrheit verfassungswidrige Gesetze bestätigt werden können (Art. 145 der Verfassung).

Die Ratifizierung erfolgte durch die - allerdings demokratisch gewählten - Landtage. 447 Vgl. unter B . I I .2 f )mm) . 4 4 8 Hierzu umfassend unter B . I I .2 f )pp) und B.V. I.

160 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

(b) Das Vorverständnis von Demokratie, Gewaltenteilung und Kompetenzverteilung

Hinsichtlich der Axiome Demokratie und Gewaltenteilung sowie bezüglich „direkter Mitwirkungsrechte" offenbaren die Verfassungen aller Mitgliedstaaten einheitliche Elemente: Alle begründen die Legitimation der Staatsgewalt im Wil-len des Volkes, das sich in regelmäßig stattfindenden freien Wahlen äußert. Das Volk, d. h. die Summe aller Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates, ist der letzte legitimatorische Ableitungspunkt für die politische Herrschaft.449 Der „Staats-Legitimationsstrang" bildet sich in den nationalen Arenen (nationalen Parlamen-ten und nationaler Öffentlichkeit) und wird für den europäischen Kontext im Rat formuliert. Er bleibt jedoch ein national-vermittelter Legitimationsstrang, der mit fortschreitender Integration nicht ausreicht. Das Demokratieprinzip kommt zwar in den Nationalstaaten ungeschmälert zur Geltung, aber den Nationalstaaten schwinden die Entscheidungsbefugnisse. Diese wachsen auf europäischer Ebene an. mit der Folge, dass sich auch dort ein immer stärkeres Bedürfnis nach einer unmittelbaren, nicht von den Mitgliedstaaten abgeleiteten demokratischen Sub-stanz ausgebildet hat. Für mehr Akzeptanz von Entscheidungen der Europäischen Union bildet sich deshalb das Erfordernis eines „Unions-Legitimationsstrangs" heraus, der besonders in den Organen Europäisches Parlament und Kommission seinen Ausdruck zu finden hat.

In allen Verfassungen findet sich - bei unterschiedlichen Lösungen im Einzel-nen - eine Aufteilung der exekutiven, legislativen und judikativen Funktionen der Staatsgewalt auf verschiedene Organe, ebenso wie die Unabhängigkeit der Justiz. Die gleichzeitige Exekutiv- und Legislativtätigkeit des Europäischen Rates ist in dieser Hinsicht systemfremd (wenngleich in der „sui generis" Architektur der Europäischen Union das klassische Montesquieu'sehe Prinzip der Gewalten-teilung wahrscheinlich nicht streng anwendbar sein mag).45" Kennzeichnend für den modernen europäischen Verfassungsstaat ist eine Interdependenz zwischen Regierung und Parlament. Dabei sind die Regierungen dem Parlament politisch verantwortlich.451

4 4 9 Vgl. etwa Art. 20 Abs. II GG: „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus." 450 A. Juppe und J. Toubon forderten daher in ihrem Verfassungsentwurf vom

2 8 . 0 6 . 2 0 0 0 (ganz in der französischen Verfassungstradition) exekutive und legislative Tä-tigkeiten klarer voneinander zu trennen, vgl. A. Juppe/J. Toubon. Constitution de l 'Union Europeenne. Contribution ä une reflexion sur les institutions futures de l 'Europe, vom 2 8 . 6 . 2 0 0 0 . abrufbar unter www.mic-fr.org/proposit ion-mic-ce.rtf . Ein anderer Mangel der Gewaltenteilung zwischen europäischer Exekutive und europäischer Legislative könnte darin zu sehen sein, dass das Europäische Parlament, zunehmend in die administrative Umsetzung von Ratsbeschlüssen durch die Kommission (im Ausschuss- / . .Komitologie"-Verfahren) eingreifen möchte. Kritisch ist ebenfalls zu erwähnen, dass das Europäische Parlament wiederholt den Anspruch erhebt, über sein Haushaltsrecht die exekutive G A S P mitzugestalten.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 161

Im Allgemeinen ist die Stellung der Parlamente in den Mitgliedstaaten stark (ins-besondere in Mitgliedstaaten und Beitrittsländern mit Diktaturerfahrung). Einzig die Stellung der französischen Nationalversammlung, die noch nicht einmal über volle Geschäftsordnungsautonomie verfügt, ist eher schwach. Korrespondierend zu dieser Schwäche des Parlaments verfügt die französische Exekutive über ein hohes Maß an autonomen Normsetzungskompetenzen. Die Demokratien in den Mitgliedstaaten sind repräsentativ verfasste Demokratien. Das Element direkter Demokratie tritt ergänzend hinzu.

Direkte Mitwirkungsrechte bei der Gesetzgebung - in Form von Volksbegehren und Volkentscheiden - sind im mitgliedstaatlichen Verfassungsrecht die Regel (nicht aber in Deutschland, dessen Demokratie - auf Bundesebene - wohl die repräsentativ ausgeprägteste in den Mitgliedstaaten ist). Bei Fragen des EU-Bei-tritts, der Vertragsänderung oder der Euro-Einführung können diese Volksrechte bekanntlich eine gewichtige Rolle spielen.452

Die Mitgliedstaaten weisen unterschiedliche Erfahrungen auf, was den Wert eines Zwei-Kammersystems für die Parlamentarisierung der Europäischen Uni-on anbelangt (das britische Oberhaus ist beispielsweise relativ einllusslos und auch nicht in indirekter Form demokratisch legitimiert). In Dänemark. Finnland. Griechenland. Luxemburg, Portugal und Schweden besteht das Parlament nur aus einer Kammer. Die anderen Staaten besitzen Zweite Kammern, die die Ge-bietskörperschaften in den Mitgliedstaaten repräsentieren. In Frankreich vertreten etwa die Abgesandten der Gebietskörperschaften im Senat das „tiefe Frankreich". Diese zweiten Kammern weichen nach Struktur- und Kompetenzen erheblich voneinander ab (der französische Senat verfügt in der Gesetzgebung nur über ein suspensives Veto gegenüber der Nationalversammlung). Nur im Falle von Deutschland. Belgien und Österreich spielen die zweiten Kammern eine traditio-nelle föderale Rolle im Gesetzgebungsprozess.453

451 Im Rahmen einer weiteren Ausbildung der EU-Exekutive stellt sich die Frage, inwieweit diese aus einer Mehrheit im Europäischen Parlament hervorgehen sollte.

452 Siehe nur die Regelungen in Dänemark. Frankreich. Großbri tannien. Irland. Finn-land und Österreich. Aus der eigenen verfassungsrechtlichen Tradition heraus schlugen A. Juppe und J. Toubon (2000) ein Gesetzesinitiativrecht für europäische Bürger vor. ebenso die Annahme oder das Außerkraftsetzen („referendum d 'abrogat ion") durch Bürgerrefe-renden. So interessant dieser Vorschlag erscheint: grundsätzl ich setzt er eine europäische Öffentlichkeit voraus, die sich erst noch entwickeln muss.

451 Bislang gibt es in der Europäischen Union eine institutionelle Dreiecksbeziehung zwischen Rat. Europäischen Parlament und Kommission. Die europäische Legislative wird aus Rat und Europäischen Parlament gebildet, die europäische Exekutive aus Kommission und Rat (mit einer dominierenden Rolle des letzteren in weiten Bereichen), die europäische Judikative aus d e m EuGH. Wann immer es um die Einführung einer föderalen zweiten EU-Kammer neben dem Europäischen Parlament ging, war eine Bikameral is ierung der Europäischen Union gemeint , in der ein stärker repräsentatives Europäisches Parlament

162 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

I m H i n b l i c k auf d i e E x e k u t i v e e r ö f f n e n s ich z w e i G r u n d m o d e l l e i n d e n M i t g l i e d -s t aa t en . D e r N o r m a l f a l l ist e i n e po l i t i s che R e g i e r u n g , d i e a u s d e n M a c h t r e l a t i o n e n i m P a r l a m e n t h e r v o r g e h t ( e t w a mit e i n e m B u n d e s k a n z l e r , e i n e m M i n i s t e r p r ä s i d e n -ten o d e r e i n e m P r e m i e r m i n i s t e r mi t R i c h t l i n i e n k o m p e t e n z a n d e r S p i t z e ) . D i e s e E x e k u t i v e ist g e g e n ü b e r d e m P a r l a m e n t v e r a n t w o r t l i c h . H i e r b e i ist d i e M ö g l i c h k e i t d e s M i s s t r a u e n s v o t u m s z u e r w ä h n e n , w o b e i d e r R e g i e r u n g s c h e f i n D e u t s c h l a n d . S p a n i e n und B e l g i e n b e s o n d e r s d u r c h e in „ k o n s t r u k t i v e s M i s s t r a u e n s v o t u m s " ge -s c h ü t z t ist . D a n e b e n ex i s t i e r t d i e „ E i n r i c h t u n g " e i n e s r e p r ä s e n t a t i v e n S t a a t s o b e r -h a u p t e s mi t b e g r e n z t e n , e b e n ü b e r w i e g e n d r e p r ä s e n t a t i v e n B e f u g n i s s e n . A n d e r s s te l l t s i ch d i e S i t u a t i o n i n F r a n k r e i c h dar . H i e r b e s t e h t e i n e e x e k u t i v e D o p p e l -s p i t z e a u s S t a a t s p r ä s i d e n t u n d P r e m i e r m i n i s t e r . D e r P r e m i e r m i n i s t e r geh t a l s R e g i e r u n g s c h e f a u s d e m P a r l a m e n t h e r v o r u n d un t e r l i eg t d e s s e n M i s s t r a u e n s -v o t u m . D i e s g i l t n ich t f ü r d e n f r a n z ö s i s c h e n S t a a t s p r ä s i d e n t e n : e r ist z u g l e i c h o b e r s t e s R e p r ä s e n t a t i o n s - u n d E x e k u t i v o r g a n ( i n s b e s o n d e r e i n d e r A u ß e n - und S i c h e r h e i t s p o l i t i k , i n d e r e r ü b e r e i n e A r t R i c h t l i n i e n k o m p e t e n z v e r f ü g t ) . E r lei tet s e i n e A u t o r i t ä t a u s d e r D i r e k t w a h l d u r c h d i e B e v ö l k e r u n g a b u n d ist d a m i t a u s f r a n z ö s i s c h e r S ich t u n m i t t e l b a r u n d s o u v e r ä n l eg i t im ie r t w i e d a s P a r l a m e n t - und d e s h a l b d i e s e m a u c h n i c h t v e r a n t w o r t l i c h . A u s f l u s s d i e s e r b e s o n d e r e n d i r e k t e n L e g i t i m a t i o n ist d a s R e c h t , d i e N a t i o n a l v e r s a m m l u n g a u f z u l ö s e n . 4 5 4

mit europaw^it einheitlichen Wahlrecht die erste Kammer der EU bilden und der Rat sich in Richtung einer Staatenkammer entwickeln sollte. Die Kommission wäre tendenziell zur Exekutive geworden (einschließlich einer Aufgabe des Prinzips der nationalen Repräsenta-tion dort) . Zu entscheiden wäre in diesem Modell , ob die Vertreter in der Staatenkammer ernannt oder direkt gewählt werden sollen (siehe die Beispiele Deutscher Bundesrat oder US-Senat) bzw. ob und wie das demographische Gewicht zum Tragen zu bringen wäre (z. B. von drei bis sechs Stimmen wie im Bundesrat oder je zwei St immen wie im US-Senat) . Bei dieser Bikameralisierung der Europäischen Union darf aber nicht übersehen werden, dass auch die im Rat vertretenen mitgliedstaatlichen Regierungen durch ihren nationalen Parlamente demokrat isch legitimiert sind. Als solche haben sie einen demokrat isch her-geleiteten Anspruch, gestaltende Akteure im europäischen Organsystem zu sein. Insofern erscheint es in einer ..Staaten- und Bürgerunion" problematisch, den Rat in eine rein nachge-ordnete legislative zweite Kammer herabzustufen. Für viele Mitgliedstaaten stand deshalb während des Konventsprozesses bei der etwaigen Einrichtung einer zweiten Kammer nicht der Rat im Vordergrund, sondern die stärkere Einbeziehung der nationalen Parlamente (vgl. insofern die Vorschläge von Kommissar C. Patten und Premierminister T. Blair für die Einrichtung einer zweiten Par laments-Kammer aus nationalen Parlamentsangehörigen, in ihren Reden vom 26. 10.2000 bzw. 06. 10.2000). Die französischen Vorschläge für eine aus nationalen Parlamentariern beschickten zweiten Parlaments-Kammer dürf ten sich - neben Souveränitätsvorbehalten - auch aus den schwachen parlamentarischen Kontrollmöglich-keiten der Assemblee nationale in der Europapolitik erklären. Eine zweite Kammer würde diese Kontrollrechte verbessern (während der deutsche Bundestag bereits nach Art. 2 3 G G über breite Mitwirkungsmöglichkei ten verfügt) . Juppe und Toubon (2000) schlugen vor diesem Hintergrund ein Zwei-Kammer-System vor. mit e inem Europäischen Parlament (dessen exklusive Gesetzgebungszuständigkeit allerdings durch die Tagesordnung der euro-päischen Regierung bestimmt wird) sowie eine „Kammer der Nationen" (aus Mitgliedern der nationalen Parlamente). Die Kammer ist gedacht als Garant des Subsidiaritätsprinzips und vitaler nationaler Interessen eines Mitgliedstaates.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 163

Effizienz (über starke Gemeinschaftsorgane mit Mehrheitsentscheidungen im Rat) und demokratische Legitimation (über verstärkte parlamentarische Kontroll-rechte) sind auch das Ergebnis einer nachvollziehbaren Aufgabenteilung zwischen Union und Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten bringen hier sehr unterschiedliche verfassungsrechtliche Vorerfahrungen ein. Wenn der Föderalismus eine politische Organisationsform darstellt, in der jede staatliche oder regionale Ebene in einer Reihe von Aufgabenbereichen endgültige Entscheidungen treffen kann, dann wird man neben Deutschland und Österreich nur noch Belgien als einen föderalen Staat bezeichnen können.455 Im deutschen Verbund-Föderalismus fallen die Ge-setzgebungszuständigkeiten grundsätzlich den Ländern zu. Der Bund nutzt seine speziellen Gesetzgebungs-Kompetenzen allerdings so extensiv, dass für die Län-der derzeit456 „unter dem Strich" nur wenige Bereiche übrig bleiben. Der Bund ist dabei allerdings fast immer auf eine Mehrheit im Bundesrat und auf eine Umsetzung über die Verwaltungen der Länder angewiesen.

Die anderen mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen kennen keine bundes-staatlichen Strukturen (in der Verfassung der V. Republik Frankreichs gibt es beispielsweise keine hierarchischen Kompetenzbestimmungen). Es lässt sich ledig-lich eine allmähliche Entwicklung weg vom Unitarismus beobachten (allerdings von oben nach unten und nicht von unten nach oben). Spanien hat 1978 - mit noch offenem Ausgang - eine Dezentralisierung begonnen. Ähnliches gilt ansatzweise für Polen. Italien hat durch die Einführung der Direktwahl des Präsidenten des Regionalausschusses zwar die Legitimität der Regionen gestärkt, ihre Zuständig-keiten und Finanzausstattung freilich nicht erweitert.

In Frankreich ist ein (schüchterner) Dezentralisierungsprozess eingeleitet, der inzwischen aber - trotz aller Auflockerung des Einheitsstaates - ins Stocken gera-ten ist (vgl. nur das „Problemfeld" Korsika). Dieser Prozess soll erklärtermaßen nicht in einen Föderalismus münden. Großbritannien schließlich hat 1998 Gesetze beschlossen, die Schottland, Wales und Nordirland eine - begrenzte - Regional-autonomie geben sollen.

Insgesamt ist und war es beim Herangehen an die europäische Verfassungs-debatte entscheidend, die nationalen Verfassungsvorverständnisse mitzuberück-sichtigen. Die bislang vorliegenden Verfassungsentwürfe zeig(t)en, welche große Rolle die nationalen Ausprägungen demokratischer Wirkungsprinzipien spielen.

454 Die Stellung des US-Präsidenten ist insofern noch stärker, als er Regierungschef ist und ebenfalls direkt - über Wahlmänner - gewählt wird.

4 5 5 Der schweizerische Wettbewerbsföderalismus ist insoweit nochmals eine Besonder-heit. da er den Gliedstaaten z. B. auch autonome Steuererhebungskompetenzen einräumt; nach d e m US-Trennungsföderal ismus umfassen dagegen die jeweils der Bundesebene zu-gewiesene Sachkompetenz alle Funktionen: Gesetzgebung, Exekutive und Gerichtsbarkeit.

4 5 6 Belastbare Bewertungen der . .Föderalismus-Reform I" sowie der laufenden ..Födera-l ismus-Kommission" stehen noch aus.

164 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

oo) Begleitend zum Verfassungskonvent vorgestellte (Privat-)Entwürfe

Begleitend zum seit Februar 2002 tagenden „Konvent zur Zukunft Europas" erarbeiteten verschiedene Politiker und Juristen eine Vielzahl eingehender Verfas-sungsentwürfe.457

Zu nennen sind hierbei (P\ Häberle zitierend458 und ergänzend) der „Budapes-ter Entwurf für eine Europäische Verfassung" der Arbeitsgruppe an der Staats-und Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Budapester Eötvös-Loränd-Universität vom Juni 2003459, der Entwurf von The Young Christian Democrats ofDenmark (KFU) vom März 200346<>, der Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Juris-tinnen und Juristen (ASJ) vom Februar 200346! sowie aus demselben Monat der „Trierer Verfassungsentwurf für die Europäische Union"462.

Weiterhin sollen in diesem Kontext hervorgehoben werden: Die EVP - Kon-ventsgruppe und ihr Diskussionspapier vom November 2002461 sowie die überar-beitete Fassung vom Januar 20034 M ; der (überarbeitete) Entwurf eines „Verfas-sungsvertrages der Europäischen Union" von F. Cromme465; der Vorentwurf des VerfassungsVertrages von Kommissionspräsident R. Prodi (4.12.2002)4 6 6 .

457 17 dieser Entwürfe werden von P Hüberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 600 ff. ( vgl. auch ders., Die Herausforderungen des europäischen Juristen vorden Aufgaben unserer Verfassungs-Zukunft : 16 Entwürfe auf dem Prüfstand, in: DÖV 11/2003. S . 4 2 9 ff.) vorgestellt und profund (gelegentlich streitbar - etwa der sog. ..Berli-ner Entwurf* vom November 2002) analysiert. Auf eine Darstellung dieser Ansätze wird daher verzichtet, gleichwohl darauf verwiesen, dass eine nicht unerhebliche Anzahl der Entw ürfe einflussreiche Wegmarken für die Debatte zu setzen w ussten (bzw. noch w issen). Einige Verfassungsentwürfe, die von P. Hüberle nicht aufgenommen wurden, sind bereits oben benannt worden. Vgl. auch T. Oppermann. Vom Nizza-Vertrag 2001 zum Europäi-schen Verfassungskonvent 2002/2003 . in: DVBI. 2003. S. 1 ff. J. Schwarze. Europäische Verfassungsperspektiven nach Nizza, in N J W 2002. S. 993 ff.

458 P. Häberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 604 ff. 4 5 9 Vgl. www.cap.uni-muenchen.de/konvent/entwuerfe.htm. 460 Young Cristian Democrats Of Denmark (B. Langdahl. T.N. W. Pedersen). A Danish

Proposal on a European federal Consti tution. 25. März 2003, abrufbar unter http://kfu.dk /r tf /108.pdf.

461 Der Entwurf: Verfassungsgrundsätze der Europäischen Union. 14. Februar 2003. vgl. www.bundestag.de/ internat /eu_konvent/verf_ent .html.

462 H. W. Maull. R. Kirt (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa. Trierer Verfassungsentw urf für die Europäische Union. Ergebnis eines Projektseminars Trierer Studentinnen und Studenten. 2003.

4 6 3 „The Constitution of the European Union" (Discussion Paper). 10. November 2002. Text of the EPP Convention Group meeting in Frascati. abrufbar unter http:/ /www.cap.uni-muenchen.de/konvent/download/EPP-Const i tut ion2.pdf.

464 „Die Verfassung der Europäischen Union" (Diskussionspapier) , überarbeitete Fas-sung einschl. des 2. Teils. 2 7 . 0 1 . 2 0 0 3 . vgl. C O N V 616 /03 vom 0 1 . 0 4 . 2 0 0 3 .

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 165

D e r „ B e r l i n e r E n t w u r f ' von G. Gloser u n d M. Roth ( N o v e m b e r 2 0 0 2 ) 4 6 7 und d e r „ F r e i b u r g e r E n t w u r f ' d e s Europa-Instituts Freiburg e. V. ( N o v e m b e r 2 0 0 2 ) 4 6 s ver-d i e n e n e b e n s o e i n e E r w ä h n u n g w i e d e r „ E n t w u r f e i n e r N e u f a s s u n g d e s V e r t r a g e s ü b e r d i e E u r o p ä i s c h e U n i o n f ü r d e n V e r f a s s u n g s k o n v e n t d e r E U " v o n R . Scholz ( 2 0 0 2 ) 4 6 9 , d e r V o r e n t w u r f d e s V e r f a s s u n g s v e r t r a g e s v o m Konventspräsidium ( O k -t o b e r 2 0 0 2 ) 4 7 0 u n d d e r V o r s c h l a g e i n e r „ V e r f a s s u n g d e r E u r o p ä i s c h e n U n i o n " a n d e n K o n v e n t v o n J . Leinen ( O k t o b e r 2 0 0 2 ) 4 7 1 .

A u f W i d e r h a l l s t i e ß e n z u d e m d e r E n t w u r f v o n A. Dashwood, M. Dougan, C. Hillion. A. Johnston u n d E. Spavent ( O k t o b e r 2 0 0 2 ) 4 7 2 s o w i e d i e A n s ä t z e d e r

K o n v e n t s m i t g l i e d e r E. O. Paciotti47\ E. Brök474, R. Badinter475 u n d A. Duff476.

N e b e n d e m in m a n c h e r l e i H i n s i c h t g e g l ü c k t e n E n t w u r f v o n F . Dehousse und W. Coussens ( E u r o p e n Po l i cy C e n t e r ) 4 7 7 ist in m e s s b a r e n G r e n z e n b e a c h t e n s w e r t a u c h d e r „Fi rs t G r e e n D r a f t fo r a E u r o p e a n C o n s t i t u t i o n " d e r j u n g e n G r ü n e n - P o l i t i -

465 F. Cromme, Verfassungsvertrag der Europäischen Union. Entwurf und Begründung. 2. Aufl. 2003, S. 27 ff.

4 6 6 Abrufbar unter http:/ /europa.eu.int/futurum/documents/offtext/const051202_en.pdf 467 Abrufbar unter http:/ /www.eloser-spd.de/berl iner_entwurf-verfassung_fuer_die_eu

.pdf. 468 Europa-Institut Freiburg e. V. ( Hrsg.). Freiburger Entwurf für einen europäischen

Verfassungsvertrag, 2002. 46" R. Scholz, Entwurf einer Neufassung des Vertrages über die Europäische Union für

den Verfassungskonvent der EU. in: Zeitschrift für Gesetzgebung. Vierteljahresschrift für staatliche und kommunale Rechtsetzung, 17. Jahrgang. Sonderheft 2002.

4 7 0 Vgl. C O N V 369/02 sowie http:/ /register .consil ium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00369d2 .pdf

471 Abrufbar unter ht tp: / /www.joleinen.de/dokumente.html. 4 7 : . .Draft Constitutional Treaty of the European Union and related documents" ,

vgl. C O N V 345/02 REV I sowie hUp://register.consil ium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00345-r id2 .pdf

4 7 3 „Progetto di Costi tuzione del l 'Unione Europea" (ital.), ..Projet de Constitution de f Union Europenne" (franz.), vgl. C O N V 335/02 vom 10. Oktober 2002 sowie http://register .consil ium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00335d2.pdf

474 „Constitution of the European Union" (Discussion Paper) neuere Version zum Entwurf vom 10. September 2002 (abrufbar unter http:/ /www.weltpolit ik.net/texte/policy /verfassung/brok.pdf) . vgl. C O N V 325/02 vom 8 . O k t o b e r 2 0 0 2 (CONTRIB I I I ) sowie http://register.consilium.eu.int/pdf/de/02/cv00/00325d2.pdf

475 „Eine Europäische Verfassung. Une Constitution Europenne", vgl. C O N V 317/ 02 vom 30. September 2002 sowie http:/ /register.consil ium.eu.int/pdf/de/02/cv00/003l7d2 .pdf

4 7 6 „A Model Constitution for a Federal Union of Europe", vgl. C O N V 234 /02 vom 3. September 2002 sowie http://register.consilium.eu.int/pdf7dc/02/cv00/00234d2.pdf:

477 Constitution of the European Union. 17. September 2002. vgl. ht tp: / /www.cap.uni-muenchen.de/konvent /download/EPC-DehousseCoussens.pdf .

166 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

ker Seifen, Liihrmann und Nouripour (September 2002)478 sowie „La Constitution Europeene de Cluny" der Convention Europiene de Cluny (Juli 2002)479.

pp) Der Europäische Konvent480

( I ) Auftrag und Zusammensetzung - das innovative Konventsmoment

Der „EU-Konvent zur Zukunft Europas" wurde von den europäischen Staats-und Regierungschefs am 14./15. Dezember 2001 beauftragt, „die wesentlichen Fragen zu prüfen, welche die zukünftige Entwicklung der Europäischen Union aufwirf t . " Dazu wurden in der benannten „Erklärung von Laeken" jene knapp 60 Fragen aufgelistet, mit denen sich der Konvent beschäftigen sollte. Praktisch war damit der Auftrag für eine Generalrevision der Europäischen Union gegeben. Der Konvent hat seine Arbeit so angelegt, dass praktisch das gesamte europäische System auf den Prüfstand kam.

Im Unterschied zu Regierungskonferenzen, die bisher die Verträge ausgear-beitet hatten, setzte sich der Konvent nicht aus Diplomaten der Mitgliedstaaten zusammen, sondern in erster Linie aus Parlamentariern. Darin lag das „inno-vative Moment" des EU-Konvents für die europäische Verfassunggebung. Der Konvent versammelte 105 Mitglieder und die gleichen Zahl von Stellvertretern. Auch Vertreter der Beitrittsstaaten nahmen teil. Neben dem Präsidenten und zwei Vizepräsidenten bestand der Konvent aus

- 28 Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten, - 16 Mitgliedern des Europäischen Parlaments, - 56 Vertretern der nationalen Parlamente und - zwei Vertretern der EU-Kommission.

Zwar hatten die Mitglieder der Beitrittsstaaten kein Stimmrecht, doch wirkte sich das in der Praxis mangels Abstimmungen nicht aus. Die stellvertretenden Mitglieder waren im Status den Mitgliedern praktisch gleichgestellt.481

4 7 8 Vgl. ht tp: / /www.cap.uni-muenchen.de/konvent/download/Young_Greens.pdf . 4 7 9 Vgl. http://pictel .cluny.ensam.fr/Europe/textes/const_2001 .htm. 4S" Aus der Lit: T. Oppermann. Vom Nizza-Vertrag 2001 zum Europäischen Verfas-

sungskonvent 2002 /2003 , in: DVB1.2003. S. 1 ff.: F.C.Mayer. Macht und Gegenmacht in der Europäischen Verfassung. Zur Arbeit des Europäischen Verfassungskonvents, in: ZaöRV 63 (2003). S. 59 ff.: I. Pernice. Eine neue Kompetenzordnung für die Europäische Union, in: P. H ä b e r l e / M . Mor lok /W. Skouris (Hrsg.), Festschrift Festschrift für Dimitris Th. Tsatsos. Zum 70. Geburts tag am 5. Mai 2003. 2003. S . 4 7 7 ff.: 5. Magiern. Die Arbeit des europäischen Verfassungskonvents und der Parlamentarismus, in: DÖV 2003. S. 578 ff.; D. Tsatsos. Der Europäische Konvent, in: Festschrift für T. Fleiner. 2003. S. 749 ff. Siehe insb. auch die Bibliographie des Verf. (2006).

481 Aus Deutschland gehörten zuletzt dem Konvent an: Bundesminister J. Fischer (Grü-ne), und Staatsminister H.M. Bury als Vertreter der Bundesregierung. Ministerpräsident

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 167

Ein bedeutender Vorteil des Konventsverfahrens lag im Beginn der „Politisie-rung" des europäischen Interessenausgleichs.

Grundsätzlich ist eine Abstimmung von 25 (plus x) nationalen Interessen nahe-zu unmöglich. Unhabhängig von einer aktuellen Bewertung steht einem Konvent dagegen grundsätzlich die Möglichkeit zur Interessenformulierung innerhalb der vier Institutionengruppen und der „politischen Familien" offen. So erfolgte bei-spielsweise zum Ende des Grundrechtekonvents der politische Interessenausgleich nicht mehr entlang der nationalstaatlichen Linien, sondern zwischen den politi-schen Gruppen. Die Zusammenkünfte der „politischen Familien" im Vorfeld der Plenarsitzungen führten so schon beim ersten Konvent zu einer Abstimmung über die nationalen Grenzen hinweg.482

(2) Die Gestaltung der Konventsarbeit

Der Konvent konnte freilich auf zahlreiche neue Vorschläge für eine Reform bzw. Ersetzung der geltenden Verträge zurückgreifen. Die jeweiligen Vorarbeiten spielten in der Konsequenz aber eine vergleichbar marginale Rolle.

Die Zusammenarbeit zwischen dem Plenum und dem Präsidium bzw. seinem Präsidenten gestaltete sich von Beginn an nicht reibungs- und konfliktfrei.483 So wurden etwa Arbeitsgruppen mit einer realistischen Zeitvorgabe erst auf Druck des Plenums eingesetzt, ohne dass dabei tatsächlich plausible Strukturüberlegun-gen erkennbar waren. Zu einem zentralen Punkt der Reform, den Institutionen, hat es keine Arbeitsgruppe gegeben. Von Vielen wurde beklagt, dass die „Grund-

E. Teufel (CDU) und W. Gerhards (SPD), als Vertreter des Bundesrates, J. Meyer (SPD) und P. AI mutier (CDU) als Vertreter des Bundestages. E. Brök (CDU). K. Hansell (SPD), S. Kaufmann (PDS) und J. Wuermeling (CSU) in der Delegation des Europäischen Parla-ments.

4 8 2 Der zweite Konvent hat daraus zumindest vordergründig seine Konsequenzen gezo-gen: Bereits vor der Eröffnungssi tzung am 28. März 2002 fanden sowohl die ersten Treffen der Insti tutionengruppen als auch Koordinierungssitzungen der ..politischen Familien" statt.

4 8 3 Bereits der Auftakt der Konventsberatungen war in diesem Sinne misslungen. da das Präsidium den Versuch unternommen hatte, eine ausschließlich von ihm selbst entworfene, sehr präsidiallastige Geschäf tsordnung zur Grundlage der Konventsarbeit zu machen, vgl. auch J. Meyer/S. Hölscheidt. Die Europäische Verfassung des Europäischen Konvents, in: EuZW 2003. S . 6 I 3 ff. Um die Verfassung zu entwerfen, wurden 27 Plenarsitzungen zwischen dem 2 8 . 2 . 2 0 0 2 und dem 10.7 .2003 durchgeführt , in denen es 1802 Redebeiträge gab. die als Folge der Beschränkung der Redezeit ..nur" 5436 Minuten in Anspruch genommen haben. Das Präsidium hat 50mal getagt. Es gibt 848 Konventsdokumente: 5995 Änderungsanträge wurden gestellt. Elf Arbeitsgruppen gab es. die insgesamt 86 Sitzungen durchgeführt haben: hinzu kommen drei Arbeitskreise, die insgesamt zwölfmal getagt haben, vgl. C O N V 851 / 0 3 v. 18. 7 . 2 0 0 3 ; Agence Europe v. 10 .7 .2003 : die letzte C O N V -Nr. ist zwar 854 /03 v. 2 9 . 7 . 2 0 0 3 , doch wurden gem. C O N V 835 /03 v. 2 9 . 7 . 2 0 0 3 6 CONV-Nr. nicht vergeben.

168 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

r e c h t e c h a r t a " v o m P r ä s i d i u m als „ S t e i n b r u c h " g e n u t z t w o r d e n w ä r e , i n d e m e s ihre N o r m e n i n a n d e r e n Te i l en d e r V e r f a s s u n g u n t e r g e b r a c h t und d a d u r c h u n n ö -t i g e r w e i s e h u n d e r t e v o n Ä n d e r u n g s a n t r ä g e n p r o v o z i e r t hä t t e . E in a l l zu ü b l i c h e r V e r f a h r e n s f e h l e r l i eß s i ch e b e n f a l l s n i ch t v e r m e i d e n : d i e a n f ä n g l i c h g e f ü h r t e G e n e r a l d e b a t t e w a r v ie l z u l a n g w i e r i g , s o d a s s d e m K o n v e n t g e g e n E n d e n i ch t g e n ü g e n d Ze i t b l i eb , d e n u m f a n g r e i c h e n Teil III in de r g e b o t e n e n A u s f ü h r l i c h k e i t z u e r ö r t e r n . 4 8 4

D e r K o n v e n t t a g t e i m P l e n u m a n 5 2 S i t z u n g s t a g e n z w i s c h e n M ä r z 2 0 0 2 und J u n i 2 0 0 3 . D i e s g a b G e l e g e n h e i t z u 1802 m ü n d l i c h e n B e i t r ä g e n . A r b e i t s g r u p p e n w u r d e n e i n g e r i c h t e t u . a . z u d e n T h e m e n S u b s i d i a r i t ä t , n a t i o n a l e P a r l a m e n t e , Z u s t ä n d i g k e i t e n , O r d n u n g s p o l i t i k . I n n e r e s u n d Jus t i z , G e s e t z g e b u n g s v e r f a h r e n . A u ß e n b e z i e h u n g e n u n d V e r t e i d i g u n g s p o l i t i k .

I n d e m K o n v e n t h a b e n s ich d i e M i t g l i e d e r s o w o h l n a c h po l i t i s che r Z u g e h ö r i g k e i t w i e nach D e l e g a t i o n e n (z. B . E u r o p ä i s c h e s P a r l a m e n t o d e r n a t i o n a l e P a r l a m e n t e ) z u s a m m e n g e f u n d e n . I n d i e s e m R a h m e n f a n d e n j e w e i l s K o o r d i n i e r u n g e n stat t . D i e F r a k t i o n d e r E u r o p ä i s c h e n V o l k s p a r t e i ( E V P ) , u m f a s s t e e t w a 4 0 P r o z e n t d e r M i t g l i e d e r , d i e d e r S o z i a l i s t e n 3 0 P r o z e n t . D ie E V P - G r u p p e ha t t e i n v i e l e n P u n k t e n a u f g r u n d ( d a m a l i g ) w e i t g e h e n d e r H o m o g e n i t ä t e i n e F ü h r u n g s r o l l e ü b e r n o m m e n b i s h in zu r Vor lage d e s b e r e i t s e r w ä h n t e n k o m p l e t t e n V e r f a s s u n g s e n t w u r f s . 4 S ?

484 J. Meyer!S. Höheheidt. Die Europäische Verfassung des Europäischen Konvents, in: E u Z W 2003. S. 613 ff., 613 stellen zu Recht fest, dass dies ein „wichtiger Grund für manche Ungereimtheiten der Verfassung" gewesen sei: „Theoretisch wäre es sinnvoll und möglich gewesen, die Konventsarbeit weiter zu verlängern, praktisch nicht. Europa benötigt generell Zeitdruck, um Fortschritte zu erzielen. Speziell für den Konvent als neuartigem parlamenta-rischen Gremium war die Mitgliedersituation zu berücksichtigen, weil persönliche Kontakte jenseits starrer Delegationsgrenzen, wie sie Regierungskonferenzen kennen, eine große Rolle gespielt haben. In den Konvent brachten lediglich 14 Mitglieder durchgängig ihre Erfahrungen aus dem Grundrechtekonvent ein; von den ursprünglichen 105 Mitgliedern waren am Schluss nur noch 69 vertreten, mehr als ein Drittel ist also ausgetauscht worden. Eine Verlängerung hätte zwangsläufig eine weitere Fluktuation mit sich gebracht und das Konventsgeflecht beeinträchtigt. Außerdem erschöpft sich die Dynamik und Produktions-kapazität eines solchen Gremiums zu einem best immten Zeitpunkt. Erfahrungsgemäß ist er nach ca. zwei Jahren erreicht ." Dies belegen auch die Prozesse der Verfassunggebung in den 70er Jahren in Griechenland. Spanien und Portugal auf der Staatenebene, die Ver-fassungskommissionen der fünf neuen Bundesländer auf der innerstaatlichen Ebene und zuletzt der Grundrechtekonvent auf der europäischen Ebene.

4S? Die deutschen Vertreter von „Rot-Grün" hätten im Konvent eine maßgeblichere Rolle spielen können. Das Potential Deutschlands als größtem Mitgliedstaat wurde bei aller gebotenen Zurückhaltung auch angesichts gegebener Wirkkräfte nur bedingt genutzt. Einen Akzent brachte zumindest die deutsch-französische Initiative im Frühjahr 2003 (wobei die ..Vertretungsregelung" Deutschlands d u r c h / Chirac zu den traurigen Kapiteln tatsächlicher „Interessensvertretung" zu zählen ist). Die Auswechslung des Regierungsvertreters P. Glotz durch Außenminister J. Fischer erfolgte zu spät. Zudem gehörte Fischer als Grüner keiner der großen politischen Gruppen an. in der die Linien verabredet wurden.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 169

Der Konvent wurde „gesteuert" durch den Präsidenten V. Giscardd'Esiaing, das Präsidium und das Generalsekretariat. Der Präsident war zunächst auf viele Vorbe-halte der Mitglieder gestoßen. Er hat jedoch den Konvent laut Aussagen zahlreicher Mitglieder durch eine weitsichtige, pragmatische und konziliante Amtsführung überzeugen können. Seine Autorität hat in der Schlussphase gelitten durch das Beharren auf Vorschlägen, die das Plenum mit breiter Mehrheit abgelehnt hatte.

(3) Inkurs: Der Konvent als Zentralisierungsplattform?

Eine grundsätzliche Überlegung: die Verfassung ist ein klassisches Mittel, die Macht des Staates zu begrenzen. Sie kann aber auch dazu missbraucht werden, die Machtfülle, die staatliche Institutionen angesammelt haben, ex post zu legitimieren und weiter auszubauen. Der Europäische Verfassungskonvent hatte vorgeschlagen, die Kompetenzen der Europäischen Union zu erweitern, anstatt sie zu beschränken.

Der Konvent wurde im Dezember 2001 vom Europäischen Rat eingesetzt, auch weil der französische Präsident J. Chirac in Nizza offensichtlich eine weitere Zentralisierung der Europäischen Union in wichtigen Punkten zu blockieren vermocht hatte. Nicht zuletzt um ihn - auch in seinem eigenen Land - unter Druck zu setzen"86, beschloss die Ratsmehrheit, auf öffentlichkeitswirksame Weise an die Spitze des Verfassungskonvents einen bürgerlichen Politiker aus Frankreich zu stellen, der als besonders zentralisierungsfreudig bekannt war.

Die offizielle Begründung lautete freilich anders: Der Konvent sollte erstmals den Parlamenten - dem Europaparlament und den nationalen Parlamenten - die Möglichkeit geben, schon im Vorfeld einer Regierungskonferenz Einfluss auf die Reformdiskussion zu nehmen. Tatsächlich besaßen die Europaparlamentarier (16) und die nationalen Parlamentarier (30) im Konvent - allerdings nicht in seinem Präsidium - zusammen eine Mehrheit der 66 Stimmen. Hierbei ist jedoch die unterschiedliche Interessenlage zwischen den nationalen und europäischen Parla-mentariern zu berücksichtigen, wenn es um die Zentralisierung Europas geht. Das Kooperationspotential erschien zunächst eingeschränkt. Versucht man die verschie-denen Gruppen des Konvents nach ihrem jeweiligen Zentralisierungsinteresse zu ordnen, so standen die Vertreter der Kommission (2) und des Europaparlaments (16) an der Spitze. Es folgten der Präsident, die beiden Vizepräsidenten Ama-to und Dehaene (zusammen 3) sowie die Vertreter der nationalen Regierungen (15). Für eine Mehrheit bedurfte es 34 der 66 Stimmen. Damit wurde deutlich: Die Mehrheitskoalition, die einer stärkeren Zentralisierung grundsätzlich befür-wortend gegenüberstand, besteht aus den Vertretern der Kommission und des Europaparlaments, der Leitung des Konvents und 13 (von 15) Regierungsvertre-tern (2+16+3+13=34). Der Repräsentant der französischen Regierung und die

4 8 6 Vgl. nur R. Vaubei Weshalb das Defizit an Demokratie bestehen bleibt, in: NZZ am Sonntag vom 16 .2 .2003 .

170 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

nationalen Parlamentarier konnten beliebig überstimmt werden. Im zwölfköpfigen Präsidium gestaltete sich dies noch leichter.

Dem Präsidium gehörten - in der Rangfolge ihrer vordergründigen Zentrali-sierungsneigung - j e zwei Vertreter der Kommission und des Europaparlaments, die dreiköpfige Konventsleitung, drei Vertreter der Regierungen und zwei nationa-le Parlamentarier an. Den Ausschlag gab daher weitgehend die Konventsleitung. Zehn Mitglieder des Konvents kritisierten den Zentralisierungskurs. Diese Gruppe war nicht im Präsidium vertreten.

Nunmehr in Fortführung der oben angestellten grundsätzlichen Überlegung: Die Zusammensetzung des Konvents könnte gegen die klassischen Maxime der Verfassungstheorie verstoßen haben, wonach Verfassungsregeln nicht von denen aufgestellt werden dürfen, die sie später einhalten sollen. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass sich die Verfassunggeber mehr Macht einräumen, als für das Gemeinwesen „gut" ist. Demzufolge hatte beispielsweise die erste französische Verfassunggebende Versammlung (Assemblee Constituante) in der Verfassung von 1791 ihren Mitgliedern verboten, für das daraufhin zu wählende Parlament (Assemblee Legislative) zu kandidieren.487 Tatsächlich haben die europäischen In-stitutionen den benannten verfassungstheoretischen Grundsatz bereits früher miss-achtet. So war der erste Präsident der Kommission mit W. Hallstein der Mann, der den EWG-Vertrag für die Bundesrepublik Deutschland ausgehandelt hatte. Unter Berücksichtigung dieser Erwägungen hätte der Europäische Verfassungskonvent im Grunde nur aus Mitgliedern der nationalen Parlamente bestehen dürfen, denen für die Zukunft alle Ämter in den EU-Institutionen verwehrt worden wären. Dann hätte der Verfassungskonvent auch ganz an die Stelle der Regierungskonferenz treten können. Alle Änderungen der Verträge wären vom Konvent ausgehandelt und dann den Parlamenten der Mitgliedstaaten zur Ratifizierung vorgelegt worden. Das wäre bereits insoweit vorzugswürdig gewesen, als die Regierungen oft allein deshalb an der Zentralisierung interessiert sind, um sich der extensiven parlamen-tarischen Kontrolle zu entziehen. Die Parlamentarier der Mitgliedstaaten haben jedoch kein Interesse an ihrer eigenen Entmachtung, und auch ein internationales Regulierungskartell hat für sie wenig Wert.

Interessant wird in diesem Gesamtzusammenhang und mit Blick auf den Ver-fassungsvertrag bzw. den Vertrag von Lissabon die zukünftige Rechtsprechung des EuGH sein. Zwar sollen die nationalen Parlamente die Möglichkeit erhalten, im Vorfeld der EU-Gesetzgebung ihre Bedenken anzumelden und im Nachhin-ein beim EuGH gegen Kompetenzüberschreitungen zu klagen. Jedoch ist bislang

4S In diesem Kontext entwickelt der Gedanke eines Referendums in der Regel be-sondere Anreize, vgl. dazu A. MaurerlS. Schunz, Ratifikation durch Referendum. Europas Verfassung nach der Regierungskonferenz. SWP-Papier . 2003. S. Hol scheidt. /. Putz. Re-ferenden in Europa, in: DÖV 18 (2003), S. 737 ff.; K. Schmitt (Hrsg.), Herausforderungen der repräsentativen Demokratie . 2003.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 171

n ich t e r k e n n b a r , w e s h a l b d e r E u G H d a s Z e n t r a l i s i e r u n g s i n t e r e s s e d e r a n d e r e n e u r o p ä i s c h e n I n s t i t u t i o n e n n ich t t e i len so l l t e . J e m e h r K o m p e t e n z e n d i e E u r o p ä i -s c h e U n i o n e rhä l t , d e s t o w i r k u n g s m ä c h t i g e r s ind d i e Fä l l e , d i e d i e e u r o p ä i s c h e n R i c h t e r z u e n t s c h e i d e n h a b e n . E s w ü r d e z u w e i t f ü h r e n z u p o s t u l i e r e n , d a s s s ich i n s b e s o n d e r e d e s h a l b d e r E u G H i n d e r V e r g a n g e n h e i t a l s „ M o t o r d e r I n t e g r a t i o n " be t ä t i g t hä t te 4 8 S . A l l e r d i n g s ist in e i n e r v e r g l e i c h e n d e n B e t r a c h t u n g de r G e s c h i c h t e u n t e r s c h i e d l i c h e r B u n d e s s t a a t e n f e s t z u s t e l l e n , d a s s d i e V e r f a s s u n g s g e r i c h t e k a u m g e g e n Z e n t r a l i s i e r u n g s t e n d e n z e n v o r z u g e h e n t e n d i e r t e n u n d d i e s e n ich t se l t en d u r c h ihre R e c h t s p r e c h u n g v e r s t ä r k t e n . 4 8 9 D e m z u f o l g e und a u f g r u n d d e r b e k l a g -ten C h a n c e n l o s i g k e i t d e r n a t i o n a l e n P a r l a m e n t e vor d e m E u G H w u r d e b e r e i t s i n d e n 9 0 e r J a h r e n d e s v e r g a n g e n e n J a h r h u n d e r t s w i e d e r h o l t d i e F o r d e r u n g a u f g e -stel l t , d i e n a t i o n a l e n P a r l a m e n t e ü b e r e i n e z w e i t e K a m m e r d e s E u r o p a p a r l a m e n t s o d e r d i r ek t a n d e r e u r o p ä i s c h e n G e s e t z g e b u n g z u be te i l i gen . A u c h w u r d e e r w o g e n , d e m E u G H z u m i n d e s t e i n „ S u b s i d i a r i t ä t s g e r i c h t " a n d i e S e i t e z u s t e l l en , d a s a u s V e r t r e t e r n d e r h ö c h s t e n n a t i o n a l e n G e r i c h t e b e s t ü n d e u n d a u s s c h l i e ß l i c h ü b e r K o m p e t e n z s t r e i t i g k e i t e n z u e n t s c h e i d e n hä t te . 4 9 0

4 8 8 Siehe nur G. G. Saner. Der Europäische Gerichtshof als Förderer und Hüter der Inte-gration, 1988. Zur bisherigen Rolle des EuGH J. Schwarze, Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz. 1983: O. Dörr/U. Mager, Rechtswahrung und Rechtsschutz nach Amsterdam - Zu den neuen Zuständigkeiten des EuGH, in: AöR 125 (2000). S. 386 ff . ; P Häherle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 4 7 8 ff.: W. Graf Vitzthum, Gemeinschaftsgericht und Verfassungsgericht - rechtsvergleichendc Aspekte, in: JZ 1998. S. 161 ff. vgl. auch den Sammelband von J. Schwarze (Hrsg.), Verfas-sungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit im Zeichen Europas, 1998: P. Pernthaler. Die Herrschaft der Richter im Recht ohne Staat. Ursprung und Legitimation der rechtsgestal-tenden Funktionen des EuGH, in: Juristische Blätter 2000. S. 691 ff.; A Wolf-Niedermaier.. Der Europäische Gerichtshof zwischen Recht und Politik. 1997.

4 8 9 Eine Ausnahme bildet etwa das schweizerische Bundesgericht , da es nicht für Kompetenzstreitigkeiten zwischen den Kantonen und dem Bund zuständig ist.

4 9 0 Solche Vorschläge, wie sie die , .European Constitutional Group" (ECG) in einem Entwurf fü r eine europäische Verfassung im Sinne einer liberalen Ordnung 1993 vorge-stellt hatte, stießen jedoch bei der Mehrheit des Verfassungskonvents auf wenig Widerhall. Die ECG ist im Juni 2002 in Berlin mehr oder weniger neu lanciert worden, um das Vorhaben des EU-Verfassungskonvents kritisch zu begleiten; Zielsetzung war u .a . so-zusagen als Schatten-Konvent zu arbeiten, um bei der Veröffentl ichung des offiziellen Verfassungsentwurfs des EU-Konvents mit e inem liberalen Gegenvorschlag aufzuwarten. Die wiedererweckte ECG umfasste 18 Ökonomen und Rechtsexperten. Der Entwurf der ECG war naturgemäß viel schlanker als die Dokumente des EU-Konvents, inhaltlich aber radikaler. Die Autoren waren der Meinung, dass für eine wachsende Europäische Union in gewissem minimalem Ausmaß eine föderale Union nötig sei. um deren Funktionsfähigkeit zu sichern. Gesucht wurden deshalb Spielregeln für eine demokratische, föderal aufgebaute Europäische Union mit klarer Kompetenzaufte i lung zwischen den verschiedenen Staats-ebenen: Verfassungsregeln, die die Rechte der Bürger schützen, nicht - wie es eher EU-Tradition ist - die Rechte von Staaten. Als Grundrechte sollten die in der Konvention von 1950 umschriebenen Freiheitsrechte gelten und nicht - wie es der EU-Konvent letztlich vorsah - die im Dezember 2000 verkündete Grundrechte-Charta der Europäischen Union.

172 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

(4) Zeitgemäße Aspekte der Öffentlichkeitsarbeit?

D e r K o n v e n t t ag te ö f f e n t l i c h u n d a l l e D o k u m e n t e w a r e n ü b e r d a s I n t e r n e t j e d e r m a n n z u g ä n g l i c h . Z i e l w a r e i n e u m f a s s e n d e D e b a t t e a l l e r B ü r g e r i n n e n und B ü r g e r z u r R e f o r m d e r E u r o p ä i s c h e n U n i o n . D a z u w u r d e e in „ F o r u m " g e s c h a f f e n , d a s a l l en O r g a n i s a t i o n e n d e r Z i v i l g e s e l l s c h a f t o f f e n s tand . H i e r s ind 1264 B e i t r ä g e v o n N i c h t r e g i e r u n g s o r g a n i s a t i o n e n e i n g e g a n g e n , d i e b e i s p i e l s w e i s e i m R a h m e n e i n e r A n h ö r u n g d e r Z i v i l g e s e l l s c h a f t a m 2 5 . / 2 6 . J u n i 2 0 0 2 d u r c h d e n K o n v e n t i n d i e D e b a t t e e i n g e f l o s s e n s i nd . D e r V o r s i t z e n d e ha t d i e M i t g l i e d s t a a t e n d a z u a u f g e r u f e n , a u c h au f n a t i o n a l e r E b e n e F o r e n z u r B ü r g e r b e t e i l i g u n g e i n z u r i c h t e n . I n e i n e m „ J u g e n d k o n v e n t " w u r d e a m 10. Jul i 2 0 0 2 d e r B e i t r a g v o n ü b e r 2 0 0 J u g e n d l i c h e n g e h ö r t .

E i n e b r e i t e r e Ö f f e n t l i c h k e i t n a h m t ro tz d i e s e r B e m ü h u n g e n erst g e g e n E n d e d e s M a n d a t s v o n d e n A r b e i t e n N o t i z . U m f r a g e n z u f o l g e h a t t e n z u m S c h l u s s g e r a d e e i n m a l d i e H ä l f t e d e r E U - B ü r g e r v o n d e m K o n v e n t g e h ö r t . D i e s , o b w o h l d e r V e r f a s s u n g s t e x t g e r a d e Ü b e r s i c h t l i c h k e i t , E i n f a c h h e i t und B ü r g e r n ä h e v e r m i t t e l n so l l t e . U m f a s s e n d i n f o r m i e r t w u r d e n a l l e r d i n g s d i e n a t i o n a l e n P a r l a m e n t e d u r c h ihre Ver t re ter . 4 9 1

Die K e r n t h e m e n , m i t d e n e n d e r K o n v e n t s i ch z u b e f a s s e n ha t t e - T r a n s p a r e n z , D e m o k r a t i e , E f f i z i e n z u n d E f f e k t i v i t ä t po l i t i s che r E n t s c h e i d u n g s v e r f a h r e n - s ind w e s e n s m ä ß i g w e i t g e h e n d i d e n t i s c h mi t j e n e n , d i e a u c h i m n a t i o n a l e n K o n t e x t

Begründet wurde dies damit, dass die Charta zur verfassungsmäßigen Beschränkung der Staatsgewalt ungeeignet sei, da sie neben Freiheitsrechten viele Stellen enthalte, aus denen zahlreiche Schutz- und Umverteilungs-Versprechen ableitbar wären. Im ECG-Worschlag w ird die zweite Kammer nicht aus dem Europäischen Rat gebildet; dieser bleibt näher bei seiner heutigen Rolle. Die Zuständigkeit der europäischen Regierung beschränkt sich auf Verteidigung. Außenpolitik. Außenhandelspolitik, die Gewährleistung des freien Verkehrs von Waren. Dienstleistungen, Personen und Kapital innerhalb der Europäischen Union, auf Wettbewerbspolitik sowie Umweltpolitik mit Blick auf EU- weite Umweltprobleme. All dies soll nur an die oberste Ebene delegiert werden, wenn unter den Mitgliedstaaten darüber Konsens herrscht und ein Referendum darüber die Volks- und Ländermehrhei t findet. Der Haushalt der europäischen Regierung muss über die Legislaturperiode hinweg ausgeglichen sein. Die europäische Regierung wird durch eine speziell bezeichnete Steuer finanziert, etwa durch eine proportionale indirekte Steuer. Steueränderungen sind nur bei Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern und Zust immung des Volkes möglich. Für wichti-ge Geschäf te gilt ein obligatorisches, für andere Vorlagen bei best immten Unterschriften-Quoren ein fakultatives Referendum. Vorlagen bedürfen zur Annahme einer Volks- und Ländermehrheit . Jeder Staat hat das Recht, aus der Europäischen Union auszutreten, wobei das Volk mit qualifizierter Mehrheit zust immen muss und Verfahren mit Übergangszeiten festzulegen sind. Schliesslich ist das Verfahren bei Entwurf und Verabschiedung einer Verfassung von zentraler Bedeutung, zumal diese eine Art Grundkonsens der EU-Bürger darstellen sollte. Eine Verfassung nach dem Geist der ECG müsste wohl dem Volk vorgelegt werden, und zwar in der ganzen Europäischen Union.

491 So haben etwa CDU/CSU-Konven t smi tg l i eder der Führungsspitze, den Europa-politikern. Bundestagsabgeordneten und weiteren Mandatsträgern der Partei nach jeder Plenartagung schriftlich Bericht erstattet.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 173

vieler EU-Länder bestehen, während die EU-Kandidatenländer in der zurück-liegenden Dekade einem intensiven Reformprozess unter diesen Perspektiven unterzogen wurden: gelegentlich drängt sich der Eindruck auf, dass sie dadurch besser auf die Europäische Union vorbereitet sind und waren als manches bisherige EU-Mitglied auf die gemeinsame europäische Zukunft .

Der Verfassungstext ist zwar nicht gerade über Nacht, aber doch in der ver-gleichsweise kurzen Zeitspanne von weniger als zwei Jahren entstanden. Gewiss, auch Verfassungen von Staaten kamen zum Teil sehr schnell zustande. So bei-spielsweise die gaullistische Verfassung der Fünften Republik in Frankreich. Sie wurde 1958 unter der Leitung von \1. Debre in wenigen Monaten redigiert und in Kraft gesetzt.

Alte Staatsverfassungen wie diejenige der Vereinigten Staaten von 1787 aber waren meist Produkte langer, intensiver Diskussionsprozesse. In der Schweiz nahm die Tagsatzung 1848 die neue Bundesverfassung zwar nach nur einigen Wochen dauernden Kommissionsverhandlungen an. Sie griff - so der Kommen-tar (des US-Schweizers) W. Rappard - zwar so lustlos zum neuen Text wie ein ermüdeter Patient zum rettenden Medikament. Doch waren der Errichtung des Bundesstaates von 1848 während fünfzig Jahren zum Teil erbitterte Auseinander-setzungen zwischen Zentralisten und Föderalisten. Liberalen und Konservativen vorausgegangen. Der EU-Verfassungskonvent hat zügiger und diskreter gearbeitet als die meisten staatlichen Verfassunggeber. Er war nicht umlagert von einem nachrichtenbegierigen Publikum. Er produzierte definitiv keine „Federalist Pa-pers", wenn man einmal von (verstreuten und eher unkohärenten) öffentlichen Stellungnahmen aus den Federn von U. Eco, J. Habermas, J. Derrida, A. Mtischg und anderen Intellektuellen absieht. Der Prozess vollzog sich - im Gegensatz zu klassischen Fällen des staatlichen „constitution-making" - in einer gewissen Abgeschiedenheit vom politischen und intellektuellen Leben.

Trotzdem war niemals zuvor in der Verfassungsgeschichte ein Verfassung-gebungsprozess im Angebot so öffentlich, demokratisch und transparent. Ein entscheidender Unterschied zur „Geheimniskrämerei von Philadelphia oder Her-renchiemsee"492. Es wird allerdings abzuwarten und manche Analyse bestritten sein, bevor eine klare Festellung gewagt werden kann, ob das allgemeine Inter-esse wenigstens an den Ergebnissen des Konvents und seinen Folgen höher war als bei Verfassungsprozessen früherer Zeiten. Verfassungsfragen sind oftmals prozeduraler Natur und interessieren daher neben den naturgemäß Betroffenen und Beteiligten in den Institutionen regelmäßig Minderheiten. Es ist demzufolge ein bedauernswerter Umstand, dass die europäische Verfassungsdebatte am Ende wieder auf eine Institutionendebatte reduziert wurde, gerade in dem Augenblick.

492 So L. Kidmhardt, Der Verfassungsentwurf des EU-Konvents. Bewertung der Struk-turentscheidungen. ZEI Discussion-Paper. 2003.

174 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

wo sie in das Blickfeld der Medien gelangte. Es wäre beispielsweise zielführender gewesen, unter Beteiligung einer tatsächlich einbezogenen europäischen Öffent-lichkeit491 darüber zu streiten, warum die Charta der Grundrechte nicht an eine prominentere Stelle in der Verfassung gesetzt wurde, denn sie weiß eine hervor-gehobene Facette politischer Identität zu verkörpern, die aus der Europäischen Union neben der Staatenunion auch eine Union der Unionsbürger macht.

(5) Beratung der Verfassungstexte, die Rolle des einzelnen Mitglieds

Auf der Grundlage der ersten Diskussionen und der Ergebnisse der Arbeits-gruppen erarbeitete das Präsidium im Oktober 2002 ein Rohgerüst für den Ver-fassungsvertrag. Sodann wurden sukzessive Vertragsartikel für die diversen Teile des Entwurfs vorgelegt. Nach Vorstellung dieser Artikel im Plenum konnten die Mitglieder (und auch die Stellvertreter) binnen einer Woche schriftliche Ände-rungsanträge zu den Texten einreichen (1. Lesung). Insgesamt wurden fast 8000 solcher Änderungsanträge gestellt. In der folgenden Plenartagung wurden die Texte und die Änderungsanträge diskutiert.

Auf dieser Grundlage überarbeitete das Präsidium den Entwurf und legte eine neue Fassung vor. Zu dieser konnten wiederum Änderungsanträge eingebracht werden (2. Lesung). Nach einer erneuten Überarbeitung und Diskussion im Ple-num (3. Lesung) wurden noch geringfügige Änderungen vorgenommen, bevor man den Konsens feststellen konnte.

Dieses Verfahren räumte dem Präsidium des Konvents eine starke Stellung ein. Es traf sich zu insgesamt 50 Sitzungen und unterbreitete dem Plenum 52 Arbeitspapiere. Kein einziger Text kam in den Verfassungsvertrag, der nicht zuvor die Billigung des Präsidiums erhalten hatte. Dies war in dem Mandat des Gipfels von Laeken angelegt, nach dem das Präsidium die Aufgabe der Ausarbeitung der Texte hatte. Im Konvent konnte nicht abgestimmt werden, denn er war nicht repräsentativ zusammengesetzt. Bei Abstimmungen hätte auf die Sensibilität von einzelnen Mitgliedstaaten nicht Rücksicht genommen werden können. Wären aber deren Vertreter regelmäßig überstimmt worden, hätte der Entwurf keinerlei Chance gehabt, die Regierungskonferenz zu passieren.

In den Plenardebatten konnte sich das einzelne Mitglied in auf drei Minuten beschränkten Wortbeiträgen zu den vorgegebenen Themen äußern. Nach einem Block von fünf Redebeiträgen konnten Kurzreaktionen von einer Minute abgege-ben werden.

4 9 3 Den Begriff . .europäische Öffent l ichkei t" beleuchten und definieren P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2(X)6. S. 163 ff. mit zahlreichen Nachweisen; siehe auch den Sammelband von C. Franzius!U. K. Preuß (Hrsg.) Europäische Öffentl ichkeit . 2004. Vgl. bereits P Häberle. Öffentlichkeit und Verfassung, in: ZIP 1969. S. 273 ff.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 175

Die Beratungen in den Arbeitsgruppen waren wesentlich ergebnisorientierter. Sie tagten nur während eines kurzen Zeitraums von zwei oder drei Monaten und hatten das Ziel, Orientierungen zu Einzelthemen wie etwa den ergänzenden Zuständigkeiten oder der Verteidigungspolitik zu erarbeiten. Da sich die Präsenz der Mitglieder hier meistens auf ein Dutzend beschränkte, war eine intensive und produktive Diskussion der einzelnen Themen möglich. Die meisten Reformansätze in dem Vertrag beruhen auf Vorarbeiten in den Arbeitsgruppen.

Darüber hinaus konnten die Mitglieder wie eben erwähnt Änderungsanträge und „schriftliche Beiträge" einbringen. 1159 solcher Beiträge sind zum Plenum und zu den Arbeitsgruppen eingegangen.4**

(6) Schlussphase der Konventsarbeit, Abstimmung(sprobleme) im Europäischen Rat

Allerorten entwickelten sich in der Schlussphase der Arbeit des Konvents überbordende Plattformen für europafreundliche Schriften und Reden. Vielfach wurden der Wert und das Ziel einer Balance zwischen den Institutionen der Euro-päischen Union angerufen. Gleichwohl aber war an vielen Orten auf subtile Weise eine wachsende Stimmung gegen Europa zu spüren. Man hatte nicht selten den Eindruck, dass Europa dort geschwächt werden sollte, wo es funktioniert (Bin-nenmarkt), und dass es dort trotz aller Rhetorik schwach bleiben könnte, wo die Bürger eindeutig und ausweislich aller demoskopischen Befunde „mehr Europa" wünschen (Außen-, Justiz-, Innenpolitik). In Nizza waren die Vetokapazitäten zwischen den Staaten gefestigt worden, bis am Ende die Einsicht Platz griff, dass das System insgesamt nicht mehr funktionieren würde. Nicht selten entstand in der Schlussphase des Konvents der Eindruck, als sollten dieses Mal die Veto-kapazitäten gegenüber den gemeinschaftsbildenden Prozessen und Institutionen gestärkt werden. Erneut - wie im Umfeld von Nizza - wurde intensiver über Kompromissspielräume bei den Institutionenfragen als über Maßstäbe. Ziele und Folgen des Verfassungsprozesses debattiert.

Nach der Übergabe des Entwurfs durch den Konvent im Juli 2003 begannen im Oktober 2003 die Vorbereitungen zur Regierungskonferenz im Dezember. Die Zeit der Vorverhandlungen zur endgültigen Verabschiedung war knapp bemes-sen - ein Großteil der Verantwortung lag hierbei in den Händen der italienischen Ratspräsidentschaft. Der Vorsitz selbst arbeitete darauf hin, die außen- und si-cherheitspolitischen Kapitel des Entwurfs zu modifizieren und für alle anderen Fragen differenzierte Lösungsmöglichkeiten zu präsentieren.495 Ein sehr kontro-

494 Die Beiträge sind auf der Web-Site des Konvents (http://europeanl-lconvention.eu .int) zugänglich.

4 9 5 Vgl. A. Maurer, Aufschnüren oder Dynamisieren? Chancen und Risiken der Regie-rungskonferenz zum EU-Verfassungsvertrag, SWP-Aktuel l Nr. 38. 2003. S. 1.

176 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

v e r s e r V e r h a n d l u n g s v e r l a u f w a r z u e r w a r t e n . Z u r E f f i z i e n z s t e i g e r u n g h a t t e m a n e i n e V o r g e h e n s w e i s e f e s tge l eg t : S te l l te e in M i t g l i e d s s t a a t e i n e pa r t i e l l e R e g e l u n g , e i n e n e i n z e l n e n P u n k t d e s G e s a m t k o n s e n s u s i n F r a g e , t r u g e r d i e V e r a n t w o r t u n g f ü r d a s F i n d e n e i n e s n e u e n K o n s e n s u s . A . Maurer s i eh t h i e r in e i n e n F o r t s c h r i t t z u m h e r k ö m m l i c h e n „ B a r g a i n i n g " nach d e r T h e o r i e A . Moravcsiks.4%

Nich t a l l e T e i l n e h m e r s a h e n d i e s e V e r e i n b a r u n g a l s v e r b i n d l i c h und k o n s e n s u a l

g e t r o f f e n an . 4 9 7

In d e r P r a x i s so l l te s ich z e i g e n , d a s s im Z w e i f e l s f a l l n a t i o n a l e I n t e r e s s e n s t ä rke r

d i e V o r g e h e n s w e i s e d e r K o n f e r e n z t e i l n e h m e r b e s t i m m t e n , a l s d i e s e r e d l e Vorsa t z .

A u f v e r s c h i e d e n e n F o r e n d e r R e g i e r u n g s k o n f e r e n z , d a r u n t e r d e r A u ß e n m i n i s -t e r k o n f e r e n z i n N e a p e l E n d e N o v e m b e r , h a t t e n s i ch b e r e i t s e i n i g e i n s t i t u t i one l l e F r a g e n i n d e r V o r b e r e i t u n g s p h a s e d e s A b s c h l u s s g i p f e l s k l ä r e n l a s sen . 4 9 8 Be i d e n D i s k u s s i o n e n u m d e n t u r n u s m ä ß i g e n W e c h s e l d e s Vor s i t ze s i m M i n i s t e r r a t w u r d e a l s e n d g ü l t i g e L ö s u n g d i e „ g l e i c h b e r e c h t i g t e R o t a t i o n " i m V e r t r a g f e s t g e h a l -ten - e i n e p r ä z i s e A u s g e s t a l t u n g so l l t e zu e i n e m s p ä t e r e n Z e i t p u n k t e r f o l g e n . 4 9 9

496 Vgl. A. Maurer!S. Schunz, Auf dem Weg zum Verfassungsvertrag. Der Entwurf einer Europäischen Verfassung in der Regierungskonferenz. 2003. S. 3. Bezug zu.: A. Moravcsik. Preferences and Power in the European Communi ty : A Liberal Interngovernmentalist Approach, in: Journal of C o m m o n Market Studies, Nr 4. 1993.

497 Der „Economis t" äußerte sich hierzu wie folgt: „The Germans , for instance. think that so broad a consensus was reached in the Convention that any government wishing to fiddle with the text must find an alternative broad consensus - which is unlikely", vgl. Economist vom 04. 10.2003.

498 Darunter waren die Funktion und Flexibilität des durch den Konvent vorgeschlagenen Legislativrates im Verhältnis zu den anderen Ratsformationen wie auch die Frage nach Sta-tus und Rolle des künftigen Außenministers. Die Außenministerkonferenz kam hier überein. dass kein eigenständiger Legislativrat gebildet werden sollte, vielmehr sollten die einzelnen Fachräte immer dann als ein solcher zusammentreten, wenn sie ein Gesetzgebungsverfahren durchführen und in diesem Zusammenhang öffentliche Beratungen stattfinden, vgl. Artikel I - 24. Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa. Fassung vom 06 .08 .2004 . CIG 87/04. Zur näheren Definition der Rolle des künftigen Außenministers der EU verein-barte man einen den anderen Kommissionsmitgl iedern gleichberechtigten Status (Artikel I - 28. Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa. Fassung vom 06 .08 .2004 . CIG 87/04) . Gegenstände der Einigung waren die Klärung seines St immrechtes außer-halb der Bereiche der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und die Frage, ob ein Misstrauensvotum des Parlaments gegen die Kommission auch eine Amtsniederlegung des Außenministers zur Folge haben sollte (vgl. Artikel 1-25. Vermerk des Vorsitzes der Ratspräsidentschaft an die Delegationen CIG 6 0 / 0 3 A D D 1).

4 9 9 Der italienische Vorsitz zielte auf die Diskussion achtzehn monatig wechselnder Vorsitze. Neben der Dauer des Vorsitzes musste auch die Anzahl der Mitglieder inner-halb einer Gruppenpräsidentschaft diskutiert werden: Laut italienischem Konscnpapier CIG 6 0 / 0 3 A D D I sollten dies drei Staaten sein. Diese Regelung ging schließlich in den Vertragstext ein. Die Alternative wäre gewesen, dass jeder Ministerrat in jeder seinerZu-sammensetzungen den eigenen Vorsitz autonom wählt. Die Formulierung des Artikel 1-24

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 177

Am 24. November 2003 verständigten sich schließlich die EU-Botschafter der 25 Mitgliedsstaaten über die Neuordnung der Ratspräsidentschaft: In einem Turnus von 18 Monaten sollte im Regelfall ein jeweils größerer EU-Staat gemeinsam mit einem kleineren bisherigen Mitgliedsstaat sowie mit einem „neuen" Mitglied die Teampräsidentschaft stellen. Gleichwohl: in den meisten Auseinandersetzungen standen sich die sechs Gründungsstaaten und die kleineren Mitgliedsstaaten, darunter die Beitrittsstaaten, gegenüber.

Die Zusammensetzung und Beschlussfassung der Europäischen Kommission war bereits im Konvent Gegenstand kontroverser Diskussionen gewesen.500 Die Kommission sollte laut Konventsentwurf ab dem 1. November 2009 nur noch 15 stimmberechtigte Kommissare („innerer Kreis") umfassen, die nach einem System der gleichberechtigten Rotation ausgewählt würden. Neben dem Präsidenten und dem Vizepräsidenten sollten weitere 13 Kommissare („äußerer Kreis") vertreten sein. Der Kommissionspräsident würde einen Kommissar aus einer Dreier-Liste jedes Mitgliedsstaats wählen.501

Der Verzicht auf einen Kommissar bedeutet für einen Mitgliedsstaat einen nicht geringen Einflussverlust. Die Kommissare gelten als Mittler zwischen „Brüssel" und ihren Herkunftsländern, daher möchte jeder Staat mit der Person des Kom-missars über ein „symbolisches Vertretungsdispositiv" verfügen. Es wurde vorge-zogen, eine Einigung in dieser Frage zunächst auf einen Folgegipfel zu vertagen, da die kleinen Staaten ihr Interesse hier massiv geltend machten. Die Ablehnung von Sanktionen gegen Deutschland und Frankreich wegen ihres Verstoßes gegen die Defizitkriterien verschlechterte das Klima zusätzlich. Beide Staaten stellten sich einer im Konventsentwurf vorgesehenen Vergrößerung der Kompetenzen der Kommission im Bereich des Stabilitäts- und Wachstumspaktes entgegen. Die eigennützige Interessenlage beider Defizitsünder trug nicht gerade zu einer af-fektfreien Diskussion bei. Diese Frage wurde ebenso wenig geklärt wie die der Rechte des Europäischen Parlaments im Haushalt der Europäischen Union und die Neustrukturierung der Parlamentssitze. Der Besetzungsmodus der Europäischen Kommission war wie die folgenden Diskussionsgegenstände keiner der Gründe, die unweigerlich zum Abbruch der Verhandlungen hätten führen müssen - da aber aufgrund der großen Streitfrage um die Gestaltung der Mehrheitsverhältnisse im Ministerrat ohnehin ein Scheitern absehbar war, bevorzugte man die Klärung jener Fragen unter Sondierung durch die folgende irische Ratspräsidentschaft.

in der endgültigen Fassung ermöglicht eine Änderung des Modus durch das im Vergleich zur Verfassungsänderung einfachere Verfahren des Europäischen Beschlusses.

5<M) Die kleinen Staaten wollten auch weiterhin einen eigenen st immberechtigten Kom-missar stellen, während Großbritannien und die Gründungsstaaten für eine Verkleinerung der Kommission eintraten.

501 Vgl. Artikel 25. Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa. Fassung vom 18 .07 .2003 . C O N V 850/03.

178 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Die Ausweitung der Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit zur Verbesse-rung der Handlungsfähigkeit und Effizienz war bereits auf den letzten Regierungs-konferenzen vorrangiges Ziel gewesen. Da die Einführung eines Mehrheitsvotums regelmäßig national als Abtretung souveräner Kompetenzen wahrgenommen wird, wohnte diesem Thema hohes Konfliktpotential innerhalb der Mitgliedsstaaten in-ne. Einige Staaten waren nicht bereit, ihre Vetomöglichkeit in für sie sensiblen Bereichen aufzugeben.502

Die Konventsregelung für die Gewichtung der Stimmen im Ministerrat stellte die Streitfrage dar. die letztlich eine Einigung unmöglich machte. Die Formu-lierung von Artikel 24 des Konventsentwurfs wollte dem Doppelcharakter der Europäischen Union als „Union der Staaten" und „Union der Bürger" Rechnung tragen. Der Abstimmungsmodus berücksichtigte im Vergleich zur Stimmengewich-tung im Vertrag von Nizza5 '" die tatsächlichen Bevölkerungsverhältnisse. Laut Konventsentwurf sollten zum Zustandekommen einer qualifizierten Mehrheit 50 Prozent der Stimmen der Mitgliedsstaaten repräsentiert werden und gleichzeitig hätten 60 Prozent der Bevölkerungszahl darin vertreten sein müssen. Die relative Gestaltungsmacht bevölkerungsreicher Staaten wie Deutschland gegenüber den anderen großen Staaten im Rat wäre begünstigt worden. Polen und Spanien lehnten dies als Herabstufung ihrer im Nizza-Vertrag entstandenen Sperrminorität ab. Die Regierungen Polens und Spaniens argumentierten, dass sie auf diese Weise Mehr-heitsbeschlüsse nicht mehr blockieren und folglich von den bevölkerungsreichsten Staaten der Europäischen Union dominiert werden könnten. Der Einsatz der Ver-handlungspartner zielte hier folglich nicht auf direkten eigenen Machtzuwachs

?"2 Die Einführung des Abs t immungsmodus der qualifizierten Mehrheit sollte in den Politikfeldern Steuern, Außen- und Sicherheitspolitik. Innen- und Justizpolitik wie auch Sozialpolitik und Haushalt erfolgen. Die große Konfliktlinie bestand zwischen Großbri-tannien. Irland. Tschechien. Malta und Slowenien einerseits - und den anderen Staaten andererseits. Während erstere für Einstimmigkeit plädierten, hätten vor allem Deutschland. Belgien und Niederlande gerne künft ig in diesen Bereichen mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt. Großbri tannien erwies sich in dieser Hinsicht als unbeirrbar in seiner Positi-on: Die vergleichsweise niedrige Steuerquote sollte nicht durch Harmonis ierungszwänge modifiziert werden müssen. Vor allem aber im Bereich der Außenpolitik gelten Kompetenz-abtretungen an die supranationale Ebene als Souveränitätsverluste. Das von K. D. Putnam (Diplomacy and Domestic Politics: The Logic of Two-Level-Games. In: International Or-ganization. Nr. 3, 1988) umrissene Vcrhandlungsparadigma ließe sich auf diese Situation anwenden: Die Kompromissbereitschaft und der Spielraum der Diskussionspartner sind in dem vorliegenden Konfliktfall stark von ihrer europapolitischen Grundposition zur Integra-tion abhängig. Im britischen Fall kann davon ausgegangen werden, dass Verhandlungshärte nicht zur Erreichung von Zugeständnissen an den Tag gelegt wurde. Vielmehr lassen sich von den ..roten Linien" abweichende Ergebnisse innenpolitisch nicht rechtfertigen. Die ..red lines" der britischen Regierung waren der Vorsatz, Mehrheitsentscheidungen in den Feldern Steuer-. Sozial- und Außenpolitik zu verhindern, vgl. etwa The International Harald Tribüne vom 13. 12.2003.

503 J.A. Emmanouilidis/T. Fischer, Die .Machtfrage europäisch beantworten. Die Ab-stimmungsregeln von Nizza und Konvent im Vergleich. 2003.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 179

ab, sondern vielmehr auf die Verhinderung eines als Bedrohung empfundenen „Übergewichts" der großen Staaten. Die deutsche und die französische Delega-tion fühlten sich zu Unrecht angegriffen. Es sei ihnen um die Einführung eines einfachen, transparenten und effizienten Abstimmungsverfahrens gegangen, das Gestaltungsmöglichkeiten eröffne und keine Blockadehaltung konserviere.504

Da sich die Diskussion zunehmend im Kreise drehte, versuchte die Ratsprä-sidentschaft im „Beichtstuhlverfahren", also bilateralen Einzelgesprächen, die Fronten aufzuweichen. In Ermangelung weiterer Verhandlungsmasse verkündete der italienische Premierminister schließlich den Abbruch der Verhandlungen.

Der gescheiterte EU-Gipfel vom Dezember 2003 ist in eine weitere Perspektive zu rücken. So bemerkenswert die konsensuale Übereinstimmung im Verfassungs-konvent gewesen war - am Ende stand keine formelle Abstimmung. Am Vorabend der größten Erweiterung in der Geschichte der Europäischen Union schien der größte mögliche Absturz der Hoffnung auf eine Verstärkung des politischen Charakters der Europäischen Union zu stehen.505 Die Gründe für das Scheitern des Gipfels vom Dezember 2003 waren - wie geschildert - mannigfach. Vor allem mangelte es an einem „esprit europeenne" bei vielen der beteiligten Ak-teure. Die Ursachen dafür ließen sich nicht auf die besonders kontroverse Frage der Abstimmungsmodalitäten im Europäischen Rat reduzieren. Machtfragen und psychologische Verstimmungen hatten sich vermischt - Folge einer Kette von Ereignissen und Tendenzen, die seit dem Gipfeltreffen des Jahres 2000 in Nizza ruchbar geworden waren und spätestens im internen kalten Krieg des Westens über die richtige Politik gegenüber der irakischen Diktatur und über die Weisheit des amerikanischen Krieges gegen das Regime von S. Hussein eskalierten. Auch in dieser Hinsicht wurde eine alte Erfahrung bestätigt: Wann immer die transat-lantischen Beziehungen in einem schlechten Zustand sind, befindet sich auch der Prozess der europäischen Einigung in einem schlechten Zustand.

Anders als im Dezember 2003 war es den Staats- und Regierungschefs jedoch bei ihrem zweitägigen EU-Gipfeltreffen am 18. Juni 2004 in Brüssel gelungen, sich auf einen Verfassungsvertrag für die Union zu einigen. Von vornherein stand dieser Erfolg nicht fest. Allerdings warder Druck für eine Verständigung außerordentlich groß. Zum einen wollten die Konferenzteilnehmer ihre Entscheidungsfähigkeit nach der niedrigen Stimmbeteiligung an den Europawahlen und dem Vormarsch der EU-kritischen Parteien in vielen Mitgliedstaaten eindrücklich unter Beweis stellen. Zum andern standen die Regierungsverantwortlichen im Wort, denn sie hatten sich im März verpflichtet, bis Ende Juni die Beratungen über die EU-

• 'u Vgl. Regierungserklärung von Bundesaußenminister J. Fischer zum Europäischen Rat vo rdem Deutschen Bundestag am 11.12 .2003, abrufbar unter www.auswaert iges-amt .de/www/de/ausgabe_archiv?archiv_id=5179.

505 Vgl. L. Kühnhardt. Auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungspatriotismus, in: NZZ. 16. Juli 2004.

180 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Vertrags-Reform abzuschließen. Noch bedeutsamer war wohl die zielstrebige und effiziente Verhandlungsführung der irischen EU-Präsidentschaft, die es in allen Phasen der Debatte verstanden hatte, scheinbar unüberbrückbare Differenzen mit kreativen Kompromissvorschlägen zu überwinden.

qq) Einige Gedanken zum Ergebnis des Verfassungskonvents

Eine umfassendere Bewertung des Verfassungsvertrages befindet sich im An-hang506, weshalb an dieser Stelle lediglich einige beifolgende (und gegebenenfalls von der „Parteilinie** abweichende) Gedanken sowie „wertende Bruchstücke" die bunte Fassade der Kommentierungen ergänzen sollen.

( I ) Systematische Ergänzungen zur Frage: Verfassung oder Verfassungsven rag?

Bei der Verwendung des Begriffs „Verfassung" waren im Debattenverlauf um die Jahrhundertwende auch unter den politischen Akteuren einige zurückhaltender als andere. Während J. Fischer in seiner Humboldt-Rede ganze zehn mal auf eine „Verfassung**- bzw. einen „Verfassungsvertrag" Bezug nimmt, taucht der Aus-druck in J. Chiracs Rede vor dem Deutschen Bundestag (2000) nur einmal auf, und dann auch sehr vage: „Nach diesen Arbeiten, die sicherlich einige Jahre in Anspruch nehmen werden, hätten zunächst die Regierungen und dann die Völker über einen Text zu befinden, den wir dann als erste .Europäische Verfassung' proklamieren könnten"507. Auch Bundeskanzler G. Schröder sprach zunächst von einer „verfassungsmäßigen Grundlage" oder „Verfasstheit" und erst später von „Verfassung".508 Nahezu alle politischen Protagonisten betonten unterdessen den Verlaufcharaktereines „Konstitutionalisierungsprozesses". Zudem war auffallend, dass manche Akteure, so die Kommission und die CDU/CSU, fast ausschließ-lich von einem „Verfassungsvertrag" bzw. „Grundvertrag" sprachen, während

"" Bewertungen (unter Mitarbeit des Verf.) der CSU-Landesgruppe sowie der C D U / CSU Fraktion im Deutschen Bundestag. Eine tiefergehender Bericht sowie eine entspre-chende Bewertung (die unter dem Namen des damaligen Staatsministers R. Bockler der bayerischen Staatsregierung vorgelegt wurde) des ersten Entwurfes vom Juli 2003. fin-det sich unter www.bayern.de/ . . . /content /s tk/al lgemein/ergebnisse_eu_konvent_030911 .pdf?PHPSESSlD=eb()6875d90a340f2d38d4976" Vgl. zudem zu den Inhalten des Verfas-sungsvertrages die Bibliographie des Verf. (2006): dazu die bei P. Hiiberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 661 f.. 666 ff. angegebene Lit. Vgl. zur Genesis auch die Aufsätze in H.-J. Blanke/S. Mangianieli (Hrsg.), Governing Europe under a Consitution. The Hard Road from the European Treaties to a European Constitutional Treaty, 2006.

507 J. Chirac. Rede vor dem Deutschen Bundestag am 27. Juni 2000. in: FAZ vom 2 8 . 6 . 2 0 0 0 . S. 10 f.

5 0 8 So im Redemanuskript beim Internationalen Ber te lsmann-Forum 2001: „Das ent-grenzte Europa**. 19. Januar. 2001, mit G. Amato in der FAZ. 21 .9 .2000 : „Weil es uns ernst ist mit der Zukunft Europas", sowie in der Regierungserklärung zu Nizza, 19. Januar 2001 (vgl. das entsprechende Sitzungsprotokoll des Deutschen Bundestages).

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 181

etwa Fischer beide Begriffe benutzte. Dem Europäischen Parlament dagegen er-schien „die Wahl des Ausdruckes ( . . . ] von zweitrangiger Bedeutung. Der Begriff ,Verfassung' bringt unser europäisches Engagement stärker zum Ausdruck"509 .

Die Debatte um die (Richtigkeit der) Bezeichnung des Ergebnisses des Ver-fassungskonvents51" ist auf den ersten Blick ein Scheingefecht. Wenn von einem idealen und metahistorischen Begriff der Verfassung sowie von der traditionellen Verbindung zwischen Staat und Verfassung - wie unten dargelegt5" - abgerückt werden muss, wenn also die Entwicklung der Europäischen Union auf ihrem „Sonderweg" zur Konstitutionalisierung ohne die gängigen Vorurteile, die der Begriff „Verfassung" mit sich bringt, bewertet werden soll, dann ist immerhin auch zu fragen, welche qualitative Änderung der ,.Verfassungs"-text für die Eu-ropäische Union induzieren würde. Erst dann würde die Einführung des Wortes „Verfassung" eine eigentliche Bedeutungskraft entwickeln und eine zielführende Betrachtung, nämlich in welcher Beziehung die künftige Verfassung Europas zur historischen Typologie der Verfassung steht, Sinn machen. Andernfalls könn-te die Begrifflichkeit über einen verordneten Symbolcharakter nur schwerlich hinausreichen.

Ein „Verfassungsvertrag" hat aus theoretischer Perspektive grundsätzlich eine schwächere Bedeutung als eine Verfassung. Er leitet sich nicht allein von der Volkssouveränität ab, sondern stellt in der Regel eine Vereinbarung zwischen selb-ständigen Staaten zur Begründung und Ausgestaltung einer bundesstaatlichen oder bundesstaatsähnlichen Einheit dar. Wird innerhalb eines Staates ein Verfassungs-vertrag abgeschlossen, ist meist von einer Abmachung zwischen der Exekutive und Volk auszugehen. Im 19. Jahrhundert sollte dieser konstitutionelle Kompromiss die Souveränitätsfrage überflüssig machen, da keine von beiden konstituierenden Gewalten im Konfliktfall das letzte Wort hatte.5 '2 Der Terminus „Grundvertrag" ist im Übrigen noch enger gefasst und bezieht sich nur auf die Bündelung der Artikel der Verträge, die bereits Verfassungscharakter tragen.

Gleichwohl soll als unverzichtbare interpretatorische Grundlage im Rahmen einer „Textstufenanalyse"513 zunächst der eigentliche, vorliegende Text selbst einer Prüfung unterzogen werden. Das Wort „Verfassung" findet sich bereits in der

509 Europäisches Parlament. Ausschuss für konstitutionelle Fragen: ..Bericht über die Konstitutionalisierung der Verträge", 12. Oktober 20(X).

510 Dieser Frage widmet sich auch P. Hüberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Auflage 2006. S. 647 f.

511 Vgl. unter B . I I .2 . f )nn) (2) (d ) . 512 So E.-W. Böckenförde, Staat. Verfassung. Demokratie. Studien zur Verfassungstheo-

rie und zum Verfassungsrecht. 1991. S. 36. 5 1 ' Begriff und Methodik der ..Textstufenanalyse" beruhen auf P. Hüberle. Verfassungs-

lehre als Kulturwissenschaft , 2. Aufl. 1998. S. 342 ff. m.w. N.; zum „Textstufenparadigma" im europäischen Kontext ders., Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S . 4 f f .

182 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Präambel, wonach den „Hohen Vertragsparteien" eine „dankende Anerkennung der Leistung der Mitglieder des Europäischen Konvents" dafür zugeschrieben wird, dass diese Mitglieder „diese Verfassung im Namen der Bürgerinnen und Bürger und der Staaten Europas ausgearbeitet haben".514 In den drei ersten Teilen bezeichnet sich der Text ausnahmslos mit dem Wort „Verfassung". Dagegen ist im 4. Teil (Schlussbestimmungen) nur noch die Rede von einem „Vertrag" („le traite instituant la Constitution" in der französischen Fassung), dem „Vertrag über die Verfassung". Dies mag sich unter anderem daraus erklären, dass die Schlussbestimmungen formelle Fragen behandeln. Eine gewisse vertragsrechtliche Form des Textes zeigt sich auch dadurch, dass er mit mehreren Protokollen versehen ist.515

Nun könnte man dazu neigen, dass es sich vorliegend materiell um eine Verfas-sung handelt, formell aber um einen Vertrag. Zumindest im Falle des Entwurfs wird die Form des Vertrags gebraucht, um über die Verfassung zu entscheiden (in der deutschen Sprachfassung heißt es „Vertrag über die Verfassung"). Durch die Vertragsform wird die Verfassung letztlich gegründet (worauf die französischen Fassung hin deutet: „Traite instituant la Constitution").

Offensichtlich wird aber auch ein „Vertragsmoment" in diesem Sinne fort-dauern. was sich mit Art. IV-6 des Textes bestätigen lässt. In der Bestimmung wird das im Art. 48 EUV vorgeschriebene und vereinheitlichte Verfahren der Ver-tragsänderung modifiziert. An dieser Stelle516 sei lediglich die Notwendigkeit der Ratifizierung jeder Änderung durch alle Staaten nach ihren eigenen nationalen Verfassungsbestimmungen benannt, was zur Folge hat. dass der die Verfassung gründende Vertrag also auch formell ein Vertrag bleibt. Der IV. Teil des Textes untermauert schließlich diese These.

Im Ergebnis erweist sich die europäische Integration als weiterhin zwischen-staatlich gegründet. Diese in der „Verfassung" zu lesende Zwischenstaatlichkeit der Europäischen Union wird durch das in Art. 1-59 niedergelegte Recht auf „frei-willigen Austritt aus der Union" noch verstärkt. Sezessionsrecht war stets der neuralgische Punkt, an den die Interpretation föderaler Verfassungsordnungen angestoßen ist. Mit Blick auf die amerikanische Verfassungsgeschichte sei nur an Calhorni und seine „States Rights"-Doktrin erinnert, womit er die Stellung der Südstaaten vor dem Sezessionskrieg begründete.517

514 Bemerkenswert an diesem Satz ist zudem das seitens des Konvents formulierte ..Selbstlob durch Dritte".

515 Ein Umstand, der die „Lesbarkeit" des Gesamtwerkes - einer der wichtigen Aufträge des Konvents nach der Erklärung von Laeken - nicht unbedingt fördert.

516 Ausführlich zum Änderungsverfahren unten B.IV.2.b) . 517 Vgl. dazu C. Schmitt. Verfassungslehre. 7. Aufl., 1989. S. 374 f. Die vertragsmäßige

Gründung des Deutschen Reichs 1 8 6 6 - 1 8 7 1 sollte auch bei d e m bayerischen Staats-

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 183

I n s g e s a m t ist m i t d e r A n e r k e n n u n g e i n e s A u s t r i t t s r e c h t s e i n e g e w i s s e S c h w ä -

c h u n g d e r i n t eg ra t i ven S y m b o l i k v e r b u n d e n , d i e m a n d e m T e r m i n u s „ V e r f a s s u n g "

b e i m i s s t .

E i n e w e i t e r e A k z e n t u i e r u n g e r f ä h r t d e r d e r i v a t i v e C h a r a k t e r de r E U - Z u s t ä n d i g -ke i t en in d e r F o r m u l i e r u n g v o n A r t . 1-9, a u c h im L i c h t e v o n A r t . 5 E G V . In L e t z -t e r e m ist d a s s o g e n a n n t e P r i n z i p d e r E i n z e l e r m ä c h t i g u n g w i e fo lg t a u s f o r m u l i e r t : „ D i e G e m e i n s c h a f t wi rd i n n e r h a l b d e r G r e n z e n d e r ihr i n d i e s e m V e r t r a g z u g e w i e -s e n e n B e f u g n i s s e und g e s e t z t e n Z i e l e t ä t ig . " A r t . 1-9 A b s . 2 laute t (mi t t l e rwe i l e 5 1 8 ) : „ N a c h d e m G r u n d s a t z d e r b e g r e n z t e n E i n z e l e r m ä c h t i g u n g w i r d d i e U n i o n inne r -h a l b d e r G r e n z e n d e r Z u s t ä n d i g k e i t e n tä t ig , d i e ih r die Mitgliedstaaten519 in d e r V e r f a s s u n g zu r V e r w i r k l i c h u n g d e r i n ihr n i e d e r g e l e g t e n Z i e l e z u g e w i e s e n h a b e n . A l l e d e r U n i o n n i ch t i n d e r V e r f a s s u n g z u g e w i e s e n e n Z u s t ä n d i g k e i t e n v e r b l e i b e n be i d e n M i t g l i e d s t a a t e n . " H i e r m i t w i rd o f f e n k u n d i g , d a s s d i e V e r f a s s u n g k e i n e o r i g i n ä r e M a c h t , s o n d e r n e i n e b e g r e n z t e Z a h l a n Z u s t ä n d i g k e i t e n ges ta l t e t , d i e v o n d e n S t a a t e n z u g e w i e s e n s i n d / 1 1

rechtler M. von Seydel das Sezessionsrecht der Länder gewähren. Umgekehrt wurde das vom sowjetischen Föderal ismus immer formell anerkannte Austrittsrecht der autonomen Republiken schon von Lenin so interpretiert, dass seine Ausübung auf jeden Fall durch die unwahrscheinliche Bewill igung der Union bedingt und folglich faktisch unmöglich war (vgl. S.M. Mouskhely, Les contradictions du federalisme sovietique. in : Centre de recherches sur l'URSS et les Pays de l'Est (Hrsg.), L 'URSS: Droit, economie, sociologie, politique, culture. t. 1. Paris 1962, S. 25.). Für eine Auslegung der Sowjetverfassung als zwischenstaatlich abgeschlossenen Vertrag war schließlich kein Raum.

5 , 8 Im Konventsentwurf lautete Art. 1-9 Abs. II S. 1 noch: „Nach dem Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung wird die Union innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig, die ihr von den Mitgliedstaaten in der Verfassung zur Verwirklichung der in ihr niedergelegten Ziele zugewiesen werden." Die zukunftsoffene Formulierung bezüglich der Zuständigkeiten, die der Union „zugewiesen werden", änderte sich bemerkenswerterweise in eine engere Fassung (nunmehr: „zugewiesen haben").

519 Kursivsetzung erfolgte durch den Verf. Dieses Prinzip wird in Art. l-5a im Kontext des Grundsatzes vom Vorrang des EU-

Rechts wiederholt: „Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der ihnen zugewiesenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten". Eine solche klare Begrenzung des dem EU-Recht zukommenden Vorrangs steht im Übrigen der vom deutschen Bundesverfassungsgericht in seiner Maas-tricht-Entscheidung behaupteten Prüfungskompetenz nicht entgegen, vgl. BVerfGE 89. 155: „Würden etwa europäische Einrichtungen oder Organe den Unions-Vertrag in einer Weise handhaben oder fortbilden, die von dem Vertrag, wie er dem deutschen Zustimmungsgesetz zugrundeliegt . nicht mehr gedeckt wäre, so wären die daraus hervorgehenden Rechtsakte im deutschen Hoheitsbereich nicht verbindlich. Die deutschen Staatsorgane wären aus verfassungsrechtlichen Gründen gehindert, diese Rechtsakte in Deutschland anzuwenden. Dementsprechend prüft das Bundesverfassungsgericht , ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen." Man kann auch eine gewisse Zurückhal tung in den vorgesehenen Garantien erkennen, die den Rückgriff auf die neu gestaltete Flexibilitäts-klausel einrahmen (Art. 1-17). Damit soll die viel diskutierte Gefahr einer durch diese

184 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Auch im Hinblick auf die Ausgangslage des Konvents ist einer unreflektierten Bezeichnung des Textes als „Verfassung" mit Skepsis zu begegnen. Der Konvent tagte, wie bereits angedeutet, nicht in einer „revolutionären" Situation, die einen Bruch mit dem bestehenden Recht oder eine Staatsgründung gestattet hätte. Er sollte auf der Basis eines Mandats der Mitgliedstaaten der Europäischen Union sowie geltender internationaler Verträge arbeiten, die es zu ersetzen gilt, was wiederum die Zustimmung aller Mitgliedstaaten erfordert. Mehr als ein „Vertrag über eine Verfassung für Europa" konnte daraus als Gesamtwerk nicht erwachsen. Auch war es dem Konventspräsidium laut K. Hänsch durchaus bewusst, dass der Begriff „Verfassungsvertrag" in der öffentlichen Diskussion zur „Verfassung" verkürzt werden würde.521

Ein Text mit lediglich (wenngleich zahlreichen) verfassungscharakteristischen Bestandteilen ist ebenso nur partiell „Verfassung", wie die bisherigen „Verträge" entgegen ihrer Benennung und angesichts unbestreitbarer Verfassungselemente nur zu einem (wenngleich großen) Teil „Verträge" im engeren Sinne sind.

Die Diskussion um die Bezeichnung des Konventstextes spiegelt im Ergebnis eine mittlerweile „typisch" zu nennende, europäische Debatte wider. Auch hier mit unterschiedlichen Traditionshintergründen, unterschiedlichen Verfassungsver-ständnissen und unterschiedlichen Wahrnehmungen. Ist das Verfassungsprojekt ein Turm zu Babel, der wegen seiner überrissenen Dimension und der Sprach-

Flexibilität ins System möglicherweise einfliessenden Kompetenz-Kompetenz der Euro-päischen Union abgewandt werden. Nach wie vor wird die Geltung und die Anwendung von Europarecht in Deutschland „von dem Rechtsanwendungsbefehl des (zur Ratifizierung der .Verfassung* verabschiedeten) Zust immungsgesetzes" abhängen. Die Bezeichnung des Vertrags als „Verfassung" kann an dieser vom Bundesverfassungsgericht in seiner Maas-tricht-Entscheidung ausgesprochenen Behauptung nichts ändern. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Blick nach Frankreich. In Art. 55 der nationalen Verfassung heißt es: „Die ordnungsgemäß ratifizierten oder genehmigten Verträge oder Abkommen erlangen mit ihrer Veröffentlichung höhere Rechtskraft als die Gesetze, vorausgesetzt, dass die Abkommen oder Verträge von den Vertragspartnern angewandt werden" (Übersetzung des Verf.). Nach der französischen Rechtsprechung ist diese Best immung der Gel tungs-grund des primären sowie des sekundären EG Rechts in der nationalen Rechtsordnung. Die ratifizierte EU-Verfassung könnte auch diesen Weg zur nationalen Rechtsordnung über den Art. 55 der französischen Verfassung nehmen. Damit ist aber auch ein Vorbehalt zum Vorrangsanspruch des EU-Rechts verbunden: nach der höchstrichterlichcn Rechtsprechung in Frankreich gilt diese „höhere Rechtskraf t" der internationalen Verträge den Verfas-sungsbest immungen gegenüber nicht (vgl. Conseil d 'E ta t , 30. Oktober 1998. M Sarron, iVf. Levacher et autres, Les Grands Arrets de la Jur isprudcnce Administrative, 13. Aufl.. 2001, Nr. 113 ; Cour de Cassation. 2. Juni 2000. Mademoiselle Fraisse, 2000. S. 865. Anm. Mathieu et Verpeaux). Anders gesagt: über den Weg des Art. 55 der französischen Verfas-sung wird eine Unions-Verfassung aus der französischen nationalen Perspektive nie vor der nationalen Verfassung Vorrang haben, sondern umgekehrt . Diese Tatsache ließe sich auch durch das Wort „Verfassung" nicht korrigieren.

521 Vgl. K. Hänsch, Der Konvent - unkonventionell, in: Integration 4 /2003 , S. 331 ff., 334.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 185

Verwirrung zwar formell fertig gestellt erscheint, aber faktisch nie diesen Status erreichen wird? Redeten letztlich alle vom Gleichen, meinten jedoch Grundver-schiedenes? Es wird stets Stimmen geben, denen das Verabschiedete entweder des Guten zuviel oder zu wenig ist. Unausgesprochen oder lediglich schüchtern erwähnt blieb bislang der Umstand, dass das Produkt gerade nicht für die Ewigkeit gemacht und revidierbar ist, sondern prinzipiell gegen, vielleicht für die Zukunft offensteht.

Die unterschiedlichen Vorstellungen können, vereinfachend und zusammenfas-send. drei Ausgangsverständnissen5" zugeordnet werden. Zum einen das (natio-nal) staatszentrierte Verfassungsverständnis, das der Europäischen Gemeinschaft grundsätzlich die Verfassungsfähigkeit abspricht. Daneben ein lediglich formales Verfassungsverständnis, das mit einem einheitlichen, kohärenten und einprägsa-men Dokument zufrieden ist. Zum dritten ein funktionelles Verfassungsverständnis (als insgesamt problemadäquatestes), das sich nicht in der Frage verliert, ob mit der Organisation der Dinge zugleich eine wie immer geartete Staatlichkeit entstehe oder diese voraussetze. Es ergänzt vielmehr in einem Mehrebenen-Modell die nationalen Verfassungen um eine supranationale ..Hausordnung" - unabhängig von den Ansichten um die Beschaffenheit des „Hauses Europa". Welche Be-zeichnung man dem Papier schließlich gibt, ist dann von sekundärer Bedeutung. Das Mischwort „Verfassungsvertrag" dürfte auch unter diesem Blickwinkel die angemessene Konsenslösung sein.

(2) Inhaltliche Anmerkungen. Präambel und Leitmotto", Plädoyer für eine ,.Europäische Gesprächskultur"

Obgleich Beethoven mit - von vielen als „Europa-Hymne" apostrophierter -„Freude schöner Götterfunken" bemüht wurde, zur Entflammung europäischer Herzen genügt das Dokument nicht. Die „Finalität" der Union - ob Vereinigte Staaten von Europa523 oder etwas anderes „sui generis" - bleibt auf der Grundlage des Textes unbeantwortet. Immerhin sind Fortschritte gemacht worden, solche, die das eher lamentable Ergebnis des Gipfeltreffens von Nizza hinter sich lassen. Mehr war realistischerweise nicht zu erwarten. Die „Vertiefung" der Europäischen Union entwickelt sich weiter auf ihre traditionelle Weise, langsam, mühsam, Schritt für Schritt, unsicher über das Ziel, während die „Erweiterung" weiterhin (und bei aller politischen Ermüdung etwa angesichts des in mancherlei Hinsicht ernüchternden Beitritts Rumäniens und Bulgariens) große Sprünge macht.

Die Verfassung(svertrag)surkunde524 unterscheidet sich freilich erheblich von früheren Verträgen der Europäischen Union und in vielerlei Hinsicht auch von

5 : 2 Zum Verfassungsbegriff und Verfassungsverständnis ausführlich unter B . I I .2 . f )nn) . 523 Vgl. T. R. Reid. The United States Of Europe: The New Superpower and the End of

American Supremacy. 2005.

186 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

nahezu allen Verfassungen, die man landläufig als historische Vorbilder heranzie-hen könnte. Sie entsteht nicht nach einer historischen Katastrophe525, nach einem verheerenden Krieg oder nach einer Revolution, sondern sie rekurriert auf das, was ist und was die Nationen, die Regionen, die Kulturen und die Religionen bewahren und zukünftig leisten wollen. Die Aufgabe der eigenen Staatlichkeit der Mitgliedsländer ist keine Bedingung zur Erreichung dieser Ziele (und kann deshalb auch kein - und schon gar nicht das einzige - Kriterium für die Durch-führung einer Volksabstimmung sein). Darüber hinaus: in seinem evolutionären Charakter ist der Prozess der europäischen Integration einzigartig. Der nunmehr vorliegende Entwurf einer europäischen Verfassung setzt hier keinesfalls einen Endpunkt. Im Gegenteil: es ist abzusehen, dass sich die europäische Verfassung in den kommenden Jahren und Jahrzehnten mit viel höherer Frequenz verändern wird526 als wir dies von anderen Verfassungen gewohnt sind.

Ein weiterer Punkt: auf den ersten Blick ist das Argument einleuchtend, dass die politische Bereitschaft, sich auf eine Europäische Verfassung einzulassen, um so größer wäre, je klarer und unzweifelhafter durch einen eindeutigen Kompetenzka-talog festgelegt wäre, welche Kompetenzen die Europäische Union ausschließlich, und welche sie in Form einer mit den Mitgliedstaaten geteilten (oder konkurrieren-den) Kompetenz wahrnehmen soll.527 Damit sollte einer bisher „schleichenden"" Kompetenzaushöhlung regionaler und nationaler Kompetenzen durch die Europäi-sche Union vorgebeugt werden. Im deutsch-französischen Dialog über diese Frage wurden zwischenzeitlich auch Teile des politischen Spektrums in Frankreich von der Notwendigkeit eines Kompetenzkatalogs überzeugt.528

Doch Überzeugung allein führt in dieser Frage bis heute nicht weiter. Ver-schiedene Versuche, beispielsweise von deutschen Landesregierungen, eindeutige Kompetenzabgrenzungskataloge zu entwickeln, sind bisher angesichts der imma-nenten Komplexität wenig fruchtbar gewesen.

Eine optimierte Organisation der „geteilten" Kompetenzen zwischen europäi-schen und nationalen Behörden bleibt unabhängig von den Regelungen, die im

524 Zum Verfassungsvertrag ist ein vollständiger Kommentar erschienen, nämlich C. Vedder/W. Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag. Hand-kommentar, 2007.

5 : 5 Sofern man den Beginn des Verfassungsschöpfungsprozesses nicht bereits in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sehen will. Ein insgesamt abwegiger Gedanke, nachdem der aktuelle Konvent ein originärer Vorgang ist. der zwar auf den Gedanken sowie einem Ensemble von Teilverfassungen (P. Hiiberle) und Errungenschaften des vergangenen halben Jahrhunderts aufzubauen weiß, jedoch letztlich die gesamte Verfassungsgeschichte zur Grundlage nehmen müsste.

526 Möglichkeiten und Wege der Verfassungsänderung werden unter B.IV.2 .b) aufge-zeigt.

527 Siehe bereits W. Schäuble. Europa vor der Krise?, in: FAZ vom 8 .6 . 2000. 5 2 8 Vgl. J.-P. Picaper. Le RPR et l ' U D F se rapprochent sur l 'Europe. in: Le Figaro vom

15. 12.2000.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 187

Verfassungsvertrag gefunden wurden ein wichtiges Thema. Erforderlich ist im Wesentlichen eine klare Vereinbarung von Grundsätzen und Instrumenten für die Wahrnehmung politischer Verantwortung und für die Mitgestaltungsmöglich-keiten von nationalen (und subnationalen) Einheiten in der Europa-Politik. Die Gefahr aber lag und liegt stets darin, den Kompetenzkatalog dazu zu nutzen, ver-loren geglaubte Kompetenzen zurück zu gewinnen bzw. noch vorhandene „gegen Europa"' zu verteidigen, und dies relativ unabhängig von der eigentlich wichtigen Frage, wo die politische Verantwortung themenbezogen am geeignetsten ausgeübt würde.529

Einige Worte zur Präambel des Verfassungsvertrages: Ist die fehlende Nen-nung der Bürger in der Präambel nun ein rückschrittliches Element, die Abkehr von mittlerweile gewohnten Verfassungselementen? Wohl nicht. Eher ist hierin eine Aufforderung zur konkreten Ausgestaltung und Neubestimmung durch die europäische Bevölkerung zu sehen. Die Akzentuierung der Repräsentativorgane (Könige?) ist weniger Endstadium als Einleitung eines erwünschten Devolutiv-effekts. Ein europäisches „We the People . . . " wird auf absehbare Zeit kaum am Schluss einer evolutiven Stufenleiter stehen.

Die Präambel ist im Vergleich zu manch anderen Verfassungstexten wenig ein-drucksvoll ausgefallen. Nicht nur erscheint der Bezug zum religiösen und geistigen Erbe Europas dürr530, wenngleich die Diskussion über die fortwirkende Bedeutung des religiösen Erbes für die europäische Identität bemerkenswert lebendig und substantiell gewesen ist. Auch die formulierten „Ziele der europäischen Einigung" werden eher in trockener Sprache, entsprechend dem Kommunique-Stil von EU-Gipfeltreffen abgehandelt.

Was der Dank an die „Verfassungsschöpfer" in einer Präambel zu suchen meint, bleibt das - uneitlen Erwägungen wohl nicht gänzlich ferne - (Er-)Schöpfungsrät-sel der Konventsmitglieder.531 Der Präambeltext bewegt sich auffällig fern allen (auch literarischen) Schwunges sowie des gerne belächelten Pathos und Zielori-entierung der amerikanischen Verfassung. In der Konsequenz einen Verzicht auf die Präambel zu erwägen und den Verfassungstext stattdessen unmittelbar mit der Evokation der Grundrechte in der Europäischen Union beginnen zu lassen, würde freilich zu weit führen.532

529 Vgl. auch U. Guerot. Eine Verfassung für Europa - Neue Regeln für den alten Kontinent?, in: IP 2 /2001. S. 28 ff.

530 Vgl. hierzu unter C.II. 531 Vgl. auch L Kühnhardt. Der Verfassungsentwurf des EU-Konvents. Bewertung

der Strukturentscheidungen. ZEI Discussion-Paper. 2003. S . 6 f . : ..Dass den Verfassungs-schöpfern Dank gebührt , ist wohl wahr. Aber was hat dieser Dank in der Präambel einer Verfassung zu suchen, die nicht nur politischen Akteuren als Referenzpunkt dienen soll, sondern die von Schülern und Studenten in ganz Europa studiert wird, um Auskunf t über die Frage zu bekommen, was die politische Identität Europas bedeutet?"

532 Siehe aber L. Künhardt, ebenda.

188 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Gelungen ist allerdings das Motto, das Konventspräsident Giscard d'Estaing in letzter Minute für den Text der Präambel einbrachte: „In Vielfalt geeint" (es wird in Artikel IV-1 VerfV: ..Die Symbole der Union" wiederholt). Diese Floskel besitzt durchaus Chancen, zum (wenngleich stets zu überprüfenden und höchstens im Hin-blick auf eine erfolgreiche Implementierung des Verfassungsvertrages geltenden) Leitmotto der Europäischen Union auf Jahre und Jahrzehnte hinweg zu werden. Der Verfasser dieser Zeilen erhebt den bislang vereinzelten und schüchternen Ruf, die Devise „In Vielfalt geeint" eines Tages - in lateinischer Fassung - auch auf den EURO-Geldscheinen lesen können, zur Forderung. Als das neue Deutsche Reich am 9.7. 1873 ein Münzgesetz erließ und dort erklärte „An die Stelle der in Deutschland geltenden Landeswährungen tritt die Reichsgoldwährung . . . " war einer der wichtigsten Punkte der „inneren Reichsgründung" erreicht. Zumindes-tens in der Perzeption der Bevölkerung kann die Etablierung einer Währung - wie auch der Verzicht - den „Verfassungsbestätigungsprozess" begleiten. Allein das „Dogma" der Integration, deren zentrale Stellung innerhalb der Verfassungsde-batte lassen angesichts der integritätsstiftenden Wirkung einer Währung diese Beobachtung umso evidenter erscheinen. Weshalb sollte man also nicht auch die Währung als „Transporteur" von Kernbotschaften nutzen? Das Beispiel der USA („In God We Trust" - auf allen Geldscheinen) ist diesbezüglich wegweisend.

Es stellt sich freilich die Frage, ob Europa bereits reif ist, sich eine Verfassung zu geben. In den einzelnen Staaten sind noch durchaus Mangelerscheinungen an der erforderlichen politischen Substruktur, insbesondere an den Voraussetzungen für eine echte politische Kommunikation auf europäischer Ebene zu beobachten. 5"

Um die Kommunikationshemmnisse zu überwinden, gilt es im besonderen Maße, die „Europäische Gesprächskultur" nachhaltig zu fördern. Die vordergrün-digen Barrieren der Vielsprachigkeit und gelegentlich diametraler Interessen in nahezu allen Politikbereichen müssen dabei weniger als unüberwindbare Begren-zung denn vielmehr als Sprungbrett zu einem ehrlichen interkulturellen Dialog mit dem Ziel einer auf gemeinsamen Werten basierenden Verfassungsgemeinschaft empfunden werden.

rr) Elemente einer Ratifikationskrise

Ein vordergründig trivialer Vorgang entwickelte sich nunmehr zur nahezu un-überwindbar erscheinenden Hürde: der Verfassungsvertrag, der alle derzeitigen europäischen Verträge durch einen einzigen Rechtsakt ersetzen sollte, konnte erst in Kraft treten, wenn er von den Unterzeichnerstaaten angenommen beziehungs-weise ratifiziert wurde. Der Ratifizierungsprozess sollte ursprünglich in allen Mitgliedsstaaten bis November 2006 abgeschlossen sein.

533 Siehe zu dieser Argumentat ion auch D. Grimm. Die Verfassung und die Politik. 2001.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 189

Zunächst gab es lediglich differierende Annahmeverfahren und einige Unklar-heiten zu konstatieren: während in zehn Mitgliedsstaaten die Ratifizierung per Referendum stattfinden sollte, konnten in weiteren zwölf Ländern grundsätzlich die nationalen Parlamente die Verfassung ratifizieren. Iii drei Mitgliedsstaaten stand die Methode der Annahme noch nicht fest. Darüber hinaus traf der Verfas-sungsvertrag in zahlreichen Ländern weiterhin auf Widerstand und Ablehnung in Gesellschaft und Politik. Dies kulminierte schließlich in den ablehnenden Referenda in Frankreich und den Niederlande.534

Referenda zu Fragen der europäischen Integration sind freilich kein Novum.535

Unterschieden werden muss dabei zwischen verschiedenen Typen: bindende und nichtbindende Referenda; Referenda, die von Regierungen, und solche, die von der jeweiligen Opposition eingebracht worden sind; Referenda mit Wirkung auf das Land, das das Referendum durchführt, und Referenda mit Wirkung auf den EU-Prozess insgesamt.536 Bisher haben über 40 Referenda über Aspekte der Weiterentwicklung der europäischen Integration stattgefunden. Einige betrafen die Frage des Beitritts - oder der Fortsetzung der Mitgliedschaft - eines Landes zum europäischen Einigungsprozess in seiner jeweiligen Form oder zur verstärkten bilateralen Kooperation mit der Europäischen Union. Ein Referendum entschied über den Beitritt anderer Länder. Eine Reihe von Referenda wurde über Aspekte der konstitutionellen Vertiefung der europäischen Integration abgehalten.

Seit dem Abschluss der Einheitlichen Europäischen Akte 1986 ist dies ein Indikator dafür geworden, dass die europäische Integration auf die Identität ihrer Mitgliedsstaaten zurückwirkt. Die Frage nach der konstitutionellen Legitimität einer vertieften Integration stellt sich überhaupt nur dort, wo der nächste politische Schritt tatsächlich eine Vertiefung des Integrationsprozesses bedeutet.537

534 Vgl. Zu der Diskussion in den Niederlande A. Pijpers, Neue Nüchternheit und kritische Öffentlichkeit - die Niederlande und die europäische Integration, in: integration 30/2(X)7. S. 449 ff. Vgl. auch S. Goulard. Europäische Paradoxien - ein Kommentar zur Lage der EU. in: integration 30/2007. S. 503 ff.

535 Vgl. hierzu IKI Europa (Hrsg.), IRI Europe Country Index on Cit izenlawmaking. A Report on Design and Rating of the I&R Requirements and Practices of 32 Euro-pean States. 2003 sowie 2004: S. Höl Scheidt 11. Putz, Referenden in Europa, in: DÖV 18 (2003), S. 737 ff. sowie L LeDuc, The Politics of Direct Democracy. Referendums in Global Perspective. 2003, S. 20 f . ; A. MaurerlS. Schunz, Ratifikation durch Referendum. Europas Verfassung nach der Regierungskonferenz. SWP-Papier. 2003: K. Schmitt (Hrsg.), Herausforderungen der repräsentativen Demokratie, 2003.

536 In einem ..europäischen Verfassungsreferendum" müsste verfahrensmäßig der föde-rale Aspekt zum Tragen kommen. Es dürf te nicht nur auf die Zus t immung der gesamten europäischen Bürgerschaft ankommen, sondern es wäre auch die regionale Verteilung der Zust immung zu berücksichtigen, um die Majoris ierung von Bürgern kleiner .Mitgliedstaa-ten (deren auch-nationale Identität zu respektieren ist) zu verhindern. Die bloß parallelen nationalen, auf Europa bezogenen Referenden können diesen Minderheitenschutz nicht leis-ten. Allerdings: ein gesamteuropäisches Referendum (gar mit dem geschilderten föderalen Mechanismus) bleibt utopisch.

190 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Über den Ausgang der Referenda über den Verfassungsvertrag ließen sich anfangs nur schwerlich klare Prognosen anstellen (was für das „französische Re-ferendum" 2005 nur beschränkt galt), vor allem nicht mit Blick auf Länder mit einer europaskeptischcn Grundströmung wie Großbritannien oder Dänemark, das in den frühen neunziger Jahren schon einmal den Aufstand geprobt und zunächst den Vertrag von Maastricht abgelehnt hatte. In den als integrationsfreundlich geltenden Ländern wiederum bestand die berechtigte Gefahr, dass der Urnengang für innenpolitische Zwecke instrumentalisiert würde (Frankreich. Niederlande!). Dies geschah bereits in Irland, wo im ersten Anlauf der Vertrag von Nizza ver-worfen wurde.5 '8 Schließlich sollte der weitere ..Abstimmungskampf"4 um die EU-Verfassung weiterhin maßgeblich von der „Türkei-Frage" beeinfiusst werden.

Die Debatte über die Ratifikationsprozedur war und ist in sich selbst ein Teil des Diskurses zur europäischen Verfassung. Sie rückt Prognosen in das Licht der Öffentlichkeit, die mit gewisser stereotypischer Kontinuität über die Haltung einzelner Völker zum europäischen Einigungswerk gemacht werden. Der Prozess der Ratifizierung einer europäischen Verfassung ist ebenso Teil der Formierung einer europäischen Öffentlichkeit, wie die Erarbeitung des nun zur Abstimmung stehenden Textes selbst es gewesen ist.539

Die Architekten des EU-Verfassungsvertrags haben mögliche Pannen beim Ratifizierungsprozess nicht wirklich bedacht. Was in einem solchen Fall konkret

537 Vgl. L. Kühnhardt, Auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungspatriotismus, in: NZZ, 16. Juli 2004: ..Wo dies der Fall ist, geht es um die Übertragung nationalstaatlicher Souveränität auf die EU. Es ist nicht verwunderlich, dass in einer solchen Situation in einigen Ländern der EU die Referendumsfrage virulent wurde - und bei der europäischen Verfassung wieder virulent geworden ist. Andere Staaten votierten schon in früheren Fällen - und auch jetzt w ieder - für die primäre Verantwortung ihrer frei gewählten und dadurch entsprechend zur Abst immung mandatierten Parlamente."

538 Die zweifachen Abst immungen in Dänemark (1992 und 1993) und Irland (2001 und 2003) über den konstitutionellen Fortgang des Integrationsprozesses ragten bis zu den „schwarzen Tagen" in Frankreich und den Niederlande tatsächlich aus dem Kontext der Erfahrungen mit Referenden zu Fragen der europäischen Integration heraus: In beiden Fäl-len hatte das Votum eines Mitgliedslandes Auswirkungen für alle anderen Mitgliedsländer und ihren Integrationswillen. Dies war letztlich der - sowohl integrationstheoretisch wie auch demokratietheoretisch nachvollziehbare - Grund, warum in beiden Fällen ein zweites Referendum angesetzt wurde. Im Falle Dänemark geschah dies nach Konzessionen an die dänischen Kritiker des Maastricht-Vertrages („opting out"-Klauseln). Im irischen Fall - bei dem doppelten Votum der Iren zum Vertrag von Nizza - wurde das zweite Votum nach einer Periode des Wartens angesetzt, verbunden mit deutlichen Worten von außen, dass ein Land nicht die ganze Europäische Union zur Geisel nehmen dürfe. Im dänischen Fall wurde die integrationspolitische Logik des erzielten Kompromisses kritisiert, im irischen Fall die demokratietheoretische Logik des zweiten Referendums. In beiden Fällen obsiegte ein gewisser Sinn für Pragmatismus, der in der Europäischen Union offenbar vor jeder Form von Purismus immer dann obwaltet, wenn das Einigungswerk insgesamt in eine Sackgasse zu geraten droht.

539 Vgl. L. Kühnhardt (2004).

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 191

geschehen sollte, stand gänzlich offen. Entschieden (und mittlerweile revidiert) war lediglich, dass sich die Staats- und Regierungschefs bei „Schwierigkeiten" in einem oder mehreren Mitgliedstaaten und unter der Voraussetzung, dass zwei Jahre nach Unterzeichnung, also im Oktober 2006, mindestens 80 Prozent der Länderden Verfassungsvertrag ratifiziert haben, der „Frage" annehmen würden. Fazit: Der Europäischen Union stand eine Zitterpartie bezüglich ihrer Verfassung bevor, bestenfalls keine Periode integrationspolitischer Wirrnis und Konfusion (was angesichts des Beginns der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei (sowie mit Kroatien) am 3. Oktober 2005, der Debatte um Rumänien und Bulgarien sowie der Perspektive des restlichen westlichen Balkans („Thessaloniki goals") eher illusionär sein sollte).

Nach dem Scheitern der Referenda in Frankreich und den Niederlanden sprachen sich viele Politiker. Kommentatoren und Wissenschaftler für eine „Rettung" des Vertrages aus, dessen baldiges Inkrafttreten realistischerweise unwahrscheinlich war. Sowohl die französische wie die niederländische Regierung häten bei einer zeitnahen neuen Abstimmung „politischen Selbstmord" begangen. Der Vorwurf des Ignorierens des Wählerwillens wäre allenfalls dann überwindbar, wenn das unbedingte Festhalten am Verfassungsvertrag innerhalb der Europäischen Union eine breite Unterstützung fände. Diese ist bis heute weder auf EU-Ebene noch in den Mitgliedstaaten auszumachen. Zudem war insbesondere in Großbritannien und Irland ein klares „Ja" nicht zu erwarten. Folglich dachten Viele über mögliche Alternativen nach.

Es wurde eine ganze Reihe von „Plan B-Optionen" diskutiert540: eine umfassende Neuverhandlung, der „cherry-picking-Ansatz" (sog. Nizza-Plus), ein Zusatzvertrag zum geltenden Vertrag von Nizza in der Form eines Verfassungsvertrages Ii gilt oder eines Änderungsvertrages, ein Europa der zwei Geschwindigkeiten mit den beiden Optionen eines freiwilligen Austritts der Nichtratifizierer oder der Gründung einer neuen Union, die Beibehaltung des primärrechtlichen Status quo sowie die erneute Reform der europäischen Verträge in einigen Jahren im Sinne einer „Verfassung II". Einige der Alternativvorschläge stellten keine reelle Option dar. Aber auch die übrigen konnten nur ,jecond-best-Lösungen" anbieten, da sie stets mit gewissen Einschränkungen oder Hindernissen verbunden sind. Welcher der diskutierten

540 Vgl. umfassend und m.w. N. B. Thalniaier. Nach den gescheiterten Referenden: Die Zukunf t des Verfassungsvertrages, C.A.P.-Analyse, 2005: siehe auch C. Closa, Ratifying the EU-Consti tution: Referendums and their Implications, 2004. Vgl. auch D. Gölerl H. Marhold, Die Zukunf t der Verfassung - Überlegungen zum Beginn der Reflexionsphase, in: integration 28/2005. S. 332 ff.: D. GölerlM. Jopp. Die europäische Verfassungskrise und die Strategie des „langen Atems", in: integration 29 /2006 . S. 91 ff.: B. Laffanll. Sudbury, Zur Ratifizierungskrise des Verfassungsvertrages - drei polit ikwissenschaftl iche Lesarten und ihre Kritik, in: integration 29/2006. S. 271 ff . : D. Thym, Weiche Konstitutionalisie-rung - Optionen der Umsetzung einzelner Reformschri t te des Verfassungsvertrages ohne Vertragsänderung, in: integration 28/2005, S. 307 ff.

192 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Plan B-Optionen auch immer im Rahmen des Vertrages von Lissabon zum Tragen käme, die Ratifikation sollte nur gestoppt werden, wenn eine klare Alternative vorhanden ist. die ambitioniert genug ist, die EU-27 demokratischer und effizienter zu gestalten. Der Ausgang der Referenden belegt ein „So geht es nicht weiter!". Ein schlichtes Einstellen der Bemühungen um Reformen und ein Weitermachen wie bisher kommen nicht in Betracht. Den Verfassungsvertrag bzw. nunmehr den Vertrag von Lissabon zu ..begraben", ist daher keine tragfähige Option.

Die Staats- und Regierungschefs hatten schließlich auf dem EU-Gipfel am 16./17. Juni 2005 in Brüssel beschlossen, bis zum Ende der österreichischen Ratspräsidentschaft im Juni 2006 eine ..Phase der Reflexion" im Prozess der Ratifizierung des Vertrages über eine Verfassung für Europa einzulegen.541 Die Fortsetzung des Ratifikationsprozesses wurde dadurch nicht Frage gestellt, zeit-lich ist er aber zunächst bis Mitte 2007 verlängert worden. Infolgedessen hatten Großbritannien. Portugal, Polen, die Tschechische Republik, Dänemark, Irland. Schweden und Finnland ihre nationalen Ratifikationsverfahren auf unbestimmte Zeit ausgesetzt.

Schließlich ein grundsätzlicher Gedanke: Ein einmaliger, punktueller Akt kann eine Verfassung ohnehin nicht legitimieren. Denn dieser bezieht sich immer nur auf den Status quo. Wenn sich Verfassungsinhalte nicht bewähren oder wenn sich die Umstände ändern, dann bringt die vergangene einmalige Zustimmung letztlich nichts. Für die nachfolgenden Generationen, die unter dieser Verfassung leben müssen, hat dieser Akt - wenn es auf die Zustimmung der Bürger an-kommen soll - ohnehin keine Legitimationswirkung. Ein Umstand, der bereits Ende des 18. Jahrhunderts von Republikanern und Jakobinern erkannt worden ist. Demzufolge wird eine Verfassung weniger durch die Art und Weise ihrer „Erzeugung" legitimiert als über ihre - nur ex post feststellbaren - Leistungen und kontinuierliche Akzeptanz.542

3. Drei Folgerungen

In der Absicht, abschließend die Geschichte Europas als Ganzes in den Blick zu nehmen, ergeben sich aus dieser (limitierten) tour d'horizon einige Folgerungen, die gleichzeitig einer weitergehenden interdisziplinären Bearbeitung bedürften.

Zum einen: Die Geschichte Europas ist in weiten Teilen ihre eigene Rezeptions-geschichte. Die longue dürfe ist ein Zivilisationsprozess, der in hohem Maße aus

Diese Reflexionsphase wurde auf dem Gipfel Ende Juni 2006 nunmehr erneut verlängert.

Die unbestrit tene Legitimität des deutschen GG. das bekanntlich an diversen „Ge-burtsmakeln" litt, illustriert diese These, vgl. zu alledem auch A Peters, Stellungnahme, in: G. Kreis (Hrsg.) . Der Beitrag der Wissenschaften zur künft igen Verfassung der EU. Inter-disziplinäres Verfassungssymposium anlässlich des 10 Jahre Jubiläums des Europainstituts der Universität Basel. Basler Schriften zur europäischen Integration. Nr. 66. 2003. S. 24 ff.

II. Eckpunkte und Grundlagen der europäischen Verfassungsentwicklung 193

Tradit ionswahrnehmungen gespeist wird. Für Europa gilt, was B. Anderson über die Nationen gesagt hat: Es ist eine „imagined Community", besteht also, wenn es besteht, vor allem in den Köpfen der Menschen.5 4 3

Möglicherweise, das wäre das zweite Ergebnis, ließe sich das analytische Instru-mentarium für eine Verfassungsgeschichte Europas verfeinern. Das oft genutzte Begriffspaar Rationalisierung und Modernis ierung als Leitfaden einer europäi-schen Geschichte ist für sich alleine eine zu grobe und übrigens auch zu vieldeutige Kategorisierung, um zur Beschreibung einer Langen Dauer der abendländischen Zivilisation zu taugen. Hilfreicher als ein lineares Fortschrittsmodell wäre ei-nes, das an j edem Zeitpunkt der Entwicklung auch die dazugehörige Reflexion über diese Entwicklung einbezöge: welche historischen Weltbilder liefern den Wahrnehmungs- und Urteilsrahmen, innerhalb dessen sich die Entwicklungs-schritte vollziehen? Welche kollektiven Erinnerungen, welche Vorbilder, welche Mythen, welche Metaphern, welche rückwärtsgewandten Utopien bilden die „Fo-lie", auf deren Hintergrund der Prozess der Zivilisation abläuft? Erst wenn der Zusammenhang zwischen Logos und Mythos, zwischen Zukunftsentwurf und Vergangenheitsbild hergestellt sein wird, kann man die lange Renaissance Euro-pas, die Verwestlichung des Abendlandes angemessen beschreiben und damit der Verfassungsgeschichte einen tatsächlich würdigen Rahmen ermöglichen.

Im übrigen wird - drittens und letztens - ersichtlich, dass es nicht ausreicht, einzelne Epochen der europäischen Geschichte jeweils für sich zu betrachten und zu analysieren. In jeden Zeitpunkt ist die ganze europäische Vorgeschichte mit eingeschlossen und muss jeweils mitgedacht werden, und zwar zugleich auf zwei Ebenen: Als Realgeschichte wie als mythisch vermittelte Vergangenheits-wahrnehmung, als welche sich Geschichte in dauernder Verwandlung ständig wiederholt.544 Der tiefste Grund für den Aufstieg wie auch für die Gefährdung Europas liegt vielleicht in dieser immerwährenden Suche nach der verlorenen, der geahnten und erhofften ciureci aetas.

543 B. Anderson, Imagined Communit ies . Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, 1983.

544 Namentlich Letzteres spricht übrigens gegen das Verfahren namhafter Historiker, die Antike aus der europäischen Geschichte auszugrenzen und Europa irgendwann zwischen Spätantike und Hochmittelalter entstehen zu lassen, vgl. n u r / / . Pirenne, Geschichte Euro-pas. Von der Völkerwanderung bis zur Reformation. 1956: D. Gerhard. Das Abendland 8 0 0 - 1 8 0 0 . Ursprung und Gegenbild unserer Zeit . 1981; F. Heer. Europäische Geistesge-schichte. 1953; A. Mirgeler, Revision der europäischen Geschichte. 1971. Tatsächlich reicht die Antike als historisch wirkende Kraft bis in unserer Gegenwart , ist also auch Neueste Geschichte, und zwar in erster Linie in Gestalt ihrer Verwandlungen, die sie im Laufe der Zeit in den Köpfen und Herzen der Menschen durchgemacht hat.

194 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

III. Der Einfluss der amerikanischen Verfassung und des Verfassungsverständnisses auf europäische

Rechtskultur(en), Rechtskulturzusammenhänge

Amerikanische Verfassungsprinzipien und -elemente waren in den vergangenen, annähernd zweieinhalb Jahrhunderten einer weitreichenden Rezeption in Europa unterworfen.545

Durch Rousseau waren im vorrevolutionären Frankreich demokratische Ide-en lebendig geworden. Die Physiokraten erhoben die Forderung nach Freiheit wirtschaftlicher Betätigung und Niederhaltung staatlicher Einmischung.546 Zeit-gleich war in Amerika die Verbriefung solcher Freiheiten in Grundrechtskatalogen nur eine Kodifizierung von bereits weitgehend geltenden Grundsätzen in der da-maligen Verfassungswirklichkeit. Das revolutionäre Frankreich stand angesichts der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vor einer gänzlich unterschiedli-chen politischen wie verfassungsrechtlichen Situation.547 Lafayette wurde jedoch maßgeblich durch die Bill of Rights of Virginia angeregt, in der französischen Constituante den Antrag für eine Erklärung der Menschenrechte zu erlassen. Und wieder führt die Spur zu Jefferson, der angesichts seiner Mitwirkung an dem eingebrachten Entwurf548 tatsächlich zum Grenzgänger zweier Verfassungswelten wurde und wohl als der eigentliche ..Pionier transatlantischer Verfassungsrezepti-on*' bezeichnet werden muss.

In Frankreich betonte man im kosmopolitischen Geist der Aufklärung die Ge-meinsamkeiten zwischen den beiden „Revolutionen". Die amerikanischen Verfas-sungen erschienen in französischen Übersetzungen und Lafayette verehrte seinem Freund Washington in einer symbolischen Geste den Schlüssel der Bastille.549

5 4 5 Dazu etwa H. Steinberger,; 200 Jahre amerikanische Bundesverfassung. 1987, S. I ff., 23 f.; B.Pieroth, Amerikanischer Verfassungsexport nach Deutschland, in: N J W 1989. S. 1333 ff.

546 Vgl. D. Klippel. Der Einfluss der Physiokraten. in: Der Staat 1984. S. 205 ff. 547 Dazu umfassend W.Rees, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von

1789. 1912 (Neudr. 1968): S.-J. Samwer, Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789/91. 1970.

5 4 8 Diese Konstellation beschreibt O. Vossler. Studien zur Erklärung der Menschenrech-te. in: R .Schnur (Hrsg.), Zur Geschichte der Erklärung Menschenrechte und Grundfre i -heiten. 1964 (2. Aufl. 1974), S. 166 ff., S. 193 ff. Die amerikanischen Revolutionsideale in ihrem Verhältnis zu den europäischen beschreibt ebenfalls O. Vossler in seiner gleichnami-gen Monographie (1929).

Zu den wechselseitigen Wirkungen der Französischen Revolution und der Ameri-kanischen Revolution auf das Frankreich und Amerika des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts vgl. J. Heuleking. Geschichte der USA. 2. Aufl. 1999. S. 79 ff.

III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 195

Insbesondere das US-amerikanische Prinzip der Verfassungskontrolle ist im Eu-ropa des 19. Jahrhunderts stellenweise rezipiert worden. Portugal, Griechenland und Norwegen übernahmen sogar die Grundzüge des amerikanischen Vorbilds.550

Das Präsidialsystem hat - in Konkurrenz zum System mit Premierminister - welt-weite Verbreitung gefunden. Ebenso die Verfassungsgerichtsbarkeit.

, ,[T|he Federalist Constitution has proved to be a brilliant success. which unitary nation states and parliamentary democracies all over the world would do well to copy. I give it most of the credit for the fact that ours is the wealthiest, most technologically advanced. and most socially just society in human history. not to mention the fact that we have with ease become a military superpower. 1.. . | The rest of the world is quite rightly impressed with us. and it is thus no accident that the United States of America has become the biggest Single exporter of public law in the history of humankind. Almost wherever one looks. written constitutions. federalism. Separation of powers, bills of rights, and judicial review are on the ascendancy all over the world right now - and for a good reason. They work better than any of the alternatives that have been tr ied."" 1

Die triumphalen und schwerlich bescheiden zu nennenden Zeilen Calabresis sind beredtes Zeugnis für ein amerikanisches Selbstverständnis, dass neben al-ler gelegentlichen Hybris doch in einem tatsächlich fruchtbaren „Verfassungs-Nährboden" wurzelt.552

Freilich: Die Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die amerikanische Bun-desverfassung von 1787 zählen zu den wichtigsten Innovationen für den westlichen Staatsbildungsprozess überhaupt. Uralte Gegenseitigkeitsprinzipien fanden auf der Grundlage allgemeiner Volkssouveränität eine Transformation in modernes Selbstbestimmungsrecht. Eine Nation gründete sich mittels einer Verfassungs-urkunde erstmalig selbst, einer Verfassung, die wie oben kursorisch ausgeführt auch inhaltlich innovativ war - eigentlich weniger durch die Verankerung der Gewaltenteilung als in der Errichtung eines Bundesstaates mit klar aufgeteilter Souveränität.553

Die - regelmäßig in einem fundamentalen Verfassungsgesetz rechtlich fixier-te - Verfassung ist konstitutives Merkmal des modernen politischen Gemeinwe-sens. Der moderne Konstitutionalismus wiederum erwächst den großen Revolu-tionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts. In vielerlei Gestalt hat die „Konstitutio-

5511 Vgl. M. Fromont. La just ice «insti tut ionelle dans la monde. 1996. S. 15: R. Grote, Rechtskreise im öffentlichen Recht, in: AöR 126 (2001), S. lOff, 49.

551 S.G. Calabresi, An Agenda for Constitutional Reform, in: W.N. Eskr idge/S . Levin-son (Hrsg.), Constitutional Stupidities. Constitutional Tragedies, 1998. S .22 .

552 Etwas nüchterner in der Betrachtung B. Acker man. The New Separation of Powers, in: 113 Harvard L. Rev. (2000), S. 633 ff.

553 Tatsächlich gelang es mit der North West Ordinance 1787, das weitere Wachstum der Nation verbindlich vorzuprogrammieren, eine gänzlich neuartige, rationale Planung des politischen Prozesses.

196 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

nalisierung der Herrschaft" (D. Grimm)**4 seither die historisch-politische Welt geprägt und darüber hinaus im Zuge der Globalisierung der Politik die nicht-westlichen Gesellschaften erfasst. Dort, wo seiner Grundidee nach der moderne Begriff der Verfassung als „Ordnung des Politischen"555 konzipiert wird, wird gleichzeitig ein zentraler Sinngehalt der politischen Kultur ausgedrückt.

In diesem Kontext entspringt der modernen Verfassung eine Mehrfachfunktion: zum einen deutet sie ihrer symbolischen Funktion entsprechend die Ordnungsge-halte der politischen Kultur der Gesellschaft und normiert dieselben. Gemäß ihrer instrumentellen Funktion liefert sie zudem das (Spiel-)Regelwerk für die politi-schen Prozesse des politischen Systems. Als „quasi-kanonischer Text" steht sie einmal für eine Hermeneutik der gesellschaftlichen Existenz mit einem Verbind-lichkeit fordernden Geltungsanspruch. Zum anderen ist sie Anker- und Kristalli-sationspunkt für einen permanenten hermeneutischen Prozess der Interpretation der durch sie verbürgten Prinzipien im Medium der politischen Deutungskultur der Gesellschaft. Wo ein Interpretationsmonopol der Verfassungsgerichtsbarkeit zukommt, hat sich eine in sich stets kontroverse Tradition der Verfassungsherme-neutik herausgebildet, die unter modernen kulturhermeneutischen Vorzeichen zu analysieren ist bzw. wäre.556

554 Vgl. D. Grimm. Die Zukunf t der Verfassung, 1991. 555 Dazu weitergehend in U.K. Preuß (Hrsg.), Zum Begriff der Verfassung, 1994. 556 Es entspricht der hier vorgeschlagenen Problemstellung, dass sowohl an die Resulta-

te der historisch und vergleichend ausgerichteten Forschungen zum Konstitutionalismus als auch an die jeweilige nationale Verfassungsgeschichtsschreibung anzuknüpfen ist. Hierbei liegt das Gewicht in der Regel auf der Behandlung des westlichen Konstitutionalismus. Bezeichnend ist, dass der von K. Löwenstein in seiner Verfassungslehre (1959) konzipierte historisch-vergleichende Ansatz erst in den vergangenen Jahrzehnten wiederaufgenommen wurde. Ein Grund hierfür mag darin zu sehen sein, dass der Strukturfunktional ismus als dominante Richtung der „comparative politics" die Verfassungsfragen marginalisierte. Die Arbeiten von J. Elster!R. Slagstat (Hrsg.), Consti tutionalism and Democracy. 1988. D. Grimm. Die Zukunft der Verfassung. 1991. U. K. Preuß (Hrsg.), Zum Begriff der Verfas-sung, 1994. J. Gebhardt! R. Schmalz-Bruns (Hrsg.), Demokratie, Verfassung und Nation. 1994. A. Kimmel (Hrsg.), Verfassungen als Fundament und Instrument der Politik. 1995 und H. Vorländer, Die Verfassung. Idee und Geschichte. 1999. haben in unterschiedlicher Perspektive die Bedeutung des Konstitutionellen für die moderne Staatlichkeit erneut the-matisiert. Die Problemstellung der Hybridisierung und Indigenisierung konstitutioneller Formen wurde erst in der neueren Forschung als ein eigenständiger Untersuchungsge-genstand begrif fen (K Meny (Hrsg.), Le Politiques du mimet isme institutionel, 1993; W. Reinhard (Hrsg.), Verstaatlichung der Welt, 1998). Hier ist insbesondere auf die regio-nalspezifische verfassungsgeschichtliche Forschung zu islamischen (aus der Lit. M. Bayat. The Constitutionalization of Power in Shia Iran, in: J. Gebhardt (Hrsg.), Verfassung und politische Kultur. 1999; dies., Iran's First Revolution, Shi ' i sm. and the Constitutional Revolution. 1991: H.G.Ebert, Die Interdependenz von Staat. Verfassung und Islam im Nahen und Mittleren Osten in der Gegenwart . 1991; A Schirazi, The Constitution of Iran. 1997) und ostasiatischen (K.J. Antoni, Der himmlische Herrscher und sein Staat. 1991; W.Seifert. Verfassung und Politische Kultur am Bespiel der Meiji-Verfassung von 1889.

III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 197

Der in der amerikanischen Revolution formulierte Katalog konstitutioneller Ordnungsprinzipien wurde schon im Verlauf des „westlichen" Konstitutionalisie-rungsprozesses jeweils unterschiedlichen historisch-politischen Formensprachen unterworfen, woraus durch Verschmelzung von Eigenem und Fremdem eine Viel-falt der Verfassungskulturen resultierte. Letztlich ein dynamischer Prozess der Übernahme, Umformung. Anpassung und Umdeutung konstitutioneller Paradig-mata.'5 Diese verschmolzenen, hybriden Formen des institutionellen Mimetismus erwiesen sich durchaus als exemplarisch für Staaten Lateinamerikas, Afrikas und Osteuropas.558 Im Iran, in Japan und der Türkei bedienten sich unterschiedliche Reformbewegungen aus dem Fundus des westlichen Konstitutionalismus, um indigene politische Ausprägungen der gesellschaftlichen Existenz zu entwickeln.

Die Rezeption des Konstitutionalismus in den „nicht-westlichen" Zivilisationen resultierte im Wesentlichen jedoch nicht in einer Modernisierung durch Verwest-lichung, sondern in einer Entfaltung pluraler Formen der Modernität, in denen die jeweiligen eigenen historischen Traditionen oftmals in der Begegnung mit westlichen konstitutionellen Formen eine indigenisierte konstitutionelle Politik generierten, die in den Strukturen analog, aber nicht identisch zu bzw. mit dem westlichen Modell sind.

1. Die Vereinigten Staaten von Amerika - ein Faktor des europäischen Einigungsprozesses

Es wäre trotz aller (regelmäßig wiederkehrender) Friktionsfelder falsch, die historisch fördernde Rolle der USA im europäischen Einigungsprozess wegzudis-kutieren und die strategische wie gesellschaftliche Bedeutung eines gut funktio-nierenden, transatlantisch partnerschaftlichen Verhältnisses zu unterschätzen.559

in: J. Gebhardt (Hrsg.). Verfassung und politische Kultur. 1999. S. 139 ff.: M. Schmiegelow, Democracy in Asia. 1997) Gesellschaften zu verweisen.

557 Von Y. Xteny (Hrsg.), Le Politiques du mimetisme institutionel - La greffe et le rejet. 1993 im Vorwort als „mimet isme constitutionel" bezeichnet.

558 Während Hybridisierung für jeden Fall der Verfassungsübernahme charakteristisch ist. gilt für den Fall eines gelungenen Konstitutionalisierungsprozesses. dass die mimeti-sche Anverwandlung der institutionellen Form an die geschichtlich-kulturellen Vorgänge, d. h. die Indigenisierung des Konstitutionalismus in einer politischen Kultur gebunden ist.

559 Zus t immung verdient G. Burghardt, Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blickwinkel der USA. Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002. abgedruckt in: Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Die europäische Verfassung im globalen Kontext, 2004, S .41 ff. , 41, der hinsichtlich des derzeitigen transatlantischen Verhältnisses feststellt: „Indessen gleicht das Verhältnis der USA und der EU einer langjährigen partnerschaftlichen Beziehung, die beide Partner als so selbstverständlich ansehen, dass sie sich über den Grad der Belastbarkeit beim Austragen von Streitigkeiten keine Sorgen zu machen glauben. Das . taking for granted* aber ist ein schleichendes Gift , das die soliden Grundlagen in Vergessenheit geraten lassen und den Blick für die gemeinsame Bewältigung zukünft iger Aufgaben trüben kann."

198 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Ein nüchterner Blick bleibt angebracht: Die Einigung Europas ist in erster Linie eine Verantwortung und gestalterische „Hausaufgabe" der Europäer selbst. Gleich-wohl ist die Haltung der Vereinigten Staaten - unterstützend, kritisch wohlwollend begleitend oder skeptisch abwartend - stets auch ein Faktor der Beschleunigung oder der Verzögerung gewesen. Die Reden W. Churchills in Fulton/Missouri (1946)5*° und G \jars/,alls in Harvard (I947)561 konnten inspirierende Wirkkraft entfalten.

Persönliche Bindungen mit „transatlantisch prägender Dimension" fristen in der rechts- und politikwissenschaftlichen Betrachtung ein eher kümmerliches Da-sein. Umso erstaunlicher, da etwa jeder grenzüberschreitende, „rechtskulturelle" Ansatz auf personalisierte Bindeglieder, zumal „Transporteure" angewiesen sein müsste. Beispielhaft darf angeführt werden, dass drei amerikanische Nachkriegs-präsidenten. Truman. Eisenhower und Kennedy, mit J. Monnet in persönlicher Freundschaft und gegenseitigem Respekt verbunden waren. G. Ball war J. Monnets engster amerikanischer Berater.

J.F. Kennedys Konzept der Partnerschaft von Gleichen, sein Einfluss auf Mac Millans Beitrittsgesuch zur Europäischen Gemeinschaft 1961 und die frühe Be-schäftigung amerikanischer Universitäten mit der Theorie und Praxis europäi-scher Integration sind weitere Beispiele konstruktiven amerikanischen Interesses. W. Hallstein hat diese Interaktion zwischen amerikanischem Interesse und not-wendiger Erklärung komplexer europäischer Vorgänge prägend mitgestaltet. In Teilen ungebrochen aktuell lesen sich Hallsteins Clayton-Vorlesungen mit dem Titel ..Die Einheit Europas - Herausforderung und Hoffnung" im April 1962 in Boston5 '0 oder die (selbst verfassten) Berichte über seine regelmäßigen Ge-spräche mit Präsident Kennedy sowie seine Reden in Washington und New York aus den Jahren 1961 -63 5 6 3 . Ernst Haas hat schon Anfang der 50er Jahre an der Universität Berkeley eine Vorlesung über die Rechtsnatur der EGKS eingerichtet. Heute beherbergen mehr als 15 amerikanische Universitäten ein „European Union Center", zahlreiche Institute und Forschungseinrichtungen mit dem Schwerpunkt „Europäische Union" wurden und werden etabliert.

560 Abrufbar unter www.nato. int /docu/speech/1946/s460305a_e.htm. 561 Abrufbar unter www.georgecmarshall .org/ l t /speeches/marshall_plan.cfm. 562 W. Hallstein. United Europe: Challenge and Opportunity. The Will iam L.Clayton

Lectures on International Economic affairs and Foreign Policy. 1962. 563 Die Reden sind abrufbar unter www.ena. lu/europe/19571968-successes-cr ises

/ indexEN.html.

III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 199

2. Die konkrete Rolle der USA ini europäischen Einigungspro zess5W

Es wird im Folgenden darum gehen, die grundlegende Unterstützung der USA für den Prozess der supranationalen Integration Europas in den verschiedenen Phasen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs noch genauer nachzuzeichnen. Dabei wird zu zeigen sein, dass es sich um eine Unterstützung handelte, die in Abhängigkeit von den jeweils dominanten Motiven und Interessenlagen sowie den spezifischen Kontexten und Problemen unterschiedlich intensiv ausfallen und verschiedenartige Ausprägungen annehmen konnte.

a) Eine neue amerikanische Europapolitik nach dem zweiten Weltkrieg?

Bereits unmittelbar nach Kriegsende setzte das amerikanische Engagement für den Wiederaufbau des vom Krieg zerstörten (West-) Europa ein. Dabei stan-den zunächst die „Notwendigkeiten der Nachkriegszeit" im Vordergrund. Seinen sichtbarsten Ausdruck fand das europapolitische Engagement der USA in der Verabschiedung des so genannten „Marshallplans" durch den US-Kongress im Jahre 1948. Bekanntlich hat dieses nach dem amerikanischen Außenminister G. Marshall benannte Europäische Wiederaufbauprogramm (ERP) mit seinen materiellen und finanziellen Hilfen und Dienstleistungen erheblich zum Wie-deraufbau der europäischen Länder nach 1945 beigetragen. Auch wenn dem Marshallplan die primäre Zielsetzung zugrunde gelegen hat. die materiellen Nöte der vom Krieg geschundenen Bevölkerung zu lindern und langfristig den ökono-mischen Wiederaufstieg der westeuropäischen Staaten zu fundieren, war bereits dieses frühe europapolitische Engagement der USA auch mit der Absicht ver-knüpft, die politische, wirtschaftliche und militärische Integration Westeuropas zu befördern. Die 1953 vom amerikanischen Außenminister J. F. Duttes vordem National Security Council vorgetragene These, „There was no hope for Europe without integration"565, lag bis in die sechziger Jahre als eine Art Leitmotiv der Europapolitik aller amerikanischen Nachkriegs-Administrationen zugrunde. Die Hintergründe und Motive dieser gegenüber der Vorkriegszeit grundlegend ver-änderten handlungsleitenden Grundmaxime der amerikanischen Europapolitik waren vielfältig. Ohne Frage hat die destruktive und destabilisierende Wirkung der von permanenten, gefährlichen Krisen erschütterten zwischenstaatlichen Be-ziehungen der europäischen Nationalstaaten in der Vorkriegszeit, die schließlich

564 Die nachfolgenden Thesen stützen sich auf einen Vortrag des Verf. am 17. 11.2005 in Washington, zu dem eine vom Verf. in Auftrag gegebene Ausarbeitung der Wissen-schaftl ichen Dienste des Deutschen Bundestages (vom 25. 10.2005) wesentliche Impulse zu setzen wusste.

565 Zitiert nach B. Neuss, Der ..gütige Hegemon" und Europa. Die Rolle der USA bei der europäischen Einigung, in: R.C. Meier- 'Walser/B. Rill (Hrsg.), Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität. 2001. S. 155 ff., 155.

200 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

in der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges mündeten, bei den außenpolitischen Eliten in Washington eine gründliche Revision der tradierten Denkmuster und Handlungsstrategien hervorgerufen. Nur eine Abkehr von der herkömmlichen Nationalstaatspolitik und eine weit reichende supranationale Integration der eu-ropäischen Staaten bei einem mehr oder weniger großen Verzicht auf nationale Souveränitätsrechte konnte nach einer in den maßgeblichen amerikanischen Füh-rungskreisen weithin verbreiteten Überzeugung eine stabile friedliche sowie eine politisch wie ökonomisch gedeihliche Entwicklung garantieren. Dagegen sah man bei einer Restauration des traditionellen europäischen Nationalstaatensystems das Wiederaufleben schwerer internationaler Krisen und kriegerischer Auseinander-setzungen als geradezu unvermeidlich an.

Die amerikanische Führung unterstützte daher alle Ansätze, die darauf abziel-ten, die westeuropäischen Staaten zu einem der USA ebenbürtigen Verbund von Staaten zusammenzuschließen, selbst auf die Gefahr hin, dass den Vereinigten Staaten hieraus eines Tages ein potentieller Konkurrent erwachsen könne, der international seine eigenen Ziele und Interessen verfolgen würde. In der poli-tischen Praxis der ersten Nachkriegsjahre kam dieser neuen Ausrichtung der amerikanischen Europapolitik zugute, dass eine Reihe von führenden westeuro-päischen Staatsmännern der Wiederaufbauzeit wie R. Schunian, A. de Gasperi, J.Monnet und K.Adenauer ebenfalls eine stärkere Einbindung ihrer Staaten in übernationale westeuropäische Strukturen befürwortete. Die Übereinstimmung in der grundsätzlichen Ausrichtung erleichterte die amerikanisch-westeuropäische Zusammenarbeit in der Integrationspolitik sehr und zeitigte in den - angesichts der Komplexität und Reichweite der Materie - überraschend zügig zum Abschluss gebrachten Verhandlungen über die Verträge zur Errichtung der EGKS, der EVG sowie der beide Organisationen überwölbenden EPG mit föderativer Struktur erste konkrete Ergebnisse.566

In Abgrenzung zur älteren idealistischen Sicht der Integrationsgeschichtsschrei-bung wird in der jüngeren Forschung allerdings geltend gemacht, dass die Grün-dungsväter Europas auf beiden Seiten des Atlantiks nicht (oder zumindest nicht allein) aus visionärer Einsicht das bisherige nationalstaatliche Paradigma zurück-drängten sowie gänzlich selbstlos und ohne handfeste ökonomische und nationale

Während die 1952 beschlossene EVG ebenso wie das EPG-Projekt 1954 definitiv scheiterte, erwies sich die von den Beneluxstaaten. Frankreich. Italien und Deutschland im April 1951 begründete EKGS als erster entscheidender Schritt im europäischen Integrati-onsprozess und kann als „Keimzel le" der späteren Europäischen Gemeinschaf t betrachtet werden, vgl. auch R. Hrbek. Europa in der internationalen Politik, in: U. Albrech t / / / . Vogler (Hrsg.), Lexikon der internationalen Politik. 1997. S. 131 ff.. 132 f.; im größeren Kontext XI. J. Hillenbrand. Die USA und die EG. Spannungen und Möglichkeiten, in: K. Kaiser /H.-P. Schwarz (Hrsg.), Amerika und Westeuropa. Gegenwarts- und Zukunf tsprobleme. 1977. S. 288 ff.

III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 201

Interessen handelten.567 Während aus europäischer Perspektive nur ein bestimmtes Maß an supranationaler Integration und ein damit einhergehender Teilverzicht auf Souveränitätsrechte das Überleben der Nationalstaaten und deren wirtschaftlichen Wiederaufstieg garantieren sollten und überdies militärische Schutzinteressen und die Aussicht auf ökonomische Hilfsleistungen eine enge Anlehnung an die USA ratsam erscheinen ließen, sollte es für die Amerikaner schon bald nach Kriegsende klar gewesen sein, dass sich ihre Hoffnungen auf eine friedliche Nachkriegsordnung in Europa und anderen Teilen der Welt zerschlagen hätten. In ihren strategischen Überlegungen für den heraufziehenden Kalten Krieg wiesen die Amerikaner Europa die gewichtige Rolle eines starken und geeinten Partners bei der Herstellung des globalen Gleichgewichts zwischen den beiden Militärblö-cken zu. Voraussetzung hierfür war nach amerikanischer Überzeugung allerdings die Errichtung eines Systems zwischenstaatlicher Strukturen in Westeuropa, das den Ausbruch neuer europäischer Kriege wirksam unterband, deshalb vor al-lem Deutschland als den größten Unruheherd der zurückliegenden Jahrzehnte und voraussichtlich stärksten Machtfaktor der Zukunft wirksam einband sowie die Grundlagen für eine positive Entwicklung der westeuropäischen Staaten in wirtschaftlicher, politischer und militärischer Hinsicht schuf.568

Selbst wenn das amerikanische Interesse an einer europäischen Einigung somit primär sicherheitspolitisch begründet war, bleibt dennoch anzuerkennen, dass die amerikanischen Regierungen unter H. Truman und D. Eisenhower mit der Ein-flussnahme auf Verhandlungen und der Ausübung von Druck als Antreiber und Vermittler im europäischen Einigungsprozess gewirkt haben, ohne den suprana-tionale Integration keineswegs so schnell und in dieser Form vorangeschritten wäre. Insofern lässt sich durchaus mit einer gewissen Berechtigung konstatieren, dass die USA tatsächlich als „Geburtshelfer Europas"569 gewirkt haben. Diesem Befund widerspricht nicht, dass die USA mit ihrem auf Integration ausgerichteten Europakurs durchaus eigene politische Interessen verfolgten. Denn eine Stabili-sierung und wachsende Integration der westeuropäischen Staaten versprach nicht

567 Vgl. e twa K.K. Patel, Rezension zu G. Lundestad. The United States and Europe since 1945. From ..Empire by Invitation" to Transatlantic Dri f t . 2003, in: H-Soz-u-Kult . 21. 10.2004. S. 6. abrufbar unter http:/ /hsozkult .geschichte.huberlin.de/rezensionen/2004 -4-049.

568 Vgl. G. Lundestad, . .Empire" by Integration. The United States and European Integra-tion 1945-1997 , 1998. S. 13 f.: K. K. Patel (2004): ähnlich auch B. Neuss, Der ..gütige Hege-mon" und Europa. Die Rolle der USA bei der europäischen Einigung, in: R.C. Meier-Wal-s e r / B . Rill (Hrsg.), Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität. 2001. S. 155 ff., 155.

569 So der Titel einer Monographie von B. Neuss, Geburtshelfer Europas? Die Rolle der Vereinigten Staaten im europäischen Integrationsprozess 1 9 4 5 - 1 9 5 8 . 2000. Siehe auch dies., Der „gütige Hegemon" und Europa. Die Rolle der USA bei der europäischen Einigung, in: R .C . Meier -Walser /B . Rill (Hrsg.), Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität. 2001. S. 155 ff., 155.

202 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

nur einen Zugewinn an äußerer Sicherheit und damit eine Stärkung der amerika-nischen Positionen in der Konfrontation der Blöcke, sondern eröffnete langfristig auch die Aussicht, die gewaltigen Kosten, die die Wahrnehmung der weltpoliti-schen Rolle der USA mit sich brachte, durch Lastenverteilung („bürden sharing") mit den in Zukunft auch wirtschaftlich erstarkten europäischen Staaten zu sen-ken. Ebenso dürften die US-Administrationen in ihren integrationspolitischen Bemühungen für Westeuropa auch von der Hoffnung auf das Entstehen lukrativer neuer Märkte in den zukünftig stärker verflochtenen Volkswirtschaften Europas angetrieben und bestärkt worden sein.57" Dies ändert freilich nach Ansicht einer Reihe von Historikern und Politikwissenschaftlern nichts an der Tatsache, dass die sicherheitspolitischen Ziele in der amerikanischen Europapolitik gerade in den ersten Nachkriegsjahren gegenüber den ökonomischen Erwägungen eindeutig im Vordergrund gestanden haben und die Amerikaner für die Durchsetzung ihrer Sicherheitsbedürfnisse sogar bereit waren, auch ökonomische Nachteile in Kauf zu nehmen.571

Im Gegensatz zu älteren Forschungspositionen, die dem europapolitischen Enga-gement der Amerikaner hauptsächlich ökonomischen Eigennutz und hegemoniale Absichten bei nur geringem Interesse an einem föderalen Europa unterstellten572, besteht nach neuerer Ansicht weitgehend Konsens darüber, dass die Europäer die amerikanische Einflussnahme nicht nur mehr oder weniger zustimmend akzeptiert haben, sondern die Vereinigten Staaten nachgerade aufgefordert haben, sich an der Lösung der innereuropäischen Probleme zu beteiligen. Nach einer inzwischen weithin akzeptierten These suchten die westeuropäischen Staaten nach dem Krieg die enge Anlehnung an die Vereinigten Staaten, da sie sich alleine weder im Stande sahen, ihre zerstörten Volkswirtschaften wieder aufzubauen, noch sich gegen die äußere Bedrohung vor allem durch die sowjetischen Expansionsgelüste in Europa zur Wehr zu setzen, noch die Einflüsse und Machtansprüche der kommunistischen Parteien in ihren eigenen durch den Krieg sozial zerrütteten und wirtschaftlich schwachen Staaten zurückzudrängen.573

In diesem Kontext ist allerdings festzuhalten, dass die USA ihre Vorstellungen keinesfalls eins zu eins durchsetzen konnten. Vielmehr zeigten sich die Europäer durchaus in der Lage, amerikanische Vorhaben abzuändern und eigene Akzen-te zu setzen, was sich unter anderem an der erfolgreichen Zurückweisung der

5 " Dazu etwa D. Krüger. Sicherheit durch Integration? Die wirtschaftl iche und politi-sche Integration Westeuropas 1947 bis 1957, 2003, S. 17 f.

571 Vgl. K K Patel (2004), S. 7. 572 Siehe etwa noch J. Heideking, Die Vereinigten Staaten, der Marshall-Plan und

die Anfänge der europäischen Integration, in: R. Diet l /F . Knipping (Hrsg.). Begegnungen zweier Kontinente. Die Vereinigten Staaten und Europa seit dem Ersten Weltkrieg. 1999. S. 17 ff.. 17 m.w. N.

573 G. Lundestad. The United States and Europe since 1945. From ..Empire by Invitation" to Transatlatic Drif t . 2003. hebt diesen Aspekt wiederholt hervor.

III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 203

immer wieder vorgetragenen amerikanischen Forderungen nach größeren Rüs-tungsanstrengungen seitens der Europäer, aber auch an der Einflussnahme vor allem Frankreichs und Großbritanniens auf die integrationspolitischen Vorstel-lungen Washingtons belegen lässt.574 Vor diesem Hintergrund charakterisiert G. Lundestad die Position der USA in Westeuropa als „empire by invitation", womit er zum Ausdruck bringt, dass die amerikanische Einflussnahme auf West-europa keineswegs gegen den Widerstand der betroffenen Länder erfolgte, sondern im Gegenteil vielfach auf deren erklärten Wunsch hin zustande kam. Dabei ver-steht Lundestad „empire" in Abgrenzung zu älteren Formen direkter Herrschaft wertneutral als hierarchisches System mit einem Zentrum, das auch und vor allem mit Hilfe seiner integrationspolitischen Bemühungen seine Einflusssphäre auf eine Reihe unabhängiger Staaten ausdehnt.575

Das insgesamt einigende Bekenntnis zu demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien setzt der Einflussnahme seitens der amerikanischen Vormacht freilich messbare Grenzen und lässt Kritik und Gegenvorschläge der abhängigen Staa-ten nicht von vorneherein aussichtslos erscheinen.576 Bei allem Einsatz für eine stärkere Integration der europäischen Staaten in den fünfziger Jahren war die amerikanische Politik nicht frei von Brüchen und Widersprüchen. Hatten die USA zunächst noch von den Europäern initiierte supranationale Initiativen unterstützt, als die Europäer sich bereits zurückgezogen hatten, ließen seit etwa 1954 auch die Amerikaner in ihren Integrationsbemühungen nach und konzentrierten sich mehr auf ihr Verhältnis zu Großbritannien und zur NATO. Überhaupt scheint die NATO, nachdem sie sich als leistungsfähiges und erfolgreiches Instrument zur Lösung der inneren und äußeren Sicherheitsprobleme erwiesen hatte, die Westeu-ropäer der Notwendigkeit enthoben zu haben, gegenüber der Herausforderung des Ostblocks eine politisch voll integrierte Gemeinschaft aufzubauen. Die transat-lantische Einbindung garantierte größtmögliche Sicherheit (wenngleich auch eine allzu eingeschränkte Sicht- und Empfindungslage) und machte einen weiteren

574 So z. B. bei der gescheiteren supranationalen Umorganisation der OEEC. der Errich-tung der E G K S oder beim Scheitern von EVG und EPG. Siehe auch H. R. Hümmerich. Jeder für sich und Amerika gegen alle? Die Lastenteilung der NATO am Beispiel des Temporary Council Comittee 1949 bis 1954.2003 sowie B. Neuss, Der ..gütige Hegemon" und Europa. Die Rolle der USA bei der europäischen Einigung, in: R.C. Meier -Walser /B. Rill (Hrsg.), Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität, 2001, S. 155 ff. , 157 f., 159 ff.

575 G. Lundestad. „Empire" by Integration. The United States and European Integration 1945-1997 , 1998. S. 2 ff. sowie umfassend ders, The United States and Europe since 1945. From ..Empire by Invitation" to Transatlatic Drift . 2003.

576 Insbesondere in Situationen, in denen einzelne europäische Länder sich in ihren existenziellen Grundlagen bedroht sahen, wie dies etwa bei Frankreich angesichts der bei Umsetzung der EVG-Pläne befürchteten militärischen Aufwertung der Bundesrepublik der Fall war. kann auch noch so großer Druck der USA die betroffenen europäischen Staaten nicht zum Einlenken bewegen, vgl. M.J. Hillenbrand, Die USA und die EG. Spannun-gen und Möglichkeiten, in: K. Kaiser /H.-P. Schwarz (Hrsg.), Amerika und Westeuropa. Gegenwarts- und Zukunftsprobleme, 1977. S. 288 ff., 2 8 8 . "

204 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Souveränitätsverzicht der auf ihre nationalstaatliche Eigenständigkeit bedachten westeuropäischen Staaten zugunsten eines stärker integrierten, föderalen Europas (vordergründig) überflüssig.

Angesichts der Verlagerung der europapolitischen Anstrengungen der Ameri-kaner kann es kaum verwundern, dass auch die beiden gegen Ende der fünfziger Jahre ausgehandelten und für den weiteren europäischen Einigungsprozess be-sonders erfolgreichen Projekte, die Euratom und die EWG auf rein europäischen Initiativen basierten und hinsichtlich ihrer Realisierungschancen von Washington äußerst skeptisch beurteilt wurden. Gleichwohl unterstützte die amerikanische Regierung auf Drängen der Europäer beide Projekte und vermittelte hinter den Kulissen zwischen den Verhandlungspartnern, da sie zu der Überzeugung gelangt war, dass die zu erwartenden Vorteile - unter anderem das Erreichen einer weiteren europäischen Integrationsstufe. Sicherung der Energieversorgung. Kontrolle der militärisch orientierten Atomforschung. Vertiefung der Anbindung Deutschlands an den Westen. Schaffung eines großen europäischen Binnenmarkts (mit neuen Marktchancen auch für die amerikanische Wirtschaft) - die befürchteten Nachteile vor allem für die amerikanische Wirtschaft (durch Subventionen oder Schutzzölle im Agrarbereich sowie Erhöhung des Konkurrenzdrucks und Exporteinbußen für die amerikanische Industrie) unter allgemein- wie sicherheitspolitischen Gesichts-punkten rechtfertigten.

Wie oben bereits dargestellt konnten nach langwierigen, aber letztlich erfolg-reichen Verhandlungen im Frühjahr 1957 die EWG und die Euratom mit der Ratifizierung der „Römischen Verträge" ins Leben gerufen werden. Während die politische Bedeutung von Euratom insgesamt gering blieb und ihre integrationspo-litischen Wirkungen bescheiden ausfielen, erwies sich die EWG als entscheidender Kristallisationspunkt für alle weiteren europäischen Einigungsbestrebungen.577

b) Die 60er Jahre: amerikanische Europapolitik im doppelten Spannungsfeld zwischen Kooperation und Ambivalenz

Etwa ein Jahrzehnt nach Beginn der Bestrebungen, die westeuropäischen Staaten in supranationale Strukturen einzubinden und damit die politische, wirtschaftli-che und militärische Integration Europas voranzutreiben, war mit amerikanischer Unterstützung vor allem im wirtschaftlichen Bereich ein enges organisatorisches Beziehungsgeflecht in Kontinentaleuropa entstanden, das in den beteiligten Staa-ten neben einer gedeihlichen wirtschaftlichen und insgesamt stabilen inneren Entwicklung auch das friedliche Zusammenleben beförderte. Die nun einset-zende Dynamik des europäischen Integrationsprozesses und die wieder erlangte

577 Umfassend B. Neuss (2001) S. 163 f.; siehe auch R. Hrbek. Europa in der internatio-nalen Politik, in: U. Albrecht /H. Vogler (Hrsg.). Lexikon der internationalen Politik. 1997. S. 131 ff., 133.

III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 205

wirtschaftliche Stärke und politisch-gesellschaftliche Stabilität der europäischen Staaten hatte auch Auswirkungen auf die europäische Rolle der USA und die trans-atlantischen Beziehungen. Auch wenn die USA die grundlegenden Leitlinien ihrer Europapolitik nicht veränderten und nach wie vor fördernd in den europäischen Einigungsprozess eingriffen, entwickelten sich nun mehr und mehr Frankreich und Deutschland zum eigentlichen Motor der europäischen Einigung.

Trotz eines zunehmend selbstbewussten Auftretens der europäischen Staaten verstanden sich die USA weiterhin als Förderer der europäischen Einigung, mehr noch: in ihren strategischen Konzepten wiesen sie Europa eine zentrale Rolle zu. In dem von der /fe/i/t^dy-Administration entwickelten „Grand Design" für die transatlantische Gemeinschaft sollte ein ökonomisch, militärisch und politisch starkes und geeintes Europa eine tragende Rolle als zweite gleichberechtigte Säule neben der amerikanischen einnehmen.578 In seiner weithin beachteten Rede vom 4. Juli 1962 in Philadelphia, in der er das neue NATO-Konzept vorstellte, bekannte sich J. F. Kennedy daher auch ausdrücklich zur europäischen Integration: ..Die Vereinigten Staaten sehen auf dieses große neue Unterfangen mit Hoffnung und Bewunderung. Wir betrachten ein starkes und vereintes Europa nicht als Rivalen, sondern als Partner. Seinen Fortschritt zu unterstützen, war siebzehn Jahre lang das Hauptanliegen unserer Außenpolitik."579

Trotz allem: jenseits derartiger langfristiger strategischer Überlegungen nahm im politischen Alltag die Zahl der Differenzen und Konflikte zwischen Amerika-nern und Europäern zu. Insbesondere die französische Regierung unter Präsident de Gaulle forderte mit seinen Versuchen, autonome, von den amerikanischen He-gemonialinteressen unabhängige europäische Strukturen und mit den USA eine gleichberechtigte und gleichgewichtige Partnerschaft aufzubauen (Konzept einer europäischen dritten Kraft), die amerikanische Führungsrolle in Europa ein ums andere Mal heraus.5S0 Ein Umstand, der bis heute durchzuscheinen, gelegentlich Platz zu greifen vermag.

578 J. F. Kennedv, The Goal of an Atlantic Partnership. Rede in Philadelphia am 4. Juli 1962, /.it. nach M.J. Hillenbrand (1977), S .289 : vgl. auch E.-O. Czempiel/C.-C. Schweitzer. Weltpolitik der USA nach 1945. Einführung und Dokumente . 1989. S. 254.

579 J.F. Kennedy, ebenda. Anlass zu Irritationen und Konflikten boten unter anderem der Gemeinsame Markt,

vor allem die von Frankreich vorangetriebene Ausgestaltung des gemeinsamen Agrarmark-tes, der mit seinen protektionistischen Praktiken amerikanischen Wirtschaftsinteressen tendenziell zu schaden drohte; die durch den Übergang von der Strategie der „massiven Vergeltung" zur Strategie der „flexiblen Antwort" bei den Europäern ausgelöste Sorge vor einer Aufweichung des atomaren Schutzschilds der USA für Europa: der deutsch-französische Freundschaftsvertrag von 1963, den de Gaulle im Sinne der europäischen Führungspläne Frankreichs gegen die USA auszuspielen beabsichtigte: der - auf Betreiben Frankreichs erfolgte - Ausschluss Großbritanniens aus dem Gemeinsamen Markt; der - auf-grund amerikanischer Bevorzugung Großbri tanniens eingeleitete - a tomare Alleingang der Franzosen: der Rückzug Frankreichs aus der Verteidigungsorganisation der NATO im

206 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Auf wirtschaftlichem Gebiet war der amerikanischen Einflussnahme in Europa nur bedingt Erfolg beschieden. So gelang es den USA, durch Gründung der O E C D die aufstrebende EWG in den größeren Zusammenhang der (westlichen) Industrie-staaten zum Zwecke der Koordinierung der Wirtschaftspolit ik und Kooperation bei der Auslandshilfe einzubetten. Auch war es noch unter der Kennedy-Adminis-tration gelungen, Zoll Vereinbarungen mit der EWG auf den Weg zu bringen und durch Senkung der Zölle auf Industrieprodukte eine erhebliche Liberalisierung des Handels zwischen den Industriestaaten herzustellen. Dagegen scheiterte der amerikanische Plan, durch Errichtung einer europäischen Freihandelszone mit der EWG, Großbritannien und dem Commonweal th eine kontinentaleuropäische Blockbildung zu verhindern.581

Differenzen und Fehlschläge dieser Art verstärkten eine bereits Anfang der sechziger Jahre unter amerikanischen Führungsgruppen spürbare ambivalente Haltung gegenüber dem europäischen Einigungsprozess: Einerseits gab es eine breite Unterstützung für die europäischen Einigungsbemühungen, deren geopoliti-sche Bedeutung nach wie vor unumstritten war. Auch erkannte die amerikanische Wirtschaft die neuen ökonomischen Chancen der EWG und nutzte den durch diese hergestellten größeren Markt für eine Steigerung ihrer Direktinvestitionen in Europa (was dort Ängste vor „amerikanischer Überf remdung" auslöste). Anderer-seits empfand man insbesondere die EWG-Agrarpolitik und die Bevorzugung des Mittelmeerraums und Afrikas durch die EWG als Diskriminierung mit negativen Auswirkungen auf den eigenen Export. Vor allem aber tat man sich jenseits des Atlantiks schwer damit anzuerkennen, dass die aus der Einigung resultierende machtpolitische Stärkung Europas zwangsläufig eine Relativierung, wenn nicht sogar auf kurz oder lang eine Beendigung der amerikanischen Führungsrolle in Europa zur Folge haben musste. Auch wenn der amerikanische Führungsanspruch sich mit dem bereits von Kennedy propagierten Partnerschaftsmodell schwer ver-einbaren ließ, konnten ihn die Amerikaner aber vor allem mit Verweis auf die fehlende politische Einheit und großen militärtechnischen Defizite der Europäer zumindest auf sicherheitspolitischem Gebiet weiterhin geltend machen.

März 1966: die Weigerung, sich in die Rüstungskontrollgespräche mit der Sowjetunion einbinden zu lassen, vgl. hierzu W. Link. Historische Kontinuitäten und Diskontinuitäten im transatlantischen Verhältnis - Folgerungen für die Zukunf t , in: M. Kah le r /W. Link (Hrsg.). Europa nach der Zei tenwende - die Wiederkehr der Geschichte, 1995, S . 4 9 f f . . 117, 120 sowie jüngst /. Wallerstein. Die USA und Europa - 1945 bis heute, im Internet unter: www.uni-kassel .de/fb5/fr ieden/themen/Europa/wallerstein.html.

581 Vgl. E.-O. Czetnpiel/C.-C. Schweitzer, Weltpolitik der USA nach 1945. Einführung und Dokumente , 1989. S. 256 f.

III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 207

c) Die 70er Jahre: Das Abfedern von transatlantischen Rivalitäten und Friktionsfeldern

Nachdem sich bereits in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts andeutete, dass die Amerikaner auf europapolitische Misserfolge, Ausweitung des transatlantischen Konfliktpotentials und wachsenden Gestaltungswillen der zu neuem Selbstbewusstsein gelangten Europäer mit nachlassendem Interesse an der europäischen Integration reagierten582, scheint sich diese Haltung in der Europapolitik in den siebziger Jahren weiter verfestigt zu haben; zumindest zeich-nete sich damals der europapolitische Kurs der USA durch wachsende Distanz gegenüber den europäischen Partnern und ihren Integrationsbemühungen sowie durch eine insgesamt veränderte weltpolitische Prioritätensetzung aus. Dass dieser Kurswechsel auch einen Reflex auf die bisherigen Misserfolge in der Europapoli-tik darstellte, lässt sich an der Kongressrede Präsident Nixons vom Februar 1970 ablesen, in der er die Grundlinien seines neuen Ansatzes in der Europapolitik vorstellte:

..Die Struktur Europas [ . . . ] ist grundsätzlich die Aufgabe der Europäer. Wir können Europa nicht vereinigen, und wir glauben nicht, dass es nur einen Weg zu diesem Ziel gibt. Wenn die Vereinigten Staaten sich in früheren Regierungsperioden zum eifrigen Anwalt machten, dann schadete dies mehr dem Fortschritt, als es ihm half. Wir glauben, dass wir den Prozess der europäischen Einigung nicht nur durch unsere Rolle in der Nordatlantischen Allianz und durch unsere Beziehungen zu europäischen Institutionen unterstützen können, sondern ebenso durch unsere bilateralen Beziehung zu den verschiedenen Staaten Europas. Für die weitere Zukunf t werden diese Beziehungen die wesentlichen transatlantischen Bindungen darstellen f . . . ) " 5 "

Dies bedeutete nichts anderes, als dass die Administration der Vereinigten Staaten zwar weiterhin das Ziel einer europäischen Vereinigung unterstützte, sich aber von ihrer einstmaligen Rolle als Antreiber und Impulsgeber des europäischen Integrationsprozesses nunmehr endgültig verabschiedet hatte. Stattdessen zogen sie es vor, die innereuropäischen Entwicklungen nur noch indirekt über ihre bilateralen Beziehungen zu den einzelnen Mitgliedsländern der Gemeinschaft mehr zu begleiten als zu beeinflussen.

Die Wendung in der Europapolitik der USA war Ausfluss eines sich seit En-de der sechziger Jahre abzeichnenden grundlegenden Richtungswechsels in der amerikanischen Außenpolitik, der in hohem Maße ökonomisch motiviert war. Während die US-Wirtschaft stagnierte bzw. in eine Rezession fiel, stiegen die

582 Siehe auch J. G. Giauque. Grand Designs and Visions of Unity. The Atlantic Powers and the Reorganization of Western Europe. 1 9 5 8 - 1 9 6 3 , 2002.

583 R.M. Nixon. U.S. Foreign Policy for the 1970's. A New Strategy for Peace. Bericht des Präsidenten an den Kongress. Washington 1970. zit. nach M.J. Hillenbrand. Die USA und die EG. Spannungen und Möglichkeiten, in: K. Kaiser/H.-P. Schwarz (Hrsg.), Amerika und Westeuropa. Gegenwarts- und Zukunf tsprobleme. 1977. S. 288 ff.. 300.

208 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Kosten des weltpolitischen Engagements der USA ins Unermessliche. Die amerika-nischen Militärausgaben im Ausland (insbesondere während des Vietnamkriegs), umfangreiche Auslandshilfen sowie beträchtliche wirtschaftliche Investitionen der Amerikaner in Europa hatten den US-Staatshaushalt arg strapaziert. Kapitalab-flüsse ins Ausland und eine dramatische Abnahme der Goldreserven brachten die amerikanische Währung zunehmend in Schwierigkeiten, was schließlich dazu führte, dass die Regierung Nixon im August 1971 völlig überraschend die Gold-bindung und Konvertibilität des Dollars aufhob (und damit das von den USA etablierte Weltwährungssystem von Bretton Woods beendete).584

Ausbildungen dieser Art signalisierten augenfällig, dass sich zumindest im wirt-schaftlichen Bereich die überragende Position der USA zu relativieren begann. Auch wenn die dominante Weltmachtstellung der Vereinigten Staaten weiterhin unangetastet blieb, war nicht mehr zu übersehen, dass die westeuropäischen Staa-ten wirtschaftlich inzwischen weit fortgeschritten sich im Aufholprozess befanden und sich anschickten, das globale wirtschaftliche Kräfteverhältnis zu verändern. Vor allem die Staaten der Europäischen Gemeinschaft entwickelten ein der US-Wirtschaft nahezu ebenbürtiges Wirtschaftspotential. Es war deshalb wenig ver-wunderlich. dass die Europäer nun versuchten, die neu gewonnene wirtschaftliche Stärke dazu zu nutzten, ihre Unabhängigkeit gegenüber der „hegemonialen Füh-rungsmacht" jenseits des Atlantiks auszuweiten.585

Erwartungsgemäß reagierte die US-Administration auf derartige Bestrebungen äußerst verstört. Dies lässt sich unter anderem an den Reaktionen der amerikani-schen Regierung auf das Streben der EG-Mitglieder nach Harmonisierung ihrer Außenpolitik im Rahmen der Europäischen Politischen Zusammenarbeit (EPZ) erkennen. So hatte der von diesem Vorhaben eher verunsicherte US-Außenmi-nister H. Kissinger zwar stets eine stärkere außenpolitische Zusammenarbeit der Europäer eingefordert und bei diesen moniert, dass er nicht wisse, welche „Te-lefonnummer" er in Europa bei einer Verständigung im Krisenfall anrufen solle, andererseits machte er aber keinen Hehl daraus, dass ihm eine „freischwimmende

5S4 Ausführl icher G. Lundestad, „Empire" by Integration. The United States and Euro-pean Integration 1 9 4 5 - 1 9 9 7 . 1998, S . 9 6 f f . : W. Link. Historische Kontinuitäten und Dis-kontinuitäten im transatlantischen Verhältnis - Folgerungen für die Zukunf t , in: M. Kahler / W.Link (Hrsg.). Europa nach der Zei tenwende - die Wiederkehr der Geschichte, 1995, S. 49 ff., 122 f.: E.-O. CzempieUC.-C. Schweitzer. Weltpolitik der USA nach 1945. Einfüh-rung und Dokumente , 1989. S. 257, 313 f.

? s 5 Neben dem Bestreben, sich etwa durch währungspoli t ische Koordinierungsbemü-hungen (europäische Währungsschlange, Block-Floating gegenüber dem Dollar) von den gravierenden Problemen der US-Wir tschaf t abzukoppeln, zielten die europäischen Eman-zipationsversuche auch auf eine größere Eigenständigkeit des sich vereinigenden Europa in der Weltpolitik - ohne allerdings die enge Anlehnung an die westliche Vormacht in Sicherheitsfragen sowie die feste Einbindung in die NATO in Frage zu stellen (ohne poin-tierte „Ausbruchsversuche" Frankreichs außer Acht zu lassen), vgl. auch W. Link (1995), S. 123 ff.

III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 209

europäische Außenpolitik" überaus suspekt war.586 Nixon stufte die auf politische Eigenständigkeit und Gleichberechtigung mit den USA zielenden Bestrebungen der EPZ in seiner Chicagoer Rede von April I974?s7 gar als „ganging up" der Europäer gegen die Vereinigten Staaten ein und stellte angesichts der auch auf anderen Feldern588 sichtbar gewordenen Differenzen in aller Öffentlichkeit die Bündnisfrage. Rigoros lehnte er eine weitere Kooperation auf sicherheitspoli-tischem Gebiet für den Fall ab. dass die Europäer ihren wirtschaftlichen und politischen Konfrontationskurs weiterhin fortsetzten. Statt den Europäern größere politische Unabhängigkeit zuzugestehen, verfolgten die USA unter dem Eindruck der geschilderten ökonomischen Probleme seit Anfang der siebziger Jahre das Ziel, die Kosten für ihr weltpolitisches Engagement zu reduzieren, ohne international an Einfluss zu verlieren und die hegemoniale Grundstruktur des transatlantischen Bündnissystems aufzugeben. In diesem Sinne ist auch der Entwurf Kissingers für eine Atlantik-Charta von 1973 zu verstehen, in der er eine Neuordnung der transatlantischen Beziehungen vorschlug, in der die bisherige Aufgabenteilung (globale Rolle der USA, regionale Zuständigkeiten der europäischen Staaten) zwar grundsätzlich beibehalten, die Europäer aber als Gegenleistung für die amerika-nische Sicherheitsgarantie wirtschaftliche Zugeständnisse machen und einen Teil der gewaltigen militärischen Lasten übernehmen sollten.

Die amerikanische Strategie, die sicherheitspolitische Abhängigkeit der euro-päischen Staaten von der westlichen Schutzmacht gegen die wirtschaftlichen und politischen Eigenständigkeitsbestrebungen der Europäer auszuspielen, erwies sich schließlich als erfolgreich - nicht zuletzt auch deshalb, weil die im Zuge der Ent-spannungspolitik forcierten bilateralen amerikanisch-sowjetischen Verhandlungen die Gefahr einer Durchlöcherung des amerikanischen Schutzschilds für Europa heraufzubeschwören drohten. Auf Vermittlung der Bundesrepublik Deutschland, die als Frontstaat im Kalten Krieg existenziell auf den militärischen Schutz der USA angewiesen war, lenkten die Europäer schließlich ein.

Ein Schlüsselmoment ereignete sich auf der Konferenz auf Schloss Gymnich bei Bonn im April 1974: dort sicherten die Europäer zu. dass die USA bei EPZ-Be-schlussfassungen. die amerikanische Interessen berühren, zu konsultieren sind. Die im Juni 1974 in Brüssel unterzeichnete „Atlantische Deklaration" verpflichtete die europäischen Bündnispartner als Gegenleistung für die amerikanische Sicherheits-

5S6 Ein Umstand, den H. Kissinger nunmehr in persönlichen Gesprächen mit dem Verf. mehrfach dementiert hat.

587 Zitiert nach W. Link (1995). S. 124f; vgl auch B. Neuss, Der ..gütige Hegemon" und Europa. Die Rolle der USA bei der europäischen Einigung, in: R.C. Meier -Walser /B. Rill (Hrsg.). Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität. 2001. S. 155 ff.. 165.

5 8 8 S o z . B. in der Diskussion über die als Folge der ersten Ölkrise notwendig gewordenen Änderungen der energiepolitischen Strategie des Westens.

589 Dazu E.-O. Czempiel/C.-C. Schweitzer, Weltpolitik der USA nach 1945. Einführung und Dokumente , 1989. S. 257. 313.

210 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

garantie zur Übernahme eines angemessenen Anteils an den Verteidigungslasten. Zudem verständigten sich die NATO-Partner darauf, die „Sicherheitsbeziehungen durch harmonische Beziehungen auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet" zu stärken.590

Obgleich es den Amerikanern somit aufgrund ihres in der Blockkonfrontation nicht zu kompensierenden militärischen Potentials gelungen war. die geopoliti-schen Eigenständigkeitsbestrebungen der europäischen Staaten einzulangen und machtstrategisch ihre hegemoniale Vorherrschaft im Atlantischen Bündnis weiter-hin zu behaupten, entwickelte sich dank der organisatorischen Ausweitung und institutionellen Verfestigung der europäischen Wirtschaftmacht in der EG eine Dynamik, die die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den USA und Westeu-ropa im Sinne einer weitgehend gleichrangigen Partnerschaft umformte.591 Auch die währungspolitischen Koordinierungsbestrebungen der europäischen Staaten, die 1978/79 mit der Errichtung eines Europäischen Währungssystems ihren vor-läufigen Höhepunkt erreichten, widerspiegelten deren Bestreben, die Rahmenbe-dingungen ihrer wirtschaftlichen Entwicklung autonom zu gestalten. Dass das Wirtschaftspotential des nunmehr zur „ökonomischen Supermacht" aufgestiege-nen Westeuropa auf kurz oder lang auch das weltpolitische Gewicht der Europäer stärken musste, ließ sich schon gegen Ende der siebziger Jahre absehen. So gab es in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts auch von amerikanischer Seite verstärk-te Bemühungen, die europäischen Partner in wichtigen internationalen Fragen zu konsultieren und mit ihnen bei der Lösung anstehender Probleme zu koope-rieren. Die damit verbundene zunehmende Anerkennung des machtpolitischen Gewichts Westeuropas durch die USA ließ sich unter anderem an der relativ unabhängigen europäischen Rolle während der KSZE-Verhandlungen seit Ende der siebziger Jahre sowie an der gemeinsam von den USA und den drei europäi-schen Führungsmächten Großbritannien, Frankreich und Deutschland getroffenen Grundsatzentscheidung über den NATO-Doppelbeschluss im Januar 1979 erken-

d) Die 80er Jahre: Konflikt und Kooperation

Die wesentliche Prägung des transatlantischen Verhältnisses zu Beginn der achtziger Jahre erwuchs aus den Auseinandersetzungen um ein angemessenes

590 Vgl. German Chancellor Schmidt and French Pr ime Minister Chirac at the North Atlantic Council Meeting in Brüssels. 1974 06 26 - F O T -. in: H . G . L e h m a n n (Hrsg.), Deutschland-Dokumentat ion. 1. Januar 1 9 4 5 - 3 1 . Januar 2004. 2005.

591 Ihren sichtbarsten Ausdruck fand der Aufstieg Westeuropas als gleichberechtigter Partner in der Weltwirtschaft in den seit 1975 jährlich tagenden Weltwirtschaftsgipfeln, an denen neben den USA, Japan und Kanada auch die vier europäischen Führungsmächte (Frankreich. Großbri tannien. Italien und Deutschland) teilnahmen.

592 Vgl. auch E. Forndran, Der NATO-Doppelbeschluß - oder: Die Diskussion über die Nachrüstung, in: Gegenwartskunde 3 /1981 . S. 293 ff.

III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 211

Vorgehen angesichts der seit Ende der siebziger Jahre wieder einsetzenden Hoch-rüstung der beiden Militärblöcke. Obwohl zwischen Westeuropäern und Ameri-kanern Einigkeit darüber bestand, dass eine Verschiebung des militärischen und machtpolitischen Gleichgewichts, das sich aus der massiven sowjetischen Aufrüs-tung im eurostrategischen und interkontinentalen Bereich sowie der militärischen Intervention der Sowjetunion in Afghanistan ergab, nicht hingenommen werden durfte, stritten die westlichen Verbündeten dies und jenseits des Atlantiks heftig über die richtige Antwort auf die neuen Herausforderungen.

Während die westeuropäischen Staaten, insbesondere die Bundesrepublik, an der Entspannungspolitik festhalten wollten, zogen die Vereinigten Staaten einen strikten Konfrontationskurs vor, der auch Sanktionen gegen die Staaten des War-schauer Paktes nicht ausschloss. Auch befürchteten die Europäer erneut, dass die in dieser Phase aufgenommenen bilateralen Abrüstungsverhandlungen zwischen der Sowjetunion und den USA eine Durchlöcherung des amerikanischen Schutz-schildes für Europa zum Ergebnis hätten.591 Die Amerikaner begriffen vor allem in der Amtszeit von Präsident R. Reagan die Notwendigkeit, die militärische Stärke des Westens wiederherzustellen, als Chance, anstelle des eben erst eingeführten kooperativen Führungsstils ihre frühere hegemoniale Vormachtstellung in der Allianz wiederherzustellen und ihre transatlantischen Partner zur Gefolgschaft und stärkeren Beteiligung an den sicherheitspolitischen Kosten zu verpflichten.594

Die Europäer reagierten auf die neuerlichen hegemonialen und unilateralen Neigungen der Amerikaner mit einer Intensivierung und Ausweitung der westeu-ropäischen Kooperation und eigenständigen Initiativen gegenüber dem Ostblock. Ihre Bemühungen, die während der Entspannungspolitik der siebziger Jahre auf-gebauten Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zum Osten fortzuführen und die rüstungspolitischen Konflikte mit dem Warschauer Pakt durch Kompromisslösun-gen auf dem Verhandlungsweg zu lösen, widersprachen zwar der amerikanischen Kon fron tat ions- und Sanktionsstrategie (und stießen daher ein ums andere Mal auf den energischen Widerspruch der USA). Die transatlantischen Gegensätze und Rivalitäten in diesen wie in anderen Fragen bestärkten aber in Europa die Einsicht, dass die europäischen Interessen nur durch ein einiges und starkes Europa wirk-

Vgl. m.w. N. W. Link. Historische Kontinuitäten und Diskontinuitäten im transatlan-tischen Verhältnis - Folgerungen für die Zukunf t , in: M. Kahler /W. Link (Hrsg.). Europa nach der Zeitenwende - die Wiederkehr der Geschichte, 1995, S. 49 ff., 132 f.

594 Unter anderem drohten sie ihren europäischen Bündnispartnern für den Fall, dass diese nicht ihr konventionelles Verteidigungspotential deutlich stärkten (was den sofortigen Rückgriff auf die nukleare Option im Verteidigungsfall unnötig machen sollte), eine drastische Reduzierung der amerikanischen Truppen in Europa an. Auch die von den Amerikanern vorgelegten neuen Konzepte für einen auf Europa beschränkten Krieg mit konventionellen und nuklearen Waffen widersprachen angesichts der damit verbundenen riesigen Zerstörungen (vor allem in der Bundesrepublik) den existenziellen Interessen der europäischen Verbündeten, vgl. ausführlich W. Link (1995), S. 135 f.

212 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

sam vertreten werden können, und forcierten somit die integrationspolitischen Bemühungen der westeuropäischen Staaten. In Anlehnung an die von H. Schmidt formulierte Devise „Europa muss sich selbst behaupten"595 , revitalisierten die Europäer auf verteidigungspolitischem Gebiet die WEU, bekundeten mit der Un-terzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte den Willen, bis 1993 einen einheitlichen Binnenmarkt zu schaffen (was bei den Amerikanern sogleich Be-fürchtungen vor einer sich abschottenden „Festung Europa" heraufbeschwor), und weiteten die deutsch-französischen Kooperation im militärischen Bereich aus, was auf erhebliches Misstrauen in Washington stieß. Auch ihre Anstrengungen. Westeuropa wirtschafts- und währungspolitisch von den negativen Auswirkungen der Reagan sehen Wirtschaftspolitik abzukoppeln, bestätigten die bereits in den siebziger Jahren erkennbare Tatsache, dass die Fortschritte bei der europäischen In-tegration weniger von den Konsultationen und der Zusammenarbeit mit den USA bewirkt wurden als vielmehr von den Reaktionen der Europäer auf Gegensätze und Konflikte mit der Vormacht des transatlantischen Bündnisses.596

Allerdings: das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und Westeuropa war auch in den achtziger Jahren nicht lediglich von Gegensätzen und Streit be-stimmt. So erfolgte etwa die Stationierung der Mittelstreckenraketen (Pershing II, Marschflugkörper) in Westeuropa zu Beginn des Jahrzehnts mit einhelliger Zustimmung der europäischen Regierungen (jedoch gegen den Widerstand großer Teile der Bevölkerung in den europäischen Staaten), da hiermit eine Abkoppelung der interkontinentalen von der europäischen Abschreckung wirksam unterbunden wurde. Insgesamt war es der atlantischen Allianz mit der Nachrüstung gelun-gen, ihre militärstrategische Handlungsfälligkeit unter Beweis zu stellen und ihr machtpolitisches Gewicht zu stärken. Überhaupt ist festzustellen, dass die Kon-fliktbereitschaft gegenüber den Amerikanern unter den europäischen Regierungen sehr unterschiedlich ausgeprägt war. Insbesondere die deutsche Regierung unter Bundeskanzler H. Kohl und Außenminister H.-D. Genscher hatte an ihrer un-unumstößlichen Loyalität zur NATO und zu den Vereinigten Staaten nie einen Zweifel aufkommen lassen und war deshalb als Vermittler und Balancefaktor bei Streitigkeiten innerhalb der Allianz geradezu prädestiniert.

Die 1985 erfolgte Übernahme des Amts des Generalsekretärs der KPdSU durch M. Gorbatschow und die von ihm eingeleitete Entspannungspolitik gegenüber dem Westen hatte dann auch eine spürbare Klimaaufbesserung innerhalb des westlichen Bündnisses zur Folge. In den nun einsetzenden Abrüstungsverhandlungen mit den Warschauer-Pakt-Staaten griffen die Bündnispartner wieder verstärkt auf kollektive Beratungs- und Entscheidungsmechanismen zurück. Auf dieser Basis

595 Eine wiederkehrende These des Altkanzlers; zuletzt H. Schmidt. Die Selbstbehaup-tung Europas. 2002.

596 So auch G. Lundestad, The United States and Western Europe since 1945. From . .Empire" by Integration to Transatlantic Drift , 2003, S. 232.

III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 213

gelang es im Rahmen der KSZE-Verhandlungen, den Osten durch Abbau seiner überlegenen konventionellen Streitkräfte zur Aufgabe seiner Invasionsfähigkeit zu bewegen und die Grundlagen für eine gesamteuropäische Friedensordnung nach dem Ende des Ost-West-Konflikts zu schaffen.

Zudem schuf das einheitliche Auftreten der transatlantischen Allianz im Umfeld der Verhandlungen über eine Vereinigung der beiden deutschen Staaten nach dem annus mirabilis (Häberle) mit dem Fall der Mauer, insbesondere die (mit Ein-verständnis der Bundesrepublik) gegenüber der Sowjetunion letztlich erfolgreich erhobenen Forderung nach einer unbedingten Einbindung eines wiedervereinigten Deutschlands in das westliche Bündnis (als wirksamer Schutz vor möglichen deut-schen Sonderwegen oder einer kontinentalen deutsch-russischen Blockbildung) eine der wesentlichen Voraussetzungen für die internationale Zustimmung zur Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990.597

e) Die Folgejahre nach 1989/90 sowie ein Ausblick

Auch nach Ende des OstAVest-Konflikts setzte sich die bereits seit den sechziger Jahren konstatierte ambivalente Haltung der USA gegenüber den europäischen Integrationsbestrebungen weiter fort. Zwar haben die USA die Gleichberechtigung der Europäischen Union auf wirtschaftlichem Gebiet grundsätzlich akzeptiert und die gewachsene europäische Wirtschaftskraft für eigene ökonomische Interessen zu nutzen gewusst, aber allzu häufig münden wirtschaftlicher Konkurrenzdruck und Rivalitäten in politische Streitigkeiten, die sich etwa in politisch forcier-ten Handelskriegen (Hähnchen- und Bananenkrieg, Genmais-Konflikt etc.) oder Streitigkeiten über die Besetzung von Führungspositionen in Weltwirtschaftsin-stitutionen äußern.598

Im Bereich der internationalen Politik haben die globalen Entwicklungen seit 1990 gezeigt, dass der transatlantischen Gemeinschaft bei der internationalen Konfliktregulierung und Aufrechterhaltung einer stabilen internationalen Ord-nung nach wie vor eine gewichtige Rolle zukommt und dass für eine angemessene Funktionswahrnehmung dieser internationalen Rolle das machtpolitische Gewicht der Europäer noch stärker anwachsen muss. Die Ansicht wird auch von den Ame-rikanern geteilt, die deshalb bei den Europäern stets geeignete Maßnahmen zur effektiveren Wahrnehmung ihrer internationalen Aufgaben und Verpflichtungen angemahnt haben. Gerade weil die USA angesichts der neuen weltpolitischen Herausforderungen auf einen starken handlungsfähigen Partner angewiesen sind.

597 Hierzu mit dem interessanten norwegischen Blickwinkel G. Lundestad (2003), S. 228 ff.

598 Ausführl icher B. Neuss, Der ..gütige Hegemon" und Europa. Die Rolle der USA bei der europäischen Einigung, in: R .C . Meie r -Walse r /B . Rill (Hrsg.), Der europäische Gedanke. Hintergrund und Finalität, 2001, S. 155 ff., 165.

214 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

haben sie sich immer wieder darüber beklagt, dass die Europäer weder über wirksame Entscheidungsmechanismen noch über die richtigen außenpolitischen Instrumente verfügten, um zügig und konsequent auf internationale Krisen rea-gieren zu können. Andererseits haben die USA in den internationalen Krisen der jüngsten Vergangenheit den Europäern deutlich zu verstehen gegeben, dass sie im-mer dann. wenn es ernst wird und ihre vitalen Interessen betroffen sind, sich nicht das Heft aus der Hand nehmen lassen. Gerade die Administration von G. W. Bush hat mehrfach deutlich gemacht, dass die amerikanische Supermacht allenfalls bei Konflikten im regionalen Umfeld der Europäischen Union zur Kooperation bereit ist, ansonsten aber einer aktiven Rolle der Europäischen Union (etwa jüngst die „Kongo Mission EU FOR") eher reserviert, oftmals offen skeptisch gegenüber steht.

Die EU-Staaten haben ihrerseits zunehmend deutlich gemacht, dass sie die traditionelle Rollenverteilung im Bündnis, wonach die USA die großen Leitlinien vorgeben und den Europäern lediglich unterstützende Funktionen, z. B. bei der Finanzierung friedensstabilisierender Maßnahmen, zufallen, nicht mehr länger ge-willt sind hinzunehmen. Trotz der traditionellen Reserviertheit der USA gegenüber eigenständigen verteidigungspolitischen Vorstößen der Europäer, haben sie daher in den neunziger Jahren verstärkt (und gelegentlich allzu brachial - Stichwort „Pralinen Gipfer 2003) damit begonnen, ein eigenes geostrategisches Potenzial, weniger durch Belebung und Ausweitung der WEU als durch den Auf- und Aus-bau einer Gemeinsamen Europäischen Außen und Sicherheitspolitik (GASP) und insbesondere einer Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), aufzubauen. Auch für die internationale Entwicklung nach dem Ende der Block-konfrontation gilt somit, dass die Differenzen mit den Vereinigten Staaten über die Ausrichtung der Politik der westlichen Welt und die Erfahrung, (noch) nicht über ein ausreichendes außen- und sicherheitspolitisches Instrumentarium zur angemessenen und eigenständigen Bewältigung der wachsenden an Europa her-angetragenen internationalem Aufgaben und Herausforderungen zu verfügen, die Europäer zu verstärkten Integrationsanstrengungen und damit zur Stärkung ihres eigenständigen Gewichts in der Welt angespornt haben. Temporär aufkeimende Gegengewichtsphantasien haben sich zuletzt relativiert (insbesondere durch die wachsende Schwäche der Regierung Chirac in Frankreich und durch die Abwahl des deutschen Bundeskanzlers Schröder die beide als Haupttriebfedern einer „neuen" transatlantischen Emanzipationsbewegung zu sehen sind).599

Die immer häufiger und immer offener zu Tage tretenden Auseinandersetzun-gen und Brüche in den transatlantischen Beziehungen sind unter anderem auch

599 Vgl zu al ledem umfassend die Bundestagsreden des Verf. vom 5. 12.2002. vom 2 0 . 3 . 2 0 0 3 . vom 15. 10.2003. vom 23. 10.2003. vom 4 . 3 . 2 0 0 4 . vom 2 5 . 3 . 2 0 0 4 . vom 2 7 . 5 . 2 0 0 4 . vom 17.6. 2004. vom 26. 11.2004. 17.3. 2005 sowie vom 2 7 . 5 . 2 0 0 5 (hierzu die jeweiligen BT-Plenarprotokolle des Sitzungstages).

III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 215

Kennzeichen dafür, dass die internationale Ordnung auch 15 Jahre nach Ende des Kalten Krieges immer noch von bedeutenden Umwälzungsprozessen erfasst wird und die Re-Definition von Positionen und Rollen in der internationalen Politik immer noch nicht zu einem Abschluss gekommen ist. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der politischen wie wissenschaftlichen Kontroversen (auf beiden Seiten des Atlantiks!) befasst sich mit der Frage, welche Rolle ein sich vereinigendes Europa zukünftig im internationalen Mächtekonzert spielen wird. Während eine Richtung angesichts der großen Zukunftsaufgaben des 21. Jahrhunderts auch für ein stärker integriertes und machtpolitisch gewichtigeres Europa keine Alternative zur engen Anlehnung an das „amerikanische Empire" sieht, sprechen andere Positionen bis heute einem vereinigten Europa das Potential zu, ein partnerschaftliches Verhält-nis auf gleicher Augenhöhe zu den Vereinigten Staaten aufzubauen oder sich eben als Gegengewicht oder Konkurrent zu der derzeit einzigen „Supermacht"600 zu etablieren.

Bislang war Amerika eine europäische Macht, nicht lediglich eine Macht in Europa. Zukünftig wird dieser Umstand nur in dem Maße Geltung besitzen können, wie Europa für die Vereinigten Staaten so unentbehrlich ist wie umgekehrt.601 Die Europäer bedürfen, solange sie, mit oder ohne Verfassung keine real tragfähige Konstruktion (auch im militärischen Bereich) ausbilden, der USA unverändert als Schutz- und Garantiemacht. Ebenso als Gleichgewichtsstifter, wenngleich die Europäische Union zunehmend in diese Rolle selbst hineinzuwachsen scheint.602

3. Europäische Einflusssphären im amerikanischen Rechtsdenken - Schlaglichter

Eine wesentliche Ursache des Verkennens politischer wie rechtlicher Realitäten der USA liegt eventuell darin, dass sich Europäer wiederkehrend von vorder-

6 0 0 Die Entwicklungen Chinas und Indiens sind in diesem Kontext politisch wie wis-senschaftl ich aufmerksamer zu begleiten.

601 Ähnlich auch M. Stürmer. Europas Sicherheitsarchitektur wankt, in: DIE WELT. 11. Dez. 2001. S. 8.

" i : Beispielhaft seien nur die Friedens- und Vermit t lungsbemühungen unter „euro-päischer Flagge" im Nahen Osten oder etwa in Bosnien-Herzegowina genannt. Gleich-wohl ist es mittelfristig nicht ausgeschlossen, dass ein Verschieben der europäischen (Gleich?-)Gewichte eintritt. Grund h ier für ist zum einen die neue weltpolitische Bedeu-tung Russlands - u. a. wegen amerikanischer strategischer Bedürfnisse bei Raketenabwehr (NMD) , Proliferation und in Innerasien - zum anderen aber die europäische Energielage. Diese wird umso unsicherer, je mehr sich der Nahe Osten in unvereinbaren Interessen und Konflikten verzettelt. Sollten die Vereinigten Staaten in Reaktion auf weltpolitische Erfor-dernisse und europäische Selbstmarginalisicrung einmal aufhören, tatsächlich europäische Macht zu sein, ist auch in diesem Kontext die neue Rolle Russlands zu beachten, das sich in einer solchen Situation Deutschland annähern könnte. Letzteres ließe Distanzierungen von Paris und London befürchten.

216 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

gründigen Identitäten und formalen Parallelen der Herrschaftssysteme diesseits und jenseits des Atlantiks täuschen lassen. Sie neigen dazu, Varianten desselben Herrschaftsmodus zu identifizieren, wo tatsächlich Struktur- und Funktionsunter-schiede der politischen Institutionenordnungen vorhanden sind.

Ableitbar ist dieses Fehlurteil auch aus einer gewissen Ambivalenz mit der die amerikanischen Verfassungsväter die Schaffung ihrer Republik ins Werk setz-ten. Sie gingen einerseits von weithin bekannten Ideen und Einrichtungen des „abendländisch-europäischen Kulturkreises" aus. So nutzten sie sowohl exakte Kenntnisse der politischen Philosophie seit den Tilgen der Antike oder der po-litischen Aufklärungsliteratur des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts in Europa sowie ihr Wissen über die Strukturen und Funktionsweisen des britischen Regierungssystems, die mannigfaltig die politischen Ordnungsverhältnisse in den amerikanischen Kolonien geprägt hatten. Man arbeitete mit politischen Begriffen, die aus dem Fundus der Tradition stammten und die sie teilweise auch über den Atlantik in die „Neue Welt" übernahmen. Gleichwohl nutzten sie all diese Kennt-nisse. Vorgaben und Begriffiichkeiten nicht lediglich zur Imitation europäischer Modelle, sondern kreativ zur Schaffung neuer, durchaus revolutionärer Institutio-nen. An dieser Stelle sei nur - und undifferenziert hinsichtlich sprachlicher wie inhaltlicher Unterschiede - auf den Föderalismus als amerikanische Erfindung im Bereich des Staatsrechts erinnert.

Und selbst wo die Verfassungsväter Ideen und Einrichtungen aus Europa über-nahmen (etwa den Gedanken der Repräsentation), gewannen diese in einer völlig neuartigen Umgebung spezifisch amerikanische Charakteristika, die mit europäi-schen Modellen kaum noch zu vergleichen waren. A. de Tocqiieville hat in seinem klassischen Werk „Über die Demokratie in Amerika" (1835) an zahlreichen Bei-spielen den Nachweis geführt, wie die eigentümliche „Ausgangslage" der „Neuen Welt", wie ihre Glaubensbekenntnisse das Überkommene selbst dort veränderten, wo man es zu bewahren suchte, wie etwa allein schon das „Dogma der Volks-souveränität" und das Gleichheitsprinzip überkommene Herrschaftseinrichtungen grundlegend veränderten. Der US-Historiker F.J. Turner meinte ähnliches, als er um die Wende zum 20. Jahrhundert die offene Grenze, das Erlebnis der Weite des Westens und die Erfahrung der Ungewißheit für die gesamte politisch-soziale Entwicklung der USA (mit)verantwortlich machte:

„Vom Beginn der Besiedlung Amerikas an hat die Region der Grenze ständig ihren Einfluß auf die amerikanische Demokrat ie ausgeübt [ . . . ] Die amerikanische Demo-kratie ist im Grunde das Ergebnis der Erfahrungen des amerikanischen Volkes in der Auseinandersetzung mit dem Westen. Die westliche Demokratie fördert während der ganzen früheren Zeit die Entstehung einer Gesellschaft , deren wichtigster Zug die Frei-heit des Individuums zum Aufstieg im Rahmen sozialer Mobilität und deren Ziel die Freiheit und das Wohlergehen der Massen war. Diese Vorstellungen haben die gesamte amerikanische Demokratie mit Lebenskraft erfüllt und sie in scharfen Gegensatz zu den Demokratien der Geschichte gebracht und zu den modernen Bemühungen in Europa, ein künstliches demokratisches Ordnungssystem mit Hilfe von Gesetzen zu errichten."6 0 '

III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 217

Viele Europäer haben die Eigentümlichkeiten des amerikanischen Herrschafts-systems missverstanden, da sie ihm, von vordergründigen Parallelen der Regie-rungsweisen diesseits und jenseits des Atlantiks getäuscht, mit Vorstellungen und Begriffen begegneten, die ihren eigenen Verfassungsordnungen entstamm-ten. Die Strukturprinzipien der parlamentarischen Regierungssysteme europäisch-deutscher Prägung unterscheiden sich allerdings erheblich von jenen der amerika-nischen Präsidialdemokratie.

Unabhängig davon, dass in diesen politischen Systemen Parlamente an den staat-lichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen teilhaben, trennt sie doch vieles61": im Rahmen der polity. der Institutionen. Strukturen und konstitutiven Normen ebenso wie im Bereich derpolitics, wie im anglo-amerikanischen Rechts-und Kulturkreis die politischen Prozesse umschrieben werden. Diese Unterschiede schlagen sich notwendigerweise auch in der Sphäre der policy, bei der Planung und Durchführung konkreter politischer Gestaltungsaufgaben, nieder.

Allerdings: Lousiana übernahm kurz nach seiner Aufnahme in die Union Ge-setzbücher nach französischem Vorbild, u.a. den Code Civil aus dem Jahre 1808. Erfolglos blieb dagegen ein Versuch deutschstämmiger Siedler 1794/95 in Pennsylvania und Virginia, die Gesetze der Union auch in deutscher Sprache zu veröffentlichen.605

4. Inkurs: Teilaspekte einer Europäischen Rechtskultur, Europaverständnis

Europas Werteordnung ist im Besonderen von drei Grundgedanken bestimmt: Personalität, Solidarität und Subsidiarität. Diese drei Faktoren verstehen sich aus-

6 0 3 Zitiert nach der Website der US-Amerikanischen Botschaft in Deutschland, vgl. usa .usembassy.de/etexts/gov/bpb/body_i_l99_l .html. Vgl. auch F.J. Turner. The Significance of the Frontier in American History. 1893 sowie ders. The Frontier in American History. 1920.

"u Bei der Definition des parlamentarischen Regierungssystems kommt es nicht in erster Linie darauf an. dass in dieser Herrschaf tsordnung ein Parlament existiert, das ver-fassungsmäßig festgelegte Befugnisse bei der politischen Willensbildung hat. Andernfalls würde Verschiedenes zu einer künstlichen Einheit zusammengefügt - die Präsidialdemo-kratie der USA ebenso wie das Direktorialsystem der Schweiz oder die parlamentarischen Regierungsformen westeuropäischer Staaten.

605 Vgl. hierzu D. Blumenwitz, E inführung in das anglo-amerikanische Recht. 6. Aufl. München 1998. S.20 Fn. 32, mit Verweis auf American State Papers. Miscellaneous, Washington D.C. 1834. I. S. 114. 222. Nachdem sich zwei Kongressausschüsse für den Antrag ausgesprochen hatten, wurde er im Plenum mit 42 zu 41 St immen abgelehnt. Laut Blumenwitz (1998). soll „die entscheidende St imme der Speaker of the House, der deutschstämmige F. A.C. Mühlenberg, abgegeben haben ( . . . ) . Dies w a r d e r Anlaß für die in Deutschland immer wieder hochgespielte Legende, Deutsch sei nur wegen des Votums eines Deutschen nicht die Amtssprache der Vereinigten Staaten geworden."

218 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestä t igung

drücklich als Säulen der Werteordnung, sie ziehen sich aber gleichzeitig (neben anderen Axiomen) durch alle Bestimmungsversuche einer europäischen Rechts-kultur. Vereinfacht ist unter Personalität zu verstehen, dass der Mensch als ein mit Würde ausgestattes Einzelwesen zu sehen ist, das zunächst für sich verantwortlich ist. Der Gedanke der Solidarität knüpft an das Verständnis des Menschen als Sozi-alwesen an, das in der Gemeinschaft lebt und Verantwortung trägt für diejenigen, die sich aus eigener Kraft nicht helfen können. Schließlich bedeutet Subsidiarität in diesem Kontext, dass die jeweils kleinere Einheit selbstverantwortlich alle die Herausforderungen erledigt, die sie selbst schultern kann und erst dann die nächst größere zu Hilfe kommt. Um dieses Werte- und Gedankengerüst dem Reich der Ideen zu entreißen, bedarf es jedoch der Verflechtung mit dem Recht. Auch im 21. Jahrhundert bleiben die Garanten des Rechts primär die Staaten. Sie allein können, bevor nicht ein stabiles, insbesondere vom einzelnen Bürger anerkanntes supranationales „Gebilde" etabliert ist, die latent drohende Gefahr einer Unter-höhlung des legitimen und friedensstiftenden Gewaltmonopols abwenden. Sie können dies umso besser, je mehr sie von einem Gemeinschaftsbewusstsein ihrer Bürger getragen werden. Ein Umstand im übrigen, der nicht anstrebenswertes Ziel einer überstaatlichen Vereinigung sondern bereits Grundlage hierfür sein muss und nirgends besser wachsen kann als aus den Staaten selbst heraus - von einem Gemeinschaftsbewusstsein ihrer Bürger getragen.

Die Vereinigten Staaten lieferten nach dem 11. September 2001 ein beeindru-ckendes Beispiel für den Willen, mit großem Selbstbewusstsein die notwendigen Aufgaben nach dem gewaltigen Schock gemeinsam zu erledigen. Auch im verein-ten Europa haben die Nationalstaaten ihre Berechtigung nicht verloren. Sie sind im Gegenteil gerade unentbehrlicher Bestandteil einer zu vermittelnden europäischen Kultur. Im positiv gemäßigten, wohlverstandenen Patriotismus der europäischen Nationen bündeln sich die gemeinsame Geschichte und Kultur unseres Kontinents. Die nationale Prägung ist für die Menschen dabei sowohl stabiles Bindeglied zu sich selbst wie zu den Nachbarländern (im wechselseitigen Verständnis) als auch Teil ihrer unverwechselbaren Identität. Kulturelle Verwurzelung und nationale Identität stehen dabei zur Weltoffenheit oder zu einem gemeineuropäischen Ver-ständnis nicht im Widerspruch. Im Gegenteil: Europa erfährt seine Prägung durch seine Nationen mit den ihnen eigenen Besonderheiten, aber Europa war auch immer gekennzeichnet vom gegenseitigen Durchdringen der Kulturen. Dieser ständige Prozess des Austausches - ohne Verlust der eigenen Identität - war nur möglich, weil er in ein gesamteuropäisches Wertesystem eingebunden war.

Die europäischen Völker und Staaten sind sich auch nicht annähernd so fremd, wie es die Vielfalt der Sprachen und die Unterschiede der Kulturen, des Alltags und der sozialen Standards vermuten lassen. Sie haben eine seit dem frühen Mittel-alter auf engem Raum und in ständiger Auseinandersetzung entwickelte (letztlich gemeinsame) Geschichte, und zwar nicht lediglich eine Kriegsgeschichte, sondern auch eine des ständigen Austauschs durch Handel, Migrationen, Missionierung

III. Der Einfiuss der amerikanischen Verfassung 219

und Kulturtransfer. Zum Kulturtransfer gehört auch die seit dem 12. Jahrhundert sich ausbreitende Schulung professioneller Juristen am wiederentdeckten römi-schen Recht sowie an dem für alle Lebensverhältnisse maßgeblichen Recht der römischen Kirche. Die Einübung der Rechtssprache, der Grundfiguren rechtlicher Ordnung und gewaltfreien Güteraustauschs, der differenzierten Verfahren und der typischen Verfahrensfehler bedeuteten eine außerordentliche, im Alltag kaum noch bewusste Zivilisationsleistung. Das Gleiche gilt für die Entwicklung des neuzeitlichen Völkerrechts, das sich aus Theologie und Naturrecht. Gewohnheits-recht und Doktrin langsam verfestigte und schrittweise positiviert wurde. Mit anderen Worten: Eine künftige Verfassung Europas kann auf einem durch lange Erfahrungen gesicherten Fundament aufbauen.606

5. Ein historisch gewachsenes „transatlantisches Verfassungsfundament"

Insgesamt ist ein transatlantisches „Verfassungsfundament" zu konstatieren. Dieses besteht zunächst aus internalisierten Sätzen einer vielfach gemeinsamen, in den Anfängen noch europäischen Rechtskultur.607 Es gibt nicht nur positives Ver-fassungsrecht. sondern auch unübersehbare historische Prinzipien. Diese besagen zum einen, dass die regierende Macht bei ihren Handlungen fundamentalen Be-schränkungen unterliegt. Sie hat sich ihnen anfangs durch Eide und Verträge, dann durch Fundamentalgesetze, Bills of Rights, Constitutions-Akte und schließlich durch jeweils moderne Verfassungen unterworfen. Zum anderen sind Verfassungs-gerichte geschaffen worden, die diese Beschränkungen kontrollieren.Mit anderen Worten: Die Idee der Bindung der Staatsgewalt an Grundrechte und die effektive Kontrolle durch gerichtsförmige Verfassungsorgane oder funktionale Äquivalente gehören heute zum Standard. Zudem erkennen die Staaten Grundprinzipien des Rechtsstaats an. also die Bindung an demokratisch zu Stande gekommene Nor-men. faires Verfahren und ausgebauten Rechtsschutz durch unabhängige Gerichte, Verhältnismäßigkeit von Anlass und Eingriff.608

Im 19. und 20. Jahrhundert ist die „egalitäre Demokratie" hinzugekommen. Es entstanden Sicherungen der politischen Partizipation aller mündigen Bürge-rinnen und Bürger, Verfahren der politischen und staatlichen Willensbildung,

6 0 6 Ebenso M. Stolleis, Europa nach Nizza. Die historische Dimension, in: N J W 2002. S. 1022 ff., 1023.

607 Es gibt bislang nur zaghafte Versuche, Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der europäischen und der amerikanischen . .Rechtskultur" zu erarbeiten, vgl. allerdings R. Zimmermann (Hrsg.). Amerikanische Rechtskultur und europäisches Privatrecht. 1995; ders., Roman Law, Contemporary Law. European Law, 1991 mit Blick auf die römisch-rechtliche Tradition.

608 So im Hinblick auf die europäische Verfassungsgeschichte auch M. Stolleis. Europa nach Nizza. Die historische Dimension, in: NJW 2002. S. 1022 ff., 1023.

220 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

einschließlich der Anerkennung von Parteien. So differierend die Reaktionen auf das mittelalterliche Postulat „quod omnes tangit ab omnibus approbetur" auch ausfallen mögen, es gibt auch hierfür „Leitsätze", die in der transatlantischen Verfassungsgeschichte der letzten zweihundert Jahre eingeübt worden sind: Jeder gesunde Erwachsene soll ohne Ansehung von Rang und Stand eine periodisch wiederkehrende Chance der politischen Mitbestimmung haben, und zwar durch allgemeine, freie, gleiche und geheime Abstimmung nach Mehrheitsprinzip, sei es über die Sachfrage selbst, sei es über die Wahl von Repräsentanten.609

Die institutionellen Arrangements, die den so ermittelten Volkswillen in einen annähernd handlungsfähigen Regierungswillen überführen, sind überaus vielfäl-tig, folgen jedoch weitgehend einem Grundmuster: Parteien als „Agenturen" zur Bündelung des Volkswillens, die Regierung als Exekutivorgan des Mehrheitswil-lens, die Opposition als politischer Gegner, das Parlament als Beschlussorgan und politische „Schaubühne". Unterschiedlich ist auf beiden Seiten des Atlantiks frei-lich das Verständnis von der Notwendigkeit einer Trennung von Staatsoberhaupt und Regierungschef. Wie eingespielt diese allgemeine Funktionsteilung mittler-weile auch auf europäischer Ebene ist, offenbaren bei aller Dringlichkeit einer neuen Gewichtsverteilung die dort gebildeten Organe (Parlament, Kommission, Ministerrat, Gerichte).

Zu den kraft historischer Langzeiterfahrung internalisierten Sätzen atlantischer Rechtskultur gehört nicht nur die vertikale Funktionsteilung, sondern auch die horizontale Ausgliederung von Aufgaben zur selbst verantwortlichen Erledigung. Dies hat seinen Ausgangs- (oder End-)punkt bei den Kommunen, gewinnt aber seine größte Bedeutung auf der mittleren Ebene semiautonomer „Teilstaaten", die zwar wesentliche Aufgaben dem Zentralstaat überlassen, aber doch im Bereich ihrer Kompetenzen als „Staaten" auftreten, mögen sie im europäischen „Gewand" Provinzen (Belgien. Niederlande), Regionen (Italien) oder Länder heißen. Gewiss sind die englischen Grafschaften, die französischen Departements und „Regio-nen", die spanischen Comunidades Autönomas. die schwedischen Provinzen (län), die ungarischen Komitate und die polnischen Wojewodschaften keine „Länder" im Sinne der deutschen oder „Staaten" (states) gemäß der amerikanischen Tradition. Was aber alle verbindet, ist der letztlich banale Grundgedanke, dass in größeren Staaten nicht alle Fragen am grünen Tisch in der Hauptstadt entschieden werden können. Für regionale, kulturelle, sprachliche oder ethnische Besonderheiten muss es Legitimationsstrukturen vor Ort geben, die sich in überschaubaren Einheiten aufbauen lassen. Das hat den geschichtlich unzählige Male bestätigten Vorteil, dass diejenigen Politiken, die traditional geformte Räume, spezifische Mentali-

609 Das schließt Minderheitenschutz durch intelligente Verfahren ein. etwa durch Garantien von Mandaten. Vetorechten. Wechsel im Vorsitz. Ausklammerung streitiger Themen und „Herunterzonen", Formelkompromisse und „praktische Konkordanzen", vgl. M. Stolleis (2002). S. 1023.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 221

täten. Bedürfnisse von ganzen „Landschaften", konfessionelle oder sprachliche Besonderheiten den Betroffenen zur eigenverantwortlichen Regelung überlassen, letztlich die effektiveren sind. So haben sich in den letzten Jahrzehnten auch alte europäische Zentralstaaten zu einer gewissen Diversifizierung ihrer Verwaltung bereitgefunden.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates (USA) bzw. der Verfassungsgeineinschaft (EU)

durch Verfassunggebung, Verfassungsinterpretation und Verfassungsprinzipien

Das Unterfangen einer (verkürzten) historischen Betrachtung der amerikani-schen und europäischen Verfassungsentwicklung erlaubt (und erfordert) die Her-vorhebung dreier Standpunkte, die mit unterschiedlichem Blickwinkel, aber einem Zielpunkt, der sich unter den Begriff „amerikanische bzw. europäische Verfas-sungskultur" fassen lässt, die Verfassungsgeschichte zu prägen wußten. Zum einen sind im Kontext der amerikanischen Verfassunggebung die Amendments als Zeugnis eines sich wandelnden gesellschaftlichen und politischen, gleichwohl fortentwickelnden kulturellen Umfelds zu nennen. Vollzogener Wandel und Fort-entwicklung sind in diesem Kontext nicht gleichzusetzen; vielmehr ist die stete Wandlungsfähigkeit erst Voraussetzung einer blühenden Kultur. Mit Blick auf die Europäische Union sind die Instrumente zur Änderung der Verträge sowie des Verfassungsvertrages näher zu betrachten. Als zweite Säule der Verfassungge-bung und Standpunkt im obigen Sinne lässt sich als eigentlicher Impulsgeber und Kontrolleur amerikanischer Verfassungswerdung der US-Supreme Court als „stän-diger Verfassungskonvent"61" und bedeutsamster Verfassungsinterpret ausmachen, auf europäischer Ebene ist die diesbezügliche Rolle des EuGH in einzelnen Punk-ten zu prüfen. Beide Gerichte nehmen gleichzeitig eine bedeutende Rolle für Entfaltung und Fortgang der jeweils verankerten Verfassungsprinzipien ein, die drittens als Grundgedanken und Strukturelemente eines Verfassungsstaates (USA) und einer Verfassungsgemeinschaft6" (Europäische Union) in einer Auswahl ei-nem Vergleich unterzogen werden. Zwischen Amendments, Gerichtshöfen und Verfassungsprinzipien findet sich schließlich eine höhere Schnittmenge, als dies die Verfassungstexte zunächst erahnen lassen.

61" Diese Bezeichnung wird Präsident W. Wilson zugeschrieben: „The Supreme Court is a constitutional Convention in continuous session" (zitiert nach E.S. Corwin/J. Peltason. Understanding the Constitution. 11. Aufl. 1988. S. 125: wiederkehrend auch in D. Kyvig, Explicit and Authentic Acts: Amending the U.S.Const i tu t ion. 1 7 7 6 - 1 9 9 5 , 1996; in der deutschsprachigen Literatur bereits: W. Haller, Supreme Court und Politik in den USA. Fragen der Justiziabilität in der höchstrichterlichen Rechtsprechung. 1972, S. 12.

611 Vgl. nur P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 645.

222 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

1. Gebundene Verfassunggebung - Wege zur Verfassungsergänzung und Verfassungsänderung

a) USA: Die Amendments als Abbilder einer Verfassungsergänzung - Spiegelung amerikanischer Kulturgeschichte

Die Gründungsväter schufen bewusst eine Verfassung, die schwer zu verändern, revidieren oder ergänzen sein sollte. Im festen Glauben an eine eherne Verfas-sungsstruktur. die ihrerseits den verankerten und sich entwickelnden Prinzipien den gebührenden Respekt sichern würde, gingen sie von einem lediglich begrenz-ten Spielraum für Änderungen aus. J. Madison unterstrich dieses Bewußtsein in The Federalist No.49, indem er die Verfassung nur anlässlich „certain great and extraordinary ocassions" irgendwelcher Modifikationen unterwerfen wollte. Tatsächlich vereinten seit der Verfassungsratifikation in mehr als zweihundert Jahren lediglich 27 vorgeschlagene Amendments die erforderlichen Mehrheiten im Kongress und den Staaten auf sich, wobei den ersten zehn Amendments, der Bill of Rights, insoweit ein Sonderstatus einzuräumen ist, als sie als untrenn-barer Bestandteil der Gründungsverfassung gesehen werden müssen und deren Aufnahme von Anfang an vorgesehen war.612

Die Amendments sind das Abbild unmittelbarer Verfassunggebung in Amerika, ihrer mehr als 200-jährigen Verfassungsgeschichte613 und lassen sich am ehes-ten als „Verfassungsergänzung" begreifen. Der Terminus „Verfassungsergänzung" ist angesichts des Umstandes, dass die Urfassung der amerikanischen Bundes-verfassung bislang keine Wortlaut-Änderungen, sondern vielmehr textliche Er-weiterungen erfuhr, sachgerechter als der inflationär gebrauchte Begriff der „Verfassungsänderung". Freilich wurden mit Hilfe der Amendments Anwendungs-bereiche einzelner Artikel geändert, die Gültigkeit einzelner Bestimmungen ge-gebenenfalls aufgehoben. Trotzdem wirkt in einer Gesamtschau jede Änderung letztlich solange ergänzend bis es tatsächlich zu einer Totalrevision kommt.

Die amerikanische Verfassung bleibt angesichts des Festhaltens an ihren Be-stimmungen damit Spiegelung ihrer Kulturgeschichte - im Gegensatz zu vielen anderen Verfassungen, die das Ringen um eine Fortentwicklung angesichts des revidierten Textes selten erkennen lassen. T. Hobbes sah bereits den Akt der Ver-

612 Vgl. auch . K. Locwenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959, S. 35.

613 Zur Geschichte der Amendments in großer Ausführlichkeit R. K. Newman (ed.), The Constitution and its Amendments , 4 Vol., 1999. Den Bezug zum politikwissenschaftlichen Ansatz arbeitet J. R Vile, The Constitutional Amending Process in American Political Thought . 1992. heraus. Siehe auch die Quel lensammlung von ders.(cd.), The Theory and Practice of Constitutional Change in America : a Collection of Original Source Materials, 1993.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 223

fassunggebung in Kulturstaaten eher als einen Akt der Verfassungweitergebung.614

Diese These wurde in den Vereinigten Staaten von Amerika auch in formeller Hinsicht erfüllt.

aa) Artikel V der Bundesverfassung -ein Faktor der Stabilität und Flexibilität

Darüberhinaus wurde mit dem Instrument der Amendments ein Gerüst geschaf-fen. das den so gegensätzlich erscheinenden, tatsächlich jedoch einander streng bedingenden Säulen jeder Rechtsordnung - rechtliche Stabilität und notwendige Anpassungsfähigkeit zum gesellschaftlich bedeutsamen Wechsel - die Balance und Beständigkeit gab, die in der vorhergegangenen Geschichte oftmals erstrebt und letztlich nie im erforderlichen Maße erreicht wurde. Was also bereits im alten Testament im Buch Esther und beim Propheten Daniel angesichts der kaum intendierten Auswirkungen unabänderlicher Gesetze von Medern und Persern angedeutet worden war615, was schon Plutarch bezüglich des schnellen Wandels der ursprünglich für hundert Jahre niedergelegten Gesetze Solons festgehalten hatte616 und was schließlich Zeitgenossen der amerikanischen Verfassungsväter in philosophischen und politischen Schriften forderten6 7 - die Liaison von Tradition

614 Vgl. T.Hobbes. Leviathan. 1651, chap. 26. P.Kirchhof greif t diesen Gedanken ebenfalls auf in ders., Die Steuerungsfunktion von Verfassungsrecht in Umbruchsituationen, in: J.J. Hesse u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsituationen. 1999. S. 31 ff.. 49.

6 1 5 Siehe das Buch Esther Kap. 1. 19; 2 ff. sowie Daniel. Kap. 6. 9. 6 1 6 Vgl. in englischer Übersetzung Plutarch. The Rise and Fall of Athens: Nine Greek

Lives. 1960. S. 67 ff. 617 Einen profunden Überblick über die amerikanischen Ansätze im 18. Jahrhundert gibt

J.R. Vile. Ideas of Legal Change: Precursors of the Constitutional Amending Process. in: 9 Midsouth Pol. Sei. Journal (1988). S. 64 ff. Bemerkenswert sind in diesem Kontext auch die frühen Gedanken des Quäkers W. Penn, dessen Entwurf der Charter of Delaw are (1701) unter dem Eindruck der Forderungen nach Religions- und Gewissensfreieit sowie angesichts der banalen Erfahrung von der Sterblichkeit der Menschen bereits einen „amending-process" vorsah. Penn formulierte, dass .,no Act, Law or Ordinance whatever" shall „alter, change or diminish the Form or Effect of this Charter [ . . . ] without the Consent of the Governor [ . . . ] and Six Parts of Seven of the Assembly I . . . ] . " Darüberhinaus fand sich in der Charter eine Garantie, dass „the First Article of this Charter relating to liberty of Conscience. and every Part and Clause therein I . . . ] shall be kept and remain. without any Alteration, inviolably for ever", zitiert nach F. Thorpe. The Federal and State Consti tutions. Colonial Charters and Other Organic Laws of the States. Territories, and Colonies Now or Heretofore Forming the United States of America, 1909. S . 5 6 0 . In einigen der einzelstaatlichen Verfassungen, die nach der Unabhängigkeitserklärung geschaffen wurden, war die Möglichkeit zukünft iger Modifizierungen auf Änderungen der staatsorganisatorischen Struktur beschränkt, wohingegen die meist separat verabschiedeten „Bill of Rights" meist für unabänderlich erklärt wurden, vgl. R. Taylor. A New Look at Article V and the Bill of Rights, in: 6 Ind. L. Rev. (1973). S. 699 ff.

224 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

und Moderne, die Verbindung eines erhaltenden mit einem wandlungsfähigen Ele-ment - fand mit der Möglichkeit der Verfassungsergänzung mittels Amendments in Art. V der Verfassung von 1787 erstmalig Einzug in eine Rechtsordnung:

„The Congress, whenever two thirds of both Houses shall deem it necessary. shall propose Amendments to this Constitution, or. on the Application of the Legislatures of two thirds of the several States, shall call a Convention for proposing Amendments , which. in ei ther Case, shall be valid to all Intents and Purposes. as Part of this Consti tution, whcn ratified by the Legislatures of three fourths of the several States, or by Conventions in three fourths thereof. as the one or the other Mode of Ratification may be proposed by the Congress : Provided that no Amendment which may be made prior to the Year One thousand eight hundred and eight shall in any Manner affect the first and fourth Clauses in the Ninth Section of the first Article; and that no State, without its Consent , shall be deprived of its equal Suffrage in the Senate."

Über dem Verfassungskonvent von Philadelphia schwebte - wie erwähnt - ste-tig der Geist des Kompromisses. Hinsichtlich der Amendmentregelung wurde der Wille zur „aurea medioeritas" schließlich exemplarisch umgesetzt, indem man einen Mittelweg fand zwischen einer „fließenden", leicht zu ändernden Verfas-sung. die beispielsweise keinerlei Schutz vor unerwünschtem politischen Wandel geboten hätte, und einer allzu rigiden Ordnung ohne jegliche Möglichkeit zur gele-gentlich notwendigen Neuorientierung. Art. V übernahm hierbei eine bedeutsame Rolle.

So konnten noch die Anicles of Confederation nicht ohne die Zustimmung der Legislaturen61" aller Einzelstaaten geändert werden - ein System, das sich nach überwiegender Meinung als unpraktikables Mittel zu Stillstand und potentieller Separation instrumentalisieren ließ619. Die Unzufriedenheit mit den Regelungen der Anicles und die daraus zu ziehenden Konsequenzen brachte Madison im Federalist No. 40 zum Ausdruck, als er das Vorhaben der Verfassungsväter auch insoweit rechtfertigte,

„ [ . . . ] that. in all great changes of established governments, forms ought to give way to substance, that a rigid adherence in such cases to the former would render nominal and nugatory the transcendent and precious right of the people to .abolish or alter their

6 . 8 Der Begriff „legislatures" in Artikel V bezeichnet „deliberative, representative bodies of the type which in 1789 exercised the legislative power in the several States. It does not comprehend the populär referendum which has subsequently become a part of the legislative process in many of the States, nor may a State validly condition ratification of a proposed constitutional amendment on its approval by such a referendum", vgl. Das Urteil des US-Supreme Court in Hawke v. Smith. 253 U.S. 221,231 (1920)sowie Leser v. Garnett, 258 U.S. 130. 137 (1922): „lt]he funetion of a State legislature in ratifying a proposed amendment to the Federal Constitution, like the funetion of Congress in proposing the amendment , is a federal funetion derived from the Federal Constitution: and it transcends any limitations sought to be imposed by the people of a State."

6 . 9 Siehe Art. XIII der Articles of Confederation. Dazu VV. Solberg. The Federal Con-vention and the Formation of the Union of the American States. 1958. S. 51.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 225

governments as to them shall seem most likely to effect their safety and happiness, ' since it is impossible for the people spontaneously and universally to move in concert toward their object; and it is therefore essential that such changes be instituted by some informed and unauthorized propositions, made by some patriotic and respectable Citizen or number of Citizens."

N a c h d e m s i ch d a s P r i n z i p d e r E i n s t i m m i g k e i t a l s o a l s u n t a u g l i c h e s Mi t t e l f ü r d e n u n u m g ä n g l i c h e n W a n d e l e r w i e s e n ha t t e , b r a c h t e n d i e V e r f a s s u n g s v ä t e r e i n e n e u a r t i g e A l t e r n a t i v e au f d e n W e g . 6 2 " V e r g l i c h e n m i t d e n Articles of Confedera-tion s t eh t A r t . V f ü r e in h ö h e r e s M a ß an F l ex ib i l i t ä t , da e r z w a r h o h e H ü r d e n i m A m e n d m e n t p r o z e s s vo r sch re ib t 6 2 1 , g l e i c h w o h l j e d o c h ( u n t e r s c h i e d l i c h e ) M e h r -h e i t e n i m V e r f a h r e n g e n ü g e n läss t . N a c h d e m d ie r e c h t l i c h e n Z w ä n g e g e g e n ü b e r d e n e n d e r Articles v e r g l e i c h s w e i s e g e l o c k e r t w a r e n , g l a u b t e n n u n e in ige K o n v e n t s -m i t g l i e d e r . d i e g e g e b e n e n „ l ega l c o n s t r a i n t s " s e i en d u r c h e i n e s e lb s t a u f e r l e g t e Z u r ü c k h a l t u n g ( „ s e l f - r e s t r a i n t " ) z u e r g ä n z e n . A n d e r e f o r d e r t e n i n r e g e l m ä ß i g e n A b s t ä n d e n Ü b e r p r ü f u n g e n d e r V e r f a s s u n g ( „ p e r i o d i c a l l y s c h e d u l e d r e v i e w s " ) . F re i l i ch e r f o l g l o s a u f B u n d e s e b e n e - w o b e i j e d o c h n i ch t v e r s c h w i e g e n w e r d e n so l l , d a s s d i e s e I d e e i m m e r h i n i n e i n i g e e i n z e l s t a a t l i c h e V e r f a s s u n g e n i n k o r p o r i e r t w u r d e . 6 2 2

6 2 0 Obgleich alle Aufzeichnungen des Verfassungskonvents wiederholt Gegenstand in-tensiver Untersuchungen im Hinblick auf Hintergründe des Amendment-Prozesses waren, hatte es innerhalb des Konvents kaum Diskussionen über die Notwendigkeit der neuen Verfahrensform gegeben, vgl. S. Gaugush, Principles Governing the Interpretation of Exer-cises of Article V Powers, in: 35 The Western Pol. Q. (1982), S. 213 ff. Der Delegierte Col. Mason aus Virginia meinte etwa, dass Amendments vonnöten seien und es wäre ..better to provide for them. in an easy. regulär and Constitutional way than to trust chance and violence", zitiert nach M. Farrand. The Records of the Federal Convention. Bd. 1. rev.ed. 1937 sowie 1966 (hier zitiert). S. 202.

621 Bei den Anti-Federalists war die Befürchtung, das Amendment-Verfahren sei zu schwierig (siehe die Kritik von P. Henry v o r d e m Ratifizierungskonvent in Virginia, zitiert bei J. Ellion. The Debates in State Conventions on the Adoption of the Federal Constitution. Bd. 3 ,1888. S. 48 sowie die Einschätzung von W. Livingston, Federalism and Constitutional Change. 1956, S. 242 ff.) eng mit der Auffassung verknüpft, dass die grundsätzlich notwen-dige Aufnahme und Garantie einer Bill of Rights eines zweiten Verfassungskonvents vor der eigentlichen Verfassungsratifizierung bedürfte , vgl. E. P. Smith. The Movement Towards a Second Constitutional Convention in 1788. in: J.F. Jameson, Essays in the Constitutional History of the United States in the Formative Period. 1 7 7 5 -1 7 8 9 . 1889. S . 4 6 f f . Madison freilich vertröstete die Anhänger dieser Idee auf den Zeitraum nach der Ratifizierung und versicherte die anschließende Aufnahme einer Bill of Rights. Die . .amending articles" ver-teidigte er im übrigen als ein ..neither wholly national nor wholly federal" (The Federalist No. 39) Heilmittel gegen alle erdenklichen Fehler in der Verfassung, versehen mit der Funktion ..equally against that extreme facility. which would render the Constitution too mutable, and that extreme difficulty, which might perpetuate its discovered faults" (The Federalist No. 43) zu wachen. Vgl. dazu auch J. R. Vile, American Views of the Constitutio-nal Amending Process: An Intellectual History of Article V. in: 25 AJLH (1991), S . 4 4 f f . , 49 f.; P. Weher. Madison ' s Opposit ion to a Second Convention, in: 20 POLITY (1988), S. 498 ff.

226 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

bb) „Self-Restraint" in der Verfassunggebung

Insgesamt gedieh, besser glückte die Selbstverpflichtung zum „self-restraint" in den ersten zwei Jahrhunderten nach dem Gründungsakt. Obwohl in diesem Zeitraum mehr als 11.000 Amendment-Vorschläge für die Verfassung in den Kongress eingebracht wurden, vereinten lediglich 33 die erforderlichen Kongress-mehrheiten auf sich, wovon letztlich nur die benannten 27 auch von den Staaten ratifiziert wurden. Die nach allgemeiner Ansicht bedeutsamsten Amendments, etwa die Hälfte, entstammen zwei bahnbrechenden Perioden amerikanischer Ge-schichte - dem Zeitraum der Verfassungschöpfung623 , die 1791 ihre Vollendung mit der Bill of Rights gefunden hatte, sowie der umwälzenden Phase des Bür-gerkrieges. die Ausschlag für die sogenannten ..Reconstruction Amendments"6 2 4

geben sollte. Daneben bleiben lediglich dreizehn „sonstige" Amendments der Verfassung, die größtenteils dazu dienten, entweder das Wahlrecht auszuweiten625

oder die Amtszeit des Präsidenten zu regulieren. Vier Amendments blieb es vor-behalten. höchstrichterliche Entscheidungen de facto aufzuheben. So verbietet das 11. Amendment (1798) entgegen der Entscheidung Chisholm v. Georgia626

Klagen von Bürgern eines Einzelstaates gegen einen anderen Einzelstaat. Mit dem 16. Amendment (1913) wurde im Widerspruch zu Pollock v. Farmers Loan & Trust Co.'-2' die Einkommenssteuer ermöglicht. Das 14. Amendment (1868) aus der Reconstruction-Ära ermöglicht allen in den USA geborenen oder eingebür-gerten Personen die amerikanische Staatsbürgerschaft und setzte sich damit über Dred Scott v. Sandfordb28 ebenso klar hinweg wie das 26. Amendment aus dem Jahre 1971 eine Beschränkung des Wahlrechts von Personen über achtzehn und

622 Vgl. J.K. Vile (1991), S. 50. In Pennsylvania gab es für die „reviews"die Institution eines „Council of Censors"; dazu S.P. Xleador, The Council of Censors , in 22 Penn-sylv.Mag. of Hist.and Bio. (1898). S. 265 ff. Zum Amendment-Prozess in den Einzelstaaten bereits J. W. Garner. Amendment of State Constitutions. 1907; sowie A. L Sturm. Methods of State Constitutional Reform. 1954; M.L Kendrigan, Constitutional Revision in Other States. 1965.

6 2 3 Hierzu zählt kurioserweise auch das letzte, 27. Amendment , das ursprünglich bereits Bestandteil des dem ersten Kongress 1791 zugegangenen Amendment- . .Pakets" war. jedoch erst im Jahre 1992 ratifiziert wurde.

624 Dies sind das 13.(1865), 14 . (1868)und 15. Amendment (1870). Siehe auch A.Avins, The Reconstruction Amendments ' Debates. The Legislative History and Contemporary Debates in Congress on the 13th. 14th. and 15th Amendments , 1967. Zu den Schwierig-keiten im Zusammenhang mit dem 14. Amendment J.E. Bond. No Easy Walk to Freedom. Reconstruction and the Ratification of the Fourteenth Amendment . 1997.

6 2 5 Das amerikanische Wahlrecht haben das 17. (1913), 19. (1920). 23. (1961). 24. (1964) und 26. Amendment (1971) sowie die . .Reconstruction Amendment s" 14 (1868) und 15(1870) zum Gegenstand.

626 Chisholm v. Georgia, 2 U.S. (2 Dali.) 419 (1793). 627 Pollock v. Farmers Loan & Trust Co., 157 U.S. 429 (1895). 628 Dred Scott v. Sandford 60 U.S. (19 How.) 393 (1857).

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 227

damit das Urteil Oregon v. Mitchell™ obsolet machte. Die einzigen Amendments, die nicht diesen Kategorien unterfallen - die sogenannten Prohibition Amend-ments63°- bilden zudem das bislang einmalige Beispiel einer Aufhebung eines Amendents durch ein weiteres Amendment.

In der amerikanischen Verfassung gibt es lediglich eine Vorschrift, die nicht geändert werden darf '3 1 , nämlich laut Art. V letzter Halbsatz die Bestimmung, die jedem Staat das gleiche Stimmrecht im Senat gewährt. Tatsächlich wurde mit Erlaubnis des beeinrächtigten Staates diese Regelung mit dem 17. Amendment (1913) schließlich auch dahingehend geändert, dass nicht mehr wie ursprüng-lich in Artikel I § 3 par. 1 der Verfassung vorgesehen die Staatsparlamente ihre Senatoren ernennen sollten, sondern das Volk diese in Direktwahl zu bestim-men hätte. Die grundsätzliche Änderungsbefugnis unterstrich der Supreme Court ausdrücklich in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts.632 Vor allem aber die er-forderliche Beteiligung der Einzelstaaten stellte sich in der Vergangenheit als schwer zu überwindendes Hindernis gegen häufige und übereilte Ergänzungen des Verfassungstextes dar.

In den letzten Jahren waren jedoch im Hinblick auf Amendment-Bemühungen Anzeichen eines weniger strengen „self-restraint"-Bewußtseins zu beobachten. Obgleich seit 1971 kein neu vorgeschlagenes Amendment (das 27. aus dem Jahre 1992 hatte man. wie bereits erwähnt, schon im Zuge der Inkorporierung der Bill of Rights initiiert) mehr angenommen wurde, ergab sich ein plötzlicher Anstieg vorgeschlagener Ergänzungen, die den Verfahrensweg bereits ungewöhnlich weit beschritten haben und die. sollten sie in Kraft treten, für fundamentale Prinzipien wie das Recht der freien Meinungsäußerung, die Religionsfreiheit, den strafrecht-lichen Schutz der Bill of Rights und die Methodik, auf die der Kongress für die Zuweisung von Mitteln zurückgreift, einschneidende Veränderungen zur Folge hätten.633 Darüber hinaus ist im Zuge der terroristischen Anschläge vom 11. Sep-tember 2001 eine Potenzierung von Amendment-Vorhaben zu erkennen, wobei

629 Oregon v. Mitchell. 400 U.S. 112 (1971). 6 3 0 Das 18. (1919) und 21. (1933) Amendment . Dazu W.D.Guthrie, Constitutional

Aspects of National Prohibition: a Review of the Antecedents of the Eighteenth Amendment , the Object ions to its Repeal. and the Advisability of its Modification. 1932.

631 Im Gegensatz etwa zum deutschen Grundgesetz, vgl. Art. 79 III GG. Das Problem der ..unabänderlichen Verfassungsnormen", wie beispielsweise die „Ewigkei t" der republikani-schen Regierungsform in den Verfassungen der französischen dritten bis fünf ten Republik oder in der italienischen Verfassung, besteht also in dieser Form in den Vereinigten Staaten nicht.

632 Vgl. die National Prohibition Cases, 253 U.S. 350 (1920) sowie Leser v. Garnett. 258 U.S. 130(1922) .

6 3 3 Innerhalb weniger Jahre haben etwa in den 1990er Jahren sechs vorgeschlagene Verfassungsergänzungen (u .a . einen ausgeglichenen Haushalt. Wahlkampff inanzierung. Religionsfreiheit . Verfahren zur Erhebung neuer Steuern, aber auch Flaggenentweihung („flag desecration") betreffend) das Plenum einer der beiden oder beider Kammern des

228 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

aber weitgehend davon ausgegangen wird, dass die Unmittelbarkeit der Reaktion (ein Wesensmerkmal von politisch gesteuertem Aktionismus) über die Momentauf-nahme hinaus ihre Grenzen in der bisherigen Verfassungs-Ergänzungs-Tradition finde dürfte. Zwar haben Bemühungen um die amerikanische Verfassunggebung seit der Declaration of Independence nicht mehr Anlass zur Vermutung gegeben, äußeren Einflussfaktoren geschuldet zu sein, gleichwohl ist nicht zuletzt aufgrund des amer ikanischen Verfassungsselbstverständnisses und -Patr iot ismus ' gerade dieser Umstand eher Hemmnis denn Antrieb für allzu extensive Amendment-Absichten.634 Jedoch gab es bereits vor dem 11. September 2001 - insbesondere in der Parteienlandschaft - Tendenzen, das politische Klima zugunsten weiterer Amendments zu verändern. So fanden Vorschläge, die Verfassung um ein „victim's rights - amendment"635 zu ergänzen ebenso politische Unterstützung wie Konzep-te, die amerikanische Staatsbürgerschaft neu zu definieren oder die Erfordernisse für zukünftige Amendments zu e r l e i c h t e r n . D i e Gründe für dieses neu erweckte politische Amendment-Interesse sind vielfältig. Für manchen Republikaner spiel-te gewiß der Umstand, seit mehreren Generationen erstmals wieder die Mehrheit in beiden Häusern des Kongresses zu stellen, eine nicht unbedeutende Rolle. Unter den Demokraten gibt es bis heute nicht wenige, die ihrer Frustration über

Kongresses erreicht. Dabei wurden zwei („balanced budged amendmen t" und ..flag dese-cration amendment") vom Repräsentantenhaus verabschiedet, eine Version des ..balanced budged amendmen t" verfehlte die erforderliche Senatsmehrheit zweimal jeweils nur um eine Stimme, vgl. United States, Congress, Senate-Committee on the Judiciary, Subcommit-tee on the Constitution, Balanced-Budget Amendment to the Constitution. Hearings before the Subcommit tee on the Constitution of the Commit tee on the Judiciary, United States Senate, One Hundred Third Congress. second session. on S.J. Res. 41. February 15,16. and 17. 1994. 1995; United States Congress, Senate - Committee on the Judiciary, Balanced-Budget Amendment . Hearings before the Committee on the Judiciary, United States Senate. One Hundred Fifth Congress. first session on S. J. Res. 1, a bill proprosing an amendment to the Constitution of the United States to require a balanced budget. January 17 and 22, 1997, 1997. Zum „flag desecration amendment": United States, Congress, House - Committee on the Judiciary. Subcommittee on the Constitution. Flag Desecration Amendment to the Constitution. Hearing before the Subcommit tee on the Constitution of the Commit tee on the Judiciary, One Hundred Fourth Congress, first session. on H.J. Res. 79. May 24. 1995. 1995.

634 Freilich hatte der 11. September in den Vereinigten Staaten (wie in vielen Ländern Europas) eine Flut von Gesetzgebungsinit iativen zur Folge, die insbesondere verschärfte Maßnahmen im Rahmen der inneren Sicherheit ermöglichen sollten, vgl. dazu nur die breite Berichterstattung etwa zum sog. ..Patriot Act".

6 3 5 Vgl. dazu die Stel lungnahmen der Senatoren R. Feingold und P.J. Leahy vor dem Senate Judiciary Committee. Executive Business Meeting: „The Victims' Rights Amend-ment" (S.J. Res. 3) September 30. 1999. www.judiciary.senate.gov/93099rf.htm bzw. judi-ciary.senate.gov/93099pl2.htm.

6 3 6 Allein im 106. Kongress wurden im Repräsentantenhaus bis Dezember 2001 fünf-zig „proposals of an a m e n d m e n t " (vgl. die Auflistung im Einzelnen unter http:// thomas . loc.gov/cgil- lbin/quer\7L?cl06:71ist /cl06hj . ls t : l ) , im Senat dreizehn solche Vorschläge (h t tp : / / thomas . loc .gov /cg i -b in /query /L?c l06 : . / l i s t / c I06s j . I s t : 1) behandelt .

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 229

ein in ihren Augen durch umfangreiche Walkampfspenden korrumpiertes System mit einer Änderung des Verhältnisses „between money and speech" Ausdruck verleihen wollen.637 Insbesondere sind aber parteiübergreifend Bestrebungen aus-zumachen, die auf eine Beschränkung des höchstrichterlichen ,judicial activism" und eine Rückbesinnung auf den ursprünglich in der Verfassung vorgesehenen Amendment-Prozess abzielen. Letzteres geschieht vorwiegend unter Berufung auf die sogenannte „original meaning" des Verfassungsdokuments.6 , s Die Fülle der eingebrachten Amendment-Vorschläge sollte allerdings nicht darüber hinwegse-hen lassen, dass der überwiegende Teil der intendierten Verfassungsergänzungen Problemstellungen betrifft, die richtigerweise Gegenstand der „normalen" Gesetz-gebung sein müssten.

Auch darf der Umstand, dass seit 1791 lediglich siebzehn eigentliche Verfas-sungsergänzungen erfolgreich durchgeführt wurden, nicht den Blick auf die Flut in den Kongress eingebrachter und letztlich gescheiterter Amendment-Vorschlä-ge verschleiern. Der grundsätzlichen Bedeutung gescheiterter Empfehlungen zur Verfassungsergänzung oder -änderung für die Verfassungsentwicklung wird an späterer Stelle noch eingehender gedacht.

cc) Initiative und Ratifikation - das Verfahren

(1) Das Modell „congressionalproposal" - der Regelfall

Das Verfessungsergänzungsverfahren teilt sich in zwei Abschnitte: der Initiative („proposal") folgt die Ratifikation, wobei die Initiative entweder vom Kongress oder den Staaten eingeleitet werden kann.639 Ersteres erfordert einen gemeinsamen Beschluss ( J o i n t resolution") von Senat und Repräsentantenhaus mit Zweidrittel-

637 Siehe zu dieser Problematik D. Donnelly, Are Elections for Sale?, 2001. Ein inter-essanter Vergleich zwischen amerikanischer und europäischer Methodik der Wahlkampf-und Parteienfinanzierung wird im Sammelband von A.B. Gunlicks (ed.), Campaign and Party Finance in North America and Western Europe. 1993. angestellt.

6 3 8 Z u m Stellenwert der ..original mean ing" bzw. des ..original intent" in der Ver-fassungsinterpretation siehe einen der prominentesten Vertreter des sog. „original ism" R.H. Bork. Tradition and Morality in Constitutional Law. in: W.F. M u r p h y / C . H . Pritchett (eds.), Courts . Judges & Politics. An Introduction to the Judicial Process. 4. Aufl. 1986. S. 635 ff.; ders.. Neutral Principles and Some First Amendment Problems, in: 47 Indiana Law Journal (1979), S. 1 ff . : ders.. The Tempting of America. The Political Seduction of the Law. 1990.

639 Bereits im Verfassungskonvent von 1787 wurde die Ausgestaltung eines Änderungs-verfahrens kontrovers diskutiert . Zunächst wurde erwogen, dass „provision ought to be made for the amendment [of the Constitution] whensoever it shall seem necessary" - ohne jegliche Beteiligung des Kongresses, vgl. M. Farrand, The Records of the Federal Conventi-on of 1787. Bd. I , rev.ed. 1937 (hier zitiert) sowie 1966. S. 2 2 . 2 0 2 f., 237; Bd. 2. S. 85. Auf dieser Grundlage gestaltete die Detailkommission einen Absatz, der vorsah, dass der Kon-gress auf Antrag von zwei Dritteln der gesetzgebenden Körperschaften der Einzelstaaten einen Konvent zur Änderung der Verfassung einzuberufen hätte, vgl. Farrand (1937), Bd. 1.

230 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

m e h r h c i t . I n d e n b i s l a n g e i n g e b r a c h t e n d r e i u n d r e i ß i g V e r f a s s u n g s e r g ä n z u n g s i n i -t i a t iven w u r d e i n a l l en F ä l l e n a u f d i e g e n a n n t e A l t e r n a t i v e d e s V e r f a h r e n s ü b e r d e n K o n g r e s s z u r ü c k g e g r i f f e n . D a d a s „ p r o p o s a l o f a n A m e n d m e n t " n ich t a l s G e -s e t z g e b u n g s a k t e i n z u s t u f e n ist, be s i t z t d e r a m e r i k a n i s c h e P r ä s i d e n t g e g e n ü b e r d e r J o i n t r e s o l u t i o n " d e s K o n g r e s s e s w e d e r e in V e t o r e c h t n o c h ist s e i n e Z u s t i m m u n g e r f o r d e r l i c h . 6 4 0

B i s l a n g h a b e n s ich h i n s i c h t l i c h d i e s e s I n i t i a t i v r e c h t e s n u r v e r e i n z e l t v e r f a s -s u n g s r e c h t l i c h e P r o b l e m e e r g e b e n . A l s e t w a Madison d e m R e p r ä s e n t a n t e n h a u s d e n V o r s c h l a g z u r A u f n a h m e e i n e s G r u n d r e c h t e k a t a l o g e s . d e m le tz t l ich d i e Bill o f R i g h t s e n t s p r a n g , un t e rb re i t e t e , b e a b s i c h t i g t e e r e igen t l i ch e i n e I n k o r p o r a t i o n d e r e n t s p r e c h e n d e n B e s t i m m u n g e n i n d e n Ve r f a s sungs t ex t . f > i l D a s R e p r ä s e n t a n t e n -h a u s e n t s c h i e d s ich d a h i n g e g e n b e k a n n t l i c h f ü r d i e b i s h e u t e p r a k t i z i e r t e M e t h o d e . E r g ä n z u n g e n i n F o r m z u s ä t z l i c h e r Ar t ike l v o r z u s c h l a g e n . 6 4 2 S c h l i c h t i g n o r i e r t wur -d e d a b e i e i n e E m p f e h l u n g , z u n ä c h s t b e i d e K a m m e r n d e s K o n g r e s s e s b e s c h l i e ß e n

S. 188. was freilich zu heftigen Kontroversen führte . Zum einen wurde die Gefahr einer subversiven Dominanz von zwei Dritteln der Staaten über die Minderheit befürchtet, so der Delegierte Gerry, siehe Farrand (1937). Bd. 1. S. 557 f. Andere prophezeiten, dass der Kongress wohl als Erster ein Amendment für notwendig erachten würde, eine Übertragung der . .Verfahrenshoheit" auf die Einzelstaaten hingegen bedeuten könnte, dass lediglich Veränderungen, die die Machtposit ion der Staaten festigen würden, begründete Aussicht auf Erfolg hätten, vgl. das Votum Hamiltons bei Farrand (1937). S. 558. Schließlich wurde der Vorschlag Madisons angenommen, der ein Amendment-Initiativrecht sowohl des Kon-gresses als auch von den gesetzgebende Körperschaften von zwei Dritteln der Einzelstaaten vorsah.

6 4 0 Vgl. Hollingsworth v. Virginia. 3 Dali. (3 U.S.) 378 (1798). Den Gouverneuren der Staaten steht ebensowenig ein Veto zu. Allerdings sind dem Präsidenten indirekte Handhaben der Einflussnahme auf den Kongress gegeben, um gegebenenfal ls gegen eine Verfassungsergänzung einzuschreiten. Am Beispiel des sog. Bricker-Amendments, das die außenpolitische Bewegungsfreiheit der Präsidialgewalt einschränken wollte, erläutert dies K. Loewenstein Verfassungsrecht und Verfassungspraxis in den Vereinigten Staaten. 1959. S. 41, 310 ff.

f>il Siehe Annais of Congress, Bd. 1 (1789). S. 433 ff. Gleichzeitig war bei den Anti-Federalists die Befürchtung, das Amendment-Verfahren sei zu schwierig, eng mit der Auf-fassung verknüpft , dass die grundsätzlich notwendige Bei fügung und Garantie einer Bill of Rights eines zweiten Verfassungskonvents vor der eigentlichen Verfassungsratifizierung bedürfte , vgl. E. P. Smith. The Movement Towards a Second Constitutional Convention in 1788. in: J.F. Jameson. Essays in the Constitutional History of the United States in the Formative Period, 1 7 7 5 - 1 7 8 9 , 1889. S . 4 6 f f . Madison freilich vertröstete die Anhänger dieser Idee auf den Zeitraum nach der Ratifizierung und versicherte die anschließende Aufnahme einer Bill of Rights. Die . .amending articles" verteidigte er im übrigen als ein „neither wholly national nor wholly federal" (The Federalist No. 39) Heilmittel gegen alle erdenklichen Fehler in der Verfassung, versehen mit der Funktion „equally against that ex-treme facility. which would render the Constitution too mutable, and that extreme difficulty, which might perpetuate its discovered faults" (The Federalist No. 43) zu wachen, vgl. auch J.R. Vile. American Views of the Constitutional Amendin? Process: An Intellectual History of Article V. in: 25 AJLH (1991). S . 4 4 ff.. 49 f.

M2 Vgl. Annais of Congress. Bd. I (1789). S. 717.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 231

z u l a s s e n , o b A m e n d m e n t s ü b e r h a u p t n o t w e n d i g ( „ n e c e s s a r y " ) s e i e n , b e v o r d e -ta i l l ie r te V o r s c h l ä g e i n Be t rach t g e z o g e n würden . 6 4 - D e r S u p r e m e C o u r t e n t s c h i e d s c h l i e ß l i c h in d e n National Prohibition Cases, d a s s d i e z w e i K a m m e r n d e s K o n -g r e s s e s d u r c h d e n V o r s c h l a g e i n e s A m e n d m e n t s k o n k l u d e n t d i e N o t w e n d i g k e i t e i n e r R e v i s i o n z u m A u s d r u c k b r ä c h t e n . 6 4 4

(2) Das Modell „constitutional Convention " - Option zur Totalrevision?

D a s z w e i t e v e r f a s s u n g s m ä ß i g v o r g e s e h e n e M o d e l l , d e r „ c o n s t i t u t i o n a l Conven-t i o n " w u r d e b i s l a n g n o c h n i c h t e r f o l g r e i c h b e m ü h t . H i e r b e i m ü s s e n z w e i Dr i t t e l d e r G e s e t z g e b u n g s k ö r p e r s c h a f t e n a l l e r E i n z e l s t a a t e n d i e E i n b e r u f u n g e i n e s Ver -f a s s u n g s k o n v e n t s b e s c h l i e ß e n , d e r d a n n d i e F r e i h e i t b e s ä ß e , a l l e e r d e n k l i c h e n E r g ä n z u n g e n s o w i e d e f a c t o Ä n d e r u n g e n d e r V e r f a s s u n g v o r z u n e h m e n . S e l b s t d i e A n n a h m e e i n e r g ä n z l i c h n e u e n V e r f a s s u m g w ä r e i m R a h m e n d e s M ö g l i c h e n . E i n e s o l c h e T o t a l r e v i s i o n , w i e s ie b e i s p i e l s w e i s e i n d e r S c h w e i z e r V e r f a s s u n g v o r g e s e h e n i s t " 5 , w u r d e i n d e r V e r g a n g e n h e i t m e h r f a c h v o r g e s c h l a g e n . " " D ie B u n d e s v e r f a s s u n g u n t e r s c h e i d e t n ich t a u s d r ü c k l i c h z w i s c h e n Te i l - und G e s a m t ä n -d e r u n g e n d e r V e r f a s s u n g , s o n d e r n s p r i c h t i n A r t . V l ed ig l i ch v o n „ A m e n d m e n t s

M 3 Ebenda S . 430. 644 Siehe National Prohibition Cases 253 U.S. 350. 386 (1920): „The adoption by

both Houses of Congress . each by a two-thirds vote, of a joint resolution proposing an amendment to the Constitution, sufficiently shows that the proposal was deemed necessary by all w h o voted for it. An express declaration that they regarded it as necessary is not essential. None of the resolutions whereby prior amendments were proposed contained such a declarat ion." Im selben Fall wurde im übrigen auch das bereits oben genannte Quorum, wonach für das . .proposal" die Zweidri t telmehrheit der anwesenden Kongressmitglieder ausreichend sein sollte, vom Supreme Court festgestellt.

6 4 5 Art. 138 der Schweizer Bundesverfassung. Am 18. April 1999 kam in der Schweiz eine zweite große Totalrevision nach 1874 zur Abs t immung und wurde trotz niedriger St immbetei l igung (35.4%) deutlich angenommen. Die neue Verfassung trat am 1.1.2000 in Kraft. Ausschnitte der langen Diskussion um eine Totalrevision der Schweizer Ver-fassung bieten etwa M. Imboden, Die Bundesverfassung, wie sie sein könnte (1959), in: ders.. Staat und Recht, 1971. S. 219 ff . : L. Wildhaber, Das Projekt einer Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung, in: JöR 26 (1977), S. 239 ff. (zum Bericht der Exper-tenkommission für die Vorbereitung einer Totalrevision der Bundesverfassung. 1977) und B. Ehrenzeller, Die Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung. Der gegenw ärtige Stand des Vorhabens, in: ZaörV 47 (1987), S. 699 ff. Nunmehr R.J. Schweizer Die erneu-erte schweizerische Bundesverfassung, in: JöR 48 (2000), S. 263 ff. Den wichtigen Bezug schweizerischer Verfassungsstrukturen zu Europa stellt P. Häberle, „Werkstatt Schweiz": Verfassungspolitik im Blick auf das künftige Gesamteuropa, in: ders.. Europäische Rechts-kultur (1994). Taschenb. 1997, S. 355 ff. her.

646 Eine große Auswahl verschiedener Vorschläge findet sich bei D. Robinson (Hrsg.), Reforming American Government . The Bicentennial Papers of the Commit tee on the Constitutional System. 1985. Für eine genauere Beschreibung und Analyse der einzel-nen Vorschläge: J. R. Vile, Rewriting the United States Consti tution. An Examination of Proposais f rom Reconstruction to the Present, 1991.

232 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

to this Constitution". Soweit die Verfassungsrechtslehre gleichwohl an diese Un-terscheidung anknüpft, gehen die Meinungen darüber auseinander, welches Organ die Obliegenheit einer Totalrevision wahrzunehmen befugt ist. Nach einer entste-hungszeitlich argumentierenden Richtung ist der Kongress ausschließlich ermäch-tigt. Teiländerungen der Verfassung vorzuschlagen, während das Unternehmen einer Totalrevision von dem als Pouvoir constituant eingesetzten Verfassungs-konvent durchzuführen ist.647 Im Unterschied dazu lehnt eine verbreitete, das „geltungszeitliche" Auslegungselement betonende Auffassung solche organspezi-fischen Kompetenzzuweisungen ab und räumt Kongress und Verfassungskonvent gleichermaßen die Befugnis zur Vornahme von Total- und Teilrevision ein.

Da die Alternative des Konvents nie erfolgreich durchgeführt wurde, ist die-se Methode mit etlichen rechtlichen Fragen behaftet.648 Wann und wie ist ein Verfassungskonvent einzuberufen? Müssen die Amendment-Anträge der erforder-lichen Anzahl von Einzelstaaten identisch sein, inhaltlich das gleiche Amendment erstreben oder lediglich eine ähnliche Angelegenheit betreffen? Kommt es bei dem notwendigen Quorum auf ein gleichzeitiges Einreichen der Petitionen an oder können diese gar über mehrere Jahre gestreckt werden?64 ' ' Kann ein Konvent nur auf die Beratung eines Amendments oder auf den materiellen Gehalt des Amendments begrenzt werden? Diese Fragen sind eine bloße Facette des unüber-schaubar erscheinenden Problemkataloges, der dem „constitutional Convention" anhaftet.650 In der amerikanischen Politikwissenschaft und Staatsrechtslehre üben wenige Themenkreise eine ähnlich - kontrovers diskutierte - Faszination aus wie die Möglichkeit der Einberufung eines weiteren Verfassungskonvents, sei es um das Dokument von 1787 einer Totalrevision zu unterziehen oder sei es „nur" einzelner Amendments willen. Die Konvents-Alternative scheiterte einige

647 Vgl. zu diesem Streit mit einer Darstellung der unterschiedlichen Positio-nen W.S. Livingston, Federalism and Constitutional Change, 1956. S . 2 1 8 : D.P.Lacyl P.L. Martin. Amending the Constitution: the Bottleneck in the Judiciary Comniit tees, in: 9 Harvard Journal on Legislation (1971/72) . S. 666 ff.. 671 f.; W.A. Platz. Article V of the Federal Constitution, in: 3 The George Washington L. Rev. (1934), S. 17 ff., 24 f.

f>:8 Eine umfängliche Studie der „Convention method" gibt C. BrickfieUl. Problems Relating to a Federal Constitutional Convention. 85th Congress , Ist sess., 1957. Siehe auch R. Caplan. Constitutional Brinksmanship. Amending the Constitution by National Convention, 1988.

,vi'y Diese Frage ist nicht mit der Problemstellung zu verwechseln, wie lange ein vom Kongress den Staatenlegislaturen zur Ratifikation überwiesener Vorschlag in Umlauf bleiben kann oder soll, ehe er als überholt gelten kann. vgl. K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S . 4 I .

6 5 0 Eine gründliche Analyse der einzelnen Fragestellungen mit einigen bemerkenswerten Lösungsansätzen geben Brickfield (1957) und Caplan (1988). Siehe auch Federal Consti-tutional Convention. Hearings before the Senate Judiciary Subcommit tee on Separation of Powers. 90th Congress . Ist sess. (1967); W. Edel. A Constitutional Convention: Threat or Challenge?, 1981: American Bar. Association (Hrsg.), Amendment of the Constitution by the Convention Method under Article V, 1974.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 233

Male nur knapp. So fehlte ein einziger Staat für die Einberufung eines Konvents, nachdem der Senat die lang diskutierte Verabschiedung eines Amendments, das die Direktwahl der Senatoren gestatten sollte, zugelassen hatte.651 In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts missglückte aufgrund nur eines fehlenden Staates zur erforderlichen Zweidrittel-Mehrheit der Versuch, ein Konvent zur Revision der umstrittenen Supreme Court Entscheidungen zur Anpassung der Wahlbezir-ke („reapportionment decisions") zu initiieren.652 Zwei Staaten fehlten zu einer erfolgreichen Petition für eine Begrenzung der Einkommenssteuerraten653 sowie für ein ..balanced budget amendment"654 .

Während in der amerikanischen Verfassungslehre einige die Auffassung vertre-ten, zahlreiche Sicherungshebel würden einen Konvent als risikolose politische Option erscheinen lassen655, setzen andere in zuweilen dramatischen Worten eher warnende Akzente656. Letztere verweisen unter anderem auf den Umstand, dass bislang nicht einmal ein Gesetz zur Regelung eines solchen Konvents verabschie-det wurde.657

Unter dem Strich haben wohl zwei Fragestellungen die Debatten um einen Kon-vent dominiert. Zum einen wurde der Problematik einer etwaigen Begrenzung der Verhandlungspunkte in einem Konvent viel Aufmerksamkeit geschenkt. Zum

651 Dazu Brickfiekl (1957). S. 7, 89. 652 Vgl. G. Rees. The Amendment Process and Limited Constitutional Conventions, in:

2 Benchmark (1986). S. 66 f.; Caplan (1988). S. 73 ff. 653 Vgl. Brickfield (1957), S. 8 f.. 89. 654 Gründliche Diskussionen zu diesem ..proposal" finden sich in: W. M o o r e / R . Penner.

The Constitution and the Budget. 1980; American Enterprise Institute. Proposais for a Constitutional Convention to Require a Balanced Federal Budget, 1979. Siehe aber auch W.T. Barker. A Status Report on the .Balanced Budget ' Constitutional Convention, in: 20 The J. Marshall L. Rev. (1986). S. 29 ff., der viele der einzelnen Petitionen fü r diesen Konvent für rechtsunwirksam hält.

6 5 5 Siehe nur Caplan (1988): P. Weber. The Constitutional Convention: A Safe Political Option, in: 3 The J. of Law & Politics (1986), S . 5 1 ff.. J.T.Noonan, The Convention Method of Constitutional Amendment - Its Meaning. Usefulness and Wisdom. in: 10 Pac. L.J. (1979). S. 641 ff.

656 Vgl. etwa L. Kean. A constitutional Convention Would Threaten Rights We Have Cherished for 200 Years. in: 4 Det.Col. of L. Rev. (1986), S. 1087 ff.; A. Sorenson. The Quiet Campaign to Rewrite the Constitution, in: Sat. Rev. vom 15. Juli 1967, S. 17 ff.; G. Gunther. Constitutional Brinkmanship. Stumbling Toward a Convention, in: 65 Amer. Bar Assoc . J . (1979). S. 1046 ff.

657 Freilich unternahmen einige, insbesondere der ehemalige Senator S. Ervin. den Versuch, einen Gesetzentwurf zu formulieren mit dem Vorsatz, den wissenschaft l ichen Spekulat ionen um die Einzelheiten eines ungenutzten Instruments ein Ende zu bereiten, vgl. S. Ervin, Proposed Legislation to Implement the Convention Mechanism of Amending the Constitution, in: 66 Michigan L. Rev. (1968), S. 875 ff . ; siehe auch ders., Proposed Legislation on the Convention Method of Amending the United States Constitution, in: 85 Harvard L. Rev. (1977), S. 1612 ff.

234 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

anderen stand immer wieder das Thema, welche Kontrolle entweder der Kongress oder die Justiz über das Konventsverfahren ausüben könnten, im Vordergrund. Die Option einer „limited constitutional Convention" untersuchte insbesondere W. Dellinger, um schließlich festzustellen, dass eine inhaltliche Begrenzung des Konvents abzulehnen und jede gliedstaatliche Petition, die auf eine solche Be-grenzung abzielte demnach unwirksam sei.658 Diese Position gründet auf der Überzeugung, dem Kongress ebensowenig ein exklusives Vorschlagsrecht für Amendments zu gewähren wie den Legislaturen der Einzelstaaten einzuräumen, Amendments, die die gliedstaatlichen Befugnisse auf Kosten der Bundesregierung ausweiten würden, vorzuschlagen und zu ratifizieren.65 ' Würde nun einem von beiden die Berechtigung zur Begrenzung zugebilligt, liefe man Gefahr die eben genannten Grundsätze auszuhöhlen. Dies gelte dann auch entsprechend hinsicht-lich einer Kontrollkompetenz des Kongresses über einzelne Punkte des Konvents. Auf Widerstand stieß diese Auffassung unter anderem bei G. Rees, der es den Gliedstaaten durchaus selbst überlassen will, inwieweit ein Konvent eine Begren-zung erfährt.660 Die einzelstaatlichen Befugnisse, Amendments vorzuschlagen würden nach Artikel V zumindest „ungefähre" Parallelen zu den dort genannten Kompetenzen des Kongresses aufweisen, dessen Aufgabe es im Wesentlichen sei, „housekeeping rules"661 zu erlassen, was zur Folge habe, dass der Konvent viele seiner kennzeichnenden Angelegenheiten selbst zu erledigen habe und den Gerich-ten allgemeine Aufsichtsfunktionen zugewiesen werden müssten. Sowohl Rees als auch Dellinger koppelten also die Problemstellungen der Organkompetenz und der Begrenzungsoption. Allerdings unter diametralen Prämissen. Während Dellinger das gesamte Amendment-Verfahren als eine „series of formalities" beziehungs-weise ein „set of formal rules rather than as the embodiment of vague policy objectives"662 einschätzt, stellt Rees den Gedanken des „contemporary consensus"

658 Siehe W. Dellinger, The Recurring Quest ion of the .Limited* Constitutional Con-vention. in: 88 Yale L. Rev. (1979). S. 1623 ff. Eine ähnliche Sichtweise offenbart auch C.L. Black. Amending the Constitution: A Letter to a Congressman. in: 82 Yale L.J . (1972), S. 189 ff . Eine Begrenzung des Verfassungskonvents auf lediglich ..stückweise Änderun-gen" („piecemeal changes") schlägt A. Diamond. A Convention for Proposing Amend-ments. The Constitution*s Other Method, in: 11 PUBLIUS (1981), S. 1113 ff. vor. Dagegen J.R. Vile. Ann Diamond on an Unlimited Constitutional Convention, in: 19 PUBLIUS (1989), S. 177 ff. sowie ders.. American Views of the Constitutional Amending Process: An Intellectual History of Article V. in: 25 AJLH (1991). S . 4 4 f f „ 65.

659 Dellinger (1979), S. 1630. 6 6 0 Vgl. G. Rees. The Amendment Process and Limited Constitutional Conventions, in:

2 Benchmark (1986). S. 66 ff. Obgleich sich auch Rees selbst nicht als Befürworter eines erneuten Verfassungskonvents sieht, vgl. ebenda. S. 80. so widerspricht er doch Dellinger insoweit als er keinen Anlass erkennt, den Staaten lediglich die Wahl zwischen einem von allen Fesseln befreiten oder eben keinem Konvent zu geben.

661 Ebenda S. 86. 662 Siehe W. Dellinger. The Legitimacy of Constitutional Change: Rethinking the Amen-

ding Process. in. 97 Harvard L. Rev. (1983). S. 386 ff., 418. 432.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 235

in den Vordergrund. Letzterer nimmt diesen Gedanken auch zum Maßstab eines gerichtlichen Eingreifens in Amendment-Angelegenheiten, das er grundsätzlich befürwortet. Für Dellinger kommt dagegen höchstens eine Justiziabilität der for-mellen Kriterien durch die Gerichte in Betracht. Ihm ist im Ergebnis zuzustimmen, da er zum einen nicht den konstruiert erscheinenden Weg über eine sehr weite Aus-legung von Artikel V gehen muss und letztlich konsequenter in den Folgefragen bezüglich der Stellung des Kongresses, der Gerichte und Einzelstaaten und deren klarer Abgrenzung untereinander im gesamten Amendment-Verfahren ist.663

(3) Versuche zur Begrenzung von „amending power"

Obgleich die beiden vorgesehenen Methoden der Verfassungsergänzung einer weitreichenden, bundesweiten Einbeziehung der Regionen und Einzelstaaten be-dürfen. um die erforderlichen qualifizierten Mehrheiten zu erlangen, mangelte es in der Vergangenheit nicht an Versuchen, die vorgebenen Barrieren noch zu verschärfen. Bereits dem Verfassungskonvent von 1787 wurde der letztlich ge-scheiterte Vorschlag unterbreitet, Art. V um die Klausel ,.no State shall without its consent be affected in its internal policy" zu ergänzen.6" Ein weiterer Anlauf, die „amending power" einer verstärkten Begrenzung auszusetzen wurde 1861 unter-nommen, als der Kongress den Staaten nahelegte, alle zukünftigen Amendments zu blockieren, die den Kongress autorisieren würden, „to interfere, within any State, with the domestic institutions thereof f . . .]"6 6 5 . Nachdem bereits drei Staa-ten einen diesbezüglichen Entwurf ratifiziert hatten, beendete der Ausbruch des amerikanischen Bürgerkriegs vorzeitig den Fortgang dieses Vorhabens.666 Wenig später versuchten einige Kongressmitglieder vergeblich die Verabschiedung des 13. Amendments (Verbot der Sklaverei) zu verhindern, indem sie daraufhinwie-sen. dass der „amending process" nicht für eine derart große Veränderung innerer Angelegenheiten der Einzelstaaten missbraucht werden dürfte.667

Jahre später befanden sich die formelle und materielle Rechtsgültigkeit des 18. und 19. Amendments (das bundesweite Alkoholverbot sowie die Ausdeh-

663 Dazu zählen etwa die zahlreichen Streitpunkte bezüglich der Ratifikation (siehe sogleich), die Dellinger durch seine stringente Haltung mit klaren Kompetenzabgrenzungen bewältigt, vgl. ders. (1983), S . 4 1 9 f f . Kritisch allerdings LH. Tribe. A Constitution We Are Amending: In Defense of a Restrained Judicial Role. in: 97 Harvard L. Rev. (1983), S. 433 ff . Siehe auch J.R. Vile. Judicial Review of the Amending Process: the Dellinger-Tribe Debate. in: 3 J. of Law & Politics (1986), S. 21 ff.

664 Vgl. M. Farrand. The Records of the Federal Convention of 1787. Bd. 1, Revised Edition 1937 (hier zitiert) sowie 1966. S .630 .

6 6 5 Siehe 57 Cong. Globe 1263(1861) . 666 Dazu ausführlich H. Arnes, The Proposed Amendments to the Constitution of the

United States Düring the First Century of Its History. H. Doc. 353, pt. 2. 54th Congress, 2d sess., 1897. S. 363.

667 Vgl. 66 Cong. Globe 921, 1 4 2 4 - 1 4 2 5 , 1 4 4 4 - 1 4 4 7 , 1 4 8 3 - 1 4 8 8 ( 1 8 6 4 ) .

236 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

nung des Wahlrechts auf Frauen) auf dem Prüfstand. In der Diskussion wurde hinsichtlich der Reichweite der Amendments betont, dass ihr eigentlicher Anwen-dungsbereich die Korrektur von Fehlern der ursprünglichen Verfassungsversion sei und dass insbesondere nicht die Annahme zusätzlicher oder ergänzender Vor-schriften von Art. V der Verfassung umfasst sei.668 Zudem habe der Kongress keine verfassungsmäßige Kompetenz, Amendments vorzuschlagen, welche die Wahrnehmung souveräner Gewalt der Gliedstaaten oder deren Verzicht darauf berühren würde. Gegen das 19. Amendment wurde unter anderem vorgebracht, einem Gliedstaat, der das Amendment nicht ratifiziert habe, würde das Recht auf „equal suffrage" im Senat vorenthalten/ '" Die Berücksichtigung „überpositiver" Grundsätze, die auch den Verfassungsgesetzgeber binden würden, ist dem ame-rikanischen Rechtsdenken fremd. Diesbezügliche Gedankengänge wurden vom Supreme Court als unerheblich eingestuft, die beiden Amendments entgegen aller Einwände letztlich aufrechterhalten.67"

(4) Rcitifikationserfordernisse und Problemlagen -das Kuriosum 27. Amendment

Die Ratifikation671 erfordert laut Art. V S. 1 der Verfassung bei beiden Initia-tiv-Modellen eine Mehrheit von drei Vierteln der einzelstaatlichen Legislaturen. Allerdings steht es im freien Ermessen des Kongresses, im Anschluß an die Wahrnehmung seines Initiativrechts die Ratifizierung entweder durch die ge-setzgebenden Körperschaften der Staaten oder durch speziell von den Staaten einzuberufende Verfassungskonvente vorzuschreiben.672

Zur großen Überraschung der amerikanischen Bevölkerung wurde 1992 das bereits erwähnte 27. Amendment ratifiziert. 203 Jahre nach seinem „proposal". Dies warf freilich die Frage nach der erlaubten zeitlichen Anhängigkeit eines Amendments auf. Grundsätzlich wurde dem Kongress das Recht zugestanden, mit dem „amendment-proposal" ein angemessenes („reasonable") Zeitlimit zu verbinden.671 Seit dem 18. und mit der Ausnahme des 19. Amendments hatte der Kongress allen Ergänzungsvorschlägen eine Formulierung beigefügt, wonach das

668 Vgl. National Prohibition Cases, 253 U.S. 350 (1920). 669 Vgl. Leser v. Garnett. 258 U. S. 130 (1922). 670 Vgl. National Prohibition Cases und Leser v. Garnett, ebenda 6 1 Zur Ratifikation der Gründungsverfassung und der Bill of Rights C.R.Smith. To

Form a More Perfect Union. The Ratification of the Constitution and the Bill of Rights. 1 7 8 7 - 1 7 9 1 , 1993.

672 Die zweite Alternative wurde nur einmal, nämlich anlässlich des 21. Amendments (Aufheben der Prohibition) bemüht , da man sich hiervon eine raschere Umsetzung ver-sprach.

6 7 1 In Black 's Law Dictionary wird „reasonable t ime" definiert als „such length of t ime as may fairly, properly, and reasonably be allowed or required, having regard to the nature of the act or duty. or of the subject-matter. and to the attending circumstances",

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 237

jeweilige Amendment nach einer Ratifikationsfrist von sieben Jahren ungültig sein sollte. In den früheren Vorschlägen war diesbezüglich nichts zu lesen; zwei „pro-posals" aus dem Jahre 1789, die schließlich 18I0beziehungswei.se 1861 vorgelegt wurden, gingen im Verfahren bereits an die Gliedstaaten, wurden jedoch nicht ratifiziert. In seiner berühmten und heftig umstrittenen Entscheidung Coleman v. Miller weigerte sich der Supreme Court darüber zu befinden, ob das den Staa-ten 1924 vorgelegte „child labor amendment" 13 Jahre später ratifiziert werden könnte.67,1 Dies sei eine „political question"675, die der Kongress zu lösen habe, wenn die erforderlichen Dreiviertel der Gliedstaaten dem Amendment-Vorschlag zugestimmt hätten. Eine Fristsetzung seitens des Gerichtshofs komme daher nicht in Betracht.676

Bereits 1921 hatte der Supreme Court in Dillon v. Gloss das Recht des Kongres-ses unterstrichen, zeitliche Begrenzungen für die einzelstaatlichen Ratifikationen zu setzen.677 Zudem deutete der Gerichtshof bereits an, dass deutlich zeitferne „proposals" nicht länger einer Ratifikation zugänglich gemacht werden dürf-ten. Obgleich der Supreme Court zugestand, der Wortlaut von Artikel V der Bundesverfassung enthalte tatsächlich keinen Hinweis auf etwaige zeitliche Be-schränkungen. so wies das Gericht doch nachdrücklich auf den Umstand hin, dass ein funktionierender „amending process" als solcher das gewichtigste Argument gegen eine grenzenlose Ausweitung des Ratifizierungsverfahrens liefere.67* Drei logisch miteinander verknüpfte Gesichtspunkte sollten die Ansicht des Supreme Court untermauern:

..First, proposal and ratification are not treated as unrelated acts but as succeeding steps in a Single endeavor. the natural inference being that they are not to be widely separated in time. Secondly. it is only when there is deemed to be a necessity therefor that amendments are to be proposed. the reasonable implication being that when proposed

vgl. H.C.Black. Black ' s Law Dictionary. 6 ,h edition 1990. S. 1483 (vgl. auch die achte Neuauflage von B.A. Garner (ed.). 2006). Den wahren Bezugspunkt dieser Definition hat der Supreme Court in Twin Lick Oil Co. v.Marbury, 91 U . S . 5 8 7 . 591, 23 L . E d . 3 2 8 hergestellt, indem er feststellte: .Jiow long a .reasonable t ime ' ought to be is not defined in law, but is left to the discretion of the judges ."

674 Coleman v. Miller 307 U.S. 433 (1939). 6 7 5 Hierzu kursorisch unter B. IV.2 .b)cc) (2) . 6 7 6 In Coleman v. Miller, ebenda, wurde auch der Frage nachgegangen, inwieweit ein

Staat, der bereits einmal einen Ergänzungsvorschlag abgelehnt hat, sich nachträglich anders entscheiden und ihn doch annehmen kann. Der Supreme Court erklärte diese Konstellation für zulässig mit der etwas seltsam anmutenden Begründung, dass damit eine St imme mehr für das Zus tandekommen der Dreiviertelmehrheit gegeben sei. Umgekehrt ist es aber einem Staat, der ein . .proposal" bereits angenommen hat. nicht ermöglicht , diesen wieder wirksam abzulehnen. Vgl. dazu auch kritisch K. Loewenstein. Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten. 1959. S .42 .

677 Dillon v. Gloss 256 U. S. 368 (1921). 6 7 8 Ebenda 374.

238 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

they are to be considered and disposed of presently. Thindly, as ratification is but the expression of the approbation of the people and is to be effective when had in three-fourths of the States, there is a fair implication that that it must be sufftciently contemporaneous in that number of States to reflect the will of the people in all sections at relatively the same period. which of course ratification scattered through a long series of years would not do."6TO

Weiter führte das Gericht diese Lösung deshalb als die tragfähigste an, als sie entgegen der anderen Ansicht nicht die Konsequenz jahrhundertelanger schwe-bender „proposals" mit sich brächte. Vier Amendmentvorschläge, wozu die zwei zu zählen wären, die im Jahre 1789 den Staaten zugeleitet wurden „are still pen-ding and in a Situation where their ratification is some of the States many years since by representatives of generations now largely forgotten may be effectively supplemented in enough more States to make three-fourths by representatives of the present or some future generation. To that view few would be able to subscribe, and in our opinion it is quite untenable."680

Was also dem Supreme Court 1921 ohne Gegenstimme untragbar („untenable") erschien, erwies sich 1992 in Exekutive und Kongress als durchaus vertretbar. Angesichts der Kampagne zum 27. Amendment zeigte sich auch, wie eng das verfassungsrechtliche Instrument Verfassungsergänzung an die politische Wirk-lichkeit gebunden ist. Die Korrelation zwischen Verfassungsrecht und Politik, die die amerikanische Geschichte wechselvoll prägte, wird auch an diesem Beispiel offenkundig. Inwieweit eim 27. Amendment noch von einer „reasonable time peri-od" die Rede sein konnte, war heftig umstritten.6*1 Das Office of Legal Counsel des Justizdepartments legte damals dem Weißen Haus ein Memorandum vor, das die wesentlichen Bezüge zur D/7/ö/i-Entscheidung des Supreme Courts herstellte.682

Dabei wurden die drei oben genannten „considerations" des Gerichtshofs als nicht überzeugend qualifiziert. So setze der Supreme Court zwar voraus, das Verfahren müsse eher kurz denn ausgedehnt sein, da Vorschlag und Ratifikation als Schrit-te in einem einzigen Verfahren zu sehen seien. Allerdings sage das Argument, ein Amendment solle seine Notwendigkeit widerspiegeln gerade nichts über die Länge des verfügbaren Zeitraums aus. Dies umso mehr als die Staaten, die erst kürzlich ratifiziert hatten, offensichtlich von der Notwendigkeit des Amendments ausgegangen wären. Auch deute der Umstand, dass ein Amendment das Resultat

6 7 9 Ebenda 374 f. 680 Ebenda. f>sl So schrieb beispielsweise LH. Tribe. The 27th Amendment Joins the Constitution,

in: Wall Street Journal. 13. Mai 1992. S. AI5 : ..Article V says an amendment .shall be valid to all Intents and Purposes. as part of this Const i tut ion ' when .ratif ied' by three-fourths of the states - not that it might face a veto for tardiness. Despite the Supreme Court ' s suggestion. no speedy ratification rule may be extracted f rom Article V ' s text, strueture or history."

682 Vgl. 16 Ops. of the Off ice of Legal Counsel (1992). S. 102 ff.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 239

eines Konsenses sein sollte, nirgends auf eine Zeitgleichheit der Übereinstimmung hin.683 Schließlich wurde in besagtem Memorandum der Hinweis gewagt, die ein-zig angebrachte Form der Auslegung von Art. V sei „ to provide a clear rule that is capable of mechanical application, without any need to inquire into the timeliness or substantive validity of the consensus achieved by means of the ratification process. Accordingly, any interpretation that would introduce confusion must be disfavored."684 Dieser Ansicht ist unter Berufung auf eine enge Wortlautauslegung der Verfassung grundsätzlich zuzustimmen. Artikel V enthält keinerlei Hinweis auf etwaige Fristen, wohingegen die Verfassung an anderen Stellen sehr wohl Fristsetzungen aufweist.685

Die Verabschiedung des 27. Amendments wirft indessen die Frage auf, ob einem Amendmentvorschlag eine „Ewigkeitsgarantie" innewohne.686 Dies kann jedoch höchstens für „proposals" gelten, die selbst nach vielen Jahren noch eine tatsächliche Aktualität beinhalten. Freilich ist - mit Ausnahme von Regelungen, die an eine Bedingung oder Frist gebundenen sind - den meisten Verfassungs-vorschriften der Wille der jeweiligen „Verfassungsväter" zugrunde zu legen, die Inhalte mögen auf Dauer Geltungskraft besitzen. Die Bemühungen um Flexibi-lität im Wortlaut unterstreichen diese Bemühungen. Allerdings zeigt eben auch gerade die amerikanische Bundesverfassung, dass selbst unbedingte Vorschriften Ergänzungen und Veränderungen erfahren mussten.687

6 8 3 Ebenda. S. 111 f. 684 Ebenda. S. 113. 6 8 5 Vgl. etwa Art. I §7 par. 2; Art. II § I par. 3 („immediately"); Art. II § 2 par. 3. 6S6 Ygl. dazu Congressional Research Center. Analysis and Interpretation. Annotations

of Cases Decided by the Supreme Court of the United States. 1992 Edition: Cases Decided to June 29. 1992. Senate Document No. 1 0 3 - 6 and 1998 Supplement : Cases Decided to June 26. 1998. Senate Document No. 1 0 6 - 8 . S .904 .

6S 7 Es würde auch zu weit führen, das Zustandekommen des 27. Amendment gleichzeitig einen Präzedenzfall (und als solcher wird es in den unterschiedlichsten Zusammenhängen gerne bezeichnet) für die etwaige Unwirksamkeit vom Kongress gesetzter Umsetzungsfris-ten zu nennen - sei es mittels des Textes selbst oder aufgrund der den Vorschlag begleitenden Resolution. Bereits die in Artikel V der Verfassung vorgesehene hervorgehobene Stellung des Kongresses während des Amendment-Verfahrens legt eine solche Sichtweise nahe. Die Problematik, ob nun der Kongress eine bereits gesetzte Ratifikationsfrist ohne Hinzu-ziehung der Staaten, die bereits ratifiziert haben, verlängern darf , verwickelte schließlich angesichts des vorgeschlagenen ..Equal Rights A m e n d m e n t " sowohl Kongress als auch die Staaten und Gerichte in eine anhaltende Diskussion. Befürworter und Gegner dieser ausschießlichen Befugnis des Kongresses zur Fristsetzung und etwaigen -Verlängerung bemühten mit unterschiedlicher Stoßrichtung jeweils die ..political question doctrine", um ihren Standpunkt zu untermauern, vgl. nur: Equal Rights Amendment Extension. Hea-rings before the Senate Judiciary Subcommit tee on the Consti tution. 95th Congress , 2d sess. (1978); Equal Rights Amendment Extension. Hearings before the House Judiciary Subcommittee on Civil and Constitutional Rights. 95th Congress. l s t /2d sess. ( 1 9 7 7 - 7 8 ) .

240 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Im Kontext des Ratifikationsverfahrens stellte sich wiederkehrend die Frage, ob ein Staat, der bereits ratifiziert hat. diesen Schritt wieder mit der Folge rückgängig machen kann, dass der Kongress diesen Staat nicht der erforderlichen Mehrheit zu-rechnen darf. Insgesamt legt die bisherige Praxis den Schluss der Unwirksamkeit eines solchen Vorgehens einzelner Staaten nahe. Andeutungen des Supreme Court in Coleman v. Miller688 und die Maßnahmen des Kongresses bei der Ratifikati-on des 14. Amendments6 8 9 stützen diese Einschätzung. Ebenso könnte insoweit von einer ausschließlichen Kompetenz des Kongresses ausgegangen werden. Es handelt sich letzlich um eine „political question", die, wenn überhaupt, lediglich einer eingeschränkten Justiziabilität zugänglich ist. Eine andere Ansicht in dieser Angelegenheit vertrat das Office of Legal Counsel des Justizdepartments erneut im Verfahren des 27. Amendments. Die Coleman-Entscheidung wurde als nicht bindend, das Vorgehen des Kongresses bezüglich des 14. Amendments als „ab-erration" bezeichnet.6 '" Als Begründung wurde unter anderem vorgebracht, der Kongress werde durch Artikel V der Verfassung nur zum Vorschlag eines Amend-ments und zu Empfehlungen bezüglich der „Mode of Ratification" ermächtigt. Zudem sei eine derartige Ausdehnung der Befugnisse des Kongresses schwer mit dem Grundgedanken der „Separation of powers" und des Föderal ismus zu vereinbaren.691

Will man sich einer Lösung dieses Problems annähern, so gilt es zunächst festzustellen, dass der Kongress im Gegensatz zu den amerikanischen Gerichten

6 8 8 307 U.S. 433 .448 . (1939): „Thus, the political departments of the Government dealt with the effect of previous rejection and of attempted withdrawal and determined that both were ineffectual in the presence of an actual ratification."

6 8 9 Nach den Widerrufen der Ratifikation des 14. Amendments seitens der Staaten Ohio und New Jersey und insbesondere nach Ratifikation - durch neu eingesetzte Regierun-gen - dreier Staaten (Georgia. North Carolina. South Carolina), die im Vorfeld bereits die Ratifikation versagt hatten, entbrannte ein Streit sowohl über die Wirksamkeit der Widerrufe als auch der Gültigkeit einer Ratifikation nach bereits erfolgter Zurückweisung. Der Kongress selbst stellte schließlich die Wirksamkeit der Ratifikation fest, indem er die Widerrufe Ohios und New Jerseys schlicht überging. Erneut debattiert wurden diese Fra-gen im Kontext des bereits genannten, vorgeschlagenen „Equal Rights Amendment" , siehe Equal Rights Amendment Extension. Hearings before the Senate Judiciary Subcommittee on the Constitution. 95th Congress, 2d sess. (1978); Equal Rights Amendment Extension. Hearings before the House Judiciary Subcommit tee on Civil and Constitutional Rights. 95th Congress , l s t /2d sess. ( 1 9 7 7 - 7 8 ) . Allerdings konnte angesichts des gescheiterten . .amendment-proposal" keine Klärung der Angelegenheit erzielt werden, vgl. dazu insge-samt ausführlich Congtressional Research Center. Analysis and Interpretation. Annotations of Cases Decided by the Supreme Court of the United States. 1992 Edition: Cases Decided to June 29. 1992. Senate Document No. 1 0 3 - 6 and 1998 Supplement: Cases Decided to June 26. 1998. Senate Document No. 1 0 6 - 8 , S. 905. Siehe auch E.S. Corwin!M. L Ramsey, The Constitutional Law of Constitutional Amendment , in: 27 Notre Dame Lawyer (1951), S. 185 ff.. 201 ff.

6 9 0 Vgl. 16 Ops. of the Off ice of Legal Counsel (1992), S. 102 ff.. 125. 691 Ebenda. S. 121 ff. mit weiteren Argumenten.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 241

nicht unter dem Diktat des Prinzips der „stare decisis"692 handeln muss. Entschei-dungen des Kongresses binden also keineswegs spätere Zusammensetzungen der Kammern. Gleichwohl ist auch der Kongress aufgerufen, gewisse Grundregeln im Umgang mit verfassungsrechtlichen Problemen einzuhalten. Die Beantwortung von Fragen, die letztlich einer Verfassungsinterpretation bedürfen, aber gleichzei-tig „political questions" darstellen, obliegt grundsätzlich zunächst den „politischen Gewalten" Legislative und Exekutive. Allerdings werden beide per Eid an eine Ver-fassung gebunden693, welche naturgemäß nicht immer die Klärung eines Problems bereits inhaltlich liefern kann. Wenn aber die Verfassung die Entscheidung in einer Sache etwa dem Kongress auferlegt und keinerlei Regelungen über das Zustande-kommen dieser Entscheidungen zu erkennen gibt, so wird man annehmen dürfen, dass der Kongress die Freiheit besitzt, autark zu beschließen und im Ergebnis die Maßnahme „politisch" zu nennen, was wiederum die Einflussmöglichkeiten der Gerichte beschneidet.694 Auch wenn die Entscheidungen Dillon v. Gloss™5

und Coleman v. Miller696 nicht als Präzedenzfälle in dieser Gegebenheit erachtet werden können, da ihnen ein anderer Sachverhalt zugrundelag. so lässt sich doch auf einige grundsätzliche Erwägungen des Supreme Courts, beziehungsweise einzelner Richter in Sondervoten zurückgreifen.

Die Einlassungen des Gerichts, wie lange ein Amendment-Vorschlag „rea-sonably" schweben dürfe bevor er unwirksam würde, sind auch auf die Frage einer späteren Ratifikationsrücknahme übertragbar. Dazu zählen insbesondere die oben genannten drei Schritte der Begründung, die der Supreme Court in Dillon v. Gloss angestellt hatte. Indes muss eine Bezugnahme auf diese Entschei-dung nicht bedeuten, dass der Kongress einen Widerruf der Ratifikation nicht auch - stillschweigend - hinnehmen könnte, wenn er etwa zu der Einsicht ge-langte, der Widerruf würde nicht die erforderliche „contemporaneous expression

692 Eingehender zu diesem Prinzip aus der deutschsprachigen Lit. mit zahlreichen Nach-weisen M. Leder. Die sichtbare und die unsichtbare Hand in der Evolution des Rechts, 1998 sowie G. Seyfarth. Die Änderung der Rechtsprechung durch das Bundesverfassungsgericht, 1998. insb. Teil I. Siehe bereits H.A. Oliphanr, A Return to Stare Decisis. in: American Bar Ass. Journal 1928, S .71 ff.; R. Laim. Stare Decisis. The Fundamentals and the Significance of Anglo-Saxon Case Law. 1947.

693 Siehe Artikel VI § 3 der Bundesverfassung. 694 Ähnlich Chief Justice Hughes in Coleman v. Miller, 307 U.S. 433, 450 ff. (1939),

der „no basis in either Constitution or Statute" fand, der Gerichtsbarkeit entsprechende Eingriffsbefugnisse zuzusprechen. „Article V. speaking solely of ratification. contains no Provision as to rejection." Hinsichtlich einer etwaigen Fristsetzungskompetenz des Supreme Courts befand Hughes: „Where are to be found the criteria for such a judicial determination? None are to be found in Constitution or Statute", vgl. ebenda 4 5 3 f. Siehe insgesamt zur Fragestellung, inwieweit es sich hierbei um eine „political quest ion" handelt L Henkin, Is There a .Political Quest ion ' Doctrine?, in: 85 Yale L.J. (1976), S. 597 ff.

6 9 5 256 U.S. 368 (1921). 696 307 U.S. 433 (1939).

242 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

of the people's will" untergraben. Eine solche Sichtweise würde dem Kongress gerade die „Handlungshoheit" hinsichtlich Erfolg und Scheitern einer Ratifikation erhalten.6 ' '7 Überdies unterstrich der Supreme Court in derselben Entscheidung, Artikel V überlasse dem Kongress die Autorität „todeal with subsidiary matters of detail as the public interest and changing conditions may require."698 In Coleman v. Miller vertiefte Chief Justice Hughes den Gedanken, indem er diese „matters of detail" ausdrücklich dem Kompetenzbereich des Kongresses zuordnete und den Gerichten diesbezüglich jegliche Zuständigkeit absprach.699

Ferner lässt Artikel V. dessen Wortlaut lediglich die „Ratifikation" und dies-bezüglich keine weitergehenden Optionen nennt, darauf schließen, dass ein Staat nach dem Akt der Ratifikation keine weitere rechts wirksame Beurteilung mit der Folge der Rücknahme der Ratifikation des Amendments vornehmen kann. Das gelegentlich vorgetragene Argument, bereits Madison habe darauf hingewiesen, ein Gliedstaat könne nicht bedingt ratifizieren, denn eine Annahme habe „in toto and for ever" zu erfolgen700 lässt sich dagegen kaum auf die Frage einer späteren Rücknahme übertragen.

(5) Beendigung des Amendment-Verfahrens

Das Amendment-Verfahren endete früher mit der offiziellen Unterrichtung des von dem Amendment betroffenen Ministers durch die einzelstaatliche Legisla-

697 Nach der Gegenauffassung musste diese Kompetenz auf einen „executive off icial" (heute den sog. ..Archivist") übertragen werden, der bei Fragen etwa nach der Gültigkeit eines Widerrufs der Ratifikation wiederum das Just izdepartment konsultieren könnte. Diese Konstruktion ist jedoch weder mit den vorgesehenen ministeriellen Funktionen des ..Archivist" zu vereinen noch leistet sie einen Beitrag zur Lösung einer ..political question", über die letztlich erneut nur der Supreme Court entscheiden könnte, nachdem der Kongress bei diesem Ansatz keinerlei Entscheidungsautorität besäße. Vgl. auch 16 Ops. of the Office of Legal Counsel (1992). S. 102 ff.. 116 ff.

698 Ebenda 375 f. 699 Coleman v. Miller 307 U.S. 433. 452 ff. (1939). Differenzierend in diesem Kontext

das Sondervotum von Justice Black, ebenda 456. 458. der sowohl den Kongress als auch den Gerichtshof in gewissen Fragestellungen im Zusammenhang von Artikel V lur berufen hält. Zudem forderte Black die Formulierung „reasonable t ime" aus Dillon v. Gloss zu verwerfen.

Hierauf wird u. a. in Congressional Research Center, Analysis and Interpretation. Annotat ions of Cases Decided by the Supreme Court of the United States. 1992 Edition: Cases Decided to June 29. 1992. Senate Document No. 1 0 3 - 6 and 1998 Supplement: Cases Decided to June 26, 1998. Senate Document No. 1 0 6 - 8 . S. 908, Bezug genommen. Im Wortlaut befand J. Madison. als in New York die Ratifizierung der Verfassung unter der Bedingung einer Berücksichtigung gewisser Amendments diskutiert wurde: „The Constitution requires an adoption in toto and for ever. It has been so adopted by the other States. An adoption for a limited time would be as defective as an adoption of some of the articles only. In short any condition whatever must viciate the ratification", zitiert nach: H. Syrett (Hrsg.) . The Papers of Alexander Hamilton. Bd. 5. 1962, S. 184.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 243

turen. die bestätigten („authenticate"), dass sie das vorgeschlagene Amendment ordnungsgemäß ratifiziert hatten. So bindend dieses Amendment für den Minister war, so endgültig war dessen Bestätigung durch Verkündung („proclamation") für die Gerichte sowohl im Hinblick auf etwaige folgende Einwände als auch angesichts der vermuteten Richtigkeit des legislativen Ratifikationsverfahrens.701

Diese ministerielle Aufgabe war sodann auf einen Funktionär, den sogenannten Administrator of General Services10' übertragen worden, bevor man zuletzt den Archivist of the United States für zuständig erklärte703. In der Entscheidung Dillon v. Gloss erklärte der Supreme Court, dass das 18. Amendment mit dem Zeit-punkt der Ratifikation des (damals für die erforderliche Mehrheit entscheidenden) 36. Staates in Kraft getreten sei und nicht erst mit dem Datum der Proklamation des Ministers.704 Auf die deckungsgleiche heutige Verkündung durch den Archivist ist diese Regelung zweifellos entsprechend anwendbar.

dd) Möglichkeit der Interpretation von Amendments

Inwieweit Artikel V der Bundesverfassung tatsächlich richterlicher Auslegung zugänglich ist, gehört wie bereits mehrfach erwähnt zu den umstrittendsten Fra-gen im Kontext des Amendment-Verfahrens. Vor 1939 erklärte sich der Supreme Court (trotz der Erkenntnis von der Endgültigkeit einer Ratifikation nach der offiziellen Bekanntmachung durch die jeweiligen Gliedstaaten705) bei einigen Ein-sprüchen gegen die Gültigkeit von Amendments zwar für zuständig, ließ jedoch alle Begehren an der Begründetheit scheitern. Die in vielerlei Hinsicht unbefriedi-gende Entscheidung Coleman v. Miller bedeutete schließlich einen Wendepunkt in der Haltung des Gerichtshofs,706 der nicht weniger als vier unterschiedliche Meinungen in seinen Reihen vereinte, wovon keine von mehr als vier Richtern

701 Vgl. Act of April 20. 1818. See. 2, 3 Stat. 439 sowie Leser v. Garnett, 258 U.S. 130. 137(1922) .

702 Siehe 65 Stat. 7 1 0 - 7 1 1 . See. 2: Reorg. Plan No. 20 of 1950. See. l ( c ) . 6 4 S t a t . 1272. 703 National Archives and Records Administration Act of 1984, 98 Stat. 2291, 1

U.S .C. See. 106b. 704 Dillon v. Gloss, 256 U.S. 368. 376 (1921). 705 User v. Garnett. 258 U.S. 130 (1922). 706 Vgl. Coleman v. Miller, 307 U. S. 433 (1939). Streitpunkt war die erfolgte Bestätigung

einer Ratifikationsresolution des Staates Kansas, die sieh aus dreierlei Gründen Angriffen ausgesetzt sah: zum einen sei das Amendment („child labor amendment" ) bereits ein-mal zurückgewiesen worden: darüberhinaus sei für die Ratifikation ein „unreasonable" Zeitraum, nämlich dreizehn Jahre verstrichen: zum dritten seien die Kompetenzen des Vizegouverneurs im Ratifikationsverfahren überschritten worden, indem seine St imme als die entscheidende zugunsten der Ratifikation gewertet wurde. Ausführl ich zu dieser Entscheidung statt vieler H.H. Clark. Coleman v. Miller: A major reduetion of the Juris-diction of the Supreme Court . 1942: R.F. Fairchild Cushman/B.S. Koukoutchos, Cases in Constitutional Law. 9. Aufi. 1999. Ch. 11. Siehe aber auch bereits Fairchild v. Hughes, 258 U.S. 126 (1922), als der Supreme Court konstatierte, eine private Person könne nicht vor

244 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

un t e r s tü t z t w u r d e . D i e M e h r h e i t u r t e i l t e , d a s s d i e K l ä g e r - M i t g l i e d e r d e s S e n a t s von K a n s a s - j e d e n f a l l s e in a u s r e i c h e n d e s I n t e r e s s e g e l t e n d m a c h e n k o n n t e n , u m d ie Z u s t ä n d i g k e i t d e r B u n d e s g e r i c h t e z u b e g r ü n d e n . M a t e r i e l l g i n g e s f re i l i ch w i e o b e n b e r e i t s a n g e d e u t e t s te t s u m d i e F r a g e , i n w i e w e i t e s s ich bei d e n s t r i t t igen P u n k t e n u m . .pol i t ica l q u e s t i o n s " h a n d e l e u n d , w e n n d i e s z u b e f ü r w o r t e n se i , o b d i e s e ü b e r h a u p t G e g e n s t a n d r i ch te r l i che r K o n t r o l l e se in d ü r f t e n . 7 0 7 L e t z t e n E n d e s s t eh t Coleman v. Miller f ü r d i e E r k e n n t n i s , d a s s e i n i g e E n t s c h e i d u n g e n h i n s i c h t -l ich „ p r o p o s a l " u n d R a t i f i k a t i o n v o n A m e n d m e n t s a u s s c h l i e ß l i c h d e m K o n g r e s s v o r b e h a l t e n s ind - sei e s a n g e s i c h t s d e s k l a r e n W o r t l a u t s d e r w e s e n t l i c h e n B e s t i m -m u n g (Ar t . V ) o d e r sei e s a u f g r u n d f e h l e n d e r E n t s c h e i d u n g s k r i t e r i e n s e i t e n s d e r G e r i c h t e , u m a b s c h l i e ß e n d u n d a n g e m e s s e n ü b e r A m e n d m e n t s z u b e f i n d e n . D e r S u p r e m e C o u r t a k z e n t u i e r t e d i e s e n G e d a n k e n in Baker v . Carrim, i n d e m er s ich e r n e u t - a u c h u n t e r B e z u g n a h m e au f Coleman v. Miller - d e r . .pol i t ica l q u e s t i o n d o c t r i n e " a n n ä h e r t e :

„(Coleman] held that the questions of how long a proposed amendment to the Federal Constitution remained open to ratification. and what effect a prior rejection had on a subsequent ratification, were committed tocongressional resolution and involved criteria of decision that necessarily escaped the judicial grasp."™'

B e i d e g e n a n n t e n A s p e k t e h o b d e r G e r i c h t s h o f e r n e u t a l s „po l i t i c a l q u e s t i o n s " h e r v o r . 7 1 0 E i n e Ü b e r z e u g u n g , d i e i n s p ä t e r e n E n t s c h e i d u n g e n b e s t ä t i g t w e r d e n s o l l t e . 7 "

den Bundesgerichten eine indirekte Entscheidung über die Gültigkeit und Annahme eines Amendments erstreiten.

707 Dazu neben den Sondervoten in Coleman v. Miller der bereits oben im Zusammen-hang mit dem Steit um Einzelfragen des Konvents erwähnte G. Rees. Throwing Away the Key: The Unconstitutionality of the Equal Rights Amendment Extension, in: 58 Texas L. Rev." (1980). S. 875 ff.. 886 ff.: ders. Comment . Rescinding Ratification of Proposed Con-stitutional Amendments . A Question for the Court , in: 37 La. L. Rev. (1977). S. 896ff . der eine generelle Befugnis des Supreme Court zum Jud ic ia l review" befürwortet . Im Ergebnis ähnlich, jedoch mit klaren Einschränkungen auf lediglich „formale Fragen" W. Dellinger. The Legit imacy of Constitutional Change: Rethinking the Amendment Process. in: 97 Harvard L.Rev. (1983), S. 3 8 6 f f . . 4 1 4 f f . Siehe weiterhin LH. Tribe. A Constitution We Are Amending: In Defense of a Restrained Judicial Role. in: 97 Harvard L. Rev. (1983), S. 433 ff., 435 ff. Eine Vielzahl von Argumenten zu dieser Themat ik findet sich auch in den . .Hearings" zur Equal Rights Amendment Extension. Hearings before the Senate Ju-diciary Subcommit tee on the Constitution. 95th Congress . 2d sess. (1978); Equal Rights Amendment Extension. Hearings before the House Judiciary Subcommit tee on Civil and Constitutional Rights, 95th Congress. l s t /2d sess. ( 1 9 7 7 - 7 8 ) . Zudem befassten sich zwei gliedstaatliche Gerichte mit der Problematik, um zu dem Schluß einer zumindest einge-schränkten Justiziabilität zu kommen. Dyerv. Blair. 390 F. Supp. 1291 (D .C .N .D . III., 1975); Idaho v. Freeman. 529 F. Supp. 1107 (D.C.D. Idaho, 1981). aufgehoben und „remanded to dismiss" durch den Supreme Court . 459 U.S. 809 (1982).

708 Baker v. Carr. 369 U. S. 186. 214 (1962). 709 Ebenda.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 245

ee) Die generellen Wirkkräfte des Amendment-Verfahrens

Auch nicht ratifizierte Vorschläge für eine Verfassungsänderung oder -ergän-zung können eine Verfassungskultur prägen. Dieser Aspekt gerät allzu leicht in Vergessenheit. Dabei scheint sich zunächst eine unterschiedliche Betrach-tungsweise aufzudrängen, je nachdem wie weit ein Amendment-Vorschlag im Verfahren fortgeschritten ist. Allerdings kann dieser Gesichtspunkt nicht derart pauschal bewertet werden, da auch (bereits im Kongress) gescheiterte „propo-sals" durchaus zu hitzigen Debatten in der Öffentlichkeit geführt haben7 2 und andere fast unbemerkt zuletzt sogar ratifiziert wurden713 . Allein die Diskussion einer etwaigen Verfassungsergänzung - oder Verfassungsänderung außerhalb der Vereinigten Staaten - leistet mehr als lediglich einen Beitrag zur Fortentwick-lung eines gewachsenen Verfassungsverständnisses; sie ist Ausdruck. Bestandteil und - insbesondere wenn sie öffentlich ausgetragen wird - Mittlerin einer lebendi-gen Verfassungskultur. Gleichzeitig werden unverzichtbare Fundamente für jede erfolgreiche Verfassunggebung errichtet. Das Ausschlußprinzip wird somit zwar an der Verfassung ausgerichtet, jedoch nicht an ihr vollzogen.

Neben den 27 durch die erforderliche Dreiviertelmehrheit der Staaten ratifizier-ten Amendments wurden den Staaten sechs weitere Vorschläge zur Entscheidung vorgelegt, die jedoch nie ratifiziert wurden.714 Von den zwölf vorgeschlagenen Amendment-Artikeln aus dem Jahre 1789 wurden die Artikel III bis XII rati-

7 I" Ebenda 217: „a textually demonstrable constitutional commitment of the issue to a coordinate political department; or a lack of judicially discoverable and manageable Standards for resolving it."

7 . 1 Siehe Powell v.McCormack, 395 U.S. 486 (1969); O'Brien v. Brown, 409 U.S. I (1972); Gilligan v. Morgan,413 U.S. 1 (1973). Vgl. aber auch einschränkend Uhler v. AFL-CIO. 468 U. S. 1310(1984) und das Sondervotum von Justice Powell in Goldwater v. Carter, 444 U.S. 996, 1001 (1979).

7 . 2 Siehe beispielsweise im Kontext des Bürgerkrieges die . .Amendments Proposed in Congress by Senator John J. Crit tenden. Decembcr 18. 1860" bzw. . .Amendments Proposed by the Peace Conference. February 8 - 2 7 . 1861" (im Wortlaut abgedruckt bei PL Ford, The Federalist. A commentary on the Constitution of the United States by Alexander Hamilton. James Madison and John Jay edited with notes, illustrative documents and a copious index by Paul Leicester Ford. 1898).

713 Die Ratifizierung des zunächst letzten, bereits geschilderten 27. Amendment über-raschte selbst Kenner des amerikanischen Verfassungslebens: das über 200-jährige Verfah-ren trug unterdessen nicht wesentlich zur Prägung der amerikanischen Verfassungskultur bei, vgl. dazu bereits vor der erfolgten Ratifikation S. Slavin, (ed.), The Equal Rights Amendment . The Politics and Process of Ratification of the 27th Amendment to the U.S. Constitution. Vol. 2. 1982.

714 Da diese sechs . .proposals" bislang in der deutschsprachigen Literatur nicht zu finden sind (vgl. aber G.Anastaplo, The Constitution of 1787. 1989. S . 2 9 8 f . ) . werden sie im Originaltext im Anhang abgebildet. Zu dem prominenten, gescheiterten ..Equal Rights A m e n d m e n t " vgl. M. Berry, Why E R A Failed: Politics. Women ' s Rights, and the Amending Process of the Constitution. 1986: J. Manbridge. Why we lost the ERA. 1986.

246 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

fiziert und gingen als die ersten zehn Amendments unter dem Begriff „Bill of Rights" in die Bundesverfassung ein. Der zunächst vorgesehene Artikel II mündete schließlich im schon mehrfach genannten 27. Amendment (1992).

Obgleich die Option einer formalen Verfassungsergänzung mittels des Amend-ment-Prozesses nie grundsätzlich in Frage gestellt wurde, tauchten doch in der amerikanischen Verfassungsgeschichte, wie an den obigen Beispielen illustriert, wiederkehrend Spannungen und heftige Kontroversen über Einzelheiten und Leit-gedanken des Amendmentverfahrens auf. Einigen Problemstellungen ist aller-dings eine gewisse Konstanz, auch in der unerbittlichen Haltung der konträr vertretenen Positionen nicht abzusprechen. Zu nennen ist etwa der Grundkonflikt zwischen dem Bedürfnis nach einem formalen Verfahren nach Artikel V. das be-reits T. Jefferson pointierte715, und dem Favorisieren einer Verfassungsanpassung durch eine starke Gerichtsbarkeit, was wiederum Äußerungen von Chief Justi-ce J. Marshall1* und später W. Wilson717 oder C. Tiedeman7!K deutlich werden lassen.719

Periodisch traten offen kundgetane Sorgen um die eigentliche Angemessenheit und die anti-demokratischen Wesenszüge des Amendment-Prozesses zutage.720

Naturgemäß waren diese Bedenken stets am Ende langer Zeitspannen zu konsta-

7 , 5 So bereits T. Jefferson im Briefwechsel mit J. Madison, vgl. P.L. Ford (ed.), The Works of Thomas Jefferson. Vol. 6. 1904 - 5 , S. 3 ff.

716 Marshall sah sogar breit angelegte Konstruktionen durch die Gerichtsbarkeit als erstrebenswerte Alternative zu konstanten Textänderungen der Verfassung oder zu späteren Verfassungskonventen, vgl. dazu mit Textbeispielen N. Cahn. An American Contribution. Supreme Court and Supreme Law. 1954, S . 2 5 . Neben den Anmerkungen Marshalls zur Rechtfert igung einer Stärkung der Gerichtsbarkeit in der bahnbrechenden Entscheidung Marbttry v. Madison, 5 U.S. 137, 176 (1803) ist seine Charakterisierung von Artikel V der Verfassung als „unwieldly and cumberous machinery" in Barron v. Baltimore, 7. Pet. 242. 150 (1833) bemerkenswert .

71 Siehe insbesondere W. Wilson, Congressional Government, in: A.S. Link (ed.), The Papers of Woodrow Wilson. Vol. 4. 1968. S. 134 f., wo er die Rolle des Supreme Court für eine Fortentwicklung der Verfassung prägnant hervorhebt.

7 1 8 C. Tiedeman. The Unwritten Constitution of the United States. 1890. S . 4 3 : , , | the] flesh and blood of the Constitution [are found] in the decisions of the courts and acts of legislature. which are published and enacted in the enforcement of the w ritten Constitution." Das Werk kann als . .Klassiker" amerikanischer Verfassungsliteratur bezeichnet werden.

19 Fundierte Einblicke in das Wechselspiel zwischen Artikel V und der Rolle der Gerichtsbarkeit gibt B. Acker man. The Storrs Lectures: Discovering the Constitution, in: 93 Yale L.J. (1984)". S. 1013 ff.: ders.. Transformative Appointments. in: 101 Harvard L. Rev. (1988), S. 1164 ff.

720 So beispielsweise in den Schrif ten von S.G. Fisher, der in ders.. The Trial of the Constitution. 1972 (Neudruck der Ausgabe von 1862), S. 55 die berühmt gewordenen rhetorischen Fragen stellte: „Why should they not be made by Congress. if dcmanded by necessity, as they would be by an English Parliament? Should they be approved and ratified by the people, what is the difference, whether their consent be expressed by a Legislature or by a Convention which they have elected. or before or af ter the alteration be made it

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 247

tieren - wie von 1804 bis 1865 und von 1870 bis 1913 -, während derer keine Amendments in die Verfassung Einzug hielten. Wohingegen in Zeiten höchster Amendment-Kreativität721 diesbezüglich höchstens gedämpfte Kassandrarufe zu vernehmen waren.722

Die Rechtsfragen im Zusammenhang mit der formalen, gebundenen Verfassung-gebung in den Vereinigten Staaten legen einige Grundsätze des amerikanischen Verfassungsverständnisses offen. Einerseits bestimmen Gerichtshof und Kongress letztlich das „Uhrwerk" der Verfassung. Zeit und Verfassung findet in ihrer inne-ren Bedingtheit eine Kontrolle.723 Der Gerichtshof hat trotz der selbst auferlegten Zurückhaltung allein schon in der Begründung derselben gewichtige Argumen-te für gewisse zeitliche Regelungen und Fristen getroffen.7 :4 Weiterhin ist die unbestrittene Aufmerksamkeit der amerikanischen Öffentlichkeit gegenüber der grundsätzlichen Option. Verfassungsergänzungen im Zuge eines formalen Verlah-rens durchzuführen, eindrucksvolles Zeugnis ihres tief verwurzelten Engagements um einen funktionierenden „Konstitutionalismus". Dabei entspricht es einer ver-breiteten Ansicht, tiefgreifende Regierungsprobleme seien gegebenenfalls durch eine Revision der Verfassung zu lösen.725 Derlei Bestrebungen stehen in einem steten Spannungsfeld zu den ebenso „geistreichen" Empfehlungen „moderner Ma-disons", die einen Verschleiß des Amendment-Instruments befürchten und daher gewisse verfassungsrechtliche Fragen ohne Rückgriff auf die Verfassung lösen

would still be the wishes of the same people carried into effect . If the people should be dissatisfied, they can say so through another Congress . If they continue to be satisfied af ter the alteration is tried, it would be thus established as a precedent to be engrafted on the Constitution, as is the case in England." Weiter bekräft igte Fisher, „ | t | h e Constitution belongs to the people of 1862, not to those of 1787", woraus er schließlich folgert: „ | i]t must and will be modified to suit the wishes of the former. by their representatives in Congress, just as the English Constitution has been modified by Parliament". vgl. ebenda. S . 9 6 f . Ähnlich später H. Croly, Progressive Dcmocracy. 1909. S. 130. der Artikel V als ..the most formidable legal obstacle in the path of progressive democratic fulf i lment" zu portraitieren wußte.

721 Eine Darstellung auffäl l iger . .amendment Clusters" bietet A. Grimes, Democracy and the Amendments to the Constitution. 1978. S. 157 f.

722 Bei J.R. Vile. American Views of the Constitutional Amending Process: An Intel-lectual History of Article V, in: 25 AJLH (1991), S . 4 4 f f . . 67 f. findet sich eine historische Zusammenstel lung aller Bedenkenträger. die mit unterschiedlichen Argumenten Artikel V der ..Büchse der Pandora" gleichstellen.

723 Grundsätzlich zu ..Zeit und Verfassung": P. Hüberle, Zeit und Verfassung, in: ZIP 21 (1974), S. 111 ff., wiederabgedruckt in: R. Dre ier /F . Schwegmann (Hrsg.). Probleme der Verfassungsinterpretation. 1976. S. 293 ff. Siehe auch ders., Zeit und Verfassungskultur, in: A. Pe i s l /A . Möhler (Hrsg.), Die Zeit. 1983. S. 289 ff.

724 Vgl. erneut die Entscheidungen Dillon v.Gloss, 256 U . S . 3 6 8 , 376 (1921) und Coleman v. Miller, 307 U.S. 433 (1939).

725 Wobei gelegentlich selbst eine neue Verfassung vorgeschlagen wurde, siehe nur den Ansatz von R. G. Tugwell, The Emerging Constitution. 1974.

248 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

wollen.726 Letztlich ist es aber auch gerade den „stabilen" Gegensätzlichkeiten in-nerhalb der endlosen Diskussion zuzuschreiben, dass neben den bereits genannten Gründen die Urfassung der amerikanischen Verfassung vergleichsweise unberührt blieb. Die amerikanische Bundesverfassung entspringt einer emotional aufgela-den Stimmung Ende des 18. Jahrhunderts und sie lebt in der Aufrechterhaltung emotionaler Bindungen zu ihr fort. Die genannten Konflikte allein im Amendment-Verfahren leisten hierzu durch aus ihren Beitrag.

Trotz fundamentaler Umwälzungen innerhalb der letzten zwei Jahrhunderte im gesellschaftlichen, sozialen, wirtschaftlichen, ethischen und politischen Um-feld 27 erscheint das parallele „Wachstum" der amerikanischen Verfassung um zehn plus siebzehn Amendments nur auf den ersten Blick dürr. Die beispielhafte Anpassungsfähigkeit der amerikanischen Verfassung hat neben der Möglichkeit der formalen Verfassungsergänzung also weitere Gründe. Die wesentlichen Ver-änderungen - und eben nicht lediglich Ergänzungen - sind demzufolge auch auf anderen Wegen als dem der gebundenen Verfassunggebung durchgesetzt worden.

Die Geschichte der amerikanischen Revisionspraxis zeichnet sich insgesamt und in föderativer Hinsicht durch zwei Merkmale aus: Formell wie gesehen dadurch, dass bislang alle Verfassungsergänzungen auf Vorlagen des Kongresses beruhten, die Gliedstaaten ihr Recht auf Einberufung eines Verfassungskonvents somit noch nie durchgesetzt haben, und materiell schließlich dadurch, dass die im 20. Jahrhundert gewachsenen Kompetenzverlagerungen auf den Bund weniger eine Folge förmlicher Anpassungen des Verfassungstextes, sondern vielmehr Ergebnis richterlicher Verfassungsinterpretation sind.72"

b) Europäische Union: von der Vertragsänderung zur Verfassungs(Vertragsänderung

Aus der verfassungshistorischen Betrachtung der heutigen Europäischen Union ergaben sich bereits unterschiedliche Entwicklungsschritte, die verfassungsschöp-fenden wie verfassungsändernden Charakter hatten. Es drängt sich daher auch

72l> Vgl. dazu auch kritisch m.w.N J.R. Vile. American Views of the Constitutional Amending Process: An Intellectual History of Article V. in: 25 AJLH (1991), S . 4 4 f f . , 61 ff.

27 Einen Einblick in den Amendmcnt-Prozess und dessen Konnexität zur amerikani-schen politischen Realität gewährt R. Bernstein. Amending America . 1993.

2 8 Es ist daher durchaus schlüssig, dass die unter bundesstaatlicher Sichtweise beson-ders wichtigen Amendments allesamt noch vor den sogenannten „New Deal"-Reformen angenommen wurden: so die „Bill of Rights", die Abschaffung der Sklaverei (13. Amend-ment), das Recht auf „due process" (14. Amendment) , die Einführung einer Bundesein-kommenssteuer (16. Amendment ) und die Volkswahl der Senatoren (17. Amendment) , vgl. auch mit Betonung der gliedstaatlichen Aspekte J. Annaheim. Die Gliedstaaten im amerikanischen Bundesstaat. 1992. S . 2 2 0 mit Fn .4 .

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 249

ein Blick auf die „gebundene Verfassunggebung" in Europa auf, der sowohl die Verträge als auch den Verfassungsvertrag und die jeweiligen Verfahrensschritte umfassen soll.

aa) Verfassunggebung in der Supranationalen Union

Von Interesse ist zunächst die generelle Frage nach den Voraussetzungen der Verfassunggebung in der Supranationalen Union. Dabei erscheint die Unterschei-dung zwischen einer verfassunggebenden und einer verfassungsändernden Gewalt in der Supranationalen Union nicht unproblematisch, insbesondere da ein völker-rechtlicher Vertrag üblicherweise von denselben Beteiligten, nämlich den Staaten, auf demselben Wege geändert wie geschlossen wird, und seine Änderung keinen Einschränkungen unterliegt. Jedoch erlaubt es das Recht der völkerrechtlichen Verträge, andere Verfahren der Vertragsänderung zu vereinbaren (vgl. Art. 401 WVRK), etwa die Änderung durch eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten oder die autonome Vertragsänderung durch die Unionsorgane. In diesem Falle ist die Unterscheidung ohne Schwierigkeit zu bewerkstelligen; die vertragsändernde ist eine begrenzte, erst mit dem Vertrag geschaffene Gewalt.

Im Übrigen: jede Vertragsänderung bewirkt zugleich eine materielle Verfas-sungsänderung auf nationaler Ebene, ohne dass der Text etwa des Grundgesetzes (GG) geändert würde: Art.23 Abs. 1 GG verweist konsequent auf Art.79 Abs. 2 und 3, nicht aber auf Absatz 1, in dem für jede Grundgesetzänderung eine aus-drückliche Änderung des Textes vorgeschrieben wird.729

In der Supranationalen Union bestimmt sich bereits der Verfassunggeber an-ders als im Staat und die Institution der Verfassung ist zunächst nicht auf einen bestimmten Anwenderkreis festgelegt. Verfassunggeber im weiten Sinne ist, wem es gelingt. Normen zu erlassen, die sich innerhalb des von ihnen betroffenen Herrschaftsverbandes mit der Autorität einer Verfassung im normativen Sinne durchsetzen. Im Staat soll das beispielsweise das Volk, es kann aber auch grund-sätzlich ein anderer Machtträger sein.

Nach T. Schmitz, ist in der Supranationalen Union hingegen die verfassungge-bende Gewalt bei den Mitgliedstaaten fixiert, denn die Verfassung könne als die höchstrangige Rechtsquelle in einem völkerrechtlichen Verfassungsverband nur in einem als Verfassung ausgestalteten Gründungsvertrag (Verfassungsvertrag)

7 : 9 Vgl. auch I. Pernice. Grundlagenpapier . Die Europäische Verfassung, 16. Sinclair-Haus-Gespräch. 11. /12. Mai 2001. Wenn beispielsweise in Österreich der Beitritt zur Eu-ropäischen Union als Gesamtänderung der Bundesverfassung behandelt wurde (vgl. dazu T. Oldinger. Verfassungsfragen einer Mitgliedschaft zur Europäischen Union. 1999). ver-deutlicht dies, in welchem Maße allein die Mitgliedschaft in der Europäischen Union auf nationaler Ebene materielle Verfassungsänderungen mit sich bringt, ohne dass dies im Verfassungstext zum Ausdruck kommen muss.

250 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

liegen, und die Rechtsmacht, völkerrechtliche Verträge zu schaffen, sei nach dem Völkerrecht den Staaten vorbehalten.7 '" Selbst wenn diese Andere beteiligen, ist die Verfassunggebung selbst, nämlich der Vertragsschluss als die Maßnahme, welche die Verfassungsnormen entstehen lässt. ausschließlich ihnen zuzurechnen. Demzufolge kann es eine verfassunggebende Gewalt des Volkes i. S. d. demokra-tischen Verfassungstheorie in einem völkerrechtlichen Verfassungsverband nach dieser Darstellung nicht geben.

Dieser Ansatz bedarf allerdings einer wichtigen Ergänzung: Eine Ausblendung bzw. Nicht- Einbeziehung des Volkes in das Verfahren der Verfassunggebung ist damit keineswegs verbunden. Im Lichte der demokratischen Verfassungstheorie muss die Unionsverfassung in ihrer Legitimität der vom Volk gegebenen Verfas-sung wenigstens weitmöglichst angenähert werden. Aus Sicht der Allgemeinen Staatslehre kommt es zudem auf eine entsprechend weit gehende Integrationskraft der Unionsverfassung an, um die Verfassungen der Mitgliedstaaten in ihrer bereits beeinträchtigten Integrationsfunktion effektiv zu ergänzen.

Beides würde freilich eine besondere Ausgestaltung des Verfahrens nahe legen, bei dem der völkerrechtliche Vertragsschluss durch begleitende Legitimitäts- und Integrationskraft vermittelnde Verfahrensschritte ergänzt wird oder (aus heutiger Sicht mit Blick auf den zunächst gescheiterten Verfassungsvertrag) worden wä-re. Einen dieser Schritte könnte neben einem öffentlich hinreichend begleiteten Konvent ein „duales Plebiszit" darstellen, in dem die Bürger gleichzeitig als Uni-onsbürger über die Billigung der Unionsverfassung und als Staatsbürger über die Ratifizierung des Verfassungsvertrages durch ihren Mitgliedstaat entscheiden.731

Sie würden dabei als Angehörige zweier „Völker" im demokratietheoretischen Sinne auftreten: des nationalen Staatsvolkes und eines „Unionsvolkes", das zwar kein Staatsvolk ist, aber nach der hier vertretenen Auffassung als allgemeine po-litische Gemeinschaft von Menschen wenigstens für seinen Herrschaftsverband demokratische Legitimation vermitteln kann.

730 So T. Schmitz, Integration in der Supranationalen Union. Das europäische Organi-sationsmodell einer prozesshaften geo-regionalen Integration und seine rechtlichen und staatstheoretischen Implikationen. 2001, S. 432 ff.

731 T. Schmitz (2001), S. 440 ff. spricht mit ähnlicher Ausrichtung von einem ..Doppel-referendum" und schlägt weitere . .Schritte" wie etwa eine ..vorbereitende Verfassungs-versammlung" deren notwendige Unterstützung „durch eine breite öffentl iche Diskussion durch flankierende Maßnahmen zur Förderung einer unionsweiten öffentl ichen Verfas-sungsdiskussion" gesichert würde. Solche Schritte ließen es zudem „sinnvoll erscheinen, zunächst einen Vorvertrag über die Modalitäten der Verfassunggebung zu schließen".

IV. Die Bestät igung und Fest igung des Verfassungsstaates 251

bb) Europäische Rechtsetzung als Spiegelbild der institutionellen Ordnung, der dynamische Charakter des Unionsrechts

Die europäische Rechtsetzung ist das Spiegelbild der institutionellen Ordnung der Europäischen Union. Die Organisationsstruktur der Union kann (noch) nicht als in sich geschlossenes institutionelles System verstanden werden. Das Bild einer supranationalen Gemeinschaftsebene, die der nationalen Ebene übergeordnet ist und auf diese durch ein-seitige Hoheitsakte einwirkt, blendet die in nicht unwesentlichen Teilbereichen weiterhin dominierende nationale Ebene aus und ist eher zu ersetzen durch das Bild eines interdependent-kooperativen Systems.

Europäische Rechtsetzung wird durch die Kooperation der Mitgliedstaaten mit den Organen der Europäischen Union geprägt. Diese Zusammenarbeit be-stimmt alle Phasen des umfassend zu verstehenden Normgebungsprozesses: Ne-ben der vorlegislatorischen Politikformulierung sowie der Umsetzungs- bzw. An-wendungskontrolle im nachlegislatorischen Stadium bestimmt sie vor allem die Entscheidungsfindung in der legislatorischen Phase und die Normpräzisierung im Rahmen der Komitologie („tertiäre Rechtsetzung"). Damit wird nicht nur das Primärrecht, sondern auch das Sekundärrecht durch die Regierungen der Mitgliedstaaten geprägt. Die überstaatliche Kooperation entspricht den Erforder-nissen des fortgeschrittenen Entwicklungsstandes der Europäischen Union. Die ursprünglichen Vorgaben des EG-Vertrags zur Durchsetzung der Gemeinschafts-ziele waren vorrangig auf eine Beseitigung der Behinderungen innerhalb des Ge-meinsamen Marktes gerichtet. Angesichts des gegenwärtigen Entwicklungstands werden weitere Integrationsfortschritte vor allem durch eine aktive Ausweitung gemeinschaftlicher Politikbereiche erreicht. Auf diesen Tätigkeitsfeldern gibt es entsprechend und mittlerweile fast traditionell stärkere Beharrungstendenzen der Mitgliedstaaten.

Mit einer schrittweisen Reduzierung der Legislativfunktion der Kommission nimmt das Gemeinschaftssystem Abschied von der ursprünglichen Konzeption einer spezifischen, auf die Durchsetzung des Gemeinschaftsinteresses ausgerichte-ten Funktionenteilung zwischen Parlament. Rat und Kommission und entwickelt sich zu einer Gewaltenteilung nationalstaatlicher Prägung mit einem Zweikammer-system. Die Einbußen der Kommission verringern die Durchsetzungsmöglichkeit genuiner Gemeinschaftsinteressen und ermöglichen eine verstärkte Einflussnah-me seitens der nationalen Exekutiven auf die Organe der Gemeinschaft. An die Stelle des Gemeinschaftsinteresses treten die koordinierten nationalen Partikular-interessen. Eine Rückbesinnung auf die tradierte gemeinschaftsspezifische Funk-tionenteilung ist angesichts gefestigter Verfahrenspraktiken weder normativ noch faktisch gangbar. In Einklang mit der konstatierten Verfassungsentwicklung und -praxis steht nur eine Lösung, welche die Interpretation des Primärrechts auf der Grundlage der tatsächlichen Entwicklung fortschreibt. Das Gemeinschaftssystem ist durch weitere Aufwertung des Europäischen Parlaments und Ausrichtung auf eine ebenenübergreifende Kooperation fortzuschreiben.

252 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Dieses Ergebnis entspricht dem dynamischen Charakter des Unionsrechts. Noch stärker als die nationalen Verfassungen sind die Verfahrensregeln der Europäischen Union ständigem Wandel unterworfen. Ihre Ausgestaltung wird durch die vertrags-ändernde und vertragsergänzende Verfassungsentwicklung im Zuge der Vertrags-revisionen sowie durch die verfassungsimmanenten Formen einer gestaltenden Fortbildung fortlaufend verändert. Die Entwicklung zu einer Gewaltenteilung natio-nalstaatlicher Prägung wird begleitet von dem erkennbar zunehmenden politischen Druck seitens der Mitgliedstaaten, die europäischen Rechtsetzungsverfahren in Analogie zu den vertrauten Paradigmata nationaler Normgebungsverfahren auszu-gestalten. Gleichzeitig sind die Regierungen und die nationalen Interessenverbände bestrebt, die europäische Rechtsetzung intergouvernemental, also auf unmittelba-re Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten, auszurichten. Trotz der durch zunehmende Kompetenzübertragung auf die Union herbeigeführten zentripetalen Entwicklung bleiben die Mitgliedstaaten bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben auf europäischer Ebene die zentralen Akteure. Angesichts kooperativer Steue-rungsmechanismen haben ihre Regierungen verstärkt Mitwirkungsmöglichkeiten bei der Gestaltung öffentlicher Aufgaben zurückgewonnen. Unvereinbar mit dem derzeitigen Integrationsverlauf erscheint deshalb eine Sichtweise, nach der die Mit-gliedstaaten im Zuge der weiteren Integration künftig in einer neuen „staatlichen Einheit" aufgehen oder von ihr überlagert werden. Das kooperative europäische Regelungssystem hebt den Nationalstaat nicht auf, sondern stärkt ihn letztlich.

Mit zunehmender (und eigentlich wünschenswerter) Vertiefungsdebatte der Union wurde es schwieriger, die noch bestehenden Defizite in der Verwirklichung der funktionalen Grundsätze zu überwinden. Ursache waren die in vergleichbarem Maße wachsenden Befürchtungen, die Mitgliedstaaten könnten dabei zuviel von ihrer Souveränität und Identität einbüßen. Solche Befürchtungen manifestierten sich auch in den Exekutiven der Mitgliedstaaten. Abhilfe verspricht bis heute des-halb wohl nur eine breite öffentliche Debatte unter Einbeziehung der Parlamente und aller gesellschaftlichen Gruppierungen.7 ' :

cc) Die Abänderbarkeit der Europäischen Verträge

Fraglich war freilich, ob das Verfahren der Vertragsänderung für eine solche öffentliche Debatte Raum lässt.

Die Abänderbarkeit der derzeitigen europäischen Verträge, die den Kern des europäischen Primärrechts ausmachen733, durch explizite Vertragsänderung ist in Art. 48 EUV geregelt. Danach kann die Regierung jedes Mitgliedstaates oder

732 So W. Dix. Grundrechtecharta und Konvent - auf neuen Wegen zur Reform der EU?, in: Integration 1/2001. S. 34 ff.

733 Nicht weiter thematisiert wird im Folgenden die Kategorie des ungeschriebenen Primärrechts.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 253

die Kommission dem Rat Entwürfe zur Änderung der Verträge, auf denen die Union beruht, vorlegen. Nach einem unionsinternen Verfahren, in das sowohl das Europäische Parlament, die Kommission als auch der Rat einbezogen sind, werden die geplanten Änderungen auf einer vom Präsidenten des Rates einzuberufenden Regierungskonferenz von den Vertretern der Regierungen der Mitgliedstaaten beraten und beschlossen. Sie bedürfen, um endgültig in Kraft zu treten, der (völ-kerrechtlichen) Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten nach deren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften. In Deutschland bemisst sich der Ratifizie-rungsprozess nach Art. 23 GG.

Dieses Verfahren sichert zwar den Regierungen größtmögliche Handlungs-freiheit für die Aushandlung der Vertragsänderungen. Andererseits begünstigt es eine Fortschreibung des vertraglichen Acquis, die sich möglichst eng an den bisherigen Texten orientiert, schon um die spätere Zustimmung in den Parla-menten und Volksabstimmungen nicht zu gefährden. Auch deshalb haben sich die vertraglichen Grundlagen der Union zu einem sehr komplexen Gebilde von Kompromisslösungen entwickelt.

Dieses Verfahren für die Weiterentwicklung der Union, die zunehmend supra-nationale Hoheitsrechte der Gesetzgebung ausübt und nicht nur völkerrechtliche Verpflichtungen ihrer Mitgliedstaaten begründet, erwies sich als kaum ausrei-chend. Vielmehr erforderte der Entwicklungsstand der Union neue Verfahren, die eine stärkere Einbeziehung der Parlamente und der Öffentlichkeit schon während Verhandlungen ermöglichen. Bereits den Regierungskonferenzen von Maastricht und Amsterdam wurde der Vorwurf gemacht, ihre Ergebnisse seien ohne breite politische Debatte und über die Köpfe der Parlamente und der Bevölkerung hinweg zustande gekommen.

Änderungen des Primär rechts können jedoch auch außerhalb des Verfahrens nach Art. 48 EUV erfolgen. Hier ist zunächst das in Art. 49 EUV geregelte Verfah-ren des Beitritts neuer Mitgliedstaaten zu nennen, welches in Gestalt der jeweiligen Beitrittsverträge neues bzw. geändertes Primärrecht zum Gegenstand hat. Auch hier greift jedoch letztendlich der Ratifizierungsvorbehalt aller Mitgliedstaaten nach ihren jeweiligen verfassungsrechtlichen Vorschriften.

Daneben bestehen jedoch weitere Mechanismen der Änderung von Primär-recht außerhalb des Verfahrens des Art. 48 EUV. In diesem Zusammenhang ist zwischen „vereinfachten" und „autonomen" Verfahren der Vertragsänderung zu unterscheiden.734 Das sog. „vereinfachte" Verfahren unterscheidet sich von dem in Art. 48 EUV vorgesehenen regulären Vertragsänderungsverfahren dadurch, dass

734 Dazu ausführlich H.-H. Herrnfeld, in: J. Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar . 2000. Art. 48 . Rn. 11, mit umfangreichen Nachweisen; vgl. auch eine Ausarbeitung der Wis-senschaft l ichen Dienste des Deutschen Bundestages (vom 24. 10 .2003) im Auftrag des Verf.

254 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

an Stelle einer Regierungskonferenz Vertragsänderungen durch den Rat mit ein-stimmigem Votum vorgenommen werden. Ein mitgliedstaatliches Ratifizierungs-erfordernis nach den jeweiligen Vorgaben der nationalen Verfassungen besteht jedoch auch im Rahmen dieses Verfahrens.735 Demgegenüber fehlt es an diesem Ratifizierungserfordernis im Rahmen des „autonomen" Vertragsänderungsverfah-rens, das eine - in der Regel vom Rat einstimmig auszuübende - Vertragsände-rungsbefugnis der EU-Organe, zumeist für technische Anpassungen, vorsieht.736

Das EU-Recht kennt hinsichtlich der gemäß Art. 48 EU-Vertrag vorzunehmen-den Abänderung von Primärrecht keine vergleichbaren inhaltlichen Schranken, wie sie etwa für den deutschen (Verfassungs-)Gesetzgeber bzgl. der Abände-rungsmöglichkeiten des Grundgesetzes in Art. 79 Abs. 3 GG niedergelegt sind.737

Dementsprechend sind die Mitgliedstaaten nach dem Wortlaut der Verträge frei, ohne inhaltliche Begrenzung jede Art von Änderungen oder Ergänzungen der Ver-träge, auf denen die Union beruht, vorzunehmen. Gleichwohl wird im Schrifttum der Standpunkt vertreten, es gebe einen (ungeschriebenen) änderungsfesten Kern des Unions- bzw. Gemeinschaftsrechts. Dazu werden etwa die in der Union zu-grunde liegenden Strukturprinzipien des Bekenntnisses zu den Menschenrechten und zu Demokratie und Rechtstaatlichkeit gezählt.738 Nicht hierzu zählt aber etwa der bereits erreichte Stand der Integration.

Eine „Umgehung" der genannten ausdrücklichen Vertragsänderungsverfahren durch implizite Vertragsänderungen hält der EuGH nach ständiger Rechtspre-

735 Beispielhaft seien an dieser Stelle die folgenden Anwendungsgebiete dieses Verfah-rens genannt: Art. 17 Abs. 1 EUV (Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik): Art. 42 EUV (Überführung von Teilen der bisherigen dritten Säule des E U V in den EG-Ver-trag): Art. 190 Abs. 4 EGV (einheitliches Wahlverfahren fü r das Europäische Parlament); Art. 22 EGV (Begründung neuer Rechte im Rahmen der Unionsbürgerschaft) .

736 Hier /u zählen etwa die Bereiche: Art. 187 (Verfahren der Assozi ierung); Art . 213 Abs. 1 (Änderung der Zahl der Kommissionsmitgl ieder) ; Art . 245 Abs. 2 (Änderung der Satzung des EuGH); Art. 7 Abs. 3 EUV (Aussetzung des Stimmrechts best immter Mitglied-Staaten); Art. 67 Abs. 2 (Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit im Bereich Justiz und Inneres). Vgl. zu den umfangreichen weiteren Anwendungsgebieten dieses Verfahrens nur die Auflistung bei H.-H. Herrnfeld (2000). Art. 48 . Rn. 12.

H.-J. Cremen in: C . C a l l i e s s / M . Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag. 2. Aufl. 2002. Art. 48 EUV. Rn .4 , mit ausführlichen weiteren Nachweisen aus dem Schrif t tum.

7 3 8 In diesem Sinne m . w . N . C. Vedder/H.P. Folz, in: E. G r a b i t z / M . Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union. Kommentar . 2003 (Stand: 21. Erg.Lieferung), Art . 48. Rn. 20. die diese Aussage auf eine angebliche völkerrechtliche Verpflichtung bzw. verfas-sungsrechtliche Selbstbindung der Mitgliedstaaten stützen. Im Ergebnis ebenso, allerdings mit abweichender Begründung H.-H. Herrnfeld (2000), Art. 48, Rn. 8. der dies damit begründet, dass die Strukturprinzipien als allen Mitgliedstaaten gemeinsame, ihrer Verfü-gungsgewalt entzogene Grundsätze auch dem Unionsvertrag bereits vorgegeben seien und damit nicht erst durch diesen gewährt, sondern durch diesen lediglich anerkannt werden (in diesem Sinne auch W. Meng, in: H. von der G r o e b e n / J . T h i e s i n g / C . D . Ehlermann (Hrsg.), Kommentar zum E G V / E U V . 5. Aufl. 1999. Art. N. Rn. 59 0-

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 255

chung für ausgeschlossen. Danach seien Änderungen der Verträge grundsätzlich nur im Wege der vertraglich vorgesehenen Änderungsverfahren möglich.7*9 Nach dieser Auffassung ist eine implizite Änderung der Verträge, etwa durch konklu-denten. gleichzeitig mit einem Organakt von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen Änderungsvertrag oder durch Erzeugung von Gewohnheitsrecht, selbst bei einem Einverständnis aller Mitgliedstaaten nicht möglich.740 Daneben kommt auch eine implizite Abänderung von Vertrags Vorschriften durch bloßes Organhandeln, wie etwa durch eine schlichte Praxis des Rates nicht in Betracht.741

Demgegenüber soll nach überwiegender Auffassung im wissenschaftlichen Schrifttum die ausdrückliche Änderung bzw. Aufhebung von Primärrecht durch die Mitgliedstaaten nach Maßgabe des allgemeinen Völkerrechts grundsätzlich auch außerhalb des Verfahrens des Art. 48 EUV möglich sein.742 Diese Befugnis der Mitgliedstaaten folgt aus ihrer Eigenschaft als „Herren der Verträge" und der Tatsache, dass das Unions- bzw. Gemeinschaftsrecht nach wie vor auf den zwischen den Mitgliedstaaten geschlossenen völkerrechtlichen Verträgen beruht. Aufgrund der grundsätzlichen Gleichrangigkeit aller Akte des Völkerrechts wäre demzufolge eine Abänderbarkeit dieser Verträge auf die dargestellte Art und Wei-se grundsätzlich möglich. Gleichwohl greifen auch bei derartigen, außerhalb von Art. 48 EUV erfolgenden Änderungen von Primärrecht die verfassungsrechtlichen Ratifizierungsanforderungen an den jeweiligen völkerrechtlichen Änderungsakt, so dass sich an der parlamentarischen Mitwirkungsbefugnis der nationalen Parla-mente in diesem Fall nichts ändern würde.

739 EuGH. Rs. 43 /75 . Slg. 1976. 455. rn. 56 /58 (Defrenne / Sabena); vgl. hierzu auch H.-H. Herrnfeld (2000), Art. 48. Rn. 16.

740 Dazu ausführlich H.-J. Cremer, in: C. Ca l l i e s s /M. Ruffert (Hrsg.) . Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl. 2002. Art. 48 EUV. Rn 4 f. Anden; aber BVerfGE 68. 1 (82), das eine konkludente Vertragsänderung durch einen sonstigen Änderungsvertrag für möglich hält. /. Seidl-Hohenveldern, Völkerrecht, 8. Aufl. 1994. Rn. 529 hält auch eine nachträgliche Änderung durch Erzeugung von Gewohnheitsrecht für denkbar.

741 In d iesem Sinne EuGH Rs. 68 /86 . Slg. 1988. 855, Rn. 24 (Vereinigtes Königreich/ Rat).

42 Diese völkerrechtlich wirksame Vorgehensweise kann aber zu e inem Konflikt mit Unions- bzw. Gemeinschaftsrecht führen. Vgl. zur hierzu geführten, wissenschaftlich kom-plexen Debatte nur C. VedderfH.P. Folz, in: E . G r a b i t z / M . H i l f (Hrsg.). Das Recht der Europäischen Union. Kommentar . 2003 (Stand: 21. Erg.Lieferung). Art . 48 . R n . 4 6 f f . So auch etwa H.-J. Cremer, in: C. Ca l l i e s s /M. Ruffert (Hrsg.), Kommentar zu EU-Vertrag und EG-Vertrag, 2. Aufl. 2002. Art. 48 EUV. Rn. 5: differenzierend aber H.-H. Herrnfeld. (2000). Art. 48. Rn. 16. d e r e i n e (unionsrechtliche) Bindung der Mitgliedstaaten annimmt, das Verfahren des Art. 48 EUV zu respektieren. Die allgemeinen Regelungen des Völ-kerrechts sollen demgegenüber durch Art. 48 E U V verdrängt worden sein. Jedoch stehe dieser unionsrechtlichen Selbstverpflichtung der .Mitgliedstaaten die in diesen verbliebene völkerrechtliche Kompetenz gegenüber, sich durch eine gegenteilige Übereinkunf t von dieser Selbstverpflichtung zu lösen.

256 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestä t igung

Zusammenfassend kann deshalb festgehalten werden, dass alle bisherigen, ex-pliziten oder impliziten Verfahren der Änderung von Vertragsprimärrecht, sieht man einmal von den beim Verfahren der „autonomen" Vertragsänderung gelten-den Besonderheiten ab. durch ein mitgliedstaatliches Ratifizierungserfordernis flankiert werden.

dd) Verfassungsänderung nachdem Verfassungsvertrag - die neuen Verfahren

Ein Schlüssel dafür, ob eine europäische Verfassung auf Dauer handlungsstei-gernd sein wird, liegt in dem Mechanismus, der für künftige Verfassungsände-rungen gefunden wird. Verfassungsergänzungen werden unvermeidlich sein und sind fraglos Ausdruck einer gewissen Normalität. Hierfür werden aber in Zukunft nicht mehr einstimmige Totalrevisionen erforderlich sein. Verfassungsergänzun-gen und Verfassungsänderungen im Sinne amerikanischer Amendments könnten im Prinzip mit qualifizierter Mehrheit möglich werden. Die Ausnahmetatbestände, bei denen Einstimmigkeit erforderlich ist, sind selbstredend.

Aber nur mit Hilfe einer klaren Trennung von fundamentalen und eher tech-nischen Fragen der Verfassungsentwicklung kann europäische Verfassungskon-tinuität mit dem lebendig sich weiterentwickelnden politischen Erfahrungs- und Anforderungsprozess der Europäischen Union in Einklang gebracht werden. Nach Art. IV-7 VerfV (Allgemeine und Schlussbestimmungen) wird die Konventsme-thode als Mechanismus häufiger Verfassungsänderungsdebatten eingeführt.

Bei technischen Änderungen kann der Rat mit einfacher Mehrheit beschließen, den Konvent nicht einzuberufen, „wenn seine Einberufung aufgrund des Umfangs der geplanten Änderungen nicht gerechtfertigt ist."

Obschon am Ende wiederum eine Regierungskonferenz stehen soll, „um die an dem Vertrag wahrzunehmenden Änderungen zu vereinbaren", ist der vorgesehe-ne Modus für Verfassungsergänzungen eine bedeutende Stärkung des föderalen Unionsprinzips, sofern der Europäische Rat am Ende im Normalfall mit quali-fizierter Mehrheit entscheiden kann. Jedenfalls darf Zwang zur Einstimmigkeit bei künftigen Verfassungsergänzungen nicht die faktische Unveränderbarkeit der Verfassung in einer Europäischen Union mit 27 oder mehr Staaten bedeuten, so als müsste dem derzeit möglichen Verfassungsergebnis eine Ewigkeitsgarantie gewährt werden.

( I ) Das FünfstufenmodeII des Verfassungsvertrages

Durch den Verfassungsvertrag wird eine fünfgliedrige Verfahrenskette zur Ände-rung und Anpassung des gesamten Vertrages sowie einzelner verfahrensrechtlicher und substantieller Aspekte normiert:743

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 257

Die erste Stufe bilden nunmehr zwei „ordentliche" Verfahren zur Änderung des Verfassungsvertrages gemäß Art. IV-443 VerfV. Dieses Verfahren beinhaltet zwei Varianten, wobei in der ersten Variante „Konvent plus Regierungskonferenz" der Präsident des Europäischen Rates einen Konvent einberufen muss, sollte der Eu-ropäische Rat nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der Kommission mit einfacher Mehrheit die Prüfung der vorgeschlagenen Änderungen beschlie-ßen. Dem Konvent ist es vorbehalten, die Änderungsentwürfe zu prüfen und im „Konsensverfahren" eine Empfehlung für die nachfolgende Regierungskonferenz abzugeben.

In der zweiten Variante ..Regierungskonferenz ohne Konvent" kann der Euro-päische Rat jedoch mit einfacher Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments beschließen, auf die Einberufung eines Konvents zu verzichten, wenn das Konventsverfahren aufgrund „des Umfangs der geplanten Änderungen nicht gerechtfertigt ist". Für den Fall, dass die Zustimmung des Europäischen Parla-ments hierzu vorliegt, wird auf der Grundlage eines Mandats des Europäischen Rates eine Regierungskonferenz zur Prüfung und zu etwaigen Änderungen des Vertrages einberufen. Verweigert hingegen das Parlament die Zustimmung, hat die Regierungskonferenz auf der Grundlage der dann im Konsensverfahren von einem Konvent angenommenen Empfehlungen zu arbeiten.

Auf der zweiten (übergeordneten) Stufe bestimmt Art. IV-444 VerfV die Re-geln für ein vereinfachtes Vertragsänderungsverfahren. Hierbei lassen sich zwei „Reformfelder" ausmachen, um die Substanz des Verfassungsvertrages ohne not-wendige Einberufung einer Regierungskonferenz oder eines Konvents zu ändern: So kann der Europäische Rat zum einen in Bereichen, in denen der Rat nach den Bestimmungen des Verfassungsvertrages einstimmig entscheiden muss, einstim-mig eine Überführung in den Entscheidungsmodus der qualifizierten Mehrheit beschließen. Und zum zweiten kann der Europäische Rat in den Bereichen, in welchen er europäische Gesetze und Rahmengesetze nicht nach dem ordentlichen Gesetzgebungs-, sondern nach „besonderen Gesetzgebungsverfahren" annimmt, einstimmig beschließen, diese europäischen Gesetze oder Rahmengesetze in das „ordentliche Gesetzgebungsverfahren" zu überführen.

Beide genannten Beschlüsse unterliegen freilich der Zustimmung des Europäi-schen Parlaments sowie einem Vorbehaltsrecht der jeweiligen nationalen Parla-mente. Das vereinfachte Vertragsänderungsverfahren scheitert, wenn auch nur ein einziges nationales Parlament innerhalb von sechs Monaten nach Übermittlung einer entsprechenden Vertragsänderungsinitiative sein Veto einlegt. Allerdings entfällt im Gegenzug die Verpflichtung zur Ratifikation der Vertragsänderungsbe-schlüsse.

7 J 3 Vgl. A. Maurer. Der Vertrag über eine Verfassung für Europa. Die neuen Handlungs-ermächtigungen der Organe. SWP-Diskussionspapier , 2005.

258 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Art. IV-444 VerfV findet seine weitgehende Entsprechung in der Passerelle innerhalb der ehemaligen, durch den Maastrichter Vertrag festgelegten Justiz-und Innenpolitik (Art. 42 EUV): Durch dieses Verfahren wird die Möglichkeit eröffnet, über einen längerfristigen Zeitraum auch diejenigen Politikfelder und Bereiche in die qualifizierte Mehrheit zu übertragen, bei denen es im Konvent bzw. in der Regierungskonferenz (zum Teil erwartbar) nicht gelungen ist. Durch die Einstimmigkeit der Übergangsentscheidung behält somit jeder Staat die Ent-scheidungshoheit über diesen signifikanten Schritt.744

Der Verfassungsvertrag sieht nunmehr auf einer dritten Stufe vor, dass gemäß Art. IV-445 VerfV der Europäische Rat eine „Änderung aller oder eines Teils der Bestimmungen von Teil III Titel III erlassen" kann.745 Der entsprechende Änderungsbeschluss des Europäischen Rates erfolgt einstimmig nach Anhörung des Europäischen Parlaments und der Kommission. Die nationalen Parlamente verfügen im Gegensatz zu den ersten beiden Fällen nicht über ein Vetorecht. Jedoch treten Vertragsänderungen erst nach Zustimmung der Mitgliedstaaten im Einklang mit ihren jeweiligen Verfassungsbestimmungen in Kraft. Allerdings beschränkt Art. IV-445 VerfV auch die Eingriffstiefe der jeweiligen Reformen, weshalb die nach diesem Verfahren angenommenen Vertragsänderungen nicht zu einer Ausdehnung der der Union übertragenen Zuständigkeiten führen dürfen. Konsequenterweise ist hierzu letztlich wieder der Rückgriff auf das ordentliche Vertragsänderungsverfahren vonnöten.

Die vierte Stufe beinhaltet gem. Art. 1-18 VerfV schließlich eine Bestätigung der schon länger geltenden Flexibilitätsklausel zur einstimmigen Ergänzung be-reits vertraglich sanktionierter Politiken. Sind im Verfassungsvertrag die zur Erreichung eines bestimmten Ziels notwendigen Befugnisse nicht vorgesehen, obgleich „ein tätig werden der Union im Rahmen der in Teil III festgelegten Poli-tikbereiche erforderlich" erscheint, dann kann der Rat einstimmig auf Vorschlag der Europäischen Kommission nach Zustimmung des Europäischen Parlaments die geeigneten Maßnahmen erlassen. Eine Änderung des Verfassungsvertrags gestattet Art. 1-18 VerfV hingegen nicht, sondern lediglich eine auf den Einzel-fall begrenzte Präzisierung bzw. Befugniserweiterung der Union. Hieraus ergibt sich die Voraussetzung, dass der Verfassungsvertrag ein entsprechend konkretes Unionsziel bestimmt, das durch die spezifischen Kompetenznormen selbst nicht

744 Andererseits stellt die Passerelle als Befugniserwei terung des Europäischen Rates einen Schritt dar. der die institutionelle Balance zwischen den Organen Parlament. Rat und Kommission deutlich zugunsten des Rates bzw. des Europäischen Rates verändert. In der Umsetzung von Art. IV-444 werden sich daher wohl auch grundsätzlichere Fragen der demokratischen Kontrolle des Europäischen Rates und seines Vorsitzenden stellen, vgl. auch A. Maurer (2005), S. 25.

745 Diese Formulierung bezieht alle internen Politiken der Union vom Binnenmarkt über die Wirtschafts- , Währungs- . Innen- und Justizpolitik bis hin zur Gesundheits- und Bildungspolitik mit ein.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 259

gedeckt ist. Ausgenommen sind hiervon jedoch explizit Maßnahmen, die auf ei-ne Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten abzielen würden, obwohl die betroffene Vertragsbestimmung jedwede Harmonisie-rung ausschließt. Demzufolge sind flexible Vertragsergänzungen ausgeschlossen, die auf eine Harmonisierung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften bei der Diskriminierungsbekämpfung, der Beschäftigungspolitik, der Sozialpolitik, der Gesundheitspolitik, der Forschungspolitik, der Kultur-, Bildung-, Ausbildungs-, Jugend- und Sportpolitik, der Tourismuspolitik, sowie im Katastrophenschutz und der Zusammenarbeit der Verwaltungen hinauslaufen würden.746

Zuletzt benennt und etabliert der Verfassungsvertrag auf einer fünften Stufe so genannte „Notbremsen" für die sekundärrechtliche Weiterentwicklung bestimm-ter Politikfelder. So wird etwa im Rahmen des freien Dienstleistungsverkehrs für Maßnahmen zur sozialen Sicherheit der Arbeitnehmer festgehalten, dass ein Mitgliedstaat im laufenden, ordentlichen Gesetzgebungsverfahren einen Vorbe-halt geltend machen kann, wenn und weil der geplante Rechtsstaat „die Kosten oder die Finanzstruktur seines sozialen Systems verletzen oder dessen finanzielles Gleichgewicht beeinträchtigen" könnte (Art. III-136.2 VerfV). Auch im weiten Bereich der Justiz- und Innenpolitik eröffnete erst eine solche, vom irischen Rats-vorsitzenden vorgeschlagene Option den Weg für eine Konsenslinie zwischen jenen Regierungen, die weitere Integrationsschritte zugunsten der strafrechtli-chen Kooperation forderten, und denjenigen (vor allem Großbritannien), die sich in Zurückhaltung übten. Im Kontext der sozialen Sicherheitspolitiken wird das Entscheidungsverfahren nach einem Staatsvorbehalt zunächst angehalten. Der Europäische Rat muss sich mit der Frage befassen und kann den geplanten Rechts-akt entweder an den Rat zur Weiterbehandlung zurück überweisen oder aber die Kommission um die Vorlage eines neuen Vorschlags ersuchen. Jeder Staat, der ein europäisches Rahmengesetz als mit den grundlegenden Prinzipien seiner Strafrechtsordnung für unvereinbar hält, verfügt im Bereich der Strafrechtszu-sammenarbeit ebenfalls über ein suspensives Vetorecht, um das jeweils laufende Ratsverfahren zu stoppen.747 Sodann muss sich der Europäische Rat mit der Fra-ge befassen und innerhalb einer Frist von vier Monaten entscheiden. Lässt sich analog zu den Bestimmungen aus Art. III-136 VerfV keine Einigung erzielen, kann automatisch eine verstärkte Zusammenarbeit eingeleitet werden, an der sich mindestens ein Drittel der Mitgliedstaaten beteiligen muss (Art. III-270.4 VerfV). Im Bereich der sozialen Sicherheit zeitigt die „Notbremse" wohl keine weiteren Konsequenzen für die faktische Fortentwicklung der Integration.74s Dahingegen eröffnet das Vetoverfahren in der Strafrechtszusammenarbeit de facto eine Fort-

746 Dazu A Maurer (2005). S. 26. 747 Art. III-270.3 VerfV'. 748 Bei entsprechend extensiver Praxis würde Art. 136 VerfV wohl eher den . .Rückbau"

der Integration sanktionieren.

260 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

entwicklung dieses Politikfelds unterhalb der Schwelle der Vertragsreform. Mit Blick auf beide „Notbremsen" mag sich die Unbestimmtheit des Verfahrenszeit-punkts als problematisch erweisen. So wird es sich gegebenenfalls nur im Rahmen eines Interinstitutionellen Abkommens zwischen Europäischem Parlament und Rat klären lassen, ob Staaten die „Notbremse" in jeder Phase des Gesetzgebungs-verfahrens oder nur in einer bestimmten Phase der ratsinternen Vorabstimmung ziehen dürfen.

(2) Gemeinschaftsautonome Verfassungsänderung betreffend einen Übergang in die Mehrheitsentscheidung

Der Europäische Rat entscheidet nach dem Entwurf des Verfassungsvertrages künftig ohne Ratifikationserfordernis, ob für einen Politikbereich zur Mehrheits-entscheidung übergegangen wird. Der Deutsche Bundestag und der Bundesrat müssen nur unterrichtet werden. Damit wird die Stellung von Deutschem Bundes-tag und Bundesrat erheblich geschwächt, da das in Art. 23 GG bei Hoheitsübertra-gungen vorgesehene 2/3-Erfordernis entfällt. Die Parlamente und insbesondere die Opposition werden dadurch nicht unerheblich geschwächt. Dies ist besonders problematisch, wenn die sich aus der betroffenen Rechtsgrundlage ergebenden Kompetenzen nicht klar abgegrenzt sind.

2. Kreative Verfassunggebung - Verfassungsinterpretation, insbesondere die Rolle der Obersten Gerichte

..In the Performance of assigned constitutional duties each branch of the Government must initially interpret the Constitution, and the interpretation of its powers by any branch is due great respect f rom the others."749

Besser hätte der Supreme Court kaum seiner eigenen Rolle als auch der al-ler Verfassungsorgane bei der zweiten „Alternative" der Einflussnahme auf die Entwicklung der amerikanischen Bundesverfassung Ausdruck verleihen können. Diese Funktion ist zunächst nur insoweit an eine gesetzliche Grundlage gebunden als man letztere zum Gegenstand der Tätigkeit bestimmt. Gilt es nun eine ver-fassungsrechtliche Frage zu beantworten, die sich nicht zweifelsfrei mittels der Verfassung selbst lösen lässt, wird die Interpretation der Verfassung erforderlich.

Die spezifische „Gestimmtheit des Verfassungsrechts" (K. Stern) führt zu Be-sonderheiten bei der Interpretation. „We must never forget that it is a Constitution we are expounding", hat der Supreme Court der USA bereits 1819 dekretiert.750

749 United States v. Nixon. 418 U. S. 683. 703 (1974). 750 MeCulloch vs. Maryland 17 U.S. 316 (407). Der Richter hat innerhalb des Inter-

pretat ionsrahmens durch Auslegung die normative Aussage zu finden, die den konkreten Fall löst. Hierfür steht ihm etwa in Deutschland eine gefestigte Methodik zur Verfügung,

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 261

D e m g e m ä ß ha t s ich d i e W i s s e n s c h a f t sei t l a n g e m b e m ü h t , „ P r i n z i p i e n d e r Ver -f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n " - s o d a s T h e m a d e r F r e i b u r g e r T i lgung d e r V e r e i n i g u n g D e u t s c h e r S t a a t s r e c h t s l e h r e r v o n 1961 - h e r a u s z u a r b e i t e n , w i e ü b e r h a u p t e in G r o ß t e i l d e r j ü n g e r e n A r b e i t e n z u m T h e m a A u s l e g u n g d e r V e r f a s s u n g s a u s l e g u n g g e w i d m e t s ind . 7 5 1 D a b e i w i rd e r s c h ö p f e n d d i e „ K o m p l e x i t ä t d e r I n t e r p r e t a t i o n s a u f -g a b e " o d e r ih re „ U n e r s c h ö p f l i c h k e i t " , d e r s ich j e d e E p o c h e u n t e r i h ren j e w e i l i g e n B e d i n g u n g e n neu zu s t e l l en ha t , b e t o n t .

U n z w e i f e l h a f t f ü h r t vo r a l l e m d i e R e c h t s b i l d u n g z u S p a n n u n g e n , z u w e i l e n

a u c h z u K o n f l i k t e n , z w i s c h e n d e n n a c h d e r G e w a l t e n - und F u n k t i o n e n o r d n u n g

d e r V e r f a s s u n g z u r g e n e r e l l e n R e c h t s e r z e u g u n g b e r u f e n e n P a r l a m e n t e n u n d d e n

V e r f a s s u n g s g e r i c h t e n .

V i e l f a c h w i r d e t w a d i e B e s o r g n i s z u z u n e h m e n d e r N e b e n o r d n u n g u n d A n n ä -h e r u n g v o n p a r l a m e n t a r i s c h e r u n d v e r f a s s u n g s g e r i c h t l i c h e r R e c h t s b i l d u n g b e t o n t . D a h i n t e r s teht e i n e d e m a n g e l s ä c h s i s c h e n R e c h t s k r e i s v e r t r a u t e T e n d e n z . G e s e t z e s -rech t und R i c h t e r r e c h t z u n e h m e n d a l s s ich w e c h s e l s e i t i g e r g ä n z e n d e , a rbe i t s t e i l i ge M o d a l i t ä t e n i m R e c h t s f i n d u n g s p r o z e s s z u s e h e n .

die mit den Stichworten „Wortlaut der Norm", „Wille des Gesetzgebers" und „Teleologie" angedeutet sei, insbesondere durch die ..Rechtsvergleichung" anzureichern ist (P. Hiiberle). Noch immer gilt der klassische Ansatz von Savigny, wonach Auslegung ..die Rekonstruk-tion des klaren oder unklaren Gedankens ist. der im Gesetz angesprochen wird, insofern er aus dem Gesetz erkennbar ist." Die Aufgabe des Richters. Recht zu sprechen, verbietet ihm grundsätzlich, die Entscheidung einer Streitfrage zu verweigern. Dieses insbeson-dere im französischen Recht entwickelte Verbot der Rechtsverweigerung („deni de justi-ce") gibt dem Richter die Kompetenz, das Recht erforderlichenfalls fortzuentwickeln und Lücken zu füllen, e twa durch Analogien. Diese Kompetenz versteht sich nicht von selbst. Scheint es doch auf den ersten Blick durchaus paradox, dass Richter, die dem gesetzten Recht unterworfen sind, zugleich die Kompetenz haben sollen, dieses Recht fortzubilden und damit in gewissem Sinne selbst die Normen zu schaffen, an die sie gebunden sind. Diesen Zwiespalt brachte der Richter am US-Supreme Court Hughes treffend auf den Punkt: ..We. the judges , we are under the Constitution, but the Constitution is, what the judges say, it i s" (zitiert nach en.thinkexist .com/quotat ion/we_are_under_a_consti tut ionl-lbut_the_consti tution/158023.html). Der Richter war - entgegen der Forderung von Mon-tesquieu - in Europa niemals lediglich ..la bouche qui prononce les paroles de la loi"(der Mund, der die Worte des Gesetzes verkündet). Im kontinentaleuropäischen Recht ist deshalb die Kompetenz des Richters zur Fortentwicklung des geschriebenen Rechts feste Praxis. Anders im angelsächsischen Recht.

751 Vgl. insbesondere die umfangreiche Lit.-Darstellung bei P. Hiiberle. Europäische Verfssungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 247 ff. mit den Fn. 165 ff. und dessen wichtige eigene Analyse des Themenfeldes. Zu den ..Prinzipien der Verfassungsinterpretation" ders., eben-da. S. 258 ff. Siehe auch K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. 20. Aufl. 1995 (Neudr. 1999). S. 19ff . : R. Dreierl F. Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation. 1976.

262 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Ein kurzes Wort zur verfassungskonformen Auslegung.752 Sie ist ein ebenso unentbehrliches und - in nicht ganz leicht zu definierenden Grenzen753 - auch all-gemein anerkanntes Instrument der Normerhaltung (wie etwa im amerikanischen Rechtskreis bereits treffend von Justice Brandeis festgestellt wurde754), birgt aber durchaus auch die Gefahr von Funktionsverwischungen. Unrichtig ist es allerdings anzunehmen, durch eine verfassungskonforme Auslegung würde der Handlungs-spielraum des Gesetzgebers stärker als durch eine Kassation beschnitten. Erweist sich unter mehreren möglichen eine bestimmte Auslegung einer Norm als verfas-sungswidrig, bestehen aber neben der in diesem begrenzten Umfang aufrechterhal-tenen Norm andere Möglichkeiten zur Regelung des ihren Gegenstand bildenden Sachverhalts, so hindert den Gesetzgeber nichts, diesen Sachverhalt nach seinen Vorstellungen neu zu gestalten: nur die eine - verfassungswidrige - Lösung bleibt ihm verwehrt.

a) Allgemeine Erwägungen zur Verfassungsinterpretation

Die juristische Hermeneutik teilt grundsätzlich die Probleme der allgemeinen Hermeneutik755 , die vor allem in der Frage kulminieren, ob das Sinnverstehen ein rational kontrollierbares, intersubjektiv prüfbares Verfahren ist. K. Hesse sieht

752 Dazu etwa K.Stern. Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland. l . B d . . 2. Aufl. 1984. § 4 III 8 d. S. 135 ff.: K. Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundes-republik Deutschland. 20. Aufl. 1995, Rdnr. 79 ff., jeweils m.w. N.

753 Vgl. auch BVerfGE 54. 277 (299 f.). 754 Justice Brandeis in seiner Dissenting Vote zu Ashwander v. Tennessee Valley Autho-

rity, 297 US 288. 346 ff.( 1936). 755 Eine „allgemeine Hermeneut ik" als Grundlagendisziplin der Geisteswissenschaften

ist im 19. Jahrhundert insbesondere von F.D.E. Schleiermacher und IV. Dilthey entwickelt worden, vgl. F. D.E. Schleiermacher, Hermeneutik (hrsg. von H. Kimmerle), 2. Aufl. 1974: W. Dilthey, Die Entstehung der Hermeneut ik , in: ders. (Hrsg.), Gesammel te Schrif ten. Bd. 5 . 7 . Aufl. 1982; ders., Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunf t . , in: ders. (Hrsg.), Gesammelte Schriften. Bd. 7. 7. Aufl. 1979. Der Einfiuss beider reicht bis in die Gegenwart (M. Heidegger. R. Bultmann. H.-G. Gadamer. E. Betti. G. Eheling). Die Differenz zwischen Methodologie, d. h. als Kunstlehre von den Regeln der Auskegung (ars interpretanda und Strukturtheorie als Lehre vom Zusammenhang zwischen Zeichen Bedeutung (signum et res) spiegelt sich in der jüngeren Hermeneutikdebatte vor allem bei Gadamer und Betti. Die lange Jahre geführ te Kontroverse zwischen analytischer Wissenschaftstheorie und geistes-wissenschaftl icher Hermeneutik hat sich dagegen entschärft, nachdem auch die analytische Wissenschaftstheorie das Problem des Sinnverstehens in ihre Überlegungen einbezieht. Die Theorie der Interpretation (seit d e m 15. Jahrhundert nach dem griechischen ep|ir|V£D£lV „Hermeneut ik" genannt) gab es bereit seit der Antike und im Mittelalter (vgl. auch zuletzt J.Schröder. Entwicklungstendenzen der juristischen Interpretationstheorie von 1500 bis 1850. in: ZNR 2002. S . 5 2 f f . ) und spielte eine gewichtige Rolle in der Theologie (als Lehre vom vierfachen Schriftsinn - sensus litteralis. allegoricus. moralis und anagogicus, vgl. T. v.Aquin, Summa theologiae I, 1 q. 10 - die Idee eines „Auslegungskanons" war demnach früh geboren und im theologischen Kontext nicht wie vielfach behauptet erst seit Schleiermacher diskussionswürdig) . Beispiele späterer musikalischer Hermeneutik

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 263

demgemäß idealtypisch die Aufgabe der Verfassungs-Interpretation zutreffend darin, „das verfassungsmäßig »richtige4 Ergebnis in einem rationalen und kon-trollierbaren Verfahren zu finden, dieses Ergebnis rational und kontrollierbar zu begründen und auf diese Weise Rechtsgewißheit und Voraussehbarkeit zu schaffen - nicht etwa nur. um der Entscheidung willen zu entscheiden.4 '756 Eine Einschätzung, die „transatlantisch" Geltung beanspruchen kann, wenngleich ihrer Umsetzung kaum nachgekommen wird.757 Die Suche nach den Aufgaben und Zielen der Verfassungsinterpretation mündet oftmals zwangsläufig in einer Kata-logisierung von Schlagworten 5S. die nicht falsch sein müssen, denen jedoch in der Regel das verbindende Element, eine Ummantelung der begrifflichen Nacktheit fehlt. Dabei könnte möglicherweise ein kulturwissenschaftlicher Ansatz einen Rahmen bilden, um differierend anmutende Zielsetzungen und Aufgabenstellun-gen ebenso einer übergeordneten Sichtweise unterzuordnen wie dies im Kontext verschiedener methodischer Ansätze bereits vorgenommen wird759. Unter dem Strich ist dabei eher eine fruchtbare Ergänzung und weitere Auskleidung des Kulturbegriffes zu erwarten als ein ungeordnetes Nebeneinander wirrer Termini unter einer vagen Bezeichnung.

Eine Betrachtung der möglichen Interpretations-,.Objekte" legt die Vielfalt juristischer Hermeneutik offen. Grundsätzlich finden sich so viele Arten der Interpretation wie es Rechtsquellen gibt. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht in erster Linie die Verfassung als „Quelle interpretatorischer Tätigkeit" und die obersten Gerichte der Vereinigten Staaten bzw. der Europäischen Union re-spektive der Europäischen Gemeinschaften. Wie am Beispiel der Vereinigten Staaten bereits illustriert ist die - in der Regel in einem fundamentalen Verfas-sungsgesetz rechtlich fixierte - Verfassung konstitutives Merkmal des modernen politischen Gemeinwesens. Der moderne Konstitutionalismus entspringt u. a. den

bieten der Versuch einer Wiederbelebung der Affektenlehre durch H. Kreizschmar sowie A. Scherings Deutung der Musik L. v. Beethovens.

756 K. Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. 20. Aufl. Neudr. 1999. S. 21.

757 Zur mangelnden Bewältigung der gesetzten Aufgabe in der deutschen Verfassungs-wirklichkeit vgl. K. Hesse, ebenda.

758 So werden an Aufgaben genannt (zitiert nach einer Aufzählung von P. Hiiberle. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft . 2. Aufl. 1998. S. 228 Fn. 14): Gerechtigkeit. Bil-ligkeit. Interessenausgleich, befr iedendes und befriedigendes Ergebnis. Vernünftigkeit . Praktikabilität. Sachgerechtigkeit . Rechtssicherheit. Berechenbarkeit . Transparenz. Kon-sensfähigkeit . Methodenklarhei t . Offenheit . Einheitsbildung, Harmonisierung, normative Kraft der Verfassung, funktionelle Richtigkeit, effektive grundrechtl iche Freiheit, soziale Gleichheit, (gemeinwohl)gercchte („gute") öffentl iche Ordnung.

759 Vgl. P. Hiiberle. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft . 2. Auflage 1998. S. 227: „Da die einzelnen Interpretationsmethoden unterschiedliche Ausschnitte dessen beibringen, was kulturell in der Zeit geschieht, könnte die kulturwissenschaft l iche Verfassungsinter-pretation einen Rahmen für die Kombination der Methoden bei der Verfassungsauslegung bieten."

264 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

g r o ß e n „ R e v o l u t i o n e n " d e s a u s g e h e n d e n 18. J a h r h u n d e r t s . S e i t d e m ha t d i e „ K o n -s t i t u t i o n a l i s i e r u n g de r H e r r s c h a f t " (D. Grimm™) in u n t e r s c h i e d l i c h e r G e s t a l t d e r h i s t o r i s c h - p o l i t i s c h e n W e l t ih re P r ä g u n g v e r l i e h e n u n d d a r ü b e r h i n a u s i m Z u g e d e r G l o b a l i s i e r u n g d e r Po l i t ik u n d d e r A u s b r e i t u n g m a n c h e r A s p e k t e d e r Ver -f a s s u n g s l e h r e d i e n i c h t - w e s t l i c h e n G e s e l l s c h a f t e n e r f a ß t . S e i n e r G r u n d i d e e n a c h d r ü c k t s ich i m m o d e r n e n B e g r i f f de r V e r f a s s u n g d o r t , w o sie a l s „ O r d n u n g d e s Po-l i t i s c h e n " (U.K. Preuß761) k o n z i p i e r t w i r d , de r zen t r a l e S i n n g e h a l t d e r p o l i t i s c h e n K u l t u r a u s . U n t e r d i e s e m A s p e k t k o m m t d e r m o d e r n e n V e r f a s s u n g e i n e d o p p e l t e F u n k t i o n zu: ih re r s y m b o l i s c h e n F u n k t i o n e n t s p r e c h e n d d e u t e t und n o r m i e r t s ie d i e O r d n u n g s g e h a l t e d e r p o l i t i s c h e n K u l t u r d e r G e s e l l s c h a f t . Ihrer i n s t r u m e n t e l l e n F u n k t i o n e n t s p r e c h e n d l i e fe r t s ie d a s S p i e l r e g e l w e r k f ü r d i e p o l i t i s c h e n P r o z e s s e d e s p o l i t i s c h e n S y s t e m s . 7 6 2 A l s q u a s i - k a n o n i s c h e r Text s teht s ie e i n m a l f ü r e i n e He r -m e n e u t i k d e r g e s e l l s c h a f t l i c h e n E x i s t e n z m i t e i n e m v e r b i n d l i c h k e i t s f o r d e r n d e n G e l t u n g s a n s p r u c h . Z u m a n d e r e n ist s ie K r i s t a l l i s a t i o n s p u n k t f ü r e i n e n p e r m a n e n -ten h e r m e n e u t i s c h e n P r o z e s s d e r A u s l e g u n g d e r d u r c h sie v e r b ü r g t e n P r i n z i p i e n i m M e d i u m d e r p o l i t i s c h e n D e u t u n g s k u l t u r d e r G e s e l l s c h a f t . E in w e i t r e i c h e n d e r w i s s e n s c h a f t l i c h e r u n d p o l i t i s c h e r D i s k u r s ü b e r d a s W e s e n d e r V e r f a s s u n g s h e r m e -neu t ik ist v o r l ä u f i g n u r in d e n Ve re in ig t en S t a a t e n und n e u e r d i n g s a u c h in K a n a d a a u f g e n o m m e n w o r d e n . 7 ' 1 E r b e w e g t s ich „Toward a C o n s t i t u t i o n a l H e r m e n e u t i c s "

760 Vgl. D. Grimm. Die Zukunf t der Verfassung. Frankfurt 1991. 761 Siehe den Titel des von U. K. Preuß herausgegebenen Sammelbandes ..Zum Begriff

der Verfassung. Die Ordnung des Politischen. 1994". 762 Eine . .Hermeneutik des Polit ischen" bewegt sich auf zwei Ebenen. Analytisch ist

sie eine empirisch-hermeneutische Theorie . Sie analysiert die soziokulturellen Ordnungs-gefüge auf die ihnen unterliegende Ordnungslogik hin und versteht das durch die Pluralität von Ordnungs- und Symboltypen vermessene geschichtliche Feld menschlicher Selbstver-ständigung und -aktualisierung als Manifestation des Politischen. In diesem solchermaßen umrissenen Objektbereich der empirisch-hermeneutischen Theorie spiegelt sich wiederum der anthropologische Sachverhalt des Menschen als eines sich selbst interpretierenden Wesens, als animal symbolicum. Dabei entspringen Ordnungsinterpretat ionen in einem sehr grundsätzl ichen Sinn der fundamentalen menschlichen Existenzerfahrung. Insoweit gehen in die Hermeneutik stets Realerfahrungen der historisch-sozialen Lage ein. Zweitens bauen auf einer solchen Grundhermeneut ik des Menschlichen eine Vielzahl von Deutungen jeweils sozialer Kontexte auf, deren Ordnungszentrum eine hegemoniale Identitätsdeutung des Menschlichen ist, die in peripheren Deutungen ausstrahlt. Drittens, das Specif icum einer solchen Hermeneutik des Politischen ist deren Verankerung in der Machtstruktur, insofern sie Ausdruck des Ringens um das Deutungsmonopol fü r die politische Kultur (die „Wahrheit" der Gesellschaft) , dessen Durchsetzung und Aufrechterhaltung ist. Das Medium der Hermeneutik des Politischen ist die politische Deutungskultur einer Gesell-schaft . Die machtgestützte Hermeneut ik des Politischen und deren Manifestation in der politischen Ordnungslogik garantiert einerseits eine gewisse gesellschaftl iche Stabilität, andererseits ist sie stets der Herausforderung durch alternative Hermeneutiken ausgesetzt. Das Deutungsmonopol der hegemonialen Hermeneutik ist niemals absolut, vgl. zu dieser Themat ik ausführlich J. Gebhardt, Verfassung und Politische Kultur in Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Verfassung und politische Kultur. 1999.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 265

(G . Leyh)76*, w i e s ie s ich in d e r D e b a t t e z w i s c h e n t e x t i m m a n e n t a r g u m e n t i e r e n d e n „ i n t e r p r e t i s t s " und v e r f a s s u n g s g e s t a l t e n d e n „ n o n i n t e r p r e t i v i s t s " n i e d e r s c h l ä g t 6 ?

und i n e i n e n w e i t e r e n h e r m e n e u t i s c h e n Z u s a m m e n h a n g v o n „ k a t h o l i s c h e n " und „ p r o t e s t a n t i s c h e n " I n t e r p r e t a t i o n s s c h e m a t a e rs te l l t wird 7 6 " . I n d i e s e n n a t u r g e m ä ß s t e t s p o l i t i s c h a u f g e l a d e n e n D e b a t t e n z e i c h n e t s i ch d a s P r o b l e m f e l d e i n e r ver -g l e i c h e n d u n t e r s u c h e n d e n V e r f a s s u n g s h e r m e n e u t i k 7 6 7 i n d e n mi t v e r f a s s u n g s -r i c h t e r l i c h e m P r ü f u n g s r e c h t a u s g e s t a t t e t e n Po l i t i en e t w a de r U S A , D e u t s c h l a n d s , K a n a d a s . A u s t r a l i e n s u n d F r a n k r e i c h s a b . w o b e i i n e i n i g e n L ä n d e r n i n d e r R e c h t s -a b e r a u c h P o l i t i k w i s s e n s c h a f t v o r d e r g r ü n d i g e i n I n t e r p r e t a t i o n s m o n o p o l d e r Ver-f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t b e h a u p t e t w i r d . I n s g e s a m t ha t s ich e i n e in s ich k o n t r o v e r s e T r a d i t i o n d e r V e r f a s s u n g s h e r m e n e u t i k h e r a u s g e b i l d e t , d i e a u c h u n t e r m o d e r n e n k u l t u r h e r m e n e u t i s c h e n 7 6 8 V o r z e i c h e n z u a n a l y s i e r e n w ä r e . 7 6 9

D i e s e r U n t e r s u c h u n g v o r g e l a g e r t ist j e d o c h d i e F r a g e , o b e s t a t s ä c h l i c h d i e In-

h a b e r s c h a f t e i n e s I n t e r p r e t a t i o n s m o n o p o l s g e b e n k a n n - e i n e n i n t e r p r e t a t o r i s c h e n

Siehe H. Beiz, Constitutional and Legal History in the 1980s: Reflections on Ame-rican Consti tut ionalism. in: 4 Benchmark (1988), S. 243 ff.; M.A. Graber. Why Interpret? Political Justification and American Constitutionalism. in: 56 The Review of Politics (1994). S. 415 ff. Zur amerikanischen Verfassungskuhur aus dem deutschen Schrif t tum J. Gebhardt. Verfassungspatriotismus. Anmerkungen zur symbolischen Funktion der Verfassung in den USA. in: Akademie für politische Bildung (Hrsg.). Zum Staatsverständnis der Gegenwart . 1987.

764 G. Leyh, Toward a Constitutional Hermeneutics, in: 32 American Journal of Political Science (1988), No. 2, S. 369 ff.

765 Yg| p Kommers. The Supreme Court and the Constitution: The Continuing Debate on Judicial Review, in: 47 The Review of Politics (1985). No. 3, S. 113 ff.

766 Dazu H. Levinson, Constitutional Faith. 1989. 6 Hierzu gibt es Ansätze bei J. Gebhardt/R. Schmalz-Bruns (Hrsg.), Demokratie,

Verfassung und Nation. 1994 und im Gesamtwerk P. Häberles. Bedeutsam vor allem das Werk von D.N. MacCormick/R. S. Summers. Interpreting Statutes: a Comparat ive Study. 1991.

768 Es grenzt an eine Tautologie, von „Kulturhermeneutik" zu sprechen, da Hermeneutik immer mit „Kul tur" zu tun hat: zum einen sind ihre Gegenstände zweifellos Erzeugnisse kultureller Praxis, anfangs vor al lem religiöse, juristisch-politische und philosophische Texte. Zweitens stellen hermeneutische Bemühungen ihrerseits ein kulturelles Phänomen dar. oft direkt in kulturelle Reflexivität e inmündend. Drittens zielt Hermeneutik stets auf kulturelle Praxis, auf die Herstellung eines Zusammenhangs zwischen verschiedenen, meist auch räumlich und zeitlich getrennten kulturellen Dokumenten sowie zwischen deren Verfassern. Zum Begriff der „Kul tur" sehr detailliert P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft . 2. Auflage 1998. S. 2ff; ders.. Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat. 1980. S. 13 ff.; ders.. Vom Kulturstaat zum Kulturverfassungsrecht, in: ders., Kulturstaat-lichkeit und Kulturverfassungsrecht. 1982. S. I, 27 ff., jeweils mit zahlreichen Nachweisen weiterführender Literatur.

769 Diese Forderung erhebt auch J. Gebhardt, Verfassungspatriot ismus (1987). Im vol-lausgebildeten Konstitutionalismus wird gebetsmühlenart ig die Frage des verfassungs-gerichtlichen Interpretat ionsmonopols behandelt, so wie es sich scheinbar in den USA herausgebildet haben soll.

266 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Alleinanspruch über Verfassungsbestimmungen, die wegen ihres besonderen Cha-rakters nicht allein durch „schlichte" juristische Interpretation etwa im Sinne des Savignyschen Kanons zu erschließen sind, die aufgrund der normativen, materia-len und funktionalen Besonderheiten des Verfassungsrechts einen „Kuns tgr i f f ' erforderlich machen, der in der deutschen Verfassungslehre weithin als „Kon-kretisierung" bezeichnet wird.770 Einer solchen Konkretisierung bedarf es im Verfassungsstaat namentlich bei den fundamentalen Staatsstrukturprinzipien, wie Demokratie, sozialer Rechtsstaat. Bundesstaat und Gewaltenteilung, bei nahezu allen Grundrechten, schließlich bei Staatszielbestimmungen.

Rechtsvergleichend lässt sich dieser Gedanke auch auf andere Verfassungsstaa-ten übertragen, wobei die Konkretisierungsaufgabe für das Verfassungsrecht zu-nächst auf die Verfassungsgerichtsbarkeit wegen ihrer Letztentscheidungsfunktion „fokussiert" scheint.

Also doch insgesamt ein Interpretationsmonopol der Verfassungsgerichtsbar-keit? Mitnichten, selbst wenn man einer Letztentscheidungsfunktion monopol-ähnliche Strukturen nur schwer absprechen kann. Gleichwohl wird die richterli-che Entscheidung durch vorhergehende Interpretationen anderer Teilnehmer am „Verfassungsleben" wesentlich mitbeeinflusst. P. Häberle spricht zu Recht von ei-ner „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" und bezieht in die Prozesse der Verfassungsinterpretation „potentiell alle Staatsorgane, alle öffentlichen Poten-zen. alle Bürger und Gruppen" ein.T; : Häberles Gedanke wird in den Vereinigten Staaten zwar bislang (noch) nicht unverhohlen rezipiert, findet jedoch zunehmend theoretische Entsprechungen. : : So formuliert etwa W. Murphy treffend:

„A final definitional matter is important , especially for Americans who of ten assume that judges have a monopoly on constitutional interpretation. In fact, however, even in a constitutional demoeraey with a constitutional text and judicial review. all public officials sometimes interpret - and properly if not always conrectly so - the Constitution. Not only judges but also legislators interpret when they resolve constitutional doubts for or against a bill as do executive officials when they decide they can, or cannot. consistently with their oaths of office carry out a particular Public policy. Even police off icers engage in constitutional interpretation when they decide they can or cannnot arrest a n d / o r search a suspect. Moreover, leaders of interest groups frequently offer

770 Vgl. etwa H. Huber, Rechtstheorie, Verfassungsrecht. Völkerrecht. 1971, S. 340. 771 Siehe P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft . 2. Auflage 1998,

S. 228 ff., 229. Grundlegend ders.. Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: JZ 1975. S. 297 ff., auch in: ders., Verfassung als öffentl icher Prozess, 3. Auflage 1998, S. 155 ff.: vgl. auch ders., Verfassungsinterpretation als öffentl icher Prozess - ein Pluralismuskonzept, in: Verfassung als öffentlicher Prozess, 3. Auflage 1998. S. 121 ff.

772 Freilich im Wesentlichen nach dem hier so passenden Prinzip J. Pauls: „Unter einem freundlichen Ausleger mein' ich den. welcher in einem fremden Buche seine eigne Meinung, obwohl tief vergraben, entdeckt und mit seiner Wünschelrute erhebt", vgl. ders.. Politische Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche, 1817.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 267

interpretations of the Constitution, both to advance and defend their goals. Individua! voters can also join in the interpretive process by taking the time before casting their ballots to leam about and judge the validity of specific items on candidates ' platforms."7 '*

E i n i g e B e i s p i e l e a u ß e r g e r i c h t l i c h e r V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n s o l l e n d i e G e l -t u n g s k r a f t d i e s e r A u s s a g e d i e s s e i t s u n d j e n s e i t s d e s A t l a n t i k s u n t e r s t r e i c h e n . 1861 se t z t e A . Lincoln e i n e n M a r k s t e i n i n t e r p r e t a t o r i s c h e r T ä t i g k e i t a u ß e r h a l b d e s o b e r s -ten G e r i c h t s h o f s als e r fes t s te l l t e : „ I h o l d , t h a t in c o n t e m p l a t i o n o f u n i v e r s a l law. a n d o f t he C o n s t i t u t i o n , the U n i o n o f t h e s e S ta t e s i s p e r p e t u a l . " 7 7 4 D i e s e A u s l e g u n g w a r f r e i l i ch n i ch t v o l l e n d s a b w e g i g , a l l e r d i n g s z u j e n e r Z e i t w e d e r o f f e n s i c h t l i c h n o c h u n b e d i n g t a l l e r o r t s p o p u l ä r . D a d a s V e r f a s s u n g s d o k u m e n t Lincolns S ä t z e text l ich nicht expl iz i t zu s tü t zen w u ß t e , sol l e r n e u t d i e P r ä a m b e l d e r V e r f a s s u n g in E r i n n e r u n g g e r u f e n w e r d e n , i n de r e s u n t e r a n d e r e m he iß t „ j . . . ] in O r d e r t o f o r m a m o r e p e r f e c t U n i o n | . . . ] " . E s ist a l s o w e d e r von e i n e r a l le in „ p e r f e c t " g e s c h w e i g e d e n n v o n e i n e r „ p e r p e t u a l U n i o n " d i e R e d e . 7 7 '

D a s z w e i t e E x e m p e l m a g u n g e w ö h n l i c h e r s c h e i n e n und d o c h ist e s A b b i l d v e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t o r i s c h e r T ä t i g k e i t . I m J a h r e 1 9 3 6 w i r k t e d i e M e h r h e i t d e r a m e r i k a n i s c h e n B e v ö l k e r u n g a l s „ V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t " a ls s ie e n t g e g e n m a s s i v e r

773 W. F. Murphy, Constitutional Interpretation as Constitutional Creation. 1 9 9 9 - 2 0 0 0 Harr)' Eckstein Lecture, Princeton 2000. www.democ.uci .edu/democ/papers/murphy.htm. Siehe auch W. F. Murphy U.E. Fleming/S.A. Barber. American Constitutional Interpreta-tion. 21x1 ed., 1995, Part III: W.F.Murphy. W h o Shall Interpret the Constitution?, in: 48 Review of Politics, 1986, S .401 ff.; ders., Constitutions, Consti tut ionalism. and Democ-racy, in: D. Greenberg /S .N . K a t z / M . B . Ol iv ie ro /S .C . Wheatley (eds.), Constitutionalism and Democracy, 1993, S. U f f . jeweils mit weiteren Nachweisen. Entsprechend seines Einsatzes für eine ..representative" und gegen eine ..constitutional democracy" Demokratie tendiert etwa R.A. Dahl zu einer Interpretationsvorherrschaft der gewählten gesetzgeben-den Körperschaft , die sich einer Prüfung lediglich durch die Wahlen auszusetzen habe. Ein richterliches Einschreiten wäre höchstens vertretbar, um einen reibungslosen Ablauf der Wahlprozesse zu gewährleisten ..for an independent body to strike down laws that seriously damage rights and interests that | , ] while not external to the democratic process[,] are demonstrably necessary to it would not seem to constitute a violation of the democratic process.", vgl. ders., Democracy end Ist Critics, 1989. S. 191. Ähnlich M. Walzer. Philoso-phy and Democracy, in: 9 Political Theory (1981), S. 379 ff. 397: „The judges must hold themselves as closely as they can to the decisions of the democrat ic assembly, enforcing first of all the basic political rights that serve to sustain the character of the assembly and protecting its members f rom discriminatory legislation. They are not to enforce rights beyond these unless authorized to do so by a democratic decision." Eine solche Nähe der Richterschaft zu politischen Entscheidungen erleichtert jedoch in der Regel die Rechtfer-tigung jeglicher Interpretation der Verfassung, zu dieser Problematik umfassend J.H. Ely, Democracy & Distrust, 1980.

774 A. Lincoln. First Inaugural Address, in: R.P. Basler (Hrsg.), The Collected Works of Abraham Lincoln. Vol. IV 1953, S. 262 f.

77? Die folgenden vier Jahre Civil War und dessen Ergebnis straften Lincolns Interpre-tation - wenngleich bis heute patriotisch bejubelt - im Grunde Lügen. Die Nation, die letztlich aus diesem Konflikt erwuchs, wies auch erhebliche Unterschiede zu den (mehr oder weniger) ..united states" vor dem Bürgerkrieg auf.

268 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

höchstrichterlicher Ablehnung der „New Dear*-Gesetzgebung dem amtierenden Präsidenten F.D. Roosevelt mit einem Erdrutschsieg bei den Wahlen (46 von 48 Staaten Zustimmung) erneut ins Amt verhalf.

Auch H. Kohls entschlossener Griff nach dem Stundenzeiger historischer Zei-tenwenden im Jahre 1990 muss als bedeutender Beitrag zur Interpretation einer Verfassung erachtet werden. Die Entscheidung, die Wiedervereinigung und Auf-nahme neuer Bundesländer unter die damalige Fassung von Artikel 23 GG zu legen, war ein interpretatorischer Vorgang, der es allen Beteiligten ermöglichte, annähernd ohne richterliche „Beaufsichtigung" die Bedingungen der Wiederver-einigung zu verhandeln. Zudem blieb das Grundgesetz mit lediglich kleineren Modifikationen auch die Verfassung der vereinten Nation. Die zunächst plausi-bler erscheinende Interpretationsalternative, nämlich Artikel 146 GG a. F., hätte eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung erfordert, die schließlich die Bedingungen für die Wiedervereinigung enthalten hätte. 76

Es ist also festzuhalten, dass zur Interpretation der Verfassung weder nur die Verfassungsgerichtsbarkeit berufen noch dieser die ausschließliche Wirkkraft einer Auslegung zuzuschreiben ist. Diese Beobachtung führt zurück zu der For-derung. Verfassungsinterpretation unter kulturhermeneutischen Vorzeichen zu betreiben. Das Verfassungsgericht ist ebenso wenig repräsentatives Spiegelbild einer gewachsenen Verfassungskultur wie der Verfassungstext selbst alleiniger Be-zugspunkt verantwortlicher Interpretationstätigkeit sein kann. Das Zusammenspiel unterschiedlichster Auslegungskräfte und -intentionen aller am Verfassungsleben Beteiligten - ein „polyphones Konzert" der Verfassungsinterpreten - findet eine gemeinsame Zielsetzung in der Harmonisierung der eigenen Wunschvorstellun-gen mit den Realitäten der bestehenden Kultur und gibt letzterer damit stets eine kleinere oder größere Neuausrichtung ihrer Prägung, je nachdem wer oder welche Institution(en) an der Interpretation beteiligt sind.

Dennoch werden westliche Konstitutionalismen und - d e m Prinzip des institutio-nellen Mimetismus folgend - auch ansatzweise nicht-westliche Verfassungsstaaten nun zunehmend von einer Institutionalisierung eines autoritativ gesteuerten und gesamtgesellschaftlich wirksamen hermeneutischen Prozesses der Verfassungs-kultur gekennzeichnet, was der vorangegangenen These der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" nicht widerspricht, allerdings Zeugnis einer differie-

776 Aus der überbordenden Literatur dazu etwa C. Tomuschat, Wege zur deutschen Ein-heit. in: VVDStRL 49 (1990), S. 39 ff.; das Sammelwerk von K. Stern (Hrsg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bde., 1991; siehe auch L Michael. Die Wiedervereinigung und die europäische Integration als Argumentationstopoi in der Rechtsprechung des Bundesverfas-sungsgerichts. Zur Bedeutung der Art. 23 S. 2 a. F. und 23 Abs. 1 S. I n. F. GG, in: AöR 124 (1999). S. 583 ff. Interessant ist diesbezüglich auch die Sichtweise aus dem amerikanischen Rechtskreis, vgl. nur P. Quint. The Constitutional Law of German Unification. in: 50 Md. L. Rev. (1991), S. 475 ff. und ders., The Imperfect Union: Constitutional Structures of German Unification. 1997.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 269

renden Gewichtung unter den Verfassungsinterpreten ist. Die freilich unscharfe Kategorisierung in das Verfassungsleben mitformende „Prae-interpreten" und die letztliche Verantwortung tragende „Final-interpreten" (wie etwa US-Supreme Court, Bundesverfassungsgericht oder der französische Conseil Constitutionnel) soll eine kaum bestrittene Realität akzentuieren, die durchaus mit der Bezeich-nung „Demokratisierung der Verfassungsinterpretation"777 belegt werden kann. Dass „Post-Interpreten" (beispielsweise die Verfassungslehre aber auch jeder „Verfassungsanwender") selbst wieder gleichzeitig „Prae-Interpreten" sind, lässt ein Kuriosum offenkundig werden: Die Gestaltung und Fortentwicklung von Verfassungskultur basiert auf einem „Kreislauf" der Verfassungsinterpreten.

In den Vereinigten Staaten bringt vor allem der Supreme Court durch seine ständige Auslegung sowohl einzelner Verfassungsbestimmungen wie der Ver-fassung als Ganzes den Text der Verfassung in Übereinstimmung mit sozialen, wirtschaftlichen und gegebenenfalls ethischen Zeitumständen.778 Dies geschieht auch unabhängig von Zeiten selbst verordneter politischer Zurückhaltung und bedeutet in der Konsequenz bei aller Diskussion um die „political question doc-trine" und „judicial restraint" ein stetes, mehr oder weniger sanftes Einwirken auf politische Gegebenheiten. Auch wenn die Verfassungsinterpretation zweifellos der zentrale Baustein kreativer Verfassunggebung ist, so gründet sich letztere in den Vereinigten Staaten (wie auch anderswo) fraglos auf weiteren Faktoren. Zu nennen ist etwa die immer wieder modifizierte Handhabung verfassungsmäßiger Aufgaben durch oberste Verfassungsorgane wie Kongress und Präsident, aber auch die Verfassungsfortbildung in der Tradition der englischen „Conventions" durch ungeschriebene Verfassungsbräuche und -gewohnheiten. wodurch neben einer Ausfüllung der Lücken im knapp bemessenen Verfassungstext auch die Verfassungsbestimmungen selbst einem steten Wandel unterzogen werden.779

777 So P. Hiiberle. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft . 2. Auflage 1998. S . 2 3 0 : siehe auch ders.. Zeit und Verfassung, in: ZIP 21 (1974). S. 11 Iff . 118 ff."

778 Siehe hier /u und im folgenden auch K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfas-sungspraxis in den Vereinigten Staaten. 1959. S. 36 f.

77'' Als Beispiele der Lückenausfül lung sollen zum einen der Aufbau der Bundesge-richtsbarkeit durch die „judiciary acts" dienen, da die Verfassung nur einen obersten Gerichtshof vorschreibt und die Schaf fung von untergeordneten Gerichten dem Kongress überlässt (Artikel III § 1 der Bundesverfassung); darüberhinaus die Organisationshoheit für die Schaffung von Bundesbehörden, die allein dem Kongress zusteht: oder die Nachfol-geregelung. wenn sowohl Präsident als auch Vizepräsident an der Ausübung ihrer Ämter gehindert sind. Als ein bedeutendes Kapitel der Verfassunggebung durch den Kongress erwiesen sich die verfassungsrechtlich zugewiesenen Bundeszuständigkeiten. Berühmtheit erlangte dabei die Auslegung der sogenannten „commerce"-Klausel (Artikel I § 8 par. 3 der Bundesverfassung) seitens des Kongresses. Diese Klausel unterstellt den Handel der Bundeszuständigkeit , wobei der Kongress zu best immen hat. was letztlich unter Handel zu verstehen ist. Jeweils mit Zus t immung des Supreme Court dehnte der Kongress über Jahrzehnte den Begriff weit über die ursprüngliche enge Bedeutung des einfachen Wa-

270 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Die folgende Betrachtung einzelner Gesichtspunkte der (richterlichen) Verfas-sungsinterpretation in den Vereinigten Staaten und später in der Europäischen Union versucht dem hohen Anspruch einer Berücksichtigung kultureller Prämissen zu folgen und legt seinen Schwerpunkt auf eine Untersuchung kreativer Verfas-sunggebung durch die obersten Gerichtshöfe. Diese Einführung sollte sich nur auf einen Anriss der genannten Vorfragen nach den Verfassungsinterpreten und der Beziehung von Verfassungsinterpretation zur Verfassungs-Kultur beschränken.

Laut P. Höberle „färbt" kultureller Wandel die Verfassungsinterpretation.780

Diese Aussage lässt sich aufgrund des oben Gesagten freilich auch insoweit umdrehen als Verfassungsinterpretation seit jeher den kulturellen Wandel zu „färben", jedenfalls zu beeinflussen verstanden hat.

Das symbiotische Verhältnis von Verfassungsinterpretation und Verfassungge-bung gilt letztlich auch für die europäische Ebene. Das oben aufgezeigte Verfas-sungsverständnis und der zugrunde zu legende „europäische Verfassungsbegriff ' lassen demzufolge die Übertragung einer Vielzahl der vorgenannten Überlegungen auf die europäische Rangstufe zu ( - mit Ausnahme der gänzlich „staatsfixierten" Aspekte).781

renaustausches aus. Heute umfaßt er alles, was mit zwischenstaatl ichem Handel auch im entferntesten in Verbindung steht. Aus der in Artikel I § 8 par. 3 der Bundesverfassung vorgesehenen eigentlichen Zuständigkeit zur Kredi taufnahme (..borrowing money") lei-tete der Kongress die Regelung des gesamten Geld-, Bank-, und Börsenwesens ab. Eine Rechtsfigur, die später auch in den Europäischen Gemeinschaf ten eine gewichtige Rolle spielen sollte, nahm in den Vereinigten Staaten mittels der unterstellten Vollmachten des Kongresses ihren Anfang: die „implied powers". Aber auch dem Präsidenten bzw. den zu-ständigen Departments kommt in der Verfassunggebung durch Zuhilfenahme der ..implied powers"-Regel oder durch die selbständige Auslegung von Verfassungsbest immungen im Rahmen der Amtsgeschäfte ein erhebliches Gewicht zu. Exemplarisch für die Verfassungs-fortbildung durch ungeschriebene Verfassungsbräuche und -gewohnhei ten seien genannt: der heutige Gebrauch des Präsidialvetos (dazu bereits: G. F. Xfilton, The Use of Presidential Powers 1 789 -1943 . 1944): die Rolle der Unterausschüsse im Kongress und der gewachsene Einfluss politischer Parteien auf Verfassungsorgane und Verfassungsentwicklung.

780 P. Hiiberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft . 2. Aullage 1998. S. 226. 7 s l Zur Interpretation und insbeondere Verfassungsinterpretation (insb. durch den

EuGH) im europäischen Kontext (P. Hiiberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 268 ff . spricht von einer „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten in Euro-pa"): C. Huck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Ge-meinschaften. 1998: J. Ukrow, Richterliche Rechtsfortbildung durch den EuGH. 1995; J. Auweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaf-ten. 1997; W. Dänzer-Vanotti, Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung, in: O. Due u. a. (Hrsg.), Festschrift für U. Everling. 1995. Band 1. S. 205 ff.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 271

b) Der US-Supreme Court als ständiger Verfassungskonvent - die Wiege der Verfassungsgerichtsbarkeit

Die amerikanische Verfassung ist oberflächlich zunächst lediglich eine Darstel-lungsform allgemeiner Prinzipien, aus denen sich wiederum im einzelnen Gesetze und Kodifizierungen herausgebildet haben. Der Erfolg dieses Dokuments, der sich im Besonderen durch den Erhalt der Fundamente amerikanischer Regierungs-strukturen bestätigt sieht, gründet sich vornehmlich auf dem Umstand, dass es im Anschluss an die Gründergeneration nachfolgenden Besetzungen von Kongress und Supreme C o u r t 7 " ermöglicht wurde, die Verfassung zu interpretieren oder sie gegebenenfalls den Anforderungen wechselnder Zeiten anzupassen.

Der amerikanische Föderalismus783 hat in Verbindung mit angelsächsischen Traditionen ein Rechtswesen geschaffen, das sich unter anderem durch zwei verti-kale Gerichtssysteme auszeichnet- die Bundesjudikative als dreistufige Pyramide mit Distriktgerichten, Appellationsinstanzen und dem Supreme Court einerseits, das gleichfalls mehrstufige Gerichtswesen der Einzelstaaten andererseits.

Dem Föderalismus ist auch der Ansatz geschuldet, dass der Zivil- und Straf-rechtsbereich. von verfassungsmäßig festgelegten Ausnahmen abgesehen, der Souveränität der Einzelstaaten unterliegt. Dies trägt zu jenem charakteristischen Farbenreichtum der Rechtsauffassungen bei, der durch das angelsächsische Com-mon Law noch begünstigt wird.

aa) Die Geburtsstunde der Verfassungsgerichtsbarkeit - Marbury vs. Madison

Heute erscheint selbstverständlich, dass im Rahmen „moderner Staatlichkeit" die Bindung der Staatsgewalt an die Prinzipien Gewaltenteilung. Grundrechte der Bürger gegen den Staat und demokratische Mitwirkungsrechte durch die Gerichte, letztlich durch ein Verfassungsgericht, überprüft wird. So eindeutig war diese Fundierung des modernen demokratischen Rechtsstaats aber nicht, als der Supreme Court der Vereinigten Staaten 1803 den Rechtsstreit Marbury vs. Madison zu entscheiden hatte.7SJ In diesem Fall entwarf der U.S. Supreme Court

782 Aus der deutschspr. Lit: W. Haller. Supreme Court und Politik in den USA. 1972; Ii. Maaßen. Der US-Supreme Court im gewaltenteilenden amerikanischen Rechtssystem ( 1 7 8 7 - 1 9 7 2 ) , 1977; W. Brugger. Verfassungsinterpretation in den Vereinigten Staaten von Amerika, in: JöR 42 (1994). S .571 ff. Siehe auch (streitbar) M. Tushnet. Taking the Constitution away from the Courts . 1999: A.S.Miller, The Supreme Court . Myth and Reality. 1978; L. Tribe. Constitutional Choices. 1985: W H. Rehnquist, The Supreme Court. How i't Was - How It Is, 1987.

783 Hier /u ausführlich unter B. lV.3b)aa) . 784 Vgl. Marbury v. Madison, 5 U.S. 137 (1803). Vgl. aus der deutschspr. Lit. auch

U. Thiele, Verfassunggebende Volkssouveränität und Verfassungsgerichtsbarkeit . Die Po-

272 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

z u m e r s t en M a l v i e r K r i t e r i e n , d i e i m L a u f e d e s 19. u n d 2 0 . J a h r h u n d e r t s e i n e n

S i e g e s z u g d u r c h d i e w e s t l i c h e n R e c h t s o r d n u n g e n a n t r e t e n so l l t en 7 8 5 :

- V e r f a s s u n g e n s o l l t e n s c h r i f t l i c h f o r m u l i e r t se in , u m m e h r R e c h t s s i c h e r h e i t z u

v e r b ü r g e n a l s G e m e i n s c h a f t e n , d e r e n p o l i t i s c h e E n t s c h e i d u n g s m e c h a n i s m e n

au f T r a d i t i o n und Ü b u n g b e r u h e n .

- D ie V e r f a s s u n g ha t V o r r a n g g e g e n ü b e r L e g i s l a t i v e , E x e k u t i v e und J u d i k a t i v e .

- E s ist A u f g a b e d e r G e r i c h t e , u n d le tz t l ich d e s h ö c h s t e n G e r i c h t s , d i e s e V e r f a s -s u n g s b i n d u n g z u ü b e r p r ü f e n .

- V e r s t ö ß t e i n A k t v o n E x e k u t i v e o d e r a u c h L e g i s l a t i v e g e g e n d i e V e r f a s s u n g , k a n n d a s h ö c h s t e G e r i c h t d i e V e r f a s s u n g s w i d r i g k e i t a u s s p r e c h e n .

D e r G e b u r t s o r t , d i e W i e g e d e r V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t l i eg t i n d e n Ver -e i n i g t e n S t a a t e n v o n A m e r i k a , i h r e G e b u r t s s t u n d e , d i e „ I n t h r o n i s a t i o n " 7 8 6 a l s „ g l e i c h b e r e c h t i g t e r H ü t e r u n d F o r m g e b e r " d e r V e r f a s s u n g 7 8 7 a l s o i n d e r viel z i t ier-ten E n t s c h e i d u n g Marbury v . Madison. B e v o r m a n s ich j e d o c h d i e s e r z u w e n d e t , so l l t e e r n e u t e in B l i ck au f d i e U n a b h ä n g i g k e i t s e r k l ä r u n g v o n 1 7 7 6 g e w a g t und d o r t e i n g e r n e ü b e r s e h e n e r e r s t e r „ Z e u g u n g s a k t " f ü r d i e s p ä t e r e V e r w i r k l i c h u n g v e r f a s s u n g s g e r i c h t l i c h e r K o n t r o l l e i n A u g e n s c h e i n g e n o m m e n w e r d e n . E r f inde t s i ch n a c h d e r A u f z ä h l u n g d e r u n a b ä n d e r l i c h e n R e c h t e i m e r s t en Teil d e r E r k l ä r u n g :

..That to secure these rights. Governments are instituted among Men. deriving their just powers f rom the consent of the governed, - That whenever any Form of Government becomes destructive of these ends. it is the Right of People to alter or to abolish it, and to institute new Government , laying its foundation on such principles and organizing

sition der Federalists im Fadenkreuz der zeitgenössischen Kritik, in: Der Staat 39 (2000). S. 397 ff.

7s5 Vgl. hierzu W. Brugger. Verfassungen im Vergleich: USA & Deutschland, in: Ruperto Carola - Forschungsmagazin der Universität Heidelberg. Heft 3 /1994 . S . 2 2 f f „ 22. Im deutschen GG finden sich diese Leitlinien in den Artikeln 1. 20. 92 und 93.

786 So W. Brugger. Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika. 1987. S . 5 .

7S Vor allen Arten von . .Hüterideologie" warnt P. Hiiberle. da entgegen der oft zitierten These, der Staatspräsident oder das Verfassungsgericht seien ..Hüter" der Verfassung, der Schutz derselben gerade allen Bürgern und allen Staatsorganen gleichermaßen anvertraut sei. Z u m anderen sei die Verfassung „öffentl icher Prozess", was sich in der Bewahrung von Vorhandenem nicht erschöpfe, vgl. ders.. Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. Badura /H . Dreier (Hrsg.). Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht , Bd. 1, S. 311 ff., 316. M.E. birgt die Bezeichnung des „Hütens" jensei ts aller ideologischen Anklänge allerdings auch die Verpflichtung zur Fortentwicklung, wenn man so will zur „Erziehung" in sich und darf daher nicht lediglich als starres Bewahren verstanden werden, da ein verantwortungsvolles „Be-hüten" nur in der Vermittlung einer Zukunftsperspektive aufgehen kann. Der gleichzeitige Hinweis auf den „gleichberechtigten Hüter" nimmt darüberhinaus keinen am Verfassungsleben Beteiligten aus. Hiiberle, ebenda, mit Verweis auf die Verfassungen der Ukraine und Burundis, ist freilich zuzust immen, dass es fehl geht, die Verfassungsgerichtsbarkeit als „authentischen" Verfassungsinterpreten zu bezeichnen.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 273

its powers in such form, as to them shall seem most likely to effect their Safety and Happiness. [ . . . ] But when a long train of abuses and usurpations. pursuing invariably the same Object , evinces a design to reduce them undcr absolute Despotism. it is their right. it is their duty, to throw off such Government, and to provide new Guards for their future security."78*

Die Betonung der ..new Guards". die gelegentlich fälschlich in deutscher Über-setzung als „Regierung" im Sinne von „Government" gedeutet wurden789, eröffnen die Kontrollmöglichkeiten einer eigenen, originären Gewalt, wie sie sich später in der Etablierung der Verfassungsgerichtsbarkeit einstellen sollten.

Ferner hat A. Hamilton im Federalist bereits ein Wesensmerkmal der künftigen Verfassungsgerichtsbarkeit hervorgehoben, als er das Spannungsverhältnis von der gelegentlichen Rolle des Gerichts als politischer Entscheidungsträger zum Prinzip der demokratischen Volkssouveränität offenlegte, da die Richter - wenn auch (indirekt) durch politisch legitimierte Organe in ihr Amt berufen - für ihre Ent-scheidungen „dem Volk" nicht direkt verantwortlich sind. Hamilton bemühte sich nun, diesen Widerspruch durch eine eher metaphysische denn empirische Deutung des „Volkswillens" zu zerstreuen, indem er die Verfassung als seine dauerhafte Artikulation und den Supreme Court als dessen Sprachrohr dem wankelmütigen, lediglich temporär durch Wahlen ausgedrückten Volkswillen gegenüberstellte.7"0

Im selben Artikel des Federalist betonte er außerdem die Existenz einer Rang-ordnung von Gesetzen und wies darauf hin. dass es ein logisch unausweichliches Prinzip der Rechtsprechung sei, einen Widerspruch zwischen Gesetzen, die auf verschiedener Stufe stehen, durch Bevorzugung des höherrangigen Gesetzes zu lösen.

Die Verfassung von 1789 behandelt die Funktionen des Supreme Courts ledig-lich mit mageren Worten. Gemäß Artikel III § 1 wird die Judikative der Vereinigten Staaten von einem obersten Gericht und denjenigen nachgeordneten Gerichten ausgeübt, die der Kongress errichtet. Daneben bestehen in den Einzelstaaten voll-ständige Gerichtssysteme. Artikel III §2 par. 1 der Bundesverfassung regelt die Zuständigkeit der Bundesgerichte, Artikel III § 2 par. 2 schließlich die Aufga-ben des Supreme Court, wonach dieser in erster Instanz („original jurisdiction") nur in zwei Fällen zuständig ist, nämlich bei Beteiligung eines Mitgliedes des diplomatischen Corps oder eines Bundesstaates am Verfahren, wohingegen er als Rechtsmittelgericht („appellate jurisdiction") grundsätzlich alle Fälle, die den

7 8 8 Zitiert nach D. W. Voorhees (Hrsg.), Concise Dictionary of American History, 1983, S. 279 f. T. Fleiner-Gerster erkennt in seiner „Allgemeinen Staatslehre, 2. Aufl. 1995, S. 263 f." bereits diesen ursprünglichen gedanklichen Zusammenhang: die „u. a. von Locke geprägte Auffassung bildete auch die Grundlage für die Verwirklichung der Verfassungs-gerichtsbarkeit".

789 So auch Fleiner-Gerster (1995). S. 264, allerdings mit richtigem Ergebnis. 790 Vgl. A. Hamilton im Federalist Nr. 78.

274 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Bundesgerichten zugewiesen sind, in tatsächlicher wie rechtlicher Hinsicht über-prüfen kann.791 Vergeblich sucht man hingegen eine ausdrückliche Regelung, die den Supreme Court ermächtigen würde, über die Auslegung der Verfassung und die Vereinbarkeit von nachrangigem Recht mit der Verfassung zu entscheiden.7"2

Die Funktion der Normenkontrolle als Überprüfung von Gesetzgebung und exe-kutivem Handeln auf ihre Verfassungsmäßigkeit ist dem Supreme Court in der Verfassung nicht explizit zugewiesen.

Allerdings gab es bereits in den amerikanischen Kolonien und nach der Un-abhängigkeit von England in Einzelstaaten Präzedenzfälle, in denen Gerichte Gesetze, die gegen königliche „Charters" und später gegen die gliedstaatlichen Verfassungen verstießen, außer Kraft gesetzt hatten. Schon zu dieser Zeit entbrann-te die bis heute gelegentlich erbittert geführte Debatte über die diesbezügliche gerichtliche Kompetenz, da das Gericht in der Auslegung einer „Charter" oder Verfassung unvermeidlich und oft mit folgenschweren gesellschaftlichen Konse-quenzen in die Rolle der Politik schlüpft.

Anfang des 19. Jahrhunderts befasste sich der Supreme Court in einigen grund-legenden Entscheidungen mit der Reichweite seiner eigenen Zuständigkeiten wie auch der anderer Verfassungsorgane, insbesondere des Kongresses.7 9 ' Unter der Leitung von Chief Justice J. MarshalfM wurden bis heute tragende Weichen für die künftige methodische Ausrichtung zur Konkretisierung der Bundesverfassung gestellt.795 Das tatsächlich einschneidendste Ereignis auf dem Entwicklungswege des Supreme Court in seiner Eigenschaft als oberstes Verfassungsgericht zu ei-

791 Jedoch ist der Kongress ermächtigt , insoweit Ausnahmen zu erklären und das Ver-fahren einer Regelung zu unterwerfen. Artikel III § 2 par. 2 S. 2 der Bundesverfassung. In der Praxis kam es aber nicht zu nennenswerten Einschränkungen der Zuständigkeit des Supreme Court , sondern in der Regel zu Festlegungen, in welchen Fällen eine Verpflichtung des Supreme Courts zur Entscheidungsannahme und in welchen Fällen ein Annahmeer-messen besteht, vgl. C. Egerer. Verfassungsrechtsprechung des Supreme Court der USA: die Wurzeln des Prinzips des „judicial review" in Marbury v. Madison. in: ZvglRWiss 88 (1989). S . 4 I 6 f f . . 417.

792 Das deutsche Recht e twa gestattet dies dem Bundesverfassungsgericht in Art . 93 I Nr. 1. 2 . 4 a . 4b und Art. 1001 GG.

Dazu umfänglich D.P. Currie, The Constitution in the Supreme Court: The First Hundred Years 1 7 8 9 - 1 8 8 8 . 1985. S. 61 ff . ; siehe auch die einflussreichen Schrif ten von E.S. Corwin: beispielsweise ders., The Supreme Court and Unconstitutional Acts of Con-gress. in: 4 Michigan L. Rev. (1906). S. 616 ff.; J e « . . The Establishment of Judicial Review. In: 9 Michigan L. Rev. (1910). S. 102 ff. und in: 9 Michigan L. Rev. (1911), S. 283 ff.

794 In den Vereinigten Staaten ist es gängige Praxis, den Supreme Court begriff l ich mit dem jeweiligen Chief Justice zu identifizieren, insbesondere wenn es um die histo-rische Einordnung . .bewegter" gerichtlicher Zeiten geht. Marbury v. Madison wude vom sog. Marshall-Court entschieden, aktuell sprach man wegen des seit 1986 (und bis 2006) amtierenden Chief Justice \V. Rehnquist vom Rehnquist-Courl.

795 Dazu u .a . F. Frankfurter. John Marshall and the Judicial Function, in: 69 Harvard L. Rev. (1955), S. 217 ff.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 275

n e m z e n t r a l e n O r g a n d e r I n t e g r a t i o n u n d n a t i o n a l e n V e r e i n h e i t l i c h u n g w a r a b e r e b e n s e i n e u n t e r J. Marshall g e t r o f f e n e E n t s c h e i d u n g in Marbury v. Madison. i n w e l c h e r d a s G e r i c h t f ü r s i ch i n A n s p r u c h n a h m , e i n G e s e t z d e s K o n g r e s -s e s - d e n „ J u d i c i a r y A c t " v o n 1 7 8 9 - f ü r v e r f a s s u n g s w i d r i g zu e r k l ä r e n , we i l d e r K o n g r e s s d a r i n d e m S u p r e m e C o u r t A u f g a b e n z u g e w i e s e n ha t t e , d i e i h m v o n d e r V e r f a s s u n g a u s d r ü c k l i c h n i ch t z u s t a n d e n . 7 9 6 M i t d i e s e r E n t s c h e i d u n g m a c h t e s ich d e r S u p r e m e C o u r t d e f a c t o s e lb s t z u e i n e m V e r f a s s u n g s g e r i c h t s -hof u n d d a m i t z u r - g e r i c h t l i c h - h ö c h s t e n A u t o r i t ä t in V e r f a s s u n g s f r a g e n . 7 9 7

D i e s e E n t s c h e i d u n g w a r g e w i s s e r m a ß e n a u c h e i n e R e a k t i o n au f d a s B e d ü r f n i s n a c h e i n e m d r i t t e n , z u n ä c h s t n i c h t o f f e n a n d e r M a c h t b e t e i l i g t e n S t a a t s o r g a n , d a s d e r z u d i e s e r Ze i t b e s o n d e r s i m D u a l i s m u s v o n K o n g r e s s und P r ä s i d e n t , d e r f ö d e r a l e n S t r u k t u r u n d d e n G r u n d r e c h t e n a n g e l e g t e „ Z w a n g " z u M ä ß i g u n g und A u s g l e i c h z u e r f o r d e r n s c h i e n . U m d a s P r i n z i p d e r „ c h e c k s a n d b a l a n c e s " z u s i c h e r n , ü b e r w a c h t d e r S u p r e m e C o u r t a l s o d i e B e a c h t u n g d e r v e r f a s s u n g s m ä ß i -

796 Da der Fall auch im deutschsprachigen Schrif t tum eine umfängl iche Darstellung erfahren hat. soll er hier nur kursorisch veranschaulicht werden. In der Streitsache ging es um die Zustellung der Ernennungsurkunde an Marbury zum ,Just ice of the Peace", die ihm Madison auf Anordnung Jeffersons verweigert hatte. Der Supreme Court gab im Rechtsstreit Marburys Begehren nicht statt, da jener sich auf ein Gesetz berufen hatte, das der Supreme letztlich für unvereinbar mit der Verfassung erklärte. Damit reklamierte der Supreme Court fü r sich das benannte Recht. Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit der Verfassung zu überprüfen und im Falle ihrer Unvereinbarleit in concreto nicht anzuwen-den. Die Verfassung sei höchstes Recht, dem sich alles andere Recht unterzuordnen habe. Die Begründung aus der Feder J. Marshalls muss neben ihrer inhaltlichen Bedeutung zu den wenigen Stücken weltweit gewichtiger Verfassungsliteratur gezählt werden. Vgl. zum Urteil ausführlich etwa W. Brugger. Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika. 1987. S. 5 ff.: ders.. Einführung in das öffentliche Recht der USA. 2. Auflage 2001, S. 7 ff.; C. Egerer (1989). S . 4 1 8 ff.: D.P. Currie, Die Verfas-sung der Vereinigten Staaten von Amerika. 1988. S. 15 ff.; zur historischen Einordnung vgl. G. Stourzh. Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichtsbarkeit: zum Problem der Verfassungswidrigkeit im 18. Jahrhundert . 1974. Aus der Flut der amerikanischen Litera-tur: E.S. Corwin. Marbury v. Madison and the Doctrine of Judicial Review, in: 12 Michigan L. Rev. (1914). S. 538 ff.: ders., John Marshall and the Constitution: A Chronicle of the Supreme Court . 1921; C G. Haines. The American Doctrine of Judicial Supremacy. 2"1 ed. 1959: R.L Clinton. Marbury v. Madison and Judicial Review, 1989: aus jüngerer Zeit die umstrittenen Monographien von P. W. Kahn, The Reign of Law: Marbury v. Madison and the Construction of America , 1997 sowie W.E. Nelson. Marbury v. Madison: The Origins and Legacy of Judicial Review. 2000. Siehe auch L.D. Kramer. Foreword: We the Court , in: 115 Harvard L. Rev. (2001), S. 4 ff.

797 Die Kritik an diesem Urteil ist seither nie gänzlich verstummt. Bereits im Jahre 1803 gab es Initiativen auf Einleitung eines Amtsenthebungsverfahren („ impeachment") gegen die Richter, die sich eine derartige Gewalt über die gesetzgebenden Organe anmaßten. Im (Wahl-)Jahr 1912 empfahl Präsident T. Roosevelr. Entscheidungen des Supreme Court, mit welchen ein gliedstaatliches Gesetz für nichtig erklärt wurde, einer Volksabst immung zu unterziehen, vgl. dazu K. Heller, Der Supreme Court der Vereinigte Staaten von Amerika. Probleme eines Höchstgerichts, in: E u G R Z 1985, S . 6 8 5 f f . , 686. Siehe auch W.W. van Alstyne. A Critical Guide to Marbury v. Madison, in: 1969 Duke L. J., S. 1 ff., 17 ff.

276 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

gen Funktionsverteilung zwischen Kongress und Präsident, entscheidet Konflikte zwischen Bund und Gliedstaaten oder mehreren Gliedstaaten und garantiert in letzter Instanz den Freiheitsbereich des Einzelnen gegenüber der Staatsgewalt. Diese Bereiche des Verfassungsrechts waren justiziabel geworden, nachdem über die Kernsubstanz, die Grundprinzipien der Verfassung seit Verabschiedung der Bundesverfassung in der politischen Überzeugung der amerikanischen Bevöl-kerung, letztlich der gesamten „Verfassungsöffentlichkeit" ein weitgehender, oft bedingungsloser Grundkonsens geherrscht hatte. Demzufolge kann die amerikani-sche ,judicial supremacy"798 - als bislang fassbares „Endstadium" vorgenannter Entwicklung - in hohem Maße der philosophischen und verfassungspolitischen Homogenität des Landes zugeschrieben werden.

Der in der Gesetzesanwendung geschulte Richter war und ist nun dazu berufen, als „gleichberechtigter Hüter der Verfassung" zu entscheiden, „what the law is"799, wobei letzteres sich aus der Bundesverfassung selbst ergibt, die als „supreme law of the land" (Artikel VI § 2) absolute Wahrung ihres Vorrangs beansprucht. Es ist nicht allzu verwegen zu behaupten, dass erst die frühe „Suprematie" der richterlichen Gewalt die tatsächliche ..Herrschaft der Verfassung" zu verbürgen wußte. Die Ära unter Chief Justice J. Marshall wird gerne ein wenig pathetisch betrachtet, der berühmte Vorsitzende auch schon gelegentlich als „zweiter Schöpfer der Verfassung bezeichnet". Gleichwohl ist nicht abzustreiten, dass der Supreme Court gerade in dieser Zeit durch richtungsweisende und schöpferische Ausübung seines originären und ausgeweiteten Entscheidungsrechts seine Vorrangstellung (Judicia l supremacy") als Interpret und Gestalter der Verfassung begründete. Nicht umsonst ist bis heute der Ausspruch „the Court will decide" gelebter Maßstab amerikanischer Verfassungspolitik.

Dies widerspricht nicht der oben angestellten Betrachtung, der Supreme Court sei lediglich gleichberechtigter Teil einer Verfassungsöffentlichkeit sowie einer „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten". Gleichwohl wird ein Idealzu-stand gelegentlich von den Realitäten hierarchisch gegliederter Gesellschaftsfor-men eingeholt. De facto hat sich der Supreme Court diese Stellung aber judiziell „erarbeitet": und die vorhandenen Möglichkeiten, um die „Suprematie" etwa durch nachgeordnete Verfassunggebung seitens der anderen Gewalten oder durch die

798 Insbesondere unter amerikanischen Sozialwissenschaftlern ist der Begriff „judicial supremacy" von scharfen Debatten begleitet. Er wird zwar größtenteils zu Recht als Faktum anerkannt, jedoch gerade im Hinblick auf die „checks and balances" zuweilen sehr kritisch beurteilt. Gleichwohl scheint die Annahme einer „Judiziokratie" übertr ieben, hat sich der Supreme Court doch lediglich zwischen 1 8 9 0 - 1 9 3 7 tatsächlich extensiv auf polit ischem Parkett bewegt, als er ca. 35 Gesetze oder Präsidialakte sozial- und wirtschaftspolit ischen Inhalts zurückwies und vor allem in den ersten Jahren des Roosevelt'sehen New Deal sozialreformerische Initiativen des Staates zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise blockierte.

799 J. Marshall in Marbury v. Madison, ebenda.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 277

Bevölkerung (constitutional Convention) zu entwerten, wurden in den Vereinigten Staaten höchst selten oder im Falle des Konvents noch nie ergriffen. Im Kontext des Amendment-Verfahrens wurde bereits angesprochen, dass es lediglich vier Amendments bedurfte, um höchstrichterliche Entscheidungen aufzuheben.8150 Dies erscheint angesichts der geringen Anzahl an Amendments zunächst viel, ist bei einer Betrachtung der Flut verfassungserheblicher Entscheidungen des Supreme Courts jedoch wiederum verschwindend gering.

bb) Anmerkungen zum Wesen des Jud ic i a l review"

Der Supreme Court muss demzufolge auch zu den markantesten Faktoren des amerikanischen Verfassungs(fort)lebens gezählt werden. Dabei entpuppte sich das Instrument des „judicial review", die Machtposition gegenüber Hoheitsakten der Exekutive801 sowie - praeter Constitutionen! - der Legislative des Bundes8 0 2 und der Einzelstaaten, als elementarer Bestandteil amerikanischer Verfassunggebung. Wras ist aber nun das Wesen des Jud i c i a l review"?803 Nach E.S. Corwin enthält das Konzept des „judicial review" drei Feststellungen: zum einen, dass die Verfas-sung im Verhältnis zu allem sonstigen Recht höherrangig sei; zweitens, dass die rechtsprechende Gewalt die Zuständigkeit zur Auslegung der Verfassung und zu deren Anwendung auf Rechtstreitigkeiten umfasse; schließlich die Erkenntnis, die Auslegungen des Gerichts seien geltendes Recht und bindend auch für die anderen Gewalten.804 Dadurch erlangt das Mittel des „judicial review" noch eine weitere Dimension. Während nämlich die rechtsschöpferischen Akte und Bemühungen nachgeordneter Gerichte von den zuständigen Legislativen durch einfaches Gesetz beseitigt werden können, beinhaltet Jud ic i a l review" die Befugnis, die Verfassung gerade in wesentlichen Fragestellungen gegen den Willen der parlamentarischen Mehrheit auszulegen und diese Interpretationen auch durchzusetzen. So betonte auch A. Bickel, J ud i c i a l review" sei „f . . .1 the power to apply and construe the Constitution in matters of the greatest moment, against the wishes of legisla-

800 Siehe oben B.IV. La) . 801 Unabhängig von der ..political questions doctr ine" hat sich der Supreme Court auch

nicht gescheut, in Rechtsfragen von erheblicher Bedeutung gegen politische Organe zu entscheiden. Unvergessen die Entscheidung U.S. v. Nixon, 418 U . S . 6 8 3 (1974). durch die Präsident Nixon während der Watergate-Affäre zur Herausgabe von 64 Tonbändern aufgefordert wurde.

802 Vgl. Marbury v. Madison. 5 U.S. 137 (1803). 803 Laut W. Brugger wird ..judicial review" - gerichtliche Überprüfung - in den Verei-

nigten Staaten üblicherweise im Sinn der (Verfassungsger icht ! ichen Kontrolle staatlicher Akte anhand der Verfassung verstanden, vgl. ders., Grundrechte und Verfassungsgerichts-barkeit in den Vereinigten Staaten. 1987, S. I Fn .2 .

804 Siehe E.S. Corwin. Marbury v. Madison and the Doctrine of Judicial Review, in: 12 Michigan L. Rev. (1914), S. 538 ff., 552.

278 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestä t igung

tive majority, which is, in turn, powerless to affect the judicial decision"805. Der Supreme Court ergriff anläßlich dreier weiterer Fälle früh die Gelegenheit, den Grundsatz des „judicial review" auch auf die Einzelstaaten anzuwenden und dies-bezüglich auszudehnen.806 Schließlich wurde mit der Etablierung des „judicial review" durch Marbury v. Madison ein weiterer, selten beachteter Gesichtspunkt Verfassungsgericht!icher Einflussnahme ins Spiel gebracht. J. Marshalls Entschei-dung war nämlich gleichzeitig mit einer ausgeklügelten politischen Strategie unterlegt, um das richterliche Prüfungsrecht auch gegen etwaige populistische Einwirkungen abzusichern. Diesen Zusammenhang erkennt auch B.-O. Bryde, wenn er den „Einfluß, den ein Gericht [ . . . | gewinnt ( . . . | auch von seinem eige-nen strategischen Verhalten" abhängig macht.807 Eine offene Konfrontation mit mächtigen politischen Akteuren könne es in einer noch ungeklärten Lage kaum gewinnen. Zeige es hingegen zu viel Zurückhaltung, würde es Kredit verspielen und als Kontrollorgan unbrauchbar. ..Die geniale Art und Weise, in der Marshall in Marbury v. Madison die Grundlage für das richterliche Prüfungsrecht gelegt hat, nämlich so, dass Jefferson die inhärente Schwäche jeden Gerichts gegenüber dem Machthaber nicht durch schlichtes Ignorieren des Urteils aufzeigen konnte, ist bis heute das klassische Beispiel solcher richterlichen Verfassungspolitik."808

Es ist Bryde zuzustimmen, dass alle erfolgreichen Verfassungsgerichte späterer Epochen von diesem Beispiel profitiert haben.8(19

Marbury v. Madison „zementierte" den Gedanken der selbständigen Verfas-sungsgerichtsbarkeit, die begrifflich eine „unabhängige, gegenüber anderen Staats-, bzw. Verfassungsorganen verselbständigte Institution mit bestimmten Kompetenzen bzw. Funktionen"810 voraussetzt.

805 A. Bickel in seinem berühmten und umstrittenen Werk ..The Least Dangerous Branch", 1962, S. 16. Das Zitat soll allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass Bi-ckel dem zugrunde liegenden Urteil Marbury v. Madison und der Begründungsarbeit von J. Marshall scharfe Kritik entgegenbringt, die sich nicht gegen die These von der Rang-ordnung der Gesetze richtet, sondern gegen die scheinbar logische Schlußfolgerung, dass Gerichte befugt seien, Gesetze für nichtig („void") zu erklären. Ein Konflikt zwischen Verfassung und einfachem Gesetz könne ebensogut durch die Gesetzgebung selbst, den Präsidenten und schließlich durch das Volk bei Wahlen gelöst werden, vgl. Bickel (1962), S. 1 ff. Bickels Beanstandung kann allerdings nicht überzeugen, da seine Alternativen nicht rechtlicher, sondern durchweg politischer Natur sind. Durch ein Infragestellen der grundsätzlichen Möglichkeit einer rechtlichen Lösung des Konflikts, zieht man im selben Atemzuge auch den Stufenbau der Rechtsordnung als logisches Grundprinzip in Zweifel.

806 Siehe Fletcherv. Peck 10 U.S. (6 Cranch) 87.3 L. Ed. 162 (\S\0),Martin v. Hunter's Lessee, 14 U.S. (1 Wheat.) 304. 4 L. Ed.97 (1816); 19 U.S. (6 Wheat.) 264. 5 L. Ed. 257 (1821).

807 Vgl. B.-O. Bryde. Die Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit in Umbruchsituationen, in: J.J. Hesse/G. Folke Schuppert/K. Harms (Hrsg.), Verfassungsrecht und -politik in Umbruchsituationen, 1999. S. 197 ff.. 199.

808 B.-O. Bryde, ebenda. 809 Zum Instrument des „judicial review" aus rechtsvergleichcnder Perspektive:

A. Brewer-Casrias, Judicial Review in Comparative Law. 1989.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 279

cc) Der Supreme Court als erheblicher Bestandteil von Rezeption und Bestätigung gesellschaftlichen Wandels

Tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen in Amerika hatten von Beginn an auch Modifikationen in der durch den Supreme Court geprägten, spürbaren Struktur und Wirkung der amerikanischen Verfassung zur Folge. Der Gerichtshof bekleidete dabei unterschiedliche Rollen - von einem eher ruhigen, begleiten-den Auftreten, über ein forderndes, vorantreibendes Verhalten bis zu gelegentlich hemmenden Aktionen gegenüber gesellschaftlichen Strukturveränderungen. Das Wirken des Supreme Court kann dabei in drei größere Phasen unterteilt werden, die sich im selben Atemzuge durch jeweils grundlegende Richtungen richterlicher Verfassungsinterpretation auszeichnen. Damit soll auch der Versuch einer Antwort auf das oben beschriebene Problem des „Wendengeflechts" gegeben werden. s" Freilich ließen sich die strukturellen Neuerungen in immer kleinere, kürzere Ab-schnitte unterteilen ohne unbedingt die Berechtigung bedeutender Perioden zu verlieren. Gleichwohl birgt eine solche Unter-Gliederung stets die Gefahr einer banalen Aufzählung schlichter historischer Daten, mit allen Verästelungen und etwaigen Sackgassen, deren Beitrag zu den großen Linien gesellschaftlicher Ent-wicklungen möglicherweise lediglich marginal ist. Ohne den im einzelnen sicher notwendigen Blick auf ausgewählte wichtige Abschnitte zu verlieren, die dieser gröberen Einteilung untergeordnet sind, soll lediglich eine Auswahl vorgenommen werden.

(1) Momentaufnahmen einer Verfassungsgerichtshistorie

Im Anschluss an 1789 bildete der alles überlagernde Gedanken einer „Stär-kung der Union" eine erste Phase. Daran knüpfte sich der Zeitraum, der den Schutz des „laissez-faire"-Systems und privatwirtschaftlicher Interessen gegen staatliche Interventionen zum wesensbildenden Merkmal hatte, bevor in einem dritten bis heute reichenden Abschnitt ein verstärkter Schutz individueller Rechte und die Herstellung von Rechtsgleichheit in den Vordergrund rückte. Betrachtet man darüberhinaus die beiden Begriffe,Zentralisierung" und „Demokratisierung" nicht grundsätzlich als unvereinbar und als in der Kombination widersprüchlich, sondern eher zueinander in einem dialektischen Bezug und Spannungsververhält-nis stehend, so lassen sich diese als langfristige Entwicklungskonstanten (nicht

8 . 0 So P Häberle. Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen Ver-fassungsgerichtsbarkeit, in: P. B a d u r a / H . Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesver-fassungsgericht. 2001, S. 311 ff., 313 f. In Europa begründeten dieses Konzept freilich zunächst Österreich (1867 - auf der Grundlage des Bundesverfassungsgesetzes 1920 wie-der aufgelebt, dazu wegweisend G. Jellinek. Ein Verfassungsgerichtshof fü r Österreich. 1885) bzw. vertiefend die Ideen H. Kelsens (vgl. etwa ders.. Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, in: V V D S t R L 5 (1929), S. 30 ff.

8 . 1 Siehe oben B. 1.7.

280 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestä t igung

ohne gelegentliche Gegenbewegungen) konstatieren. Hierbei ist in einer ersten oberflächlichen Definition unter „Zentralisierung" im Wesentlichen die Stärkung der Stellung der Bundesorgane gegenüber den Einzelstaaten zu verstehen. Die „Demokratisierung" bezieht sich in diesem Kontext primär auf die amerikani-sche Bundesverfassung und muss im Zusammenspiel mit der ebenso erfolgten „Liberalisierung" derselben gesehen werden.

Es ist höchst anerkennenswert, dass es dem Supreme Court in mehr als 200 Jahren bis heute gelungen ist, den Respekt vor der Rechtsprechung mit wenigen Ausnahmen grundsätzlich zu wahren. Das mag banal klingen, ist jedoch ange-sichts vehementer Gerichtsschelte in anderen Verfassungsstaaten (mit kürzerer Verfassungsgeschichte) alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Ein wesentli-cher Gesichtspunkt für die Begründung dieses Umstandes ist freilich der noch zu diskutierende Schutz der Rechtsprechung vor Missbrauch für politische Zwecke812

- und sei es nur in der öffentlichen Wahrnehmung. Die Autorität der höchsten Ge-richtsbarkeit ist nicht mit der anderer Verfassungsorgane, etwa des Parlaments oder der Regierung, vergleichbar, die ihre Entscheidungen auch mit anderen Mitteln (als ultima (ir)ratio sei nur an die Heranziehung des Heeres gedacht) gegebenen-falls durchsetzen können. Sie beruht einzig und allein in der gesellschaftlichen Anerkennung der Funktionen des obersten Gerichtes.

Seine Stellung als letzte und damit allgemein verbindliche Interpretationsin-stanz für die Verfassung, eine Position die auf Marbury v. Madison beruht, hat es dem Supreme Court ermöglicht, in praktisch alle Lebensbereiche einzuwir-ken. Ein Umstand, den der Gerichtshof in seiner bewegten Geschichte gründlich (aus)genutzt hat. Unter den amerikanischen Verfassungsorganen wirkt er einzig unmittelbar sowohl auf Bundesrecht wie auch auf die den Gliedstaaten vorbe-haltenen Bereiche der Rechtsetzung ein. Nachdem der nahezu ehern entwickelte Grundsatz des ,judicial review" im Zusammenspiel und in annähernder Kon-gruenz mit dem Begriff der Judic ia l supremaey" letztlich dazu führt, dass die Entscheidungen des Gerichts ausschließich in dem schwerfälligen Amendment-Verlahren außer Kraft gesetzt werden können, hat sich der Supreme Court eine Stellung von einzigartigem Einfiuss auf gesellschaftliche wie politische Verhält-nisse geschaffen. C.E. Hughes wußte diese Gegebenheit mit leicht resignativem Unterton zu kommentieren: „We are under a Constitution, but the Constitution is what the judges say it is."813

Wie bereits dargestellt ermöglichte es Marbury v. Madison dem Supreme Court. Gesetze und Verwaltungsakte von gliedstaatlichen Parlamenten. Kongress und Regierungen anhand konkreter Rechtsstreitigkeiten zu überprüfen und gegebenen-

812 Dazu unten B.IV.2b)cc)(2). 813 Aus einer Rede von C. E. Hughes, 1907. zitiert nach N. Lockhart u. a., Constitutional

Law. Cases-Comments-Questions, 1986. S. 8.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 281

falls für verfassungswidrig zu erklären. Hiervon machte der oberste Gerichtshof anfangs über lange Jahr nur in begrenztem Ausmaße Gebrauch, um die Befugnisse von Bundesregierung und Gliedstaaten gegeneinander abzugrenzen und um das Privateigentum vor unangemessenen Eingriffen der Einzelstaaten als auch des Bundes zu schützen.

In die Amtszeit J. Marshalls (bis 1835) fielen jedoch auch die bis heute weg-weisenden Fälle, die sich mit dem Verhältnis des Bundes zu den einzelnen Staaten auseinandersetzten, die von einem Ringen um die Determinierung der Bundes-kompetenzen und der Grenzziehung zu den Kompetenzen der Gliedstaaten ge-prägt waren. Mit Martin v. Hunter's Lessee814 dehnte der Supreme Court seine Entscheidungskompetenz auch auf Akte von Einzelstaaten aus. Beide genann-ten Entscheidungen sind deutliche Beispiele für das anfängliche Bemühen des Supreme Courts, seine Kompetenzen gegenüber den weiteren Trägern der Staats-gewalt zu bestimmen und letztlich zu festigen. In der Entscheidung McCulloch v. Maryland aus dem Jahre 1819 wird die Tendenz des Supreme Courts deutlich, die ursprünglich limitierten, in Artikel I § 8 der Bundesverfassung genannten Gegenstände der Bundesgesetzgebung zu erweitern.8 ,5 Der Supreme Court stellte in der Begründung die in Artikel I § 8 aufgeführte „necessary and proper"-Klausel mit dem Hinweis heraus, die jeweiligen Kompetenzen des Kongresses trügen gleichzeitig die Befugnis in sich, alle zu ihrer Umsetzung notwendigen und ange-messenen Gesetze zu erlassen. Bedeutsam für die Entwicklung einer Methodik der amerikanischen Verfassungsinterpretation wurden dabei die folgenden Worte J. Marshalls:

..Let the end be legitimate, let it be within the scope of the Constitution, and all means which are appropriate, which are plainly adapted to that end. which are not prohibited, but consist with the letter and spirit of the Constitution, are constitutional."816

Bis heute beansprucht diese Interpretation Geltung für die Beurteilung der Grenzen der Bundesgesetzgebungskompetenz. Die zunächst unaufhaltsam schei-nende Expansion reglementierender Bundesgewalt gegenüber den Gliedstaaten wird durch die Entscheidung Gibbons v. Ogden817 ausgelöst. Bereits damals stütz-te sich der Supreme Court auf eine überaus extensive (und in der Zwischenzeit völlig konturlose) Auslegung der ..interstate commerce-clause" in Art. I § 8 der Bundesverfassung.

8 . 4 14 U.S. (I Wheat . ) 304 (1816). 8 . 5 Vgl. McCulloch v. Maryland. 17 U.S . (4 Wheat . ) 316 (1819). Der Supreme Court

erklärte hierin die Besteuerung einer Bundesbank (Second Bank of the United States) durch den Staat Maryland mit dem Ziel, deren Filiale in Maryland zu schließen, für verfassungswidrig.

816 McCulloch v. Maryland, ebenda. S. 421. 8 , 7 22 U.S. (9 Wheat . ) I (1824).

282 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

1857 traf der Oberste Gerichtshof mit Dred Scott v. Sandford81s eine Entschei-dung, die ihm geballte, aus den Reihen der Nordstaaten wütende Entrüstung entgegenbrachte und die einen nicht unerheblichen Beitrag zum später folgenden Bürgerkrieg zu leisten wußte. Bis heute wird Dred Scott als eines der verheerends-ten und juristisch selbstherrlichsten Urteile in der amerikanischen Verfassungs-geschichte erachtet819, das als „prononcierteste Frühentscheidung des Supreme Court zur Sklaverei ein bis zum heutigen Tage nicht völlig überwundenes Problem der amerikanischen Gesellschaft [markiert] und [ . . . ] Zeugnis von einem Geburts-fehler des amerikanischen Verfassungsstaates ab[legt]."820 Der Fall hatte die Frage zum Inhalt, ob ein Sklave durch den Aufenthalt in einem fremden Staat oder Terri-torium seine Freiheit erlangt hätte. Namens der Mehrheit des Gerichts verkündete Chief Justice Taney, selbst Sklavenhalter aus Maryland, dass Schwarze keine Bürger der Vereinigten Staaten seien und folglich kein Klagerecht hätten. Sklaven seien Eigentum, das dem besonderen Schutz der Verfassung unterliege, so dass alle Gesetze, die den Bürger um sein verbrieftes Eigentumsrecht brächten, null und nichtig seien. Das gelte für den Missouri-Kompromiss und implizit ebenso für den Kompromiss von 1850 und das Kansas-Nebraska-Gesetz von 1854; denn selbst eine Berufung auf die Volkssouveränität könne den übergeordneten Schutz des Eigentums nicht außer Kraft setzen. Damit hatte Taney den Verfassungskonsens im Sinne der Sklavenhalter pervertiert.

Dred Scott verstärkte einen bereits im Ansatz deutlich erkennbaren Riss, der durch die gesamte amerikanische Gesellschaft, die Parteien, die Kirche, die Wirt-schaft und die allgemeinen Wertvorstellungen ging. Die Ansichten über zivili-siertes Verhalten, politische Kultur und ihre Grundwerte, ja über das, was Recht und Unrecht war, fanden keinen gemeinsamen Nenner mehr. Der Boden für eine gewaltsame Lösung war bereitet, es fehlte lediglich noch der Anlass, der sich schließlich in der Präsidentenwahl A. Lincolns im Jahre 1860 finden lassen sollte.

Verfassungsgerichten wohnt also, wie bereits dieses Beispiel anschaulich dar-legt, neben ihrer Einordnung als erheblicher Bestandteil von Rezeption und Be-stätigung gesellschaftlichen Wandels auch stets die latente Gefahr inne. Auslöser gesellschaftlicher Brüche oder wenigstens „Wenden" im bereits genannten Sinne zu sein. Andererseits ist es auch der Dred Sow-Entscheidung mit zuzuschreiben.

8 1 8 60 U.S. (19 How.) 393 (1857). 819 Siehe nur LH. Tribe. American Constitutional Law. 3"1 ed. 2000, S . 5 4 9 : „ [ . . . ]

infamous decision [ . . . ] often recalled for its politically disastrous dictum [ . . . ] " ; W. Wiecek in: K. Ha l l / J .W. E l y / J . B . G r o s s m a n / W . Wiecek (eds.), The Oxford companion to the Supreme Court of the United States, 1992. S. 380: „ [ . . . ] the greatest disaster the Supreme Court has ever inflicted on the nation."

H2" C. Rau. Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts , 1996. S . 2 4 mit einer breiten Darstelung der Entscheidung und des Sachverhaltes, a. a. O.. S. 24 f.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 283

dass nach dem Bürgerkrieg die Verfassung um die schon benannten Amendments 13 und 14 ergänzt wurde, womit Dred Scott letztlich ad absurdum geführt wurde.

Das zweifellos beschädigte Vertrauen in die Rechtsprechung des Supreme Court konnte dieserdurch gezielt eingesetzte Zurückhaltung in einigen prekären Entschei-dung während der „reconstruction era" genannten Phase wieder verbessern.821 So wies der Gerichtshof in Mississippi v. Johnson*" einstimmig das Klagebegehren, dem Präsidenten die Anwendung des ..reconstruction act" zu untersagen, mit der Feststellung zurück, das Gericht könne den Präsidenten nicht an einer Anwen-dung eines angeblich verfassungswidrigen Gesetzes hindern. Eine vergleichbare Zurückhaltung offenbarte der Supreme Court in Ex parte McCardle82\

Allerdings begann der Supreme Court im 20. Jahrhundert immer deutlicher, im Besonderen durch seine Entscheidungen in Grundrechtsfragen, die Verfassung und das politische System fortzuentwickeln und den Alltag der Bürger zunehmend mitzubestimmen.824 Hierunter fiel anfangs vor allem die relativ weite Auslegung der Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit, die ihre Verankerung im ersten Amendment findet und die nunmehr nicht nur gegen Einschränkungsversuche der Bundesregierung sondern auch der Gliedstaaten behauptet wurde. Es folgten das Verbot der Rassentrennung und der Diskriminierung von Minderheiten auf der Grundlage des 14. Amendments sowie die Garantie eines fairen Prozesses für den Angeklagten, die tief in das gesamte Polizei und Justizwesen eingriff. Erwähnung verdient auch das in der Verfassung nicht ausdrücklich erwähnte Recht auf eine Privatsphäre, gegen das beispielsweise die von Einzelstaaten angeordneten Verbote von Verhütungsmitteln und Abtreibungen verstießen.

821 Als „reconstruction" wird die mit dem Ende des Bürgerkrieges beginnende und etwa ein Jahrzehnt dauernde Periode des „Wiederaufbaus" des amerikanischen Bundesstaates bezeichnet, dessen Zusammenhal t unter der Bedrohung einer Sezession der Südstaaten stand. Die Phase fand ihre gesetzgeberische Unterlegung insbesondere mit den „reconstruc-tion amendments" ( 1 3 - 1 5 ) zur amerikanischen Verfassung und mit dem „reconstruction act" aus dem Jahre 1867. Mit den Amendments wurde unter anderem die Sklaverei abge-schaff t . alle in den Vereinigten Staaten geborenen Menschen als Bürger eingestuft und das Wahlrecht ausgeweitet. Der gegen das präsidentielle Veto verabschiedete „reconstruction act" verlieh den Südstaatenregierungen einen lediglich provisorischen Status und stellte sie bis zur Verabschiedung von Einzelstaatsverfassungen und Durchführung von Neuwahlen unter militärische Kontrolle.

822 71 U . S . 4 7 5 (1867). 823 74 U.S. 506 (1869). In dieser Entscheidung hatte der Gerichtshof als Rechtsmittel-

instanz über die Verfassungsmäßigkeit des Reconstruction Act zu urteilen. Die Richter entschlossen sich nach der mündlichen Verhandlung im März 1868 mehrheitlich für eine Verzögerung der Entscheidung bis der Kongress die die Zuständigkeit des Gerichts begrün-dende Norm außer Kraft gesetzt hatte. Anschließend wies Chief Justice Chase die Klage wegen fehlender Zuständigkeit des Supreme Court ab.

824 Aus der deutschen Literatur J. Heideking, E inführung in die amerikanische Ge-schichte. 1998, S. 68 f.

284 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Jede Interpretation der Verfassung ist aber in der Umkehrung auch abhängig von gesellschaftlichen Bedingungen, die einem steten Wandel unterworfen sind. Die Judikatur des Supreme Court bietet auch dafür zahlreiche Beispiele. So interpretierte der Supreme Court bis 1954 die Verfassung der USA und das darin verankerte Prinzip der Gleichheit aller Menschen so, dass die Tatsache der Rassentrennung (Segregation) mit diesem Grundsatz vereinbar sei. 1954 urteilte eben dieser Gerichtshof in seiner wegweisenden Entscheidung (Brown vs. Board of Education*25), dass die Segregation der Verfassung widerspreche und deshalb aufzuheben sei. Dieser einschneidende Wandel geschah mit Berufung auf die Verfassung - aber ohne, dass sich diese geändert hätte. Geändert hatten sich Gesellschaft und gesellschaftliches Bewusstsein. Um den politischen Wandel zu verstehen, genügt es daher nicht, eine Verfassung zu lesen. Diese muss in Verbindung mit realer Politik gebracht werden.

Im übrigen können sich im Zusammenhang der Rolle der Verfassungsgerichts-barkeit im Prozess des gesellschaftlichen Wandels durchaus Ähnlichkeiten, wenn nicht sogar Überschneidungen zu den Funktionen der Verfassung"6 ergeben. Wagt man den Schritt von der „Funktion" zur „Aufgabe", so fallen der Ver-fassungsgerichtsbarkeit einige „.Aufgaben" zu, die im Verfassungskontext als „Funktionen" zu betrachten sind. Wieso sollte man der Verfassungsgerichtsbar-keit also nicht auch die Aufgabe der ..Bestandssicherung für Verfassungsnormen als ranghöchste Normen", eine „Schutzaufgabe durch Machtbegrenzung" oder eine „Integrationsaufgabe" zuweisen? Andere „Funktionen" der Verfassung las-sen sich wohl schwieriger direkt in eine „Aufgabe" übertragen (etwa die der als „rechtliche Grundordnung" oder die „programmatische Funktion - Verfassung als ,Verhaltensentwurf"' und die „Legitimationsfunktion"). Es soll jedoch an die oben bereits genannten „typischen Elemente selbständiger Verfassungsgerichts-barkeit"827 und „Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit" erinnert werden. Dort fand sich unter Berufung auf P. Häberle der Begriff der „rationalen Recht-sprechungstätigkeit", wobei es nach diesem dabei auch um eine „Tätigkeit im Dienste der .Bewährung' nicht bloßer .Bewahrung' der Verfassung" geht. Diesem Aspekt könnte auch eine Zuordnung der drei letzten genannten Verfassungsfunk-tionen unterworfen werden. Wenn man nämlich Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Lichte des „Bewährens der Verfassung" betrachtet, so muss das oberste Rechtsprechungsorgan (auch unter gelegentlichem ..Bewahren") zwangsläufig ein „Bewähren" aller Verfassungsfunktionen gewährleisten.

825 347 US 483 (1954). 826 Dazu eingehend und in einer al lgemeinen Darstellung etwa H. Schulze-Fielirz,

Die deutsche Wiedervereinigung und das Grundgesetz , in: J.J. H e s s e / G . F . Schupper t / K. Harms (Hrsg.). Verfassungsrecht und Verfassungspolitik in Umbruchsi tuat ionen. Zur Rolle des Rechts in staatlichen Transformationsprozessen in Europa. 1999. S. 65 ff. . 66 ff.

827 Siehe auch P. Häberle. Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbstän-digen Verfassungsgerichtsbarkeit , in: P. B a d u r a / H . Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht. 2001. S. 311 ff.. 316 ff.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 285

Ein d e u t l i c h e s B e i s p i e l , d a s s z w a r t r e n n s c h a r f bei e i n e r D a r s t e l l u n g d e r P r i n z i p i -e n u n d F u n k t i o n e n d e r e i n z e l n e n T e i l b e r e i c h e ( w i e „ V e r f a s s u n g " , „ V e r f a s s u n g s g e -r i c h t s b a r k e i t " o d e r „ V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n " ) v o r z u g e h e n ist, g l e i c h w o h l j e d o c h m i t e i n e r R ü c k b e s i n n u n g au f d i e i n n e r e n A b h ä n g i g k e i t e n d i e s e r B e r e i c h e a u c h d i e Ü b e r s c h n e i d u n g e n , g e l e g e n t l i c h d i e K o n g r u e n z g e w i s s e r A x i o m e i m Bl ick z u b e h a l t e n s i nd .

(2) Der Verfassungsrichter zwischen Recht und Politik -Anmerkungen zur ,.political question doctrine"

N a c h d e m n a h e z u j e d e r g e s e l l s c h a f t l i c h e K o n f l i k t a l s F r e i h e i t s - und G l e i c h -h e i t s p r o b l e m f o r m u l i e r t w e r d e n k a n n , d a r f d i e F r a g e a u f g e w o r f e n w e r d e n , o b V e r f a s s u n g s g e r i c h t e i n j e d e m d i e s e r K o n f l i k t e d a s le tz te W o r t h a b e n s o l l e n , se lbs t w e n n d i e V e r f a s s u n g n u r e in v a g e s P r i n z i p v o n P e r s ö n l i c h k e i t s e n t f a l t u n g und G l e i c h b e h a n d l u n g v o r g i b t , ü b e r d a s d i e V e r f a s s u n g s r i c h t e r g e n a u s o u n t e r s c h i e d -l i che A n s i c h t e n ve r t r e t en w i e B ü r g e r u n d P o l i t i k e r ? D i e h e r r s c h e n d e , g l e i c h w o h l h e f t i g b e k ä m p f t e M e i n u n g 8 2 8 i n d e n U S A b e j a h t d i e s e F rage . D a s S p a n n u n g s f e l d

828 Freilich handelt es sich auch um eine deutsche Debatte: der zentrale Einwand, der gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit im Allgemeinen, insbesondere aber auch gegen die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes erhoben wird, lautet, dass Politik im Ge-wand des Rechts betrieben werde, vgl. u. a. E. Bendd, Das Bundesverfassungsgericht im Spannungsfeld von Recht und Politik, in: Z R P 1977, S. 1 ff. . 4. Die Problematik ergibt sich aus den Kompetenzen des Bundesverfassungsgerichtes, das über Fragestellungen zu entscheiden hat. die von erheblichen polit ischem Einschlag sind. Die richterliche Stel-lung wird doppelt kritisiert, e inmal im Zusammenhang mit den „geheimen" Wahlen und dem enormen politischen Einlluss durch die politische Nominierung und des weiteren aus der politischen Entscheidungskraft der einzelnen Richter. Die Literatur versucht ei-ne Trennung von Unparteilichkeit und Neutralität anzustellen und dabei wird klar, dass die Richter des Bundesverfassungsgerichtes zwar unparteiisch, aber nicht neutral bleiben sollten (dazu M. Kriele, Recht und Politik in der Verfassungsrechtsprechung, in: N J W 1976, S .777 ff.). Dass ihre Entscheidungen durch die massive Beeinflussung im Zuge der

juristischen Argumentation an politischer Macht verlieren, wird sogar durch Misstrauens-verfahren nachgewiesen (vgl. EuGH. EuGRZ 1976. S. 11; EuGH. EuGRZ 1983. S .500) . Die Diskussion über die Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit ge-genüber anderen Verfassungsorganen wird auch in Deutschland of t unter dem Stichwort der political question doctrine geführt . Dabei werden die Möglichkeiten der Anwendung dieses aus dem amerikanischen Recht bekannten Prinzips analysiert, in Hinblick auf die Ablehnung von Entscheidungen mit hohen politischen Werl durch das Bundesverfassungs-gericht. Die überwiegende Literatur hält diese Doktrin für unvereinbar mit der Verfassung der Bundesrepublik und lehnt ihre Anwendung durch das Bundesverfassungsgericht ab (S. etwa C. Rau. Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supre-me Court und des BVerfG. 1996. S. 230: K. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung. 1987, S. 175.; C. Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, 2. Aufl., 1996. S. 151.; J. Bliiggel, Unvereinbarkeitserklärung statt Normkassat ion durch das Bundesverfassungsgericht . 1998. S. 177 ff.). Der Gedanke zur Entpolit isierung der Entscheidungen wird jedoch prinzipiell nicht für abwegig gehalten. Dennoch sind es nur wenige St immen in der Literatur, die eine Anwendung der Doktrin für möglich halten, ja

286 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

zum Prinzip demokratischer Selbstbestimmung ist aber unübersehbar, ruft man sich drei Stufen verfassungsgerichtlicher Kompetenzen in Erinnerung: (1) die Si-cherung verfassungstextlich spezifizierter Grundrechte gegen legislative Eingriffe, (2) die Sicherung, vielleicht sogar Optimierung der Fairneß des demokratischen Prozesses, und (3) die inhaltliche Kontrolle aller Ergebnisse des politischen Prozes-ses über die Berufung auch auf allgemeine Freiheits- und Gleichheitspostulate.829

Gerade hinsichtlich des dritten Punktes droht, wenigstens bei ausufernder Inan-spruchnahme der Prüfungskompetenzen, die Ersetzung der legislativen Prioritäten durch eine Herrschaft der Richter. Will man gleichzeitig die Kompetenzen des demokratischen politischen Prozesses sichern und starken und insgesamt in die-sem Bereich mehr Qualität fordern, so ist die Debatte über die Beschneidung verfassungsgerichtlicher Prüfungskompetenzen letztlich unvermeidlich.

Allgemein und freilich simplifiziert beruht der Legitimitätsanspruch der Ge-richte auf ihrer Fähigkeit, Kontroversen solchermaßen in rechtliche Argumente zu übersetzen, dass sie entscheidbar sind, ohne dem Verlierer noch eine Chance der Unterstützung für die Fortsetzung des Streits zu geben." 0 Lässt ein Urteil mehrere Varianten der Auslegung zu. gerät das Gericht konsequenterweise selbst in den Streit. Nicht nur in den Vereinigten Staaten lösen Entscheidungen zunehmend symbolische Kreuzzüge aus, anstatt politische Diskussionen beizulegen. Diese Tendenz des Gerichts, seine Rechtsprechung bis in politische Maßnahmen hinein-reichen zu lassen, und zudem die Verfassung als fortwährende Weiterentwicklung immer neu zu interpretieren, bringt sie selbst in die politische Diskussion. Sie gefährdet damit zwei Erfolgskriterien, die über Wirksamkeit oder Unwirksamkeit des Verfassungsgerichts entscheiden : zum einen, inwieweit den Entscheidungen Folge geleistet wird, sondern auch inwieweit diese andere Entscheidungsarenen determinieren. Daran gemessen erreichen manche Verfassungsgerichte bereits die Grenzen der Akzeptanzbereitschaft innerhalb der jeweiligen Rechtskultur.

Die Vereinigten Staaten als Ursprung der hier diskutierten Gestalt der Verfas-sungsgerichtsbarkeit waren fast zwingend auch der Ausgangspunkt der verfas-sungsrechtlichen Sensibilität für die sogenannte ..political question".831

sogar dessen Anwendung durch das Bundesverfassungsgericht schon als vorhanden anse-hen (so K. Dolzer. Verfassungskonkretisierung durch das Bundesverfassungsgericht und durch politische Verfassungsorgane. 1982. S . 2 9 f f . am Bsp. von E u G R Z 1983. 57 (70)).

829 Vgl. auch \V. Brüggen Verfassungen im Vergleich: USA & Deutschland, in: Ruperto Carola - Forschungsmagazin der Universität Heidelberg, Heft 3 /1994. S. 22ff , 23.

830 Vgl. auch N. Lahmann, Legitimation durch Verfahren. 1969. 831 Hierzu insbesondere F. W. Scharpf, Grenzen der richterlichen Verantwortung. Die

Political-question-Doktrin in der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court . 1965. Vgl. auch den Überblick bei H. Ltuifer. Verfassungsgerichtsbarkeit und politischer Prozess. 1968. S. I ff.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 287

Mit dem Fall Luther v. Borden (1849)832 hat der Supreme Court, um zunächst der Entscheidung politischer Fragen auszuweichen, die Doktrin der „political question" eingeführt. Der Grundgedanke dieser These ist darin zu sehen, sich bei verfassungsrechtlich nicht eindeutig entscheidbaren Fällen nicht in den demo-kratischen Prozess einzumischen. Vordergründig sollte die Rolle des Richters als politisches Gegengewicht zur Exekutive und Legislative beschränkt werden. In anderen Worten: weitreichende politische Reformen sollten durch den politischen Gesetzgeber und nicht durch den Supreme Court eingeleitet werden.833 So viel zur Theorie.

Allerdings: Die Rolle des „stillen, aber lauernden Beobachters" kann durchaus auch bereits eine politische Dimension in sich tragen.

In der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts lassen sich in der Rechtspre-chung des Supreme Court zwei Phasen unterschiedlicher Kontrolle feststellen.834

In der nach dem Präsidenten des obersten Gerichts benannten „Lochner-Ära" (etwa zwischen 1905 und 1937) wurde das vorwiegend wirtschaftslenkende Gesetzes-werk einer umfassenden Kontrolle unterzogen („strict scrutinity test"). Basierend auf der Erwägung, solche Gesetze würden die Vertragsfreiheit und im besonderen Maße das Eigentumsrecht beschränken, forderte der Supreme Court zu deren Rechtfertigung substantiell gewichtige öffentliche Interessen, deren Vorliegen er im einzelnen überprüfte. Annähernd 160 Gesetze hielten schließlich dieser Über-prüfung nicht stand. Wohingegen sich der Gerichtshof in der sogenannten „Nach-Lochner-Ära" nach 1937 spürbar zurücknahm und ein Gesetz regelmäßig nur dann für verfassungswidrig erklärte, wenn es willkürlich, diskriminierend oder nachweisbar ungeeignet zur Ereichung des Ziels war, das der Gesetzgeber frei wählen konnte („rational basis test"). Aus dem erstgenannten Stadium der Recht-sprechung ist eine dissenting opinion des Richters H. F. Stone bemerkenswert, der 1936 in der Blütezeit der sogenannten „New Deal"-Gesetzgebung, in der der Supreme Court ein landwirtschaftliches Sanierungsprogramm des Präsidenten Rosseveit für verfassungswidrig erklärt hatte, seine abweichende Meinung wie folgt begründete:

..The power of courts to declare a Statute unconstitutional is subject to two guiding principles of decision which ought never to be absent f rom judicial consciousness. One is that courts are concerned only with the power to enact statutes, not with their wisdom. The other is that while unconstitutional exercise of power by the executive and legislative

832 48 US (7 How.) 1. 12 L. Ed. 581. 833 Siehe auch B. Kroll. Der Supreme Court - das oberste Gericht der USA. in: JuS

1987. S. 944 ff.. 947. 834 Dazu aus dem deutschen Schr i f t tum J. Wittmann, Self-restraint als Ausdruck der

Gewaltenteilung, in: B. Rill (Hrsg.), Fünfzig Jahre freiheitlich-demokratischer Rechtsstaat. Vom Rechtsstaat zum Rechtswegestaat. 1999. S. 109 ff., 110 ff. und vor allem W. Brugger. Grundrechte und Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten. 1987. S. 38 ff.

288 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

branches of the government is subject to judicial restraint. the only check upon our own exercise of power is our own sense of self-restraint. For the removal of unwise laws from the Statute books appeal lies, not to the courts . but to the ballot and to the processes of democratic government ."*"

Soweit ersichtlich taucht an dieser Stelle der Begriff „self-restraint" im Zusam-menhang mit der Verfassungsgerichtsbarkeit erstmalig auf. Im Wesentlichen geht es bei der Beantwortung der Frage, ob nun eine „political question" vorliege stets um die selben Problemkreise: Handelt es sich um eine Rechtsfrage, was ist also justiziabel, und was eine „political question"? Im Ergebnis lässt sich dabei keine stringente Rechtsprechung des Supreme Court erkennen. Studiert man die Fülle der Entscheidungen des Supreme Court zur political-question-Theorie, so lässt sich eine klare Linie schwerlich feststellen; sie wird äußerst flexibel gehandhabt. Nur zählt es zum Geheimnis des Supreme Court festzulegen, wann er eine political-question annimmt und wann nicht.

Manche Sozialwissenschaftler haben zuweilen von einer richterlichen Vorherr-schaft im amerikanischen Herrschaftsprozess gesprochen. Bei näherer Betrach-tung der geschichtlichen Entwicklung der USA erscheint jedoch etwa der Begriff „Judiziokratie" übertrieben, hat sich der Supreme Court doch lediglich zwischen 1890-1937 extensiver auf politischem Parkett bewegt, als er ca. 35 Gesetze oder Präsidialakte sozial- und wirtschaftspolitischen Inhalts zurückwies und vor allem in den ersten Jahren des Rooseveltschen New Deal sozialreformerische Initiativen des Staates zur Überwindung der Weltwirtschaftskrise blockierte. Ansonsten aber hat sich das Oberste Bundesgericht in vergleichsweise nüchterner Einschätzung etwaiger Friktionsfelder und potentieller Ansehensverluste politischen Ausein-andersetzungen eher entzogen und sich bevorzugt für unzuständig erklärt als in öffentliche Konflikte eingemischt.836 Alles in allem hat aber die mehr als zweihun-dertjährige Rechtsprechung dem Obersten Gericht soviel Autorität eingetragen, dass es längst zum respektierten Partner im Geflecht der checks and balances, der politischen Willensbildung und Machtausübung geworden ist. Demoskopische Erhebungen haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer wieder belegt, dass das Ansehen der Institution Supreme Court in der Bevölkerung viel größer ist als dasjenige der Präsidentschaft, vom Kongress ganz zu schweigen.

835 United States v. Butler. 297 U.S. 1 (1936). 836 Das Oberste Gericht kann sich also weigern, dort Recht zu sprechen, wo es die

Verantwortung fü r die Folgen seiner Entscheidung nicht übernehmen kann. Es erklärt dann solche Fälle zu ..political questions". Als solche werden vor allem Rechtsstreitigkeiten mit möglichen internationalen Implikationen betrachtet, etwa Konflikte im Bereich der auswär-tigen Beziehungen (über die Geltung bzw. Einhaltung von Verträgen. Grenzstreitigkeiten. Anerkennung von Staaten. Einreiseverweigerungen für Ausländer oder deren Ausweisung).

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 289

(3) Iiikurs: „counter-majoritarianism"

Die Praxis des Supreme Courts, durch ständige Auslegung den Verfassungstext veränderten äußeren Umständen anzupassen ist letztlich bedeutsamer als die die gelegentlich spannungsgeladenere und im Ausland bis heute mehr beachtete Ausübung des richterlichen Prüfungsrechts, das jedoch in Wirklichkeit nur einen kleinen Ausschnitt aus der fortlaufenden Interpretationstechnik der Verfassung durch die amerikanische Gerichtsbarkeit darstellt.8 '7

In den Vereinigten Staaten wird die Betrachtung von Problemkreisen der Ver-fassungsgerichtsbarkeit gerne auf den Begriff der „counter-majoritarianism" re-duziert. also auf das Problem der „gegen-Mehrheitlichkeit". Anders als etwa in Deutschland oder Österreich dient letzteres vielen als eines der führenden Para-digmen des amerikanischen Verfassungsrechts schlechthin.S3S Grundsätzlich ist die Debatte über das Verhältnis zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokra-tie und Rechtsstaat umfangreich und kann hier nicht verfolgt werden.839 Hierbei wird bemängelt, dass meist auf lange Zeit gewählten und nur unzureichend oder gar nicht verantwortlichen Richtern die Kompetenz erteilt wird. Gesetze eines demokratisch legitimierten Parlaments zu annullieren. Gerichte würden auch diesbezüglich Politik treiben, anstatt Recht zu sprechen. Befürworter wollen da-gegen das demokratische Prinzip durch Theorien über die „Selbstbindung" der Legislative und die Wahrung von Menschen- und Bürgerrechten retten"0 . Für

837 So bereits K. Loewenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis in den Vereinig-ten Staaten. 1959. S .36 .

s 58 Hierzu insbesondere A Bickel, The Least Dangerous Branch - The Supreme Court at the Bar of Politics, 1962. Es sind jedoch vermehrt Stimmen vernehmbar, die einer allzu erhöhten Stellung dieses Gedankens kritisch gegenüberstehen, vgl. nur B.A.Ackerman, The Storrs Lectures: Discovering the Constitution, in: 93 Yale L.J . (1984), S. l()13ff. S. 1016: „Hardly a year goes by without some learned professor announcing that he has discovered the final Solution to the countermajori tar ian difficulty. or, even more darkly, that the countermajori tar ian difficulty is insolvable." Siehe auch E. Chemerinsky, The Supreme Court 1988 Term - Foreword: The Vanishing Constitution, in: 103 Harvard L. Rev. (1989). S . 4 3 f f . ; ders., The Price of Asking the Wrong Quest ion: An Essay on Constitutional Scholarship and Judicial Review, in: 62 Texas L. Rev. (1984). S. 1207 ff.: B. Friedman. Dialogue and Judicial Review, in: 91 Michigan L. Rev. (1993), S. 577 ff.; jVf. V. Tushnet. Anti-Formalism in Recent Constitutional Theory, in: 83 Michigan L. Rev. (1985), S. 1502 ff.; mit dem Versuch einer Umkehrung der Problematik („the majoritarian diff iculty") auch S. Croley, The Majori tarian Difficulty: Elective Judiciaries and the Rule of Law. in: 62 The University of Chicago L. Rev. (1995), S. 689 ff.

839 Für die amerikanische Diskussion wohl am bekanntesten A. Bickel (1962) und J.H. Ely, Democracy & Distrust. 1980; vgl. allgemein M. Cappelletti, The Judicial Process in Comparat ive Perspective. 1989. S. 3 ff . ; für das deutsche Recht ist die Auseinanderset-zung in der Weimarer Republik zwischen C. Schmitt und H. Kelsen immer noch äußerst beachtenswert.

840 Vgl. etwa U.K. Preuß, Umrisse einer neuen konstitutionellen Form des Politischen, in: ders., Revolution, Fortschritt und Verfassung, erw. Neuausg. 1994. S. 123 ff.

290 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

jVf. Cappelletti drücken Verfassungen die Positivierung höherer Werte aus. und Verfassungsgerichtsbarkeit sei die Methode zur Durchsetzung dieser Werte841.

Dieser normative Streit muss an dieser Stelle nicht gelöst werden, unabhängig davon, dass er wohl kaum plausibel auflösbar ist.842. Entscheidend ist, dass diese Debatte - mit annähernd den gleichen Argumenten auf beiden Seiten - überall dort auftreten wird, wo die Verfassungsgerichtsbarkeit eingeführt wird und sich gegenüber der Politik emanzipiert. Auf der einen Seite steht dabei typischerweise die Ideologie der „Volkssouveränität", die verfassungsgerichtliche Beschränkun-gen des Mehrheitswillens als „undemokratisch" verwirft. Auf der anderen Seite offenbart sich der „Konstitutionalismus", welcher die Bindung der Politik an eine Verfassung als Eigenwert begreift und den Mehrheitswillen diesen Bindungen unterordnet. Der „Legalismus" steht wohl zwischen diesen Prinzipien. Er verweist zwar auf die Herrschaft des Rechts über die Politik - und damit auf den „Rechts-staat", ist aber weniger mit einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit, als eher mit dem gesetzgebenden Parlament verbunden.

c) Übergreifende Funktionen und Kompetenzen der Verfassungsgerichts barkeit - Richtwerte für den EuGH?

Gerade im Hinblick auf eine Überprüfung der verfassungsgerichtlichen Ele-mente des EuGH sollen auch übergreifend kennzeichnende Funktionen und Kom-petenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit wenigstens angerissen werden, wobei bereits hier festgestellt werden darf, dass es bei den Kompetenzen und Funktionen durchaus zu Verschränkungen kommen kann, was auf dem Umstand beruht, dass beide unmittelbar einander zu bedingen wissen. Wie anders sollte beispielsweise die Funktion der Wahrung der Gewaltenbalance ohne die Kompetenz über Or-ganstreitigkeiten aufrecht zu erhalten sein? Oder eine wirkungsvolle, evolutive Grundrechtssicherung ohne wenigstens eine dem Verfassungsbeschwerdeverfah-ren ähnliche Kompetenz herstellbar sein?

1,41 M. Cappelletti (1989), S. 118. 120. Freilich ließe sich pragmatisch argumentieren, dass es schlicht sinnvoll sei, eine Instanz zu schaffen, die auf juristischem Wege politische Konflikte letztendlich entscheidet. Dies setzt aber voraus, dass man die Vorherrschaft des Rechts anerkennt.

*42 Einiges mag dafür sprechen, die Institution des Verfassungsgerichts als „Dritte Kammer" des legislativen Prozesses zu begreifen (vgl. A. Stone, The Birth of Judicial Politics in France. 1992. S. 209 ff.). Wie bereits der „Schöpfer" des europäischen Modells der Verfassungsgerichtsbarkeit . H. Kelsen. festgestellt hat. wird ein Verfassungsgericht unvermeidlich legislativ tätig.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 291

aa) Verfassungsgerichtlichc Interpretationspotentiale im Verfassungsstaat - Entwicklungsstufen und Komponenten

Im vollausgebildeten Konstitutionalismus stellt sich zudem die Frage des Verfas-sungsgericht! ichen Interpretationsmonopols, so wie es sich in den USA herausge-bildet hat. Diese Institutionalisierung eines autoritativ gesteuerten und gesamtge-sellschaftlich wirksamen hermeneutischen Prozesses der Verfassungskultur prägt zunehmend „westliche", auch ansatzweise „nicht-westliche" Verfassungsstaaten. Ein wissenschaftlicher und politischer Diskurs über das Wesen der Verfassungs-hermeneutik ist umfassend und jenseits schüchterener Debatten vorläufig nur in den USA in Gang gekommen. Er bewegt sich „Toward a Constitutional Herme-neutics"841, wie sie sich in der Debatte zwischen textimmanent argumentierenden „interpretists" und verfassungsgestaltenden „noninterpretivists" niederschlägt844

und in einen weiteren Zusammenhang von „katholischen" und „protestantischen" Interpretationsschemata erstellt wird845. Diese stets politisch aufgeladenen Diskur-se offenbaren die grundsätzliche Notwendigkeit einer vergleichend untersuchen-den Verfassungshermeneutik in den mit verfassungs-richterlichem Prüfungsrecht ausgestatteten Politien der USA. Deutschlands, Kanadas, Australiens und Frank-reichs.

Die Idee und Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit griff in Europa erst spät Platz. Zwar gab es in Westeuropa Anfang des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Ländern einige Bestrebungen, die Gesetzgebung einer Verfassungsmäßigkeitsprü-fung zu unterwerfen. Aber nur in Österreich gelang es 1920 unter dem Einfluss des Staatsrechtlers H. Kelsens, ein wirklich aktives Verfassungsgericht in der Verfassung zu verankern. Die Ausbreitung dieser Institution fand in Westeuropa erst nach dem zweiten Weltkrieg statt. Dass die Verfassungsgerichtsbarkeit kein unabdingbares Element einer Demokratie ist, zeigen die vielen als demokratisch verstandenen Staaten, die über diese Institution nicht verfügen, so wie etwa Eng-land. Auch Frankreichs court constitutione! verfügt nicht über die Kompetenzen z. B. des deutschen Verfassungsgerichts und hat sich erst in den letzten Jahrzehnten eine größere Rolle im politischen System erkämpfen können.

Mit Vorsicht ist eine Einordnung der Verfassungsgerichtsbarkeit in die histori-sche Entwicklung des ..Rechtsstaats" oder der „Rule of Law" zu behandeln, wie das deutsche und das englische Beispiel zeigen.846

843 G. Leyh, Toward a Constitutional Hermeneutics . in: American Journal of Political Science, No'. 2, vol. 32, 1988. S. 369 ff.

844 Dazu etwa D. P. Kommers, The Supreme Court and the Constitution: The Continuing Debate on Judicial Review, in: The Review of Politics. No. 3, vol. 47, 1985. S. 113 ff.

845 Hierzu beispielsweise das wichtige Werk von H. Levinson. Constitutional Faith. 1989.

846 Die Konzeption des Rechtsstaats war alles andere als eine universelle Idee, sondern hat sich in einem ganz best immten sozio-politischen Umfeld entwickelt. Sie entstand in

292 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Die V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t f inde t w e l t w e i t z u r D u r c h s e t z u n g ihrer j e w e i l i -g e n V e r f a s s u n g i m m e r w e i t e r e V e r b r e i t u n g und t räg t d a m i t i n d e n e n t s p r e c h e n d e n L ä n d e r n i m p l i z i t z u r F e s t i g u n g o d e r A u s f o r m u n g g e w i s s e r g e s e l l s c h a f t l i c h e r S t r u k t u r e n be i . Z u r V e r w i r k l i c h u n g d e r n o r m a t i v e n A n f o r d e r u n g e n und zu r E r -h a l t u n g d e s v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h e n K o n s e n s e s l e i s t en V e r f a s s u n g s g e r i c h t e e i n e n w e s e n t l i c h e n Be i t r ag . D i e V e r f a s s u n g w ä r e o h n e d i e V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t l ed ig l i ch auf i h ren s o z i a l e n , g e s e l l s c h a f t l i c h e n R ü c k h a l t v e r w i e s e n . 8 4 7 U m a b e r e i -n e i n K o n f l i k t f ä l l e n d r o h e n d e A u f z e h r u n g d e s v e r f a s s u n g s r e c h t l i c h e n K o n s e n s e s z u v e r m e i d e n , ist d i e E i n r i c h t u n g d e r V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t n a h e z u unve r -z i c h t b a r . V e f a s s u n g s g e r i c h t e n ist g r u n d s ä t z l i c h d i e M ö g l i c h k e i t g e g e b e n , e i n e n v o n p o l i t i s c h e n u n d H a n d l u n g s z w ä n g e n s o w i e M a c h t e r h a l t u n g s i n t e r e s s e n ver -g l e i c h s w e i s e u n a b h ä n g i g e n B l i ck au f d i e V e r f a s s u n g z u w e r f e n . Po l i t i s ch w i e g e s e l l s c h a f t l i c h b e d e u t s a m und g e g e b e n e n f a l l s w i r k u n g s v o l l e r a l s d i e k o n k r e t e G e r i c h t s e n t s c h e i d u n g k a n n d a b e i d i e g e n e r e l l e E x i s t e n z d e r g e r i c h t l i c h e n K o n t r o l -l e b e r e i t s i m V o r f e l d e i n e r „ d r o h e n d e n " A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t a n s c h l i e ß e n d e r E n t s c h e i d u n g i n e i n e r S t r e i t s a c h e s e in , d a B e t e i l i g t e w i e p o l i t i s c h e I n s t a n z e n g e z w u n g e n se in k ö n n e n , d i e V e r f a s s u n g s f r a g e b e r e i t s v e r h ä l t n i s m ä ß i g f r ü h und u n a b h ä n g i g z u s t e l l en . 8 4 8

Deutschland aus dem für die Restaurations/.eit nach den Unruhen von 1848 charakteristi-schen Kompromiss zwischen Liberalismus und Konservatismus. Deswegen unterscheidet sie sich historisch auch grundlegend von der Idee der ..Rule of Law". Die Ideologie der „Ru-le of Law" entstand historisch in England unter dem Einfiuss einer starken Mittelklasse, die das Parlament kontrollierte und einer relativ schwachen königlichen Bürokratie, während die kontinentalen Rechtsstaatsprinzipien sich vor dem Hintergrund von machtvollen und zentralisierten Bürokratien entwickelten, dessen Türen die . .Bourgeoise" nicht niederrei-ßen konnte, sondern an denen sie anklopfen musste, um Zugeständnisse zu erreichen. Der ..Rechtsstaat" erwies sich flexibel genug, um im monarchisch-bürokratischen Kaiserreich genau wie der Weimarer Republik und der Bundesrepublik eine der tragenden Staatsprin-zipien zu sein. Der Inhalt des Begriffs hat sich jedoch seit seinem ersten Gebrauch radikal verändert, wenn man seine heutige Bedeutung im deutschen Staatsrecht, die auch demokra-tische und sozialstaatliche Aspekte umfaßt mit der Vorstellung vergleicht, die seine frühen Verfechter hatten. Ähnliches gilt für die „Rule of law". War diese Doktrin anfänglich vor allem eine liberale Philosophie, hat in den USA unter ihrem Banner der Supreme Court eine Rechtsprechung geschaffen, die den Staat auf die Durchsetzung von Bürgerrechten verpf l i ch te t -e ine am Anfang des 19. Jahrhunderts undenkbare Entwicklung. Eine Minimal-definition des „Rechtsstaats" könnte gleichwohl auch den Begriff „Rule of Law" umfassen. Eine umfassende Bibliographie zum Themenkomplex „Rule of Law" findet sich auf der Website der Wellbank unter http:/Avwwl.worldbank.org/publicsector/legal/annotated.pdf.

847 Auch wenn der soziale Rückhalt hinreichen sollte, absichtliche Verfassungsverstöße zu verhindern, kann er doch nicht divergierende Auffassungen über konkrete verfassungs-rechtliche Anforderungen ausschließen, vgl. auch D. Grimm. Verfassung, in: Staatslexikon, hrsg. v. d. Görres-Gesellschaft , 7. Aufl.. Bd. 5, 1989 und 1995. S. 634 ff.. 639.

8 4 8 Bei einem Scheitern dieser „vor-gerichtlichen Wirkung" ist es dann Aufgabe eines funktionierenden Verfassungsgerichts, die Verfassung dem politischen oder gesellschaftli-chen Streit zu entziehen und ihrer in diesem Fall entscheidenden Funktion als Konsensbasis widerstreitender Interessen wieder zuzuführen. D.Grimm (1989 und 1995) betont aber

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 293

Mit dem Argument, auch Verfassungsgerichte seien gesellschaftlich oder öf-fentlich verantwortlich, wird teilweise in der Politik- und Rechtslehre der Versuch angestellt, eine der Politik äquivalente Verantwortlichkeit der Verfassungsge-richtsbarkeit zu formulieren.849 Dieser Gedanke verdient Unterstützung, da er alle Beteiligten der Verfassungsöffentlichkeit daran erinnert, was „Verfassung" neben allen anderen Definitionen noch ist: ein Leitfaden für Verantwortungsübernahme, ein Dokument zur Regelung gesellschaftlicher Verantwortlichkeit. Dabei sollte im verfassungsgerichtlichen Kontext allerdings eine Differenzierung von indivi-dueller Verantwortlichkeit der Richter und institutioneller Verantwortlichkeit des Gerichts vorgenommen werden.850

Selbstverständlich sind zu den verfassungsgerichtlichen Kompetenzen neben den beiden bereits genannten die konkrete und abstrakte, die vorbeugende und auch gegebenenfalls völkerrechtliche Normenkontrolle, unterschiedliche Verfas-sungsschutzverfahren sowie in föderalen Ordnungen Bundesstaatsstreitigkeiten zu zählen. Wahlprüfungsverfahren und Gutachtenkompetenzen sollen nicht uner-wähnt bleiben, wenngleich für den berechtigten Status eines Gerichts als Verfas-sungsgericht insgesamt nicht alle Kompetenzen gegeben sein müssen. Allerdings ist ein Mindestmaß an verfassungsgerichtlichen Funktionen zu fordern, die von der Grundrechtssicherung über den Schutz maßgeblicher Verfassungsprinzipien (wie Demokratie. Rechtsstaatlichkeit, Vorrang der Verfassung851, Gewaltenbalance im Kontext mit der Trennung der Staatsgewalten) bis zur Sicherung des Pluralismus und implizit dem Minderheitenschutz zu reichen haben.852 Für die europäischen, einzelstaatlichen Verfassungsgerichte ist das Aufrechterhalten einer kooperativen

zutreffend, dass ,.|d]ie Bereitschaft, Machtfragen durch Gerichte schlichten zu lassen, I . . . ] freilich soziale und kulturelle Wurzeln [hat], die keineswegs überall, wo eine Verfassung besteht, gegeben sind. Fehlen sie. werden Verfassungsgerichte mit den Machthabern kurz-geschlossen oder zur Bedeutungslosigkeit verurteilt. Beide Male ist der Schaden für die Verfassung größer als beim völligen Verzicht auf Verfassungsgerichtsbarkeit."

849 Siehe etwa M. Cappelleiti, Who Watches the Watchmen?, in: ders., The Judicial Process in Comparative Perspective, 1989. S. 57 ff.. 79 ff.: dazu auch U. Haltern. Verfas-sungsgerichtsbarkeit. Demokratie und Mißtrauen. 1998. S. 200 f.

850 Siehe auch B. Friedman, Dialogue and Judicial Review, in: 91 Michigan L. Rev. (1993). S. 577 ff.

851 Über die Verfassungsgerichtsbarkeit als ..Instrument zur Sicherung des Vorrangs der Verfassung" sehr instruktiv C. Starck, Vorrang der Verfassung und Verfassungsgerichtsbar-keit. in: C. Starck/A. Weber (Hrsg.), Verfassungsgerichtsbarkeit in Westeuropa. Teilband I: Berichte. 1986. S. 11 ff. Zu den antiken Grundlagen auch des Prinzips des Vorrangs der Verfassung vgl. bereits E.S. Corwin, The ..Higher Law". Background of American Constitutional Law, in: 42 Harvard L. Rev. (1928), S. 149ff. 153 ff.

852 Vgl. auch die Aufzählung bei P. Hiiberle, Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: P. Badura/H. Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 311 ff., S. 319. der noch die „friedliche Ein-ordnung des nationalen Verfassungsstaates in regionale Verantwortungsgemeinschaften" unter dem Stichwort der „Völkerrechtsfreundlichkeit" und „die behutsame, buchstäblich so verstandene .Fortschreibung - der Verfassung" nennt.

294 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Bez iehung z u m E u G H mi te inzubez iehen (ohne dabei näher auf den vom BVerfG geprägten Begr i f f des „Koopera t ionsverhä l tn i s ses" e ingehen zu müssen) . 8 5 3

D a n e b e n lässt sich an wei te ren Variablen, die den genannten E l emen ten e iner se lbs tändigen Verfassungsger ich tsbarke i t h inzuge füg t werden sol len, de r Insti tu-t ional i s ie rungsgrad von Verfassungsger ich ten messen 8 5 4

Dabei ist zunächs t d ie Autonomie zu nennen , als Fäll igkeit von Inst i tut ionen, unabhäng ige En t sche idungen zu t ref fen und u m z u s e t z e n . Je wen ige r sie dabei in Abhängigke i t zu anderen Inst i tu t ionen s tehen , des to höher de r Inst i tut ional is ie-rungsgrad . Trotz ihres Ranges als Ver fassungsorgan sind die Verfassungsger ich te nicht in de r Lage, ihre En t sche idungen selbst du rchzuse tzen , sonde rn hängen dabei von der A k z e p t a n z ihrer Jud ika te bei den Adressa ten ab . bzw. von deren Bere i t schaf t , überhaupt e ine judiz ie l le Konf l ik tbe i l egung zu wäh len und nicht in ande re F o r m e n de r Konf l ik tbewäl t igung auszuweichen . Diesbezügl ich wird m a n d e m S u p r e m e Cour t der Vereinigten Staaten e inen hohen Grad an inst i tut ionel-ler A u t o n o m i e zubi l l igen können . Prinzipiel l d ü r f t e aber der Au tonomieg rad im Bereich de r En t sche idungs f indung wesent l ich höhe r als im Bereich de r Umse t -zung sein, w a s d ie Ver fassungsger ich te w i e d e r u m durch spezie l le F o r m e n wie Apel len t sche idungen , ve r f a s sungskonfo rme Aus legung oder auch Fris tsetzungen zu kompens ie ren suchen. 8 5 5

853 Vgl. beispielsweise U. Everling, Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften. Nach dem Maastricht-Urteil, in: A. Randelzhofer u. a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift E.Grabitz, 1995, S .57f f . : ders.. Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs, in: W. Weidenfeld (Hrsg.), Reform der Europäischen Union. 1995. S. 256 ff.: M.A. Dauses, Aufgabenteilung und judizieller Dialog zwischen den einzelstaatlichen Gerichten und dem EuGH als Funktionselemente des Vorabentscheidungsverfahrens. in: O .Due u.a . (Hrsg.), Festschrift für U.Everling. 1995. Band 1, S .223f f . : C.Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des. Bundesverfassungsgerichts, in: EuGRZ 1993, 489 ff.. 494 f.: M. Schröder, Das Bundesverfassungsgericht als Hüter des Staates im Prozess der europäischen Integration - Bemerkungen zum Maastricht Urteil, in: DV-Bl. 1994. S. 316 ff.. 323 f.: H. Gersdorf. Das Kooperationsverhältnis zwischen deutscher Gerichtsbarkeit und EuGH, in: DVB1.1994. S. 674 ff.

854 Diese folgenden Elemente (und gegebenenfalls Prinzipien) sind teilweise an Ge-danken von R. Lhoita, Paper zur gemeinsamen Tagung von DV'PW. ÖGPW und SVPW am 8. /9. Juni 2001 in Berlin zum Thema: ..Der Wandel föderativer Strukturen", Verfas-sungsgerichte im Wandel föderativer Strukturen - eine institutionentheoretische Analyse am Beispiel der BRD. der Schweiz und Österreichs. 2001. angelehnt. Lhoita bettet seine Überlegungen freilich primär in eine Betrachtung bundesstaatlicher Besonderheiten ein.

855 Bei den als hochgradig politisch rezipierten Entscheidungen kann jedoch die Akzep-tanz verfassungsgerichtlicher Entscheidungen rasch absinken. Dies hat etwa der Nachhall zum Präsidentschaftsurteil ..Bush-Gore" in den Vereinigten Staaten (1998/99) oder in Deutschland auf den „Kruzifix-Beschlusses" (BVerfGE 93,1) des BVerfG gezeigt. So-weit eine unterlegene Prozesspartei scharfe Kritik übt. ist sie verständlich und meist auch bald vergessen, (vgl. zur ..Richterschelte in Deutschand" etwa H.-J. Vogel. Videant Judi-ces! Zur aktuellen Kritik am. Bundesverfassungsgericht, in: DÖV 1978. S. 665 ff.). In

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 295

Als weiterer Aspekt ist die grundsätzliche Anpassungsfähigkeit von Verfas-sungsgerichten hervorzuheben, womit die Möglichkeit von Institutionen gemeint ist, sich an Veränderungen ihres Kontextes, Adressatenkreises und institutionellen Umfeldes anzupassen und diesen (aktiv oder lediglich durch vorbildhaftes Wirken) zu beeinflussen. Ein vergleichender Blick zeigt allerdings, dass die Verfassungs-gerichte im Umgang mit den Kompetenzkatalogen der jeweiligen Verfassungen einen eher restriktiven, gelegentlich dem Bild der Stagnation nicht fernen Kurs verfolgen, der im deutschsprachigen Raum in der sog. „Versteinerungstheorie" gipfelt.

Auch die Selbstorganisation als die Fähigkeit einer Institution, interne Struktu-ren herauszubilden, um ihre Ziele zu verwirklichen und mit ihrer Umwelt umzu-gehen. gehört in den Reigen typischer, zumindest wünschenswerter Merkmale der Verfassungsgerichtsbarkeit. Hier ist auf die Selbstorganisationsfähigkeit der Ver-fassungsgerichte zu achten sowie auf die Art und Weise, wie das Selbstverständnis der Gerichte in eine eher streitentscheidende (richtende) oder streitvermittelnde (integrierende) Tätigkeit u n d / o d e r aktivistische bzw. zurückhaltende Spruchpra-xis umgesetzt wird.856 Daneben ist die Fähigkeit der Institution hervorzuheben, ihr eigenes Arbei tsaufkommen selbst zu steuern und Prozeduren zu entwickeln sowie Aufgaben schnell und effizient zu lösen.s57

Unter den Begriff der verfassungsgerichtlichen Kongruenz soll der Grad ge-fasst werden, in dem intrainstitutionelle Beziehungen die sozialen Beziehungen abbilden, die sie zu regeln beanspruchen. Hier wird man zweierlei zu berücksich-tigen haben: Zum einen richtersoziologische Aspekte, die sich darauf beziehen, inwieweit sich die parteipolitische sowie bikamerale Mitbest immung bei der Richterwahl signifikant auf die Spruchpraxis der Verfassungsgerichte auswirken. Allem Anschein nach ist dies (soweit hierzu überhaupt Daten vorliegen) weder in

jüngster Zeit indessen wird die Kritik anläßlich einiger Entscheidungen des Gerichts oder seiner Kammern grundsätzlicher. E. IV. Böckenförde etwa hat die Gefahr des Übergangs zum „verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat" bzw. „Verfassungs-Areopag" beschwo-ren (siehe ders., Grundrechte als Grundsatznormen, in: Der Staat 29 (1990), S. 1 ff., 25), B. Großfeld von „Götterdämmerung" geschrieben (ders., Götterdämmerung? Zur Stellung des Bundesverfassungsgerichts, in: NJW 1995. S. 1719 ff.) andere haben den Autoritätsver-lust des Gerichts beklagt. Politik. Publizistik und Volkesmeinung in Leserbriefen und De-monstrationen reagierten nach den sog. ..Soldaten sind Mörder"-Entscheidungen (BVerfGE 86. 1 ff.: BVerfG. NJW 1994. 2943 ff.) und dem sog. Kruzifix-Beschluß des Ersten Senats noch viel schärfer. Frühere Kritiken sprachen vom ..govemment of judges", von ..rich-terlicher Zensur", von „richterlichem Veto" oder ähnlichen Charakterisierungen (siehe m.w.N. die Zusammenstellung bei K.Stern. Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik. 1980. S. 17).

856 So auch R. Lhotta (2001). 857 Hier geht es primär um Variablen wie die Zahl der Richter, der Senate, der Assis-

tenten. der Vorselektionsverfahren für Annahme/Ablehnung sowie Geschäftsordnungen, mit denen die Verfassungsgerichte institutionell auf die anfallenden Aufgaben reagieren.

296 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

den USA noch in den mit einer Verfassungsgerichtsbarkeit ausgestatteten europäi-schen Staaten erschöpfend nachweisbar. Zum anderen, inwieweit es nicht gerade die hochgradig konsensual und parteipolitisch sowie konkordanzdemokratisch geprägten Richterwahlverfahren sind, aus denen Verfassungsgerichte durchaus ihre Autorität und Akzeptanz ableiten können. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass Durchbrechungen des Konsensprinzips bei der Richterbestellung auch zu si-gnifikanten Autoritätseinbußen sowie zu legitimitätsschwächenden Diskussionen um die Politisierung der Richter führen können - ein sowohl in Deutschland als auch in Österreich wohlbekanntes Phänomen.

Der Supreme Court ist im Gegensatz etwa zum deutschen Bundesverfassungs-gericht kein genuiner Verfassungsgerichtshof, der nur über Verfassungsrecht zu entscheiden hätte. Angelegt und von den Verfassungsvätern angedacht war er zunächst als reines Rechtsmittelgericht, sowohl gegenüber Rechtsstreitigkeiten, die vor den Bundesgerichten ausgetragen werden, wie auch gegenüber best imm-ten Streitsachen, die ihren Ausgang vor den Einzelstaatsgerichten nehmen.8 5 8

Die bereits benannte, in der Bundesverfassung vorgesehene erstinstanzliche Zu-ständigkeit fällt dagegen kaum nennenswert ins Gewicht. Wollte man nun eine Gewichtung der oben aufgezählten verfassungsgerichtlichen Kompetenzen vor-nehmen, so müßte die Befugnis zur inzidenten Normenkonrolle schon eine her-ausgehobene Stellung erhalten. Allein diese bedeutsame verfassungsgerichtliche Komponente gestattet es, den Supreme Court seit Marbury v. Madison primär als Verfassungsgericht anzusehen.

Eine künftige Aufgabe der vergleichenden Forschung sollte es sein, die insti-tutionellen Merkmale und Variablen zur Ermitt lung des Einflusses von Verfas-sungsgerichten auch in ihren Unterschieden klarer herauszuarbeiten und besser aufeinander abzustimmen, um die zweifellos weiter notwendige Analyse von Ent-scheidungen der Verfassungsgerichte institutionentheoretisch rückzukoppeln und auf diese Weise mehr über den faktischen Wirkungsgrad und die Rolle der Ver-fassungsgerichte als maßgebliche Beteiligte am staatlichen und gesellschaftlichen Wandel zu erfahren.

8 5 8 Einen hohen praktischen Stellenwert für seine Funktion als Rechtsmittelgericht nehmen die die Appellationszuständigkeit begründenden Normen von 28 U.S .C. Section 1254 (von Bundesgerichten aus) bzw. Section 1257 (von Einzelstaatsgerichten aus) ein. Nach einer erheblichen Beschränkung des als ..appeal" bezeichneten Rechtsbehelfs durch den 1988 erlassenen Judicial Improvemems and Access to Justice Act. biden die sogenannten „cert iorari-Verfahren" den bei weitem größten Teil der zum Supreme Court kommenden Verfahren. Dabei bittet die unterlegene Partei das Gericht in einer ..petition for certiorari", den Fall zur Entscheidung anzunehmen, vgl. hierzu auch C. Rau. Selbst entwickelte Grenzen in der Rechtsprechung des United States Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichts. 1996. S. 17 f.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 297

bb) Charakteristika selbständiger Verfassungsgerichtsbarkeit

Darüber hinaus steht der amerikanische Supreme Court exemplarisch und pionierhaft für eine Anzahl charakteristischer Komponenten selbständiger Verfas-sungsgerichtsbarkeit.SS9 Dazu zählt zum einen die Verfassungsorganqualität mit ihrer notwendigen textlichen Verankerung in der Verfassung (Art. III der ameri-kanischen Bundesverfassung, wo eine Auflistung entscheidender Kompetenzen des Supreme Courts zu finden ist). Die unabdingbare Garantie richterlicher Un-abhängigkeit ist dabei von besonderer Bedeutung.8 6 0 Sie wird umso wichtiger, je weniger die beiden anderen Staatsgewalten, die Gesetzgebung und die Verwaltung, voneinander getrennt sind: Die politischen Parteien beherrschen Parlament und Regierung. „Beherrschen" sie auch (ganz oder teilweise) die Medien, zeigt es sich noch deutlicher: Die Richter haben einen (relativ) staatsfreien Lebensbereich im Sinne des Gewaltenteilungsprinzips zu sichern.861 Es geht um Freiheitssicherung durch einen von der politischen Macht (möglichst) abgeschirmten Richter, um Schutz vor der staatlichen Willkür. Das erfordert nicht nur eine formelle (kein Gericht darf zugleich Verwaltungsbehörde sein), sondern vor allem auch eine ma-terielle, sachliche Gewaltenteilung: so sollte ein ausreichender Kernbereich des Privat- und Strafrechts den Richtern zur Entscheidung zugewiesen sein. Es wird naturgemäß vereinzelt Fehlurteile geben. Die Entscheidungsqualität richterlicher Urteile ist aber durch die Unabhängigkeitsgarantie strukturell eine andere als jene der Verwaltungsbehörden.8 6 2

859 Die folgende Aufzählung ist - auch bezüglich inhaltlicher Komponenten - ange-lehnt an eine Katalogisierung typischer Elemente der Verfassungsgerichtsbarkeit durch P. Huberte, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 465 ff. Ob sich wenigstens ei-nige dieser Elemente zu ..Prinzipien der Verfassungsgerichtsbarkeit" erheben ließen, sei als (noch) offene Frage nur angedeutet.

860 Vgl. ausführlich zum Themenkreis der richterlichen Unabhängigkeit in den Verei-nigten Staaten J. Zätzsch, Richterliche Unabhängigkeit und Richterauswahl in den USA und Deutschland. 2000.

861 Im Kontext mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung steht es außer Zweifel, dass die Kontrolle der rechtsetzenden Tätigkeit vor allem der Parlamente durch die Verfassungs-gerichte der neuralgische Punkt ausgewogener Balancierung zwischen Erster und Dritter Gewalt ist. Dies belegt ein Blick auf die Geschichte der Verfassungsmäßigkeitsprüfung von Gesetzen seit Marbury v. Madison über den Kampf um das richterliche Prüfungsrecht auch in Deutschland, der im übrigen nicht erst mit der Reichsgerichtsentscheidung vom 4. No-vember 1925 (vgl. RGZ 111. 320) begann, sondern weit in das 19. Jahrhundert hineinreicht (zur Geschichte G. Meyer-Anschütz, Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts. 7. Aufl. 1919. S. 736 ff.).

862 Siehe auch J. Herrmann. Die Unabhängigkeit des Richters?, in: Deutsche Richter-zeitung 1982, S .286f f . Kürzlich H.J.Papier, Die richterliche Unabhängigkeit und ihre Schranken, in: NJW 2001. S. 1089 ff. Bereits früh in rechtsvergleichender Perspektive F. Decker. Die Unabhängigkeit der Richter. Ein Bericht über den Internationalen Richter-Kongress in Rouen. in: Deutsche Richterzeitung 1953. Seite 158 ff. Da die richterliche Unabhängigkeit die Gefahr mit sich bringt, dass ein einmal in ein bedeutendes Amt vorge-

298 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Der Forderung nach einer unabhängigen Rechtsprechungstätigkeit steht die nach einer rationalen Entscheidungsfindung nahe. P. Häberle betont zu Recht, Verfassungsrechtsprechung sei nicht ..Politik".863 Sie zeichne sich vielmehr durch in ihren Methoden rational nachprüfbare, oft schöpferische „Anwendung" von „Gesetz und Recht" aus. Allerdings ist Verfassungsrecht nach seinem Gegenstand und seiner Zielsetzung nicht nur beiläufig, sondern wesentlich auf die Materie des „Politischen" bezogen und wird auch in gewisser Hinsicht von daher bestimmt. Verfassungsrechtliche Streitigkeiten können durch ihre Nähe zum Spannungsfeld, das den Begriff der „politischen Macht" umgibt, nicht von diesem abgetrennt werden. Hieraus ergibt sich auch kein Konflikt zu der Aussage Häberles, da diese Streitfragen ja nicht deswegen weniger oder keine „rechtliche Streitigkeiten" sind. Vielmehr bleibt der Grundsatz bestehen, diese einzig und allein nach rechtlichen Grundsätzen zu entscheiden. Es ist daher umso eher ein Wesensmerkmal von Ver-fassungsgerichtsbarkeit, gerade nicht ein von politischen Aspekten abgetrennter Komplex zu sein. Durch Anwendung und Interpretation des Verfassungsrechts wenden Verfassungsgerichte ein Rechtsgebiet an, das Politik und deren imma-nenten Prozess näher zu best immen, nötigenfalls zu gestalten, aber eben auch zu begrenzen weiß. Verfassungsgerichtsbarkeit hat damit notwendig eine politische Dimension, wenn sie ihre Aufgabe sachlich und ihrer Verantwortung entsprechend wahrnehmen will.

Demzufolge sei als weiteres - der rationalen Rechtsprechungstätigkeit entwick-lungslogisch folgendes - Merkmal selbständiger Verfassungsgerichtsbarkeit das Spannungsfeldbewußtsein der höchsten Gerichte hervorgehoben.

Ebenso ein Charakterist ikum selbständiger Verfassungsgerichtsbarkeit ist die demokratische Legitimation des Verfassungsgerichts. Grundsätzlich darf bei al-ler Richtigkeit gewisser „Legitimationsketten vom Volk zu den Staatsorganen" (U. Scheuner, P. Häberle) nicht gänzlich außer Acht gelassen werden, dass in der Regel ein vom Volk nicht direkt legitimiertes Gremium von Richtern eine Parla-mentsentscheidung der gewählten Volksvertreter außer Kraft zu setzen vermag. Vernünftige Einwände hinsichtlich dieses „undemokratischen" Vorgehens werden schon gerne mit dem Beschwörung des Verfassungsdokuments und der Bezug-nahme auf die darin enthaltenen Grundsätze der Staatlichkeit weggewischt.864

Der Gesichtspunkt der demokratischen Legitimation ist im Hinblick auf sei-ne tatsächliche Befolgung seit den Anfängen heftig umstritten, jedoch nicht zu verwechseln mit der ebenso hitzig geführten Debatte, inwieweit Verfassungsge-

rückter Richter dieses gegen die Demokrat ie missbrauchcn kann, gibt es in vielen Staaten die Möglichkeit der Richteranklage.

863 P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2(X)6, S .466 . 864 Vgl. W.J. Witteveen. The Symbolic Constitution, in: B. v. Roermund (Hrsg.), Consti-

tutional Review - Verfassungsgerichtsbarkeit - Constitutionele Toetsing: Theoretical and Comparative Perspectives. 1993. S . 7 9 f f . , 79.

IV. Die Bestät igung und Fest igung des Verfassungsstaates 299

richtsbarkeit per se „demokratisch" ist. Bei der Legitimationsfrage geht es darum, ob sich Verfassungsgerichtsbarkeit in einer logischen, im „crescendo" einander bedingenden Abfolge legitimierender Elemente vom Volk zu sich selbst als Staats-organ wiederfindet. In den Vereinigten Staaten ist dies klarer gewährleistet als etwa in Deutschland (Ernennung durch Wahlmänner aus den Fraktionen des Bundes-tags, § 6 BVerfGG ). Die neun Richter des Supreme Court werden vom Präsidenten der Vereinigten Staaten nominiert (Art. II §2 par. 2 der Bundesverfassung), der Senat muss sie bestätigen, wobei regelmäßig eine öffentliche Anhörung der Kan-didaten stattfindet.865 Der Chief Justice wird vom Präsidenten alleine ernannt. Weshalb also ist die „Legitimationskette" in den Vereinigten Staaten klarer? Die Bundesverfassung sieht für die Wahl des Präsidenten eigentlich eine indirekte Wahl durch ein vom Volk gewähltes Wahlpersonenkollegium (electoral College) vor (vgl. das 12. Amendment) . In der politischen Realität ist die St immabgabe durch dieses Kollegium jedoch zur reinen Formsache geworden, da nach der Volks-wahl der Wahlpersonen die zukünftigen Amtsinhaber praktisch bereits feststehen, obwohl die Wahlpersonen in ihrer St immabgabe durch das gliedstaatliche Recht nur selten gebunden werden.

Aber auch ein anderer Ausgangspunkt, ein gedankliches „decrescendo", lässt sich für die Legitimation verfassungsgerichtlicher Tätigkeit finden. Sucht man nämlich nach der Rechtfertigung für den Verfassungsgericht!ich geprägten Verfas-sungsstaat, so ist sie zunächst darin zu erblicken, dass die Verfassung als oberste Norm die Ausübung aller Staatsgewalt bestimmt. Ist es aber eine Rechtsnorm, die Richtschnur staatlichen Handelns ist, so ist es nur konsequent, dass die Interpreta-tion und Wahrung dieses Rechts in die Hand eines Organs der rechtsprechenden Gewalt gelegt wird. d. h. einer spezifisch für die Rechtskontrolle eingerichteten Institution und nicht eines genuin politischen Organs.866 Ist keine Verfassungsge-richtsbarkeit vorhanden, so entscheidet zwangsläufig allein der Gesetzgeber, ob er sich im Rahmen der Verfassung hält oder nicht, weil es kein Organ über ihm gibt, das Verfassungsschranken überwacht. Die Verfassungsmäßigkeitsprüfung würde allein bei ihm selbst ruhen. Dies aber ist solange bedenklich, als alle parlamen-tarischen Kontrollmechanismen durch Mehrheitsbeschlüsse überwindbar sind. Verfassungsgerichtsbarkeit soll dabei helfen, Verfassungsstabilität zu sichern,867

aber auch wie bereits mehrfach angedeutet Wege zur Verfassungsentwicklung8 6 8

ohne permanente Verfassungsänderung offenhalten.

865 Vgl. auch W.H. Rehnquist, The Supreme Court. How It Was - How It Is. 1987. S. 235 ff.

866 Siehe auch K. Stern. Der Einfluß der Verfassungsgerichte auf die Gesetzgebung in Bund und Ländern, in: H.H. Klein/H. Sendler/K. Stern (Hrsg.). Justiz und Politik im demokratischen Rechtsstaat. Interne Studien der Konrad Adenauer Stiftung Nr. 119/1996. 1996.

867 Vgl. W. Brugger. Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit? Beobach-tungen aus deutsch-amerikanischer Sicht, in: StWissStPr 1993. S. 319 ff.

300 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Das Prinzip Öffentlichkeit nennt P. Häberle zu Recht „tragendes Organisati-onsprinzip für Status und Verfahren der Verfassungsgerichtsbarkeit"8 6 9 . Hierzu tragen etwa neben der zu fordernden öffentlichen Entscheidungsverkündung ge-rade in den Vereinigten Staaten auch die of tmals mitveröffentlichten - und die Diskussion in der Wissenschaft wie in der Bevölkerung bereichernden - Sonder-voten einzelner Richter bei.87" Lediglich die Verkündung eines Urteils mit einer knappen Bemerkung zu den Mehrheitsverhältnissen innerhalb eines Gremiums kann nicht genügen, um insbesondere bei höchstrichterlichen Entscheidungen das Öffentlichkeitserfordernis zu wahren. Die Tragweite einer solchen Entschei-dung reicht gewöhnlich über die unmittelbar am Verfahren Beteiligten hinaus, der Gerichtssaal kann selbst bei „öffentlicher Verhandlung" nicht als notwendiger Mul-tiplikator einer kontroversen Entscheidungsfindung dienen, die nur allzu oft die Befindlichkeiten unterschiedlicher Rechtsverständnisse auch in der Bevölkerung wiederspiegelt.

Die der Verfassungsgerichtsbarkeit innewohnende, einzigartige Interpretations-macht, ergibt sich - soviel an dieser Stelle - insbesondere aus der Verknüpfung von drei Eigentümlichkeiten: nämlich dem Prinzip des „Vorrangs der Verfassung", der letztverbindlichen Interpretationszuständigkeit und dem Fehlen eines allgemein akzeptierten Kanons der Interpretationsmethoden. Die Frage des „Letztentschei-dungsrechts". wurde bereits im Vorfeld von 1787 in den Gründungsstaaten der Vereinigten Staaten diskutiert und soll im Zuge einer Betrachtung ausgewählter spezifischer Eigenheiten der amerikanischen Entwicklung der Verfassungsge-richtsbarkeit und ihrer Ausstrahlungswirkung nicht unerwähnt bleiben. Diese Fragestellung hängt eng mit der Problematik zusammen, wie sich die Idee einer Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat überhaupt begründen lässt. Wie kann man also ein Letztentscheidungsrecht der Gerichtsbarkeit in staatlichen Ordnungen, die zumindestens auf dem Papier die Staatsgewalt dem „Volke" oder den „people" überlassen, rechtfertigen? Die Verfassung, die das Volk (als die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger eines Landes) in der Regel über Kom-

868 Siehe B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung. Stabilität und Dynamik im Verfas-sungsrecht der Bundesrepublik Deutschland. 1982, S. 162 ff.

869 Siehe P. Häberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 317. s " Heute ergehen nur noch wenige Entscheidungen des Supreme Courts e inst immig.

Stimmt ein Richter zwar mit dem Ergebnis der von einer Mehrheit getragenen Entscheidung, nicht aber mit deren Begründung oder Herleitung überein. so verfasst er im Allgemeinen eine ..concurring opinion", in der er seine Rechtsauffasung darlegt. Ist er mit dem tatsäch-lichen Ergebnis nicht einverstanden, so schreibt er eine „dissenting opinion" o d e r / u n d schließt sich der e ines Kollegen an. Concurrences und Dissents können sich auch nur auf Teile einer Entscheidung beziehen. Beide stehen in der Tradition der aus der engli-schen Gerichtspraxis s tammenden „seriatim opinions". Vgl. zu Bedeutung, Praxis und Geschichte der Sondervoten beim Supreme Court . K.-H. Millgramm, Separate Opinion und Sondervotum in der Rechtsprechung des Supreme Court of the United States und des Bundesverfassungsgerichts, 1985. S . 5 9 f f .

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 301

petenzen, Verfahren und Begrenzungen staatlicher Gewaltausübung (jedenfalls m i t e n t s c h e i d e n lässt, erfährt ihren besonderen Rang und Vorrang s 1 aus der Vorgabe als normative Grundlage und verbindlicher Rahmen eben durch das Volk. Eine wesentliche Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit ist demzufolge zunächst die des unabhängigen Moderators, aber insbesondere Bewahrers des Ranges und der Funktionen der Verfassung mit dem Auftrag den in ihr verbrieften Rechten und Verfahren Geltung zu verschaffen.872 Darin geht schlussendlich auch ein Wesens-merkmal der Gewaltenteilung a u f . D e r „Vorabend" der Bundesverfassung in den Vereinigten Staaten bot dabei bereits eine beachtliche Begründungsarbeit: im Jah-re 1783 weist der Jurist J. Iredell aus North-Carolina auf eine Republik hin. „where the law is superior to any or all individuals, and the Constitution superior even to the Legislature, and of which the judges are the guardians and protectors.'<s74

Und A. Hamilton rechtfertigt im bereits benannten Federalist-Artikel Nr. 78 die weite Kompetenz der Verfassungsgerichtsbarkeit mit einem demokratischen An-satz: „Wenn man leugne, dass Gesetze, die der Verfassung widersprechen, nichtig seien, behaupte man. dass die Repräsentanten des Volkes über dem Volk selber, das die Verfassung beschlossen hat, stünden."

d) Der EuGH als Verfassungsgericht. Verfassungsrechtsprechung

Die Verfassungsrechtsprechung wird gelegentlich als eine „offene Gesellschaft" dargestellt"75, die sich nicht wie die anderer Rechtsbereiche zum rechtsdogmati-schen Interpretationsmonopol eigne. „Lapidarformeln" hat Böckenförde - wohl im Bewusstsein, sich selbst dem Vorwurf des lapidaren Vorgehens auszusetzen - die Grundrechtsbest immungen des Grundgesetzes wie auch anderer rechtstaatlicher Verfassungen genannt, „die aus sich selbst heraus inhaltlicher Eindeutigkeiten weitgehend entbehren"876 . Daher prägen oft erst die Interpretationen der Gerichte ihre ( immanent stets gegebene) Bedeutung. In neu gebildeten Staaten weisen sie der Institutionalisierung von Recht und Politik die Richtung, wie man an der

871 Zum Vorrang der Verfassung u. a. allgemein R. Wald. Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20 (1981), S. 485 ff.

872 Dazu auch E. W. Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit . Strukturfragen. Organi-sation. Legitimation, in: NJW 1999. S . 9 f f . , 11 f.

873 Auf der Grundlage der Unterscheidung von ..pouvoir consti tuant" und ..pouvoirs constitues".

874 Das Zitat findet sich bei G. Stonrzh, Vom Widerstandsrecht zur Verfassungsgerichts-barkeit: Zum Problem der Verfassungswidrigkeit im 18. Jahrhundert , in: ders.. Wege zur Grundrechtsdemokrat ie . Studien zur Begriffs- und Institutionengeschichte des liberalen Verfassungsstaates. 1989. S. 55 ff. . 64.

875 So P. Hiiberle. Die offene Gesel lschaft der Verfassungsinterpreten, in: Juristenzei-tung 1975. S. 297 ff.

876 E. IV. Böckenförde. Grundrcchtstheorie und Grundrechtsinterpretation, in: N J W 27 (1974). S. 1529 f.

302 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Prior i tä t e rkennen kann, d ie Ver fassungsger ich ten in den nach 1990 glückl ich „gewende ten" Staaten rund um das zer fa l lene Sowje t re ich oder auch in Süda f r i ka zuerkannt wird.8 7 7

Den Ver fassungsger ich ten k o m m t hierbei e ine besondere Rolle zu, n a c h d e m ihre Entsche idungen, gewiss nicht ohne Zu tun einer veränderten Medien landschaf t , z u n e h m e n d zu polar is ieren, die a l lgemeine Diskuss ionsbere i t schaf t zu bere ichern wissen*7 8 . Dabe i verursacht de r E u G H , außer bei den unmi t te lbar am Verfahren Betei l igten, noch wei taus ger ingere E m p f i n d u n g e n als d ie höchs ten Ger ich te e iniger Staaten, w a s auch mit e iner dor t gewachsenen Verfassungs-Ident i f ika t ion und -Sensibi l i tä t z u s a m m e n h ä n g e n mag . So sehr sich W i s s e n s c h a f t und Politik um e inen europä i schen Ver fas sungsbegr i f f müh( t )en 8 7 9 , so beträcht l ich ist der Bedar f e ine r we i t e rgehenden , w a h r n e h m b a r e n Kontu r i e rung des E u G H (auch) als Verfassungsger icht 8 8 0 , um seine B e s t i m m u n g als Vers icherung und Tr iebfeder Europas zu akzentu ie ren . Ein erster, s tabi l is ierender Bauste in der Brücke zwischen europä i schem Bürger und europäischen Insti tutionen wäre mit e iner Be tonung der Verfassungsgericht! ichen E lemen te der europä i schen Ger ich tsbarke i t gesetzt .

877 In den Niederlanden wird hingegen der politische Test an der Verfassung eher poli-tischen Institutionen (einschließlich dem ..politisch-rechtlichen Halbblut", dem Raad van State) überlassen. Vgl. auch E. Blankenburg, Die Verfassungsbeschwerde - politisches Instrument und Klagemauer von Bürgern. 1997. der darauf verweist, dass ,. |e|ine an sich selbst gewöhnte Demokratie wie etwa die der Niederlande bislang an jegliche richterliche Kontrolle der Gesetze an der Verfassung verzichten zu können |glaubt|: sie muss sich dann gelegentlich von europäischen Richtern vorhalten lassen, dass ihre Institutionen nicht den inzwischen normierten Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit oder Grundrechtsverwirkli-chung entsprechen", siehe auch Benthem vs Staat der Nederlande, EGMR 23 Oktober 1985. Grundsätzlich fand die französische Gerichtsbarkeit einen starken Widerhall in der euro-päischen Verfassungsgerichtsbarkeit. Dabei ist in besonderem Maße die formale Prägung durch gewisse Auslegungsmethoden und Stilelemente spürbar, vgl. dazu auch C. Back, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft (1998), S. 58 ff.. 101 ff.. I43ff: P. Pernthaler. Die Herrschaft der Richter im Recht ohne Staat. JB1 2000. S. 691 ff.. 694 f. Obgleich diese anfänglich eher historisch ausgerichtet und klar vom Vorrang und der Lückenlosigkeit des gesetzten Rechts, des Code Napoleon, beeinflusst waren.

878 Beispielhaft das gesteigerte öffentliche Interesse in Deutschland, das durch sozial relevante und kontroverse Entscheidungen und Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes geweckt wurde, vgl. hinsichtlich der gesteigerten Kritik am Bundesverfassungsgericht: H.J. Vogel. Videant Judices! - Zur aktuellen Kritik am Bundesverfassungsgericht. DÖV 1978. S.665ff: R. Lamprecht. Zur Demontage des Bundesverfassungsgerichts, 1996: H.-P. Schneider. Acht an die Macht! Das BVerfG als Reparaturbetrieb des Parlamentarismus?, in: NJW 1999. S. 1303 ff.

879 Dazu oben B.II.2.f)nn). 880 Auf eine eingehendere Darstellung des zweiten „europäischen Verfassungsgerichts",

dem EGMR. wird an dieser Stelle verzichtet, vgl. aber K. W Weidmann. Der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte auf dem Weg zu einem europäischen Verfassungsgerichtshof. 1985: R. Bernhardt. Europäische Menschengerichtsbarkeit, in: P.-C. Müller-Graff/H. Roth (Hrsg.). Die Praxis des Richterberufs. 1999. S. 119 ff.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 303

Schon bislang war das interne Gewaltengefüge der Europäischen Union durch ein hohes Maß an Komplexität gekennzeichnet. Bedingt durch diese Komplexität sowie die zunehmende Dynamik des europäischen Integrationsprozesses ist die Bestimmung der angemessenen Rolle der dritten Gewalt in der Europäischen Union mit noch größeren Schwierigkeiten verbunden als in staatlichen Herr-schaftssystemen. Die dritte Gewalt wird in der Europäischen Union durch den EuGHS!i l sowie das ihm beigeordnete Gericht erster Instanz (EuG) ausgeübt. Dem Gerichtshof kommt nach den Gemeinschaftsverträgen eine starke Rolle als „Hüter des Gemeinschaftsrechts" zu. In Ausführung dieser ihm übertragenen Aufgabe hat der Gerichtshof über Jahrzehnte eine best immende Rolle im Integrationprozess innegehabt. Insbesondere hat er wesentlich zum Ausbau der Gemeinschaf t als „Rechtsgemeinschaft" beigetragen.

aa) Das Rollengeflecht des EuGH

Trotz der grundsätzlichen Vergleichbarkeit der Funktionen der Gerichtsbar-keit in staatlichen Ordnungen und in der Europäischen Union ist die Rolle des EuGH jedoch auch von vielen Besonderheiten gekennzeichnet. Diese ergeben sich insbesondere aus der besonderen Fragilität des föderalen Gleichgewichts in der Europäischen Union, das stets besonders im Blickfeld des Gerichtshofs steht. Der Gerichtshof muss hier die Rolle eines Schiedsrichters zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten einnehmen. Dieser Funktion kommt nach wie vor eine hohe Bedeutung für die Funktionsfähigkeit des föderalen Gefüges der Europäischen Union zu. Das Erfordernis föderaler Unparteilichkeit kann al-lerdings auch in Widerspruch zur Rolle des EuGH bei der Fortentwicklung des Gemeinschaftsrechts treten.

Eine weitere wesentliche Aufgabe des Gerichtshofs liegt in der Sicherung der Einheit des Gemeinschaftsrechts. Auf diesem Gebiet hat der EuGH durch seine Rechtsprechung die Entstehung eines hoch effizienten Systems zur Sicherung

!,sl Aus der uferlosen Lit. zum EuGH: J. Schwarze, Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, 1983; G.G. Saner, Der Europäische Gerichts-hof als Förderer und Hüter der Integration. 1988; O. Dörr/ U. Mager, Rechtswahrung und Rechtsschutz nach Amsterdam - Zu den neuen Zuständigkeiten des EuGH, in: AöR 125 (2000). S. 386 ff.; P. Häherle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 478 ff.; \V. Graf Vitzthum, Gemeinschaftsgericht und Verfassungsgericht - rechtsvergleichendc Aspekte, in: JZ 1998. S. 161 ff. vgl. auch den Sammelband von J. Schwarze (Hrsg.), Verfas-sungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit im Zeichen Europas. 1998; P. Pernthaler. Die Herrschaft der Richter im Recht ohne Staat. Ursprung und Legitimation der rechtsgestal-tenden Funktionen des EuGH, in: Juristische Blätter 2000. S. 691 ff.; A. Wolf-Niedermaier, Der Europäische Gerichtshof zwischen Recht und Politik. 1997; G.Hirsch. Der EuGH im Spannungsfeld zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, in: NJW 2000. S. 1817 ff.; M.P. Maduro, We the Court. The European Court of Justice and the European economic Constitution. 1998.

304 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

der einheitlichen Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts gefördert. Gerade dieses System ist allerdings stets in seinen Funktionsvoraussetzungen durch die gleichzeitigen Prozesse von Vertiefung und Erweiterung gefährdet. Durch etwaige (weitere) Reformen darf jedoch der Grundsatz der einheitlichen Anwendung und Auslegung des Gemeinschaftsrechts im gesamten Vertragsgebiet nicht gefährdet werden.

Dem EuGH obliegt zudem die Wahrung des institutionellen Gleichgewichts in der Europäischen Union. Das institutionelle Gleichgewicht ist mit dem Prozess der Demokratisierung der Union und der damit verbundenen Bedeutungszunahme des Europäischen Parlaments noch komplexer geworden. Der EuGH hat auf diesen Wandel mit seiner Rechtsprechung sensibel reagiert. Es ist zu erwarten, dass die Wahrung der institutionellen Balance als Aufgabe des Gerichtshofs in Zukunf t noch an Bedeutung gewinnen wird. Dem Gerichtshof ist der Schutz der Rechte des Einzelnen gegenüber den Organen der Gemeinschaf t anvertraut. Diese Aufgabe wird mit der zunehmenden Vertiefung der Integration und ihrem Vordringen in grundrechtsrelevante Bereiche noch an Bedeutung gewinnen. Die Ausarbeitung eines eigenständigen Grundrechtskatalogs könnte auch eine Stärkung des EuGH bedeuten. Fraglich ist allerdings, ob auch die verfahrensrechtlichen Möglichkeiten für Individualrechtssschutz ausreichend sind. Dies ist insbesondere außerhalb des Anwendungsbereichs der Gemeinschaf ts Verträge problematisch. Lange Zeit wurde die Förderung des Integrationsprozesses als eine wesentliche vom EuGH wahrgenommene Funktion angesehen. Es ist jedoch durchaus fraglich, ob der Gerichtshof heute noch vorrangig als ..Motor der Integration" angesehen werden kann. Zwar gehört die Fortentwicklung der Rechtsordnung seit jeher zur Aufgabe der Rechtsprechung in gewaltenteiligen Systemen. Diese Aufgabe steht jedoch unter dem Vorbehalt der Wahrung der Verantwortungsspielräume der anderen Gewalten. Mit der zunehmenden Demokratisierung und Politisierung des Eu-ropäischen Integrationsprozesses haben sich hier auch die Spielräume für den Gerichtshof verengt. Vom Motor der Integration wird der EuGH vorrangig zum Hüter der Rechtsgemeinschaft.

Einige Verfassungsgerichte in Mitgliedstaaten der Europäischen Union könn-ten bereits für sich in Anspruch nehmen, „Europäische Verfassungsgerichte" zu sein - den Vertragszielen und dem großen Ziel einer tatsächlich europäischen Gemeinschaf t verpflichtet und damit gelegentlich einem europäischen Verfas-sungsrecht näher als vielleicht der EuGH selbst erscheint.

Nun geht der Aufgabenbereich des EuGH über den allgemeinen Bereich der Verfassungsgerichtsbarkeit hinaus, indem er - wie erwähnt - verwaltungsgericht-liche Elemente, aber auch zivilrechtliche und zivilprozessuale Zuständigkei ten 8"

852 Zivilprozessualer Art sind die Zuständigkeiten des EuGH nach dem Europäischen Gerichtsstands- und Vollstreckungsübereinkommen in Zivil- und Handelssachen (EuGVÜ) von 1968. Die unterschiedlichen Aufgabenbereiche werden ausführlich von T. Oppermann, Europarecht, 2. Aufl 1999. Rdnrn. 709 ff.. 372 ff. m. w. N. geschildert.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 305

auf sich vereint . M a n c h e sp rechen angesichts d ieser Mul t i funk t iona l i t ä t bere i ts vom E u G H als „ S u p r e m e C o u r t " Europas 8 8 3 . Frei l ich w u r d e d ieser Begr i f f im europä i schen Z u s a m m e n h a n g berei ts sehr f r ü h geprägt : W. Hallstein hat 1970 im Rückbl ick auf d i e G r u n d l e g u n g des E u G H s s 4 i l lustriert:

..Als wir den Europäischen Gerichtshof schufen, schwebte uns ein ehrgeiziger Gedanke vor: die Verfassungsstruktur der Gemeinschaft mit einem obersten Gericht zu krönen, das im vollen Sinn des Wortes Verfassungsorgan war. einem Gericht wie der amerikanische Supreme Court in seiner glänzenden Zeit unter dem Chief Justice John Marshall, unter dessen Führung die urkundlich kaum skizzierte Verfassung der Vereinigten Staaten in der Gerichtspraxis Inhalt und Festigkeit gewann.""5

Lässt s ich Hallsteins Ehrgeiz in heut iger Be t rach tung nach ar is tote l ischer Un-terscheidung als u n m ä ß i g oder maßvol l und ve rnünf t ig e ino rdnen? G a b oder gibt e s ta tsächl ich überg re i fende En twick lungs t endenzen des E u G H z u m „ S u p r e m e C o u r t " Europas oder verlässt de r E u G H berei ts abget re tene P fade hin zu e inem „Verfassungsger ich t e igener N a t u r " ? A u f h e l l u n g könnte ein aktuel ler Vergleich mit genann tem U S - a m e r i k a n i s c h e n S u p r e m e Cour t b r ingen , insbesondere und gerade im Hinbl ick auf e ine ver fassungsger ich t l i che M e t h o d i k d e s E u G H . Die Frages te l lung, we lche E l emen te e iner eu ropä i schen Ver fassungsger ich t sbarke i t überhaupt innewohnen (müss ten) und worauf d iese weniger theore t i sch -dogma-tisch als institutionell be ruhen (soll ten), war bereits im unterschiedl ichen Kontext Gegens tand m a n c h e r r ech t swissenschaf t l i chen Untersuchung 8 " 6 . J edoch sind im gemeinschaf t s rech t l i chen Z u s a m m e n h a n g b i s lang k a u m Ansä t ze erkennbar , in-

883 So etwa T. Oppermann (1999). Rdnr. 382; II. Rösler, Zur Zukunft des Gerichtssys-tems der EU. in: ZRP 2000. S . 5 2 f f „ 56; U.Everling, Zur Funktion des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften als Verwaltungsgericht, in: B. Bender (Hrsg.), Rechts-staat zwischen Sozialgestaltung und Rechtsschutz, Festschrift für Konrad Redeker. 1993. S. 293 ff., 294. nennt den EuGH „Universalgericht".

884 Von 1952-1957 war der EuGH zunächst Gerichtshof der EGKS. seit 1958 ist er laut Art. 3 f. des Abkommens über gemeinsame Organe für die Europäischen Gemeinschaf-ten vom 25 .3 .1957 i.V.m. Art. 220 ff. EGV. 136 ff. EAGV. 31 ff. EGKSV gemeinsamer Gerichtshof der drei Gemeinschaften.

885 W. Hallstein. Die Europäische Gemeinschaft, 5. Aufl. 1979, S. 110. 886 Siehe hierzu J. Schwarze, Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und

Rechtsschutzinstanz. Einführung und Problemaufriß, in: ders. (Hrsg.), Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz. 1983. S. 20 f.; J. Coppel/A. O'Neill. The European Court of Justice: Taking Rights Seriously?, in: 29CMLRev. (1992), S. 669 ff.; F. Jacobs. Is the Court of Justice of the European Communities a Constitutional Court?, in: D. Curtin/D. O'Keeffe (eds.), Constitutional Adjucation in European Commu-nity and National Law, Dublin 1992; J. H. H. Weiler/N. Lockhart, „Taking Rights Seriously" Seriously: The European Court and its Fundamental Rights Jurisprudence, in: 32 CMLRev. (1995). S. 51 ff. 59 ff.; J. Rinze. The Role of the European Court of Justice as Federal Consti-tutional Court, in: Eur. Public Law 1999. S. 426 ff.: J. Schwarze, The Procedural Guarantees in the Recent Case-law of the European Court of Justice, in: D. Curtin/T. Heukels (eds.), Institutional Dynamics of European Integration. Essays in Honour of Henry G. Schermers. Vol. II. Dordrecht 1994. S.487 ff.

306 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

wieweit gerade die amerikanische Verfassungstheorie im Rahmen struktureller Gemeinsamkeiten und trotz bestehender Unterschiede Anhaltspunkte für ein sta-biles Modell europäischer Verfassungsgerichtsbarkeit bieten könnte oder bereits geboten hat.

Die amerikanische Fasson der Verfassungsgerichtsbarkeit kann einem frucht-baren Rechtsvergleich dienen, soweit sich die Erfahrungen einer konstruktiven Rezeption zuführen lassen. Angesichts des Vorbildcharakters der amerikanischen Verfassung für eine Vielzahl europäischer Verfassungen liegt für die Europäische Union neben einem Vergleich des jeweiligen Verfassungsverständnisses eben auch eine Gegenüberstellung der höchsten Gerichte nahe.887

Eine Gegenüberstellung beider Gerichtshöfe sollte aber den oben angeführten Grundgedanken der Verflechtung von „Konservative", im Sinne des lateinischen conservare, und „Moderne" zum Inhalt und zur Leitlinie haben. Verfassungs-gerichte können über die allgemeinen, offensichtlichen Funktionen hinaus zwei Bestimmungen erfahren, deren Existenz unbestritten, deren Wahrnehmbarkeit in der Öffentlichkeit hingegen begrenzt ist: die Verknüpfung des Schöpferischen mit dem Element des Bewahrens, nur vordergründig ein Paradoxon, tatsächlich aber verschmolzen durch das belastungsfähige Band der inneren Bedingtheit. Auch hier treffen sich Konservative und Moderne. Eine diesbezügliche Betrachtung der Methodik hat folglich den Blickwinkel methodischer Instrumente einzubeziehen, die diesen gedanklichen „Treffpunkt" mit Leben erfüllen. Hallstein selbst deutet mit besagtem Zitat bereits Sockel und Artefakt im Gesamtkunstwerk gelungener Verfassungsgerichtsbarkeit an: Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung. Die erhaltenden und innovativen Komponenten höchstrichterlichen Handelns fin-den gerade hierin ihren Niederschlag. Die zunehmend energischer vorgebrachte Feststellung, der EuGH sei (auch) ein europäisches Verfassungsgericht, kann eben bereits mittels einer Analyse seiner verfassungsgerichtlichen Methodik bekräftigt werden.

Im Übrigen ergeben sich aus dem Verfassungsvertrag unmittelbar kaum Ver-änderungen für die Rolle des EuGH als (einem der) Hüter der europäischen Verfassung. s s s Dies gilt auch für das von der Debatte um eine Grundrechtsbe-

s s 7 Mit Hilfe „transatlantischer Rechtsvergleichung" könnte der Versuch unternommen werden, methodische Ansatzpunkte für eine „europäische" Theorie der Verfassungsge-richtsbarkeit erkennen zu lassen, wobei neben jeweils originären Merkmalen auch die Übertragbarkeit gewisser traditioneller theoretischer, dogmatischer und organisatorischer Grundlagen der Verfassungsgerichtsbarkeit auf die europäische Wirklichkeit zu untersuchen w äre. Basierend auf der theoretischen Diskussion ließe sich zudem die etwaige Möglichkeit zur Adaption zukunftsfähiger institutioneller Charakteristika analysieren. Der EuGH selbst hat 1999 ein Reflexionspapier veröffentlicht (www.curia.eu.int/de/pres/persp.htm), das die Forderung nach institutionellen Reformen zum Inhalt hat. Dazu G. Hirsch. Dezentralisie-rung des Gerichtssystems der Europäischen Union?, in: Z R P 2000. S. 57 ff., H. Rösler (2000). S. 53 ff.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 307

schwerde übrig geb l iebene M e h r an Indiv idual rechtsschutz in Ar t . I II-365 VerfV. Posi t iv d ü r f t e n sich d ie A u f h e b u n g der Säu lens t ruk tu r und die Ang le i chung der Rech t s fo rmen auswirken , die jus t i z f re i e R ä u m e insgesamt verr ingern werden.

Of fen ist indessen, wie Veränderungen im insti tutionellen G e f ü g e , d ie die Rolle de r Kommiss ion schwächen , auf den E u G H rückwirken . Die Versch iebungen im inst i tut ionel len G e f ü g e sind in ihren Folgen derzei t noch nicht prognost iz ierbar . Dies hängt nicht nur dami t z u s a m m e n , dass die En t sche idungen de r Reg ie rungs -konfe renz über das inst i tut ionel le Sys t em in ihren Folgen nicht o h n e wei teres überschaubar sind.

Die europäische wie die amer ikan i sche Ver fassungs lehre beruf t sich gemeinh in auf Pr inzipien innerha lb me thod i sche r und dogmat i s che r Un te r suchungen , seien es Verfassungspr inz ip ien , Pr inzipien der Ver fassungs in te rp re ta t ion" 9 oder mögl i -cherweise e inmal solche der Verfassungsger ichtsbarkei t . Pr inzipien d ienen dabei de r U m m a n t e l u n g e ines Gedankengerüs tes , zuwei len auch dessen Statik.

Den genannten Prob lemkre i sen liegt dabei e ine g e m e i n s a m e Frageste l lung zu-g runde , die w i e d e r u m spiegelbi ldl ich m o d e r n e und konserva t ive Ansa t zpunk te zu ref lekt ieren we iß : W i e wirkt s ich der En twick lungsgrad e iner Ver fassung auf das (Selbs t - )Vers tändnis von Verfassungsger ichtsbarkei t aus? Höchstr ichter l iches

*** Ausführlich etwa F. C. Mayen Wer soll Hüter der Europäischen Verfassung sein?, in: AöR 129 ( 2004). S. 411 ff. In diesem Kontext interessant: die dem Richteramt angemessene Zurückhaltung schloß manches deutliche Wort in den Arbeiten etwa von G.C. Rodriguez Iglesias zur Rolle und zum Selbstverständnis des Gerichtshofes dennoch nicht aus. So schrieb er in einem Artikel über den Gerichtshof als Verfassungsgericht (vgl. ders.. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften als Verfassungsgericht. 1992): ..Die Rol-le des Gerichtshofes als sogenannter .Motor der Integration' soll nicht seiner Rolle als .Hüter der Gemeinschaftsverfassung* gegenüber gestellt werden. Es handelt sich vielmehr um einen Bestandteil seiner Rolle als Hüter der Gemeinschaftsverfassung". An anderer Stelle kritisierte er in unmissverständlicher Weise das dem Maastricht-Vertrag beigefügte sogenannte ..Barber-Protokoll". das der noch zu entscheidenden Auslegung eines Urteils des Gerichtshofes vorzugreifen versuchte, als Eingriff seitens des Verfassungsgebers in die auch in der Gemeinschaftsordnung herrschende Gewaltenteilung. Dass die mit aller gebote-nen Zurückhaltung eines amtierenden Richters geäußerte Auffassung auch Wirkung haben kann, mag man aufgrund der im Amsterdamer Vertrag vorgenommenen Änderung des Art. L d e s Unionsvertrages vermuten: In dem eben genannten Beitrag hatte Rodriguez Iglesias seine Verwunderung darüber ausgedrückt, dass Art. F des Maastrichter Vertrages - der Grundrechtsschutzartikel - zwar eine vertragliche und damit verfassungsrechtliche Bestä-tigung der Rechtsprechung des Gerichtshofes darstellt, Art. L des Maastrichter Vertrages dem Gerichtshof die Rechtsprechungsbefugnis über Art. F aber vorenthielt. Die jetzige Änderung von Art. L im Vertrag von Amsterdam übertrug dem EuGH ziemlich genau jene Jurisdiktion hinsichtlich Art. F. die Rodriguez Iglesias damals als notwendig und systemgerecht beschrieben hatte.

889 P. Hiiberle, Europäische Verfassungslehre, 4. Aufl. 2006, S. 258 ff. Siehe auch K. Hesse. Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. 20. Auflage 1995 (Neudr. 1999). S. 19 ff.: R. Dreierl F. Schwegmann (Hrsg.). Probleme der Verfassungs-interpretation. 1976.

308 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Auftreten kann durchaus unterschiedliche Ausprägungen zur Folge haben Je nach-dem ob es sich aktiv an einer Entwicklung oder einer Fort-Entwicklung beteiligt. Der US-Supreme Court hat mit zahlreichen Entscheidungen die Möglichkeit vor Augen geführt . Schaffenskraft mit Erhaltungswillen in Einklang gebracht zu ha-ben.89" Im europäischen Kontext ist diesbezüglich auch dem Entwicklungsstand einer europäischen Verfassung Rechnung zu tragen. Fernerhin hat in diese Überle-gungen der Gedanke einzufließen, ob Verfassungsgerichtsbarkeit selbst gänzlich ohne Verfassung im hergebrachten Sinne existieren könnte, was angesichts der Ver-tragsstruktur der Europäischen Union bzw. Gemeinschaften (aber auch aufgrund eines „Ensembles von Teilverfassungen*4 (P. Häberle)]) nahe liegen könnte.

Verfassungsgerichtsbarkeit in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Europa. Während allein eine weitgehend unabhängige Rechtsprechung der obers-ten Gerichte bereits tragendes Fundament abendländischer und amerikanischer Rechtskultur ist, befindet sich die Europäische Union also noch scheinbar im verfassungsgerichtlichen Konsolidierungsprozess. Wenigstens unter dem Blick-winkel eines gewohnten, einzelstaatlich geprägten Verständnisses von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit. Legt aber nicht gerade die Einzigartigkeit gemei-neuropäischer Rechts- und Verfassungskultur wie auch ihre praktische Umsetzung eine differenzierte, optimistischere Betrachtung nahe?

bb) Der EuGH als „Motor der europäischen Integration"?

Die Rechtsprechung des EuGH erwies sich letztlich als „more powerful than intended".891 Aufgrund seiner „expansiven" Rolle geriet er zunehmend unter den Zwang der Rechtfertigung. Für viele (gleichwohl nicht unumstritten) ist der EuGH ein „Motor der europäischen Integration" (U. Everling), der antreibt, nicht aber seine Richtung bestimmt.892 Wird vor diesem Hintergrund die „ever closer union"

890 Dieser Zusammenhang wird unten in B.II, und V. illustriert. 891 Vgl. schon A. W. Green. Political Integration by Jurisprudence. The Work of the Court

of Justice of the European Communities in European Political Integration. 1969. Kap. VII: ..The court builds a system of Community law.'*. Zum Satz ..More Pow erful Than Intended" vgl. den gleichlautenden Aufsatz in der Financial Times vom 22. August 1974. Siehe auch K.J.Alter Explaining National Court Acceptance of European Court Jurisprudence. A Critical Evaluation of Theories of Legal Integration, in: A.-M. Slaughter/A. Stone-Sweet /J .H.H. Weiler (Hrsg.). The European Court and National Courts. Doctrine and Jurisprudence. Legal Change in its Social Context, 1998. S. 227 ff.. 227: W. Dänzer-Vanotti. Der Europäische Gerichtshof zwischen Rechtsprechung und Rechtsetzung, in: O. Due/ M.Lut ter /J . Schwarze (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Band 1, 1995, S.205ff ; K. Lenaerls, Some Thoughts about the Interaction between Judges and Politicians in the European Community, in: Yearbook of European Law 12 (1992), S. 1 ff.

892 Vgl. J.H.H. Weiler Journey to an Unknown Destination. A Retrospective and Prospective of the European Court of Justice in the Arena of Political Integration, in: Journal of Common Market Studies 31 (1993), S .417f f . Zum Begriff ..Motor . . . " U. Everling,

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 309

als beg rüßenswer t erachte t , fäll t die Beur te i lung de r r ichter l ichen Tät igkei t ent -sprechend güns t ig aus. In d i e s e m Fall gilt d ie n o r m s c h ö p f e n d e Rech t sp rechung nicht ledigl ich a ls Usurpa t ion pol i t ischer Vorrechte , sonde rn als „besonderes Verdienst" 8 9 3 und als Ausgangspunk t f ü r e inen „no rma t ive sup rana t iona l i sm" 894

Die Kri t ik am E u G H nahm in den neunz iger Jahren zu.8 9 5 Die f r anzös i sche Na-t iona lve r sammlung bek lag te in e iner Erk lä rung wor t re ich die ausgedehn te K o m -p e t e n z a n m a ß u n g des EuGH. 8 9 6 Nahezu zei tgleich legte d ie br i t i sche Regie rung ihr M e m o r a n d u m zur sogenann ten „kor r ig ie renden Kod i f ika t ion" eu ropä i schen

Die Zukunft der europäischen Gerichtsbarkeit in einer erweiterten Europäischen Union, in: Europarecht 32 (1997). S. 398 ff., 398 f. Zur Bedeutung des EuGH als Motor der Integration C.-D. Ehlermann, The European Communities, its Law and Lawyers. in: Common Market Law Review 29 (1992). S. 213 ff., 218; G.F.Mancini. The Making of a Constitution for Europe. in: Common Market Law Review 26 (1989), S. 595 ff.; M.LVolcansek. The European Court of Justice. Supranational Policy-Making. in: West-European Politics 15 (1992). S. 109 ff.. 109.

893 So K. Bahlmann, Europäische Grundrechtsperspektiven, in: B. Börner u. a. (Hrsg.), Einigkeit und Recht und Freiheit. Festschrift für Karl Carstens zum 70. Geburtstag. 1984. S. 17 ff., 19.

894 J.H.H. Weiler. The Community System. The Dual Character of Supranationalism. in: Yearbook of European Law (1981). S. 267 ff.; siehe auch ders., The Transfomation of Europe. in: Yale Law Journal 100 (1991), S. 2403 ff. Demgegenüber hat H.Rasmussen dem EuGH vorgeworfen, ohne demokratisches Mandat weit außerhalb der vertraglichen Ermächtigung zu agieren und dabei die erkennbaren Absichten der Mitgliedstaaten igno-riert. ja, deren Kompetenzen an sich gerissen zu haben, vgl. H. Rasmussen, On Law and Policy in the European Court of Justice, 1986. Rasmussens Kritik ist auf fruchtbaren Boden gefallen. Zeitgleich unternahmen die Mitgliedstaaten mit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte den Versuch, verlorenes Terrain gegenüber dem EuGH zurückzugewinnen.

895 Aus der Lit. K.J.Alter. The European Court 's Political Power. The Emergence of an Authoritative International Court in the European Union, in: West European Politics 19 (1996), S. 458 ff., 462; dies.. Who Are the ..Masters of the Treaty"? European Go-vernments and the European Court of Justice, in: International Organization 52 (1998), S. 121 ff., 132 f.; J. Auweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften. 1997. S. 1; U.Everling, Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften nach dem Maastricht-Urteil, in: A. Randclzhofer/R. Scholz/ D. Wilke (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz. 1995. S. 57 ff.. 73 f.; G. Roller. Die Mitwirkung der deutschen Länder und der belgischen Regionen an EG-Entschei-dungen. Eine rechtsvergleichende Untersuchung am Beispiel der Umweltpolitik, in: AöR 123 (1998), S. 21 ff., 24; H.H. Rupp, Ausschaltung des Bundesverfassungsgerichts durch den Amsterdamer Vertrag?, in: JuristenZeitung 53 (1998). S. 213 ff.. 215: E. Schultz. Die Legitimitätsprobleme des Europäischen Gerichtshofes und die Auswirkungen auf seine institutionelle Autonomie, in: S. Pfahl/E. Schultz/C. Matthes/K. Seil (Hrsg.), Institutio-nelle Herausforderungen im Neuen Europa. Legitimität, Wirkung und Anpassung, 1998. S. 57 ff.; J.H.H. Weiler. The Transfomation of Europe. in: Yale Law Journal 100 (1991), S. 2403 ff.; B. de Witte. Community Law and National Constitutional Values. in: Legal Issues of European Integration (1991/92), S. Iff. 3.

896 Assemblee Nationale, Quelles reformes pour 1'Europe de demain?, Rapport d'information no 1939, Paris 1996. S. 24.

310 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

R e c h t s vor . D a s V e r e i n i g t e K ö n i g r e i c h s t r e b t e a n . U r t e i l e d e s E u G H d u r c h d i e h e i m i s c h e G e s e t z g e b u n g z u k o r r i g i e r e n , w e n n sie z u w e i t r e i c h e n d e r sch ienen .*" 7

D e r E u G H z o g d a s M i s s t r a u e n d e r M i t g l i e d s t a a t e n vor a l l e m d e s w e g e n au f s i ch , we i l e r n i c h t a l s H ü t e r d e r n a c h d e m P r i n z i p d e r b e g r e n z t e n E i n z e l e r m ä c h t i g u n g k o n s t r u i e r t e n K o m p e t e n z o r d n u n g d e r G e m e i n s c h a f t e r s c h i e n , n ich t a ls . .neu t ra le r R i c h t e r " , s o n d e r n a l s d a s „ I n t e g r a t i o n s o r g a n d e r E u r o p ä i s c h e n Un ion" . 8 9 * Die Z u s i c h e r u n g d e s G e r i c h t s h o f s , e r se i s e in e i g e n e r W ä c h t e r 8 9 9 , f a n d i n d e r R e c h t -s p r e c h u n g k e i n e B e s t ä t i g u n g . S e l b s t J. H. H. Weiler, b e i l e i b e ke in K r i t i k e r d e r e u r o p ä i s c h e n I n t e g r a t i o n ( w e n n g l e i c h auch se l t en d a s F lo re t t d i p l o m a t i s c h e r D i f -f e r e n z i e r u n g f ü h r e n d ) , m e r k t e k r i t i s ch an : „ D e r G e r i c h t s h o f n i m m t s e i n e Ro l l e a l s S c h u t z m a n n in E u r o p a n ich t wahr . E r sagt n ich t ne in z u r U n i o n , w e n n sie ih re K o m p e t e n z e n ü b e r s c h r e i t e t . " 9 0 0

N i c h t zu le tz t d u r c h d i e s e Kr i t ik i n s e i n e r S e l b s t g e w i s s h e i t e r s c h ü t t e r t , u r t e i l t e

d e r E u G H a m 5 . O k t o b e r 2 0 0 0 e r s t m a l s , d a s s d i e G e m e i n s c h a f t j e n s e i t s ih re r

E r m ä c h t i g u n g ag i e r t habe . 9 0 1

897 Memorandum des Vereinigten Königreichs über den Europäischen Gerichtshof vom 23. Juli 1996. C O N F 3883 /96 . Anlage. Vgl. auch W. Hummer/W. Obwexer, Vom „Geset-zesstaat zum Richterstaat" und wieder retour? Reflexionen über das britische Memorandum über der EuGH vom 23. 7. 1996 zur Frage der ..korrigierenden Kodifikation" von Richter-recht des EuGH, in: E Z W (1997) 10, S. 295 ff.. 301 ff.

898 So etwa W. Schäuble, damal. Vorsitzender der CDU/CSU-Bundes t ags f r ak t ion , am 3. Dezember 1999 in der Bundestagsdebatte zur Regierungserklärung zum EU-Gipfel in Helsinki (vgl. das Amtl. Protokoll des Tages).

899 Dazu etwa die Editorial Comments. Qiiis Custodiet the European Court of Justice?, in: C o m m o n Market Law Review 30 (1993), S. 899 ff.

9 0 0 Interview in DIE Z E I T vom 22. Oktober 1998. ..In der Unterwelt der Ausschüsse", S . 9 .

901 Vgl. Rs. C -378 /98 Deutschland v. Europäisches Parlament (2000). Urteil vom 5. Ok-tober 2000 über die RL 9 8 / 4 3 / E G (sog. Tabakwerbeverbot). Besondere Aufmerksamkei t verdient die unter Rdnr. 83 ausgeführte Begründung: ..Diesen Artikel Ii. e. Art. 100a EGV] dahin auszulegen, dass er dem Gemeinschaftsgesetzgeber eine allgemeine Kompetenz zur Regelung des Binnenmarktes gewähre, widerspräche nicht nur dem Wortlaut der genann-ten Best immungen, sondern wäre auch unvereinbar mit dem in Artikel 3b EG-Vertrag niedergelegten Grundsatz , dass die Befugnisse der Gemeinschaf t auf Einzelermächtigun-gen beruhen." Das Gericht bezieht sich auf Art. 3b EG-Vertrag, um mit der begrenzten Einzelermächtigung die Nichtzuständigkeit der Gemeinschaf t festzustellen, als sei diese erst mit diesem Artikel normiert worden. Dabei war diese seit jeher das vorwaltende Organisationsprinzip der Gemeinschaf t , vgl. auch BVerfGE 89. 155 (Maastricht-Entschei-dung). Das war aber allem Anschein nach im Lauf der Jahre angesichts der Spruchpraxis des EuGH unkenntlich geworden. Diese hatte in den Augen eines Beobachters nämlich einen Zustand erreicht, dass „{spätes tens mit Maastricht [ . . . ] die der Kompetenzstruktur der Gemeinschaf t schon bislang nicht gerecht werdende Postulierung eines ,Prinzips der (begrenzten) Einzelermächt igung ' der Vergangenheit angehören" sollte (vgl. T. C. W. Bey-er. Die Ermächt igung der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaf ten , in: Der Staat 35 (1996). S. 189 ff.), obwohl diese Formel erst gerade in den Maastricht Vertrag aufge-

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 311

Insgesamt bediente sich der EuGH zur Funktionssicherung der Gemeinschaft einer Rechtsprechung, die homogenisierend auf die mitgliedstaatlichen Rechts-ordnungen wirkte. Dabei ließ er Nützlichkeits- den Vorrang vor Legitimitätser-wägungen. Nach Einschätzung des früheren Richters am EuGH, G. Hirsch, hatte der EuGH in der Zwischenzeit „auf berechtigte Kritik an einzelnen Urteilen rea-giert"*12 und eine kooperativere Haltung eingenommen. Dass der Gleichklang zwischen den Organen der Europäischen Union wegen des Mangels an harmoni-sierten Regelungen verloren gehen könnte, erachtet der EuGH zunehmend als ein politisches Problem, auf das er hinweist, das er aber nicht mehr korrigiert.

cc) Europäische Rechtsprechung als Spiegelbild einer offenen Gesellschaft

Die Europäische Union hat zwar mit dem EuGH eine eigene Jurisdiktion, in den jeder Mitgliedstaat einen Richter entsendet. Da jedoch Europarecht von den nationalen Behörden und Gerichten unmittelbar anzuwenden ist und im Kollisi-onsfall grundsätzlich Vorrang vor nationalem Recht hat. ist jeder nationale Richter auch Gemeinschaftsrichter. Bedenkt man die Anzahl der nationalen Gesetze, die inzwischen unmittelbar oder mittelbar auf Europarecht beruhen, wird deutlich, dass nationale Richter in großem Umfang Europarecht auslegen und anwenden, häufig indirekt und ohne zu wissen, dass etwa eine nationale Regelung, die sie anwenden, lediglich eine europarechtliche Richtlinie umsetzt. Der Richter ist also zwar nach wie vor nationaler Hoheitsträger, er ist jedoch nicht mehr nur dem nationalen Recht verpflichtet, sondern auch der autonomen Rechtsordnung der Europäischen Union.

Die Zeiten, in denen die Rechtsprechung als Spiegelbild einer geschlossenen, national homogenen Gesellschaft diskutiert werden kann, sind mithin vergangen.

In einem entsprechenden Entwicklungsprozess hat sich auch die Rolle der Rich-ter in Europa gewandelt: die nationale Gerichtsbarkeit wurde „europäisiert" und in ein Kooperationsverhältnis zum EuGH gestellt. Sollte die Rechtsprechung ein Spiegelbild der Gesellschaft sein - und sie ist es zumindest teilweise903 -, dann

nommen worden war. Es war also nicht allgemein abzusehen, dass sich ein Wandel in der Auffassung des EuGH abzeichnete, dass das Prinzip durch den Maastricht-Vertrag gestärkt wurde (vgl. auch BVerfGE 89, 155 (181)). Denn der EuGH könnte mit seiner Begründung deutlich machen wollen, dass er die Vertragsänderung von Maastricht zum Anlass nimmt, dem impliziten Wunsch der Politik zu entsprechen und das Subsidiaritäts-prinzip zum neuen Maßstab seiner Rechtsprechung zu machen, um somit vom „Prinzip der Funktionssicherung" abzurücken, das die Rechtsprechung in der Vergangenheit dominiert hatte.

902 G. Hirsch. Die Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei der europäischen Integration, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart . NF 49 (2001), S. 79 ff.. 88.

9 0 3 Zur Frage, ob die Rechtsprechung Spiegel der Gesellschaft ist oder nicht: Sieht man als Gesellschaft den Souverän, der im Sinne des berühmten Hauptwerks von J.J. Rousseau

312 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

kann sich in ihr nicht mehr nur eine nationale Gesellschaft spiegeln, sondern eine vielgestaltige, vielsprachige mit unterschiedlichen Interessen, historischen Erfah-rungen und kulturellen Wurzeln. Der Spiegel hat zahlreiche Facetten bekommen, unterschiedliche Rahmen zumal. Er reflektiert Traditionen und Interessen aus vielen Ländern und Regionen zwischen Sizilien und dem Nordkap, zwischen den überseeischen Gebieten Frankreichs und Sofia.

e) Die Frage der Abhängigkeit zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassung

Die Entstehungsgeschichte der Verfassungsgerichtsbarkeit heutiger Prägung und der unmittelbare Gegenstand verfassungsgerichtlicher Auslegung legen den Schluss nahe. Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassung seien unauflöslich mit-einander verbunden. Bedarf es also eines „Mindestmaßes" an Verfassung, um überhaupt verfassungsgerichtlich tätig zu werden oder kann eine Verfassung auch erst durch eine verfassungsgerichtliche Tätigkeit an einem Text oder Rechtsgebil-de, das den Anforderungen an eine „Verfassung" noch nicht gerecht zu werden vermag, erwachsen? In anderen Worten: Gibt es Verfassungsgerichtsbarkeit ohne Verfassung oder ist letztere zwingende Voraussetzung für verfassungsgericht-liches Tätigwerden? Das amerikanische Beispiel steht zweifellos für den Aus-gangsfall: einer bestehenden Verfassung mit einer darin (erstmals) festgelegten Verfassungsgerichtsbarkeit. Im europäischen Kontext darf festgestellt werde, das ein „Verfassungsgericht" im weiteren Sinne (EuGH) zunächst „lediglich" einem „Ensemble von Teilverfassungen" (P. Häberle) „diente" und erst künftig einem Verfassungsvertrag unterworfen wäre. Zwangsläufige Parallelität zwischen Verfas-sungsgericht und Verfassung ist demzufolge nicht zu konstatieren, gleichwohl ein notwendiges Maß an gleichzeitig auftretenden „Kernelementen" einer Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit.

(1762) ..Der Gesel lschaftsvertrag" den Staat konstituiert, so ist das Gesetz Spiegel des volonte general. Die Richter haben den in Gesetze geronnenen Willen des obersten Souverän zu effektuieren und dem leblosen Buchstaben des Gesetzes Wirkung in der Fülle der Lebenssachverhalte zu geben. Dies führt nicht ohne Auslegung und Rechtsforlbildung zum Erfolg. In diesem Rahmen der Gesetzesinterpretation setzt der Richter Recht im materiellen Sinne und durchbricht damit in legitimer Weise die Gewaltenteilung. Die Auslegung und Fortbildung des Rechts ist der Bereich, in dem der Richter Navigationshilfe braucht. Dieser Leitstern kann nicht kurzschlüssig die „vox popul i" sein. Nicht Populismus ist Sache der Richter, sondern Realisierung der verfaßten Leitbilder der Gesellschaft , verfaßt etwa in . .Grundgesetzen", aber auch in ethischen Parametern. Nicht von ungefähr ist der Richter nicht nur an das Gesetz gebunden, sondern an Gesetz und Recht. Es ist die Idee des Rechts, die Ambition der Gerechtigkeit, die Gesetze legitimieren. In diesem Sinne hat die Rechtsprechung Spiegel der Gesellschaft zu sein, und zwar der Gesellschaft , wie sie sein soll, nicht unbedingt der Gesel lschaft , wie sie ist. vgl. im weiteren Sinne auch U. Haltern. Verfassungsgerichtsbarkei. Demokratie und Misstrauen. 1998.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 313

f) Vergleichende Aspekte der Verfassungsgerichtsbarkeit - Kongruenz der Aufgaben

D e r G e d a n k e e i n e r v e r g l e i c h e n d e n L e h r e v o n d e r V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t f a n d b i s l a n g n u r rech t z a g h a f t e A n n ä h e r u n g . 9 0 1

R e c h t s v e r g l e i c h e n d w i e r e c h t s g e s c h i c h t l i c h ist z w i s c h e n e i n e r f o r m e l l w i e in -s t i tu t ione l l e i g e n s t ä n d i g e n V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t , w i e s ie d a s B u n d e s v e r f a s -s u n g s g e r i c h t h e u t e da r s t e l l t , u n d e i n e r V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t z u u n t e r s c h e i -d e n . d i e i m R a h m e n d e r a l l g e m e i n e n b z w . s o n s t i g e n G e r i c h t s b a r k e i t e n a n g e s i e d e l t ist ( „ i m p l i z i t e V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t " ) . In l e tz te re r H ins i ch t ist b e i s p i e l s w e i s e d e r S u p r e m e C o u r t d e r U S A , a b e r a u c h e t w a d a s S c h w e i z e r i s c h e B u n d e s g e r i c h t z u n e n n e n . D i e d e u t s c h e R e c h t s e n t w i c k l u n g t e n d i e r t e d a g e g e n s c h o n f r ü h z u e i n e r a u c h f o r m e l l e i g e n s t ä n d i g e n V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t , d e r e n e r s t e W u r z e l n m a n s c h o n i n d e r R e c h t s p r e c h u n g e t w a d e s R e i c h s k a m m e r g e r i c h t s e n t d e c k e n k a n n . 9 0 5

I n e i n e r k o m p a r a t i v e n B e t r a c h t u n g l a s s e n s i ch a u c h u n t e r s c h i e d l i c h e A r c h e t y -p e n e t a b l i e r t e r V e r f a s s u n g s g e r i c h t s b a r k e i t u n d d e r e n E i n f i u s s au f d i e R e c h t s p r e -c h u n g u n d S t r u k t u r d e s E u G H fe s t s t e l l en . A u s g e p r ä g t ist d a b e i d e r W i d e r h a l l f r a n z ö s i s c h e r G e r i c h t s b a r k e i t .

904 Siehe aber P. Häberle. Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit , in: P. B a d u r a / H . Dreier (Hrsg.). Festschrift 50 Jahre Bundes-verfassungsgericht. 2001. S. 311 ff.. 312 ff.: H.J. Faller. Zur Entwicklung der nationalen Verfassungsgerichte in Europa, in: E u G R Z 1986. S . 4 2 ff.; A. Weber. Verfassungsgerichte in anderen Ländern, in: M. Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht. Ein Gericht im Schnittpunkt von Recht und Politik. 1995. S. 61 ff.; M. Fromont, La justice constitutionnelle dans le monde. 1996.

9 0 5 Vgl. etwa U. Scheuner. Die Überl ieferung der deutschen Staatsgerichtsbarkeit im 19. und 20. Jahrhundert , in: C. Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundge-setz. Festgabe aus Anlass des 25-jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 1, 1976. S. I ff. Entscheidende Weichen stellte die Paulskirchenverfassung von 1849. die dem damals vorgesehenen . .Reichsgericht" bereits formelle Verfassungsstreitigkeiten, wie den Organstreit, bundesstaatl iche Streitigkeiten und die Verfassungsbeschwerde zuwies. Im Deutschen Bund gab es nach 1815 verschiedene Ansätze für eine Staatsgerichtsbarkeit auf Länderebene. Das System der Reichsverfassung von 1871 kannte Vergleichbares dagegen nicht. Im Kaiserreich von 1871 wurde die Funktion der materiellen Verfassungsgerichts-barkeit vornehmlich beim Bundesrat verortet. Die Weimarer Verfassung von 1919 schuf dagegen erstmals auf Reichsebene einen Staatsgerichtshof, der eine echte gerichtliche Instanz namentlich für föderale Verfassungsstreitigkeiten darstellte. Ein komplettes Ver-fassungsgericht verkörperte der Weimarer Staatsgerichtshof dagegen noch nicht. Dieser Schritt gelang erst mit d e m BVerfG unter dem Grundgesetz von 1949. Hundert Jahre nach dem Reichsgericht im Sinne der Paulskirchenverfassung bekannte sich der deutsche Verfassungsgeber nunmehr zu einem kompletten Verfassungsgericht, das nicht nur für die Entscheidung organisationsrechtlicher Streitigkeiten (Staatsgerichtsbarkeit im engeren Sinne), sondern auch und namentlich fü r den verfassungsgerichtl ichen Rechtsschutz des Bürgers (Verfassungsbeschwerde) zuständig ist. Gerade deshalb ist das BVerfG verfassungs-historisch auch als Vollendung dessen anzusehen, was mit der Paulskirchenverfassung von 1849 in Deutschland erstmals, aber und damals noch erfolglos, ins Werk gesetzt wurde.

314 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Anders als das Bundesverfassungsgericht Deutschlands, das durch seine in-stitutionelle Verselbständigung gekennzeichnet ist, sind dem EuGH ähnlich wie dem US-Supreme Court Elemente der Verfassungsgerichtsbarkeit neben anderen Zuständigkeiten zugewiesen. Der EuGH und der Supreme Court der Vereinigten Staaten sind damit Beispiele für die in die Gerichtsbarkeit eingeordnete Verfas-sungsgerichtsbarkeit.91)6

Während in der kontinentaleuropäischen Wissenschaft Arbeiten über die Stel-lung der Verfassungsgerichtsbarkeit vielfach auf die Abgrenzung gegenüber dem parlamentarischen Körperschaften und den jeweiligen Regierungen beschränkt werden91" - eine Beobachtung, die sich hinsichtlich einer entsprechenden Einord-nung des EuGH überwiegend bestätigt - geht der amerikanische Verfassungsdis-kurs gänzlich andere Wege908, indem er nicht der Gefahr einer Überschätzung des Politischen ausgesetzt ist. Dies ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass der anglo-amerikanischen Verfassungstradition der Staat als Gegenstand, ja Zentrum gesellschaftstheoretischer Auseinandersetzung vorübergehend annähernd verloren gegangen war. Heute zahlt sich dieser Umstand insoweit aus. als in der amerikani-schen Verfassungswirklichkeit und Wahrnehmung derselben der Beitrag anderer sozialer Systeme sowie die Rolle des Individuums einen vergleichbar höheren Stellenwert einnehmen.909

Freilich: Mit gutem Grund sind Einwände gegen eine allzu freimütige Über-nahme von Erkenntnissen zur amerikanischen Verfassungsgerichtsbarkeit, der Verfassungsinterpretation denkbar. Handelt es sich doch augenscheinlich um zwei Systeme, deren Methoden sich zumindest auf den ersten Blick wesentlich vonein-

906 Siehe da /u auch R. Wahl. Elemente der Verfassungsstaatlichkeit, in: JuS 2001. S. 1041 ff., 1046.

907 Siehe etwa K. Stern. Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: B. Ziemske u .a . (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik - Festschrift für Martin Kriele, 1997. S. 411 ff.: Mit Bezug auf das Bundesverfassungsgericht C. Gusy, Parlamentarischer Gesetz-geber und Bundesverfassungsgericht. 1985: R. Häußler, Der Konflikt zwischen Bundesver-fassungsgericht und politischer Führung. 1994: dazu kritisch U.R. Haltern. Book Review of Richard Häußler. Der Konflikt zwischen Bundesverfassungsgericht und politischer Führung, in: 7 EJIL (1996), S. 137 f.

9 0 8 Siehe nur das richtungsweisende Werk von B. Ackennan, We The People 1: Founda-tions, 1991: vgl. auch P. W. Kahn. Legitimacy and History: Self-Government in American Constitutional Theory. 1992.

1X19 So auch U. Haltern. Verfassungsgerichtsbarkeit . Demokrat ie und Mißtrauen. 1997. S. 112 f.. der mit Verweis auf die Gedanken von H. Willke („Systemtheorie III: Steuerungs-theorie", 1995 sowie „Ironie des Staates - Grundlinien einer Staatstheorie polyzentrischer Gesellschaft" , 1992), den Grund der differierenden kontinentaleuropäischen Gesellschafts-theorie darin sieht, dass diese seit Machiavelli durch eine außerordentliche Staatszentriert-heit geprägt sei. worin der Politik eine herausgehobene Rolle zukomme, was schließlich zur Folge habe, dass es in dieser Tradition nicht leicht sei, die Rolle der Gesellschaft selbst zu erblicken und auch zu sehen, dass diese selbst Formvorstellungen entwickelt und realisiert habe.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 315

ander unterscheiden. Auf der einen Seite die amerikanische Methode, die in der Regel die induktive Vorgehensweise von Fall zu Fall hervorhebt. Dieser steht die kontinentaleuropäische Methode gegenüber, die bei der Interpretation von Normen eher von abstrakten Prinzipien ausgeht. Die vordergründigen Unterschiede sind jedoch de facto nicht so erheblich. H. Schiwek stellt mit Blick auf die nationalen Verfassungsordnungen hierzu richtig fest, „in beiden Fällen soll eine im einzelnen sehr allgemein gehaltene Verfassung für einen langen Zeitraum als Fundament der Rechtsordnung dienen und als grundlegend anerkannte Werte festlegen."910

Diese Einschätzung gilt etwa für den Europäischen Verfassungsvertrag angesichts seines Umfangs und der Detailtreue nur begrenzt, wobei der Anspruch der langen Gültigkeit durchaus gegeben ist.

Eine weitere Parallele ist hervorzuheben: Die Rolle des EuGH bei der Wei-terentwicklung des Gemeinschaftsrechts kommt in ihrer historischen Bedeutung derjenigen des Supreme Courts sehr nahe. Auch ist ein Erfahrungsaustausch zwi-schen EuGH und Supreme Court inzwischen zur guten Gewohnheit geworden und stellt eine wichtige Ergänzung des transatlantischen Dialogs dar.'" :

In einer kursorischen Aufzählung und in Ergänzung zu den obigen Feststel-lungen lassen sich auch bei den Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit auf beiden Seiten des Atlantiks (und auch auf EU-Ebene mit Ausnahme des „Volks-Bezuges") durchaus einige Parallelen erkennen. So bei der

- Wahrung der Integrität der Verfassung und der politischen Existenz des Volkes (C. Schmitt)

- Wahrung der Offenheit und Verfahrensgerechtigkeit des politischen Prozesses (J.H.Ely)

- Aufrechterhaltung des diskursiven Prozesses von demokratischer Selbstherr-schaft und Herrschaft des Gesetzes sowie in der

- Anerkennung der Personen als Freie und Gleiche und in der Währung der Bedingungen ihrer gesellschaftlichen Kommunikation (F. Michelman)

910 Vgl. H. Schiwek, Sozialmoral und Verfassungsrecht: dargestellt am Beispiel der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court und ihrer Analyse durch die amerika-nische Rcchtstheorie. 2000. S. 23.

411 Gelegentlich rekurriert der Supreme Court vergleichend auf gemeinsame anglo-amerikanische Rechtstraditionen, vgl. hierzu mit weiteren Nachweisen P. Häberle, Euro-päische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S . 4 7 4 Fn. 677: allgemeine rechtsvergleichende Hinweise, mit denen der Supreme Court außerordentlich zurückhaltend arbeitet, finden sich ebenda sowie bei M. Tushnet, The Possibilities of Comparative Constitutional Law, in: Yale Law Journal . 108 (1999). S. I225ff , 1230 ff.; siehe auch W.H. Rehnquist, Verfassungsge-richte - vergleichende Bemerkungen, in: P. Ki rchhof /D.P . Kommers (Hrsg.), Deutschland und sein Grundgesetz . 1993, S .454 . Kritisch gegenüber der . .Einbahnstraßenpraxis" des Supreme Courts M.A. Glendon, Rights Talk. The Impoverishment of Political Discourse. 1991.S . 151.

316 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

- Ermöglichung „deliberativer Politik" (J. Habermas?12

- Bezugnahme auf einen „Reparaturmechanismus einer deliberativen Verfas-sungspraxis" (O. Gerstenberg)91*

Gerichte als Hüter der Verfassung sind darüber hinaus Ausdruck sinnvoller Ar-beitsteilung unter den Organen eines Staates wie der Supranationalen Union. Wie bereits erwähnt darf Verfassungsgerichtsbarkeit dabei helfen. Verfassungsstabilität zu sichern''14. Sie soll aber auch unterschiedliche Wege zur Verfassungsentwick-lung915 ohne permanente Verfassungsänderung offenhalten.

Eine solche Verteilung der Funktionen folgt klaren Prinzipien, da sie dem Gewaltenteilungsprinzip als e inem organisatorischen Grundprinzip des modernen freiheitlich-demokratischen und rechtsstaatlichen Verfassungsstaates wie einer Supranationalen Union, die diesen Maximen verpflichtet ist, entspricht.916

Fragt man nach der Rechtfertigung für den verfassungsgerichtlich gepräg-ten Verfassungsstaat, so ist sie - nach weitgehend „transatlantischem Verständ-nis" - darin zu sehen, dass die Verfassung als oberste Norm die Ausübung aller („Über"-)Staatsgewalt bestimmt. Ist es aber eine Rechtsnorm, die Richtschnur staatlichen Handelns ist, so ist es nur konsequent, dass die Interpretation und Wahrung dieses Rechts in die Hand eines Organs der rechtsprechenden Gewalt gelegt wird, d. h. einer spezifisch für die Rechtskontrolle eingerichteten Institution und nicht eines genuin politischen Organs.

Es darf außer Zweifel stehen, dass die Kontrolle der rechtsetzenden Tätigkeit vor allem der Parlamente durch die Verfassungsgerichte letztlich der neuralgische Punkt ausgewogener Balancierung zwischen Erster und Dritter Gewalt ist. Dies

912 Vgl .J . Habermas. Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokrat ischen Rechtsstaats. 1992. S. 345 und den Hinweis auf eine Rekonstruktion der „verschiedenartigen Argumente, die in den Rechtsetzungsprozess eingegangen sind und den Legit imationsansprüchen des geltenden Rechts eine rationale Grundlage verschafft haben. In juristischen Diskursen kommen neben den rechtsimmanenten Gründen auch moralische und ethische, empirische und pragmatische Gründe zum Zuge".

9 , 3 Vgl. O. Gerstenberg. Bürgerrechte und deliberative Demokratie . Elemente einer pluralistischen Verfassungstheorie, 1997. S. 107: „Das Gericht stellt [ . . . 1 in Form von Ver-fahrensordnungen eine Diskussionstruktur bereit, die die Parteien objektiv zu Teilnehmern eines deliberativen Verfahrens macht. Materiale Konfliktlösungen werden in dem Maße möglich, wie es dem Gericht gelingt, im Modus der Verfassungsauslegung den Hinter-grund eines übergreifenden demokrat ischen Konsenses als gemeinsamen substanziellen Referenzpunkt zu rekonstruieren, der es den Parteien erlaubt, den Konflikt in eigener Regie zu lösen".

914 IV. Brugger. Verfassungsstabilität durch Verfassungsgerichtsbarkeit? Beobachtungen aus deutsch- amerikanischer Sicht, in: StWissStPr 1993. ST3I9 ff.

915 B.-O. Bryde. Verfassungsentwicklung. 1982. S. 162 ff. 916 Vgl. nur die Grundsatzreferate von K. Korinek/J. P. Müller/K. Schiaich zur Verfas-

sungsgerichtsbarkeit in: VVDStRL Heft 39 (1981), S. 7 ff.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 317

belegt die Geschichte der Verfassungsmäßigkeitsprüfung von Gesetzen seit der Supreme Court-Entscheidung Marbury vs. Madison (1803) über den Kampf um das richterliche Prüfungsrecht in Deutschland, der nicht erst mit der Reichsge-richtsentscheidung vom 4. November 1925917 begann, sondern weit in das 19. Jahr-hundert hineinreicht918, bis zur fest etablierten Normenkontrolle bei zahlreichen Verfassungsgerichten in der Gegenwart. Dieser Entwicklungsprozess kann hier nicht nachgezeichnet werden. Nur soviel sei betont: Seit die Verfassungsgerichte Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfen dürfen und müssen, gibt es keinen Parlamentsabsolutismus mehr. Der Gesetzgeber hat vielmehr größte Auf-merksamkeit auf die Beachtung der Verfassungsmäßigkeit seines Handelns zu legen.919

3. Grundgedanken und Strukturelemente eines Verfassungsstaates (USA) und einer Verfassungsgemeinschaft920 (Europäische Union)

Obgleich die beiden Verfassungsdebatten mittlerweile mehr als 215 Jahre trennen, fällt bei näherer Betrachtung auf, dass die meisten wichtigen Fragen nicht völlig neu sind, sondern sich im Laufe der Geschichte wiederholt gestellt haben. Die Vereinigten Staaten fanden sich in der frühesten Phase ihrer Geschichte vielen Problemstellungen bezüglich Verfassungstheorie und -praxis gegenüber, die Parallelen mit der heutigen Diskussion über die Zukunft der Europäischen Union aufweisen.

Die auffälligste Gemeinsamkeit zwischen dem Konvent von Philadelphia und dem europäischen Verfassungskonvent ist in der Unzufriedenheit mit der jeweili-gen Ausgangslage zu sehen: die Unzulänglichkeit der Konföderationsartikel von 1776 dort, die mangelnde Tragfähigkeit der im Vertrag von Nizza im Dezember 2000 erzielten Kompromisse hier.

Der geschilderte Unmut widerspiegelte sich in manchen ungelösten Fragen-komplexen. die einige interessante, zeitlich ungebundene transatlantische Paralle-len - wenigstens in der Ausgangskonstellation - aufzuweisen vermögen921:

917 RGZ 111,320. 9 1 8 Zur Geschichte G. Mever-Anschütz. Lehrbuch des Deutschen Staatsrechts. 7. Aufage

1919. S. 736 ff. 9 1 9 Dies ist ihm in Deutschland durch Art. 20 Abs. 3 GG generell und durch Art. 1 Abs. 3

GG nochmals besonders für die Grundrechte aufgegeben. 9 2 0 Zum Begriff vgl. nur P Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006.

S. 645. 921 Ähnlich auch G. Burghardt, Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem

Blickwinkel der USA, Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002, abgedruckt in: Walter Hallstein-Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hrsg.), Die europäische Verfassung im globalen Kontext. 2004, S . 4 1 ff.. 45 f .

318 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Wie soll etwa die faire Repräsentation gewährleistet werden? Kann eine Balance in der Vertretung der großen und kleinen Staaten geschaffen werden? Wie soll die Kompetenzverteilung zwischen den verschiedenen Regierungsebenen ausgestaltet werden? Wieviel Macht sollte der bundesstaatlichen Verwaltung Ubertragen wer-den und welche Befugnisse soll die Europäische Union heute haben? Was kann die Wertgrundlage für eine politische Einheit sein? Wie wichtig ist „Identität"? Gibt es ein europäisches Pendant zu „life. liberty and the pursuit of happiness"? Es kann im Rahmen dieser Untersuchung nicht auf alle Elemente eingegangen werden, die zu Recht als tragende Säulen eines Verfassungsstaates bzw. einer Verfassungsge-meinschaft gelten mögen. Die folgende Auswahl soll deutliche Unterschiede und klare Gemeinsamkeiten benennen, paradigmatisch wie impulsgebend wirken und demzufolge der Wissenschaft Raum für Ergänzungen eröffnen.922

a) Konzeptionen der Repräsentation - die Vertretung von Bürgern und Einzelstaaten

Einer der umstrittensten Punkte sowohl bei den Beratungen über die ameri-kanische Verfassung wie auch während und nach „Nizza" war die Frage nach der Vertretung von Bürgern und Einzelstaaten in den jeweiligen Organen auf Unionsebene. Wie bereits dargestellt wird die amerikanische Lösung noch heute nicht ohne Pathos der „Great Compromise"9 2 3 genannt und bedeutet eine „aurea mediocritas" zwischen gleicher Repräsentation kleiner und großer Staaten - wie im „New Jersey Plan" gefordert - und der rein proportionalen Repräsentation der Staaten abhängig von der Bevölkerung - wie es der „Virginia-Plan" vorsah. Durch die gleich starke Vertretung aller Staaten im Senat und die Wahl der Se-natoren durch die Legislativen der Einzel Staaten924 konnte die Zustimmung der bevölkerungsärmeren Einzelstaaten zur neuen Verfassung gesichert werden.

b) Die Kompetenzverteilung zwischen der Union und den Einzelstaaten

aa) Grundlagen des amerikanischen Föderalismus

Der Föderalismus wird in der US-Verfassung nur indirekt genannt. Das über-rascht zunächst angesichts der herausragenden Bedeutung der Beziehung zwischen

922 So etwa fü r einen gebotenen, aber angesichts der notwendigen Einbeziehung ein-zelstaatlicher Elemente hier zu weitgehenden Vergleich zwischen ..europäischer Rechts-staatlichkeit" und der (in zahlreichen Ziel- und Ausgangspunkten unterschiedlich entwi-ckelten) ..Rule of Law" (vgl. auch P. Hiiberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 395 ff.).

923 j ^ , . p r a g e > inwieweit Kompromissfähigkeit die amerikanische Verfassungswirklich-keit beeinflusst, wird unter B.1.9 nachgegangen.

924 Die Wahl der Senatoren durch die einzelstaatlichen Parlamente wurde erst im Jahre 1913 mit dem 17. Verfassungsamendment durch allgemeine direkte Wahlen abgelöst.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 319

dem Bund und den Staaten. Die amerikanischen Verfassungsväter dürfen als Erfinder bundesstaatlicher Ordnung heutiger Prägung gelten. Bereits im Unabhän-gigkeitskrieg war die Bereitschaft der Einzelstaaten eher gering, der Union die notwendigen Mittel und Kompetenzen zu überlassen, um notwendige politische Entscheidungen fällen zu können. Nach dem Friedensschluß schwand sie gänzlich dahin. Jeder Gedanke an eine unitarisch-zentralistische Lösung sollte sich schon deshalb als allzu endlich erweisen, dachte doch keine der 13 ehemaligen Kolonien ernstlich daran, die jüngst erkämpfte Souveränität wieder preiszugeben.

In kontroversen Diskussionen und hart umkämpften Kompromissen entstand auf dem Verfassungskonvent in Philadelphia ein neuer zukunftsweisender Föde-ralismus, den die Verfassung so umriß:

- Die Einzelstaaten sollten sich wenigstens partiell zur „vollkommeneren Union" (more perfect union) integrieren, das heißt, der Zentralgewalt eine Anzahl genau festgelegter Aufgaben und Kompetenzen zuerkennen,

- alle weiteren Befugnisse und Funktionen würden pauschal bei den Ländern verbleiben,

- die unmittelbare Ausübung staatlicher Gewalt auf beiden Ebenen sollte durch voneinander unabhängige, jeweils in sich durchorganisierte exekutive, legislati-ve und judikative Instanzen gesichert werden,

- der Vorrang der Bundes- vor der Einzelstaatshoheit war innerhalb der definierten Zuständigkeiten - Verteidigung. Regelung des Binnen- und Außenhandels - zu gewährleisten.926

Alles in allem ist der endgültige Verfassungsentwurf des Konvents von Phil-adelphia von Kompromissen geprägt, die für die Vereinigten Staaten eine neue Form der politischen Organisation vorsahen: weder eine nationale, noch eine staatenbündische Verfassung war geschaffen worden, sondern eine Verbindung beider Formen. Die Verfassungsväter erkannten darin vor allem die Möglich-keit, die staatliche Gewalt zu verteilen, um somit einer willkürlichen Herrschaft entgegenzutreten.

Wegweisend war die verfassungsrechtliche Neuheit einer doppelten Souverä-nität, welcher der Staatsbürger unterstellt wurde - der des Einzelstaates, in dem

Zum organisatorischen Grundmodel l ausführlich J. Annaheim. Die Gliedstaaten im amerikanischen Bundesstaat. 1992. Siehe auch T. Lundmark, Die Bedeutung der Gliedstaa-ten im amerikanischen Verfassungssystem, in: DÖV 1992. S. 417 ff.

9 2 6 Die Federalist Papers lieferten die ideologische Begründung für das neue politische System: nicht bloß sollte es den Erhalt der frisch errungenen nationalen Einheit nach innen und außen sichern: vielmehr würde der Föderal ismus eine wichtige Rolle bei dem Bemühen spielen, das Prinzip der ..checks and balances" zu verwirklichen. Eine Verfassung, so J. Madison (siehe insbesondere die Artikel 18 ff. sowie 41 ff.), welche die Ausübung öffentl icher Gewalt zwischen Bund und Einzelstaaten teile, banne die Gefahr staatlicher Allmacht, sichere die Vielgestaltigkeit des politischen und gesellschaftlichen Lebens in den USA.

320 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

er lebte und zugleich der Souveränität des Bundes.927 Die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Einzelstaaten wurde durch die Verfassung geregelt. Artikel I § 8 nennt die Zuständigkeitsbereiche des Bundeskongresses: Regelung der inneren und äußeren Wirtschaftsbeziehungen (auch interstate commerce), Schaffung und Erhaltung eines einheitlichen Wirtschaftsraums und die Sicherstellung der Lan-desverteidigung. Artikel III sieht ein Oberstes Bundesgericht vor und Artikel VI bestimmt, dass die Verfassung und die auf sie folgenden Gesetze oberstes Gesetz des Landes sind (supremacy clause). Bei den Staaten verblieb eine umfangreiche police power: das Recht, ihre inneren Angelegenheiten zu regeln.

Die föderative Ordnung der Verfassung dient allerdings nicht allein der verti-kalen Gewaltenteilung, dem System der checks and balances, sondern sie ist ein Ausdruck des pluralistischen Verständnisses der Federalists. Für sie war gerade die „Großstaatlichkeit" eine wichtige Voraussetzung für den Schutz von Minder-heiten und dem Recht Einzelner: So war die in einem großen Staat auftretende Interessenvielfalt in Verbindung mit dem Repräsentativsystem eine Gewähr gegen die Gefahren des Mehrheitsprinzips. Minderheiten sollten in einem Staat so stark sein, dass sie nicht überhört werden konnten.

Auch aus solchen Überlegungen resultiert die in den USA hoch geschätzte Individualität und kulturelle Identität der Einzelstaaten: Die Romantik der Schaf-fung einer „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" - wie in der Bundesrepublik Deutschland - spielt auch deswegen in den Vereinigten Staaten von Amerika keine Rolle. Festzuhalten ist, dass die Verfassung die bundesstaatliche Struktur''2* nicht

92 Dass im Grundsatz der „zweifachen Souveränität" freilich auch Konflikte zwischen Bund und Staaten vorprogrammiert waren, hat die Geschichte des 19. Jahrhunderts dras-tisch verdeutlicht: Die Südstaaten rechtfertigten ihre Sezession mit dem Hinweis, die Union habe die Souveränität der Einzelstaaten keinesfalls beseitigt und eben jetzt, im Jahre 1860/ 61. demonstrierten die . .Konföderierten" ihre Unabhängigkeit im Akte der Trennung vom bisherigen Staatsverband. Mit dem Sieg des Nordens wurde künft igen Sezessionsbestre-bungen ein Riegel vorgeschoben. Seither gilt der durch eine Entscheidung des Supreme Court aus dem Jahre 1869 ausdrücklich bestätigte Grundsatz , dass kein Einzelstaat das Recht hat. aus der Union auszutreten.

9 2 8 Wird auch das politische System der USA als „Bundesstaat" bezeichnet, beanspru-chen doch die amerikanischen Einzelstaaten ein höheres Maß an Eigenständigkeit, also eine umfassendere Kompetenzfülle als etwa die Länder der Bundesrepublik Deutschland (auch nach einer . .Föderalismusreform" im Jahre 2006). Der Begriff „Bundesstaat" beschreibt ein politisches System, in dem Gesamtstaat und Gliedstaaten einander in der Weise zugeordnet sind, dass sie zum einen als eigenständige Entscheidungszentren wirken, z u m andern sich wechselseitig beeinflussen, um das . .Gesamtinteresse" eines Volkes zu befördern. In der Praxis ist diese Zuordnung vielfältig zu verwirklichen, kann das Schwergewicht der Macht stärker beim Bund oder den Ländern angesiedelt sein. So beanspruchen die Einzelstaa-ten der USA ein höheres Maß an Eigenständigkeit , eine umfassendere Kompetenzfül le als die deutschen Länder unter dem Bonner Grundgesetz, weshalb die Übertragung der Begrifflichkeit „Land" auf amerikanische Verhältnisse nur mit einigem Vorbehalt möglich ist.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 321

explizit beschreibt. Sie ergibt sich eher indirekt aus den oben erwähnten schrift-lich niedergelegten Grundprinzipien, die bis heute keiner Änderung unterworfen wurden.929

(1) Charakter eines Bundesstaates

Den bundesstaatlichen Charakter des amerikanischen Gemeinwesens veran-schaulichen auch der Name und die Flagge der USA. Verfassungswirklichkeit, die sich in kulturellen Errungenschaften, in Bildern und Sprache niederschlägt. Fünfzig Gliedstaaten mit jeweils eigenen Verfassungen und der das Gebiet der Bundeshauptstadt Washington umgreifende District of Columbia bilden derzeit den amerikanischen Bundesstaat. Fünfzig Verfassungen kanalisieren den Herr-schaftsprozess in diesen Staaten, darunter die freilich vielfach ergänzte von Massa-chusetts aus dem Jahre 1780. Sie bekennen sich durchweg zu den „amerikanischen" Grundüberzeugungen des „limited government", der Volkssouveränität und indi-vidueller Bürger- bzw. Menschenrechte, was aber die bunte Vielfalt der jeweiligen Institutionenordnungen und Rechtsgestaltungen nicht ausschließt.

Zusätzlich erhält die amerikanische Verfassung ihren föderalen Charakter durch das Wahlverfahren der nationalen Ämter, das die Repräsentation der Einzelstaaten auf nationaler Ebene gewährleistet und ihnen hinsichtlich des Verfahrens eine fundamentale Autonomie überlässt.930

Der Modus für die Präsidentschafts wählen enthält ebenfalls föderale Elemente, „indem erstens jeder Staat so viele Elektorenstimmen erhält wie er Mitglieder im Kongress hat und zweitens", wenn ein Präsidentschaftskandidat nicht die absolute Mehrheit der Wahlmännerstimmen erhält, fällt die Entscheidung in die Zuständig-keit des Repräsentantenhauses, wo eine Abstimmung in einzelstaatlichen Blöcken zu erfolgen hat. Mit diesem Wahlsystem versuchten die Verfassungsväter die Repräsentation und den Einfiuss der Gliedstaaten zu sichern.

9 2 9 Allerdings hat sich mit der Verfassungsinterpretation durch den Supreme Court das Verhältnis von Bund und Einzelstaaten an die jeweiligen Gegebenhei ten über die Jahre angepasst. vgl. bereits unter B . I .7 und B.IV.2.b) .

9 3 0 Die Repräsentation der Gliedstaaten ist durch die Vertretungsschlüssel für die beiden gesetzgebenden Kammern festgelegt: Im Senat hat j eder Gliedstaat das gleiche Gewicht , d. h. unabhängig von der Einwohnerzahl ist dort j eder Staat mit zwei Senatoren vertreten. Diese insgesamt 100 Senatoren werden seit 1913 nach dem relativen Mehrheitswahlsystem direkt von der stimmberechtigten Bevölkerung gewählt. Im Gegensatz dazu werden die Ab-geordneten des Repräsentantenhauses zwar auch in Form der Direktwahl, aber abhängig von dem Bevölkerungsanteil jedes Einzelstaates gewählt. Dabei ist jeder Bundesstaat in so viele Wahlkreise unterteilt, wie er gemäß seiner Bevölkerungszahl Abgeordnete in das Repräsen-tantenhaus entsenden darf. Die beiden Kammern des Kongresses, der die gesetzgebende Gewalt im politischen System der Vereinigten Staaten verkörpert, sind verfassungsrechtlich gleichberechtigt und . .demokratisch" strukturiert, d. h. die Vertreter sind in den jeweiligen Häusern gleichberechtigt und zu gleichen Teilen am Gesetzgebungsprozess beteiligt.

322 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Im Gegensatz zu dem streng repräsentativen Charakter der Bundesverfassung kennen 24 Staaten eine Form der Volksinitiative, und mit Ausnahme Alabamas haben alle Staaten die Möglichkeit von Referenden in ihrer Verfassung verankert.

(2) Funktionsweise des US-Föderalismus

Durch die genaue Aufteilung der Kompetenzen zwischen Bund und Einzelstaa-ten sahen die Verfassungsväter die Funktionsweise des Föderalismus gesichert. Die Zuständigkeiten des Bundes sind, wie schon erwähnt, in Artikel I § 8 katalog-artig aufgelistet.931 Zudem hält das 10. Amendment ausdrücklich fest, dass alle Zuständigkeiten, welche die Verfassung nicht an den Bund delegiert, bei den Ein-zelstaaten oder den Bürgern verbleiben sollten. Somit hatten die Gliedstaaten zwar eine „unbestrittene Domäne eigener Zuständigkeiten", doch war die Reichweite der Bundeskompetenzen nicht eindeutig.932

Aufgrund dieser Ambiguitäten fiel dem US-Supreme Court bis heute die Auf-gabe zu. Streitigkeiten über die Aufgaben des Bundes zu schlichten. Aufgrund der vielfach veränderten Rechtsprechung des Supreme Courts im Laufe der Ge-schichte Amerikas und vor allem in Folge des „New Deals", entwickelte sich, der noch im 19. Jahrhundert maßgebend gebliebene duale Föderalismus, der die Re-gelung der meisten inneren Angelegenheiten unter der „police power", die fast alle sozial- und wirtschaftspolitischen Bereiche umfaßte, den Einzelstaaten überließ, zu einem kooperativen Föderalismus, der ein neues Verhältnis beider Ebenen zu e inande r -d i e Einzelstaaten hatten lediglich die administrative Verantwortung für die Ausführung nationaler Politik - umschreibt.

Der kooperative Föderalismus setzt auf Koordination und Zusammenarbeit statt auf strikte Trennung und Rivalität. Schwächen der Leistungsfähigkeit von Einzelstaaten und Kommunen im Zeitalter des Sozialstaates haben diese Entwick-lung stärker befördert als das Machtstreben des Bundesstaates in Washington. Ohne finanzielle Bundeszuschüsse („grants in aid") können heute die Einzelstaa-ten und Kommunen weder das ihrer Souveränität unterstehende Wohlfahrts- und Gesundheitswesen, noch das breite Feld von Erziehung und Ausbildung sinnvoll bewältigen (Analogien etwa zum deutschen System sind unübersehbar). Damit

931 Sie umfassen im Wesentlichen folgende Bereiche: Erhebung von Steuern. Zöllen und Abgaben zur Erhaltung der Zahlungsverpflichtungen, für die Landesverteidigung sowie für das Allgemeinwohl: Regulierung des Außenhandels sowie des Handels zwischen den Staa-ten: Schaffung eines einheitlichen Einbürgerungs- und Konkursrechtes: das Militärwesen.

932 So standen den verfassungsrechtlich eng formulierten Kompetenzzuweisungen nach Politikfeldern unteranderem die general welfare clause (Präambel und Art. 1 § 8) und die necessarx and proper clause (Art. I §8 par 18) die den Bund bemächtigte ..alle zur Ausübung der vorstehenden Befugnisse und aller anderen Rechte, die der Regierung der Vereinigten Staaten, e inem ihrer Zweige oder einem einzelnen Beamten auf Grund dieser Verfassung übertragen sind, notwendigen und zweckdienlichen Gesetze zu erlassen", entgegen.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 323

aber haben Rahmenvorschriften des Bundes zur Vereinheitlichung der einzelstaat-lichen Gesetzgebung, Aufsichtsrechte der Bundesbehörden über die Verwendung der Subventionen, Amts-, Personal-, Sach- und Informationshilfen zwischen Ver-waltungsorganen der verschiedenen Ebenen Eingang in die verfassungspolitische Wirklichkeit der USA gefunden.933

(3) Inkurs: Der institutionelle Aspekt auf einzelstaatlicher Ebene

Nach wie vor spielen die Einzelstaaten eine gewichtige Rolle im politischen Prozess Amerikas.934 Die genannten Deregulierungen haben ihren Entscheidungs-spielraum erweitert; sie haben sich darüber hinaus durch Steuererhöhungen neue Mittel verschafft, um eigenständige Politik betreiben zu können. Antiquierte Ver-fassungen sind in vielen Staaten ergänzt oder ersetzt worden, um die Institutionen und politischen Verfahrensweisen zu modernisieren und zu verbessern. Ihre Au-tonomie und politische Individualität gelten als feste Bestandteile der politischen Kultur des Landes. Und wo das „vertikale Gewaltenteilungsprinzip", die strikte Trennung also der Kompetenzen des Bundesstaates und der Einzelstaaten, im Zeichen der Kooperation an Bedeutung verliert, gewinnt die Mitwirkung am Entscheidungsprozess der Bundesgewalt durch die Einzelstaaten zusätzliches Ge-wicht. Ihr kommt die oben beschriebene Art der Willensbildung im US-Kongress ebenso entgegen wie die spezifische Zuordnung von Exekutive und Legislative oder die dezentralisierte Struktur des amerikanischen Parteiwesens.

Letztlich kanalisieren fünfzig Verfassungen, die den Grundprinzipien der checks and balances und der Separation of powers Theorien folgen, den politischen Machtprozess der Gliedstaaten. Man kann grundsätzlich von einem Abbild der Bundesinstitutionen auf der einzelstaatlichen Ebene sprechen, was aber eine gewisse Variantenvielfalt im Detail der Rechtsgestaltung und Institutionenordnung nicht ausschließt.

An der Spitze der Staatsexekutiven stehen Governors, die von der jeweiligen Staatsbevölkerung auf zwei bis vier Jahre direkt gewählt werden. Ihre Befugnisse

933 In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts scheiterte die Reagan-Ad-ministration im Zeichen des „new federal ism" noch mit dem ideologischen Ziel, die Abhängigkeit der Einzelstaaten von Washington zu verringern. Als die Republikaner in den Zwischenwahlen von 1994 erneut die Kontrolle über den Kongress erlangt hatten, setzen sie die Reagan-Politik der Über t ragung von Bundeszuständigkeiten (vor allem im Wohlfahrts- und Gesundheitsbereich) auf die Einzelstaaten fort. Mit dem Hinweis, man müsse das Washingtoner ..big government" reduzieren und Sozia lprogramme näher bei den Adressaten ansiedeln, planten sie den Einzelstaaten umfangreiche Garantien einzuräu-men. die ihnen bei der Durchführung neu übertragener Aufgaben einen relativ großen Verwendungsspielraum zubilligen. In der deutschen Debatte über eine Verankerung des Konnexitätsprinzips auf Bundesebene im Rahmen der „Föderal ismusreform" sind durchaus Parallelen zu sehen.

934 Vgl. auch F. Greß. Wiedererstarken der Einzelstaaten, in: Das Parlament vom 10. Sep-tember 1993.

324 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

spiegeln im verkleinerten Maße die des Präsidenten wider.935 Sie verfügen in den Einzelstaaten wie der Präsident auf der Bundesebene über das suspensive Vetorecht. Mit dem jeweiligen Stellvertreter, der den Vorsitz im Senat des Staats-kongresses führt, und einigen leitenden Beamten ist in gewissem Umfang die Regierungsgewalt zu teilen.

Sowohl der Bund als auch die Staaten verfügen über ein eigenes Verwaltungssys-tem. Mit der offiziellen Zustimmung des Supreme Courts hat sich heute eine Art „Mischverwaltung", ein personelles Zusammenwirken als förmliche Beauftragung der Bediensteten einer Ebene durch die andere Ebene, herausgebildet. So betraut der Bund Fachkräfte der Einzelstaaten oder Gemeinden mit der Durchführung bundesgesetzlich vorgeschriebener Inspektionen.

Vom Sonderfall Nebraska abgesehen, sind die Legislativen der Staaten wie auf nationaler Ebene durchweg als Zweikammersysteme organisiert, mit Reprä-sentantenhaus und Senat. Verfassungsvorschriften beschränken die Dauer der Sitzungsperioden in drastischer Weise. Das Mandat der Abgeordneten ist in der Regel auf zwei Jahre beschränkt. Bei der Amtsdauer der Senatoren liegt die Gren-ze in zwölf Staaten bei zwei und in den restlichen 38 Staaten bei vier Jahren. In der Regel sind sie vom Volkssouverän gewählt. Bis in die sechziger Jahre waren die Möglichkeiten der Staatsparlamente, eine kontinuierliche Politik zu betreiben, stark beschränkt, da lediglich alle zwei Jahre Sitzungen stattfanden. Trotz der Par-lamentsreformen, die das politische Gewicht der Legislative stärkten, leiden sie genau wie der Bundeskongress an derselben Fragmentierung - der Aufsplittung in verschiedene, relativ autonome Ausschüsse und Unterausschüsse.

Insgesamt ist der „amerikanische Bürger" eingebettet in eine ausgeprägte ge-sellschaftliche Dimension des Föderalismus und Lokalismus, die im Laufe der weiteren Entwicklung durch die flächenmäßige Ausdehnung und den hohen Grad an gesellschaftlicher Segmentierung und politischer Fragmentierung verstärkt wurde. Bis heute ist die politische Kultur der USA geprägt durch regionale und einzelstaatliche Besonderheiten, die trotz aller vereinheitlichenden Tendenzen das amerikanische kulturelle, wirtschaftliche und politische Mosaik auszeichnen.

bb) Europäischer Föderalismus: Einzelaspekte936

Eine ähnliche Situation lag auch zugrunde, als die Bundesrepublik Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg ins Leben gerufen wurde. Verschiedene Modelle wa-

9 3 5 Als Leiter der Exekutive unterliegen ihnen folgende Aufgabenfelder: der Vollzug der Gesetze: das Kommando über die Nationalgarde: die Ernennung der Beamten des Landes (wobei dies in manchen Ländern der Bestätigung durch den Staatssenat bedarf) , und sie stehen der Staatsverwaltung vor.

9 3 6 Umfassend mit föderalen Strukturen für die Europäische Union befassen sich bei-spielsweise A. von Bogdandy. Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 325

ren für den deutschen Staat angedacht worden; am Schluss erschien ein föderales Gebilde für die westlichen Alliierten und die Deutschen am vertrauenswürdigs-ten. Allerdings mochten die Verfassungsväter des Grundgesetzes (GG) sich in Herrenchiemsee nicht auf einen Bundesstaat nach US-amerikanischem Vorbild verständigen. Das GG hat damit den Föderalismus europäischen Typs bereits ziemlich klar vorbereitet: Institutionelle Verflechtungen gemäß dem Grundsatz von Macht- und Einflussteilung anstelle der US-amerikanischen -trennung.937

In der Theoriegeschichte des Föderalismus ist eine reiche Vielfalt von Varianten entstanden. Vor diesem Hintergrund ist es nur zu verständlich, dass man sich in der Frage, welchen Grad der Föderalisierung die Europäische Union bereits erreicht hat, nicht einig ist. Während einige Beobachter bereits eine entwickelte Form des Föderalismus attestieren938, sehen andere ihn erst auf dem Weg zur Föderation939. Die Zurückhaltung, die im Umgang mit dem Föderalismusbegriff zu beobachten ist. mag zu einem gewissen Teil darauf zurückzuführen sein, dass sich während des 19. Jahrhunderts eine Verengung auf die Form der Bundesstaatlichkeit voll-zogen hat. Wer sich dieser Begriffstradition verpflichtet fühlt, wird sich jedenfalls dann, wenn die damit einhergehenden Folgerungen (insbesondere: Souveränität des Bundes) nicht gezogen werden sollen, im Umgang mit dem Föderalismus-begriff Zurückhaltung a u f e r l e g e n . Z w i n g e n d ist diese Verengung aber nicht; sie ist lediglich eine - wenn auch in den letzten zweihundert Jahren besonders

neuen Herrschaftsform. 1999: P.M. Huber, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: V V D S t R L 60 (2001), S. 194 ff.. 240.

937 Der deutsche Bundesrat wird von den Landesregierungen bestückt und zwingt die Länder damit zur Zusammenarbei t und zur Zus t immung bei bundesstaatlichen Aufgaben (..kooperativer Föderalismus"). Der ..unitarische Bundesstaat" (K. Hesse, vgl. ders., Der unitarische Bundesstaat. 1962) unterscheidet nach Kompetenzarten: er hat es aber dennoch geschafft , das Paradoxon der sogenannten „Gemeinschaf t saufgaben" in die Verfassung zu integrieren. Allerdings befanden sich auch die deutschen Länder in der ..Stunde Null" auf einer gemeinsamen Ausgangsbasis, wodurch eine einheitliche Einteilung der Länder in der Verfassung erleichtert wurde. Insofern war die Einteilung der Stimmrechte pro Bundesstaat und die Einordnung der Staatsaufgaben in Bundes- und Landeskompetenzen nur in der Sache umstritten. Vgl. auch H. BiÜcklP. Lerche. Föderalismus als nationales und internationales Ordnungsprinzip, in: VVDStRL 21 (1964). S. I ff.. 83. Zum Bundesstaat als Rechtsbegriff siehe bereits H. Nawiasky, Der Bundesstaat als Rechtsbegriff . 1928: vgl. auch jVf. Usreri. Theorie des Bundesstaates, 1964 sowie U. Scheuner. Struktur und Aufgabe des Bundesstaates in der Gegenwart , in: DÖV 1962, S .641 ff. Zu einer „gemischten" Bundesstaatstheorie bereits P. Häberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 428 m. w. N.

938 Vgl. etwa M. Cappelletri/M. Seccombe/J.H.H. Weiler. General Introduction. in: dies. (Hrsg.), Integration through Law, Vol 1. Book 1 S . 4 ; K. Heckel. Der Föderal ismus als Prinzip überstaatlicher Gemeinschaf tb i ldung. 1998: W.Hertel. Supranationalität als Verfassungsprinzip. 1999:/\. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform. 1999.

9 3 9 So etwa J. Fischer, Vom Staatenverbund zur Föderation - Gedanken über die Finalität der europäischen Integration. 23 integration 2000. S. 149.

326 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

wichtige - Form des Föderalismus. Wagt man einen Blick auf die ideengeschicht-lichen Wurzeln des Föderalismus, so geht es nicht um Souveränität, sondern um Einheitssicherung und Vielfaltgewähr, um das freie und selbstbestimmte Zusam-menwirken verschiedener, vertikal gestufter Verbände. Im Lichte eines solchen Föderalismusbegriffs lassen sich gegen die Bezeichnung der Europäischen Union als Föderation kaum Einwände erheben. Föderalismus ist damit ein politisches Ordnungsprinzip, das darauf abzielt, die Existenz und Selbstständigkeit einer Mehrheit politischer Einheiten mit der Zusammenfassung dieser Einheiten in ein höheres Ganzes zu verbinden.

Die europäische Einigungsbewegung und die damit entstandene Regionalpo-litik der Europäischen Gemeinschaften hat durchaus mitbewirkt, dass auch an-dere europäische Staaten zu einer Diversifizierung ihrer territorialen Gliederung gefunden haben. So entwickelte Spanien 1978 nach der Franco-Diktatur eine Staatsordnung, die auf ganz besondere „Sensibilitäten" in bestimmten Regionen Rücksicht nehmen musste. Die zweite Kammer, der „Senado" ist sowohl Par-lamentskammer als auch „Kammer der territorialen Repräsentation". Auch die spanische Verfassung unterscheidet nach Kompetenzarten, allerdings werden den autonomen Regionen keine Kompetenztitel zugesprochen.942 Die Zuständigkeiten der Regionen reichen daher nur soweit, wie es die Autonomiestatute der jewei-ligen Region zuerkennen. Damit wird ein spezifisches Merkmal des spanischen Regionalstaates deutlich: Die Kompetenzverteilung zwischen dem Zentralstaat und den einzelnen Regionen ist asymmetrisch. Manche Regionen verfügen über deutlich mehr Kompetenzen als andere. Dies ist vor allem der Tatsache geschul-det, dass der spanische Staat nach der Ablösung von Franco sich zwar in einer

940 So auch jVf. Netfesheim. Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten, in: ZEuS 5 (2002), S. 507 ff.

941 Gleichlautend Af. Nettesheim. Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaa-ten. in: ZEuS 5 ( 2002). S. 507 ff., der ebenda weiter konstatiert: ..Föderalistische Ordnungen sind als mehrstufige politische Systeme zu begreifen, in denen an die Seite der politischen Einheit der Glieder die politische Gesamtexistenz tritt. Föderal ismus ist damit Bildung eines Ganzen unter gleichzeitiger Bewahrung der Freiheit der engeren territorialen und personellen Gemeinschaf ten . Er dient der Selbstbehauptung der Eigenart und der Aner-kennung des Eigenrechtes dieser Eigenart. Dies kann nur gelingen, wenn man - allen Unterschieden zum Trotze - im Wertverständnis und in der Formulierung der Interessen auf einen Grundkonsens aufbauen kann." Vgl. auch W. Kägi. in: Die Juristischen Fakultäten der Schweizer Universitäten (Hrsg.), Die Freiheit des Bürgers im schweizerischen Recht. Festgabe zur 100-Jahr-Feier der Bundesverfassung, 1948. S. 53.: „Freiheit ist dort, wo diese Eigenart nicht durch Unitarismus und Zentral ismus negiert, sondern durch Selbstgesetz-gebung (Autonomie) und Selbstverwaltung der engeren Gemeinschaf ten respektiert und beschützt wird. Diese föderalistische Freiheit ist die Grundbedingung für die Einheit eines vielgestaltigen Staatswesens."

942 Im „Vortitel" der spanischen Verfassung (1978) sind in Art. 2 die Unteilbarkeit („unteilbares Vaterland aller Spanier") und als Konnexgarantie „das Recht auf Autonomie der Nationalitäten und Regionen" niedergelegt.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 327

grundlegenden Umbruchsphase, nicht aber in einer der Bundesrepublik ähnli-chen „Stunde Null" befand. Die Ausgangsbasis bei der Verfassunggebung war demzufolge differierend.

Parallel dazu hat auch das Vereinigte Königreich unter dem Stichwort der „Devolution" den Nationen (und Regionen) 1998 zu neuer politischer Macht verholfen.943 Auch bei der Regionalisierung Großbritanniens mussten die histo-rischen Besonderheiten berücksichtigt werden. Während Schottland. Wales und Nordirland eigene Regionalparlamente und -regierungen erhalten haben, blie-ben die englischen Regionen mehr oder weniger ohne Mitspracherechte. Aber auch zwischen den drei Genannten sind die Unterschiede bemerkenswert: wäh-rend Schottland selbst bei der Besteuerung Kompetenzen zuerkannt worden sind, wurde für die nordirischen Einrichtungen eine weitgehende Abhängigkeit von der Entwicklung des Friedensprozesses eingerichtet. Wales hat zwar eine eigene „Versammlung", aber insgesamt weniger Kompetenzen. Obwohl die Devolution als „Prozess" (R. Davies) bezeichnet wird944, ist mehr als fraglich, ob die engli-schen Regionen jemals entsprechende Kompetenzen erhalten werden. Unabhängig von der asymmetrischen Kompetenzverteilung, hat sich das Vereinigte Königreich der „europäischen" Aufteilung nach Kompetenzarten angeschlossen, und auch die zweite Kammer könnte sich zu einem Regionen-Gremium entwickeln, das dem deutschen Bundesrat ähnlich ist.

Frankreich hat seit der 1982 verabschiedeten „Lois Deferre" eigene Erfahrungen mit dem Regionalismus*15 gemacht. Hier wurde indes ein symmetrisches Modell angelegt, das den Regionen aber keine den beschriebenen Modellen vergleichbaren Kompetenzen einräumt. Auch hat der französische Senat seine ursprüngliche Rolle behalten.

In der Europäischen Union hingegen stellt sich die Frage der horizontalen Gewaltenteilung weiterhin als äußerst komplex dar, sprich: eine klare, funktionale Rollenzuweisung für die Institutionen der Europäischen Union im Sinne von

9 4 3 Dazu M. Mey, Regionalismus in Großbritannien - kulturwissenschaftlich betrachtet. 2003.

944 Vgl. zu dem Zitat von Davies sowie allgemein zur . .Devolution" im Vereinigten Königreich Economic&Soeial Research Council (Hrsg.). Devolution Briefings, Devolution is a process not a policy: the new governance of the English regions Briefing No. 18, February 2005.

9 4 5 Zum Rcgionalismus bereits F. Esterhauer (Hrsg.), Regionalismus, 1979; vgl. auch F. Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regional ismus in Europa. 1990; A. Weber. Die Bedeutung der Regionen für die Verfassungsstruktur der Europäischen Union, in: J. Ipsen u .a . (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel, 1995. S .681 ff.; M. Kot zur. Föderalisierung. Regionalisierung und Kommunalis ierung als Strukturprinzipien des europäischen Ver-fassungsraums. in: JöR 50 (2002), S. 257 ff.; P. Häberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 431 ff. mit zahlreichen Nachweisen: siehe auch ders., Kulturföderalismus in Deutschland - Kultzrregionalismus in Europa, in: Festschrift für T. Fleiner. 2003, S. 61 ff.

328 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Legislative und Exekutive. Derzeit ist das Europäische Parlament, wenn überhaupt, ein nur unzureichender Gesetzgeber. Das vornehmste Recht aller Parlamente, nämlich über den Haushalt zu befinden, steht ihm (allein) nicht zu. Das Prinzip der Kodezision ist nur unzureichend entwickelt und erstreckt sich nicht einmal auf alle Politikbereiche, in denen der Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit entscheidet. Der Ministerrat teilt sich in eine legislative und eine exekutive Funktion zugleich, was das institutionelle System der Europäischen Union vor allem intransparent macht. Die Kommission hat zwar ein Initiativrecht für Gesetzesvorhaben und implementiert die Ratsentscheidungen, übt aber im Wesentlichen keine exekutive Gewalt aus, die einer politisch-parlamentarischen Kontrolle unterläge. Auf die in ihrer Art spezifischen, institutionellen Strukturen der Europäischen Union, wie sie historisch gewachsen sind, ist mithin das klassische Montesquieu sehe Prinzip der Gewaltenteilung nicht anwendbar, und ein Teil des beklagten Legitimationsdefizits der Europäischen Union ergibt sich aus dieser Tatsache.

Worin liegt nun die Konsequenz dieser kurzen Betrachtungen? Dass eine födera-le Lösung den Interessen der meisten Mitgliedstaaten am ehesten entgegenkommt, dürfte sicher sein: Denn der verfassungsrechtlich gesicherte Verbleib von Kompe-tenzen auf der Ebene des Nationalstaates beugt einem wie auch immer gearteten „europäischen Zentralismus" am ehesten vor. Allerdings wird gerade nach un-terschiedlichen Entwicklungen in den verschiedenen europäischen Staaten eine „europäische"und wohl auch „asymmetrische" föderale Lösung am ehesten in Be-tracht kommen. Begriffsschöpfungen wie „differenzierte Integration"946, „variable Geometrie"917 oder „Europa ä la carte"918 deuten darauf seit längerem hin.

Vor dem Hintergrund des Umstandes, dass die politische Theorie eine Vielzahl föderaler Typen mit je unterschiedlicher Prägung kennt, eröffnen sich allerdings auch nicht unerhebliche Spielräume. Es wäre viel gewonnen, wenn es gelänge, den Typ föderalistischer Verbundenheit, der Europäische Union und Mitgliedstaaten ausmacht, näher zu kennzeichnen. Die in Deutschland vorherrschende Auffassung ist in diesem Zusammenhang geneigt, den Integrationsverbund weiterhin als Aus-prägung eines bündisch verfassten Zusammenschlusses anzusehen. Europäischer Föderalismus lässt sich insofern mit Nettesheim als „konsoziativer Föderalismus" treffend kennzeichnen919 („Föderation von Staaten"). Zudem liegt die Befugnis zur Verfassungsfortschreibung nach Art. 48 EGV weitgehend, allerdings schon nicht

946 Dazu m.w. N. H. Schneider, Die Zukunf t der differenzierten Integration in der Perspektive des Verfassungsvertrags und der Erweiterung, in: integration 4 /2004 . S. 259 ff.

947 Vgl. etwa U. Rüge. Europa variable Geometr ie . Die erweiter te Union braucht eine Avantgarde, in: Blätter für deutsche und internationale Politik. 3 /2003, S . 3 I 4 f f .

9 4 8 Vgl. etwa F. Breuss/S. Griller (Hrsg.), Flexible Integration in Europa. Einheit oder .Europa a la car te '? , 1998.

W9 Vgl. M. Nettesheim. Die konsoziative Föderation von EU und Mitgliedstaaten, in: ZEuS 5 (2002), S . 5 0 7 f f . ; H.Schneider. Alternativen der Verfassungsfinalität: Föderati-on. Konföderation - oder was sonst?, in: 23 integration 2000. S. 171 ff. Anders als im

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 329

mehr ausschließlich in den Händen der Glieder; auch haben die Mitgliedstaaten im Entscheidungsprozess der überstaatlichen Ebene eine bestimmende Rolle. Man ist sich im übrigen in der verfassungstheoretischen Diskussion einig, dass diesem Prinzip des konsoziativen Föderalismus im Prozess der Fortentwicklung der EU normative Qualität zukommt: Europa muss seine bündische Struktur bewahren, muss seine Form als ..Föderation von Bürgern und Staaten" erhalten. Einen Um-schlag in die Form bundesstaatlichen Föderalismus gilt es, so die überwiegende Auffassung, gegenwärtig zu verhindern.950

cc) Ergänzungen aus vergleichender Sicht

Das Wort „Föderalismus" stellt generell seit jeher einen vom Verständnis außerordentlich unterschiedlich interpretierten Begriff dar, der gerade auch im Rahmen der europäischen Einigung immer wieder für Unruhe sorgt(e). Noch kurz vor der Konferenz von Nizza wies der französische Außenminister darauf hin. Frankreich wolle kein „föderales" Europa, während sein deutscher Kollege zuvor große Vorteile in einer föderalen Struktur des zukünftigen Europas gesehen hatte. Die Trennschärfe in der Einschätzung, ob lediglich unterschiedliche politische Auffassungen oder begriffliche Missverständnisse gegeben sind, ist diesbezüglich oftmals schwer herzustellen.

Die Vereinigten Staaten standen 1787 vor der Frage, die die Europäer heute bewegt. Wie kann eine verfassungsmäßige Ordnung geschaffen werden, die für die einzelnen Staaten ausreichend Raum für „nationale" Politik bestehen, gleichzeitig aber ein nach außen handlungsfähiges Gebilde entstehen lässt? Die Philadelphia Convention brachte - obwohl nur mit dem Mandat für die Entwicklung einer Freihandelszone versehen - eine Bundesverfassung auf den Weg, die auch in dieser Hinsicht Grundsteine für ein Vorbild demokratischer Verfassungen legte.

Schon damals lagen jene, die den Bundesstaat bzw. „Staatenverbund" im weite-ren Sinne in den Mittelpunkt stellen wollten, mit jenen im Streit, deren Anliegen ein gesunder Wettbewerb zwischen den Gliedstaaten war.

Der Blick auf die US-Verfassung kann den Europäern bei dieser Diskussion aber hilfreich sein: In der US-amerikanischen Verfassung ist festgelegt, dass nur ausdrücklich genannte Kompetenzen dem Bund zustehen, alle anderen den Gliedstaaten. So heißt es im 10. Amendment: „The powers not delegated to

. .bundesstaatlichen Föderal ismus" fließt die verfassunggebende Gewalt der Glieder in der konsoziativen Föderation nicht aus der Verfassung des übergreifenden Verbands (hier: der Europäischen Union); anders als im ..bundesstaatlichen Föderal ismus" haben die Glieder auch ihre Souveränität bewahrt.

950 Siehe nur die Beiträge von: I. Pernice/ P.M. Huber IG. Lübbe-Wolff IC. G raben war-te r. Europäisches und nationales Verfassungsrecht, in: 60 VVDStRL 2001, S. 148/194/ 2 4 6 / 2 9 0 m . w . N .

330 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

the United States by the Constitution, nor prohibited by it to the states, are reserved to the states respectively, or to the people." Damit ist das im Maastrichter Vertrag festgeschriebene „Subsidiaritätsprinzip"951 (Art. 5 EGV) im Grunde nichts anderes als die (mildere) europäische Version des 10. Amendments. J. Madison und A. Hamilton hatten bereits damals die mögliche Entwicklung eines zu mächtigen Zentralstaats erkannt. Allerdings: Nur wenige Jahre später bei der Verabschiedung des „Alien and Sedition Act" (1798), erwies sich der Grundsatz als wirkungslos. Ein früher Hinweis auf die Wirkkräfte der Verfassungswirklichkeit — und ein Umstand, der gelegentlich bei der innereuropäischen Diskussion Berücksichtigung finden dürfte.

In einer weiteren Frage offenbaren sich Ähnlichkeiten zwischen dem Amerika des ausgehenden 18. Jahrhunderts und dem heutigen Europa, nämlich im (nur auf den ersten Blick paradoxen) Grundsatz nach außen mit einer Stimme zu sprechen, im Innern aber von seiner Vielfältigkeit zu leben. Der Begriff des „Föderalismus" taugt im Rahmen dieser Debatte nur begrenzt, da sich die begrifflichen Gegensätze bis heute erhalten haben.952

Gleichwohl haben die prinzipiellen Überlegungen, die vor über 200 Jahren in Amerika angestellt wurden, ihre Bedeutung bei der Beantwortung dieser Frage nicht verloren. Der sogenannte „duale Föderalismus" der USA hat sich in dieser Zeit weiterentwickelt, aber er verteilt die Kompetenzen zwischen den staatlichen Ebenen noch immer nach Politikfeldern. Er hat die Trennung auf der Legisla-tivebene durch die Volkswahl der Mitglieder der zweiten Kammer, des Senats, durchgehalten. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass die Verabschiedung der US-amerikanischen Verfassung zu einem Zeitpunkt erfolgte, als alle Gliedstaaten sich in einer strukturell sehr ähnlichen Situation befunden haben. Insofern hatten die Vertreter in der Convention eine gemeinsame Ausgangsbasis bei der Verfassung-gebung.

951 Dazu aus der Lit.: H. Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip. 1993; P. Hiiberle. Das Prin-zip der Subsidiarität aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre, in: AöR 119(1994). S. 169 ff.: MZuleeg, Das Subsidiaritätsprinzip im Europarecht, in: Melanges en hommage ä F. Schockweiler, 1999. S. 635 ff. Im Entwurf des VerfV wurde die Legaldefinition des Subsidiaritätsprinzips präzisiert (Art. 1-9 Abs. 3).

952 Die Anwendung der deutschen Bedeutung des „Föderal ismus"-Begri f fs auf das politische System der Vereinigen Staaten ist grundsätzlich problematisch, obwohl die amerikanischen Verfassungsväter sich selbst als „Federalists", die neu geschaffene Herr-schaf tsordnung als „federal sys tem" und die Zentralgewalt in Washington als „federal government" bezeichneten. Denn wo das verfassungsrechtliche Denken der Deutschen mit . .Föderalismus" Autonomiebestrebungen der Länder verbindet, meinen Amerikaner Zentra-lisierungstendenzen. wenn von federalism die Rede ist. Wo im deutschen Sprachgebrauch der Begriff Föderalismus ein universales Gestaltungsprinzip meint, den Zusammenschluß im gesellschaftl ichen, staatlichen oder internationalen Raum mit sehr verschiedenen Ord-nungsstrukturen, erscheinen im amerikanischen Sprachbereich die Begriffe „Bundesstaat" und „Föderal ismus" fast identisch.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 331

Schließlich: Die wichtigste Konsequenz der Amerikaner aus der Ineffizienz der Unionsorgane unter den Konföderationsartikeln war die deutliche Stärkung der bundesstaatlichen Ebene. Eine Beobachtung, die für die Europäische Union lediglich dünne, wenn nicht marginale Parallelen eröffnet.

c) Das Prinzip der Gew altenteilung

aa) Vorbemerkung

Das Prinzip der Gewaltenteilung ist ein Maßstab für die politische Machtvertei-lung. die Hemmung und Mäßigung der Macht953, aber auch für die sachgerechte Zuteilung des Entscheidungsgegenstandes an das entscheidende Organ, für die Konstituierung, Zuordnung und Balancierung von Hoheitsgewalten954. In ihrem menschenrechtlichen Ursprung955 handelt die Gewaltenteilung von den Rechtsbe-ziehungen zwischen Bürger und Staat956: Die tatsächlichen Mächtigkeiten werden auf eine freiheitsberechtigte Gesellschaft und einen freiheitsverpfiichteten Staat aufgeteilt. Sodann gewinnt der Bürger der Staatsgewalt gegenüber Waffengleich-heit durch die Einrichtung einer dritten Gewalt, die seine Rechte als rechtsge-bundene. unabhängige Rechtsprechung gegenüber Gesetzgebung. Regierung und Verwaltung durchsetzt.

In konkreteren Verfassungsgedanken findet das Prinzip der Gewaltenteilung je-weils seine Ausprägung957: Die Gewaltenteilung zum Schutz der Menschenrechte mäßigt und begrenzt Staatsgewalt im Dienst der Individualrechte und nimmt dabei die Entwicklung der Grundrechte von der bloßen Abwehr der Staatsall macht hin zum positiven Leistungsrecht auf.95s Das Bundesstaatsprinzip, das den Rechtsstaat weniger von der Staatsgewalt und mehr vom Staatsgebiet her organisiert, stellt

953 Siehe zu dieser Definition nur das deutsche Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 3. 225 (247); 34. 52 (59); 49. 89 (124). Z u m amerikanischen Verständnis aus der deutsch-sprachigen Lit.: P.E. Quint. Gewaltentei lung und Verfassungsauslegung in den USA. in: DÖV 1987. S. 568 ff.: D. P. Currie, Die Gewaltenteilung in den USA. in: JA 1991. S. 261 ff. Vgl. allgemein bereits D. Tsatsos. Zur Geschichte und Kritik der Lehre von der Gewalten-teilung. 1968.

954 Vgl. allgemein K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland. 20. Aufl. 1995. R n . 4 7 5 f f . , 482; E. Schmidt-Assmann, Der Rechtsstaat, in: Handbuch des Staatsrechts. Bd. I. 1987. § 24 Rn. 50.

9 5 5 Vgl. auch Art. 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte (1789); Titel III Art. 1 -5 der Französischen Verfassung von 1791.

9 5 6 Vgl. bereits R. Thoma. Grundrechte und Polizeigewalt, in: Festgabe zur Feier des 50-jährigen Bestehens des Preußischen Oberverwaltungsgerichts . 1925, S. 183 ff., 187 Fn .4 .

957 Vgl. umfassend P. Kirchhof, Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und euro-päischen Organen, in: I. Pernice (Hrsg.), Grundfragen der europäischen Verfassungsent-wicklung, Schrif tenreihe Europäisches Verfassungsrecht. Band 4. Forum Constitution is Europae - Band 1. 2000. S. 37 ff.

332 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

neben die horizontale auch eine vertikale Gewaltenteilung. Innerhalb des Demo-kratieprinzips wirkt das Prinzip der Gewaltengliederung mäßigend und ordnend insbesondere gegenüber der Volksvertretung, die keinen „Gewaltenmonismus" beanspruchen kann, der vielmehr - wie jeder Gewalt - ein Kernbereich der Auf-gaben vorbehalten ist, die dieses Organ mit seinem Personal, seiner Ausstattung und seinem Verfahren am besten erfüllen kann.959 Hat die Verfassung vor allem eine übermächtige Staatsgewalt in Grenzen zu weisen, bedeutet Gewaltenteilung Hemmung und Mäßigung der Macht; das vom Staat beanspruchte Gewaltmonopol findet in der Gewaltenteilung sein notwendiges Korrelat.960 Steht die Verfassung hingegen mehr vor der Aufgabe, innerhalb eines rechtlich hinreichend gebunde-nen Verfassungsstaates Aufgaben und Organe je nach deren Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise so einander zuzuordnen, dass die staatlichen Ent-scheidungen „möglichst richtig" getroffen werden, so wird die Gewaltenteilung zum ordnungsstiftenden und ordnungsvertiefenden Prinzip.961

bb) Die Ausgestaltung in den USA

In der amerikanischen Verfassung ist das Prinzip der Gewaltenteilung („Separa-tion of powers") als zentrales Element hervorzuheben.962 Artikel I der Verfassung gewährt dem Kongress die Gesetzgebungskompetenz. Artikel II beschreibt eher diffus die Exekutivgewalt des gewählten Präsidenten und Artikel III legt wie be-reits geschildert die Judikativfunktion des Supreme Court, der Einzelstaatsgerichte und der unteren Bundesgerichte, die im einzelnen vom Kongress bestimmt wer-den, fest. Schließlich normiert Artikel IV das gewaltenteilige Verhältnis zwischen Bund und Gliedstaaten.

Ebenso wichtig wie die grundlegende Teilung der Staatsgewalten in Legislative. Exekutive und Judikative ist aber in der Theorie auch die gegenseitige Kontrolle dieser drei Kräfte („checks and balances"). So wird die Gesetzgebung durch zwei Häuser des Kongresses vollzogen, da die Verfassungsväter die erheblichste Gefahr im potentiellen Gewaltmissbrauch sahen.963

958 K. Stern. Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. V, 1992. § 108 Rn. 38.

9 5 9 Vgl. P. Bodura, Die parlamentarische Demokratie, in: Handbuch des Staatsrechts. Bd. 1. 1987, § 2 3 Rn .6 ; das Prinzip deutlicher dem Demokrat ieprinzip unterordnend £ . -\V. Böckenförde, Demokrat ie als Verfassungsprinzip, daselbst. § 22 Rn. 87 ff. Siehe auch BVerfGE 68. I (86).

960 E. Schmidt-Assmann (1987), § 24 Rn. 47. 961 Vgl. wiederum BVerfGE 68. I (86). >*1 Vgl. etwa D. Currie. Die Gewaltenteilung in den USA, in: Juristische Arbeitsblätter

1991. S. 261 ff. 9 6 3 Dazu etwa G. Gunther. Constitutional Law. 11 * ed. 1985. S. 336.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 333

Die amerikanische Herrschaftsordnung zeichnet sich folglich nach Meinung vieler Beobachter auf den ersten Blick durch die strikte Verwirklichung des klassischen Gewaltenteilungsprinzips von Exekutive und Legislative aus. Die politischen Theorien eines J. Locke und C. de Montesquieu scheinen auf dem Boden der Neuen Welt stärker beherzigt worden zu sein als in Europa, oder, wie dies E. Fraenkel beschrieben hat, die Amerikaner haben die „wesentlichen Merkmale der englischen Verfassung, wie sie aus der .Glorreichen Revolution von 1688/89' hervorgegangen waren, reiner erhalten."964

Diese Behauptung hält bei genauerer Betrachtung nur bedingt stand, allein schon wegen Stellung und Rolle des US-Vizepräsidenten.965 Den Vätern der US-Verfassung ist es wohl eher um eine Institutionentrennung mit wechselseitig teilnehmender Gewaltenausübung gegangen.966 Das politische System der USA beruht demnach also nicht so sehr auf der Gewaltenteilung im klassischen Sinn, als vielmehr auf der Trennung der Staats- und Verfassungsorgane, also der politischen Institutionen. Dies hat zur Folge, dass der Präsident einerseits. Repräsentanten-haus und Senat andererseits, zwar unabhängig voneinander amtieren, aber an den Grundfunktionen der Staatsgewalt, der Gesetzgebung und Verwaltung, wech-selseitig teilhaben und gemeinsam an deren Erfüllung mitwirken. Sichtbarsten Ausdruck findet die Institutionentrennung zum einen in der Stellung des Präsi-denten gegenüber beiden Häusern des Kongresses.967 Sie tritt zum anderen in der gleichfalls verfassungsmäßig festgelegten Legislaturperiode der beiden parlamen-tarischen Häuser in Erscheinung, die vom Präsidenten auch dann nicht verkürzt werden kann, wenn der Kongress schiere Obstruktionspolitik betreiben, das heißt, die Arbeit der Exekutive in jeder Hinsicht blockieren würde.96s

964 E. Fraenkel h ier /u umfassend in seinem mittlerweile klassischen Werk ..Das ameri-kanische Regierungssystem", 3. Aufl. 1976.

965 Als Stellvertreter (bei Amtsunfähigkeit) und potentieller Nachfolger des Präsidenten ist er Teil der Exekutive; als Präsident des Senats, der dessen Sitzungen leiten und bei Stimmengleichheit den Ausschlag zugunsten einer Entscheidung geben kann, gehört er auch zur Legislative. Von strikter Gewaltentrennung lässt sich im Falle des Vizepräsidenten gewiß nicht reden.

966 So in der Konsequenz auch R. Neustadl. Presidential Power & The Modern Presidents, 1990.

'*'7 Sie gründet sich auf die Volkswahl, auf den Umstand also, dass unter allen Wahlbe-amten Amerikas allein der Chef des Weißen Hauses sein Herrschaftsrecht aus der Wahl durch die gesamte Bürgerschaft ableiten kann, und darauf, dass die Verfassung dem Präsi-denten eine Amtsperiode von vier Jahren zuweist, die auch von oppositionellen Mehrheiten im Kongress nicht beschnitten werden kann.

9 6 8 Mit dem Senat schufen die amerikanischen Verfassungsväter darüber hinaus eine äußerst mächtige und selbstbewusste Kammer, die mit ihren Kompetenzen im Bereich der Außenpolitik insbesondere für das Verhältnis zu Europa von enormer Bedeutung ist und eine wichtige Ergänzung der präsidentiellen Kompetenzen darstellt. Die Zus t immungs-bedürft igkeit durch den Senat bei der Ernennung von Mitgliedern und hohen Beamten

334 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

In einem bemerkenswert scharfen Bruch mit überkommenen Vorstellungen formulierten die Verfasser der „Federalist Papers" die Einsicht, dass - im Gegen-satz zu einer Monarchie - in der Republik nicht die Exekutive der dominierende Machtarm sein müsse, sondern die Legislative. Der amerikanische Kongress gilt heute mit Recht als die wohl stärkste Legislative der Welt. Das bedeutende Vor-recht des Repräsentantenhauses, das über die gemeinsame Gesetzgebung mit dem Senat hinausgeht, ist dabei das Budgetrecht, das dem Repräsentantenhaus nicht nur das alleinige Recht gibt, Finanzgesetze einzubringen, sondern auch das Budget aufzustellen. Das Repräsentantenhaus besitzt außerdem das wichtige Initiativrecht für die Handelsgesetzgebung.969

Die amerikanischen Verfassungsväter haben die Gefahren erkannt, die einer strikten Anwendung der Gewaltentrennungslehre innewohnen. So kann die exklu-sive Betrauung jeweils eines Staatsorgans mit bestimmten Aufgaben die Ausübung unkontrollierter Herrschaft fördern, die strikte Isolierung der Gewalten vonein-ander die Lähmung des politischen Willensbildungs- und Herrschaftsprozesses befördern. Die Montesquieusche Lehre ist deshalb von den Gründervätern so inter-pretiert und in Verfassungsvorschriften umgewandelt worden, dass Blockierungen des politischen Prozesses bzw. überzogene Machtansprüche einer Gewalt zwar immer wieder auftauchten, aber stets wieder gezügelt werden konnten.

J. Madison bemerkte dazu: „Wenn Montesquieu sagt, es kann keine Freiheit geben, wo gesetzgebende und vollziehende Gewalt in ein und derselben Person oder in ein und derselben Körperschaft vereinigt sind, oder, wo die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden und von der vollziehenden Gewalt getrennt ist, so meint er damit keineswegs, dass die drei Zweige der Regierung untereinan-der auf ihre spezifische Tätigkeit nicht ein gewisses Maß von Einfluss ausüben oder einander nicht wechselseitig kontrollieren sollten."970

Amerikanische Politik ist stets von der Rivalität zwischen Kapitol und Weißem Haus geprägt worden. Einer Rivalität, die nicht zuletzt der teils unscharfen ver-fassungsrechtlichen Zuweisung oder Abgrenzung von Kompetenzen zuzurechnen ist. Regierung und Parlament wurden und werden geradezu eingeladen, sich um die Führung der Politik (im besonderen Maße der Außenpolitik) zu streiten. Der Gang der amerikanischen Geschichte ist durch zyklische Wechsel zwischen der Vorherrschaft einmal des Kapitols, dann wieder des Weißen Hauses gekennzeich-net.

der Administration stellt einen anderen wichtigen Gegenpol zu den präsidentiellen Prä-rogativen dar. Die Verfassung der USA gebietet gemäß Artikel I, § 6. par 2 auch strikte Unvereinbarkeit von (Regierungs-)Amt und (Parlaments-)Mandat.

9 6 9 Ein Umstand, der aktuell bei der Frage von Trade Promotion Authority, insbesondere für die Verhandlungen im Rahmen der Doha Development Agenda eine Schlüsselrolle beansprucht.

9 7 0 Siehe Federalist, Artikel 47

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 335

Bereits in den Gründerjahren entzündeten sich Konflikte zwischen den Ge-walten bei der Umsetzung außenpolitisch relevanter Verfassungsnormen in die Regierungspraxis. Sie haben sich bis in die Gegenwart im Kompetenzstreit um Rechte im Bereich der Kriegführung (war power) und Befugnisse hinsichtlich des Eingehens internationaler Vertrags Verpflichtungen (treaty power) fortgesetzt."T|

cc) Die Ausgestaltung in der Europäischen Union972

Der europarechtliche Gedanke einer Duldung verwobener. nebeneinander gel-tender Rechtsordnungen scheint dem Verfassungsrecht zunächst fremd. Eine Ver-fassung sucht die verschiedenen Rechtsquellen in einem Geltungssystem derart zu ordnen, dass regelmäßig nur einer der - potentiell kollidierenden - Rechtssätze gilt. Sie unterscheidet zwischen der verfassunggebenden und der verfassten Gewalt, um jede Revolution durch staatliche Organe als Verfassungsbruch zu entlarven. Sie hebt die verfassunggebende von der verfassungsändernden Gewalt ausdrück-lich ab, um die Kontinuität der Verfassungsentwicklung in Inhalt und Verfahren zu gewährleisten. Sie ordnet die verschiedenen Gesetze in einem Rangverhältnis und deren Aussagen nach Spezialität und Priorität. Die Verfassung duldet tradi-tionell keine gleichrangigen, konkurrierenden Normen. „Schonender Ausgleich" und „praktische Konkordanz" harmonieren innerhalb des Verfassungsrechts, nicht zwischen Verfassungs- und Gesetzesrecht oder Verfassung und Vertragsrecht.

Gleichwohl: das moderne Verfassungsrecht anerkennt mittlerweile eine „offene Staatlichkeit"973, die den Staat zur Völkerrechtsfreundlichkeit und zur Mitwirkung

971 Die erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Exekutive und Legislative im Um-feld des Vietnam-Krieges in den sechziger und siebziger Jahren belegen dies. Was die treaty power anbelangt, das verfassungsrechtlich verbriefte Zust immungsrecht des Senats zu in-ternationalen Verträgen, so hat die Exekutive im 20. Jahrhundert immer wieder versucht, den Senat dadurch zu unterlaufen, dass sie statt Verträgen (treaties) Regierungsabkommen (executive agreements) geschlossen hat, die keiner Senatsmitwirkung bedürfen. Selbst so folgenträchtige Abkommen wie die von Jalta und Potsdam im Jahre 1945 sind dem Senat nicht zur Abst immung vorgelegt worden. Auch in den folgenden Jahrzehnten haben die Regierungen der USA zahlreiche militärische Gehe imabkommen mit anderen Staaten getroffen, von denen der Kongress zuweilen nichts gewußt hat.

972 Vgl. statt vieler R.A. Lorz, Der gemeineuropäische Bestand von Verfassungsprinzi-pien zur Begrenzung der Ausübung von Hoheitsgewalt - Gewaltenteilung. Föderal ismus, Rechtsbindung, in: P.-C. M ü l l e r - G r a f f / E . Riedel (Hrsg.), Gemeinsames Verfassungsrecht in der Europäischen Union. 1998, S . 9 9 f f . : H.-D. Horn. Über den Grundsatz der Gewal-tenteilung in Deutschland und Europa, in: JöR 49 (2001). S. 287 ff. Aus der Perspektive der amerikanischen Bundesstaatskonzeption bereits E. Fraenkel, Das amerikanische Re-gierungssystem. 2. Aufl. 1962. S. 106. Siehe des weiteren M. Sinwi. Der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaf ten im föderalen Kompetenzkonflikt. 1998. Zum „institutionel-len Gleichgewicht" R. Streinz. Europarecht. 6. Aufl. 2003. S. 217.

9 7 3 So etwa bereits K. Vogel. Die Verfassungsentscheidung des Grundgesetzes fü r die internationale Zusammenarbei t . 1964. S. 33 f.. 42 f. Siehe im europäischen Kontext auch

336 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

an der Europäischen Union verpflichtet974. In Deutschland beauftragt Art. 23 GG die staatlichen Organe, diese offene Staatlichkeit des Grundgesetzes in Richtung auf die europäische Integration nachhaltig fortzuentwickeln.975 Diese Offenheit für die Wahrnehmung von Hoheitsgewalt in Deutschland durch europäische Or-gane hat zur Folge, dass neben die staatliche Gewalt eine europäische Gewalt tritt, die ihre Legitimation, ihre Untergliederung und Mäßigung nicht nur im Binnenbereich des deutschen Verfassungsrechts findet. Vielmehr entsteht eine zur Wahrnehmung von Hoheitsbefugnissen berechtigte europäische Gewalt, de-ren Ziele und Handlungsweisen konträr zu denen des einzelnen Mitgliedstaates stehen können. Dementsprechend gehören Rechtskonflikte zwischen der Gemein-schaft und einem Mitgliedstaat zum europäischen Rechtsalltag. Nicht zuletzt deshalb steht die europäische Rechtsgemeinschaft vor der Aufgabe, diese Gewal-ten einander zuzuordnen, aufeinander abzustimmen und auf ein gemeinsames Maß auszurichten.

Der klassische Gedanke der Gewaltenteilung findet einen neuen Anwendungs-bereich.

Angelpunkt der klassischen Gewaltenteilung ist das Gesetz. Dieses wird inner-halb der Europäischen Union vom Rat beschlossen und dort über die Parlamente der Mitgliedstaaten demokratisch legitimiert. Würden nun die Mitgliedstaaten von der Kontrolle dieser Rechtsetzung durch einen ausschließlichen Entscheidungsvor-behalt der Europäischen Gemeinschaft ausgenommen, so wäre die demokratische Legitimationsgrundlage geschwächt.

Allerdings sind die Gemeinschaftsorgane ihrerseits funktionenteilend organi-siert und haben im EuGH ein Gericht, das allen Maßstäben eines Rechtspre-chungsorgans genügt.976 Dieses Gericht ist funktionell mit der Gerichtsbarkeit der Mitgliedstaaten verschränkt und teilweise funktional in die mitgliedstaatliche Gerichtsbarkeit eingegliedert.977 Die mitgliedstaatliche Rechtsordnung und die Gemeinschaftsrechtsordnung stehen ebenso wie die mitgliedstaatliche und die gemeinschaftsrechtliche Gerichtsbarkeit „nicht unvermittelt und isoliert neben-einander", sondern sind „in vielfältiger Weise aufeinander bezogen, miteinander

P. Kirchhof. Die Gewaltenbalance zwischen staatlichen und europäischen Organen, in: I. Pernice (Hrsg.), Grundfragen der europäischen Verfassungsentwicklung, Schriftenreihe Europäisches Verfassungsrecht, Band 4. Forum Constitutionis Europae - Band I, 2000. S. 37 ff.

974 Vgl. P. Badura, Arten der Verfassungsrechtssätze. Handbuch des Staatsrechts VII. 1992. § 160 Rn. 16.

9 5 Vgl. dazu K.-P. Sommermann, Staatsziel . .Europäische Union", in: DÖV 1994. S. 596 ff . ; C.Tomuschat, Die Europäische Union unter der Aufsicht des Bundesverfas-sungsgerichts, in: E u G R Z 1993, S. 489 ff.. 493.

9 7 6 Vgl. nur BVerfGE 73, 339 (367 ff.) - Solange II. 977 Vgl. insbesondere Art. 234 EGV. sowie BVerfGE 73, 339 (368).

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 337

verschränkt und wechselseitigen Einwirkungen geöffnet"978 . Damit ist der Auf-trag der Gewaltenzuordnung, Gewaltenbalancierung und Gewaltenkooperation definiert.979

In der vertikalen Gewaltenteilung steht die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen der Europäischen Union von denjenigen der Mitgliedstaaten bzw. subna-tionalen Einheiten im Vordergrund: bei der horizontalen Gewaltenteilung handelt es sich um die funktionale Rollen der EU-Institutionen, d. h. um die Frage, welche Institution ist das legislative, welche das exekutive Organ und wie stehen die Organe zueinander.

Grob gesagt geht es um den „politischen Überbau", dessen klare Ausgestaltung den latenten und immer heftiger werdenden Vorwurf des Legitimationsdefizits der Europäischen Union entkräften soll. Ein erster Schritt hierzu war sicherlich die Verabschiedung der „Europäischen Grundrechtscharta", der jedoch nicht als ausreichend erachtet werden kann.980

Aus unionsrechtlicher Sicht ruht die Europäische Union nach Art. 6 Abs. 1 EUV, aus gemeinschaftsrechtlicher Sicht die Europäische Gemeinschaft gemäß einem allgemeinen Rechtsgrundsatz auf dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit, als des-sen Teil sich der Grundsatz der Gewaltenteilung auffassen lässt. Zwar meidet der EuGH (noch) den Begriff der Gewaltenteilung. Er hat aber mit dem „insti-tutionellen Gleichgewicht" ein dem Grundsatz der klassischen Gewaltenteilung verwandtes Prinzip im Gemeinschaftsrecht entwickelt. Während das „institutio-nelle Gleichgewicht" die horizontale Aufteilung von Funktionen und Macht zwi-schen den Organen und Einrichtungen anspricht, greift das Subsidiaritätsprinzip ein Element der vertikalen Gewaltenteilung zwischen Gemeinschaft und Mit-gliedstaaten auf. Es liegt nahe, die auf gemeinschaftlicher Ebene aufgefundenen gewaltenteilenden und -hemmenden Regelungen und das im Grundgesetz (GG) verankerte Prinzip der Gewaltenteilung als einen einheitlichen Rechtssatz aufzu-fassen. der sowohl die Gemeinschaftsrechtsordnung als auch die innerstaatliche Rechtsordnung erfasst und umspannt. Es handelt sich nicht um ein gemeinschafts-rechtliches Gewaltenteilungsprinzip auf der einen und um ein mitgliedstaatliches

9 7 8 BVerfGE ebenda. 9 7 9 Der Rechtsmaßstab dieser Kooperation weist dem Europäischen Gerichtshof die

abschließende Entscheidungsbefugnis über die Auslegung des Vertrages zu und sichert durch den Gerichtshof eine möglichst einheitliche Auslegung und Anwendung des Ge-meinschaftsrechts im Geltungsbereich des Gemeinschaftsvertrages, vgl. BVerfGE eben-da. während die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte die Rechtsverantwortung für ihr Europaverfassungsrecht und die Beachtung des verfassungsrechtlich gebotenen Rechtsan-wendungsbefehls tragen. So wird für das Verhältnis von Europäischer Gemeinschaf t und Mitgliedstaat ein Gewal tenmonismus auf der einen oder anderen Seite vermieden.

9 8 0 Vgl. U. Guerot, Eine Verfassung für Europa. Neue Regeln für den alten Kontinent?, in: IP 2 /2001 . S. 28 ff.

338 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Gewaltenteilungsprinzip auf der anderen Seite, sondern um einen übergreifenden gemeineuropäischen Rechtssatz.

Die Trennung zwischen innerstaatlicher Rechtsordnung und „autonomer" Ge-meinschaftsrechtsordnung wird damit zumindest partiell überwunden. Die auf Gewalten- und Funktionentrennung zielenden Regelungen des Gemeinschafts-rechts und des innerstaatlichen Rechts sind Ausdruck eines rechtsordnungsüber-greifenden Grundsatzes der Gewaltenteilung.981

d) Identität und der Begriff der Nation

Ihren Appell, die Union nicht leichtfertig aufs Spiel zu setzen, begannen die „Federalists" mit einem inhaltlichen wie nahezu literarischen Paukenschlag: Es sei dem amerikanischen Volk vorbehalten, auf seinem Territorium eine Mensch-heitsfrage zu entscheiden, nämlich die, ob „ [ . . . ) menschliche Gemeinschaften wirklich dazu fähig [sindj, eine gute politische Ordnung auf der Grundlage ver-nünftiger Überlegung und freier Entscheidung einzurichten", oder ob sie „für immer dazu verurteilt sind, bei der Festlegung ihrer politischen Verfassung von Zufall und Gewalt abhängig zu sein."9 s : In Amerika stand erstmals das Expe-riment einer großräumigen Republik an. die sich noch dazu nicht dem Zufall, sondern dem erklärten Willen der Bevölkerung verdanken sollte. Das Modell vom Gesellschaftsvertrag, mittels dessen sich die Bürger eine frei vereinbarte Ordnung geben, hatte erstmals die Chance, Wirklichkeit zu werden.

' , s l Die rechtsordnungsübergreifende Natur insbesondere des Grundsatzes der Gewal-tenteilung erweist sich nicht zuletzt im vertikal gewaltenteilenden Subsidiaritätsprinzip. das auch eine Gewaltenbalance zwischen europäischen und staatlichen Organen schaffen will. Es weist über die jeweilige Rechtsordnung hinaus und setzt notwendigerweise die Existenz einer vorrangig und einer subsidiär zur Rechtsetzung berufenen Ebene voraus. Neben dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit, der den Grundsatz der Gewaltenteilung einschließt, findet man bei einem Abgleich von Art. 6 Abs. 1 EUV und etwa Art. 23 Abs. 1 Satz I GG das Demokrat ieprinzip und die Grund- und Menschenrechte, deren Beachtung wechsel-seitig von der jeweils anderen Rechtsordnung eingefordert wird. Das Demokratieprinzip, das Rechtsstaatsprinzip sowie die Grund- und Menschenrechte sind ebenfalls rechtsord-nungsübergreifende Rechtssätze, vgl. zum Rechtsstaatsprinzip auf dessen vergleichende Darstellung etwa mit der US-amerikanischen ..Rule of Law" in dieser Arbeit verzichtet wer-den muss, insb. P. Hüberle, Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 395 ff. m. w. N.; vgl. allgemein aus der Lit. P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip. 1986; ders., Der Rechtsstaat, in: P. B a d u r a / H . Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht II. 2001. S. 379 ff . ; K.Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat. 1997; E.Sarcevic, Der Rechtsstaat. 1996. Zur europäischen Ebene bereits E.-W. Fuss. Zur Rechtsstaatlichkeit der Europäischen Ge-meinschaften. in: DÖV 1964. S. 577 ff.: vgl. auch D. Buchwald, Zur Rechtsstaatlichkeit der Europäischen Union, in: Der Staat 37 (1998). S. 189 ff.; J. Schwarze. Rechtsstaatliche Grun-dätze für das Verwaltungshandeln in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, in: Festschrift für G .C . Rodriguez Iglesias, 2003. S. 147 ff.

982 Vgl. The Federalist, I. Artikel (Hamilton).

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 339

Indem die „Federalists" auf diesen Sachverhalt hinwiesen, appellierten sie an den amerikanischen Bürgerstolz. Damit hatten sie der Diskussion von vornherein eine Richtung gegeben, die kleinliches Kalkül geradezu verbot. Es ging nicht nur um das vordergründige Selbsterhaltungsinteresse, sondern darüber hinaus um eine Entscheidung von weltgeschichtlicher Dimension. Wie immer das Ergebnis dieser Entscheidung zu beurteilen ist - wer sich an einem Geschehen beteiligt weiß, mit dem ein Meilenstein in der Geschichte gesetzt wird, dem ist damit ein Motiv gege-ben, über den bloßen Augenblick, über das eigene kleine Leben hinaus zu denken. Mag man auch solchen Stolz auf das Mitwirken im Weltgeschehen als eine nur etwas subtilere Form der Befriedigung des Eigeninteresses deuten - auf jeden Fall verkörpert sich darin ein wenig mehr als die Sorge um das bloße Alltagsgeschäft, und dieses „Mehr" ist es wohl auch, das Begeisterung zu wecken vermag.1"' Große Ideen mobilisieren gelegentlich auch große Emotionen, und auf diese ist man bei der Durchsetzung von über den Tag hinausweisenden Zielvorstellungen nicht weniger angewiesen als auf einen klaren, nüchternen Verstand.

Doch die „Federalists" beließen es nicht bei der Beschwörung der großen Idee, sie bedienten mit ihrer Argumentation auch eine der verlässlichsten innermensch-lichen Kräfte: die Selbstbezogenheit. Indem sie versprachen, dass sich gerade durch das neue System das Eigeninteresse der Einzelstaaten und ihrer Bürger frei entfalten könne, forderten sie kein fundamentales Umdenken, sondern empfahlen ein neues Mittel für einen alten Zweck. So sind die Vorteile, die die Autoren einer neu konsolidierten Union zuschrieben, auch unmittelbar evident, weil von der Art, wie sie im Überlebenskampf zählen: Die Union der Staaten ermöglicht wirtschaftlichen Wohlstand und eine effizientere Sicherheitspolitik.''"4

9 8 3 Vgl. auch A und W.P. Adams, Einleitung, in: dies. (Hrsg.). Hamilton. Alexander. Die Federalist-Artikel. 1994. S. xxv i i f f . , x l iv f . sowie B. Zehnpfennig. Das Experiment einer großräumigen Politik, in FAZ vom 27. 11.1997. S. 11.

,yS4 Zu den ökonomischen Vorteilen zählt der Wegfall der Zollschranken, eine bessere Erschließung von Ressourcen, das Auffangen von Angebots- und Nachfrageschwankungen im gemeinsamen Markt und die Belebung des Außenhandels durch ein Warenangebot, das aufgrund der freien Rohstoff- und Warenzirkulation in der Union preislich und qualitativ auch für andere Nationen attraktiv wird. Was die Sicherheitspolitik angeht, so sahen die ..Federalists"in einer engen Union den Garanten für Frieden zwischen den Staaten wie auch zwischen der Union und anderen Nationen: schon die gemeinsame Stärke sollte andere davon abschrecken, nach dem bewährten Prinzip des ..divide et impera" zu verfahren und die Staaten gegeneinander auszuspielen. Bloße militärische Allianzen lehnten die Autoren allerdings ab. Wer erst im Krisenfall als Einheit auftrit t , hat vorher vielleicht politische Fakten geschaffen, die dann ein gemeinsames militärisches Vorgehen unmöglich machen, vgl. hierzu A. und W. P Adams. Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Hamilton. Alexander. Die Federalist-Artikel. 1994. S. xxvii ff. sowie M. Diamond. Democracy and The Federalist: A Reconsideration of the Framers ' Intent. in: American Political Science Review 53 (1959). S. 52 ff. In weiterem Kontext E.F. Miller, What Publius Says about Interests. in: Political Science Reviewer 19 (1990). S. 11 ff.

340 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Das amerikanische Nationalgefühl ist zweifelsohne - und nicht erst seit dem 11. September 2001 („United we stand." „We are all Americans.") - eines der stabilsten Bindeglieder innerhalb der Bevölkerung. Was die Menschen allgemein primär eint, nämlich eine Bedrohung von außen, spielte auch zu Zeiten der Verfassunggebung eine bedeutende Rolle. Schließlich hatten die Siedlerden Un-abhängigkeitskrieg unter Einsatz ihres Lebens gewonnen. Ein weiteres einigendes Element für das Identitätsgefühl war sprachlicher Natur, da sich trotz der Vielspra-chigkeit der aus allen Teilen Europas kommenden Einwanderer Englisch als die „lingua franca" durchsetzte. Schließlich verband die Siedler auch die Immensität der gemeinsamen Aufgabe, den weiten Kontinent zu erschließen, sich die Chan-cen nutzbar zu machen und die Gefahren zu überwinden. Gleichwohl wäre es ein Mythos, anzunehmen, das amerikanische Volk sei gleichsam mit unteilbarer Identität und Souveränitätsbewusstsein „geboren".985

Europäern fehlt die gemeinsame Sprache. Die „finalite politique", das Ziel einer Föderation von Nationalstaaten (zum Unterschied der „föderierten Nation" der USA) ist begründet auf dem (nie gänzlich illusionsfreien) Motto der „Einheit in Vielfalt". Trotzdem darf von einer „europäischen Identität"986 gesprochen werden. Letztere zu definieren ist zum ersten Mal in dem Dokument des Europäischen Rates in Kopenhagen 1978, sodann mit der Einsetzung des Adonnino Ausschusses in Fontainebleau 1984 versucht worden. Die Zielsetzung war freilich nicht, natio-nalstaatliche Identitäten in einem europäischen „melting pot" zu verschmelzen. Aber ebenso wie „life, liberty and the pursuit of happiness" (vgl. die Declaration of Independence, 1776) das umfassende amerikanische Lebensprinzip wurde, sind die Europäischen Gemeinschaften mit den Zielen Frieden, Wohlstand. Solidarität, Freiheit, und der Absicht. Europa eine aktive Rolle in der Weltpolitik zu geben, ins Leben gerufen worden.987

9 8 5 Siehe auch G. Burghordt. Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blick-winkel der USA. Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002. sowie J. Ellis. Founding Brothers. The Revolutionär^ Generat ion. 2002. Ch. „Generations: .So-vereignty did not reside with the federal government or the individual states; it resided with The People. Wha t that meant was anyone 's guess, since there was no such thing at this formative stage as an American .people4 ; indeed. the primary purpose of the Constitution was to provide the f ramework to gather together the scattered strands of the population into a more coherent collective worthy o f t h a t designation." Dem großen . .amerikanischen" Europäer A. Einstein wird inflationär folgender Satz zugeschrieben: „America is not a State, it is a continent. The Americans are not a people but the result of permanent immigration which has not yet come to an end."

9 8 6 Vgl. H. Haarmann (Hrsg.), Europäische Identität und Sprachenvielfalt , 1995; M.Schauer, Europäische Identität und demokrat ische Tradition. 1996: D.Scholz, Euro-pa - vom Mythos zur Union. Gedanken über die europäische Identität und die Aufgaben Europas nach Maastricht II. 19%. Vgl. auch E. Pache. Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, in: DVB1.2002. S. 1154ff: XV. Graf Vitzthum. Die Identität Europas, in: EuR 2002. S. I ff.

987 Der europäische Verfassungskonvent stand letztlich auch in diesem Kontext vor der Aufgabe. Europa den Bürgern näher zu bringen, die Identifizierung des Einzelnen

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 341

Die Demonstrationen gegen die Amerikaner vor und während des Irak-Kriegs verleiten zur Annahme, hier sei europäische Identität raumgreifend und in den Bevölkerungen stark verankert im Entstehen. Eine ähnliche Grundstimmung at-met das jüngste Europa-Manifest des Philosophen J. Habermas™* Man orientiert sich allerdings an Vorstellungen der Linken in den siebziger Jahren - gekoppelt mit einem ungebrochenen Vertrauen in das Steuerungsvermögen des Staates und unverhohlener Skepsis gegenüber jenem des freien Marktes. Den alten Kontinent als Antithese zur Neuen Welt zu definieren, drängte sich für Europa-Idealisten geradezu auf. Diese Haltung wirft jedoch Fragen auf: Unterscheidet sich Europa wirklich so grundsätzlich von Amerika, dass es sich durch diesen Gegensatz selber charakterisieren und die viel gesuchte Identität finden kann - im „Alles-nur-nicht-Amerikaner-Europäer"? Ist das westeuropäische Sozialstaatsmodell - anstelle der Karikatur eines „Neoliberalismus" nach Wildwestmanier - in seiner gegen-wärtigen und möglichen künftigen Verfassung für Europa tatsächlich attraktiv genug, um identitätsstiftend sein zu können? Wrie stark ist denn eine europäi-sche „Hochkultur", die gegen den Angriff des amerikanischen „Primitivismus" durch protektionistische Vorkehren geschützt werden muss? Ist Europa durch den Holocaust wirklich mehr „sensibilisiert" als ein Amerika, das während mehr als 200 Jahren der totalitären Versuchung widerstanden, zwei der übelsten Varianten bekämpft und besiegt und sich erst vor kurzem recht rabiat für vergessene Opfer der deutschen Judenvernichtung eingesetzt hat? Derartige europäische Identitäts-suche tendiert in eine Sackgasse zu münden. Das Misstrauen gegenüber Amerika mag in einem großen Teil der europäischen Öffentlichkeit derzeit stark sein und findet etwa in der amerikanischen Hegemonie- Mentalität im Rechtsgebaren sowie in Exklusivitätsansprüchen aller Art immer wieder neue Nahrung. Ein deutsch-französisches Direktorat für Europa träfe aber ebenso auf ausgeprägten Unwillen.

Die Aufnahme der neuen Mitglieder hat die Union bereits in wichtigen Teilbe-reichen belebt und sie aus ihrem gewohnten Trott gerissen. Es wird für Frankreich schwieriger werden, seinen Willen durchzusetzen, und Deutschland findet sich ebenfalls in einer neuen Position wieder, von der aus es bei Bedarf neue Allianzen und Zweckbündnisse schließen wird. Großbritannien hat dies in der Irak-Krise bereits instinktiv begriffen. Doch jene, die von einer Weltmacht Europa träumen, die mit Amerika „auf gleicher Augenhöhe" stehen könnte, finden im Konvents-entwurf wenig Konkretes. Die Außen- und Sicherheitspolitik bleibt dem Prinzip Einstimmigkeit unterworfen, und die nationalen Regierungen behalten sehr weit gehend die Kontrolle über Budgetgelder und Militär.

mit dem Einigungswerk zu erleichtern, den europäischen Bürger zum „stakeholder" der gemeinsamen Zukunf t zu machen. Ein symbolträchtiger Anfang war mit europäischer Hymne. Flagge und dem Euro gelungen.

9 8 8 Vgl. J. Habermas (mit J. Derrula), Nach dem Krieg: Die Wiedergeburt Europas", in: FAZ vom 31. Mai 2003. auch in: Blätter für deutsche und internationale Politik. Nr. 7 (Juli 2003) S. 877 ff.

342 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Die Mitgliedstaaten sind in ihren Verfassungswerten, den gemeinsamen Verfas-sungsüberlieferungen und der jeweiligen nationalen Identität989 zuweilen ausge-prägter typisch europäisch als die Europäische Union, die sich unter dem mehr oder weniger sanften Diktat der Wirtschaftsgemeinschaft eher am Globalen ausrichtet. P. Häberle sieht in „Europa i. e. S. der Europäischen Union bzw. der Römischen Verträge (1957) sowie der Verträge von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997), f . . . 1 durchaus schon ein Ensemble von Teilverfassungen" verwirklicht, wobei eine „VollVerfassung" im Sinne des klassischen Verfassungsstaates schon daran schei-tere, dass Europa kein „Staat" sei.990 Gleichwohl ist im gemeinschaftsrechtlichen Kontext der Verfassungsbegriff - wie oben dargestellt - von seinem traditionellen Staatsbezug zu lösen'"1 und einer neuen Wirklichkeiten gewachsenen Definiti-on zuzuführen. Ein Erwachsen in eine erneute „Verfassungsmoderne" auf den Fundamenten, unter der „Elternschaft" europäischer Verfassungsleitbilder, aber insbesondere auch im Bewusstsein amerikanischer Verfassungsgestaltung. Ein identitätsstiftendes Moment erscheint diesbezüglich nicht ausgeschlossen.

Eine weitere Frage (die aufgrund ihrer vordergründigen Loslösung vom gemein-schaftsrechtlichen Ansatz eher als Inkurs dient) im Kontext der unterschiedlichen Grundverständnisse umfasst die jeweilige Betrachtung der „Nation".

Hierbei ist zunächst zu konstatieren, dass die Nation in Europa während etwa zweihundert Jahren in gewisser und freilich höchst eingeschränkter Weise an die Stelle der Religion getreten ist. Die - wie bereits erwähnt - im 17. Jahrhundert der Staatlichkeit unterworfene Religion wurde als kriegsauslösendes Element ge-bannt. Kriege fanden nach diesem Zeitpunkt nicht mehr zwischen den Religionen, sondern zwischen den Nationen statt, aber die kriegsrelevanten Mechanismen waren durchaus vergleichbar. Die „Nation" war durch die Romantik ursprünglich als ein eher kulturelles Phänomen erfunden worden, und zwar als Reaktion auf die als zu intellektuell empfundene Aufklärung.992 Die romantischen Gegenwerte zur Aufklärung fanden im kulturell gedachten Begriff der Nation ihren Niederschlag. Für die abstrakten, aufklärerischen Ideen des Republikanismus brauchte die fran-

''s,< Aus der Lit. zur ..nationalen Identität": A. Bleckmann. Die Wahrung der nationalen Identität im Unionsvertrag, in: JZ 1997, S. 265 ff.; M. Hilf, Europäische Union und nationale Identität der Mitgliedstaaten, in: A. Rande lzhofe r /R . S c h o l z / D . Wilke (Hrsg.). Gedächt-nisschrift für Eberhard Grabitz. 1995, S. 1 5 7 f f : U.Haltern. Europäischer Kulturkampf. Zur Wahrung „nationaler Identität" im Unionsvertrag, in: Der Staat 37 (1998), S. 591 ff.; K. Doehring, Die nationale „Identität" der Mitgliedstaaten der EU. in: O. Duc u. a. (Hrsg.), Festschrift fü r U. Everling. 1995, Band I. S. 263 ff.

9 9 0 Siehe P. Häberle, Verfassung als Kultur, in: JöR 49 (2001), S. 125 ff., 132. 991 So auch P. Häberle, ebenda. 992 Die Aufklärung ging hauptsächlich von drei Prämissen aus. von der Vernunft , vom

Universalimus und vom Individualismus. Anstelle der Vernunft wurde in der Romantik die Emotion betont, anstelle der universalen Betrachtungsweise das Kleinräumige. das Besondere, die kulturelle Eigenart, und anstelle des Individuums die Gruppe.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 343

zösische Revolution nun aber einen identitätsstiftenden Rahmen. Der König, der als staatliche Identifikationsfigur („L'Etat c'est moi") gedient hatte, war abgesetzt worden war. In Frankreich wurde deshalb das kulturelle Phänomen der Nation in ein politisches umgewandelt, das nun plötzlich zur Bildung von „National-staaten*' beitrug. Die längst als Staaten formierten Länder Westeuropas (England, Frankreich. Spanien) wurden so in die Form staatspolitisch verstandener Nationen gegossen. Andere westeuropäische Nationalstaaten fanden erst später zu dieser Form.

Etwas gänzlich konträres ereignete sich in Amerika: formal wurde freilich ein Nationalstaat gegründet. Angesichts des umgekehrten Verhältnisses zwischen Staat und Religion lag das Fundament der nationalen Gefühle allerdings nicht im staatspolitischen Bereich, sondern im religiösen. Dieser transatlantische Unter-schied ist bis heute wirksam, wobei sich religiöse Vorstellungen heute auch und vor allem in moralischen Kategorien manifestieren.

Europäische Nationen begründen sich staatspolitisch. Die US-amerikanische Nation begründet sich weitgehend religiös und moralisch. Im Verständnis der Ver-einigten Staaten spielte das „Gute", für das diese Nation steht, von allem Anfang an eine zentrale und religiös begründete Rolle. In diesem Zusammenhang erweist es sich als banale Konsequenz: Wenn es das „Gute" gibt, muss es aber auch das „Böse" geben. Nach außen wird das Böse immer wieder mit Personen und Staaten identifiziert, und dies auch schon lange bevor die „Achse des Bösen" erfunden worden ist. Nach innen werden „böse" Menschen ausgegrenzt, gesellschaftliche Zugehörigkeit erlangt man nur durch das Bekenntnis zum „Guten". Hier liegt ein weiterer Grund für die Inkompatibilität von „existentieller Zugehörigkeit" nach europäischem Muster mit der US-amerikanischen nationalen Identität.

e) Das Demokratieprinzip - Anmerkungen

Die Verfassungsurkunde der USA enthält an keiner Stelle das Wort „demokra-tisch", eine Unterlassung, die nicht zuletzt aus einer unterschiedlichen Nutzung der Terminologie im ausgehenden 18. Jahrhundert zu verstehen ist/">x

Laut E. Fraenkel verstand man zur Zeit der Schaffung der Verfassung unter dem Wort „demokratisch" lediglich eine unmittelbare Demokratie, wie sie in antiken

w Von überragend kultureller Bedeutung für die Etablierung des demokrat ischen Gedankens ist neben aller wissenschaft l icher Ansätze bis heute die Lyrik W. Whitmans. Sein in erweiterten Ausgaben erschienenes Haupwerk „Leaves of Grass" (erste Ausgabe 1855. Ausgabe letzter Hand 1891 - 9 2 ) feiert ausdrucksstark den freien Menschen und das Ideal der amerikanischen Demokratie . Whi tmans Werk beeinflusste überdies die Lyrik Europas, besonders des Expressionismus. Er selbst sah manche seine Wurzeln wiederum dort, unter anderem bei Homer. Shakespeare und Goethe und im Pathos der italienischen Oper. Hierzu D. Reynolds. Walt Whi tmans America. A Cultural Biography, Neuausg. 1996.

344 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Stadtstaaten bestanden hatte und in einzelnen Schweizer Kantonen existierte.994

Eine auf dem Repräsentativsystem aufgebaute, das Prinzip der Volkssouveränität zum Mindesten theoretisch respektierende Verfassungsform nannte man ..Repu-blik". Nur unter Berücksichtigung dieses Sprachgebrauchs ist es voll verständlich, warum bei der Beratung und Ratifizierung der Verfassung mit solchem Nachdruck darauf hingewiesen wurde, dass die USA zwar ein „republikanisches", aber kein „demokratisches" Staatswesen darstellen sollten.995

Das demokratische Element im Prozess der politischen Willensbildung der USA wird durch die Tatsache gekennzeichnet, dass im Gegensatz zu Kontinental-europa die demokratischen Kräfte sich nicht gegen monarchische, aristokratische, bürokratische und militärische Kräfte durchzusetzen, sondern ausschließlich mit der Opposition einer sich in ihren Eigentumsrechten bedroht fühlenden wirtschaft-lichen Elite zu rechnen hatten. Zudem war der letztliche Sieg der demokratischen Kräfte nicht durch theoretisch abgeleitete Vorstellungen eines „Gesamtwillens" beeinfiusst, der die Geltendmachung von Partikularinteressen grundsätzlich aus-schließt. sondern als eine Erscheinungsform der Wahrnehmung der individuellen Interessen der sozial nicht differenzierten Siedler des neuerschlossenen Grenz-raums („frontier") in Erscheinung trat.

Die schrittweise Demokratisierung des amerikanischen Regierungssystems hat dessen rechtsstaatlichen und pluralistischen Charakter nicht beeinträchtigt (- eine Erkenntnis, die im Lichte aktueller amerikanischer Außenpolitik und darin strate-gisch verankerter „Demokratisierungs-Missionen" auch spiegelbildlich Aktualität beanspruchen könnte). Ebensowenig wie die Doktrinen Rousseaus den ursprüng-lichen Verfassungstext bestimmt haben, konnten die Theorien der Französischen Revolution die Fortentwicklung der Verfassungsordnung maßgeblich leiten.

Allerdings verbergen sich (auch) in den USA hinter dem Bekenntnis zur Demo-kratie zuweilen widerstreitende politische (und in der Demokratietheorie inflatio-när behandelte) Haltungen:

Eine plebiszitäre Vorstellung der Demokratie, die von der These ausgeht, dass jede staatliche Hoheitstätigkeit einen Ausfluss eines einheitlichen nationalen „Ge-meinwillens" darstellen und von ihm getragen werden solle, und eine pluralistische Vorstellung der Demokratie, die von der Vorstellung ausgeht, dass jede staatliche Hoheitstätigkeit die Resultate aus dem Kräftespiel der verschiedenen Gruppen-

994 E. Fraenkel, Das amerikanische Regierungssystem, i960 . S . 3 9 f f . sowie / / . Wasser; Die Vereinigten Staaten von Amerika . Porträt einer Weltmacht. 2. Auflage 1982 unter häufiger Bezugnahme auf Fraenkel.

9 9 5 Nach der Konzeption der amerikanischen Verfassung kann das Gemeinwohl nur durch das freie Zusammenspie l der Einzelinteressen erreicht werden. Hierzu sind Spiel-regeln erforderlich, die - zum Mindesten in der ersten Periode der amerikanischen Ver-fassungsgeschichte - sehr viel stärker durch rechtsstaatliche und pluralistische als durch demokratische Gedankengänge bestimmt waren.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 345

willen darstellen und von diesen gebilligt werden solle. Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert respektive seit den Tagen, in denen die „Federalist Papers" ver-faßt wurden, haben in den USA diese beiden Anschauungen der Demokratie wiederkehrend miteinander um die Vorherrschaft gerungen. Zuweilen hat dieses Ringen zu einer Art „Arbeitsteilung" geführt und bewirkt, dass die Ideologie der Demokratie auf der plebiszitären und die Soziologie der Demokratie auf der pluralistischen Grundvorstellung vom Wesen der Demokratie aufgebaut war.996

Die Frage, ob die Verfassung der USA eine republikanische oder eine demo-kratische ist. beantwortet R.A. Dahl wie folgt: „Madison meint Demokratie, wenn er repräsentativ, direkt oder indirekt durch das Volk gewählte, republikanische Regierung sagt."997

In Europa besteht „demokratische Identität" in der Wahl der Parlamente, zu der man in der Eigenschaft als Teil des Volkssouveräns berechtigt ist. US-Amerikaner erleben demokratische Identität weniger in diesem Bereich als darin, Rechte zu haben, auf die man sich jederzeit gerne zu berufen vermag, und die man als Einzelperson oder Vertretung eines Minderheitsinteresses vor Gericht einklagen kann. Demzufolge erhalten Recht und Justiz in den Vereinigten Staaten eine gänzlich andere Funktion als in Europa, nämlich letztlich eine in weiten Teilen politische.998

In Europa bedeutet übrigens „Politik" unter anderem, dass in den politischen In-stanzen, insbesondere in den Parlamenten um die Gesetzgebung gestritten wird: die so entstandene Rechtsordnung wird dem Staat anvertraut. In den Vereinigten Staa-ten wird um Rechte gestritten: der Staat schafft hierfür nur den äußeren Rahmen. Wenn in den Vereinigten Staaten die Auseinandersetzung um die Verteilung von Macht direkt - horizontal - in der Gesellschaft zwischen den Privaten stattfindet, und nur zu einem kleineren Teil im Parlament, so deshalb, weil den Gründervätern dieser Nation die Vorstellung eines „vernünftigen Gemeinwillens" fremd war, der in Europa der Staatsbildung weitgehend zugrunde liegt. Die „founding fathers" wollten eine möglichst staatsfreie Gesellschaft, in welcher die Machtverteilung zwischen Privaten oder allenfalls Minderheitsgruppen ausgehandelt wird, um Mehrheiten zu vermeiden, welche die Legitimation hätten beanspruchen können, den Staat zu stärken.

Die Frage nach den Erscheinungsformen des Demokratieprinzips in der Eu-ropäischen Union wird oftmals mittels der Benennung der Defizite beantwortet.

9 9 6 Vgl. zu alledem E. Fraenkel. Das amerikanische Regierungssystem, i960. S. 39 ff. 997 Vgl. R.A. Dahl. How Democratic Is the American Constitution. 2002. S. 5. 161. 9 9 8 Vgl. auch G. Haller. Recht - Demokra t ie - Politik. Zum unterschiedlichen Verständ-

nis von Staat und Nation dies- und jenseits des Atlantiks. Referat anlässlich der Tagung ..Die USA - Innenansichten einer Wel tmacht" , 7 . / 8 . Februar 2003 an der Katholischen Akademie in Bayern. München, http:/ /www.grethaller .ch/kaih-ak-muenchen.html.

346 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Die Literatur zu diesem Thema ist unüberschaubar999 , weshalb lediglich einige Schlaglichter geworfen werden sollen.

Zum einen: Der Inhalt einer Verfassung, ihr Entwicklungsstand bestimmt sich auch nach der Intensität von Gestaltungswillen und -vermögen der sie umge-benden oder schaffenden OrganeKl00, insbesondere aber einer sie einfassenden „demokratischen, pluralistischen Öffentlichkeit"10"1.

Die nationalstaatlichen Regierungen, die auch die Verfassungsentwicklung der Europäischen Union unter ihrer Kontrolle haben, sträuben sich weitgehend gegen eine Verminderung ihres Einflusses.1002 Solange der Union jedoch eine eigenstän-dige demokratische Legitimation fehlt, könnte der Einfluss der Regierungen auch aus normativen Gründen nicht rasch zurückgedrängt werden. Ohne europäische Medien, europäische Parteien und eine europäische öffentliche Meinung lässt sich das europäische Demokratiedefizit auch nicht durch bloße Verfassungsreformen abbauen.

Zum Zweiten besteht der Kern des viel beklagten „europäischen Demokratiede-fizits" indes darin, dass - bei wachsendem Anteil europäischen Rechts, das auf die nationalstaatliche Ebene durchgre i f t -d ie in den Mitgliedstaaten geltenden Partizi-pationschancen tendenziell entwertet werden. Die nationalen Parlamente sind nur noch begrenzt zuständig für die Entscheidungen, denen die Bürgerdann unterwor-fen sind; die nationalen Regierungen sind nur noch begrenzt zur Verantwortung zu ziehen; die Rechte und Kompetenzen der Länder (in den Bundesstaaten unter den Mitgliedstaaten) sind weder gegenüber „europäischem Z u g r i f f ' noch gegenüber der jeweils eigenen Bundesebene gesichert.

999 Vgl. etwa A. Bleckmann, Das europäische Demokratieprinzip. in: JZ 2001, S. 53 ff. . 57: D. Tsatsos, Die Europäische Unionsgrundordnung im Schatten der Effektivitätsdiskussi-on. in: JöR 49 (2001). S. 63 ff.. 69 ff. Vgl. auch J. Drexl tt. a. (Hrsg.). Europäische Demokra-tie, 1999: D. Thürer, Demokratie in Europa. Staatsrechtliche und europarechtliche Aspekte, in: O. Due u. a. (Hrsg.). Festschrift für U. Everling. 1995. Band 2. S. 1561 ff.: M. Kaufmann. Europäische Integration und Demokratieprinzip. 1997. Siehe auch P.M. Huber. Die Rolle des Demokrat ieprinzips im europäischen Integrationsprozess. in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1992, S. 349 ff.; I. Pernice. Maastricht. Staat und Demokrat ie , in: Die Verwaltung 29 (1993). S .449 ff.; H.H. Rupp, Europäische Verfassung und Demokratische Legitimation, in: AöR 120 (1995), S. 269 ff.; D. Murswiek. Maastricht und der pouvoir constituant. in: Der Staat 32 (1993), S. 191 ff.

1000 Es stellt sich allerdings die Frage, welchem Organbegriff Institutionen zuzuordnen sind, die eine Verfassung erst schaffen: Verfassungsorganc werden selbst in der Regel erst durch eine Verfassung gebildet.

1001 p Hüberle sieht diese demokratische - pluralistische - Öffentlichkeit als Beteiligte an Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung (Verfassungslehre als Kulturwissen-schaft . 2. Aufl. 1998. S. 235 ff. und in: Verfassung als öffentl icher Prozess. 2. Aufl. 1996. S. 198 ff.).

1002 Vgl. F. Scharpf. Die Politikverflechtungs-Falle: Europäische Integration und deut-scher Föderalismus im Vergleich, in: Politische Vierteljahresschrift . 1985. S. 323 ff.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 347

Zur Evaluation""3: auf europäischer Ebene sind die Beteiligungsmöglichkeiten der Bürger vom Umfang betrachtet mager und angesichts ihrer Relevanz dürftig. Auf Sachentscheidungen ist den Bürgern keinerlei Einfluss eingeräumt; unter per-sonellen Gesichtspunkten entsprechen die gewährten Möglichkeiten kaum dem Kriterium der „meaningful elections". Auch der Differenzierungsgrad der Beteili-gungsmöglichkeiten ist gering. Es findet keine Differenzierung nach Stadien des Entscheidungsprozesses statt; hinsichtlich der Entscheidungsebenen ist eher ein Minus zu konstatieren, da die europäische Ebene die Chancen effektiver Betei-ligung auf mitgliedstaatlicher Ebene verringert. Nur nach Sektoren gibt es eine gewisse Differenzierung, wenn auch nur informell: Über Anhörungen und den Zugang zu europäischen Politiknetzwerken gelingt es sektoralen Eliten, aber auch NGOs durchaus, den europäischen Entscheidungsprozess - ggf. sogar im Stadium des agenda-setting - zu beeinflussen. Zudem ist das Kriterium der Kontestier-barkeit nur marginal erfüllt. Der EuGH kann zwar gegen die Mitgliedstaaten angerufen werden, kaum jedoch gegen europäische Entscheidungen.1(104

Die Mitgliedstaaten bleiben abseits der EU-Regelungsbereiche weitgehend auto-nom. Mangels vertraglicher Kompetenzabgrenzung sind ihre Autonomiebereiche indessen nicht „gesichert"; auch verringert sich die Schutzwirkung mitglied-staatlicher Autonomiegarantien gegenüber ihren Untereinheiten. Dagegen werden individuelle Autonomieansprüche gegenüber mitgliedstaatlicher Politik durch De-regulierung sowie dank des Wirkens des EuGH tendenziell gestärkt.

Über das nationalstaatliche Veto sowie das Bemühen der Kommission um Einbeziehung organisierter Interessen ist die Inklusivität des europäischen Ent-scheidungssystems vergleichsweise hoch. Allerdings verfügen Bürger(-gruppen) und Interessenten über keine zuverlässige (einklagbare) Möglichkeit, Inklusion zu erlangen. Das Kriterium der „politischen Gleichheit" (ob nun wünschenswert oder nicht) ist definitiv nicht erfüllt. Weder im Europäischen Parlament noch (vermittelt) im Rat sind die europäischen „Völker" mit gleichem Stimmrecht vertreten.

Auch hinsichtlich der Angemessenheit des Entscheidungssystems für die Ge-sellschaftsstruktur sind Defizite zu vermelden: Das System berücksichtigt die große Heterogenität und mehrdimensionale Segmentierung nur unzureichend.1005

1003 Vgl. auch H. Abromeit, Ein Maß für Demokrat ie? Europäische Demokratien im Vergleich. Vortrag am Institut für Höhere Studien in Wien am 15. März 2001, 2001.

l o m Siehe aber Art. 230 EGV. loos pQ,- // Abromeit, Ein Maß für Demokratie? Europäische Demokratien im Vergleich.

Vortrag am Institut für Höhere Studien in Wien am 15. März 2001.2001. gilt das in zweierlei Hinsicht: „(1) Tiefe Segment ierung der Gesellschaft legt .konsoziat ive ' Entscheidungs-strukturen an der Spitze nahe. In der Tat verfügt nach Ansicht etlicher Beobachter die EU über alle wesentlichen Merkmale einer konsoziationalen Politie. vom .power-sharing at the top ' über das Prinzip der Proportionalität bis hin zur Autonomie der Segmente. Bei

348 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Die bisherigen Demokratisierungsversuche laufen weitgehend auf Parlamenta-risierung (und damit den Abbau der konsoziativen Elemente hinaus, setzen sie doch majoritäre an die Stelle von Konsenspolitik). Mehrheitsentscheidungen im Entscheidungszentrum werden aber weder der Heterogenität der Gesellschaft noch der Mehrdimensionalität der Segmentierung noch gar der „variablen Geometrie" europäischer Politik gerecht.

Die europäische Demokratie ist vor allem die Aufgabe der Bürger und der Politik in den Mitgliedsstaaten. Eine europaweite bzw. europäische Öffentlich-keit - von Fachleuten. Wirtschaft und Verbänden abgesehen - gibt es bisher in breiten Bürger- und Wählerschichten kaum. Es ist schwer vorstellbar, dass sich dies in absehbarer Zeit ändern wird - insbesondere angesichts der kommenden Erweiterungen der Union. Ohne eine europäische Öffentlichkeit würde aber auch eine weitere Stärkung des Europäischen Parlaments nicht vielmehr Demokratie als lediglich formale Zurechnung erreichen.

Die Charakterisierung des Demokratiedilemmas der Europäischen Union als Demokratiedefizit legt es nahe, das Defizit durch eine Stärkung des Europäischen Parlaments zu reduzieren. Weniger formal erscheint es, weiterhin darauf abzustel-len, dass in den Öffentlichkeiten der Mitgliedsstaaten und in ihren Parlamenten europäische Probleme und Fragen immer und transparent auf der Tagesordnung stehen, um die „Rückkoppelung" europäischer Politik an die Volksvertretungen der Mitgliedsstaaten zu gewähren.

Das wohltuende Bestehen des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts auf „lebendiger Demokratie"1006 in den Mitgliedsstaaten ist wahrscheinlich noch auf lange Zeit wichtiger für Europa als Straßburg oder rechtliche Dispute über Kompetenzvorschriften in Luxemburg. Nach dem zweiten Weltkrieg sind viele Demokratien pluralistischer, offener, sachlicher, weniger hierarchisch, fairer ge-worden. Von der Fortdauer dieser nationalstaatlichen Veränderungen hängt unsere Zukunft ab.

Am Ende des Verfassungskonvents von Philadelphia im Jahne 1787 wurde laut einer inflationär zitierten Anekdote B. Franklin von einer Mrs. Pawel gefragt: „Was haben wir denn nun, Doktor, eine Republik oder eine Monarchie?" Franklins

genauerem Hinsehen hapert es aber nicht nur an der Proportionalität; es fehlt vielmehr ein entscheidender Aspekt des Konsoziat ionaüsmus. nämlich die systematische Einbezie-hung auch, wenn nicht gar vor allem der mc/iMerri torialen Gesel lschaftssegmente. Das europäische Elitenkartell ist eindimensional territorial und damit . födera t iv ' : Machttei-lung. Proportionalität und Autonomie gelten nur fü r die Mitglied.v/««/en: Eliten aus den übrigen Segmenten sind nicht einbezogen, verfügen über keine Einspruchsrechte, setzen ihre Ansprüche am besten durch Liaison mit der einen oder anderen Regierung durch. (2) Der europäische Konsozia t ionaüsmus ist einseitig .bürokrat isch ' und gilt vor allem angelsächsischen Beobachtern als größtes Demokrat is ierungshindernis ."

1006 . .Maastricht-Entscheidung" (BVerfGE 89. 155).

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 349

Antwort war: „Eine Republik, wenn ihr sie bewahren könnt" („A republic if you can keep it"). Diese Aufgabe ist eine dauernde - auf beiden Seiten des Atlantiks. Im Falle Amerikas hat es u. a. einen Bürgerkrieg gebraucht, und dann noch viele Jahrzehnte, um eine integrierte Republik zu erreichen.

f) Inkurs: Verbreitung direkt demokratischer Elemente

Als prominentes Beispiel mit weit zurückreichender Tradition der Direktde-mokratie dürfen die amerikanischen Bundesstaaten angesehen werden, in denen teilweise seit der Gründungszeit direktdemokratische Mitbestimmungsformen praktiziert werden. Sie gelten daher wie die Schweiz als Pioniere der Direkten Demokratie."®7

Geografisch zeigt sich der Schwerpunkt in den USA vor allem im Westen und Mittleren Westen.1008 Nationale Referenden sind in der amerikanischen Verfassung nicht vorgesehen. Auf der Ebene der Bundesstaaten hat sich dagegen das Instru-mentarium der Direkten Demokratie, bis hinab auf die lokale Ebene, weitgehend durchgesetzt. In allen Bundesstaaten sind darüberhinaus auch Anordnungen von Volksabstimmungen aufgrund von Behördenbeschlüssen möglich („legislative referendum").

In einer aktuellen Bewertung europäischer Staaten rangiert die Schweiz an oberster Stelle, Liechtenstein folgt gemeinsam mit Italien. Slowenien und Lettland in der zweiten Kategorie.10119 Eine weitere Gruppe bilden Irland. Dänemark und Litauen, bevor in einer nächsten, niedrigeren Stufe die Slowakei, die Niederlande,

loo- g jk t zahlreiche Studien und Untersuchungen zur Direkten Demokratie in den amerikanischen Bundesstaaten, vgl. etwa R.J. Ellis, Democratic Delusions. The Initiative Process in America , 2002; L LeDuc, The Politics of Direct Democracy. Referendums in Global Perspective. 2003: L. LeDuc!R.G. Nieini!R Norris (Hrsg.), Compar ing Democra-cies. Elections and Voting in Global Perspective. 1996: S.L. Piott. Giving Voters a Voice. The Origins of the Initiative and Referendum in America. 2003: J. F. Zimmerman, The Re-ferendum. The People Decide Public Policy, 2001: C. Stelzenmüller, Direkte Demokratie in den Vereinigten Staaten von Amerika. 1994: LJ. Sabato!H.R. Ernst!B.A. Larson (Hrsg.), Dangerous Democracy? The battle over ballot initiative in America . 2001; vgl auch den Überblick zu direktdemokratischen Institutionen in den Gliedstaaten bei S. Xtöckli. Direkte Demokratie in den USA. in: JöR 44 (1996). S. 565 ff.

loos z w j s c h c n 1904 und 2002 nahmen Oregon mit 325 Abst immungen. Californien (279). Colorado (183), North Dakota (168) und Arizona (154) die Spitzenposition nach Zahl an Volksabstimmungen auf Bundesstaatenebene ein. vgl. D.M. Waters, Initiative and Referendum Almanac, 2003.

ioo<? p a s ini t iat ive&Referendum Institut in Amsterdam hat die 15 EU-Mitgliedsstaa-ten. die (damals) 13 Beitrit tskandidaten sowie die vier EFTA-Länder Island. Norwegen. Liechtenstein und die Schweiz hinsichtlich ihrer direktdemokratischen Qualitäten bewertet und rangiert. Als Qualifikationskriterien wurden die folgenden drei festgelegt: Existieren direktdemokratische Verfahren auf nationaler Ebene? Können solche Verfahren vom Volk lanciert werden, etwa in Form von Initiativen und Referenden? Sind obligatorische Rc-

350 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Frankreich. Spanien, Österreich und Portugal zu finden sind. Nach Großbritannien. Finnland, Estland und Belgien folgt erst Deutschland in einer Kategorie mit Island, Griechenland und der Tschechischen Republik. Die Schlusslichter sind nach Rumänien, Bulgarien und Malta letztlich Zypern und die Türkei.

Auf der Landkarte zeigt sich kein eindeutiger geografischer Schwerpunkt der Direkten Demokratie in Europa. Richtung Balkanländer und Osten mag vorder-gründig eine zurückhaltendere Einstellung zur Direkten Demokratie herrschen. Aber auch das ist kein durchgängiges Schema, da beispielsweise Lettland, die Slo-wakei und Slowenien zu den Staaten mit gut ausgebauten direktdemokratischen Rechten gehören.

Insgesamt kann im 20. Jahrhundert eine kontinuierliche Zunahme der direktde-mokratischen Entscheidungen auf nationalstaatlicher Ebene festgestellt werden.10,0

Dafür gibt es mehrere Gründe. Einerseits wurden in vielen Staaten im Verlaufe des 20. Jahrhunderts die Rechtsgrundlagen für direkte Volksbeteiligung geschaf-fen.1011 Andererseits wurde aber auch in Staaten, die dieses Recht bereits kannten, vermehrt davon Gebrauch gemacht. Gerade in Europa haben die staatlichen Neu-ordnungen im früheren Einflussbereich der Sowjetunion zu einer hohen Zahl von Abstimmungen über neue Verfassungen geführt. Eine zweite Abstimmungswelle ist schließlich mit dem europäischen Integrationsprozess verbunden, indem vor al-lem über den Beitritt zur Europäischen Union und über verschiedene europäische Verträge und insbesondere über die Einführung des Euro abgestimmt wurde. Der Europäische Verfassungsvertrag hat(te) bekanntlich weitere Volksabstimmungen auf nationaler Ebene zur Folge.

g) Das Verhältnis zwischen Recht und ..Moral", Souveränitätsverzicht

Nicht zuletzt die Auseinandersetzung um den Irak-Krieg verdeutlichte aber erneut, wie unterschiedlich Europa und die Vereinigten Staaten das Verhältnis zwischen Recht und Moral handhaben. Die Aufklärung hat im europäischen

ferenden vorgesehen? Im Ranking des Jahres 2003 rangierte Liechtenstein aus der Sicht des IR1 noch gemeinsam mit der Schweiz in der ersten Kategorie, wurde aber aufgrund der Erfahrungen rund um die Volksabst immung vom 16. März 2003 zurückgestuft . (Den Ausschlag für diese Zurückstufung dürf te die herausragende Stellung des Staatsoberhaup-tes geben, dem es freigestellt ist. vom Volk beschlossene Vorlagen zu sanktionieren. Im Zuge der Auseinandersetzung über die Verfassungsrevision drohte das Staatsoberhaupt auch tatsächlich damit, die ihm nicht genehme Gegenvorlage im Falle einer Volksmehrheit nicht zu sanktionieren.) Siehe zu alledem IRI Europe (Hrsg.). IRI Europe Country Index on Citizenlawmaking. A Report on Design and Rating of the I&R Requirements and Practices of 32 European States. 2003 sowie 2004.

1 0 . 0 In den Doppeldekaden ist die Zahl der Volksabst immungen von rund 50 (1901 -1920) auf e twa 350 (1981 - 2 0 0 0 ) gestiegen.

10 .1 Vgl. L LeDuc. The Politics of Direct Democracy. Referendums in Global Perspec-tive. 2003. S. 20 f.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 351

Rechtsdenken Recht und Moral getrennt. Die politische Auseinandersetzung über die Gesetzgebung stellt zwar verschiedene Moralvorstellungen gegeneinander, und diese werden in der Regel ausdiskutiert. Das daraus hervorgehende Recht ist jedoch moralisch neutral. Auch der Straftäter hat seine Würde, er ist nicht moralisch verwerflich, sondern nur rechtlich strafbar. Weltweit ist dieser aufklärerische Gedanke in den Menschenrechten umgesetzt worden. Das US-amerikanische Rechtsdenken scheidet demgegenüber Recht und Moral weit weniger extensiv. US-amerikanische Straftäter gelten als „moralisch schlecht." das US-Strafrecht kennt im Gegensatz zu Europa auch deutlich den Rachegedanken.

In Europa hat auch der Souveränitätsverzicht1012 der Staaten die Überwindung des moralischen Rasters von „gut und böse" ermöglicht. Wenn westeuropäische Staaten heute Interessengegensätze austragen, so qualifizieren sie sich gegenseitig nicht als „böse". Diese Kategorie ist definitiv überwunden. Ohne Souveränitäts-verzicht ist es nicht möglich, das Freund-Feind-Schema zu überwinden, und dieses wurzelt letztlich im moralischen Gegensatz von „gut" und „böse". Dieser Zusam-menhang ist wieder höchst aktuell geworden, indem die „Koalition der ,Willigen" nämlich eine moralische Kategorie darstellt, die mit .gut und böse ' operiert.10 ,3

Dies hat aber unter anderem zur Folge, dass der Intensitätsgrad der Freund-schaft mit den Vereinigten Staaten für nicht wenige gleichbedeutend ist mit dem Intensitätsgrad der Akzeptanz durch die Staatengemeinschaft ganz allgemein. Aus US-amerikanischer Sicht trifft dies zu. Aus europäischer Sicht ist es aber keines-wegs richtig, im Gegenteil: gerade in der deutschen (politischen wie öffentlichen) Diskussion geht man - zusammen mit zahlreichen Staaten in anderen Kontinen-ten - davon aus, dass man sich zunehmend auf eine Völkerrechtsordnung einigen wolle, auch indem man sich zunehmende Souveränitätsverzichte leisten würde.

Von Interesse ist nicht nur im Hinblick auf aktuelle Friktionsfelder im trans-atlantischen Verhältnis die zentrale Bedeutung des Völkerrechts und des Souve-ränitätsverzichtes, beides alte europäische Errungenschaften. Der Souveränitäts-verzicht der Staaten zugunsten einer völkerrechtlichen Ordnung wurde in Europa im Westfälischen Frieden 1648 begründet. Ein in seiner Wirkkraft ähnlich „glück-licher globaler Moment" ereignete sich in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts: Erstmals findet ein Prozess statt, der zu einer bislang tragfähigen

"" 2 Vgl. bereits P. Hiiberle. Zur gegenwärtigen Diskussion um das Problem der Souve-ränität. in: AöR 92 (1967), S. 259 ff. Siehe auch S. Oeter, Souveränität und Demokratie als Problem in der Verfassungsordnung der EU. in: ZaöRV 55 (1995), S. 659 ff.

1013 Durch die Terroranschläge vom 11. September 2001 ist das US-amerikanische Na-tionalgefühl zutiefst getroffen worden. In der Folge betrachteten die Vereinigten Staaten das in ihrer Nation verkörperte . .Gute" als so bedroht, dass alle anderen, universell gelten-den Werte daneben zurücktraten, so auch die Menschenrechte von Gefangenen, die des Terrorismus verdächtigt werden (Stichworte wie „Guantanamo" und ..Abu Ghra ib" sollen an dieser Stelle genügen).

352 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Friedensordnung führt, und zwar aufgrund des Souveränitätsverzichtes von Staa-ten, und nicht - wie vormals etabliert - als Resultat von Kriegen, etwa mittels Anordnungen der siegreichen Kriegspartei(en). Die Unterordnung der Macht un-ter das Recht hat sich in der Europäischen Union zum ersten Mal institutionalisiert und bildet letztlich das Fundament der europäischen Integration.

Manche heutige transatlantische Auseinandersetzung fand vergleichbar bereits während des Kalten Krieges statt, aber es war öffentlich weniger sichtbar, da sich die USA relativ „europäisch" zu verhalten wussten. Differenzen innerhalb der „westlichen Staatengemeinschaft" galt es weitgehend zu vermeiden. Seit 1989/90 ist jedoch in Washington ein Paradigmenwechsel festzustellen. Seit dem ersten Golf-Krieg wird die Liste der völkerrechtlichen Verträge immer länger, bei welchen die USA Abstinenz üben. Die Vereinigten Staaten sind offensichtlich immer weniger bereit, einen Souveränitätsverzicht zugunsten des Völkerrechtes zu leisten und sich in eine weltweite Ordnung einzugliedern. Der europäische Weg, die Macht ins Recht einzubinden, wird von den USA spiegelbildlich, gleichwohl retrograd begangen.1014

Für Europäer ist der erste, ursprüngliche und individuelle Souveränitätsverzicht zugunsten des Staates etwas so Selbstverständliches, dass dieser Gedanke im Bewusstsein meist nicht einmal mehr als eine eigene Kategorie existiert. An dieser Stelle greift erneut der Begriff der staatspolitischcn Identität der Europäer. Es ist dieser Kernpunkt der europäischen Ideengeschichte, den Generationen von Auswanderern in die Neue Welt im Namen einer „neuen Freiheit" ablehnten, um von nun an dieselbe Fragestellung aus einem Blickwinkel anzugehen, der sich nahezu diametral vom europäischen unterscheidet. In Europa erreicht man Freiheit und Sicherheit durch den ursprünglichen und individuellen Souveränitätsverzicht zugunsten der Staatlichkeit. In den Vereinigten Staaten geht man von einem anderen Freiheitsbegriff aus: man erstrebt die Freiheit von dieser Staatlichkeit.

Auch in aktuellen (außen)politischen Fragen geraten die beiden transatlantisch unterschiedlichen Freiheitskonzepte in Konflikt, ohne dabei einer gewissen Lo-gik zu entbehren. Mit dem Konzept der „Koalition der Willigen" erheben die

1014 Vgl. zu den Grundfragen des transatlantischen Verhältnisses (insb. mit Blick auf den Konflikt um das iranische Nuklearprogramm) K. T. zu Gutrenberg. Transatlantische Festigkeit gegenüber Iran. Keine Alternative zur einheitlichen Verhandlungsstrategie, in: NZZ vom 14 .9 .2005 , S. 5 sowie K.-T. zu Gurtenberg/R. Mützenich. Locken und Abschre-cken. Nur gemeinsam und mit einer Doppel-Strategie können Europa und die USA Iran zur Aufgabe des Atomprogramms bewegen, in: Süddeutsche Zeitung vom 24. 11.05, S. 2 und zuletzt dies., Es ist an Teheran, den nächsten Schritt zu tun. Iran ist es im Atomstreit nicht gelungen, die internationale Gemeinschaf t zu spalten, in: Financial T imes Deutschland vom 12 .6 .2006 : zudem: K.-T. zu Guttenberg, Vertrauen statt Marktgeschrei, in: Bayern-kurier vom 28. 1 .2006: siehe auch die Bundestagsreden des Verf. vom 16 .12 .2005 . vom 15 .3 .2006 . vom 1 0 . 3 . 2 0 0 6 sowie vom 6 .4 . 2006 (BT-Plenarprotokolle des jeweiligen Sitzungstages).

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 353

Vereinigten Staaten nämlich eine Art Freiwilligen-Ideologie nun auch auf die völkerrechtliche Ebene. Hinsichtlich des Souveränitätsverzichts ist eine klare Analogie feststellbar:

Nachdem die amerikanische Interpretation von „Freiwilligkeit" im individuel-len Bereich bedeutet, dass sich das Individuum keinen rechtlichen, und somit für alle gleichermaßen geltenden Vorgaben unterziehen will (um nicht auf seine sou-veräne „Ur-Freiheit" zugunsten einer gemeinsamen Rechtsordnung zu verzichten, wollen sich offensichtlich auch die Vereinigten Staaten in Zukunft offenbar keinen Vorabsprachen mit ihren Alliierten mehr unterziehen (da sie uneingeschränkte und absolute Souveränität beanspruchen und wenig Bereitschaft zeigen, auch nur den geringsten Verzicht auf diese Souveränität einzugehen). „Freiwilligkeit" nach amerikanischem Muster ist der Gegenbegriff zum individuellen Souveränitätsver-zicht, genau so wie die Freiwilligkeit im Sinne der „Koalition der Willigen" nach US-amerikanischer Vorstellung der Gegenbegriff zum Souveränitätsverzicht der Staaten darstellt.

h) Finalität - die Bedeutung von Grenzen und Erweiterung

Die im Zusammenhang mit der Erweiterung der Europäischen Union lebhaft, zuweilen unmäßig geführte Diskussion über die „Grenzen Europas" und die Finalität der Europäischen Union bietet ebenfalls Anlass zu einem Blick auf den amerikanischen Umgang mit vergleichbaren Fragestellungen. So wie heute nicht klar ist, wo die Europäische Union ihre geographischen Grenzen finden wird, war auch zum Zeitpunkt der amerikanischen Verfassunggebung nicht absehbar, wie groß der amerikanische Staat eines Tages werden könnte.

Die Amerikaner entschieden sich dafür, diese Frage offen zu lassen, und in jedem Einzelfall zu prüfen, ob ein Territorium Mitglied der Union werden kann.

Die Expansion auf dem nordamerikanischen Kontinent zählt zu den wichtigsten Determinanten der US-Geschichte. Zwei Aspekte dieses Prozesses griffen inein-ander: die Sicherung der eigenen Vorherrschaft gegen europäische Kolonialmäch-te (Monroe-Doktrin, 1823) und das ständige Verschieben der Siedlungsgrenze („frontier") nach Westen.10,5 Auch wenn das Leben der Siedler nur wenig mit dem

1015 Durch die Abtretung aller einzelstaatlichen Landansprüche an den Kongress. die rechtliche Vorbereitung weiterer Einzelstaatsgründungen (Northwest Ordinance) und den Kauf Louisianas von Frankreich (1803) war die Voraussetzung für die Erschließung des Westens geschaffen worden. Mit der Annexion von Texas (1845), dem Kompromiss mit England über Oregon und die nach dem Krieg mit Mexiko ( 1 8 4 6 - 4 8 ) vorgenommene Angliederung Kaliforniens und New Mexikos war Mitte des 19. Jahrhunderts die konti-nentale Expansion abgeschlossen. Dazu etwa das klassische Werk von S.E. Morison u. a., The Growth of the American Republic, 2 Bde.. 1930: vgl. auch A.M. Schlesinger, The Cycles of American History. 1986; historische Abrisse aus der deutschsprachigen Lit:

354 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

„Mythos des Westens" geniein hatte und die Bedeutung der „Frontier" für die Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft gelegentlich überschätzt worden ist, spielt sie für die „kollektive Identität" der Amerikaner bis heute eine wichtige Rolle.

Auch wenn sich die „Erweiterung" der USA bis an den pazifischen Ozean zu-gegebenermaßen durch den Zukauf bzw. die Einvernahme im Wesentlichen leerer Territorien vollzogen hat: Der Akzeptanz der Grundwerte und Gesetze der Union (etwa im Falle von Utah und Texas) kam dennoch zentrale Bedeutung zu. Hier darf durchaus eine Parallele zu der von der Europäischen Union verlangten Erfüllung der „Kopenhagener Kriterien" seitens der Beitrittskandidaten gesehen werden. Damit stellt die Europäische Union ebenso wie die USA die Bedeutung gemein-samer Werte, Rechtsnormen und Wirtschaftsverfassungen in den Mittelpunkt. Insoweit sich die USA an ihr eigenes „Erweiterungskonzept" gehalten haben, ist es ihnen gelungen, ganz unterschiedliche Territorien in ihr föderales System zu integrieren. Die Geschichte der USA zeigt zwar, dass es vermessen ist zu glauben, man könne aus einem notwendigerweise begrenzten historischen Blickwinkel heraus die zukünftigen Grenzen eines politischen Gemeinwesens absehen und festlegen, gleichwohl lässt sich aus diesem Argument im Umkehrschluss keine eigene Erweiterungsdynamik festschreiben.

i) Ausgewählte institutionelle Aspekte

Wer Amerika begreifen will, bemerkte A. de Tocqueville, muss vor allem seine politischen Einrichtungen verstehen. Weil aber die politischen Einrichtungen eines Gemeinwesens nur soviel wert sind, wie der in ihnen vorhandene Geist, kann man die Amerikaner nur begreifen, wenn man „die verschiedenen Meinungen, die unter ihnen gelten und [ . . . 1 die Gesamtheit der Ideen, aus denen sich die geistigen Gewohnheiten bilden"1016 zu verstehen sucht.

Die amerikanische Präsidialdemokratie unterscheidet sich in vielfältiger Hin-sicht von der in Europa, zumal in Deutschland vertrauten parlamentarischen Regie-rungsweise. Sie setzt auf Institutionentrennung, also auf die Unvereinbarkeit von (Regierungs-)Amt und parlamentarischem Mandat, wo hingegen im parlamenta-rischen Herrschaftssystem die Institutionen personell und funktional miteinander verzahnt sind. Mitglieder der Regierung normalerweise auch ein Mandat inneha-ben und Regierung wie Parlament wechselseitig unter bestimmten verfassungs-rechtlichen Voraussetzungen ihren Sturz bewerkstelligen bzw. eine Auflösungsor-der erwirken können. Das amerikanische System setzt dagegen auf Koordination der getrennt organisierten Institutionen im politischen Willensbildungs- und Ent-

H.R. Guggisberg. Geschichte der USA. 2. Aufl. 1988; P. Lösche. Amer ika in Perspektive. Politik und Gesellschaft der Vereinigten Staaten. 1989.

11116 A. de Toqueville. Über die Demokratie in Amerika , Neuauflage 1976. S. 332.

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 355

scheidungsprozess. Solche „formalen" Gegensätzlichkeiten zeitigen politische Konsequenzen: Die Vereinigten Staaten kennen im Allgemeinen weder Regie-rungskrisen im europäischen Sinne noch den bei uns häufig beklagten Prozess der Entmachtung des Parlaments durch den Exekutivapparat, weisen also insgesamt ein hohes Maß an politischer Stabilität auf.

Zudem: die USA haben mit dem Präsidenten einen Akteur, der mit einer Stimme spricht und über ein Entscheidungsinstrumentarium voll verfügt. Ent-scheidungen herbeizuführen ist auf beiden Seiten des Atlantiks langwierig; bei der Ausführung sind die USA indessen der Europäischen Union weit voraus. Dies ergibt sich nicht zwingend aus der Verfassung selbst, nach der dem Präsidenten, indirekt gewählt, kein umfassendes Machtmonopol zugedacht war, sondern ist ein Ergebnis der Verfassungsentwicklung. Der Gedanke, ob Europa mit einer vergleichbaren Exekutivspitze zu versehen sein könnte, ohne dass dabei die Fra-ge der Direktlegitimation unbedingt im Vordergrund stehen müsste, bleibt auch nach dem vorläufigen Scheitern des Verfassungsvertrages aktuell. Zweitens ist der Kongress kein Parlament, das die Exekutive wählt und stützt, sondern ein eigenes Machtzentrum, mit dem das Weiße Haus ständig verhandeln muss.1017

Ein interessanter transatlantischer Vergleich offenbart sich im Bereich institu-tioneller Fortentwicklungen. Als Beispiel dürfen hierbei das erst 1913 durch den Federal Reserve Act errichtete Federal Reserve System und das Europäische Zen-tralhank (EZB) - System dienen.1018 Die heute mit globaler Wirkkraft versehene Währung „Dollar" ist nicht, um mit R. Scliuman zu sprechen, „auf einen Schlag" entstanden. Zwar hatten die USA seit der Gründung eine „gemeinsame" Währung. Selbige bestand jedoch noch bis Ende des Bürgerkriegs aus etwa 10.000 unter-

"" Der amerikanische Kongress gilt heute mit Recht als die wohl stärkste Legislative der Welt. Das bedeutende Vorrecht des Repräsentantenhauses, das über die gemeinsame Gesetzgebung mit dem Senat hinausgeht, ist dabei das Budgetrecht, das dem Repräsentan-tenhaus nicht nur das alleinige Recht gibt. Finanzgesetze einzubringen, sondern auch das Budget aufzustellen. Das Repräsentantenhaus besitzt außerdem das wichtige Initiativrecht für die Handelsgesetzgebung, was aktuell bei der Frage von Trade Promotion Authority, insbesondere fü r die Verhandlungen im Rahmen der Doha Development Agenda eine Schlüsselrolle darstellt. Mit dem Senat schufen die amerikanischen Verfassungsväter dar-über hinaus eine äußerst mächtige und selbstbewusste Kammer, die mit ihren Kompetenzen im Bereich der Außenpolitik insbesondere für das Verhältnis zu Europa von enormer Bedeu-tung ist (- der derzeitige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses R. Lugar spielte eine in der europäischen Öffentlichkeit weitgehend unbemerkte, gleichwohl höchst bedeutsame Mittlerfunktion im europäischen Erweiterungs- und Annäherungsprozess -) und eine wich-tige Ergänzung der präsidentiellen Kompetenzen darstellt. Die Zust immungsbedürf t igkei l durch den Senat bei der Ernennung von Mitgliedern und hohen Beamten der Administration stellt einen anderen wichtigen Gegenpol zu den präsidentiellen Prärogativen dar.

i o i s Vgl. auch G. Burghardt. Die Europäische Verfassungsentwicklung aus dem Blick-winkel der USA. Vortrag an der Humboldt-Universi tät zu Berlin am 6. Juni 2002. Die in vielen Verfassungsstaaten eingerichteten Rechnungshöfe vergleicht H. Schulze-Fielitz, Kontrolle der Verwaltung durch Rechnungshöfe, in: VVDStRL 55 (1996). S. 231 ff.

356 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

schiedlichen Banknoten. Erst im Jahre 1914 wurden sie durch „Federal Reserve Notes", den „einheitlichen" Dollar, ersetzt. Ebenso gibt es strukturelle Ähnlich-keiten zwischen der Federal Reserve und dem EZB System: Das ..Board" besteht aus sieben Mitgliedern (das EZB Direktorium aus sechs) und zwölf Vertretern regionaler Distrikte (auch die EZB zählt gegenwärtig in ihrem Erweiterten Rat zwölf stimmberechtigte nationale Zentralbankpräsidenten), wobei der Präsident der „New York Fed" „geborener" Stellvertreter des „Fed Chairman" und perma-nent stimmberechtigt ist, während durch ein Rotationsverfahren nur vier weitere der zwölf regionalen Vertreter für jeweils ein Jahr ein volles Stimmrecht haben. Der wesentliche Unterschied in diesem Kontext zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union ist allerdings verfassungsgeschichtlicher Natur: während die monetären Zwänge erst 126 Jahre nach der Verfassungsgebung zur Gründung des Zentralen Währungssystems der USA führten, hat sich die Europäische Union eine „einheitliche" Währung und ein voll strukturiertes Zentralbanksystem zuge-legt. bevor der Prozess der Verfassungsgebung im eigentlichen Sinne überhaupt eingesetzt hat.

j) Europäische Grundrechtecharta - Bill of Rights

Der Diskussionsprozess um die Europäische Grundrechtecharta1"19 verdeut-licht bemerkenswerte Parallelen zu der amerikanischen Grundrechtsdebatte im 18. Jahrhundert1020 - allerdings mit umgekehrten Vorzeichen hinsichtlich der Rei-henfolge von Verfassung zu übergreifendem Grundrechtekatalog. Der europäische Grundrechtskatalog ist im Gegensatz zur „Bill of Rights" des Jahres 1789 und etwa auch des 13. Verfassungszusatzes von 1865 (Abschaffung der Sklaverei) inhaltlich schon vor einer „europäischen Verfassung" einvernehmlich beschlossen worden.

Auch in Europa polarisierten die Begriffe „Föderation" und „Verfassung" diese gegensätzlichen Zielvorstellungen wie seinerzeit - mutatis mutandis - den Konflikt zwischen „Föderalisten" und „Antiföderalisten" in der Entstehungsgeschichte der Vereinigten Staaten. So sei an dieser Stelle noch einmal daran erinnert, dass es im Verfassungskonvent von 1787 gerade auch um den Übergang von dem noch locke-ren vertraglichen Staatenbund von 1781, der sich allerdings auch schon „United States of America" nannte, zu einem relativ stark zentralisierten Bundesstaat ging, von den „Articles of Confederation and Permanent Union of the States . . . " zur noch lückenhaften „Constitution for the United States of America". Der Konvent von 1787 war noch der Auffassung, die Individualrechte seien ausreichend durch die einzelstaatlichen Verfassungen gewährleistet.1021 Vervollständigt wurde diese

1019 Vgl. oben B . I I .2 .0Ü) . 1020 Siehe hier /u bereits ausführlich oben unter B. I .4 .e) . 1021 Die „Föderalisten" plädierten zunächst für eine Verfassung ohne Grundrechte.

Hamilton. Madison und Jay vertraten in den Federalist Papers die Ansicht. Gerechtigkeit

IV. Die Bestätigung und Festigung des Verfassungsstaates 357

föderative Unionsverfassung zunächst schrittweise bis 1804 - insbesondere mit der „Bill of Rights" - und endgültig erst nach dem Bürgerkrieg mit den bürger-rechtlichen „Amendments" 13 bis 15 (1865 bis 1870). Erst dann waren nicht nur die Unionsregierung sondern auch die einzelstaatlichen Regierungen an die Bill of Rights gebunden.

k) Wertegemeinschaft Europa und USA -„ever closer union " und „ ever stronger union"

Während der europäische Einigungsprozess die Union auf den Raum des gan-zen Kontinents bis an die Grenzen Asiens und an den Nahen Osten auszudehnen imstande scheint und die Europäer vor neue, nicht nur wirtschaftlich-soziale sondern auch sicherheitspolitische Chancen und Risiken stellt, werden in der Diskussion über die Zukunft Europas die Fragen nach den gemeinsamen Werten und Zielen der europäischen Völker immer bedeutender. Bereits J. Monnet hatte mit seiner Formel der „ever closer union" diese Richtung vorgegeben und damit auf das amerikanischen Prinzip einer „ever stronger union" (J. Madison) eine charakterisierende Antwort formuliert. Dass sich die Union von einer Wirtschafts-zu einer Wertegemeinschaft mit weit mehr als nur wirtschaftspolitischen Aufga-benstellungen entwickelt und entwickeln soll, ist breiter Konsens, geplant war diese Entwicklung bei aller Legendenbildung nicht. Das vielfältige Mosaik aus Institutionen und Verträgen auf dem europäischen Kontinent ist hierfür beredter Ausdruck. Neben der Westbindung durch das transatlantische Verteidigungsbünd-nis (NATO) sei hier nur auf die OSZE und vor allem den Europarat hingewiesen. Letzterer, u. a. eingesetzt für Demokratie und Menschenrechte in Europa und mit Mitgliedern weit über die europäische Union hinaus bis hin zu Russland, kann in der Frage der Grund- und Menschenrechte mit der europäischen Union in einen Konflikt geraten, sollte sich die Grundrechtecharta bzw. der Grundrechtekatalog im Verfassungsvertrag negativ auf die Menschenrechtskonvention der Straßburger Organisation auswirken. Welche Werte letztlich die Menschen in der Europäischen Union verbinden sollen, wird noch Inhalt zahlreicher Debatten. Sicherlich prägen Traditionen und Kulturgeschichte der Völker diese Werte entscheidend mit. Über die Frage religiöser Werte entbrannte unlängst mit dem Aufnahmegesuch der Tür-kei und dem Beginn der Beitrittsverhandlungen ein heftiger Streit zwischen den Befürwortern einer christlichen und denen einer streng „überreligiösen Verortung" der europäischen Union.1 0"

und Freiheit seien ausreichend durch Gewaltenteilung und die repräsentative Demokrat ie gesichert: grundrechtl iche Abwehrrechte seien überllüssig, ja schädlich, ließen sie doch den Eindruck entstehen, das mit ihnen abgewehrte Verhalten des Staats sei eigentlich erlaubt und müsse erst verboten werden. Zudem würde so abgelenkt von der letztlich entscheidenden Gemeinwohlsicherung, dem Geist der Freiheit in der Bürgerschaft, der sich in demokratischer Selbstbest immung äußere.

358 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

„Frieden, ihre Werte, das Wohlergehen ihrer Völker fordern" und letztlich „nachhaltige Entwicklung auf der Grundlage eines ausgewogenen Wirtschafts-wachstums und sozialer Gerechtigkeit"1023. So definiert bereits Giscards Entwurf die Ziele der europäischen Union. Vielleicht werden die aus der Nachhaltigkeit abgeleiteten Prinzipien der Solidarität und Generationengerechtigkeit einmal die europäische Antwort auf das amerikanische Axiom und Ziel „life, liberty and the pursuit of happiness" (Articles of Confederation, 1776).

V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein Resümee

Es besteht eine merkwürdige Divergenz zwischen den Erwartungen und Forde-rungen jener „Europäer der ersten Stunde", die sich unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges für die politische Einigung Europas eingesetzt und das Projekt entworfen haben, und denen, die heute vor der Aufgabe stehen, das auf den Weg gebrachte Projekt fortzusetzen. Auffallend ist nicht nur das „Decrescendo" der rhetorischen Stimmlagen, sondern auch der Kontrast in den Zielsetzungen.1024

Während die „erste europakreative Nachkriegsgeneration" die „Vereinigten Staa-ten von Europa" im Munde führten und den Vergleich mit den USA nicht scheuten, hat sich die gegenwärtige Diskussion von solchen Vorbildern weitgehend gelöst1"25. Selbst der Terminus „Föderalismus" gilt manchen als anstößig.

Mit Habermas ist zu fragen, ob dieser Wechsel des politischen Klimas nur einen gesunden Realismus - als Ergebnis eines jahrzehntelangen Lernprozesses - aus-drückt oder eher einen kontraproduktiven Kleinmut, wenn nicht gar schlichten Defätismus.1026

Freilich lässt sich unsere heutige europäische Situation kaum plausibel mit jener der Federalists oder der Mitglieder der Assemblee nationale am Ende des 18. Jahrhunderts vergleichen oder eine klare Kohärenz herstellen. Damals waren die Verfassungsväter in Philadelphia und die revolutionären Bürger von Paris Initiatoren und Teilnehmer einer geradezu unerhörten, bislang nicht erfahrenen Praxis.

1022 Hier /u beispielsweise auch K.-T. zu Gullenberg, Turkey and the EU. We Need an Option Short of Füll Membership , in: European Affairs 6 (2005). S . 3 9 f f . ; ders.. Of fe r Turkey a .Privileged Partnership" Instead. in: International Herald Tribüne vom 15 .12 .2004: ders.. Privilegierte Partnerschaft . Jenseits von Entweder-oder: Eine Alternative z u m EU-Beitritt der Türkei, in: Die Welt vom 3. 1.2004.

1023 C O N V 528/03. 1024 Vgl. auch J. Habermas. Warum braucht Europa eine Verfassung?, in: DIE Z E I T

vom 2 8 . 0 6 . 2 0 0 1 , S. 7. 1025 Anders aber T. R. Reid. The United States Of Europe: The New Superpower and the

End of American Supremacy, 2005. 1026 Siehe J. Habermas (2001).

V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein Resümee 359

Die These von L Kühnhardt, dass eines der Hauptmotive bei der europäischen Verfassunggebung das Streben nach Unabhängigkeit gegenüber der USA sei, so wie diese sich mit ihrer Verfassung 1787 endgültig von Großbritannien und Europa emanzipieren wollten, lässt sich nur schwerlich als zulässige historische Analo-gienbildung interpretieren.102 Die sozialen, kulturellen, politischen Kontexte, in die die beiden Konvente eingebettet waren bzw. sind, machen jedoch die gravie-renden Unterschiede umso deutlicher: Während die „founding fathers" der USA eine Verfassung für etwa drei Millionen Menschen schmiedeten und hierbei große Handlungsfreiheiten genossen, wurde im EU-Konvent über eine Verfassung für über 400 Millionen Bürgerinnen und Bürger nachgedacht, von denen viele ganz unterschiedlich Ideen darüber haben, wie die Verfassung Europas aussehen sollte. Der EU-Verfassungskonvent war im Übrigen der erste Konvent des Internetzeital-ters und unterschied sich schon von daher (im Hinblick auf teilweise ausufernde Versuche der Einflussnahme über dieses Medium) ganz grundsätzlich von frühe-ren Konventen. Der Vergleich der Verfassunggebungsprozesse bleibt dennoch ein adäquates Mittel der Analyse des europäischen Verfassungsprozesses. Zwar steht die systematische Erforschung verfassungsgeschichtlicher Vergleichserfahrungen noch am Anfang, sie dürfte jedoch zukünftig gerade nach den Erfahrungswerten im europäischen Verfassungsprozess zunehmend forschungsrelevant werden.

Von den konföderierten Postkolonialstaaten mit ihrer gemeinsamen Geschichte unterscheiden sich die Nationen Europas mit ihren unterschiedlichen Traditionen. Kulturen und Wertvorstellungen, den vielfältigen Landessprachen und den his-torisch gewachsenen, verfassten Demokratien. Dennoch eint beide Prozesse die Unzufriedenheit mit der Ausgangslage: die existierenden Institutionen erwiesen und erweisen sich für kommende Aufgaben als zunehmend handlungsunfähig. So scheitert die Europäische Union wie schon damals die Konföderation beispiels-weise in der Frage der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (wie etwa im Fall der Irakkrise, in der die Europäischen Union - unter bemerkenswerter Mit-hilfe des deutschen Bundeskanzlers - keine gemeinsame diplomatische Strategie entwickeln konnte).

1. Vergleichende Anmerkungen zum Konventsverfahren

Der Europäische Konvent hat vom 28. Februar 2002 bis zum 18. Juli 2003 über die zukünftige Gestalt der Europäischen Union beraten. Der Konvent basierte als neuartiges, bislang nicht in den Europäischen Verträgen kodifiziertes Gremium auf den Erfahrungen, die im Rahmen des ersten Konvents zur Ausarbeitung einer Europäischen Grundrechtecharta gesammelt wurden.1028

1027 L. Kühnhardt, Der Verfassungsentwurf des EU-Konvents. Bewertung der Struktu-rentscheidungen. ZEI Discussion-Paper. 2003.

1028 Vgl. zu Struktur und Arbeitsweise des Konvents auch J. Meyer!S. Hartleif, Die Konventsidee, in: Zeitschrift fü r Parlamentsfragen. 2 /2002 . S. 268 ff . : P. Zimmermann-

360 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Im Schrifttum wird der Europäische Konvent auch als ein „parlamentarisiertes Vorbereitungsgremium" für die derzeit laufende Regierungskonferenz charakteri-siert. Dementsprechend handelt es sich beim Konvent weder nach seiner Zusam-mensetzung noch nach seinem Mandat um eine „souveräne" verfassungsgebende Versammlung im herkömmlichen Sinne.1029 Vielmehr basiert die nunmehr zum zweiten Mal angewandte Konventsmethode auf dem Wunsch der Mehrheit der maßgeblichen Akteure auf europäischer Ebene, bisherige, oftmals als intranspa-rent empfundene Entscheidungsmechanismen bei den in der Vergangenheit vor-genommenen Änderungen der Europäischen Verträge, wie sie bei den bisherigen, gemäß Art. 48 EUV zur Vertragsänderung ermächtigten Regierungskonferenzen zu beobachten waren, zu überwinden und gleichzeitig den Aspekt einer stärkeren Betonung der Bürgerbeteiligung hervorzuheben. Verfahrenstechnisch handelt es sich vor diesem Hintergrund um ein Gremium, das - anders als eine verfassungge-bende Versammlung im klassischen Sinne - lediglich Vorschläge zur Neufassung der bisherigen europäischen Verträge unterbreiten sollte. Die Letztentscheidung obliegt gemäß Art. 48 EUV nach wie vor der Konferenz der Regierungen der Mitgliedstaaten und den mit der Ratifizierung betrauten mitgliedstaatlichen Parla-menten (bzw. über ein Referendum der jeweiligen Bevölkerung).

Nicht nur in verfahrenstechnischer, sondern auch in funktioneller Hinsicht be-stehen deutliche Unterschiede zwischen Europäischem Konvent und verfassung-gebender Versammlung im herkömmlichen Sinne. So ist nicht die Neuschaffung einer (europäischen) Verfassung Aufgabe des Europäischen Konvents gewesen, sondern es ging um die „Weiterentwicklung des europäischen konstitutionellen Korsetts"1030. Gleichwohl gibt es auch Stimmen im Schrifttum, die auch in dem Konventsverfahren und dem hieraus resultierenden Arbeitsergebnis Anhaltspunkte für einen verfassunggebenden Prozess erblicken, der in eine staatliche Konstitutio-nalisierung Europas münden könnte. I0M Dabei besteht - wie bereits dargestellt1032-zumindest im juristischen wissenschaftlichen Schrifttum weitgehend Einigkeit dar-über, dass auch der - zum jetzigen Zeitpunkt absehbaren - künftigen Europäischen Union keine Staatsqualität zukommen wird. Demgemäß handelt es sich bei der jetzt vorliegenden „Europäischen Verfassung" nach fast einhelliger Auffassung um keine Verfassung im staatsrechtlichen Sinne, sondern nach Überzeugung der

Steinhart, Der Konvent: Die neue EU-Methode, in: Bürgerschaft l iches Engagement und Zivilgesellschaft. 2001. S . 6 5 ff.

1029 Vgl. etwa T. Oppermann. Eine Verfassung für die Europäische Union, in: DVB1. 2003. S. 1165 ff.

1030 S. Hohe. Bedingungen. Verfahren und Chancen europäischer Verfassungsgebung: Zur Arbeit des Brüsseler Verfassungskonvents, in: Europarecht. Heft 1 .2003 , S. 1 ff., 15.

1031 D a z u e twa H.-G. Dederer, Die Konstitutionalisierung Europas, in: Zeitschrift für Gesetzgebung. 2 /2003, S. 97 ff. Weitergehend W. Wessels, Der Konvent: Modelle für eine innovative Integrationsmethode, in: Integration, 2 /202 (2002), S. 83 ff., 91 f.

1032 Vgl. oben unter B . I I .2 . f )nn) (2) (d ) .

V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein Resümee 361

Verfechter eines erweiterten Verfassungsbegriffs um ein Vertragsdokument eige-ner Art, welches - wie schon die bisherigen Verträge! - die Verfasstheit eines supranationalen Gebildes mit von den Mitgliedstaaten abgeleiteter, auf den Bür-ger direkt einwirkender (supranationaler) Hoheitsgewalt zum Gegenstand hat und damit allenfalls in materieller Hinsicht eine „Verfassung" darstellen kann.1 0"

Der nun vorliegende Verfassungsfbzw. Grundlagen-)vertrag als solcher stellt in diesem Konstitutionalisierungsprozess der Europäischen Union lediglich eine (von bereits vielen vollzogenen) Etappe(n) dar und bildet damit weder Beginn noch Endpunkt dieser Entwicklung. Er unterscheidet sich deshalb auch funktionell von herkömmlichen Staatsverfassungen wie etwa der amerikanischen Bundesver-fassung. die jeweils mit ihrer Schaffung durch ein verfassunggebendes Gremium eine eigene, auf Vollständigkeit angelegte nationalstaatliche Verfassungsordnung „per Federstrich" in Kraft setzten. Während eine Staatenverfassung daneben ein staatliches Gemeinwesen auf der Grundlage des pouvoir constitutum, des Volkes, schafft, begründet der Verfassungsvertrag ausdrücklich eine „zwischenstaatliche Europäische Union der Bürger und der Staaten".

Dieser zentrale funktionelle Unterschied zwischen „EU-Verfassung" und Staats-verfassung kann auch nicht dadurch überdeckt werden, dass es - ebenso wie zwischen dem deutschen Grundgesetz (GG) und dem Verfassungsvertrag - zwi-schen beiden Dokumenten vielfältige „materielle Schnittmengen" wie etwa einen Grundrechtskatalog, bestimmte Staats- bzw. Unionsziele oder aber bestimmte insti-tutionelle Bestimmungen gibt. Zu berücksichtigen sind in diesem Zusammenhang immer die genannten funktionellen Unterschiede zwischen einem Staatswesen auf der einen und der supranationalen, zwischenstaatlichen Organisation auf der ande-ren Seite, denen insbesondere die entsprechenden institutionellen Bestimmungen stets Rechnung zu tragen haben. So ergibt sich etwa aus dem supranationalen, zwischenstaatlichen Charakter der Europäischen Union das besondere, durch das Prinzip des institutionellen Gleichgewichts geprägte europäische Institutio-nengefüge, bestehend aus Europäischer Kommission, Rat. Europäischem Rat und Europäischem Parlament, welches auf nationaler Ebene weltweit keinerlei Pendant findet.

Schon aus diesen Besonderheiten des vom Europäischen Konvent vorgelegten Dokuments wird die strukturelle Andersartigkeit auch dieses Gremiums im Ver-gleich zu verfassungsgebenden Versammlungen, wie sie etwa der Konvent um Philadelphia darstellte, deutlich. Auch wenn mit dem künftigen Vertrag über eine Verfassung für Europa der Prozess der Konstitutionalisierung der Europäischen Verträge vorangetrieben wird, ist dieser Prozess nicht mit der Verfassunggebung für einen Nationalstaat gleichzusetzen und mit der Arbeit des Konvents auch nicht abgeschlossen.

1033 So aber doch H.-G. Dederer ( 2003). S. 97 ff. , vgl. zur damit zusammenhängenden Funktionswandlung des Staates auch 5. Hobe (2003), S. 1 f.

362 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Eine derartige nationalstaatliche Konstitutionalisierung der bis dahin nur lose verbundenen amerikanischen Staaten war demgegenüber Aufgabe des Konvents von Philadelphia. Der Verfassungskonvent von Philadelphia bereitete im Jahre 1787 die amerikanische Bundesverfassung, vor. Die 55 Delegierten waren Ent-sandte der lediglich in der durch einen Bundesvertrag begründeten Konföderation von 1777 miteinander verbundenen amerikanischen Staaten. Obwohl zunächst nur zu dem Zwecke zusammen gerufen, Vorschläge zur Verbesserung der Konfö-derationsartikel des Bundesvertrags auszuarbeiten (hier besteht wenigstens eine „Initialanalogie"), entwarfen sie eine Bundesverfassung für die künftigen Ver-einigten Staaten.1034 Mit Inkrafttreten dieser Verfassung wurde aus einem losen Staatenbund ein neuer Bundesstaat, der - wie beschrieben - u. a. auf den Prinzipi-en der Gewaltenteilung und der Volkssouveränität beruht. Die Bundesverfassung trat nach ihrer Ratifizierung durch alle Einzelstaaten im Jahre 1788 in Kraft und begründete damit völkerrechtlich einen neuen Staat.

Der Ausgangspunkt der Verfassungsreformer in den 80er Jahren des 18. Jahr-hunderts ähnelte dem der Europäer heute. Die Zusatzartikel zu den „Articles of Confederation" mussten durch die gesetzgebenden Gewalten der damals 13 Staaten einstimmig angenommen werden. Dies brachte zwei unüberwindliche Hindernisse mit sich: zum einen die Maßgabe der Herstellung von Einstimmig-keit. wodurch ein kleiner Staat wie Rhode Island die Möglichkeit erhielt, eine von allen anderen Staaten gewünschte Reform zu torpedieren, und zum anderen die unwahrscheinlich anmutende Vorstellung, dass die gesetzgebenden Gewalten der Staaten sich einem Projekt anschließen würden, mit dem ihre eigene Machtposition erheblich geschwächt würde.

Die Verfassungsväter ersannen einen theoretisch wirksamen und zugleich poli-tisch nützlichen Ausweg aus diesem Dilemma. Die in den Artikeln der Konföde-ration enthaltene Einstimmigkeitsklausel sollte verschwinden. Der Staat Rhode Island hatte sich sogar „geweigert", überhaupt eine Delegation nach Philadelphia zu entsenden, sodass es letztlich absurd erschien, das Gelingen des Reformprojekts vom Veto dieses Staates abhängig zu machen. Durch die Aufgabe des Prinzips der Einstimmigkeit war es nun auch leichter möglich, auf die Bedingung der Annahme der Verfassung durch die Legislativen der Staaten zu verzichten. Statt dessen bat der Verfassungskonvent diese lediglich, jeweils einen Konvent zur Ratifizierung der Verfassung wählen zu lassen - bestimmte Gremien, die, so die Argumentation, das Volk unmittelbarer repräsentierten als die Legislative und so die Verfassung der Vereinigten Staaten als Ausdruck der Souveränität des Volkes verankern würden. Um die Entscheidung über die Verfassung eindeutig ausfallen zu lassen, durften diese Gremien nur über die gesamte Verfassung abstimmen, nicht über einzelne Artikel oder Bestimmungen. Natürlich durften sie auch Än-

1034 Vgl. H. Dippel. Das Zeitalter der Revolution (1763 - 1 7 8 9 ) , in: Geschichte der USA. 2001. S. 18 ff.

V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein Resümee 363

derungsvorschlüge einbringen. Die Föderalisten aber kämpften hartnäckig und erfolgreich dafür, dass seitens der einzelnen Staaten nicht die vorherige Annahme dieser Änderungsvorschläge zur Bedingung für die Annahme der Verfassung an sich gemacht wurde. Dieses Verfahren brachte zwei große Vorteile mit sich. Zum einen kam so eine vollkommen eindeutige Entscheidung zu Stande, was dem Pro-zess der Verfassungsgestaltung weitreichende Rechtmäßigkeit verlieh.1035 Zum zweiten bekräftigte der direkte Bezug auf die Souveränität des Volkes nachdrück-lich, dass es sich bei der Verfassung tatsächlich um das „Supreme Law of the Land" handelte - durch bloße Zustimmung des Kongresses und der Legislativen der Staaten hätte dies nicht erreicht werden können.

Der gesamte Prozess von der ersten Sitzung des Verfassungskonvents in Anna-polis im September 1786 bis zur Ratifizierung durch den 11. Staat, New York, im Juli 1788 nahm weniger als zwei Jahre in Anspruch. Man könnte kritisch anmerken, dass die Annahme der ersten zehn Zusatzartikel zur Verfassung den Prozess um weitere drei Jahre verlängerte, aber in Wirklichkeit stellten die Bill of Rights - wie oben bereits erwähnt - eher den Abschluss als einen wesentlichen Bestandteil des Prozesses dar. In ihrer Gesamtheit bleibt die Klarheit. Schnelligkeit und Effizienz dieser Pioniertat im Bereich der „Verfassungsschöpfung" beeindruckend.

Man vergleiche dies wiederum mit dem wesentlich weitschweifigeren, langwie-rigen, auf Verhandlungen beruhenden und öffentlichen Charakter der Beratungen in Europa. Fraglos ist dabei zu berücksichtigen, dass es wesentlich schwieriger ist, die Interessen und Sorgen so vieler verschiedener Nationalstaaten und Vertreter von über 400 Millionen Menschen unter einen Hut zu bringen.

Andere Unterschiede sind indes nicht weniger hervorstechend. Der amerika-nische Verfassungskonvent traf sich geheim und hinter verschlossenen Türen. Selbst nach der frühen Abreise einer Handvoll Delegierter, die abweichender Meinung waren und den sich anbahnenden Verfassungscoup leicht hätten zu Fall bringen können, drang nichts von den Verhandlungen nach außen. Der Konvent für die Zukunft Europas hingegen stand nicht nur unter regelmäßiger Beobach-tung der Medien und veröffentlichte auf seiner Webseite verschiedene Entwürfe und Protokolle, sondern arbeitete auch aktiv mit einer großen Zahl verschiedener nichtstaatlicher Organisationen und höchst aktiver Interessengruppen zusammen. Dies zeigt einen modernen Pluralismus, der weit über alle „expansiven" Gedan-ken J. Madisons hinausreicht. Der Einfluss dieser Vereinigungen ist allzu deutlich in der Liste der sozialen Rechte und (in Teilen) wohlmeinenden Leerformeln über die Ideale Europas zu erkennen, die der Verfassungsentwurf enthält. Hinzu kommt die Debatte über die Frage, ob ein Europa, das wesentlich säkularer ist als

1035 Diese wurde sogar seitens Rhode Islands und North Carolinas zugestanden - diese beiden Staaten hatten die Verfassung zunächst abgelehnt und damit sogar kurzzeitig die Union verlassen.

364 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

die Vereinigten Staaten, sich in seiner Verfassung auf das Erbe des christlichen Abendlandes berufen darf. " ' 6

Die tiefere Ursache der Unterschiede zwischen dem reibungslosen Ablauf der Ausarbeitung der amerikanischen Verfassung in den 80er Jahren des 18. Jahr-hunderts und der langwierigen Arbeit der Europäer heute aber ist letztlich in der grundsätzlich vorhandenen Mehrdeutigkeit des europäischen Verfassungsver-tragsentwurfs und allgemein des gegenwärtigen europäischen Konstitutionalismus zu finden.

Durchaus schwer vorstellbar ist, wie die politische Identität des neuen Gebildes „unter" dem Verfassungsvertrag aussehen soll. Kritiker behaupten, dass diese neue politische Vision der Gemeinschaft chronisch elitär, bürokratisch und tech-nokratisch ist und dass das im Entstehen begriffene neue Europa niemals in der Lage sein wird, patriotische Gefühle unter den Bürgern zu wecken, deren Leben es bestimmt. Der Verfassungsentwurf enthält nur marginale Aspekte, die diesen Vorwurf entkräften könnten.1037

2. Vergleichende Anmerkungen zu den Konventsergebnissen

Der Entwurf einer Verfassung für Europa käme wohl auch deshalb den Verfas-sungsvätern Amerikas vertraut vor, weil er das Potential in sich trägt, die Fehler der im November 1777 verfassten Artikel der Konföderation heraufzubeschwören.

In einem „transatlantischen Vergleich" bewegt sich der Verfassungsvertrags-entwurf irgendwo zwischen den 1776/77 formulierten Articles of Confederation und der ein Jahrzehnt später verabschiedeten Bundesverfassung der Vereinigten Staaten. So hat die Europäische Union keine Steuerkompetenzen, ebenso wenig wie damals der Kontinentalkongress nach den Artikeln der Konföderation. Die Kompetenzen der Europäischen Union im Bereich der Wirtschafts- und Sozial-politik hingegen reichen weit über das hinaus, was die Amerikaner in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts und wohl auch nach Ratifizierung der Verfassung der Vereinigten Staaten für möglich hielten. So behielten die amerikanischen Bun-desstaaten nach den Artikeln der Konföderation die volle Souveränität über die

1036 Hier /u ausführl ich unter C. II. u" Vielleicht sähe es anders aus, wenn die Mitgliedstaaten sich dazu entschlossen hät-

ten. einen allgemeinen Volksentscheid über die endgültige Version des Verfassungsvertrags anzuberaumen, anstatt sich in einem bunten Sammelsur ium von Verfahren zu verheddern, bei denen einige Staaten den Gesetzgeber entscheiden und andere eine Volksabst immung durchführen lassen wollen. Natürlich würde ein Verfahren ä la amerikanische Volkssouverä-nität im Jahr 1787 erhebliche Probleme mit sich bringen (obwohl die meisten europäischen Länder in dieser Beziehung wesentlich mehr Erfahrung haben als damals die Vereinigten Staaten), vgl. ausführlich A. Maurer!S. Schunz, Ratifikation durch Referendum. Europas Verfassung nach der Regierungskonferenz. SWP-Papier . 2003.

V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein Resümee 365

polizeilichen Aufgaben in ihrem Staat. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein blieb die Postzustellung die einzige Zuständigkeit des Bundes, von der die Amerikaner normalerweise direkt etwas mitbekamen.

Trotzdem besaß der Kontinentalkongress reale Kompetenzen in Bezug auf Krieg und Diplomatie, die klassischen Merkmale echter Souveränität. Der euro-päische Verfassungsvertragsentwurf hingegen beschränkt sich darauf, das neue Amt eines europäischen Außenministers zu schaffen, ohne die Möglichkeiten der Mitgliedstaaten, ihre eigene und unabhängige Außenpolitik weiter zu betreiben, in irgendeiner Weise einzuschränken. Die Bewegung zur Reform der Artikel der Konföderation Mitte der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts war unter anderem des-halb entstanden, weil der Kongresses sich als unfähig erwies, seine Aufgaben im Bereich der nationalen Sicherheit zu erfüllen, die eindeutig in seine Zuständigkeit fielen. Es erscheint weiterhin schwer vorstellbar, dass die einzelnen Mitgliedstaa-ten der Europäischen Union sich einer Bewegung anschließen, deren Ziel die Zentralisierung solcher Kompetenzen in der Union ist. da die europäischen Na-tionalstaaten sich vielfach ihrer (singulären) Rolle auf der weltpolitischen Bühne bewusst sind (Großbritannien und Frankreich dürfen als Beispiel genügen).

Der Verfassungsvertrag fällt also in vielerlei Hinsicht weit hinter den Zielset-zungen zurück, die vor mehr als zwei Jahrhunderten in Philadelphia formuliert wurden, und letztlich bleiben Verlauf und Eigenschaften der verfassungsmäßi-gen Veränderungen in Europa das, was T.Jeffersons Nachfolger J. Madison die „Geheimnisse der Zukunf t" nannte. Es wird sich zeigen, ob der verschlungene Pfad und sich in die Länge ziehende Prozess des Entwurfs, der Verhandlung, der Verabschiedung und Ratifizierung des fertigen Verfassungsvertrages letzten Endes etwas anderes hervorbringen wird als den klaren und eindeutigen Beschluss, zu dem die Beratungen der Amerikaner zwischen 1787 und 1791 gelangten. Wäh-rend dieser Debatten musste man sich von der Vorstellung verabschieden, dass Souveränität nur an Regierungen übertragen werden kann. Es erwies sich, dass alle rechtmäßig eingesetzten Regierungen - d. h. die der Bundesstaaten und des Bundes - ihre Daseinsberechtigung aus dem Willen des Volkes bezogen. Un-abhängig von möglichen weiteren Zielen einer „europäischen Verfassung" wird wohl der ursprüngliche Grundsatz der Volkssouveränität unangetastet bleiben.

Über diese und weitere Aspekte des historischen Vergleichs hinaus stellt sich die Frage, ob das europäische Verfassungsprojekt auch Ursachen für die momen-tan angespannten Beziehungen zwischen Europa und den USA deutlich machen kann. Vor mehr als dreißig Jahren wurden auf amerikanischer Seite die ersten Bestrebungen in Richtung einer Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als Vor-boten eines vereinigten Europa angesehen, das seinem Retter und Verbündeten jenseits des Atlantik nacheifern würde.1038 Heute darf man angesichts der Folgen

1038 Vgl. m.w. N. J. Rakove, Europe 's Floundering Fathers. in: Foreign Policy, 138/2003. S. 28 ff.: mit einigen (historisch) vergleichenden Gedanken R. R. Polmer. Das Zeitalter der demokratischen Revolution. 1970.

366 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

des Krieges im Irak, der Abkühlung der Beziehungen zwischen den USA und einiger europäischer Staaten sowie der Politik der Regierung G. W. Bush vielleicht fragen, ob der Prozess der Entstehung einer Verfassung auf beiden Seiten des Atlantik tatsächlich ein Beleg dafür ist, wie viel Amerikaner und Europäer ge-meinsam haben oder eher dafür, wie umfangreich und beständig die Unterschiede sind. Mancher historischen Betrachtung zufolge beseitigte einst die amerikanische Föderation die Rivalitäten, die in Europa noch durch Krieg und Diplomatie im Gleichgewicht der Mächte ausgefochten wurden. Es wäre nicht ohne Pikanterie, wenn es den Europäern also in absehbarer Zeit gelänge, eine Verfassung für eine Union zu schaffen, von der sich bis heute nicht wenige ein Gegengewicht zur derzeit größten (benevolenten) „Hegemonialmacht" der Welt erhoffen.

Im Vergleich zu den in Artikel I § 8 der US-Verfassung enthaltenen genauen Festlegung der Machtbefugnisse des Kongresses erscheint die Vorstellung von vage definierten ..Kompetenzen" dürftig. Gleichwohl können die ..Föderalisten" Europas mit Recht anfuhren, dass der europäische Verfassungsentwurf die im Rahmen der derzeitigen Vertragswerke bestehenden Unklarheiten bezüglich der Zuständigkeiten der Europäischen Union deutlich verringert. Darüber hinaus er-weitert die Verfassung die Bereiche, innerhalb derer die Kommission und der Rat Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit treffen können, und reduziert die Mög-lichkeiten einzelner Staaten, ihr Veto gegen bestimmte Handlungen einzulegen. Indessen verbleibt ein wesentliches Merkmal der Souveränität - die Gestaltung des Steuersystems - im Zuständigkeitsbereich der Mitgliedstaaten, ebenso wie die Umsetzung der nicht enden wollenden Flut an Verordnungen aus Brüssel den Mitgliedstaaten obliegt. In diesem Sinne scheint der Entwurf einer Verfassung für Europa den „Articles of Confederation" ähnlicher als der amerikanischen Verfassung von 1787.

Die Aufgabe der Konsolidierung der politischen Führung Europas ist heu-te im Vergleich eine weitaus vielschichtigere als die Bestimmung, der sich die Verfassungsväter Amerikas damals in Philadelphia gegenübersahen. Dies soll keinesfalls die Erfolge des Jahres 1787 schmälern - weshalb eine Betrachtung der jeweiligen Konventsmitglieder vermessen, aber gleichwohl bezeichnend ist: Im Entstehungsprozess der amerikanischen Verfassung beeindruckt nicht nur die große Ernsthaftigkeit, mit der ihre Verfasser sich dieser Aufgabe widmeten, son-dern auch die bemerkenswert einfallsreiche und kritische Weise, in der sie ihre profunde Kenntnis der Geschichte und politischen Philosophie mit ihren eigenen Erfahrungen verknüpften. Die Tatsache, dass es sich bei ihnen in den Augen mancher um einen „zusammengewürfelten Haufen rustikaler Provinzler"1039 han-delte, die an der Peripherie der europäischen Welt lebten, lässt ihren Erfolg umso erstaunlicher erscheinen.

1039 So J. Rakove. Europe* s Floundering Fathers. in: Foreign Policy. 138/2003. S. 28 ff.. 31.

V. Zwei Verfassunggebungsprozesse : ein Resümee 367

Allerdings boten sich ihnen auch einige Vorteile, die ihnen die Arbeit an einer Bundesverfassung erleichterten. Noch wichtiger ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die Mitgliedstaaten der Union zu keinem Zeitpunkt souverän im eigentlichen Wortsinn gewesen waren. Weder 1776 noch 1787 konnte man die amerikanischen Bundesstaaten als unabhängige souveräne Staaten betrachten, im Gegensatz etwa zu den Nationalstaaten des modernen Europa. Auch wenn sie einige grundlegende Hoheitsrechte ausübten, darunter die Befugnis zur Verab-schiedung von Gesetzen und Erhebung von Steuern, beanspruchten sie zu keinem Zeitpunkt Souveränität im internationalen Sinn. Bereits zu Anfang der Revoluti-onskrise im Jahr 1774 besaß der Kongress das Monopol über die Bereiche Krieg und Diplomatie.

So war auch die für den „romantisch-raubgierigen" Nationalismus im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts so typische Hinwendung zum Nationalstaatsgedan-ken in den amerikanischen Staaten weitgehend unbekannt. Der Gegensatz zu Europa könnte an dieser Stelle kaum größer sein. Alle Mitgliedstaaten der Eu-ropäischen Union sind Nationalstaaten, die politische Souveränität ausüben und deren Völker selbstbewusst ihre eigene Geschichte bewahren. In vielen dieser Län-der könnte ihr im Vergleich mit den Vereinigten Staaten relativ neuer Status als Selbstverwaltungseinheiten (ein Umstand, an den allzu selten erinnert wird) den Widerstand gegen die Abtretung nationaler Souveränitätsrechte an die Brüsseler Bürokratie und in vielerlei Hinsicht „ferne" Abgeordnete des Europäischen Par-laments eher verstärken als abschwächen. Jeder europäische Nationalstaat pflegt eigene außenpolitische Beziehungen, und jedem dieser Staaten sind die Folgen bewusst, die entstehen können, wenn die Wahrung der eigenen Interessen nicht länger in gewohnter Weise möglich ist. Zudem sind die europäischen Völker Erben einer Geschichte, die ein so hohes Maß an Leidenschaften und Erinne-rungen birgt, dass das noch am ehesten heranzuziehende Gegenbeispiel in den Vereinigten Staaten dagegen völlig verblasst: nämlich die Bewahrung des Erbes der Südstaaten, welches sich typischerweise in der Zurschaustellung von Flaggen und Devotionalien der Konföderierten sowie in der eigentümlichen Weigerung äußert, anzuerkennen, dass es im amerikanischen Bürgerkrieg zuvörderst um die Abschaffung der Sklaverei ging.

Diese Bezugnahme auf nationale Interessen und Identität lässt sich auch über diese Staaten hinausreichend hinsichtlich zweier wichtiger Bestandteile des Ent-wurfs eines Verfassungsvertrags für Europa verdeutlichen.

Erstens werden die Mitgliedstaaten ungeachtet der Schaffung des Amtes des Außenministers der Europäischen Union, der gleichzeitig als einer der Vize-präsidenten der Europäischen Kommission fungieren soll, kaum ihr Recht auf Betreibung originärer Außenpolitik an die Europäische Union vollumfänglich abgeben. Der Verfassungsentwurf ist an dieser Stelle sehr unklar, aber auch die Überarbeitung des Entwurfs im Rahmen einer Regierungskonferenz der Mitglied-

368 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Staaten hat die Aussichten auf die Betreibung einer „europäischen Außenpolit ik" kaum verbessert.1040

Zum Zweiten lohnt ein Blick auf das Dilemma, das durch das Verfassungsver-trags-Verfahren an sich entstanden ist. Letztlich handelt es sich um Verhandlungen zwischen Nationalstaaten und ihren Regierungen, für die als formale (und „pro-jektgefährdende") Anforderung die Herstellung von Einstimmigkeit besteht. Der Konvent zur Zukunft der Europäischen Union selbst hat eine der wichtigsten Kri-terien der Amerikaner für die Herstellung der vollständigen Verfassungsmäßigkeit einer Verfassung erfüllt. Er traf sich ursprünglich als unabhängiges Gremium, das keine anderweitigen Zuständigkeiten oder Verpflichtungen hatte und theoretisch frei und ohne Rücksichtnahme auf einengende politische Loyalitäten bestimmen konnte, wie die politische Zukunf t am besten gestaltet werden sollte. Ab diesem Zeitpunkt aber unterlag der weitere Prozess den Manipulationsversuchen der Re-gierungen der Mitgliedstaaten, und die Rolle der europäischen Völker bei der Annahme der Verfassung versank zunächst in Ungewissheit.

Die Unterschiede zwischen der revolutionären Situation der Amerikaner im 18. Jahrhundert und der Situation, der sich Europa heute gegenüber sieht, sind grundsätzlicher Natur. Die amerikanische Verfassungsbewegung war in ihren Ursprüngen und Zielen durch und durch revolutionär: revolutionär in ihrer Zurück-weisung des britischen Autoritätsanspruchs im Jahr 1776. revolutionär in ihrer Bereitschaft zur Schaffung republikanischer Regierungen in den einzelnen Staaten und selbst dann noch bewusst revolutionär, als die Verfassungsväter versuchten, die Lehren, die sie aus der Unabhängigkeit gezogen hatten, auf das Problem der Bildung einer nationalen Regierung zu übertragen. Die Begeisterung der Europäer für die Revolution im eigentlichen Sinne war gewissermaßen mit dem „annus mi-rabilis" 1989 vorüber, genau zweihundert Jahre nach ihrer Geburt in Paris. Zudem hat das Projekt der europäischen Integration1"11 stets den Eindruck vermittelt, eher die Koordination unter den Staaten verbessern denn die eigentliche politische Integration erreichen zu wollen. Der rhetorische Reiz, der hinter der Tatsache steckt, dass man diesen neuen Schritt im Integrationsprozess als „Verfassung"

1040 Vielleicht wäre eine solche Änderung möglich gewesen, wenn nicht der Krieg im Irak die Arbeit des Konvents unterbrochen hätte. Dieses Ereignis erinnerte die Akteure schmerzlich daran, wie weit man noch vom Ideal einer gemeinsamen europäischen Au-ßenpolitik entfernt ist. Die Vorstellung, dass Briten. Italiener. Spanier oder Polen sich bereitwillig einer (damaligen) Außenpolitik anschließen würden, die den (damaligen) Ab-sichten der Franzosen und Deutschen entsprochen hätte, erscheint auch fü r zukünf t ig wechselnde Gestaltungen und Konstellationen vergleichbar abwegig.

1041 „Es gibt keine Hof fnung für Europa ohne Integration." (J . F. Dulles, Memo of Discussion at the 159lh Meeting of the National Security Council . 13.8. 1953, in: FRUS 1952 -195 4 . Bd. VII. 1. S. 502.) Diese Einschätzung kursierte in den Administrationen der amerikanischen Präsidenten Truman und Eisenhower von 1945 bis 1961. Erste Ansätze der Europäer, das traditionelle System der Nationalstaaten zu überwinden, fanden nachhaltigen positiven Widerhall in den Vereinigten Staaten.

V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein Resümee 369

bezeichnet, hat ihren eigentlich graduellen Charakter nur abzuschwächen, aber nicht zu ändern vermocht.

Trotzdem: im Hinblick auf die Zukunft einer europäischen Verfassung mag man sich der bisherigen Erfahrungen erinnern, um mit einer gewissen Gelassenheit den nun anstehenden Ratifikationsprozess zu begleiten. Andere werden gerade dadurch in ihrer demokratietheoretischen Skepsis gegenüber der Europäischen Union gestärkt werden. Wichtiger noch ist zunächst einmal, dass es keinen De-terminismus hinsichtlich des Ausgangs der anstehenden Ratifikationsvoten gibt, der sich aus irgendeiner Tradition der politischen Kultur eines der 25 (bald 27) Mitgliedsländer ableiten ließe. Und selbst wenn sich im ersten Anlauf die Ratifi-kationshürde als zu hoch für die Realisierung der ersten europäischen Verfassung erweisen sollte: Nach aller Erfahrung in und mit der Europäischen Union könnte es am Ende immer noch den Weg des Umwegs geben, um zum Ziel zu gelan-gen - wie so oft in der Vergangenheit, auch wenn alle Demokratiedogmatiker und Integrationstheoretiker sich um die Früchte ihrer Arbeit gebracht fühlen mögen. Europa ist eben insbesondere durch Krisen gewachsen und wieder und wieder durch Krisen gestärkt sowie gewissermaßen bestätigt worden.

3. Lehren für die Europäische Union aus dem Vergleich der Verfassunggebungsprozesse

Eine wichtige Lehre aus dem Vergleich beider Verfassunggebunsprozesse ist, nicht von der Verfassung als absoluter und einziger Quelle einer stabilen De-mokratie bzw. einer stabilen Ordnung der verfassten Einheit auszugehen. Das in der jeweiligen Verfassungswirklichkeit demokratisch verfasster Länder gege-bene Verhältnis von Markt. Parlamentarismus, Sozialstaatlichkeit und den darin enthaltenen Chancen zu einer lebendigen Demokratie ist vielmehr von Faktoren abhängig, die über bloße Verfahrensregeln hinausweisen: von der politischen Kul-tur. der Öffentlichkeit und von dem Bedürfnis der Bürger, in Freiheit und Frieden leben zu wollen.1042 Auf der anderen Seite sollte in aller Trivialität die Geschichte der US-Verfassung und ihre Popularität nach noch 215 Jahren den Europäern Mut machen, visionär zu sein und in der Verfassungsdiskussion langfristig zu denken.

Dazu gehört neben Geduld Kompromissfähigkeit. Die langfristige Dynamik einer Verfassung (auch eines Verfassungsvertrages) sollte nicht unterschätzt wer-den: können Ziele heute nicht erreicht werden, so muss das nicht das Ende eines großen Verfassungs- und Integrationskonzeptes bedeuten. Nichts spricht dagegen, dass die Verfassung Europas zu einem späteren Zeitpunkt noch verändert wird und verändert werden kann. Im Einzelnen sei an den „Great Compromise" erinnert: oft ist der „langfristige Nutzen eines Kompromisses zugunsten der schwächeren

1042 Vgl. auch R.A. Dahl. How Democratic Is the American Constitution. 2002. S. 3.

370 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

Mitglieder einer Gemeinschaft viel größer, als der kurzfristige Verlust an Macht und Einfiuss auf Seiten der Stärkeren"1043. In der Frage der Grundrechte sind die Europäer den Amerikanern im Zeitpunkt des Verfassunggebungsprozess voraus: sie wurden bereits beschlossen.

Eine weitere Ursache für die Verankerung der US-Verfassung im Bewusstsein der Öffentlichkeit war die andauernde Rezeption des Verfassunggebungprozes-ses, beginnend mit der öffentlichen Diskussion der Verfassungsfrage durch die Federalists. Dies sollte europäische Verantwortungsträger animieren noch stärker in die Öffentlichkeit zu treten als dies etwa en gros durch die Konventsmitglieder geschah und für ein höheres Maß an Transparenz aller europäischen Institutio-nen einzutreten. Im Hinblick auf die EU-Erweiterung sollte zudem gewährleistet werden, dass sich aufgrund der Größe der Union nicht die Perspektivlosigkeit eines 2-Parteiensystems einstellt, wie es in den USA der Fall war. Die Gefahr ist allerdings evident, dass viele der Parteien, die heute im Europäischen Parlament tätig sind, durch die Vielfalt ihrer Werte und Programmatiken zu regionalen Split-tergruppen degradiert werden und langfristig an Bedeutung verlieren. Gerade hier zeigt sich letztlich die Tragfähigkeit des Modells der europäischen „Einheit in Vielfalt". Zur Erhaltung der Handlungsfähigkeit und des dynamischen Motors Europas mit seinem komplexen Institutionengefüge sollte Europa mit einem lernen-den Blick über den Atlantik an der Verbesserung seiner Implementationsprozesse arbeiten, also seine Fähigkeit verbessern. Entscheidungen schnell durchzuführen, insbesondere mit Nachdruck die Herstellung außen- und sicherheitspolitischer Handlungsfähigkeit (entsprechend eines der Leitmotive der Federalist Papers) betreiben.

Die Einberufung des Verfassungskonvents von Philadelphia am 21. Febru-ar 1787 hatte nicht etwa die Ausarbeitung einer die Konföderationsartikel er-setzenden neuen Verfassung zum Gegenstand, sondern beschrieb das Mandat einschränkend als „for the sole and express purpose of revising the Articles of Confederation". Erst die außerordentliche Qualität der „Founding Fathers" und die Bereitschaft zum historischen Kompromiss ermöglichten die Einigung auf eine bundesstaatliche Verfassung. Dank der „Popularisierung" der föderalen Prin-zipien in den „Federalist Papers" nach Abschluss des Konvents erwies sie sich als ratifizierungsfähig. Wie beschrieben hing diese Ratifizierung in elf Staaten teil-weise an einem seidenen Faden, während zwei Staaten (Rhode Island und North Carolina) erst später, nach dem Inkrafttreten der neuen Verfassung hinzutraten. G. Burghardt fragt zu Recht: „Sollten sich unsere Verfassungsväter von dieser Ratifizierungsformel inspirieren lassen?"1044

1043 G. Burghardt. The Development of a European Constitution f rom the US Point of View. Berlin. Vorlesung vom 6. Juni 2002 an der Humboldt-Universität Berlin, w w w .eurunion.org/news/speeches/2002/020606gb.htm.

1044 G. Burghardt. Die Europäische Verfassungsentwicklung aus d e m Blickwinkel der USA. Vortrag an der Humboldt-Universität zu Berlin am 6. Juni 2002. S .42 .

V. Zwei Verfassunggebungsprozesse: ein Resümee 371

Gedankliche Parallelen sind zahlreich, wenngleich nicht immer kohärent. So ist es mehr die Einsicht in die nationale Unvollkommenheit, die die Zustim-mung zum Projekt Europa befördert, als wahre Überzeugung. Einer der hierfür bestimmenden Auslöser lässt sich allerdings nicht mit den Zuständen des vorkon-stitutionellen Amerika vergleichen - nämlich die überbordenden Komplexität und Unüberschaubarkeit der real existierenden Europäischen Union.

Ein weiterer Punkt: Der amerikanische Bürger konnte sich von Anfang an als Subjekt in einem Prozess fühlen, der argumentativ begleitet wurde, Selbstbetrof-fenheit erzeugte und daher auch von einer psychischen Dynamik getragen war. Der europäische Bürger, mit argumentativen Begründungsversuchen für Entscheidun-gen auf EU-Ebene nicht eben verwöhnt, empfindet wenig eigene Betroffenheit und bringt daher auch nur ein geringes Engagement für einen Prozess auf. dem er sich zunehmend als Objekt ausgesetzt sieht. Ein Mehr an öffentlicher Diskussion und kompetenter Argumentation wäre hier sicher nützlich, zumal der Zusammenhang zwischen Verfahren und Reaktion vielleicht doch anders ist als gemeinhin vermu-tet: Möglicherweise wird nicht so wenig argumentiert, weil das Interesse so gering ist, sondern das Interesse ist so gering, weil die Bürgersich nicht hinreichend ernst genommen fühlen.

Demzufolge ist eine weitere Lehre aus den Erfahrungen des Jahres 1787 für die heutigen Konstellationen, dass man für politische Ziele dieser Größenordnung gewisse Wagnisse eingehen muss. Wenn eine wirkliche Verfassung der Völker und Nationen das ist, was man dem Versprechen G. d'Estaings nach erreichen will, wird eine Reihe ausgehandelter Verträge nicht ausreichen. Das Interesse der Menschen am Europäischen Parlament ist marginal, wie der Wahlbeteiligung oder der Berichterstattung über das Parlament in den Medien unschwer zu entnehmen ist. Die Schaffung des Amtes eines ständigen Präsidenten des Rates und eines europäischen Außenministers wird zweifellos erhebliche Auswirkungen auf die Gestaltung der Politik und Koordinierung der Arbeit zwischen Rat, Kommission und Parlament haben.1045

Legitimität für die europäische Integration und für die Politik insgesamt er-wächst aus Prozessen, aber mindestens ebenso stark aus der inneren Annahme der inhaltlichen Ergebnisse des Konvents durch die Unionsbürger. Es ist demzufolge unumgänglich, dass nunmehr, nach dem Abschluss der Beratungen des Verfas-sungskonvents und im Rahmen des Ratifizierungsprozesses, eine europaweite öffentliche Diskussion über die Chancen und Erfordernisse eines sich langsam herausbildenden „europäischen Verfassungspatriotismus" beginnt. Die Vereinig-

1045 Aber die politischen Wirkkräf te dieser neuen Ämter sind in ähnlicher Weise pro-blematisch. Es geht letztlich um einen Präsidenten, der die durch den Rat miteinander verbundenen Regierungen repräsentiert, aber nicht die Völker, die diese Regierungen vertreten.

372 B. Verfassungserweckung und Verfassungsbestätigung

ten Staaten von Amerika können insoweit und in vernünftig gezogener Analogie durchaus zum Vorbild erwachsen.

Die amerikanische „Revolution" hat keine herausragenden philosophischen Entwürfe hervorgebracht.1046 Ihre Bedeutung für die Verfassungsgeschichte und die Geschichte der politischen Ideen liegt in der gelungenen Synthese europäi-scher Denkmodelle mit der politischen Praxis. Einer Synthese unterschiedlicher Schattierungen des europäischen Denkens, insbesondere der Aufklärung sowie der englischen politischen Tradition unter den eigentümlichen Bedingungen der amerikanischen Umgebung, die dem Einzelnen eine höhere Möglichkeit zur Selbst-bestimmung und Selbstentfaltung eingeräumt haben als diejenigen Europas.1017

Die Lehren herausragender Vertreter der europäischen Aufklärung und des Na-turrechts diente im ausgehenden 18. Jahrhundert bereits der Beschreibung der amerikanischen Realität, wohingegen es im zeitgleichen Europa weitgehend den Charakter eines normativen Postulats behielt.

Alexis de Tocqueville hat trotz aller kurz skizzierten Schwierigkeiten bereits 1833 die ungeheure Kraft und Dynamik der „Demokratie in Amerika" beschrie-ben. Europa, vielleicht die transatlantische Gemeinschaft wartet heute, mehr als 50 Jahre nach Beginn des europäischen Einigungsprozesses, immer noch auf den „amerikanischen de Tocqueville". Möglicherweise wird ein solcher erst aus einem tragfähigen Ergebnis des jüngsten europäischen Verfassungsprozesses die erforderliche Inspiration schöpfen.""8

1046 Dahingegen darf mit der notwendigen Bescheidenheit durchaus von einem Auf-keimen eines europäischen Pendants der „Federalist Papers" gesprochen werden. Die zahlreichen Beiträge der letzten Jahre zur Zukunft Europas, insbesondere die Schriften von Pernice. Häberle oder auch die Vortragsreihe des „Forum Constitutionis Europae" könnten mit einer (verbesserungswürdigen) Begleitung in der breiten europäischen Öffentlichkeit ein entsprechendes Werk abgeben.

1047 Den Gedanken der Verknüpfung praktischer Absicht mit den europäischen Strö-mungen der Geistesgeschichte betont auch W. Reinhard. Vom italienischen Humanismus bis zum Vorabend der Französischen Revolution, in: H. Frenske /D. Mer t ens /W. Reinhard/ K.Rosen (Hrsg.), Geschichte der politischen Ideen, aktualisierte Ausg. 1996. S. 241 ff.. 366.

1048 Lediglich J. H. H. Weiler dürfen zarte, der Selbstdarstellung nicht abgeneigte Geh-versuche auf dem steinigen Weg zu diesen Höhen attestiert werden, vgl. e twa ders .The Constitution of Europe. 1999.

C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und de r USA

I. Einleitung

W e n i g e T h e m e n haben w ä h r e n d de r B e r a t u n g e n d e s E u r o p ä i s c h e n Konven t s e ine so bre i te e u r o p ä i s c h e Öf fen t l i chke i t e r re ich t w i e die Frage d e s G o t t e s b e z u g s in de r P r ä a m b e l d e s „Vertrages über e ine Ver f a s sung f ü r E u r o p a " . 1 W i e schon im ers ten Konvent z u r E r a r b e i t u n g de r „ C h a r t a de r G r u n d r e c h t e de r E u r o p ä i s c h e n U n i o n " rief d ie kont roverse und l a n g w i e r i g e D i s k u s s i o n über d ie W e r t e b a s i s de r Eu ropä i s chen Union im Konvent un te r de r Le i tung d e s e h e m a l i g e n f r anzös i schen S t aa t sp rä s iden t V.Giscard d'Estaing v ie l fä l t ige R e a k t i o n e n de r pol i t i sch Bete i -l ig ten , d e r M e d i e n 2 , d e r na t iona len und e u r o p ä i s c h e n K i r c h e n v e r b ä n d e ' und de r e u r o p ä i s c h e n Z iv i l ge se l l s cha f t 4 hervor .

1 Die folgenden Ausführungen basieren auf einem Vortrag des Verf. in Wilton Park im Mai 2(X)4. für den die Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages wich-tige Grundlagenarbeit geleistet haben (WD vom 3.5 . und 13.5.2004). Vgl. nunmehr auch C. Mirabelli. The religious element in the Constitution for Europe. in: H.-J. Blanke/ S. Mangiameli (Hrsg.), Governing Europe under a Constitution. 2006. S. 133 ff.

2 So z. B. Frankfurter Rundschau v. 13. 11.2002: ..Die Quelle der Wahrheit, der Gerech-tigkeit. des Guten und des Schönen"; FAZ v. 16. 11.2002: „Gott in Europa": Süddeutsche Zeitung v .28 .1 .2003 : ..Segen lässt auf sich warten"; Die Welt v. 30. 1.2003: ..Gottloses Europa!", Schwäbische Zeitung v. 5 .2 .2003: ..Gott kommt bisher nicht vor" - ein Interview mit J. Meyer. FAZ v. 8 .2 .2003: „Vatikan vermisst Bezug auf Gott in den Entwürfen", Bay-ern Kurier v. 13.2.2003: „Europa streitet über Gott"; M. Wissmann. Ganz ohne Gott geht es nicht, in: FAZ v. 11.4.2003: FAZ v. 5 .6 .2003: ..Kritik in der Union am Konventsentwurf ' ; W. Schäuble, Für die Würde der Welt, in: Der Tagesspiegel v. 18.6.2003.

1 Vgl. die Gemeinsame Stellungnahme des Vorsitzenden der deutschen Bischofskon-ferenz und des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland zum Konvent zur Zukunft Europas v. Mai 2002: Gemeinsame Stellungnahme des Kommissari-ats der deutschen Bischöfe und des Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland anlässlich der Anhörung der Europaausschüsse des Deutschen Bundestages und des Bundesrates zum Europäischen Verfassungskonvent am 26 .6 .2002: Mitteilung des Präsidenten der Kommission der Bischofskonferenz der Europäischen Gemeinschaft (COMECE), Agence Europe v. 1. 11.2002. S .4 . Bischof J. Homeyer. Ja. der Gottesbezug wird kommen, in: Rheinischer Merkur v. 15.5 .2003. Pressemitteilung des Exekutivaus-schusses der COMECE v. 19.6.2003: ..Reaktion auf den EU-Verfassungsentwurf

4 Kritik an einem exklusiven Hinweis auf das Christentum wurde z. B. vom Europäi-schen Netz gegen des Rassismus (ENAR) geäußert. Agence Europe vom 14. 11.2002. Ahn-

374 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

Erwähnenswert erscheint eine Einschätzung P. Hüberies: „Soweit textlich vor-handen, repräsentieren Verfassungspräambeln (oder sonstige Verfassungsklau-seln) mit Gottesbezügen keineswegs eine ,überwundene ' , anachronitische, »aty-pische' Entwicklungsstufe, sondern eine mögliche kulturelle Variante des Ver-fassungsstaates."5 Auch aus diesem Grunde erscheint eine rechtsvergleichende Betrachtung im Rahmen zweier Verfassungshistorien nahezu geboten.

Im Folgenden wird sowohl die Debatte um die „invocatio Dei" im Verfas-sungsvertrag eine nähere Untersuchung erfahren als auch ein vergleichender Blick in die Vereinigten Staaten geworfen. Dies verknüpft sich schließlich mit einer Darstellung der Gottesbezüge der jeweiligen Einzelstaaten auf beiden Seiten des Atlantiks sowie mit einer Betrachtung etwaiger Gottesbezüge in den Verfassungen der deutschen Bundesländer.6

II. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas

Ausgangspunkt soll der (umstrittene) zweite Absatz der Präambel des am 18. Juli 2003 vorgeschlagenen Verfassungsvertragstextes sein:

„Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Europas, deren Werte in seinem Erbe weiter lebendig sind und die die zentrale Stellung des Menschen und die Vorstellung von der Unverletzlichkeit seiner Rechte sowie vom Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben".

1. Bisherige Regelungen im P r i m ä r r e c h t d e r Europä i schen Gemeinschaf t

Das geltende primäre Gemeinschaftsrecht enthält keinen Bezug auf Gott oder das Christentum. Spezielle Regelungen existieren dagegen zur Stellung der Kir-chen und zu den Religionen in Europa, darunter insbesondere:

lieh äußerten sich der Humanistische Verband Deutschlands (HVD. www.humanismus.de) und European Humanist Federation (EHF. www.humanism.be) . Eine spezielle Anhörung zum Thema „Wertegemeinschaft: Die Rolle der Kirchen in der Europäischen Union" führte der Europaausschuss des Landes Schleswig-Holstein am 23.8.20()2 durch. Die Bundestags-fraktion Bündnis 9 0 / D i e Grünen veranstaltete am 1 . / 2 . 2 . 2 0 0 3 eine Tagung zum Thema „Der Status der Religionsgemeinschaften im künft igen Europa". Vgl. auch M.H. Weninger, Europa ohne Got t? Die Europäische Union und der Dialog mit den Religionen. Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften, 2007.

? P. Häberle. Europäische Verfassungslehre. 4. Aufl. 2006. S. 276. 6 Siehe auch bereits P. Häberle, „Got t" im Verfassungsstaat?, 1987 (nunmehr in: ders..

Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992. S. 213 ff.) sowie ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft , 2. Aufl. 1998. S. 951 ff . mit der dort zitierten Kommentarlit .

375 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

- Art. 13 EGV. der den Rat ermächtigt, auf Vorschlag der Kommission und nach Anhörung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrung zu treffen, um Diskriminierungen unter anderem aufgrund der Religion oder der Weltanschauung zu bekämpfen7;

- das Gemeinschaftsgrundrecht der Religionsfreiheit als vom EuGH entwickelter allgemeiner Rechtsgrundsatz8,

- die Erklärung zum Status der Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften zum Vertrag von Amsterdam (Erklärung Nr. 11), mit der die Europäische Union sich verpflichtet, den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen sowie weltanschauliche Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, zu achten und nicht zu beeinträchtigen9.

2. Die Europäische Grundrechtecharta

a) Gottes bezug

Breiten Raum nahm die Frage eines expliziten Gottesbezugs während der Be-ratungen des Konvents zur Erarbeitung der Grundrechtecharta im Jahr 2000 ein10. Aufgabe des vom Europäischen Rat in Köln eingesetzten Gremiums war die Zu-sammenfassung der auf EU-Ebene geltenden „Freiheits- und Gleichheitsrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und der Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben.'"1 Im Zuge der damit untrennbar verbundenen

7 Vgl. A Epiney, in: C . C a l l i e s / M . Ruffert (Hrsg.), Kommentar zum E U V und EGV. 2. Aufl., 2002, Art. 13 EGV Rn. I: G.Jochum, Der neue Art. 13 EGV oder ..political cor-reetness" auf europäisch?, in: Z R P 1999, S. 280 ff . : S. Griller, Der Anwendungsbereich der Grundrechtscharta, in: A. Duschanek /S . Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa - Die Europäische Union nach Nizza, 2002. S. 147 ff.

8 Erstmalig anerkannt in: EuGH. Urteil vom 2 7 . 1 0 . 1 9 7 6 (Paris/Rat), Rs. 130/ 75 - Slg. 1976. S. 1589: vgl. auch /. Pernice. Religionsrechtliche Aspekte im europäischen Gemeinschaftsrecht , in: JZ 1977. S. I I I ff.

' ' Die Erklärung Nr. 11 ist nach Artikel 31 Abs. 2 des Wiener Übere inkommens über das Recht der Verträge verbindlich und bei der Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu beachten. Für das deutsche Recht ist die Erklärung vor allen mit Blick auf Artikel 4 Abs. 1 und 2 GG i. V. m. Artikel 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung von Bedeutung, der den Religionsgemeinschaften ein Organisations- und Selbstverwaltungsrecht zugesteht, denn gemäß der Erklärung bleibt diese Regelung durch das Gemeinschaftsrecht unberührt.

10 Hierzu ausführlich J. Meyer!M. Engels. Die Char ta der Grundrechte der Europäi-schen Union. Deutscher Bundestag. Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hrsg.), 2001. Vgl. auch J. Henard. Ehre sei Gott . . . in der EU. Deutschland besteht darauf , in: Die Zeit vom 2 .11 . 2000. S . 9 . Im weiteren Sinne W. Bausback, Religions- und Weltanschauungsfreiheit als Gemeinschaftsgrundrecht , in: EuR 2000. S. 261 ff.

" Schlussfolgerung Europäischer Rat (Köln). Anhang IV: Beschluss des Europäischen Rates zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte der EU, 4 . 6 . 1999.

376 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

Wertedebatte diskutierte der Grundrechtskonvent die Frage eines Gottes- bzw. Re-ligionsbezugs in der Präambel der Grundrechtecharta mit großer Intensität. Die vom Präsidium unter der Leitung von R. Herzog vorgeschlagene Ausgangsfor-mulierung des „kulturellen, humanistischen und religiösen Erbes" stellte sich während der Beratungen des Grundrechtskonvents als nicht konsensfähig heraus. Insbesondere die französische Regierung und die der Fraktion der Sozialistischen Partei Europas (SPE) angehörenden Konventsdelegierten sprachen sich gegen eine Bezugnahme aus, während die Delegierten der Europäischen Volkspartei (EVP) den Hinweis auf das religiöse europäische Erbe nachdrücklich einforderten.

Im Ergebnis blieb die politische Auseinandersetzung über den Religionsbezug im ersten Konvent ungelöst. Die letztendlich verabschiedete und in Nizza feierlich proklamierte Charta beginnt mit einer aus sechs Absätzen bestehenden Präambel. Im zweiten Absatz der deutschen Sprachfassung heißt es:

„In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität".

Dieser explizite Religionsbezug ist eine Besonderheit der deutschen Überset-zung und fehlt in den übrigen Sprachfassungen der Charta. Beispielsweise ist in der französischen Version der Chartapräambel statt dessen die Formulierung „patrimoine spirituel et moral" gewählt worden. Ebenso spricht die englische Fas-sung vom „spiritual and moral heritage". Die deutsche Übersetzung der Begriffe „spirituel" bzw. „spiritual" mit „religiös" muss wohl als Versuch gewertet werden, in der schwierigen Endphase der Chartaberatungen die divergierenden Positio-nen zu überbrücken. Die Sonderstellung der deutschen Fassung hat entsprechend intensive Kommentierungen provoziert12, wenn auch alle Sprachfassungen der Charta gleichermaßen Gültigkeit haben.

b) Kirchen und Religionen

Über ihre Präambel hinaus enthält die Grundrechtecharta die folgenden spezi-ellen Regelungen zu den Kirchen und Religionen in Europa:

- die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit in Art. 10 Abs. 1 EuGRC, der der Regelung des Art. 9 Abs. 1 EMRK entspricht13,

- das Recht der Eltern auf religiöse Kindererziehung in Art. 14 Abs. 3 EuGRC14;

12 Vgl etwa P. Beres, Die Char ta - Ein Kampf fü r die Werte der Union, in: S.-Y. Kaufmann (Hrsg.). Grundrechtscharta der Europäischen Union. 2001. S. 21 f.: H.M. Hei-nig, Die Religionen, die Kirchen und die europäische Grundrechtscharta, in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 2001. S . 4 4 0 f f „ 457; G. Robbers. Rcligionsrechtliche Gehalte der Europäischen Grundrechtscharta, in: H.W. A r n d t / M . - E . G e i s / D . Lorenz (Hrsg.), Kir-che-Staat-Verwaltung. Festschrift für Hartmut Maurer zum 70. Geburtstag. 2001. S. 425 ff.. 431.

377 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

- das Verbot der Diskriminierung aufgrund Religion oder Weltanschauung in Art. 21 Abs. 1 EuGRC, der sich an Art. 13 EGV und Art. 14 EMRK anlehnt15,

- die Pflicht zur Achtung der Vielfalt der Religionen nach Art. 22 EuGRC.

Im Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents ist die EU-Grundrechte-charta mit ihren Bestimmungen als Teil II aufgenommen und wird bei Annahme durch die Regierungskonferenz und Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten rechts-verbindliches und einklagbares Primärrecht werden.16

3. Der Entwurf des Europäischen Konvents

Allein drei der insgesamt 27 Plenartagungen des Konvents waren der Diskussion über die Werte und Ziele der Europäischen Union gewidmet.17 Da Konventspräsi-dent Giscard d'Estaing sich trotz der Skepsis des Konvents die Formulierung der Verfassungspräambel selbst vorbehielt und seine Erstfassung erst in der Endphase der Beratungen präsentierte18, wurde die Kontroverse zum Gottesbezug zunächst ohne konkrete Textvorlage des Präsidiums geführt.

Bereits im November 2()02 hatte die EVP einen kompletten Verfassungsent-wurf erarbeitet.1 ' Im Einklang mit diesem Entwurf brachte J. Wiirmeling, stell-vertretender Konventsdelegierter des Europäischen Parlaments, im Januar 2003 den Vorschlag in den Konvent ein. an zwei Stellen der Verfassung einen Gottes-bzw. Religionsbezug aufzunehmen20: Zum einen sollte der Hinweis auf das geistig-religiöse Erbe Europas Eingang in die Präambel finden, zum zweiten sollte an spä-

13 Vgl. zur Kommentierung von Art. 10 EuGRC z. B. N. Bernsdorff, in: J. Meyer (Hrsg.), Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. 2003. Art. 10 Rn. 1; ebenso die neuen Erläuterungen. C O N V 828 /103 v. 18 .7 .2003 .

14 Hierzu besteht mit Art. 2 S. 2 Zusatzprotokoll Nr. I ein EMRK-Referenzrecht . vgl. auch N. Bernsdorff (2003), Art. 14 Rn. 21.

15 Vgl. S. Hölscheidt. in: J. Meyer (Hrsg.). Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, Art . 21 Rn. 32.

16 Die Charta entfaltet bereits heute Ausw irkungen: Trotz ihrer rechtlichen Unverbind-lichkeit haben mehrere Generalanwälte des EuGH in ihren Schlussanträgen auf sie Bezug genommen. Auch das EuG weist in einem Urteil auf Art. 41 Abs. 1 der Charta hin. Im Einzelnen hierzu S. Hölscheidt JE. Mund, Religionen und Kirchen im europäischen Verfas-sungsverbund. in: Europarecht. 2003, S. 1083 ff.

' Plenartagungen am Tl. 2., 18.3. und 26 .3 .2003 . Die Wortprotokolle dieser Sitzungen sind unter http:/ /www.europarl .eu.int . /europe2004/index/de.htm. abrufbar.

18 C O N V 7 2 2 / 0 3 v. 28 .5 . 2003. 19 ..The Constitution of the European Union" vom 10. 11.202. EPP-Convention Group

Meeting in Frascati, abrufbar unter www.epp-ed.org. 2 0 . .Religiöse Bezugnahme im Verfassungsvertrag", C O N V 4 8 0 / 0 3 vom 31. 1.2003.

Mitunterzeichner waren u. a. die deutschen Konventsmitglieder M d E P E. Brök und Minister-präsident E. Teufel sowie M d B P. Altmeier als stellvertretender Delegierter des Deutschen Bundestages.

378 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

terer Stelle in Anlehnung an die polnische Verfassung die folgende Formulierung ausgenommen werden:

„Die Werte der Europäischen Union umfassen die Wertvorstellungen derjenigen, die an Gott als die Quelle der Wahrheit. Gerechtigkeit , des Guten und des Schönen glauben, als auch derjenigen, die diesen Glauben nicht teilen, sondern diese universellen Werte aus anderen Quellen ableiten".

Im Februar 2003 reichten daraufhin drei Konventsmitglieder eine von 163 Mitgliedern des Europäischen Parlaments unterzeichnete Entschließung ein, in der die Delegierten forderten, dass die europäische Verfassung keinen direkten oder indirekten Hinweis auf eine bestimmte Religion oder einen bestimmten Glauben enthalten dürfe.21 Ebenso kritisch äußerten sich die Delegierten Frankreichs und zahlreiche Mitglieder der SPE-Gruppe im Konvent.

Vor dem Hintergrund der gespaltenen Haltung des Konventsplenums legte Giscard d'Estaing im Mai den folgenden Vorschlag für Absatz 2 der Verfassungs-präambel vor:

„Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferungen Euro-pas. die - aus griechischer und römischer Zivilisation hervorgegangen und erst durch das geistige Streben, von dem Europa durchdrungen war und das noch heute in seinem Erbe fortlebt, und dann durch die Philosophie der Aufklärung geprägt - die zentrale Stellung des Menschen und die Vorstellung von der Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit seiner Rechte sowie vom Vorrang des Rechts in der Gesellschaft verankert haben".

Obgleich der ehemalige französische Staatspräsident seine ablehnende Haltung gegenüber einer ausdrücklichen Anrufung Gottes in der Verfassungspräambel im Konvent und auch bei einer Privataudienz mit Papst Johannes Paul II. im Oktober 2002" deutlich gemacht hatte, rief dieser Textvorschlag im Konvent Überraschung und den erklärten Widerstand der Gruppe der Befürworter eines Gottesbezuges hervor. Besonders der Hinweis auf die griechische und römische Zivilisation in Verbindung mit dem Zeitalter der Aufklärung wurde von zahlreichen Delegierten als historisch verkürzt und unausgewogen kritisiert. In der Plenarsitzung des Kon-vents am 30./31. Mai 2003 betonte MdEP A. Tajani, dass die jüdisch-christlichen Wurzeln eine historische Tatsache seien, die Europa maßgeblich geprägt hätten. Die polnische Parlamentsdelegierte M. Fogler brachte ihre Unzufriedenheit über den Entwurf der Präambel zum Ausdruck und forderte ebenfalls die Aufnahme eines Verweises auf das jüdisch-christliche Erbe.

In der folgenden Plenarsitzung vom 4. bis 6. Juni 2003 wurde die Forderung nach einem Bezug auf Gott, das jüdisch-christliche Erbe oder das Christentum

21 „Achtung der Grundsätze der Religionsfreiheit unter religiösen Neutralität des Staa-tes". C O N V 587 /03 vom 2 6 . 2 . 2 0 0 3 .

2 2 Vgl. auch FAZ vom 16. 11.2002: „Gott in Europa", DIE WELT vom 3 0 . 1 . 2 0 0 3 : „Gottloses Europa", DIE ZEIT vom 30. 1.2003: ..Zum Erfolg verdammt".

379 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

mit Nachdruck erhoben. MdEP E. Brök und Ministerpräsident E. Teufel erklärten, dass die griechische und römische Zivilisation nicht ohne den Glauben an Gott und andere Religionen aufgezählt werden könne. Der Delegierte des polnischen Parlaments, E. Wittbrodt, hob hervor, dass das Christentum einer der wichtigs-ten Einflüsse in der europäischen Geschichte sei. Sowenig das Christentum die Rechte anderer verletze, dürfe eine dogmatische Säkularisierung die Rechte die Religion verletzen. Der italienische Regierungsvertreter F. Speroni unterstrich den entscheidenden Beitrag des Christentums zu Europa. Der Delegierte der irischen Regierung, D. Roche, forderte den Konvent dazu auf, die christliche Tradition Europas nicht zu übersehen.

Gleichzeitig lehnten zahlreiche Mitglieder die Erwähnung des Christentums in der Präambel ab. MdEP O. Duhamel kritisierte die Versuche, das Christentum oder die christlichen Wurzeln in die Präambel einzubeziehen. Jeder, der mehr als die Erwähnung der religiösen Überlieferungen verlange, übersehe, dass es vielen Delegierten bereits schwer falle, die vom Präsidium vorgelegte Formulierung zu akzeptieren. Auch MdEP A. van Lancker lehnte einen Bezug auf das Christentum strikt ab. Der spanische Parlamentsdelegierte J. Boreil Fontelles erklärte, die Balance der von Giscard vorgelegten Formulierung zwischen säkularen und religiösen Werten sei das Äußerste, was der Konvent erreichen könne.

a) Änderungsanträge

Als schriftliche Reaktion auf den von Giscard verfassten Präambeltext wurden insgesamt 18 Änderungsanträge23 zur Präambel eingebracht. Für den zweiten Präambelabsatz wurden insbesondere folgende Textalternativen vorgeschlagen:

- von MdEP E. Brök für die EVP-Gruppe: . .Drawing inspiration f rom the cultural. religious and humanist inheritance of Europe. which. nourished first by the civilisations of Greece and Rome. characterised by spiritual and for example judco-christ ian impulse always present in its heritage and later by the philosophical currents of the Enlightenment. has embedded within the life of society its pereeption of the central role of the human person and its inviolable and inalienable rights, and of respect for law. and the respect for conscience and belief | . . . 1",

- von der polnischen Regierungsvertreterin D. Hühner. „ | . . . ] which. nourished first by the civilisations of Greece and Rome. characterised by spiritual. notably Christian impulse always present in its heritage | . . .1";

- von den polnischen Parlamentsvertretern E. Wittbrodt und M. Fogler:

23 Eine Übersicht aller Änderungsanträge ist unter http://europeanl-lconvention.eu.int /amendments zusammengestellt . Die Anträge lagen dem Konvent lediglich in Originalspra-che vor.

380 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

„ | . . . ] which. nourished first by the civilisations of Greece and Rome, characterised by spiritual impulse always present in its heritage, and by the philosophical currents of the Christianity. the Renaissance and the Enlightenment ( . . . ]

Believing that reunited Europe will ever base on fundamental values, as tolerance and human dignity, which are the values of those who believe in God as the source of truth. justice, good and beauty. and of those who do not share such a belief, but respect these universal values arising from other sources [ . . . ]";

- von d e n m a l t e s i s c h e n D e l e g i e r t e n P. SeraciuoInglott, M. Frendo und J. Inguanes: „ | . . . ] which, nourished first by the civilisations of Greece and Rome. characterised by spiritual impulse always present in its heritage. notably Judaeo-Christ ian. and later by the philosophical currents of the Renaissance and the Enlightenment. has embedded within the life of society its pereeption of the central role of the human person and its inviolable and inalienable rights, and of respect for law, f reedom of conscience and belief in God" ;

- v o n M d E P . / . Wiirmeling u . a . :

. .Drawing inspiration f rom the cultural. judeo-christ ian and humanist inheritance of Europe. which, nourished first by the civilisations of Greece and Rome. characterised by spiritual impulse always present in its heritage and later by the philosophical currents of the Enlightenment. has embedded within the life of society its pereeption of the central role of the human person and its inviolable and inalienable rights, and of respect for law. respecting conscience and belief in God" ;

- v o n d e m V e r t r e t e r d e s B u n d e s r a t e s . M i n i s t e r p r ä s i d e n t E. Teufel: , . [ . . . ] Schöpfend aus den kulturellen, religiösen und humanistischen Überlieferung Euro-pas. die - aus der griechischen und römischen Zivilisation sowie aus dem Gottesglauben des Chris tentums und anderer Religionen hervorgegangen und erst durch das geistige Streben ( . . . ]";

- v o m s t e l l v e r t r e t e n d e n D e l e g i e r t e n d e r f r a n z ö s i s c h e n N a t i o n a l v e r s a m m l u n g

J. Fl och :

„[ ] S ' inspirant des Heritages culturels, religieux. laics et humanistes de l 'Europe

1 - . ] " ;

- v o m M d E P O. Duhamel u. a.:

„ ( . . . ] S ' inspirant des Heritages culturels. et spirituels de l 'Europe 1.. . I";

- v o m i r i s chen P a r l a m e n t s Vertre ter P. de Rossa: . .Drawing inspiration f rom the diverse religious, cultural and humanist inheritance of Europe I . . . ] " ;

A u f d e r G r u n d l a g e d i e s e s S t i m m u n g s b i l d e s w u r d e d e m K o n v e n t s p l e n u m i n d e r P l e n a r s i t z u n g a m 1 2 . / 1 3 . J u n i 2 0 0 3 e i n e ü b e r a r b e i t e t e P r ä a m b e l v e r s i o n vor-ge l eg t . D a r i n ve rz i ch t e t e d a s P r ä s i d i u m auf d i e E r w ä h n u n g d e r g r i e c h i s c h e n und r ö m i s c h e n Z i v i l i s a t i o n s o w i e d e n B e z u g zu r A u f k l ä r u n g . D e r H i n w e i s au f d i e k u l t u r e l l e n , r e l i g iö sen u n d h u m a n i s t i s c h e n Ü b e r l i e f e r u n g e n E u r o p a s w u r d e b e i b e -h a l t e n u n d d u r c h d e n Z u s a t z „ d e r e n W e r t e i n s e i n e m E r b e w e i t e r l e b e n d i g s i n d "

381 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

ergänzt. Nicht aufgenommen wurden ein expliziter Gottesbezug, ein Hinweis auf das Christentum oder das (jüdisch-)christliche Erbe. Dieser Version stimmte der Konvent im Zuge des politischen Gesamtkompromisses zu.24

b) Die Beratungen der Regierungskonferenz

In der im Oktober 2003 eröffneten Regierungskonferenz wurde die Frage des Gottesbezugs erneut aufgegriffen. Beim Treffen der EU-Außenminister am 28./ 29. 11.2003 in Neapel war die Frage der Präambel und insbesondere des Bezugs auf die christlichen Wurzeln Europas Gegenstand eingehender Beratungen. Ein Konsens konnte dabei nicht erzielt werden. Zur Vorbereitung des Europäischen Rates in Brüssel am 12./13. Dezember 2003 schlussfolgerte die italienische EU-Ratpräsidentschaft deswegen, dass „einige Delegationen es nach wie vor für wichtig hielten, dass in der Präambel auf die christlichen Werte Bezug genommen wird" während „die übrigen Delegationen der Ansicht waren, dass der Text des Konvents den unterschiedlichen Anliegen in ausgewogener Weise Rechnung trage".25

c) Bewertung

Aus dem Streit hervorgegangen ist ein durch und durch säkularer, laizistischer Text, der angesichts der europäischen Realität möglicherweise zu Recht auf eine „Invocatio Dei", eine Anrufung Gottes, verzichtet und sich stattdessen auf den Geist der Antike, des Humanismus und der Aufklärung beruft. Nur beiläufig wird auf das religiöse Erbe Europas verwiesen, ohne dass dabei die jüdische, christliche und muslimische Tradition in irgendeiner Weise erwähnt wird. Von religiöser Gegenwart ist überhaupt nicht die Rede. Über die Hintergründe dieser Zurückhaltung lässt sich nur rätseln: Sorge um den laizistischen Staat, Rücksicht gegenüber multireligiösen Gesellschaften oder schlicht Angst vor dem Erstarken des Fundamentalismus? Ehrenwerte Gründe allesamt, die aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier ein Text vorliegt, der, obwohl er modern sein will, seltsam unzeitgemäß wirkt; ein Text, der weder den eigenen Traditionen noch den Erfordernissen der Gegenwart wirklich gerecht wird.

Europa, das alte wie das neue, verdankt sich nicht nur der griechischen Antike und nicht nur der französischen Aufklärung, sondern ebenso sehr jenem Mittelalter, in dem jüdische, christliche und muslimische Denker, allein oder gemeinsam, über den Widerspruch von Glaube und Vernunft nachgedacht und damit jene Aufklärung mit vorbereitet hatten, die bis heute als der große Widerpart des Religiösen gilt.

24 Vgl. das Plenarprotokoll der Sitzung vom 12./ 13. Juni 2003, Fn. 17. 25 Siehe hierzu das Dokument der Regierungskonferenz CIG 60 /03 A D D 2 v. 11.12.2003.

382 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

Europa, das alte wie das neue, ist ein Kontinent, dessen Schicksal - im grau-samsten wie im erhabensten Sinne - von Religion und Religionen bestimmt wurde und es vielfach noch immer wird. Dies zu negieren oder zu verdrängen, heißt, einer Geschichtsvergessenheit Vorschub zu leisten, die sich bis in die Zukunft hinein rächt. Und schließlich ist auch Europa, das neue mehr noch als das alte, Schauplatz jener Entwicklung, die man die „Rückkehr des Religiösen" nennt und die gegenwärtig daran ist, die Gesellschaften, nicht nur die amerikanische, nachhaltig zu verändern.

Von alledem kann in einem Verfassungstext selbstverständlich nicht ausdrück-lich die Rede sein. Durch den weitgehenden Verzicht auf religiöse Referenz erweckt diese europäische Präambel indes den Verdacht, dass man sich der Be-deutung der Religionen als konstituierender Elemente auch des neuen Europas entweder nicht bewusst ist oder sie willentlich unterschlägt. Damit geht etwas ganz Wesentliches verloren. Religion, sei es nun als Suche nach einer neuen Spiritua-lität oder als Flucht in fundamentalistische Gewissheiten, hat seit einigen Jahren enormen Auftrieb. Die Aufklärung und die mit ihr einhergehende Entzauberung der Welt sind an Grenzen gestoßen, die Bedürfnisse der Menschen nach dem Unbegreiflichen, dem Göttlichen neu erwacht. Unter dem Eindruck der rasanten technologischen Entwicklung hat sich das Bewusstsein sowohl für „die Grenzen menschlicher Macht"26 als auch für die Notwendigkeit umfassender Orientierung geschärft. Ethisch-religiöse Positionen sind in den existenziellen Debatten der Gegenwart gefragter denn je. Wer dies, willentlich oder nicht, übersieht, vernach-lässigt nicht nur menschliche Grundbedürfnisse, sondern schafft ein Vakuum, in dem Fundamentalismen aller Art gegenüber dem Humanismus und der Aufklä-rung ein leichtes Spiel haben. Nur beiläufig wird in der EU-Verfassung auf das religiöse Erbe Europas verwiesen. Von einer religiösen Gegenwart ist gar nicht erst die Rede.27

4. Der Gottesbezug in den Mitgl iedstaaten (und Bei t r i t t skandidaten) de r Europäischen Union sowie in den deutschen Bundes ländern

Von den derzeitigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union weisen die Ver-fassungen Dänemarks. Griechenlands, Irlands, der Bundesrepublik Deutschland28

und im Falle Großbritanniens die Verfassungsprinzipien ausdrücklich einen Got-

26 Wie es etwa in der Präambel zur neuen Zürcher Kantonsverfassung heißt. 2 Möglicherweise vorausblickend bereits H. Heine. Deutschland. Ein Wintermärchen,

1844: „Die Jungfrau Europa ist verlobt / Mit dem schönen Geniusse / Der Freiheit, sie liegen einander im Arm. / Sie schwelgen im ersten Kusse. / Und fehlt der Pfaffensegen dabei. Die Ehe wird gültig nicht minder - / Es lebe Bräutigam und Braut. / Und ihre zukünft igen Kinder!"

2 8 Auf eine wörtliche Wiedergabe wird verzichtet. Siehe aber zum Thema Gottesklausel in der Bundesrepublik Deutschland umfassend (insbesondere mit dem wichtigen Verhältnis

383 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

tesbezug auf. Teilweise wird der Gottesbezug nur indirekt deutlich, etwa wenn auf eine bestimmte Konfession (Finnland: evangelisch-lutherische Kirche, Malta: römisch-katholisch-apostolische Kirche) hingewiesen wird, die Bekräftigung ei-nes Amtseides durch eine religiöse Beteuerung (Niederlande, Österreich) erfolgt bzw. erfolgen kann oder durch die Nennung von Heiligen, die einen Staat maß-gebend mitgeprägt haben (Slowakische Republik: Heilige Slawenapostel Cyrillus und Methodius).

Die Verfassungen der Beitrittskandidaten bzw. zuletzt beigetretenen Staaten zur Europäischen Union enthalten teilweise nur konkludent einen Gottesbezug, durch die Möglichkeit der Anrufung Gottes bei Ableistung des Amtseides (Rumänien). Die Türkei weist in der Präambel ihrer Verfassung auf das Prinzip des Laizismus (strikte Trennung von Staat und Religion) hin und beinhaltet folglich keinen Gottesbezug.29

a) Der Gottesbezug in den Verfassungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union

- In der „Koordinierten Verfassung Belgiens"30 findet sich kein Gottesbezug. Auch der Eid. den der König bei der Thronbesteigung ablegt, enthält keine religiöse Beteuerung (Art. 80 Abs. 2).

- Die Verfassung der Republik Bulgarien31 kennt keinen Gottesbezug. In Art. 13 (Religionsfreiheit) wird in Abs. 3 lediglich erwähnt, dass die traditionelle Reli-gion in Bulgarien das östlich-orthodoxe Glaubensbekenntnis ist.

zwischen Präambel und Art. 1 Abs 1GG) P. Hiiberle, Verfassungslehre als Kulturwissen-schaft . 2. Aufl. 1998. S. 951 ff., ders.. „Got t" im Verfassungsstaat?, 1987 (nunmehr in: ders.. Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992. S. 213 ff.) mit der dort zitierten Kommentarli teratur. Vgl. auch E.L Behrendt. Gott im Grundgesetz. 1980: D. Blumenwitz, Gott im Grundgesetz, in: E.L. Behrendt (Hrsg.), Rechtsstaat und Christen-tum. Bd. I, 1982. S. 127 ff.

29 Bemerkenswert ist im Kontext des Gottesbezuges auch das Beispiel der Schweiz. Als man dort Mitte der neunziger Jahre eine Revision der Bundesverfassung in Angriff nahm, gab ein Punkt besonders zu reden: sollte in der Präambel der Name Gottes angeru-fen werden? Obwohl die Fronten nicht ganz eindeutig verliefen, hat sich schließlich das Althergebrachte durchgesetzt. Mit der Berufung auf den „Namen Gottes des Allmächti-gen" und die „Verantwortung gegenüber der Schöpfung" bekennt sich die Verfassung zu einer Schweiz, die sich ihres religiösen Fundaments bewusst ist und sich als Teil jener Schöpfung versteht, wie sie die jüdisch-christliche Tradition beschreibt. Die Präambel der schweizerischen Bundesverfassung geht, implizit zumindest, davon aus, dass es sich noch immer um den christlichen Gott handelt , obwohl die ethnisch-religiösen Verhältnisse des Landes längst in eine andere Richtung weisen.

30 Verfassung vom 17. Februar 1994. zuletzt geändert am 17. Dezember 2002. 31 Vom 12. Juli 1991.

384 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

- Die Verfassung des Königreichs Dänemark32 enthält in Kapitel VII, das die „Verfassung der Volkskirche" durch Gesetz festlegt (§ 66), in § 67) den folgen-den Wortlaut:

„Die Bürger haben das Recht, sich in Gemeinschaf ten zusammenzuschl ießen, um Gott auf diese Weise zu dienen, die ihrer Überzeugung entspricht: es darf jedoch nichts gelehrt oder unternommen werden, was gegen die Sittlichkeit oder gegen die öffentliche Ordnung verstößt."

§ 6 8 bestimmt, dass niemand verpflichtet ist, persönlich Beiträge zu einer anderen als der von ihm selbst befolgten Art der Gottesverehrung zu leisten.

Im Folgenden (§§ 69, 70) wird festgelegt, dass die Verhältnisse der von der Volkskirche abweichenden Glaubensgemeinschaften näher durch Gesetz gere-gelt werden. Ferner: niemand kann u. a. wegen seines Glaubens von bürgerlichen oder politischen Rechten ausgeschlossen werden oder sich der Erfüllung der allgemeinen Bürgerpflichten entziehen.33

- Der Verfassung Estlands34 ist, wie allen Verfassungen der Länder des Baltikums, ein Gottesbezug unbekannt.

- Finnlands Grundgesetz35 weist ebenfalls keinen Gottesbezug auf. Das 6. Kapitel (§ 76) des Grundgesetzes weist jedoch auf die Organisation und Verwaltung der evangelisch-lutherischen Kirche hin. die gesetzlich näher festgelegt sind.

- Die Verfassung der Republik Frankreich36 kennt als „klassisches" Beispiel eines laizistischen Staates keinerlei Gottesbezug.

- Die Verfassung der Republik Griechenland37 wird mit folgenden Worten einge-leitet:

„Im Namen der Heiligen Wesensgleichen und Unteilbaren Dreifaltigkeit [ . . . J "

Der II. Abschnitt der Verfassung, der die Beziehungen zwischen Staat und Kirche näher regelt, bestimmt in Artikel 3 Abs. 1:

„Vorherrschende Religion in Griechenland ist die der Östlich-Orthodoxen Kirche Christi. Indem sie als Haupt unseren Herrn Jesus Christus anerkennt, bleibt die orthodoxe Kirche Griechenlands in ihrem Dogma mit der Großen Kirche in Konstantinopel und jeder anderen Kirche Christi des gleichen Bekenntnisses unzertrennlich verbunden und bewahrt wie j ene unerschütterlich die heiligen apostolischen und die von den Konzilen aufgestellten Kanones sowie die Heiligen Überlieferungen. Sie ist autokephal

12 Verfassung vom 5. Juni 1953. 33 Ähnlich die Regelung in Kap. VIII § 71 Abs. 1 der Verfassung: 34 Vom 28. Juli 1992: 35 Beschlossen am 1 I . Juni 1999, in Kraft getreten am 11. März 2000. 3 6 Vom 4. Oktober 1958. zuletzt geändert am 24. September 2000. 37 Beschlossen von dem 5. Verfassungsändernden Parlament am 9 Juni 1975 und in

Kraft getreten am 11. Juni 1975, zuletzt geändert am 16. April 2001.

385 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

und wird geleitet von der Heiligen Synode der sich im Amte befindlichen Bischöfe und der aus deren Mitte hervorgehenden Dauernden Heiligen Synode, die sich nach den Best immungen der Grundordnung der Kirche zusammensetzt unter Beachtung der Vorschriften [ . . . ] "

A r t . 1 3 d e r V e r f a s s u n g G r i e c h e n l a n d s e n t h ä l t d e n G r u n d s a t z d e r R e l i g i o n s -

f r e i h e i t u n d d a s V e r b o t d e s P r o s e l y t i s m u s ( = A b w e r b u n g e i n e s o r t h o d o x e n

G l ä u b i g e n f ü r e i n e a n d e r e K o n f e s s i o n ) . A r t . 105 f ü h r t ins E i n z e l n e g e h e n d e

B e s t i m m u n g e n ü b e r d e n H e i l i g e n B e r g A t h o s a u f .

- B e d e u t s a m i m R a h m e n d e r A u f g a b e n s t e l l u n g ist d i e P r ä a m b e l d e r V e r f a s s u n g

d e r R e p u b l i k I r l a n d . 3 8 S i e ha t f o l g e n d e n W o r t l a u t :

„Im Namen der Allerheiligsten Dreifaltigkeiten, von der alle Autorität kommt und auf die. als unserem letzten Ziel, alle Handlungen sowohl der Menschen wie der Staaten ausgerichtet sein müssen, anerkennen

Wir. das Volk von Irland.

in Demut alle unseren Verpflichtungen gegenüber unserem göttlichen Herrn. Jesus Chris-tus. der unseren Vätern durch Jahrhunderte der Heimsuchung hindurch beigestanden hat [ . . . ] "

A r t . 31 A b s . 4 d e r V e r f a s s u n g b e s t i m m t , d a s s j e d e s M i t g l i e d d e s S t a a t s r a t e s bei d e s s e n e r s t e r S i t z u n g , a n d e r e s t e i l n i m m t , f o l g e n d e E r k l ä r u n g a b g i b t u n d sie u n t e r z e i c h n e t :

„In Gegenwart des allmächtigen Gottes verspreche und erkläre ich feierlich und aufrichtig, dass ich meine Pflichten als Mitglied des Staatsrates treu und gewissenhaft erfül len werde."3 9

A r t . 34 A b s . 5 Nr . 1 und 2 b e s t i m m t , d a s s j e d e r n a c h d e r V e r f a s s u n g e r n a n n t e R i c h t e r f o l g e n d e E r k l ä r u n g m ü n d l i c h u n d s c h r i f t l i c h i n G e g e n w a r t d e s P r ä s i -d e n t e n und d e r R i c h t e r d e r o b e r s t e n G e r i c h t e a b z u g e b e n ha t :

„In Gegenwart des allmächtigen Gottes verspreche und erkläre ich feierlich und aufrichtig, dass ich das Amt des obersten Richters (oder welches Amt es sein mag) gegenüber jedermann ordnungsgemäß und treu, nach bestem Wissen und Können, ohne Furcht oder Begünstigung, Zuneigung oder Böswilligkeit ausüben will und dass ich die Verfassung und die Gesetze einhalten will. Gott möge mich führen und mir bestehen."

A u c h h i e r s i eh t d i e V e r f a s s u n g e i n e „ n e u t r a l e " E r k l ä r u n g n i ch t vor. A r t . 4 0

A b s . 6 Nr . I lit. a ) S a t z 3 b e s t i m m t , d a s s u . a . V e r ö f f e n t l i c h u n g e n o d e r Ä u ß e -

r u n g e n g o t t e s l ä s t e r l i c h e n I n h a l t s V e r g e h e n s ind , d i e n a c h d e m G e s e t z b e s t r a f t

w e r d e n .

38 Vom I.Juli 1937, zuletzt geändert am 7. November 2002. 3 9 Das deutsche GG sieht eine „neutra le" Erklärung ohne die Anrufung Gottes vor.

vgl. etwa Art. 56 Satz 2 GG.

386 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

Art. 44 der Verfassung behandelt eingehend die Religion. Zitiert sei Abs. 1: „Der Staat anerkennt, dass dem allmächtigen Gott die Huldigung öffentlicher Verehrung gebührt. Er erweist seinem Namen Ehre und achtet und ehrt die Religion." Die Verfassung Irlands schließt letztlich mit den Worten: „Zur Ehre Gottes und zum Ruhme Irlands."

- Die Verfassung der Republik Italien40 enthält keinen Gottesbezug.

- Die Verfassung Lettlands41 enthält, wie die Verfassungen seiner Nachbarstaaten, keinen Gottesbezug.

- Die Verfassung der Republik Litauen42 kennt, wie angedeutet, keinen Gottesbe-zug. Allerdings ist in Art. 43 eingehend die Religionsfreiheit geregelt und das Verhältnis zwischen Kirchen und Staat fest geschrieben.

- Die Verfassung des Großherzogtums Luxemburg43 enthält ebenfalls keinen Gottesbezug; das gilt auch für den Eid des Großherzogs bei der Thronbe-steigung (Art. 5), der Mitglieder der Abgeordnetenkammer (Art. 57) und der Zivilbeamten (Art. 110).

- Die Verfassung der Republik Malta44 enthält keinen ausdrücklichen Gottesbe-zug, betont jedoch in Kapitel I Abschnitt 2 Absatz 1. dass die Religion auf Malta die römisch-katholisch-apostolische ist. deren Bischöfe hätten des Recht und die Pflicht zu verkünden, welche Grundsätze der Glaubenslehre entsprechen und welche damit unvereinbar sind (Abs. 2). Römisch-katholisch-apostolischer Religionsunterricht ist an den Schulen verbindliches Fach (Abs. 3). Allerdings sieht der Amtseid für den Präsidenten, den Premierminister, den Minister und andere hohe Amtsträger eine Eidesformel vor, die fakultativ eine religiöse Bekräftigung („So help me God") enthalten kann.

- Kein Gottesbezug findet sich in der Verfassung des Königreichs der Niederlan-de45. Lediglich in den Zusatzartikeln der Verfassung, hier: Art. 44, ist der Eid festgelegt, den der Regent abzulegen hat und der mit den Worten schließt: „So wahr mir Gott, der Allmächtige helfe!". Erlaubt ist auch die Formel: „Das gelo-be ich!". Dasselbe gilt für den Eid des Königs auf die Verfassung (Art. 53) und das Gelöbnis des Vorsitzenden der Generalstaaten und von dessen Mitgliedern (Art. 54).

- Das Bundesverfassungs-Gesetz der Republik Österreich46 kennt keinen Gottes-bezug. Lediglich Art. 62 Abs. 2 und Art. 70 Abs. 1 Satz 1 lassen eine religiöse

40 Vom 17. Dezember 1947, zuletzt geändert am 30. Mai 2003. 41 Vom 7. August 1992. zuletzt geändert am 30. April 2002. 42 Vom 25. Oktober 1992. 43 Vom 17. Oktober 1868. zuletzt geändert am 19. Dezember 2003. 44 Vom 13. Dezember 1974. 45 Vom 17. April 1983, zuletzt geändert am 10. Juli 1995. 46 Vom 10. November 1920. in der Fassung vom 7. Dezember 1929. zuletzt geändert am

28. Juni 2002.

387 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

Beteuerung für das Gelöbnis des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlers und der Mitglieder der Bundesregierung zu.

- Die Verfassung der Republik Polen47 hat einen Kompromiss gefunden, indem in der Präambel alternativ entweder auf Gott oder andere Instanzen bzw. universale Werte Bezug genommen wird.

- Das gleiche wie für die Verfassung Polens gilt für die Verfassung der Republik Portugal"8: Sie enthält keinen Gottesbezug.

- Auch in der Verfassung der Republik Rumänien49 findet sich kein Gottesbezug. Allerdings hat der zum Präsidenten gewählte Kandidat in gemeinsamer Sitzung von Abgeordnetenkammer und Senat seinen Amtseid abzugeben, der mit den Worten endet: „So wahr mir Gott helfe!". Ein Absehen von dieser religiösen Beteuerung sieht die Verfassung (Art. 82 Abs. 2) nicht vor. Dasselbe gilt für den Amtseid des Premierministers, der Minister und der anderen Mitglieder der Regierung (Art. 103 Abs. 1 i.V. m. Art. 82 Abs 2).

- Der Text der Verfassung des Königreichs Schweden50 weist ebenfalls keinen Gottesbezug auf. Die Staatskirche wurde durch das verfassungsändernde Gesetz Nr. 1998:1700 abgeschafft.

- Die Verfassung der Slowakischen Republik51 erwähnt zwar in der Präambel u. a. das „geistige Erbe der Heiligen Cyrillus und Methodius", der Slawenapostel, sieht aber im Übrigen von einem Gottesbezug ab.

- Die Verfassung der Slowenischen Republik52 enthält keinen Gottesbezug.

- Auch in der Verfassung des Königreichs Spanien53 findet sich kein Gottesbezug.

- Ein Gottesbezug findet sich ebenfalls nicht in der Verfassung der Tschechischen Republik54.

- Ebenso ist in der provisorischen Verfassung der Republik Ungarn55 kein Got-tesbezug enthalten.

- Das Vereinigte Königreich (Großbritannien) besitzt als einziges EU-Mitglied keine Verfassungsurkunde. Dieser Umstand hat dazu geführt, fälschlicherweise anzunehmen, Großbritannien habe keine geschriebene Verfassung. Allerdings ist die britische Verfassung nur teilweise schriftlich fixiert: die Verfassungstexte sind nicht in einem einzelnen Dokument niedergelegt, sie sind im Laufe der

47 Vom 2. April 1997. 48 Vom 2. April 1976. zuletzt geändert am 12. Dezember 2001. 4 9 Vom 21. November 1991. 5 0 Vom I . Januar 1975. zuletzt geändert am 27. März2002 . 51 Vom 1. September 1992, zuletzt ergänzt vom 11. April 2002. 52 Vom 23. Dezember 1991. 53 Vom 29. Dezember 1978. zuletzt geändert am 27. August 1992. 54 Vom 16. Dezember 1992. zuletzt geändert und in Kraft getreten am 1. März 2004. 55 Vom 20. August 1949, in der Fassung vom 24. August 1990.

388 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

Jahrhunderte vielmehr gewachsen. So enthält etwa die Magna Charta Liberta-tum (1215) mehrfach ausdrückliche Bezugnahmen auf Gott (etwa Einleitung und Nr. 1).

- Die Republik Zypern enthält in ihrer Verfassung56 keinen Gottesbezug. Sie macht allerdings z. B. in Art. 2 Abs. 1 und 3, Unterabsatz 4, umfangreiche Aus-führungen zu den beiden religiösen Gruppen („religious groups"): griechisch-orthodoxe und türkisch-moslemische Bürger.

b) Der Gottesbezug in den Verfassungen der Beitrittskandidaten zur Europäischen Union57

- In der Verfassung der Republik Kroatien*s findet sich keine Bezugnahme auf Gott.

- Die Republik Türkei hat sich in der Präambel seiner Verfassung59 nach fran-zösischem Vorbild dem laizistischen Prinzip verschrieben. Dementsprechend findet sich in der Verfassung kein Bezug zu Gott.

c) Der Gottesbezug in den Verfassungen der 16 Länder der Bundesrepublik Deutschland

Abgesehen von den Stadtstaaten Berlin, Bremen, Hamburg sowie des Landes und Schleswig-Holstein beziehen sich alle Verfassungen der sog. „alten" Bun-desländer auf Gott. In der Verfassung des Saarlandes findet sich ein direkter Gottesbezug in den Erziehungszielen für die Jugend.

Von den Landesverfassungen der fünf „neuen" Länder, die sämtlich über eine Präambel verfügen, beinhalten ausdrücklich nur Sachsen-Anhalt und Thüringen eine Bezugnahme auf Gott, nämlich indem sie den Mitgliedern der Staatsregierung die Anrufung Gottes ermöglichen.

- In einen „Vorspruch" enthält die Verfassung des Landes Baden-Württemberg6" einen Gottesbezug. Der „Vorspruch" hat folgenden Wortlaut:61

..Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, die Freiheit und Würde des Menschen zu sichern [ . . . ] "

56 Vom 16. August i960. 5 Hier beschränkt sich die Darstellung auf solche, die wenigstens Beitrittsverhandlun-

gen führen. 5S Vom 21. Dezember 1990. zuletzt geändert am 23. April 2001. 59 Vom 13. September 1982, zuletzt geändert am 27. Dezember 2002. 6 0 Vom 11. November 1953 (GBl. S. 173), zuletzt geändert durch Gesetz vom

23. Mai 2000 (GBl. S. 449). 61 Dazu im einzelnen W. Weinhold, Gott in der Verfassung - Studie zum Gottesbezug

in Präambeltexten der deutschen Verfassungstexte des Grundgesetzes und der Länderver-fassungen seit 1949. 2001. S . 4 0 ff.

389 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

In Art. 1 Abs. I, Halbsatz 2 beruft sich die Verfassung auf die „Erfüllung des christlichen Sittengesetzes", Art. 3 Abs. 1 Satz 3 bestimmt, hinsichtlich der Feiertage sei die christliche Überlieferung zu wahren. In Abschnitt II widmet die Art. 3 bis 10 der Religion und den Religionsgemeinschaften. In Art. 12 Abs. 1 ist als Erziehungsziel u. a. angegeben, die Jugend „in der Ehrfurcht vor Gott, im Geist der christlichen Nächstenliebe ( . . . ] " zu erziehen. Im Amtseid (Art. 48 Satz 2) ist die religiöse Beteuerung „So wahr mir Gott helfe" vorgesehen; sie kann allerdings entfallen (Art. 48 Satz 3).

- Die Verfassung des Freistaates Bayern62 führt ohne nähere Kennzeichnung (z. B. Präambel u.ä.) zu Beginn aus:

. .Angesichts des Trümmerfeldes , zu dem eine Staats- und Gesel lschaf tsordnung ohne Gott, ohne Gewissen 1.. . 1 geführt hat I . . .

Nach Art. 131 Abs .2 BV gehört zu den obersten Bildungszielen u.a . die Ehr-furcht vor Gott.

- Die Verfassungen der Länder Berlin64 und Brandenburg65 kennen keinen Got-tesbezug.

- Auch die Stadtstaaten und Hansestädte Bremen und Hamburg66 enthalten in ihren Verfassungen keinen Gottesbezug.

- In der Verfassung des Landes Hessen67 findet sich ebenfalls kein Gottesbezug.68

Art. 56 Abs. 4 legt allerdings als eines der Erziehungsziele den selbständigen und verantwortlichen Dienst am Volk und der Menschheit u. a. durch Ehrfurcht und Nächstenliebe, also einen fundamentalen christlichen Wert, fest.

- Ebensowenig kennt die Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern6 ' ' einen Gottesbezug.70

62 Vom 8. Februar 1946 (GVB1. S. 333). in der Fassung der Bekanntmachung vom 15. Dezember 1998 (GVB1. S . 9 9 I ) .

63 Vgl. W. Weinhold (2001), S . 4 2 f f . w Vom 23. November 1995 (GVBI. S .779) , zuletzt geändert durch Gesetz vom

3. April 1998 (GVBI. S. 82). 6 5 Vom 20. August 1992 (GVBI. S .298) , zuletzt geändert durch Gesetz vom 7. April

1999 (GVBI. S. 98). 6 6 Verfassung der Freien Hansestadt Bremen vom 21 .Oktober 1947 (GBl. S . 2 5 I ) ,

zuletzt geändert durch Gesetz vom 11. Februar 2000 (GBl. S. 31); Hamburg: Verfassung der Freien und Hansestadt Hamburg vom 6. Juni 1952 (GVBI. S. 117), zuletzt geändert durch Gesetz vom 20. Juli 1996 (GVBI. S. 133).

67 Vom 1. Dezember 1946 (GVBI. S. 229) . zuletzt ergänzt durch Gesetz vom 20. März 1991 (GVBI. S. 102).

68 Vgl. W. Weinhold (2001), S. 57 f. 69 Vom 23. Mai 1993 (GVBI. S. 272). zuletzt geändert durch Gesetz vom 4. April 2000

(GVBI. S. 158). 70 Vgl. W. Weinhold (2001), S. 94 ff.

390 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

- Die Niedersächsische Verfassung71 enthält in der Präambel folgenden Wortlaut: „Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen hat sich das Volk

von Niedersachsen durch seinen Landtag diese Verfassung gegeben \ . . . ]"7 ;

Art. 31 Satz I führt den Wortlaut des Amtseides für die Mitglieder der Landes-regierung an. der keine religiöse Beteuerung vorsieht, allerdings in Satz 2 diese Möglichkeit („So wahr mir Gott helfe") fakultativ vorsieht.

- In ihrer Präambel führt die Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen73 aus:

„In Verantwortung vor Gott und den Menschen, verbunden mit allen Deutschen, erfüllt von dem Willen, die Not der Gegenwart in gemeinschaft l icher Arbeit zu überwinden, dem inneren und äußeren Frieden zu dienen. Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand für alle zu schaffen, haben sich die Männer und Frauen des Landes Nordrhein-Westfalen diese Verfassung gegeben: 1.. . I"74

Art. 7 Abs. 1 gibt aller Erziehungsziel u. a. „Ehrfurcht vor Gott" an. Der Amtseid der Mitglieder der Landesregierung (Art. 53 Satz 1) kann mit der religiösen Beteuerung „So wahr mir Gott helfe" geleistet werden (Satz 2).

- Die Verfassung von Rheinland-Pfalz75 beginnt in ihrem „Vorspruch" mit den Worten:

„Im Bewusstsein der Verantwortung vor Gott, dem Urgrund des Rechts und aller menschlichen Gemeinschaf t . [ . . . ]"76

Der Amtseid der Mitglieder der Landesregierung sieht die üblich religiöse Bekräftigung vor (Art. 100 Abs. 1). allerdings ist die Benutzung der Eidesformel frei gestellt (Art. 100 Abs. 2 i.V. m. Artikel 81 Abs. 3 Satz2).

- In der Verfassung des Saarlandes77 findet sich eine Bezugnahme auf Gott nicht zu Beginn (die Verfassung enthält keine Präambel), sondern in Art. 30. Danach ist die Jugend u. a. in der Ehrfurcht vor Gott und im Geist der christlichen Nächstenliebe zu erziehen. Für die Ablegung des Amtseides der Mitglieder der Landesregierung ist die übliche religiöse Beteuerung vorgesehen, auf die jedoch verzichtet werden kann.

71 Vom 19. Mai 1993 (GVB1. S. 107), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21. Novem-ber 1997 (GVB1.S .480) .

72 Vgl. W. Weinhold (2001), S. 58. 63 ff. 73 Vom 28. Juni 1950 ( G V - N W S. 127). zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. Novem-

ber 1992 (GV-NW S.448) . 7i Vgl. W. Weinhold (2001), S . 4 9 f f . 75 Vom 18. Mai 1947 (VOB1. S. 209). zuletzt geändert durch Gesetz vom 8. März 2000

(GVB1.S .65) . 76 Dazu ausführlich W. Weinhold (2001), S . 4 4 f f . 77 Vom 15. Dezember 1947 (ABl. S. 1077). zuletzt geändert durch Gesetz vom 25. Au-

gust 1999 (ABl. S. 1318).

III. Gottesbezug und US-Verfassung 391

- Die Verfassung des Freistaates Sachsen7* sieht für die Mitglieder der Staatsre-gierung vor, den Eid mit der bekannten religiösen Beteuerung zu bekräftigen. Ein ausdrücklicher Gottesbezug findet sich in der Verfassung nicht, allerdings bestimmt Art. 101 Abs. I als Erziehungsziel der Jugend u.a. die Erziehung zur „Nächstenliebe", einem tragenden Wert der christlichen Glaubenslehre.

- In der Präambel der Verfassung des Landes Sachsen-Anhalt79 finden sich folgende Sätze:

..In freier Selbstbest immung gibt sich das Volk von Sachsen-Anhalt diese Verfassung. Dies geschieht in Achtung der Verantwortung vor Gott und im Bewusstsein der Verant-wortung vor den Menschen I . . . ] " 8 0

Art. 66 Abs. 2 der Verfassung sieht vor. dem Amtseid der Mitglieder der Lan-desregierung die religiöse Bekräftigung „So wahr mir Gott helfe" hinzuzufügen. Der Amtseid kann auch ohne diese Bekräftigung geleistet werden.

- Die Verfassung Schleswig-Holsteins81 wiederum weist keinen Gottesbezug auf. - Hingegen weist die Verfassung des Freistaates Thüringen in ihrer Präambel

einen direkten Gottesbezug auf s 2 :

..In dem Bewusstsein des kulturellen Reichtums . . . gibt sich das Volk des Freistaa-tes Thüringen in freier Selbstbest immung und auch in Verantwortung vor Gott diese Verfassung f . . ] " .

III. Gottesbezug und US-Verfassung; die Rechtsprechung des US-Supreme Court zur Trennung von Staat und Religion

Ein Blick in die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika offenbart, dass darin der Begriff „Gott" unmittelbar nicht enthalten ist.83 Mittelbar lässt sich dieser Bezug jedoch in Verbindung mit dem 1. Amendment der Verfassung

78 Vom 27. Mai 1992 (GVBI. S. 243). 79 Vom 16. Juli 1992 (GVBI. S .600) . 80 Vgl. W. Weinhold (2001), S. 87 ff. 81 Vom 13. Juni 1990 (GVOB1. S. 393), eeändert durch Gesetz vom 27. September 1998

(GVOB1. S. 280). 10 Vgl. zu den Gottesklauseln in der Verfassung von Thüringen auch P. Häberle. Die

Schlussphase der Verfassunggebung in den neuen Bundesländern, in: JöR 43 (1995), S. 355 ff.

8 3 Vgl. auch eine im Auftrage des Verf. entwickelte Ausarbeitung der Wissenschaftl ichen Dienste des Deutschen Bundestages vom 13. Mai 2004. Wegen eines Gerichtsverfahrens in Alabama kam es in den vergangenen Jahren in den Vereinigten Staaten zu einer (erneut) hitzigen Kontroverse über den Einfiuss Gottes und der Religion auf staatliches Handeln. R. Moore, ein Richter des obersten Gerichtshofs des Staates Alabama, wurde von der ACLU (American Civil Liberties Union) verklagt, nachdem er im Justizgebäude Montgo-merys (Alabama) ein in Granit gehauenes Monument der Zehn Gebote aufstellen ließ. Das 11. Bezirks-Berufungsgericht der Vereinigten Staaten in Alabama entschied nach anony-

392 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

herleiten. Hierin ist zum einen das Verbot enthalten, ein Gesetz zu erlassen, das eine Religion (als Staatsreligion) einrichtet, auf der anderen Seite untersagt die Regelung, die freie Religionsausübung zu beeinträchtigen.

Im Verlauf der Verfassungsgeschichte der USA wurde das I. Amendment, dessen zwei Bestandteile in ihrem gegenseitigen Verhältnis bislang nicht zufrieden stellend geklärt werden konnte, über einen längeren Zeitraum hinaus als striktes Trennungsgebot zwischen Staat und Kirche/Religion ausgelegt. Entscheidend zu dieser Auslegung hat die Rechtsprechung des Supreme Court beigetragen. Seit geraumer Zeit deutet sich allerdings ein Wandel an. der von strikter Trennung zu „wohlwollender" Neutralität tendiert. Insgesamt ist aber festzustellen, dass die Rechtsprechung uneinheitlich und schwankend ist. Diese für einen deutschen Beobachter paradoxe Erscheinung ist insofern überraschend, als in den USA im Vergleich zur Bundesrepublik Deutschland religiöse Anschauungen im politischen Bereich überall gegenwärtig sind."4

Hingewiesen sei an dieser Stelle nur auf die Aufschrift auf Münzen und Geld-scheinen: „In God we trust" einerseits (wohl die kraftvollste Alternative, da der „Alltagsgottesbezug" jegliche Nichtnennung in Texten zu überstrahlen weiß), an-dererseits ist die amerikanische Flagge in fast jeder Kirche auffallend sichtbar aufgestellt85, die Militärsee 1 sorge ist eingerichtet, die Benutzung der Heiligen Schrift bei Eidesleistungen ist weithin üblich.86 In zahlreichen weiteren Berei-chen erscheinen Anspielungen auf Gott: So enthält beispielsweise der „Pledge of Allegiance" die Worte „one nation under God". Dies könnte zumindest darauf hin-deuten. dass die „wall of Separation" nicht ansatzweise so hoch ist, wie T. Jefferson, der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und dritte Präsident der USA, mit der zitierten Formulierung offenbar angenommen hat.

Aber: Obgleich sich in der Verfassung der Vereinigten Staaten also keine direkte Erwähnung Gottes, eines Schöpfers oder einer höheren Macht findet, so eröffnet die „Declaration of Independence" (1776) als erneut im besten Sinne grundlegende Rechtsquelle den Bezug zu einem Schöpfer („Creator"):

mer Abst immung, dass das Monument entfernt werden müsse (diese Entscheidung wurde i .Ü. nicht vom US-Repräsentantenhaus unterstützt. Dieses st immte bei einer Abst immung mit 260 zu 161 Stimmen gegen eine Budgetierung jegl icher Zwangsmaßnahmen im Zu-sammenhang mit den Zehn Geboten). Eine von Richter Moore beim US-Supreme Court gegen diese Entscheidung eingelegte Berufung wurde nicht zur Entscheidung angenommen. In e inem Verfahren in dem es um die Worte „one nation under G o d " in der Pledge of Allegiance geht, wurde jedoch die Zulässigkeit der Klage bejaht.

84 Vgl. nur die instruktive Darstellung von K. Ege, Staatstränke für die durstige Chris-tenheit - die Regierung, die Gläubigen und die Toleranz, in: Freitag 15 vom 6. April 2001.

85 Vgl. E. Geldbach. Religion und Politik: Religious Liberty, in: K.M. Kodalle (Hrsg.), Gott und Politik in USA - Über den Einfluss der Religion. 1988. S. 230 ff.. 240.

1,6 Dazu auch A. von Campenhausen. Der heutige Verfassungsstaat und die Religi-on, in: J . L i s t l /D . Pirson (Hrsg.). Handbuch des Staatskirchenrechts der Bundesrepublik Deutschland. Bd 1.2. grundlegend neu bearbeitete Auflage. 1994. S . 6 5 f.

III. Gottesbezug und US-Verfassung 393

"We hold these truths to be self-evident. that all men are created equal. that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life. Liberty, and the pursuit of Happiness. [WJhenever any Form of Government becomes destructive of these ends, it is the Right of the People to alter or to abolish it."

1. Die Frage nach einem „Gottesbezug44 in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika

Zurück zum benannten 1. Amendment vom 15. Dezember 1791, in dessen ersten Halbsatz die Religion angesprochen ist: „Congress shall make no law respecting an establishment of religion. or prohibiting the free exercise thereof."87

Die genannte Verfassungsbestimmung besteht aus zwei deutlich sich voneinan-der abhebenden Bestandteilen, der „establishment clause" einerseits und der „free exercise clause" andererseits, deren gegenseitiges Verhältnis unklar und umstrit-ten ist; beide Bestandteile des Zusatzartikels sind auch in ihrer Interpretation seit langem heftig in Rechtsprechung und Literatur umkämpft.

Der erste Halbsatz wurde über einen längeren Zeitraum als striktes Trennungs-gebot zwischen Staat und Kirche/Religion ausgelegt. Maßgeblich hat dazu die Rechtsprechung des Supreme Court, beigetragen. In den letzten Jahren ist aller-dings eine behutsame Änderung der Rechtsprechung zu beobachten, die nicht mehr von einer strengen Trennung ausgeht. Maßgebend dazu beigetragen haben die vielfältigen traditionsreichen Verschränkungen christlicher Religionsgemein-schaften und Kirchen mit staatlichen bzw. kommunalen Einrichtungen.

a) Entstehung und Entwicklung der „Establishment Clause"

Um die Entstehung und Entwicklung der „establishment clause" richtig zu erfassen, darf nicht unbeachtet bleiben, dass diese in ihrer Entstehungszeit (1789/ 91) kein Bild rechtlicher und tatsächlicher Realitäten wiedergab, vielmehr war sie ein Durchbruch zu mehr staatlicher Toleranz in Glaubensfragen, wie sie sich im Zeitalter der Aufklärung herausgebildet hatte. Das Grundrecht auf freie Religionsausübung bestand bereits in den Verfassungen aller Neuenglandstaaten, allerdings gab es in keiner Verfassung der 13 ursprünglichen Einzelstaaten eine Norm, die die Trennung von Staat und Kirche beinhaltet hätte.88

Am Vorabend der amerikanischen Revolution gegen das englische Mutterland bestanden in den meisten Kolonien „establishments of religion" in verschiedener

8 7 Zur Entwicklung und den Hintergründen des 1. Amendments zur US-Verfassung siehe aus der deutschsprachigen Lit. E. Vollrath. Die Trennung von Staat und Kirche im Verfassungsverständnis der USA. in: K.M. Kodalle (Hrsg.), Gott und Politik in USA - Über den Einfiuss des Religiösen. 1988. S. 216 ff.. 217 ff.

88 Vgl. E. Vollrath (1988), S. 216 f.

394 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

Gestalt. In den südlichen Kolonien etwa war die Anglikanische Kirche Staatskir-che89, sie war im Wortsinne „established". Die vier nördlichen Kolonien kannten keine Form des „establishments", die übrigen Kolonien etablierten die christliche Religion oder den Protestantismus im Allgemeinen.

Die Revolutionsära veränderte das Verhältnis zwischen Staat und Kirche freilich grundlegend. Der Begriff des Establishments war zunehmend mit der anglika-nischen Kirche in Zusammenhang gebracht worden und wurde als Ausdruck englischer Unterdrückung empfunden. Nachdem 1773 im Quebec Act die be-stehenden Rechte des katholischen Klerus bestätigt worden waren, wuchs die Abneigung gegen ein „establishment" weiter an.

Die Entwicklung in den einzelnen Staaten hin zu einer Trennung zwischen Staat und Kirche vollzog sich unterschiedlich und zeigt ein uneinheitliches, zuweilen verwirrendes Bild.90 Auf einhellige Ablehnung stieß eine Staatskirche anglikani-scher Prägung. Ebenso war auf Dauer die Erhebung von Abgaben zu Gunsten der verschiedenen Kirchen selbst auf paritätischer Grundlage nicht beizubehalten.

Ferner ist kein einheitlicher Sprachgebrauch und kein übereinstimmendes Ver-ständnis davon festzustellen, was „establishment" letztlich besagen will. Es kann sich auch kein Anhaltspunkt aus der zunächst vorgesehenen Formulierung des Verbots einer „national religion" wie auch aus dem unbestimmten Artikel „an" (sc. establishment of religion) für das Gebot der Errichtung einer einzigen Staats-kirche gewinnen lassen. Immerhin lässt sich das „establishment"als eine klare Trennung der Sphären Staat und Kirche deuten, wenn auch nicht im Sinn einer derart strikten Trennung, wie sie der oberste Gerichtshof judizierte.91

Die Verflechtungen von Staat und Kirche (z. B. durch staatliche Kirchenftnan-zierung in einigen Einzelstaaten) blieben sogar noch nach Inkrafttreten der „Bill of Rights" bestehen, da diese als Adressaten die Bundesebene, nicht die Einzelstaa-ten hatten. Richtete sich, wie oben erwähnt, das 1. Amendment zunächst gegen den Zentralstaat, änderte sich die Rechtslage mit dem 14. Amendment von 1863.

Dieses Amendment inkorporierte nach überwiegender Auffassung und der Rechtsprechung des obersten Gerichts zur „due process clause" Mitte des 20. Jahr-hundert die meisten Regelungen der „Bill of Rights", darunter auch die „establis-hment clause". Die Freiheitsgarantie der „due process clause" stellt nicht nur eine subjektiv- rechtliche umfassende rechtstaatliche Garantie verfahrensrechtlicher, sondern auch materiellrechtlicher Prägung dar. Mit der „due process clause" er-reichten die Freiheitsrechte der ersten zehn Amendments, darunter die subjektiv-

89 Vgl. E. Voll nah (1988), S. 220. 90 Vgl. umfassend W. Heun, Die Trennung von Kirche und Staat in den Vereinigten

Staaten von Amerika , in: K-H. Käs tne r /K .W. N ö r r / K . Schiaich (Hrs^.) , Festschrift für Martin Heckel. 1999 S. 341 ff.. 343 ff.

91 Dazu W. Heim (1999), S. 347 f.; E. Vollrath (1988), S. 216 f.

III. Gottesbezug und US-Verfassung 395

rechtliche Religionsfreiheit des erwähnten Amendments, die Gliedstaaten der USA. Als Ausprägung der „due process clause" werden alle jene Teile der „Bill of Rights" verstanden und auf die Gliedstaaten mit Hilfe dieser Klausel übergeleitet, denen nach der Rechtsprechung des Supreme Courts eine grundlegende Bedeu-tung für das der Bundesverfassung unterliegende Freiheitskonzept der „ordered liberty" zukommt.92

b) Inhalt und Reichweite der „Establishment Clause" nach der Rechtsprechung des Supreme Court

aa) Die Vertreter einer Trennung und einer Zusammenarbeit zwischen Staat und Religionsgemeinschaften

Die Rechtsprechung des obersten Bundesgerichts der USA ist dadurch gekenn-zeichnet, dass sie sich zwischen zwei gegenläufigen Positionen zur Auslegung der Establishment- Klausel bewegt. Einerseits ist der so genannte „Trennungs-ansatz" („Separation") hervorzuheben. Dieser verbietet eine Unterstützung von Religionsgemeinschaften in jedweder Form, unabhängig davon, ob alle Gruppen gleichermaßen begünstigt oder nur bestimmte Glaubensrichtungen bevorzugt wer-den. Nach dieser „Trennungsrechtsprechung" ist Religion eine auf den privaten Bereich beschränkte Erscheinung, die öffentliche oder gar staatliche Angelegen-heiten nicht oder zumindest so wenig wie möglich beeinflussen sollte. Diese Rechtsprechung lässt sich dahin gehend zusammenfassen, dass die genannte Klau-sel „eine Trennungswand zwischen Kirche und Staat" darstellt.

Auf der anderen Seite sind die Vertreter der Einstellung zu nennen, die eine Zusammenarbeit („accomodation") zwischen Staat und Religionsgemeinschaften so lange und insoweit für zulässig erachten, als der Staat nicht eine bestimmte Religionsgemeinschaft gegenüber anderen bevorzugt (sog. „accomodationists" bzw. „nonpreferentialists"). Letztgenannte Richtung hat in den 80er Jahren des

9~ Vgl. G. Klings, Von strikter Trennung zu wohlwollender Neutralität - Staat und Kirche in den Vereinigten Staaten und die gewandelte Auslegung der religious clauses der US-Verfassung. in: Zeitschrift für evangelisches Kirchenrecht 2000. S. 505 ff., 509 ff. mit Fn. 22. Gegen die Einbeziehung der Einzelstaaten in die „establishment c lause" ist e ingewandt worden, diese stelle kein Freiheitsrecht dar. Dem ist entgegenzuhalten, dass das Verbot des „establishment" unzweifelhaft mit dem Freiheitsrecht der Religionsfreiheit zusammenhängt , das sich gegen jede Einwirkung des Staates auf religiöse Freiheit richtet. Daneben war das Verbot auch von einer eher säkular geprägten Auffassung beeinflusst. der das Individuum und auch den Staat vor religiösen Einflüssen schützen wollte; letztlich sieht diese Auf-fassung sowohl den Staat durch eine Beeinflussung seitens der Kirche als auch diese durch eine Einflussnahme des Staates gleichermaßen als gefährdet an. vgl. T.M.Gannon. Die katholischen Bischöfe in der amerikanischen Politik der 80er Jahre, in: K .M. Kodalle (Hrsg.) . Gott und Politik in USA - Über den Einfluss des Religiösen. 1988. S. 155 ff.. 167 ff.

396 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

vergangenen Jahrhunderts Unterstützung von Verfassungshistorikern erhalten, die zweierlei Aspekte herausgearbeitet haben93: - Die Verfassungsväter der USA haben in der Establishment-Klausel nur die

Gründung einer Staatskirche und die Begünstigung von Bewerbern bestimmter Konfessionen bei der Besetzung öffentlicher Ämter verbieten wollen.

- Teilweise wird auch die Auffassung vertreten, die Establishment-Klausel habe nur untersagen wollen, die zur Zeit der Verfassunggebung bestehenden staats-kirchenrechtlichen Gegebenheiten der Gliedstaaten zu beeinträchtigen.

bb) Zusammenfassender Überblick über die Rechtsprechung des Supreme Court

Nach der grundlegenden Entscheidung des Gerichts aus dem Jahr 1947 (soge-nannte Everson- Entscheidung)94 beinhaltet die mehrfach erwähnte Establishment-Klausel die strikte Trennung von Staat und Religions- bzw. Glaubensgemeinschaf-ten und Kirchen, zum anderen untersagt sie zugleich aber auch eine Religions-feindlichkeit des Staates. Die Spannung zwischen dem Recht auf freie Religions-ausübung und dem Verbot der Errichtung einer Staatskirche versucht das Gericht durch das verbindende Element der „wohlwollenden Neutralität" zu überbrücken. Teilweise enthält die Rechtsprechung Elemente, die stärker den Trennungsgedan-ken, dann wieder solche, die mehr die Offenheit gegenüber der Religion betonen. Eine - alle Fälle befriedigende - Lösung ist bis heute nicht gefunden worden, vielmehr werden die bestehenden rechtlichen Probleme an Hand des jeweils zu entscheidenden Einzelfalls gelöst.

Prüfungsmaßstab der Establishment-Klausel durch den Supreme Court ist der bekannte, aber zugleich auch problematische „Lemon - Test"95. Dieser enthält drei Elemente und verlangt:96

- Mit staatlichem Handeln darf nur ein säkularer Zweck verfolgt werden (subjek-tives oder finales Kriterium),

- das Staatshandeln darf primär weder in der Förderung noch in der Beeinträch-tigung der Religion bestehen (objektives, ergebnisoffenes Kriterium),

- aus einem Tätigwerden des Staates darf sich keine übermäßige Verflechtung von Staat und Religionsgemeinschaften ergeben (objektives, handlungsbezogenes Kriterium).

Festzustellen ist, dass auch der „Lemon-Test" zu keiner klaren, eindeutigen Rechtsprechung geführt hat. Besonders einschneidend wirkt sich die Interpretation der Establishment-Klausel im Bereich der öffentlichen Erziehung aus.

93 Ausführlich G. Krings (2000), S. 511 f. m. w. N. 94 Everson v. Board ofEducation (1947)U.S. Reports Bd. 330. S. I. 95 Dazu insbesondere G. Krings (2000), S. 515 ff., 523 ff. 96 Lemon v. Kurtzmann (1971) U.S. Reports Bd. 403. S .602 .

III. Gottesbezug und US-Verfassung 397

Jede Form der Hinnahme religiöser Ausdrucksformeln (Schulgebet97 , Lesen der Heiligen Schrift9 '1 etc.) wie auch staatlicher Unterstützung wird als unvereinbar mit der genannten Klausel angesehen. Ferner wurden vom Supreme Court ein Moment der Stille zum individuellen Beten'19, das Anbringen des Dekalogs in Klas-senzimmern als Verletzung der genannten Klausel angesehen. Dasselbe Verbot gilt etwa für die gesetzliche Unterbindung der Evolutionslehre Darwins1(10 einerseits, andererseits ist der Unterricht in (streng) biblischer Abstammungslehre verboten. Ebenso hat das Gericht best immte Freizeiten im Rahmen der regulären Unter-richtszeit zur Ermöglichung des Religionsunterrichts als Verletzung der Klausel angesehen. Offenbar ist diese missverständliche Rechtsprechung darauf zurückzu-führen. dass Kinder im besonderen Maß für religiöse Einflüsse empfänglich sind und diese Einflussnahme verhindert werden soll. Die staatliche Ermöglichung religiöser Ausdrucksformeln haben staatliche Stellen dagegen - letztlich aus his-torischen Gründen - nicht beanstandet. Dasselbe gilt z. B. für das Gebet vor der Eröffnung von Parlamentssitzungen in den Einzelstaaten101 , die Ausstellung von Krippen als Teil einer öffentlich städtischen Weihnachtsdarstellung1 0 2 . Dagegen wurde das Zeigen religiöser Symbole in Gerichtsgebäuden verboten.1"3

Einen weiteren großen Bereich der erwähnten Klausel stellen die öffentli-chen Subventionen für private religiöse Aktivitäten dar. aber auch hier ist keine eindeutige Linie in der Rechtsprechung zu erkennen. So ist z. B. (religiöser) Er-gänzungsunterricht außerhalb des Schulgeländes erlaubt104, aber innerhalb des Geländes verboten105 . 1997 ist der Supreme Court jedoch von dieser Rechtspre-chung in einem Einzelfall abgewichen.10ft Ferner: Der Staat dar fe iner konfessionell geführten Privatschule die Kosten für die Durchführung staatlicher Prüfungen er-statten, sofern die Prüfungsaufgaben nicht von Lehrern der Privatschule stammen. Nicht beanstandet hat das oberste Bundesgericht auch die Förderung von Schulen und Aktivitäten in Form von Steuerabzügen und Steuerbefreiungen. Keine klare Rechtsprechung zur Establishment-Klausel ist auch im Bereich öffentl icher Sub-ventionen für private religiöse Aktivitäten zu erkennen. Immerhin ist festzustellen, dass sich das Gericht in vielen seinen Entscheidungen, so auch den beispielhaft

97 Engel v. Virale (1962) U.S. Reports Bd. 370. S. 421. 98 Abbington School District v. Schempp (1963) U.S. Reports Bd. 374. S. 203. 99 Wallace v. Jaffree (1985) U.S. Reports Bd. 472, S. 28. 100 Epperson v. Arkansas (1968) U.S. Reports Bd. 393. S. 97. 101 Marsh v. Camhers (1983) U.S. Reports Bd. 463. S. 783. 102 Lynch v. Donelly (1984) U.S. Reports Bd .465 , S . 6 6 8 . sowie County of Allegheny

v. American Ciliv Liberties Union Greater Pittsburgh Chapter (1989) U.S. Reports Bd. 492. S. 573.

103 Vgl. auch W. Heun (1999), 350 ff. sowie G. Krings (2000), S. 515 ff. 104 Zorach v. Clausa,i (1952) U.S. Reports Bd. 343. S. 306. 105 McCollum v. Board of Education (1948) U.S. Reports Bd. 333. S. 203. 106 Employment Division v. Smith (1990) U.S. Reports Bd. 494. S. 872.

398 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

angeführten, vom Trennungsprinzip leiten lässt. wonach „die Regierung ganz vom Bereich der religiösen Unterweisung ausgeschlossen ist und Kirchen von staatli-chen Angelegenheiten." Der „Lemon-Test", der dieses Ziel erreichen soll, wird in widersprüchlicher Weise angewendet. Vor allem sind es die oben erwähnte zweite und dritte Stufe, die offensichtlich einander so entgegengesetzt sind, dass sie kaum zugleich verwirklicht werden können. In seiner Rechtsprechung berücksichtigt der Supreme Court demzufolge auch Aspekte, die im „Lemon-Test" nicht vorkommen, das Ergebnis aber entsprechend entscheidend beeinflussen.107

Neben den für eine strikte Trennung zwischen Staat und Glaubensgemeinschaft maßgebenden Gründen, der Gefahr politischer Zerreißproben, der religiösen In-doktrination durch den Staat sowie der Gefahr der Verwicklung des Staates in religiöse Angelegenheiten oder einer Identifizierung des Staates mit einer be-stimmten Glaubensrichtung, die gerade vermieden werden soll, sind es vor allen Gesichtspunkte der Neutralität gegenüber verschiedenen Glaubensrichtungen, in-dividuelle Gleichbehandlung sowie die Bedeutung des Allgemeinwohls, von der sich das oberste Bundesgericht und die Gerichte der Gliedstaaten, wie immer wieder betont wird, in ihrer Rechtsprechung leiten lassen; in der Rechtsprechung wird dies allerdings nicht oder nur unzureichend deutlich. Hinzu kommt das Dilemma, dass dem Staat auf Grund der Religionsfreiheit Einschränkungen der freien Religionsausübung untersagt sind. Der Prüfungsmaßstab der Religionsaus-übungsklausel war bis 1990 dreistufig aufgebaut, wurde jedoch entscheidend von einer Abwägung zwischen den mit der Regelung verfolgten staatlichen Zwecken und dem Individualinteresse an freier Religionsausübung beeinfiusst. In seiner neuesten Rechtsprechung - etwa ab 1990 - hat der Supreme Court allerdings die Abwägung und das Erfordernis eines überwiegenden staatlichen Interesses fallen gelassen und akzeptiert nun eine Einschränkung der Religionsausübung, sofern sie auf einem „gültigen und neutralem Gesetz von allgemeiner Anwendbarkeit" beruht.

Vorschläge für eine Lösung der Spannung zwischen der Establishment-Klausel und der freien Religionsausübung waren in der Vergangenheit nicht in Überein-stimmung zu bringen: daran hat sich auch in der Gegenwart nichts Wesentliches geändert. Überwiegend tendieren derartige Vorschläge dahin, je nach der Fall-gestaltung entweder zu einem Vorrang der Trennungskonzeption (im Sinn des „Lemon-Tests") oder zum Vorrang der Religionsfreiheit zu gelangen. Allerdings ist nicht festzustellen, dass die Rechtsprechung bisher eindeutig einer der beiden Alternativen zuneigt. Keine allgemeine Zustimmung haben auch die bisherigen Versuche gefunden, die erwähnten Widersprüche des „Lemon-Tests" aufzulösen.

Allerdings haben sich die Schwerpunkte der Rechtsprechung durch die Beset-zung vakanter Richtersteilen am Supreme Court mit konservativen Juristen unter

107 Zur Kritik am „Lemon-Test" ausführlich G. Krings (2000).

III. Gottesbezug und US-Verfassung 399

den Präsidenten Reagan und Bush „senior" wie „junior" insoweit verschoben, als jetzt der Trennungsgedanke weniger stark betont, auf der anderen Seite aber die Religionsfreiheit stärker eingeschränkt wird. Die grundlegenden Schwierigkeiten werden damit allerdings auch nicht zufriedenstellend gelöst, zumindest so lange nicht, wie das mehrfach erwähnte Spannungsverhältnis zwischen strikter Tren-nung von Staat und Glaubensgemeinschaften einerseits und der Religionsfreiheit andererseits anerkannt wird.108

2. Gottesbezug in den bundesstaatlichen Verfassungen

Bemerkenswerterweise nimmt jede Verfassung der einzelnen US-amerikani-schen Bundesstaaten, im Gegensatz zur Verfassung der USA. ausdrücklich Bezug auf Gott. In den meisten bundesstaatlichen Verfassungen findet sich ein Gottesbe-zug bereits in der Präambel.

Neben Alabama (Verfassung von 1901 )109 gilt dies für Alaska (1956)"°, Ari-zona (1911) '" , Arkansas (1874)"2 , California ( 1 8 7 9 ) C o l o r a d o (1876)1,4 und Connecticut (1818) l , s .

Ebenso für Delaware ( I897)" 6 , Florida (1885)"7 , Georgia (1777)"8 , Hawaii (1959)119, Idaho (1889) 12°, Illinois (1870)'2 ' und Indiana (185l)122 .

108 In der Wertung ähnlich W. Heun (1999). S. 355 ff. 109 „We the people of the State of Alabama, invoking the favor and guidance of Almighty

God. do ordain and establish the following Constitution | . . . 1". 110 „We. the people of Alaska, grateful to God and to those who founded our nation

and pioneered this great land ( . . . ] " . 111 „We, the people of the State of Arizona, grateful to Almighty God for our liberties,

do ordain this Constitution 1. . . ]" . 112 „We, the people of the State of Arkansas, grateful to Almighty God for the privilege

of choosing our own form of government [ . . . J". 113 „We. the People of the State of California, grateful to Almiehty God for our f reedom

[ . . . ] " •

114 „We, the people of Colorado, with profound reverence for the Supreme Ruler of Uni verse [ . . . ] " .

115 „The People of Connecticut, acknowledging with gratitude the good Providence of God in permitting them to enjoy [ . . . 1".

1 , 6 „Through Divine Goodness all men have. by nature. the rights of worshipping and serving their Creator according to the dictates of their consciences [ . . . ] " .

117 „We, the people of the State of Florida, grateful to Almighty God for our constitu-tional liberty establish this Constitution 1.. . 1".

118 „We, the people of Georgia, relying upon protection and guidance of Almighty God. do ordain and establish this Constitution [ . . .1".

119 „We, the people of Hawaii, Grateful for Divine Guidance [ . . . ] establish this Consti-tution."

400 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

E i n e „ i n v o c a t i o D e i " b e i n h a l t e n z u d e m d ie P r ä a m b e l n d e r S t a a t e n Iowa

( 1 8 5 7 ) 1 2 3 , K a n s a s ( 1 8 5 9 ) ' 2 4 , K e n t u c k y ( I 8 9 1 ) ' 2 5 , L o u i s i a n a ( I 9 2 1 ) 1 2 6 , M a i n e

( 1 8 2 0 ) 1 2 7 , M a r y l a n d ( 1 7 7 6 ) , 2 S u n d M a s s a c h u s e t t s ( 1 7 8 0 ) 1 2 9 .

A u c h i n M i c h i g a n ( 1 9 0 8 ) 1 3 0 , M i n n e s o t a ( 1 8 5 7 ) m , M i s s i s s i p p i ( 1 8 9 0 ) ' 3 2 . M i s s -

o u r i ( 1 8 4 5 ) ' 3 3 , M o n t a n a ( 1 8 8 9 ) 1 3 4 u n d N e b r a s k a ( 1 8 7 5 ) 1 3 5 w e i s e n j e w e i l s d i e

P r ä a m b e l n G o t t e s b e z ü g e au f .

Pa ra l l e l en z e i g e n s ich i n d e n P r ä a m b e l n d e r V e r f a s s u n g e n von N e v a d a ( I 8 6 4 ) 1 3 6 ,

N e w J e r s e y (1844 ) 1 3 7 , N e w M e x i c o ( 1 9 1 l ) 1 3 8 , N e w York (1846 ) 1 3 9 , N o r t h C a r o l i n a

120 „We, the people of the State of Idaho, grateful to Almighty God for our freedom. to secure its blessings [ . . . ]".

121 „We. the people of the State of Illinois, grateful to Almighty God for the civil, political and religious liberty which He hath so long permitted us to enjoy and looking to Hirn for a blessing on our endeavours."

122 „We. the People of the State of Indiana, grateful to Almighty God for the free exercise of the right to chose our form of government ."

123 „We, the People of the State of Iowa, grateful to the Supreme Being for the blessings hitherto enjoyed. and feeling our dependence on Him for a continuation of these blessings establish this Consti tution."

124 „We. the people of Kansas, grateful to Almighty God for our civil and religious Privileges establish this Consti tution."

125 „We, the people of the Commonweal th of grateful to Almighty God for the civil, political and religious liberties 1 . . . J" .

126 „We. the people of the State of Louisiana, grateful to Almighty God for the civil, political and religious liberties we enjoy."

127 „We the People of Maine [ . . . 1 acknowledging with grateful hearts the goodness of the Sovereign Ruler of the Universe in affording us an opportunity I . . . | and imploring His aid and direction."

128 „We. the people of the State of Maryland, grateful to Almighty God for our civil and religious liberty ( . . .1" .

129 „We I . . . ] the people of Massachusetts , acknowledging with grateful hearts. the goodness of the Great Legislator of the Universe [ . . . ] in the course of His Providence. an opportunity and devoutly imploring His direction [ . . . ] " .

130 „We. the people of the State of Michigan, grateful to Almighty God for the blessings of f reedom I . . . J establish this Constitution."

131 „We, the people of the State of Minnesota, grateful to God for our civil and religious liberty, and desiring to perpetuate its blessings

132 „We. the people of Mississippi in Convention assembled. grateful to Almighty God. and invoking His blessing on our work."

133 „We. the people of Missouri, with profound reverence for the Supreme Ruler of the Universe, and grateful for His goodness I . . . 1 establish this Constitution [ . . . ] " .

134 „We, the people of Montana, grateful to Almighty God for the blessings of liberty establish this Constitution ! . . . ] " .

135 „We. the people. grateful to Almightv God for our freedom. establish this Constitu-t ion."

III. Gottesbezug und US-Verfassung 401

(1868)1 , 4 0f N o r t h D a k o t a ( 1 8 8 9 ) M l , O h i o ( 1 8 5 2 ) 1 4 2 und O k l a h o m a ( 1 9 0 7 ) 1 4 3 . d a s d i e

„ i n v o c a t i o " a l l e r d i n g s n ich t m i t d e r E i n l e i t u n g s f o r m e l „ w e , t he p e o p l e " v e r b i n d e t .

S c h l i e ß l i c h e r s c h e i n e n G o t t e s b e z ü g e i n d e n P r ä a m b e l n d e r S t a a t e n P e n n s y l -

v a n i a ( 1 7 7 6 ) 1 4 4 , R h o d e I s l a n d ( 1 8 4 2 ) ' 4 5 , S o u t h C a r o l i n a ( 1 7 7 8 ) U 6 , S o u t h D a k o -

t a ( 1 8 8 9 ) 1 4 7 , T e x a s ( 1 8 4 5 ) 1 4 8 , U t a h ( 1 8 9 6 ) 1 4 9 , W a s h i n g t o n ( 1 8 8 9 ) 1 5 0 , W i s c o n s i n

( 1 8 4 8 ) 1 5 1 u n d W y o m i n g ( 1 8 9 0 ) ' 5 2 .

I nha l t l i ch w i e s p r a c h l i c h b e m e r k e n s w e r t s ind d i e P r ä a m b e l t e x t e v o n V e r m o n t

( 1 7 7 7 ) ' » u n d W e s t V i r g i n i a ( 1 8 7 2 ) 1 S 4 .

136 „We the people of the State of Nevada, grateful to Almighty God for our f reedom establish this Constitution [ . . . ] " .

137 „We. the people of the State of New Jersey, grateful to Almighty God for civil and religious liberty which He hath so long permitted us to enjoy. and looking to Hirn for a blessing on our endeavors [ . . . ) " .

138 „We, the People of New Mexico, grateful to Almighty God for the blessings of liberty [ . . . ] " .

139 „We, the people of the State of New York, grateful to Almighty God for our freedom. in order to secure its blessings I . . . 1".

140 „We the people of the State of North Carolina, grateful to Almighty God. the Sover-eign Ruler of Nations. for our civil, political. and religious liberties. and acknowledging our dependence upon Him for the continuance of those [ . . . 1".

141 „We, the people of North Dakota, grateful to Almighty God for the blessings of civil and religious liberty, do ordain [ . . . 1".

142 „We the people of the State of Ohio, grateful to Almighty God for our f reedom. to secure its blessings and to promote our common [ . . . ] " .

143 „Invoking the guidance of Almighty God. in order to secure and perpetuate the blessings of liberty [ . . . 1 establish this 1.. . J".

144 „We, the people of Pennsylvania, grateful to Almighty God for the blessings of civil and religious liberty, and humbly invoking His guidance 1.. . |" .

145 „We the People of the State of Rhode Island grateful to Almighty God for the civil and religious liberty which He hath so long permitted us to enjoy, and looking to Him for a blessing [ . . . ] " .

146 „We. the people of the State of South Carolina, grateful to God for our liberties, do ordain and establish this Consti tution."

147 „We. the people of South Dakota, grateful to Almighty God for our civil and religious liberties ( . . . J establish this Consti tut ion."

148 „We the People of the Republic of Texas, acknowledging, with gratitude. the grace and beneficence of God 1.. . ]".

149 „Grateful to Almighty God for life and liberty, we establish this Consti tution." 150 „We the People of the State of Washington grateful to the Supreme Ruler of the

Universe for our liberties. do ordain this Constitution 1. . . ]" . 151 „We, the people of Wisconsin, grateful to Almighty God for our freedom. domestic

tranquility [ . . . ] " . 152 „We, the people of the State of Wyoming, grateful to God for our civil, political. and

religious liberties [ . . . J establish this Constitution [ . . . 1".

402 C. Der Gottesbezug in den Verfassungen Europas und der USA

Lediglich in vier Staaten ist der Gottesbezug nicht im Text einer Präambel enthalten. In Oregon (1857)155 und Virginia (1776)"6 ist die jeweilige „Bill of Rights" zu bemühen. In New Hampshire (1792)157 und Tennessee (1796)158 findet sich der Gottesbezug „eingebettet" in die Verfassungsartikel.

IV. Das US-Model l ein Vorbild für Europa?

Kann das US-amerikanische Modell des „wall of Separation" zwischen Staat und Religionsgemeinschaften Vorbild für Europa sein?159 Die Vielzahl der Religio-nen und Weltanschauungen ist ein Integrationsproblem auch in Europa. Das mag auch für Europa zunächst nahe legen, strikte Trennung zu suchen. Aber die Dok-trin der „wall of Separation" lässt sich nicht durchhalten, das zeigt gerade auch die heterogene Rechtslage in den Vereinigten Staaten. Vielfältig ist die Mauer durch-brochen. Wo sie hält, drängt sich bisweilen der Verdacht der Diskriminierung des Religiösen auf. wenn etwa weltlich geführte Privatschulen staatlich gefördert wer-den, religiös geführte aber nicht. Das amerikanische Modell lebt zudem von einer sozialen Intensität der Religion, die sich in Europa kaum (noch) findet. Manchmal wird dennoch das amerikanische Religionsrecht als Modell für Europa empfohlen. Amerika steht für strikte Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften und für strikte Gleichheit aller Religionsgemeinschaften auf einem „Marktplatz der Religionen". Keiner Religionsgemeinschaft darf der Staat, selbstverständlich auch nicht in Europa, den Zugang zu angemessener Religionsausübung versperren. Die Auseinandersetzung der kommenden Jahre wird die religionsrechtliche Gleichheit zu einem Hauptgegenstand haben. Diese Auseinandersetzung kommt wesentlich aus den Vereinigten Staaten von Amerika. Religionsrechtliche Gleichheit verlangt aber nach mehr als bloß dem freien Marktplatz der Religionen.

153 „Whereas all government ought to ( ] enable the individuals who compose it to enjoy their natural rights, and other blessings which the Author of Existence has bestowed on man [ . . . J".

154 ..Since through Divine Providence we enjoy the blessings of civil, political and religious liberty. we, the people of West Virginia, reaffirm our faith in and constant reliance upon God [ . . . j".

155 Bill of Rights, Article I. Section 2: ..AU men shall be secure in the Natural right. to worship Almighty God according to the dictates of their consciences ."

156 Bill of Rights. XVI: „ | . . . | Religion, or the Duty which we owe our Creator [ . . . ] can be directed only by Reason. and that it is the mutual duty of all to practice Christian Forbearance. Love and Charity towards each other 1.. . J".

157 Part I. Art. I. See. V: „Every individual has a natural and unalienable right to worship God according to the dictates of his own conscience."

1511 Art. XI. III: „That all men have a natural and indefeasible right to worship Almighty God according to the dictates of their conscience I . . . J".

159 Zu dieser Frage ausführlich G. Robbers. Europäische Verfassung und Religion, in: Politische Studien. Der Europäische Verfassungskonvent - Strategien und Argumente. Sonderhef t I /2003. S. 66 ff.. 67 f.

Nachwor t

Gemeinsam bilden Europa und die USA die weltweit bedeutendste Einfluss-sphäre von Demokratie, Sicherheit, Wohlstand und Frieden. Dennoch sind USA und Europa vornehmlich Mächte des Status quo, denen in erster Linie an der Bewahrung ihrer eigenen Werte gelegen ist. Obgleich beide ein sich in hoher Rasanz wandelndes Verständnis globaler Zusammenhänge federführend mitbe-stimmen, steht einer Verwirklichung gemeinsamer Hoffnungen ein - trotz aller gemeinsamen Wurzeln - durchaus unterschiedlicher Konservatismus entgegen, der sich aus den eigenverantwortlich materialistischen Grundprägungen beider Gesellschaften nährt. Das Spannungsfeld Konservatismus und Moderne auch im transatlantischen Verhältnis anzuführen ist schon deswegen nicht reizlos als auch die Koppelung beider Ausrichtungen zunehmend deutlich wird. Auch im weiten Feld des in der Praxis erprobten Verfassungsverständnisses. Todesstrafe, genmanipulierte Lebensmittel, aber auch die Notwendigkeit militärischer Inter-ventionen lassen (bei allen benevolenten Hegemonialstrukturen) eine wachsende gegenseitige Einflussnahme und in vielen Teilbereichen Abhängigkeit erkennen. Ein Mischverhältnis aus Emanzipierung und Fügung. Freilich bleiben die latente Amerikanisierung und deren fundamentale Ablehnung als dynamische Gegenpole erhalten.

Kulturell lassen sich jedoch auch Tendenzen der Entfremdung ausmachen. Je mehr sich Europa und die Vereinigten Staaten gesellschaftlich, politisch, letztlich in der Verfassungswirklichkeit gleichen, desto lauter werden die Stimmen der Ablehnung eines Assimilierungsprozesses. Die Europäer, insbesondere die Ein-zelstaaten sträuben sich gegen eine Strömung, die sie als fremden Eingriff fremder Ideen in ihre traditionelle Identität betrachten. Illustrativ steht hierfür Frankreich, das durch gesellschaftspolitische Einzelmaßnahmen Druck ausübt, um die so ver-standene kulturelle Einzigartigkeit des Landes zu bewahren. In Deutschland wird die neue Distanz auf einer anderen Ebene sichtbar. Das Selbstbewusstsein, auf internationaler Ebene ohne die betonte Fessel der Vergangenheit als Streitschlich-ter Profil zu gewinnen - etwa im nahen Osten (ein Einfluss über den Frankreich beispielsweise nicht mehr verfügt) -, zeugt von einem ausgeprägten Willen zur Emanzipation.

Beide - die Vereinigten Staaten und Europa - eint die Idee eines neuen, gewalt-losen und positiv einzuschätzenden „Verfassungsimperialismus": die Grenzen des Friedens, der Stabilität und der Demokratie nach Osteuropa und die restliche Welt wenigstens in der Respektierung auszuweiten, ist eine Anforderung, die Europa

404 Nachwort

und die USA langfristig nur gemeinsam meistern können. Die ähnliche Interes-senlage dies- und jenseits des Atlantiks kollidiert mit der Unterschiedlichkeit der Gefühlslage. Beides ist Grundlage einer Kultur.

„Dass Verfassung sich überall bilde, wie sehr ist 's zu wünschen!

Aber ihr Schwätzer verhelft uns zu Verfassungen nicht"

(J. W. v. Goethe! F. Schiller. Xenien)'

1 Vgl. E.Trunz (Hrsg.). „Der Patriot": „Dass usw.": Xenien. Goethes Werke. Bd. 1. Hamburger Ausgabe. 1998. S .216 .

Zusammenfassung

A. Am 18. Juni 2(X)4 wurde europäische Verfassungsgeschichte geschrieben. Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union einigten sich auf den Text des europäischen Verfassungsvertrages. Die Vorgeschichte ist lang und ein Rückblick darf sich demzufolge keineswegs auf die Debatte der letzten Jahre beschränken.

Bezeichnenderweise schien zunächst nur in den USA Vertrauen in das neue Werk der Europäer zu bestehen. Dort wurde der Verfassungskonvent in den Medien wie in der politischen Debatte zuweilen ungeniert mit dem Konvent von Philadel-phia verglichen. Nicht nur die spezielle Bezeichnung des mit der Ausarbeitung des Entwurf eines Vertrags über eine Verfassung für Europa befassten Gremiums als ..Europäischer Konvent" weckt Assoziationen mit dem mit der Ausarbeitung der amerikanischen Bundesverfassung betrauten „Konvent von Philadelphia". Auch das nun vorliegende Ergebnis der Konventsberatungen, das landläufig als „EU-Verfassung" bezeichnet wird, scheint (vordergründig) inhaltliche Parallelen zur amerikanischen Bundesverfassung aufzuweisen.

Zahlreichen Verfassungsbemühungen anderer Staaten diente die US-amerika-nische Verfassung als Vorbild. Ein verfassungsgeschichtlicher Vergleich ist daher auch unter dem Aspekt der pluralistischen Beeinflussung der gemeineuropäischen Verfassungsbemühungen fast geboten.

Die Verfassungswerdung Amerikas ist so sehr auch eine europäische wie die europäische Verfassungsentwicklung auch eine amerikanische ist. Das Resultat der einen kann dabei auf eine nunmehr über 200 Jahre währende Tradition zu-rückblicken, die andere fertigte sich angesichts der weitaus kürzeren Historie nach klassischen Modellen ihren eigenen Typus ohne dabei jüngste und originäre Entwicklungen außer Acht zu lassen.

B. Zielsetzung und Schwerpunkt der Arbeit ist eine vergleichende Untersuchung der konstitutionellen Entwicklungslinien in den USA und der Europäischen Union.

Unter Zugrundelegung des Begriffspaares „Verfassungserweckung" und „Ver-fassungsbestätigung" werden zunächst Eckpunkte und Grundlagen der jeweiligen Verfassungsgeschichte dargelegt und das US-amerikanische wie das „europäische" Verfassungsverständnis beleuchtet.

I. Die Erörterung der amerikanischen Verfassungsgeschichte beginnt mit ei-nem Hinweis auf Erscheinungsformen des europäischen kulturellen Einflusses,

406 Zusammenfa s sung

um u.a . über die „Fundmental Orders of Connecticut", den partiellen Eman-zipationsschritt der Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die „Articles of Confederation" zum Verfassungskonvent, der Ratifizierungsdiskussion und der Debatte zwischen Federalists und Antifederalists zu gelangen. Die Schilderung einiger Axiome amerikanischen Verfassungsverständnisses korrespondiert mit einer Strukturierung der weiteren Verfassungsgeschichte der USA. in deren Ver-lauf sich das gesamte Ausmaß „konstitutioneller Selbstfindung" und „kultureller Selbstverwirklichung" widerspiegelt.

II. Die umfängliche Darlegung der europäischen Verfassungsentwicklung reicht von der Gründung der Paneuropa-Bewegung in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bis zur (andauernden) Ratifikationskrise im Zuge des seit Ende 2003 vorliegenden Europäischen Verfassungsvertrages. Neben einer chronologischen Aufstellung und inhaltlichen Beurteilung einer Vielzahl von Verfassungsentwür-fen wird zum einen den Ansätzen aus der Mitte des Europäischen Parlaments (1984 und 1994) sowie dem ersten „Konvent" zur Grundrechtecharta breiterer Raum gegeben. Die juristische Betrachtung wird durch die Leitbilder und „euro-päischen Ideale" in der politischen Auseinandersetzung um die Jahrhundertwende ergänzt, um letztlich auch das Wechselspiel zwischen Verfassungsfunktionen und jüngster politischer Diskussion näher zu begründen. Bevor sich abschließend der Arbeitsweise und den Ergebnissen des Europäischen Verfassungskonvents ange-nommen wird, versucht die Arbeit in einem denknotwendigem Zwischenschritt die vielfach gestellten und beantworteten Fragen nach der Verfassungsqualität der Gemeinschaftsverträge sowie nach einem „europäischen Verfassungsverständ-nis und -begriff* zusammenfassend zu erläutern und durch einige Überlegungen anzureichern.

III. Aus den frühen europäischen Wurzeln amerikanischen Rechtsdenkens so-wie aus der Betrachtung des Einflusses der amerikanischen Verfassung und des dortigen Verfassungsverständnisses auf heutige europäische Rechtskultur(en) lässt sich im Ergebnis das Erwachsen eines „transatlantischen Verfassungsfundamen-tes" konstatieren.

IV. Ihre Festigung und Bestätigung fanden und finden der US-amerikanische Verfassungsstaat sowie die europäische Verfassungsgemeinschaft im Besonderen durch Verfassunggebung. Verfassungsinterpretation und Verfassungsprinzipien. Drei Themenkomplexe, die ebenfalls einer transatlantisch vergleichenden Analyse unterzogen werden.

Die Arbeit unterscheidet zwischen „gebundener" und „kreativer" Verfassungge-bung, wobei unter der ersten Alternative die kodifizierten Wege zur Verfassungs-ergänzung und -änderung zu verstehen sind. Während aus US-amerikanischer Perspektive die Verfassungs-,Amendments" als „Abbilder einer Verfassungser-gänzung" und „Spiegelung amerikanischer Kulturgeschichte" eine tiefgehende Un-tersuchung erfahren, werden mit Blick auf die Europäische Union unterschiedliche

Zusammenfa s sung 407

gemeinschaftsrechtliche Elemente und Verfahrensmodelle zur Vertrags- bzw. Ver-fassungs(Vertragsänderung aufgezeichnet.

Die Begrifflichkeit „kreative Verfassunggebung" zielt auf die verschiedenarti-gen Optionen der Verfassungsinterpretation ab. Im Mittelpunkt dieses Abschnitts der Arbeit steht hierbei eine komparative Erörterung der Rolle der jeweiligen obersten Gerichte. Die „Wiege der Verfassungsgerichtsbarkeit" ist freilich in den Vereinigten Staaten anzusiedeln. Allerdings lässt sich in Anlehnung an die Geburts-stunde der Verfassungsgerichtsbarkeit auch von einem „europäischen Marbury vs. Madison" sprechen. Dem US-Supreme Court als „ständigen Verfassungskon-vent" und „erheblichen Faktor von Rezeption und Bestätigung gesellschaftlichen Wandels" wird der Europäische Gerichtshof als „Verfassungsgericht" und in sei-ner (Verfassungs-)Rechtsprechung als „Spiegelbild einer offenen Gesellschaft" gegenübergestellt.

Schließlich werden Grundgedanken und Strukturelemente des amerikanischen Verfassungsstaates und der europäischen Verfassungsgemeinschaft miteinander verglichen. Beispielhaft zu nennen sind die Erörterung der Kompetenzverteilung zwischen Union und Einzelstaaten auf beiden Seiten des Atlantiks, die jeweilige Ausgestaltung des Prinzips der Gewaltenteilung, die Begrifflichkeiten „Identität" und „Nation" sowie das Demokratieprinzip in der respektiven Vorstellung.

V. Vergleichende Anmerkungen zu den jeweiligen Konventsverfahren und Kon-ventsergebnissen (amerikanische Bundesverfassung von 1789 und Europäischer Verfassungsvertrag von 2003/4) beschließen mit der Frage nach den Lehren für die Europäische Union resümierend die umfassende Analyse zweier Verfassung-gebungsprozesse.

C. Hohe emotionale Wogen während des europäischen Verfassungskonvents schlug die Debatte um die Formulierung eines Gottesbezugs. Neben einer näheren Untersuchung der Diskussion um die „invocatio Dei" im Verfassungsvertrag wird auch hier ein vergleichender Blick in die Vereinigten Staaten geworfen. Dies verknüpft sich mit einer Darstellung der Gottesbezüge in den Verfassungen der jeweiligen Einzelstaaten auf beiden Seiten des Atlantiks und (ergänzend) mit einer Betrachtung der Rechtsprechung des US-Supreme Court zur Trennung von Staat und Religion sowie etwaiger Gottesbezüge in den Verfassungen der deutschen Bundesländer.

Im Anhang finden sich Bewertungen und Positionen der CDU/CSU-Bundes-tagsfraktion zu den Beratungen des Europäischen Verfassungskonvents sowie zum Entwurf des Verfassungsvertrages. Zudem werden die Amendment-Vorschläge zur amerikanischen Verfassung dokumentiert, die den Kongress passierten Jedoch nicht von den Staaten ratifiziert wurden.

Anhänge

Anhang 1

Genieinsame Positionen von CDU und CSU zum Stand der Beratungen des EU-'Verfassung?-Vertrages

20. Juni 2003

I. CDU und CSU begrüßen den Abschluss der Arbeiten des Konvents an den Teilen I und II der geplanten EU-Verfassung.

Der vorliegende Entwurf ist ein wichtiger Fortschritt für die Weiterentwicklung der Europäischen Integration und für eine bessere Wahrnehmung der berechtigten Interessen von Bund. Ländern und Gemeinden. Er trägt in wichtigen Bereichen die Handschrift von CDU und CSU und ihrer Vertreter im Konvent.

II. Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass im Rahmen des Konvents Fortschritte bei der Antwort auf die aktuelle Reformkrise der EU erzielt werden konnten:

- Erstmals ist es gelungen, eine klare Kompetenzordnung über die Zuständigkeiten der Europäischen Union mit einer Einteilung und Auflistung der Kompetenzkategorien festzulegen. Außerdem muss die Europäische Union dort, wo sie zuständig ist. die Prinzi-pien der begrenzten Einzelermächtigung, der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit beachten. Damit sind allgemeine Zielformulierungen nicht mehr kompetenzbegründend.

- Alle diese Festlegungen unterliegen einer Kontrolle durch die nationalen Parlamen-te - und über ein Klagerecht beider Kammern der nationalen Parlamente - durch den Europäischen Gerichtshof.

- Alle Teile des Verfassungsvertrags haben die gleiche Rechtsqualität. - Durch den Verfassungsvertrag wird die EU stärker als bisher als Wertegemeinschaft

definiert. - Die verbindliche Aufnahme der Grundrechte-Charta stärkt die Rechte der Bürgerinnen

und Bürger gegenüber den europäischen Institutionen. - Die stärkere politische Anbindung der Kommission an das Europäische Parlament bei

der Wahl des Kommissionspräsidenten und die Stärkung der Mitspracherechte des Europäischen Parlaments machen die EU demokratischer.

- Die Einrichtung eines öffentlich tagenden Legislativrates und die - durch die Bestim-mung von Kompetenzkategorien - übersichtlichere Aufgabenverteilung zwischen EU und Mitgliedsstaaten verbessern die Transparenz Europas.

- Mit der Reduzierung der Größe der Kommission, der Schaffung eines Außenministers und eines Präsidenten des Europäischen Rates und dem verstärkten Übergang zur Mehrheitsentscheidung wird die EU handlungsfähiger.

- Zur Abgrenzung der Handlungsbefugnisse der EU wird das Subsidiaritätsprinzip ge-stärkt und seine Durchsetzung durch die Schaffung eines Frühwarnsystems und eines Klagerechts zugunsten der nationalen Parlamente verbessert.

Anhänge 409

- Bei wichtigen nationalen Politikfeldern (z. B. Bildung. Kultur) wird in der Verfassung ein ausdrückliches Harmonisierungsverbot verankert.

- Die Verfassung achtet erstmals rechtsverbindlich die regionale und kommunale Selbst-verwaltung sowie den Status der Kirchen und Religionsgemeinschaften.

- Durch die Einführung der doppelten Mehrheit (Mehrheit der Staaten. 6 0 % der Be-völkerung) werden die Bevölkerungsverhältnisse in der Europäischen Union besser berücksichtigt und die Entscheidungsfähigkeit des Rates verbessert.

III. Auf der anderen Seite ist es nicht gelungen, die Kompetenzen auf europäischer Ebene zurückzufuhren.

- Die al lgemeinen und speziellen Koordinierungszuständigkeiten der EU in der Wirt-schafts- und Sozialpolitik sind in Teil I ungenau formuliert . Art. 1-14 sollte präziser gefasst werden. Es muss verhindert werden, dass es zu einer zentralen Steuerung der Wirtschaftpoli t ik kommt. Entscheidend ist jedoch, dass die einschlägigen Einzeler-mächtigungen in Teil III maßgeblich sind, die praktisch unverändert dem derzeitigen EG-Vertrag entsprechen.

- Bei den Eigenmitteln müssen nicht nur die finanziellen Obergrenzen, sondern auch das Verhältnis der Eigenmittelquellen zueinander (z. B. der Anteil der Mehrwertsteuer oder der BSP-Quelle an den Eigenmitteln) der Einstimmigkeit unterliegen, um die finanziellen Risiken für Deutschland zu begrenzen.

- Beim Klagerecht der nationalen Parlamente gehen wir davon aus. dass dieses Recht auch die Rüge von Verletzungen der Kompetenzordnung umfasst.

- Es muss nötigenfalls im Verhältnis zwischen Bund und Ländern sichergestellt werden, dass sich das Recht der Länder, bei Betroffenheit ihrer Zuständigkeiten Deutschland im Ministerrat zu vertreten, nicht nur auf den Legislativrat beschränkt.

- Der Europäische Rat kann in Fällen, in denen der Verfassungsvertrag Einstimmigkeit vorsieht, durch einst immigen Beschluss zur Mehrhei tsentscheidung übergehen, wobei die nationalen Parlamente davon lediglich unterrichtet werden. Nachdem spätere ge-meinschaf tsautonome Änderungen des Vertrags fü r die nationalen Parlamente bei ihrer Zus t immung voraussehbar sein müssen (BVerfG). ist innerstaatlich bei der Ratifizie-rung sicherzustellen, dass die Bundesregierung ihre Zus t immung von der vorherigen Zus t immung des Parlaments abhängig macht.

IV. Zu den Teilen III und IV des Verfassungsvertrags wird der Konvent seine Beratungen in den nächsten Wochen abschließen. C D U und CSU sind sich einig, dass dabei folgende gemeinsame Positionen vertreten werden:

- Die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten für das Maß der Einwanderung und den Zugang z u m Arbeitsmarkt für Drittstaatsangehörige soll festgeschrieben werden.Nötigenfalls sind diese Bereiche in der Einstimmigkeit zu belassen.

- Die Binnenmarktklausel muss präzisiert und auf Maßnahmen beschränkt werden, welche primär und unmittelbar die Errichtung oder das Funktionieren des Binnenmarktes zum Gegenstand haben.

- Zur Erweiterung der Spielräume der Mitgliedsstaaten zur Gestal tung einer eigenstän-digen Strukturpolitik soll das Wettbewerbsrecht dahingehend geändert werden, dass Beihilfen generell mit dem Binnenmarkt vereinbar sind, soweit sich die Handelsbe-dingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse „spürbar" zuwider läuft.

410 Anhänge

- In den sozialpolitischen Bestimmungen muss klargestellt werden, dass die Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten fü r die Organisation. Finanzierung und Leistungen der sozialen Sicherungssysteme sowie ihre umfassende Zuständigkeit für die Sozialhilfe zu wahren ist.

- In der Energiepolitik sollte es bei der bisherigen binnenmarktbezogenen Zuständigkeit bleiben.

- Eine neue Zuständigkeit der EU für die Bestimmung der Ausgestaltung von Leistungen der Daseinsvorsorge sollte nicht in den Vertrag aufgenommen werden.

- Die Querschnit tsbest immung in Artikel III-O soll so präzisiert werden, dass eine Umge-hung der Regelung in Artikel 1-3 Abs. 5 des Vertrages ausgeschlossen ist. Allgemein ist darauf zu achten, dass nicht auch über die Best immung in III-O die offene Methode der Koordinierung verankert wird.

- Bei Änderungen der Verfassung ist bei Kompetenzbegründungen und - ände rungen am Prinzip der Einstimmigkeit und der Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten festzuhalten.

V. Nach Vorlage des Gesamtentwurfs werden CDU und CSU eine endgültige Bewertung vornehmen und das weitere Vorgehen in Bezug auf die Regierungskonferenz festlegen.

Anhang 2

Bewertung der CDU/CSU-Fraktion vom 19. Juni 2004

„Vertrag über die EU-Verfassung" Ergebnisse der Regierungskonferenz vom 17./18. Juni 2004

Die Staats- und Regierungschefs der 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union hohen an diesem Wochenende den Entwurf eines Vertrages für eine europäische Verfassung verabschiedet. Als völkerrechtlicher Vertrag bedarf er der Ratifizierung durch alle 25 Mitgliedstaaten der Europäischen Union, um in Kraft treten zu können.

Dabei bestimmt sich die Ratifizierung nach den jeweiligen nationalen Verfassungen der einzelnen Mitgliedstaaten. In Deutschland bedeutet dies, dass Bundestag und Bun-desrat dem Vertrag über eine europäische Verfassung mit einer jeweiligen 2/3-Mehrhei t zust immen müssen (Art. 23 Abs. 1 S. 3 iVm Art. 79 Abs. 2 des Grundgesetzes).

Die neue EU-Verfassung besteht im Kern aus einer Zusammenfassung des EU- und des EG-Vertrages sowie der Grundrechtecharta. Dabei ist es gelungen, in Weiterentwicklung der bisherigen Verträge erstmals eindeutige Kompetenzkategorien festzulegen. Allgemeine Zielformulierungen sind ausdrücklich nicht kompetenzbegründend. Außerdem gilt in der EU das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, wonach sie nur dann handeln darf, wenn es dafür eine ausdrückliche Ermächtigung im Verfassungsvertrag gibt.

Die Verfassung ist in vier Teile gegliedert: Der erste Teil befasst sich mit den Grundlagen der Europäischen Union. Dazu zählen u. a. die Ziele der EU, die Kompetenzkategorien. Vorschriften zur Ausübung der Kompetenzen sowie grundsätzliche Festlegungen zu den Organen und zu bestimmten Politikbereichen wie beispielsweise der Gemeinsamen Außen-und Sicherheitspolitik (GASP) sowie Innen und Justiz. Daran schließt sich der zweite Teil

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der Verfassung an. der die Grundrechtecharta beinhaltet. Diese war am 2. Oktober 2000 vom Europäischen Rat in Nizza durch feierliche Erklärung angenommen worden, wird jetzt durch Inkorporation in den Verfassungsvertrag verbindliches Recht. Der Teil drei ist der eigentliche Kern der Verfassung, beschreibt er doch sehr detailliert die einzelnen Politikbereiche, in denen die EU handeln darf (begrenzte Einzelermächtigungen). Teil vier beinhaltet die Schlussbest immungen.

Eine Präambel leitet die Verfassung ein. in der u. a. ein ausdrücklicher Verweis auf das religiöse Erbe Europas aufgeführt ist (..Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe E u r o p a s , . . . " ) , aus dem sich als universelle Werte die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen. Demokratie. Gleichheit. Freiheit und Rechts-staatlichkeit entwickelt haben. Dies ist bereits ein großer Fortschritt gegenüber dem Status quo. da bislang ein solcher Wertebezug in den europäischen Verträgen fehlt. Wir hätten uns aber einen klaren Gottesbezug (invocatio dei) und einen Verweis auf die prägende Wirkung des Christentums (christliches Erbe) gewünscht . Frankreich und Belgien haben dies mit Verweis auf ihre strikte Trennung von Staat und Kirche abgelehnt.

Die Srinwiengewichtung im Rat war bis zuletzt der umstrittenste Punkt in den Verhandlun-gen der Regierungskonferenz. Der Europäische Rat im Dezember letzten Jahres scheiterte an dieser Frage, da Spanien und Polen dem im Konventsentwurf niedergelegten neuen Prinzip der doppelten Mehrheit nicht folgen wollten. Sie sahen darin eine deutliche Ver-schlechterung ihres St immengewichts im Rat gegenüber dem bestehenden Nizza-Vertrag, nach dem sie trotz erheblich geringerer Bevölkerungszahl fast ebenso viele St immen haben wie die großen Mitgliedstaaten Deutschland. Großbritannien. Frankreich und Italien. Kern-punkt der doppelten Mehrheit ist, dass es fü r die Annahme eines Kommissionsvorschlags eine festgelegte Anzahl von Staaten geben muss, die einen best immten Bevölkerungsan-teil. bezogen auf die Gesamtbevölkerung der EU. erreichen müssen. Der Konvent hatte vorgesehen, dass 50% der Staaten, die 60% der Bevölkerung der EU repräsentieren, e inem Vorschlag zustimmen müssen. Die Regierungskonferenz hat sich dagegen auf folgende Ver-teilung geeinigt - nicht zuletzt auch, um Spanien und Polen entgegenzukommen und damit die Einigung auf die Verfassung möglich zu machen: 5 5 % der Mitgliedstaaten müssen für einen Vorschlag st immen, die zugleich 6 5 % der Gesamtbevölkerung der EU vertreten. Zusätzlich muss die zus t immende Mehrheit mindestens 15 Mitgliedstaaten umfassen. In einer EU mit 25 Mitgliedstaaten entspräche dies zwar einer geforderten Mehrheit von 60% der Staaten. Allerdings wird die EU bis zum voraussichtlichen Inkrafttreten der Verfassung (2007) auch die Länder Bulgarien und Rumänien umfassen. Dann entsprächen die 15 für eine erforderliche Mehrheit notwendigen Länder in etwa 55%. Darüber hinaus muss eine blockierende Minderheit aus mindestens vier Staaten bestehen, damit nicht die drei bevölkerungsreichsten Länder einen Mehrheitsbeschluss aufhalten können. Bei Mehrheits-beschlüssen ohne Vorschlagsrecht der Kommission (z. B. in der Justiz- und Innenpolitik oder in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik) gelten höhere Schwellen für das Erreichen der qualifizierten Mehrheit : hier müssen 72% der Staaten mit zusammen 65% der EU-Bevölkerung zustimmen. Das jetzt verabschiedete Abstimmungsverfahren soll am 1. November 2009 in Kraft treten. Bis dahin gelten die Regeln des Vertrages von Nizza.

Zur Frage der Größe der Kommission liegt folgende Einigung vor: Bis 2014 wird der Kommission jeweils ein Staatsangehöriger aus j edem Mitgliedstaat angehören. Ab 2014 wird die Zahl der Kommissare reduziert . Ihre Zahl soll 2 / 3 der Mitgliedstaaten

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entsprechen - einschließlich Kommissionspräsident und Außenminister. Dabei wird ein System strikt gleichberechtigter Rotation angewandt.

Als Entgegenkommen an kleinere EU-Staaten wird die Mindestzahl der Abgeordneten im Europäischen Parlament (EP) auf sechs erhöht. Gleichzeitig wird die Höchstzahl an Abgeordneten pro Mitgliedstaat von 99 auf 96 Abgeordnete gesenkt. Deutschland (als einziges Land, das diese Höchstzahl erreicht) muss damit drei Sitze abgeben. Die Zahl der EP-Abgeordneten steigt von jetzt 732 auf 750.

Im letzten Moment wurde in den ersten Teil der Verfassung doch noch die Preisstabilität in den Zielkatalog der EU aufgenommen, wie dies seit 1957 im EG-Vertrag immer der Fall gewesen war. Leider hatte der Konvent gegen unseren Willen diese Zielbest immung fallen gelassen. Nun allerdings ist die Preisstabilität in Art. 3 (..Ziele") ausdrücklich erwähnt.

Insbesondere auf Drängen Großbritanniens verbleiben wichtige Teile von einzelnen Po-litikbereichen in der Einstimmigkeit. Dies gilt für die gesamte Bandbreite der Steuerpolitik sowie im Grundsatz auch für den Bereich Innen und Justiz. Hier wird die Möglichkeit einer . .Notbremse" eröffnet , wenn ein Mitgliedstaat Bedenken gegen den Entwurf eines mit qualifizierter Mehrheit anzunehmenden Rahmengesetzes hat. Das Recht festzulegen, wie viele Drittstaatsangehörige zum Zweck der Arbei tsaufnahme in einen Mitgliedstaat einreisen dürfen, verbleibt in nationaler Zuständigkeit. Auch der Beschluss über die Eigen-mittel der EU sowie die mehrjähr ige Finanzplanung bedürfen nach der neuen Verfassung der Einstimmigkeit .

Im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik wird die EU durch die Schaf fung des Amtes eines .Außenministers, an Handlungsfähigkeit und Eff izienz ge-winnen. Der Außenminister führt den Vorsitz im Rat für Auswärtige Angelegenheiten, eine Rotation im Vorsitz findet also hier nicht statt. Dem Außenminister untersteht ein Europäischer Auswärtiger Dienst, für dessen Einrichtung die Vorbereitungen bereits ab Unterzeichnung des Verfassungsvertrages beginnen werden. Der Außenminister der EU ist gleichzeitig einer der Vizepräsidenten der Kommission.

In der Verfassung findet sich erstmalig ein expliziter Verweis auf die NATO, der sicherstellt, dass die Zusammenarbei t in den Verteidigungsfragen die Verpflichtungen im Rahmen der NATO nicht berührt und dass bei der Landesverteidigung die NATO Vorrang vor rein europäischen Verteidigungsanstrengungen hat. Die NATO wird ausdrücklich als das Fundament ihrer kollektiven Verteidigung und die Instanz fü r deren Verwirklichung für die Staaten angesehen, die NATO-Mitgl ieder sind.

Zum Stabilitätspakt: Die Kompetenzen der EU-Kommission gegenüber Mitgliedstaaten, die die 3%-Defizi tgrenze überschreiten, werden entgegen dem Konventsentwurf auf den Status quo zurückgeführt . So werden von der Kommission als notwendig erachtete Maß-nahmen zur Defizitrückführung auch weiterhin nur als . .Empfehlungen" qualifiziert mit der Folge, dass diese einfacher zu ändern und zurückzuweisen sind als dies bei e inem - wie vom Konvent ursprünglich vorgeschlagenen - formellen Vorschlag der Kommission der Fall gewesen wäre. Begründet wird dies damit, dass die Wirtschaftspolit ik auch weiterhin in der nationalen Kompetenz verbleibe, so dass ein formelles Vorschlagsrecht der Kom-mission systemwidrig wäre. Die Staats- und Regierungschefs haben zudem eine Erklärung zum Stabilitäts- und Wachstumspakt angenommen, die der Verfassung beigefügt wird. Darin bekennen sie sich erneut zu den Best immungen des Paktes und zu dem Erfordernis

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einer soliden Haushaltspolitik. Sie bekräftigen das Ziel, in guten Zeiten schrittweise einen Haushaltsüberschuss zu erreichen, um in Zeiten des Wir tschaf tsabschwungs über den notwendigen Spielraum zu verfügen.

Schlussbewertung

Es liegt in der Natur der Sache, dass bei Verhandlungen von 25 Mitgliedstaaten unsere Vorstellungen über den Inhalt des Verfassungsvertrages nicht in Reinform durchzusetzen waren. Allerdings übertreffen die erzielten Fortschritte bei weitem die nicht befr iedigend geregelten Fragen. Für die CDU/CSU-Bundes t ags f r ak t ion ist es von großer Bedeutung, im Zusammenhang mit dem Ratifizierungsverfahren die neuen Rechte des Bundestages bei der Subsidiaritätskontrolle zu klären, die innerstaatlichen Abläufe hierfür zu regeln und insgesamt die Beteiligung des Bundestages bei der europäischen Gesetzgebung zu verbessern.

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Amendment-Vorschläge, die den Kongress passierten, jedoch nicht von den Staaten ratifiziert wurden

1) Artikel I der 1789 vorgeschlagenen zwölf Amendment-Artikel , wovon Artikel III bis XII die heute als „Bill of Rights" bekannte Grundrechterklärung bilden:

„Article the first Af ter the first enumeration required by the first article of the Constitution, there shall be one Representative for every thirty thousand. until the number shall amount to one hundred. af ter which the proportion shall be so regulated by Congress. that there shall be not less than one hundred Representatives, nor less than one Representative for every forty thousand persons, until the number of Representatives shall amount to two hundred: af ter which the proportion shall be so regulated by Congress. that there shall not be less than two hundred Representatives. nor more than one Representative for every fifty thousand persons."

2) In der zweiten „Sitzung" des 11. Kongresses schlug der Kongress folgenden Amend-ment-Artikel vor. der nicht die erforderliche Mehrheit der Einzelstaaten fand:

..Resolved by the Senate and House of Representatives of the United States of America in Congress assembled, two thirds of both houses concurring. That the following section be submitted to the legislatures of the several states. which. when ratified by the legislatures of three fourths of the states, shall be valid and binding. as a part of the Constitution of the United States. If any Citizen of the United States shall aeeept. claim. reeeive or retain any title of nobility or honour. or shall. without the consent of Congress , aeeept and retain any present. pension. off ice or emolument of any kind whatever, f rom any emperor. king. prince or foreign power, such person shall cease to be a Citizen of the United States, and shall be incapable of holding any office of trust or profit under them. or either of them."

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3) Das folgende Amendment , dessen Bezugspunkt die Sklaverei bildete, wurde in der zweiten „session" des 36. Kongresses am 2. März 1861 vorgeschlagen, nachdem es den Senat und vorher das Repräsentantenhaus (am 28. Februar 1861) passiert hatte:

..Resolved by the Senate and House of Representatives of the United States of America in Congress assembled. Thal the following article be proposed to the Legislatures of the several States as an amendment to the Constitution of the United States, which, when ratified by three-fourths of said Legislatures, shall be valid. to all intents and purposes. as part of the said Constitution, viz: Article Thirteen No amendment shall be made to the Constitution which will authorize or give to Congress the power to abolish or interfere. within any State, with the domestic institutions thereof. including that of persons held to labor or Service by the laws of said State."

Interessanterweise handelt es sich hierbei um das einzige „proposed". aber nicht rati-fizierte Amendment , das vom Präsidenten unterzeichnet wurde. Diese Unterschrift wird allerdings allgemein als unerheblich erachtet, nachdem die Verfassung bei einer Zweidri t-telmehrheit im Kongress die Weitergabe an die Staaten zur Ratifizierung vorsieht.

4) In der ersten „Si tzung" des 68. Kongresses wurde am 2. Juni 1926 ein Amendment -Vorschlag eingebracht, der sich gegen Kinderarbeit richtete. Obgleich Senat und ..Hou-se" (am 26. April 1926) mit der notwendigen Mehrheit durchlaufen wurden, ratifizierten lediglich 28 Staaten folgenden Entwurf:

. Jo in t Resolution Proposing an Amendment to the Constitution of the United States. Resolved by the Senate and House of Representatives of the United States of America in Congress assembled (two-thirds of each House concurr ing therein). That the following article is proposed as an amendment to the Constitution of the United States, which, when ratified by the legislatures of three-fourths of the several States, shall be valid to all intents and purposes as a part of the Constitution: Art ic le- . Section I.

The Congress shall have power to limit, regulate, and prohibit the labor of persons under eighteen years of age. Section 2. The power of the several States is unimpaired by this article except that the operation of State laws shall be suspended to the extent necessary to give effect to legislation enacted by the Congress ."

5) Ein Amendment , das die Gleichberechtigungsfragen zwischen Mann und Frau zum Inhalt hatte wurde in der zweiten „session" des 92. Kongresses am 22. März 1972 vor-geschlagen. Trotz der erforderlichen Mehrheiten in Senat und Repräsentantenhaus (12 Oktober 1971) und trotz einer Verlängerung der siebenjährigen Ratifikationsfrist bis zum 30. Juni 1982 in der zweiten „session" des 95. Kongresses, fand das nachfolgend zitierte Amendment am Stichtag nicht die erforderliche Dreiviertelmehrheit:

. Jo in t Resolution Proposing an Amendment to the Constitution of the United States Relative to Equal Rights for Men and Women. Resolved by the Senate and House of Representatives of the United States of America in Congress assembled (two-thirds of each House concurr ing therein). That the following

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article is proposed as an amendment to the Constitution of the United States, which shall be valid to all intents and purposes as part of the Constitution when ratified by the legislatures of three-fourths of the several States within seven years f rom the date of its Submission by the Congress: Ar t ic le -Section 1. Equality of rights under the law shall not be denied or abridged by the United States or by any State on account of sex. Section 2. The Congress shall have the power to enforce, by appropriate legislation. the provisions of this article. Section 3. This amendment shall take effect two years after the date of ratification."

6) Schließlich schlug der 95. Kongress in seiner zweiten „Sitzung" am 22. August 1978 mit der erforderlichen Mehrheit (das . .House" wurde am 2. März 1978 passiert) ein Amend-ment vor. das Wahlrechtsfragen für den District of Columbia z u m Inhalt hatte. Erneut fehlte es innerhalb der siebenjährigen Frist an der erforderlichen Dreiviertelmehrheit der Bundesstaaten. Der Amendmentvorschlag hatte folgenden Wortlaut:

, Jo in t Resolution Proposing an Amendment to the Constitution To Provide for Repre-sentation of the District of Columbia in the Congress. Resolved by the Senate and House of Representatives of the United States of America in Congress assembled (two-thirds of each House concurr ing therein), That the following article is proposed as an amendment to the Constitution of the United States, which shall be valid to all intents and purposes as part of the Constitution when ratified by the legislatures of three-fourths of the several States within seven years f rom the date of its Submission by the Congress: Ar t ic le -Section I. For purposes of representation in the Congress. election of the President and Vice Presi-dent . and article V of this Constitution, the District constituting the seat of government of the United States shall be treated as though it were a State. Section 2. The exercise of the rights and powers conferred under this article shall be by the people of the District constituting the seat of government . and as shall be provided by the Congress. Section 3. The twenty-third article of amendment to the Constitution of the United States is hereby repealed. Section 4. This article shall be inoperative, unless it shall have been ratified as an amendment to the Constitution by the legislatures of three-fourths of the several States within seven years f rom the date of its Submission."

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Sachwortverzeichnis

Abhängigkeil

- zwischen Verfassungsgerichtsbarkeit und Verfassung 312

Ad-hoc-Entwurf 65 - 6 7 . 81, 119

Amendments 37, 44, 222. 256. 277, 280

- als Abbilder einer Verfassungsergänzung 222

- als Spiegelung amerikanischer Kulturge-schichte 222

- Interpretation von 243 Amendment A^crfahren 2 2 9 - 2 4 3 , 2 4 5 -

248

American Revolution siehe amerikanische Revolution

amerikanische Bundesverfassung 16, 19. 24 .51 ,101,142,187, 195 .222-225 ,239 . 248. 271. 273. 280. 3 1 7 - 3 5 8 . 361. 362, 3 6 4 - 3 6 9 . 370. 3 9 1 - 3 9 9

- als dynamischer Evolutionsprozess 48

- a l s Vorbild 19 .112 ,194 .221

- Einflusspotentiale 194

- Flexibilität der 4 0 . 4 9 , 2 2 3

amerikanische Rechtskultur 308

amerikanische Revolution 26, 194, 197, 368. 372, 3 9 3 - 3 9 4

amerikanische Verfassung siehe US-Verfassung

Antifederalists 3 1 . 3 3 - 3 5 Argentinien 44 Articles of Confederation 24. 2 7 - 3 1 , 33,

43 ,46 .224 ,317 , 331 ,356 .358 .362 ,366 . 370

Atlantische Deklaration 209 atlantische Rechtskultur 220 Aufklärung 2 1 - 2 4 . 194. 216. 342, 350,

372, 378. 380. 381

Auslegung 43, 47. 232, 235, 239. 2 4 3 - 2 4 4 . 261, 264, 268. 274, 277, 283. 286. 2 8 9 . 3 0 4 , 3 1 2

- verfassungskonforme A. 262. 294 Australien 4 4 . 2 6 5 . 2 9 1 Autonomie 138. 148. 163, 294. 321, 323,

326. 347 - institutionelle A. 294

Begrenzungsfunktion siehe Verfassungs-funktionen

Belgien 67, 113, 157, 161, 162. 220. 350. 383

Bill of Rights (1689) 2 0 . 3 7 . 1 5 7

Bill of Rights (1789) 3 6 - 3 8 . 87 .222 ,226 , 227. 230, 246, 356. 363. 394

Bill of Rights of Virginia (1776) 3 5 - 3 6 . 194.402

Binnenmarkt 32. 52. 54, 72, 78, 175. 204. 212

Bulgarien 157, 1 8 5 , 1 9 1 . 3 5 0 . 3 8 3 Bund für Europäische Cooperation 54 Bundesgesetzgebungskompetenz 281 Bundesgewalt 3 2 , 2 8 1 . 3 2 3 Bundesrepublik Deutschland 63, 65, 67,

6 8 . 7 9 , 9 2 . 105, 108. 156. 161. 162. 170. 177, 204. 209. 210, 213, 253. 265. 289. 291, 296. 299. 320, 324. 336, 341, 350. 354. 382. 388. 392. 403

Bundesstaat 16. 24. 28. 34. 45. 47. 49. 5 7 , 6 2 . 6 5 . 104, 129, 171, 181. 195. 266. 3 1 8 - 3 3 1 . 346, 349. 356, 362, 365. 370

- europäischer B. 58 ,61 , 103 Bundesstaatsprinzip 331 Bundesstaatsstreitigkeit 293 Bundesverfassungsgericht 150, 269. 296.

313,314, 348

466 Sach wort ver/cichnis

Bürgerkrieg 43. 226. 235. 282, 283. 349. 3 5 5 . 3 5 7 , 3 6 7

Bürgerrechte 115. 124. 158. 194. 289

Char ta der Grundrechte der Europäischen Union siehe Europäische Grundrecht-echarta

checks and balances 275. 288. 320. 323. 332

Christentum 2 1 , 3 7 4

Civil War siehe Bürgerkrieg

Code Civil (1808) 217

coercive power 46

C o m m o n Law 21. 157,271

Conseil Constitutionnel 269

counter-majoritarianism 289

Dänemark 75, 101, 116. 158. 161, 190. 192, 349. 384

Declaration des droits de T h o m m e et du

citoyen 44

Declaration of Independence 17. 23, 25,

27, 3 0 . 4 3 , 4 5 . 195. 228. 272. 340. 392

- Präambel 26

deliberative Politik 316

deliberative Verfassungspraxis 316

Demokratie 2 0 . 2 4 . 3 8 . 4 4 , 4 9 - 5 1 . 57. 96. 98. 136. 1 6 0 - 1 6 3 , 172, 216. 254. 266. 286, 289. 2 9 1 . 3 5 7 , 3 6 9 . 4 0 3

- direkte D. 349

- egalitäre D. 219

- repräsentative D. 37 Demokratiedefizi t 8 4 . 9 8 , 119. 131, 134.

152, 343 Demokrat ieprinzip 147. 203, 289. 332,

3 4 3 - 3 4 9 demokrat ische Legitimation 80, 81, 152,

154. 159. 163. 250. 298. 336. 3 4 3 - 3 4 9 demokratische Selbstherrschaft 315 demokratische Verfassungstheorie 250 Demokrat is ierung 76, 108. 279. 304. 344.

348

- der Union 304

- der Verfassungsinterpretation 269

Dezentralisierung 31, 163

divided government 48

Drei-Elemente-Lehre 129

Eff iz ienz 80. 96, 108, 163, 172, 178, 331

E G K S siehe Europäische Gemeinschaf t für

Kohle und Stahl

EGMR siehe Europäischer Gerichtshof für

Menschenrechte (EGMR)

Einheit in Vielfalt 1 6 , 3 4 0 . 3 7 0

Einheitliche Europäische Akte (1986)

7 5 - 7 6 . 78. 189 .212

Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse 320

Einmannexekutive 32

EMRK siehe Europäische Menschenrechts-

konvention ( E M R K )

England 20. 23, 29, 36. 40. 274. 291. 343

Ensemble von Teilverfassungen 159. 308.

312, 342

Entwurf einer europäischen Bundesverfas-

sung (1951) 61

Erklärung von Laeken 138, 144. 166. 174

Erweiterungsdynamik 354

Establishment Clause 3 9 1 - 3 9 9

Estland 3 5 0 . 3 8 4

EU-Bürger siehe Unionsbürger

EuGH siehe Europäischer Gerichtshof

(EuGH) 9 0 . 3 0 3

Europa 41, 44. 51, 195. 1 9 7 - 2 2 1 .

2 4 8 - 2 6 0 . 291, 305. 308. 3 0 8 - 3 1 2 , 329.

3 4 0 - 3 4 3 . 345, 350, 355. 374. 377, 381

Europa a la carte 328

Europa der Nationen 106

Europa der Regionen 108

Europa der zwei Geschwindigkeiten 191

Europäische Atomgemeinschaf t (EAG)

67, 204

Europäische Gemeinschaf t 185. 198. 208.

337, 374

Europäische Gemeinschaften 6 8 - 6 9 . 120.

127. 142, 148. 326. 340

467 Sach wort ver/cichnis

Europäische Gemeinschaf t für Kohle und

Stahl (EGKS) 16. 64. 67. 198, 20()

europäische Gesprächskultur 188

Europäische Grundrechtecharta 87, 115,

139, 356. 357. 359, 375 europäische Ideale 111 Europäische Kommission 67, 72, 80. 87,

90. 92. 96. 107. 109. 113, 115, 123, 140. 160. 166. 170. 177, 220, 251. 257, 258. 307, 328. 347. 361, 366. 371, 375

Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) 64. 67. 73, 89. 94. 124. 126. 133 ,376

europäische Öffentlichkeit 94, 119, 139.

155, 174. 190. 348. 373

Europäische Parlamentarier-Union 60

Europäische Politische Gemeinschaf t

(EPG) 6 5 . 6 7 , 2 0 0

Europäische Politische Zusammenarbei t

(EPZ) 7 8 . 2 0 8 . 2 0 9

Europäische Sicherheits- und Verteidi-

gungspolitik (ESVP) 214

europäische Rechtsetzung 251

europäische Rechtsgemeinschaft 120.127.

303. 304. 336

europäische Rechtskultur 194, 217

Europäische Union 7 6 - 8 4 . 8 7 - 1 2 4 . 130.

1 3 1 - 1 4 0 . 1 4 2 - 1 4 4 . 148. 1 5 0 - 1 5 4 . 165.

1 7 0 - 1 9 3 , 198. 215, 221. 2 4 8 - 2 6 0 . 306.

3 1 1 , 3 1 7 - 3 5 8 . 3 5 8 - 3 7 2 , 375

- als Rechtsordnung sui generis 110, 129.

143 ,160

- Doppelcharakter als Staaten- und Bürger-

union 154

- Le i tmot toder 1 8 5 - 1 8 8

- Politisierung der 1 0 0 - 1 1 8 . 3 0 4

- Staatsqualität der 130 .360

- supranationaler Charakter der 132, 152, 1 5 5 , 2 5 1 , 3 6 1

- Verfassungsfähigkeit der 140

- Vertiefung der 1 8 5 . 2 5 2 , 3 0 4

europäische Verbundsverfassung 117

europäische Verfassung 17, 77, 86. 95. 100. 132. 144. 148, 154. 164, 180. 186. 306. 360, 365. 369

Europäische Verfassungsgerichte 304 Europäische Verfassungsgerichtsbarkeit

141 ,305

Europäische Verteidigungsgemeinschaft (EVG) 6 5 , 6 7 , 6 9 , 2 0 0

Europäische Wirtschaftsgemeinschaft

(EWG) 6 7 , 1 2 0 , 2 0 4 . 2 0 6

Europäische Zentralbank (EZB) 355

europäischer Demos 155

Europäischer Gerichtshof (EuGH) 81. 90. 117, 120, 124. 170, 221, 254. 290. 294. 311 ,316 , 336. 347, 375

- als Hüter der europäischen Verfassung 306

- als Hüter des Gemeinschaftsrechts 303

- als Motor der europäischen Integration 1 7 1 . 3 0 4 . 3 0 8

- als Verfassungsgericht 301 Europäischer Gerichtshof für Menschen-

rechte (EGMR) 6 4 . 9 0

Europäischer Konvent 16, 68. 99. 1 3 5 -140. 147. 159. 164. 1 6 6 - 1 8 0 . 181, 184. 317, 3 5 9 . 3 5 9 - 3 7 2 , 3 7 3 - 3 7 5 , 3 7 7 - 3 8 2

europäischer Verfassungsverbund 1 1 7 -118. 120

europäisches Denken 52, 372 Europäisches Parlament 60, 69, 7 0 - 7 5 .

7 6 , 7 8 . 8 0 - 8 4 . 88. 90. 95. 104, 109. 111. 113, 119. 123. 131, 139. 160, 166. 169. 1 7 7 , 1 8 1 , 2 5 1 , 253, 257 - 260. 304, 328, 347, 348, 361, 367, 370, 371, 3 7 5 - 3 8 1

Europäisches Währungssystem 210 Europarat 5 9 . 6 0 . 6 1 - 6 4 , 6 5 . 9 0 . 148. 357 Europarecht 1 2 2 . 3 1 1 , 3 3 5 Europa-Union 5 3 - 5 9 Europaverständnis 2 1 7 - 2 1 9 ever closer union 308. 3 5 7 - 3 5 8 ever stronger union 357 EVG siehe Europäische Verteidigungsge-

meinschaft (EVG)

468 Sach wort ver/cichnis

EWG siehe Europäische Wirtschaftsge-

meinschaft (EWG)

EWG-Vertrag 126, 170

EWR-Vertrag 127

EZB siehe Europäische Zentralbank (EZB)

Federal Reserve 3 5 5 - 3 5 6 Federalist Papers 3 3 - 3 5 , 37, 77, 173. 334.

345, 370 Federalists 31 - 3 5 . 320. 338. 358. 370 Finalität 80. 85, 103, 106. 153, 185.

3 5 3 - 3 5 4 Finnland 1 1 3 , 1 5 8 , 1 6 1 , 1 9 2 . 3 5 0 . 3 8 3 , 3 8 4 Föderalismus 31, 33, 42, 104. 108, 163.

2 1 6 . 2 4 0 . 2 7 1 , 3 1 8 - 3 3 1 , 3 5 8 - cooperative federalism 42, 322 - dual federalism 42, 322

- konsoziativer F. 328 Föderalismusbegriff 325

Föderation 58, 60. 65. 93, 110. 325, 326. 328. 340. 356

- von Nationalstaaten 103 .154 Frankreich 21. 26. 44. 56. 57, 60. 65. 67,

92. 106. 158, 159. 161, 162, 163, 173, 177. 186. 189. 194. 203. 205. 210. 214. 265. 291, 327. 329. 341, 343, 350. 365. 3 7 8 . 3 8 4 . 4 0 3

französische Revolution 22. 144. 343. 344 freie Religionsausübung 3 9 2 - 3 9 9 Freiheit 26. 28. 36, 37. 47. 59. 126. 142,

194. 216. 285. 297. 331, 334. 340. 369. 3 7 6 , 3 9 4

- status negativus, activus und posit ivus 20

Freiheitsbegriff 352

Fundamental Orders o f Connecticut 2 4 -27

G A S P siehe Gemeinsame Außen- und Si-cherheitspolitik (GASP)

Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) 7 8 . 9 6 . 9 7 , 2 1 4

Gemeinschaf t der Vereinigten Europäi-schen Staaten 7 6 - 7 7

Gemeinschaf tsgrundrechte 89. 375

Gemeinschaf tskompetenzen 97

Gemeinschaf tsmethode 109

Gemeinschaftsmodel l 109

Gemeinschaftsrecht 66. 122, 124. 254.

255. 3 0 3 , 3 1 5 , 3 3 6 . 374, 375

- Auslegung des G. 304

Gemeinschaftsverträge 59. 77. 79. 84. 96.

99. 303. 304

- Verfassungsqualität der G. 131

Gemeinschaftsziele 251

Generationengerechtigkeit 358

Gesel lschaftsordnung 389

Gesellschaftsvertrag 23. 338

Gewaltenbalance 129, 290, 293. 337

- föderative G. 49

Gewaltenkooperation 337

Gewal tenmonismus 332

Gewaltenteilung 24, 28. 31. 3 7 . 4 9 . 6 1 . 6 9 . 7 2 , 9 7 , 154. 160. 1 9 5 . 2 5 1 , 2 5 2 . 2 6 6 . 2 7 1 . 297. 301, 316. 328. 3 3 1 - 3 3 8 . 362

- horizontale G. 1 1 1 . 1 1 4 , 3 2 7

- rechtsordnungsübergreifender Grund-satz d e r G . 338

- vertikale G. 111, 114. 320. 323, 332. 337

Gewaltenverschränkung 49

Gewaltenzuordnung 337

Gleichheitsprinzip 26. 216. 284. 286. 375

Gliedstaatsverfassung 122

Gottesbezug 3 7 3 - 4 0 2

- in den bundesstaatlichen Verfassungen der USA 402

- in den (Teil)verfassungen der EU 3 7 4 - 3 8 2

- in den Verfassungen der Beitrittskandi-daten zur EU 388

- in den Verfassungen der deutschen Bun-desländer 388

- in den Verfassungen der EU-Mitglied-staaten 3 8 3 - 3 8 8

- in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika 3 9 3 - 3 9 9

469 Sach wort ver/cichnis

Great Compromise 27, 31, 318. 369

Grenzen Europas siehe auch Finalität

Griechenland 21, 155, 157, 161, 195,350. 3 8 1 , 3 8 2 , 384

Großbri tannien 54, 155, 156. 163, 190. 191, 203. 206. 210. 259. 327, 341, 350. 359. 365. 382. 387

Grundgesetz 145. 146. 158 Grundgesetz (GG) 70. 155. 156, 159.249.

254. 268. 301. 325, 336. 337. 361 Grundrechte 23, 27, 35, 3 6 , 4 3 , 4 5 , 61. 69.

70. 73, 81, 8 7 - 9 4 . 115, 124. 126, 133, 134, 139. 147. 154. 156, 174. 187 ,219 . 230. 266, 271, 283, 286, 290. 301. 304. 331, 3 5 6 - 3 5 7 . 361, 370. 3 7 5 - 3 8 2 , 393

Grundrechtecharta siehe auch Europäische

Grundrechtecharta Grundrechtekonvent 8 7 - 9 4 . 137. 167,

3 7 5 - 3 7 7

Grundrechtsbeschwerdc 307

Grundvertrag 87. 99. 117, 138, 180

Haager Kongress 58. 60 habeas corpus 21 Habeas Corpus Act (1679) 37 Hegemonialinteressen 205. 209, 211, 341.

366

Herman-En twur f (1994) 7 9 - 8 4 . 119

Hermeneutik 196. 262, 264, 291, siehe

auch Verfassungshermeneutik

Human Rights Act (1998) 157

Humanismus 3 8 1 , 3 8 2

Identif ikationsfunktion siehe Verfassungs-funktionen

Identität 39, 62, 93, 106, 112, 116, 118, 124, 130. 174. 187. 189. 216. 218, 252, 318. 3 3 8 . 3 5 2 . 3 6 7 , 4 0 3

- demokrat ische I. 345 - kollektive I. 354 - kulturelle I. 320 - politische 1. 364 Identitätskrise 116 Individualität 320. 323

institutionelle Verflechtung 325 institutionelles Gleichgewicht 304. 337,

361

Institutionentrennung 333, 354 Integration 54, 65. 68. 77. 84. 87. 93. 98.

102. 116, 119. 124, 134. 1 5 1 - 1 5 4 . 160. 171, 182. 186. 188, 198. 199 .252 . 254. 259. 275, 304. 336. 352, 368. 371

- der EuGH als Motor der europäischen I.

308

- differenzierte I. 328

- europäische I. 16. 54. 72, 80. 98. 111

- in den USA 51

- politische I. 64

Integrationsdefizit 51

Integrationsfähigkeit 96

Integrationsfunktion siehe Verfassungs-

funktionen

Integralionsmethode 65

Integralionsprozess 368

- europäischer I. 98, 101, 118. 189. 204,

207. 303, 304. 350

Integrität

- des demokratischen Prozesses 43

Integrität der Verfassung 315

Intergouvernementali tät 7 5 , 8 1 , 113, 155, 252

Interpretation 48 .122 , 1 4 7 , 1 9 6 . 2 4 3 - 2 4 4 . 251, 263, 266. 277. 291, 299. 315. 316, 393

Interpretation siehe auch Verfassungsinter-pretation

Intcrpretationsmacht 300 Interpretationsmethoden 300 Interpretat ionsmonopol 196. 265. 291.

301

invocatio Dei 3 7 3 - 3 9 1 , 3 9 9 - 4 0 2 . siehe auch Gottesbezug

Iran 197

Irland 158, 190. 192. 3 4 9 , 3 7 9 . 382. 385

Island 350

Italien 5 8 . 6 7 . 9 5 , 155, 156. 163. 175. 220. 349. 379. 3 8 1 . 3 8 6

470 Sach wort ver/cichnis

Japan I97 judicial activism 229 judicial restraint 269

judicial review 195, 2 7 7 - 2 7 8 . 280

judicial supremacy 276. 280

jüdisch-christliches Erbe 378 ,381

Kanada 4 4 , 2 6 4 , 2 9 1 Koalition der Willigen 352 Kolonialcharten 21 Kolonialgebiete 58 Kolonialmächte 353

Kommission 61, siehe auch Europäische Kommission

Kompetenzabgrenzung 48. 61, 73, 101. 109. 115, 133, 186. 334, 337. 347

Kompetenzausweitung 92 Kompetenzen 32, 43. 48. 60. 65. 73. 77.

80. 108. 115, 123, 148, 161. 169. 171. 177. 186. 232. 234. 240, 260. 278. 281. 286. 2 9 0 - 3 0 1 . 310. 346. 364. 366

Kompetenzkatalog 110. 114, 115. 186 Kompetenz-Kompetenz 129. 132 Kompetenzordnung 147. 310 Kompetenzstreitigkeiten 171 Kompetenzüberschreitung 170 Kompetenzübertragung 252 Kompetenzverlagerung 248 Kompetenzverteilung 61. 69. 75. 77. 81.

84. 109. 128. 1 6 0 - 1 6 3 . 3 1 8 . 3 1 8 - 3 3 1 Komplementärverfassung 131. 151 Kompromiss 31, 33, 35. 41 . 47, 63, 175.

180. 181. 224. 253. 282. 317, 319. 369. 370. 381

- als Ankerpunkt amerikanischen Verfas-sungsverständnisses 4 7 - 4 8

- als konstitutives Strukturprinzip 41

- als politische Lebensform 41 Konföderation 15, 38, 359. 362. 364 Konföderationsartikel siehe auch Articles

of Confederation 24 Kongress 28. 31. 35. 48, 112, 199. 222.

269. 271. 273, 275. 280, 332, 334. 355. 3 6 3 , 3 6 6 . 367

Konsens 26, 2 7 . 4 7 , 75. 91. 176. 239, 276. 292. 348

- am Vorabend der Bundesverfassung 27. 40

Konsensprinzip 296 Konsensverfahren 257 Konservatismus 5 1 . 4 0 3 Konstitutionalisierung 53, 76. 87, 95. 97.

110, 118. 119. 125. 142, 143. 181, 196. 197. 264. 360. 361

Konstitutionalismus 195, 197. 247. 263.

2 9 0 . 3 6 4 konstitutionelle Moderne 30 konstitutionelle Selbstfindung 4 5 - 4 7 Kontinentalkongress 23, 27, 365 Kontrollkompetenz 234 Konvent

- zur Änderung des Europäischen Verfas-sungsvertrages 257

- zur Totalrevision bzw. Änderung der US-Verfassung 231

Konvent von Philadelphia 16. 2 9 - 3 3 , 38, 47, 224, 235, 317, 319. 348, 356, 3 5 9 - 3 7 2

Konventsmethode 256 Konventsverfahren 140, 166. 257, 3 5 9 -

364 Kooperationsverhältnis 294. 311 Kroatien 191 ,388

Kultur 19. 186,218. 221. 2 6 3 , 3 5 9 . 404

- politische K. 196. 264. 323. 369

- wechselseitige Impulse 20 kulturelle Selbstverw irklichung 45 kulturelle Veränderung 41 kultureller Wandel 270 kulturelles Erbe 46. 376 Kulturtransfer 219

Legal ismus 290

Legitimation 39 .64 . 7 1 , 7 6 , 132. 152, 160. 299

Legitimationsdefizit 80. 118. 328. 337 Legit imationsfunktion siehe Verfassungs-

funktionen

471 Sach wort ver/cichnis

Lettland 1 5 8 . 3 4 9 . 3 8 6

Letztentscheidungsrecht 266. 300

Liechtenstein 349

limited government 321

Litauen 1 5 7 . 3 4 9 . 3 8 6

Locarno-Pakt 57

Lokalismus 324

Luxemburg 6 7 . 1 5 7 , 1 6 1 , 3 8 6

Magna Charta 3 7 , 1 5 6 . 3 8 8 Malta 9 7 . 1 5 8 , 3 5 0 , 3 8 3 . 3 8 6 Marbury vs. Madison 271 - 2 7 7 , 2 7 8 . 280.

2 9 6 . 3 1 7 - europäisches M. 128 Marshallplan 199 Mayflower Compact 36, 45 Mehrheitsprinzip 148. 220, 320 Menschenrechte 20. 35. 59. 64. 80, 111.

118. 133, 254. 3 2 1 , 3 3 1 , 3 5 1 , 3 5 7

Minderheitenschutz 43, 50. 283. 293. 320

Mischverwaltung 324

Misstrauensvotum 81. 162

- konstruktives M. 162

Monnet-Methode 98

Nation 15. 38. 50. 195. 3 4 2 - 3 4 3 nationale Interessen 108, 167, 176. 201.

367

Nationalismus 57, 367 Nationalstaat 5 7 , 6 2 , 103, 107, 108, 132,

149. 160. 200. 218. 252. 328. 340. 343. 367

NATO siehe North Atlantic Treaty Organi-sation (NATO)

NATO-Doppelbeschluss 210 Naturrecht 23. 26. 35. 50. 219. 372 necessary and proper clause 32. 281 New Deal 4 2 - 4 4 . 268. 287. 322 New England Confederation 25 Niederlande 2 1 . 2 6 . 6 7 , 1 5 8 . 1 8 9 . 191.220.

349, 383, 386 Nordirland 163 ,327 normative supranationalism 309

Normenkontrolle 274. 293, 317

North Atlantic Treaty Organisation (NATO)

60. 203. 2 0 5 . 2 1 0 . 2 1 2 , 357

Norwegen 195

O E C D siehe Organisation for Economic

Co-operation and Development (OECD)

of fene Gesel lschaft 266. 276. 301, 311 -

312

offene Staatlichkeit 335

Öffentl ichkeit 5 1 . 9 4 . 119. 139, 155, 160.

174. 190. 300. 346. 348. 369, 373

Organisation for Economic Co-operation

and Development (OECD) 206

Organisation für Sicherheit und Zusammen-

arbeit in Europa (OSZE) 148, 357

Organisat ionsfunktion siehe Verfassungs-

funktionen

original meaning 30. 229

Österreich 92. 159. 161. 163. 289. 291.

296. 350. 3 8 1 . 3 8 6

OSZE siehe Organisation für Sicherheit und

Zusammenarbei t in Europa (OSZE)

Pan-Europa-Bewegung 5 3 - 5 9 , 6 1

Parlamentarismus 156 .369

Parlamentsabsolutismus 317

Partikularisierung 47

Personalität 217

Petition o f R i g h t ( 1627) 37

Philadelphia Convention siehe Konvent von

Philadelphia

Pluralismus 15. 1 9 , 5 1 . 2 9 3 , 3 2 0 , 3 4 4 . 363

pluralistische Öffentlichkeit 346

Polen 1 5 7 . 1 6 3 , 1 7 8 . 1 9 2 . 3 8 7

political question doctrine 237, 240. 244,

269. 2 8 5 - 2 8 8

politische Verantwortlichkeit 154

Portugal 155, 157, 161. 1 9 2 , 1 9 5 . 3 5 0 . 3 8 7

Post-Nizza-Prozess 135 - 1 3 8 , 159

pouvoir constituant 118, 131, 1 4 9 , 2 3 2 .

361

472 Sach wort ver/cichnis

Präambel 26, 38. 47 . 78, 124. 133, 158.

182, 1 8 5 - 1 8 8 . 267, 373. 374. 3 7 6 - 3 8 2 ,

3 8 3 - 3 9 1 . 3 9 9 . 4 0 ( )

praktische Konkordanz 335

Präsidialdemokratie 4 9 . 2 1 7 . 3 5 4

Präsidialsystem 195

Prinzipien der Verfassungsinterpretation

2 6 1 , 3 0 7

pursuit of happiness 2 3 , 3 1 8 . 3 4 0 . 3 5 8 . 3 9 3

Ratifikation 35, 69. 80, 100. 1 8 8 - 1 9 2 . 2 3 6 - 2 4 2 . 243, 244, 257. 260. 369

Ratifikationskrise 1 8 8 - 1 9 2

Ratifizierung - der amerikanischen Bundesverfassung

3 3 - 3 5 . 362, 370

- der amerikanischen Bundesverfassung] 364

- des Europäischen Verfassungsvertrages 182, 188. 250. 252, 360. 371. 377

- von Amendments 229

rationale Rechtsprechungstätigkeit 284. 298

Recht und Moral 350 Rechtskultur 5 1 . 1 4 2 . 2 8 6 Rechtsprechung 20. 128. 170. 273. 280.

283, 287. 304. 308. 3 0 8 - 3 1 1 . 313. 322, 3 3 1 , 3 9 2 . 3 9 6 - 3 9 9

- als Spiegelbild einer offenen Gesell-schaft 301

Rechtssicherheit 124 ,272

Rechtsstaat 20, 219. 271, 289. 291, 331

- sozialer R. 266

Rechtsstaatlichkeit 5 7 . 9 4 . 1 4 7 . 2 9 3 , 3 3 7

Referendum 80. 116. 159. 1 8 8 - 1 9 2 . 322,

349, 360

Regionalautonomie 163

Reichskammergericht 313

Religion 26. 124. 186. 342, 343, 374.

3 7 6 - 3 8 2 . 3 8 3 - 3 8 8 . 389. 3 9 1 - 3 9 9 . 4 0 2

Religionsbezug 376

Religionsfreiheit 227, 283. 375

Repräsentation 28. 152, 216. 3 1 7 - 3 1 8 . 321

Repräsentativsystem 320. 344 Repräsentativverfassung 50 Republikanismus 22, 33, 342 richterliches Prüfungsrecht 265, 278. 289.

2 9 1 , 3 1 7 Richterrecht 261 Richtlinienkompetenz 162 Römische Verträge 6 7 - 6 8 , 204. 342 Rule of Law 291

Rumänien 185. 191, 350. 383, 387

Säulenmodell 79

Schottland 163 ,327

Schuman-Plan 65

Schweden 135, 158, 161, 192, 387

Schweiz 49, 70, 173,231, 313, 344. 349

Selbstbestimmungsrecht 195

self-restraint 2 2 6 - 2 2 9 . 2 8 8

Sklaverei 32, 235. 282, 356. 367

Slowakei 1 5 7 , 3 4 9 . 3 8 3 . 3 8 7

Slowenien 1 5 7 . 3 4 9 . 3 8 7

Solidarität 2 1 7 . 3 4 0 . 3 5 8 . 3 7 6

Souveränität 15. 2 3 . 2 6 . 2 8 . 3 1 . 6 7 . 80. 93.

105. 112. 123. 127. 130. 131. 144. 149. 181, 195. 200. 204, 252, 271. 319. 325. 340. 3 5 0 - 3 5 3 , 3 6 2 - 3 6 9

- d o p p e l t e s . 319

- we the people 38

Souveränitätsteilung 105, 108

Souveränitätsverzicht 3 5 0 - 3 5 3

Sowjetunion siehe UdSSR

Spanien 21. 26, 29. 155, 158, 162, 163,

178. 220. 326, 343, 350, 387

Spinelli-Entwurf 7 0 - 7 5 , 7 7 , 8 1

Sprache 2 1 , 9 2 , 1 3 2 , 2 1 8 . 3 4 0

Staatenbund 24. 27. 3 3 , 4 6 . 63, 104. 129.

356. 362

Staatenunion 174

Staatenverbund 329

staatlicher Verbund 152

Staatsgebiet 130.331

473 Sach wort ver/cichnis

Staatsgewalt 24. 68. 129, 130. 145, 153. 160. 219. 271. 276. 293. 299. 300. 316. 3 3 1 , 3 3 2 , 333

Staatsorganisation 147 - Regeln der S. 35 Staatsphilosophie 2 7 , 3 6 . 1 4 9 Staatsrecht 4 9 , 1 2 1 . 2 1 6 . 2 3 2 Staatsreligion 392 Staatsvolk 1 3 0 , 1 3 2 , 1 5 1 , 152 .250 Staatszielbestimmungen 266 Subsidiarität 218

Subsidiari tätsprinzip 61. 72, 81. 93, 115.

124, 139. 330. 337

Südafr ika 302

Superstaat Europa 105 .110

supranationale Befugnisse 64

supranationale Institutionen 54. 109

supranationale Integration 1 9 9 - 2 0 4

supranationale Integrationsverbände 151

supranationale Organisationen 69

Supranationale Union 148. 151, 249. 316

Supranationalität 62, 72, 75, 79. 113, 123.

185.218. 253. 361

Supreme Court siehe US-Supreme Court

supreme law of the land 45. 276

suspensives Vetorecht 161. 259, 324

Teilrevision 232

Teilverfassungen 159. 308. 312, 342 Textstufenanalyse 181 Totalrevision 222, 231. 232, 256 transatlantische Verfassungsrezeption 194 transatlantischer Dialog 315 transatlantisches Verfassungsfundament

2 1 9 - 2 2 1

transatlantisches Verhältnis 17. 179. 197, 1 9 9 - 2 1 5 . 3 5 1 - 3 5 3 . 4 0 3

Transparenz 76, 80, 81, 96. 98. 116, 136, 172 ,370

Trennung von Staat und Religion 383,

3 9 1 - 3 9 9 . 4 0 2

Tschechische Republik 159. 192. 350. 387

Türkei 190. 197. 350. 357, 383, 388

UdSSR 5 5 . 6 3 , 7 9 . 2 1 1 . 2 1 3 , 3 5 0 Umweltschutz 64. 78 Unabhängigkeitserklärung siehe Declarati-

on o f I n d e p e n d e n c e Ungarn 158 .387

Union Europäischer Föderalisten 60

Unionsbürger 71, 73, 76. 80. 84. 92. 112.

118. 172. 174, 250. 371

Unionsbürgerschaft 78. 80. 98

Unionsverfassung 41, 122, 151. 250. 357

- formelle Voraussetzungen 154

- materielle Voraussetzungen 154

Unionsvertrag 59. 96

Unionsvolk 250 United States of Europe siehe auch Verei-

nigte Staaten von Europa USA 1 6 - 5 1 , 59. 63. 68. 70. 112, 188,

1 9 7 - 2 1 7 , 2 2 1 - 2 4 8 , 265, 284. 2 8 5 - 2 9 0 . 2 9 1 - 3 0 1 . 3 1 7 - 3 7 2 , 3 9 1 - 4 0 4

- als Geburtshelfer Europas 201

US-Kongress siehe Kongress

US-Supreme Court 43, 221, 2 2 7 - 2 4 8 . 260. 269, 2 7 1 - 2 9 0 . 294. 2 9 6 - 3 0 1 , 305. 308. 313, 314, 322, 332, 391 - 3 9 9

- als ständiger Verfassungskonvent 221, 271

Verantwortungs- und Solidargemeinschaft 148

Verbraucherschutz 78

Verbund-Föderalismus 163

Vereinigte Staaten von Amerika siehe USA

Vereinigte Staaten von Europa 54. 59. 61.

67, 185, 358

Verfahrensgerechtigkeit 315

Verfasstheit der Union 52, 85, 96, 142,

180. 361

Verfassung 404

- einzelstaatliche V. 27. 3 2 . 4 5 . 225. 323,

3 5 6 . 4 0 2

Verfassungen der Einzelstaaten 2 3 - 2 9 .

3 9 9 - 4 0 2

verfassunggebende Gewalt 39, 249

474 Sach wort ver/cichnis

Verfassunggebung 71, 83, 144, 149, 2 2 1 - 3 1 7 . 327. 3 5 8 - 3 7 2

- amerikanische V. 2 2 1 , 3 5 3

- europäische V. 155

- gebundene V. 222

- kreative V. 2 6 0 - 3 1 7

- nationale Erfahrungswerte 159

Verfassunggebung in der Supranationalen

Union 249

Verfassunggebungsprozess 17, 100. 173.

3 5 8 - 3 6 4 . 3 6 9 - 3 7 2

Verfassungsänderung 28. 81, 2 2 2 - 2 6 0 .

2 9 9 . 3 1 6

Verfassungsänderungsverfahren 81. 141

Verfassungsbegriff 46. 120. 122. 1 4 0 -

163.342

- erweiterter V. 361

- europäischer V. 142. 270. 302

- formeller V. 146

- materieller V. 146

- normativer V. 122. 145. 153

- normativer staatsbezogener V. 149

- of fener V. 150

- postnationaler V. 150 ,152

Verfassungsbestätigung 19, 40. 41, 188

Verfassungsdi lemma 151

Verfassungsdynamik 369

Verfassungsentwicklung 19 .20 .41 .42 ,51 . 142, 2 2 1 . 2 5 2 . 256. 2 9 9 . 3 1 6 . 355

- als linearer Prozess 119

- als mehrpoliges System 119

- Kontinuität der V. 335 Verfassungsentwurf des Europäischen Par-

laments (1984) 7 0 - 7 5 . 7 6

Verfassungsentwurf des Europäischen Par-laments (1994) 89

Verfassungsergänzung 222 .229 . 238 .245 . 2 4 6 . 2 5 6

Verfassungserweckung 19 Verfassungsfähigkeit 140. 152. 185

- Voraussetzungen der V. 146. 147

Verfassungsfunktionen 66. 1 1 1 - 1 1 8 . 284

- Begrenzungsfunkt ion 73, 80. I I I , 114, 126, 133

- Identifikationsfunktion 111, 1 1 6 - 1 1 8 , 134

- I n t e g r a t i o n s f u n k t i o n 1 1 6 - 1 1 8 . 134, 250

- Legitimationsfunktion 66, 81, I I I . 116, 123. 131 .284

- Organisationsfunktion 6 6 , 7 3 , 111. 114, 118. 133

Verfassungsgemeinschaft 188. 221

- Strukturelemente der V. 317

Verfassungsgerichtsbarkeit 141, 195. 260,

268. 2 7 1 . 2 8 4 - 3 1 7

- Funktionen der V. 2 8 4 . 2 9 0 - 3 0 1

- Geburtsstunde der V. 271

- Interpretationsmonopol der V. 196,265

- Kompetenzen der V. 2 9 0 - 3 0 1

- Prinzipien der V. 307

- selbständige V. 2 7 8 . 2 8 4 . 2 9 7 - 3 0 1

- vergleichende Lehre von der V. 313

Verfassungsgeschichte 144. 173 ,372

- amerikanische V. 2 0 , 1 8 2 , 2 2 2 . 2 4 6 . 3 9 2

- europäische V. 16. 51

- transatlantische V. 220

Verfassungshermeneutik 196. 264, 291

Verfassungsimperial ismus 403

Verfassungsinterpretation 30. 241, 248.

2 6 0 - 3 1 7

Verfassungsinterpreten 268

- Kreislauf der V. 269

- offene Gesellschaft der V. 2 6 6 . 2 6 8 . 2 7 6

Verfassungskontrolle 195

Verfassungskonvent siehe Europäischer

Konvent od. Konvent von Philadelphia

Verfassungskultur 19. 197. 221. 245. 268.

270. 2 9 1 . 3 0 8

Verfassungslehre 151. 264. 269

- amerikanische V. 233, 307

- deutsche V. 266

- europäische V. 307

Verfassungsleitbilder 342

Verfassungsmoderne 342

475 Sach wort ver/cichnis

Verfassungsorgane 5 1 . 2 1 9 , 2 6 9 , 2 8 0 . 305. 333

Verfassungsorganqualität 297

Verfassungspatriotismus 156

- amerikanischer V. 4 0 . 4 9

- europäischer V. 117, 371 Verfassungsprinzipien 18. 28. 142, 194.

222, 293, 307. 382 Verfassungsschöpfung 159. 363 Verfassungsstaat 18. 134. 151. 160 .221 .

266, 299 .316 , 374

- amerikanischer V. 49

- Entstehung des V. 2 4 - 3 8

- Grundgedanken und Strukturelemente d e s V . 317

- verfassungsgerichtliche Interpretations-potentiale im V. 291

Verfassungstheorie 122, 146, 147, 170. 2 5 0 . 3 1 7

- amerikanische V. 306

Verfassungstypen 122

Verfassungsverständnis 36. 1 4 0 - 1 6 3 , 1 8 4 .

245, 270. 3 0 6 . 4 0 3

- amerikanisches V. 47, 194. 247

- einheitliches V. 142

- europäisches V. 51

- formales V. 185

- funktionelles V. 185

- gemischtes V. 141, 142

- staatszentriertes V. 185

- übergreifendes V. 142

Verfassungsvertrag 16. 70. 76. 85. 99. 100. 109, 116. 135, 147. 154, 164. 170. 174, 179. 1 8 0 - 1 9 2 , 2 2 1 , 2 4 9 - 2 6 0 , 3 0 6 , 312. 315, 350, 355. 357. 361. 364. 372, 3 7 4 - 3 8 2

Verfassungsvorrang 66. 146. 293 Verfassungs-Vorverständnis 1 5 4 - 1 6 3 Verfassungswirklichkeit 194. 314, 321.

330, 3 6 9 . 4 0 3 Verhältnismäßigkeitsprinzip 124. 219 Vernunftrecht 23 Versteinerungstheorie 295

Vertrag von Amsterdam 84. 88. 99. 124. 133, 342, 375

Vertrag von Lissabon 192 Vertrag von Maastricht 75. 7 7 - 7 9 . 8 0 . 85.

119. 123. 133, 190. 258. 330. 342

Vertrag von Nizza 96. 99. 116. 124. 135. 175. 178. 190. 191 .317

Völkerrecht 26. 74. 79. 121, 125, 126, 1 2 9 - 1 3 0 . 148. 151. 153 ,219 . 249. 250. 253, 255. 351

Völkerrechtsfreundlichkeit 335 Volksbegehren 161 Volksentscheid 34. 159. 161 Volkssouveränität 2 4 . 2 6 . 2 8 . 3 9 . 1 0 1 . 181.

195, 216. 273, 282, 290. 321, 344. 362. 365

Wahlprüfungsverfahren 293 Wahlrecht 3 1 , 1 2 3 , 2 2 6 , 2 3 6 Währung 54, 188. 208. 210. 355 Währungsunion 77, 85 Wales 163 ,327 Wandelverfassung 122 Wertegemeinschaft 116 - zwischen Europa und USA 357 Western Civilization 21 Westeuropäische Union (WEU) 78. 212.

214

W E U siehe Westeuropäische Union (WEU) Widerstandsbewegungen 5 7 - 5 9 Wiedervereinigung 79. 213, 268 Wiedervereinigung Europas 97 Wirtschafts- und Währungsunion 101

Zentralbanksystem 356 Zentralisierung HO, 151, 1 6 9 - 1 7 1 . 279.

356. 365 Zentral ismus 33. 74. 106. 319. 328 Zivilgesellschaft 47. 81. 88. 172, 373 Zivilisationsprozess 192 Zollunion 7 0 . 7 8 Zweikammerlegislat ive 32 Zweikammersystem 28. 47. 251. 324 Zypern 9 7 . 1 5 7 . 3 5 0 . 3 8 8